Es war ein zaghafter Protest, mit dem Linke im Deutschen Herbst die Einengung politischer Spielräume durch den Staat kri
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German Pages 420 Year 2014
Table of contents :
Inhalt
I. EINFÜHRUNG
1. PROLOG: BEERDIGUNG IN STUTTGART-DEGERLOCH
2. BEZUGSRAHMEN: DIE SPÄTEN SIEBZIGER JAHRE – VERUNSICHERUNG GEGENÜBER DEM STAAT
3. FORSCHUNGSVORHABEN
Erkenntnisinteresse und Untersuchungsschwerpunkt
Eingrenzung und Kontextualisierung des Untersuchungsschwerpunkts
Forschungsstand
Aufbau der Untersuchung
Methodenkritik
Mikrogeschichte
Dichte Beschreibung
Erinnerungsbefragungen
II. BEGRIFFSERLÄUTERUNGEN
1. DIE LINKEN – EIN SPEKTRUM
2. ZUM UMGANG MIT DEM REPRESSIONSBEGRIFF
Repression als eine grundlegende staatliche Funktion
Linkes Verständnis von Repression in den Sechziger und Siebziger Jahren
Zusammenfassung: Repression, Repressionsempfinden, Repressionskritik
3. DIE DEFINITION „POLITISCHER“ GEFANGENER ALS PRINZIPIENFRAGE
4. EXTREMISTENBESCHLUSS GLEICH BERUFSVERBOTE?
III. JAHRZEHNT DER ENTTÄUSCHUNG? LINKE UND IHR „MODELL DEUTSCHLAND“ IM „SPD-STAAT“ DER SIEBZIGER JAHRE
1. LINKE UND STAAT IN DER FRÜHEN UND MITTLEREN SOZIALLIBERALEN ÄRA 1969-1976
Die Amtszeiten Willy Brandts
Die erste Amtszeit Helmut Schmidts
2. „MODELL DEUTSCHLAND“ – VOM SLOGAN ZUM UNWORT
Die Wahlkampfplattform der SPD im Bundestagswahlkampf 1976
SPD-Regierungsprogramm 1976-1980
Das „Modell Deutschland“ aus linker Sicht
Absage an den Modell-Anspruch
Modellhafter Umgang mit sozialen und politischen Konflikten?
Ausschau nach Bedrohungspotentialen
Zerrbilder des Slogans
Zusammenfassung: „Modell Deutschland“ als Symptom seiner Zeit
Hintergrund: FDP und „Modell Deutschland“
3. MODELL-SITUATION DEUTSCHER HERBST?
Die Entführungsfälle Schleyer und „Landshut“
Todesnacht in Stammheim
Presseecho: Freiheit in Gefahr?
IV. GEGEN REPRESSION IN GEFÄNGNISSEN. DIE INITIATIVEN FÜR GEFANGENE AUS DER RAF UND ANDEREN BEWAFFNETEN GRUPPIERUNGEN
1. STAMMHEIM IN DEN KÖPFEN
2. ENTWICKLUNG VON GEFANGENENINITIATIVEN BIS 1977
Frühe Gefangeneninitiativen und Rote Hilfe
Hintergrund: Der Foltervorwurf der Roten Armee Fraktion
„Komitees gegen Isolationshaft“ – Entstehung und Zerfall
„Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa“
3. GEFANGENENINITIATIVEN NACH DEM DEUTSCHEN HERBST
Vorbemerkungen
Die Besetzung des Büros der Deutschen Presse Agentur in Frankfurt a.M
Kontext und Ablauf
Hintergrund: Die „Antifas“
Nachspiel
Die Besetzung der Zentrale des Belgischen Roten Kreuzes in Brüssel
Kontext und Ablauf
Die „Kommission zum Schutz der Gefangenen und gegen Isolationshaft“
Zusammenfassung
V. AUSREISE AUS DEM „MODELL DEUTSCHLAND“. DER TUNIX-KONGRESS
1. DIE LINKE HERBSTDEPRESSION 1977 UND IHR GEGENMITTEL
2. VON DER IDEE ZUM AUFRUF
Hintergrund: Mescaleros, Spontis und die Gewaltfrage
3. ABLAUF
4. TEILNEHMER
Die Vielfalt undogmatischer Linker – tausendundein Projekt: »taz«
Spontis – Ende ohne Schrecken
Alternative – Aufbruch ins Paradies?
5. ÖFFENTLICHE REAKTIONEN UND ERSTE DEUTUNGSVERSUCHE
6. ZUSAMMENFASSUNG
VI. EINE DEMOKRATIE AUF DEM PRÜFSTAND. DAS 3. INTERNATIONALE RUSSELL-TRIBUNAL ZUR SITUATION DER MENSCHENRECHTE IN DER BRD
1. DER PFINGSTKONGRESS 1976 ALS ANSTOSS FÜR EINE INTERNATIONALE INITIATIVE GEGEN REPRESSION
Hintergrund: „Joschka“ Fischers Römerberg-Rede
2. AUFRUF AN DIE WELTÖFFENTLICHKEIT UND FORMIERUNG DER UNTERSTÜTZERSZENE
3. DAS WESTBERLINER SEKRETARIAT UND DIE VORBEREITUNGEN AUF DAS TRIBUNAL
4. REAKTIONEN AUS POLITIK UND ÖFFENTLICHKEIT VOR DER ERSTEN SITZUNGSPERIODE
Hintergrund: Bertrand Russell
5. DIE ERSTE SITZUNGSPERIODE IN FRANKFURT-HARHEIM
Ablauf
Ergebnisse und Außenwirkung
Begleiterscheinungen: Die Gefangeneninitiativen
6. ZWISCHENFAZIT
7. DIE ZWEITE SITZUNGSPERIODE IN KÖLN-MÜLHEIM
Vorbereitungen
Ablauf und Ergebnisse
Begleiterscheinungen: Sozialdemokratische Gegeninitiativen
8. ZUSAMMENFASSUNG
VII. REPRESSIONSKRITIK IN GESAMTDEUTSCHER PERSPEKTIVE. DER INTERNATIONALE KONGRESS FÜR UND ÜBER RUDOLF BAHRO
1. HINTERGRÜNDE
Rudolf Bahros Verhaftung
Das Engagement bundesdeutscher Linker gegen Repression in der DDR anhand früherer Beispiele
Der Fall Brandt
Der Fall Biermann
Das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“
Die »Alternative«
2. BETEILIGTE ORGANISATIONEN UND GRUPPIERUNGEN
3. INHALTE UND ABLAUF
4. ERGEBNISSE UND AUSSENWIRKUNG
5. DIE BAHRO-SOLIDARITÄTSKAMPAGNE 1979
6. BAHROS FREILASSUNG
7. AUSBLICK: AUFRUF FÜR EIN ATOMWAFFENFREIES EUROPA UND RUSSELL-APPELL
8. ZUSAMMENFASSUNG
VIII. SCHLUSSBETRACHTUNG
1. UNTERSUCHUNGSVERLAUF
2. ERGEBNISSE
Linker Protest und linkes Spektrum 1978/79
Linker Protest und Staat 1978/79
3. FAZIT
4. WEITERFÜHRENDE ÜBERLEGUNGEN
IX. ANHANG
1. KURZPORTRÄTS EINIGER PARTEIEN UND ORGANISATIONEN DES LINKEN SPEKTRUMS
2. QUELLEN
3. SEKUNDÄRLITERATUR
4. ABKÜRZUNGS- UND ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Michael März Linker Protest nach dem Deutschen Herbst
Histoire | Band 32
Vorweg ein großer Dank an meine Schwester Jeannette März sowie Christine & Thomas Stock für ihre Unterstützung.
Michael März (Dr. phil.) promovierte am Max-Weber-Kolleg Erfurt. Als Zeithistoriker hat er sich auf die Geschichte der Bundesrepublik der 1970er Jahre spezialisiert.
Michael März
Linker Protest nach dem Deutschen Herbst Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des ›starken Staates‹, 1977-1979
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Dissertationsschrift, die im Rahmen eines ordentlichen Promotionsverfahrens am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt entstanden ist. Gedruckt mit Hilfe der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
I. E INFÜHRUNG 1. P ROLOG : BEERDIGUNG IN S TUTTGART -D EGERLOCH | 9 2. B EZUGSRAHMEN : D IE SPÄTEN S IEBZIGER J AHRE – V ERUNSICHERUNG GEGENÜBER DEM S TAAT | 13 3. F ORSCHUNGSVORHABEN | 18
Erkenntnisinteresse und Untersuchungsschwerpunkt | 18 Eingrenzung und Kontextualisierung des Untersuchungsschwerpunkts | 19 Forschungsstand | 23 Aufbau der Untersuchung | 30 Methodenkritik | 40 Mikrogeschichte | 40 Dichte Beschreibung | 41 Erinnerungsbefragungen | 42
II. B EGRIFFSERLÄUTERUNGEN 1. D IE L INKEN – EIN S PEKTRUM | 45 2. Z UM U MGANG MIT DEM R EPRESSIONSBEGRIFF | 54
Repression als eine grundlegende staatliche Funktion | 54 Linkes Verständnis von Repression in den Sechziger und Siebziger Jahren | 56 Zusammenfassung: Repression, Repressionsempfinden, Repressionskritik | 63 3. D IE D EFINITION „ POLITISCHER“ G EFANGENER ALS P RINZIPIENFRAGE | 66 4. E XTREMISTENBESCHLUSS GLEICH BERUFSVERBOTE ? | 70
III. J AHRZEHNT DER E NTTÄUSCHUNG? L INKE UND IHR „M ODELL DEUTSCHLAND “ IM „SPD-S TAAT“ DER SIEBZIGER J AHRE 1. L INKE UND S TAAT IN DER FRÜHEN UND MITTLEREN SOZIALLIBERALEN ÄRA 1969-1976 | 73
Die Amtszeiten Willy Brandts | 73 Die erste Amtszeit Helmut Schmidts | 84 2. „M ODELL DEUTSCHLAND“ – VOM S LOGAN ZUM U NWORT | 88
Die Wahlkampfplattform der SPD im Bundestagswahlkampf 1976 | 88 SPD-Regierungsprogramm 1976-1980 | 98 Das „Modell Deutschland“ aus linker Sicht | 102 Absage an den Modell-Anspruch | 103
Modellhafter Umgang mit sozialen und politischen Konflikten? | 107 Ausschau nach Bedrohungspotentialen | 110 Zerrbilder des Slogans | 115 Zusammenfassung: „Modell Deutschland“ als Symptom seiner Zeit | 118 Hintergrund: FDP und „Modell Deutschland“ | 120 3. M ODELL -S ITUATION DEUTSCHER HERBST ? | 121
Die Entführungsfälle Schleyer und „Landshut“ | 121 Todesnacht in Stammheim | 127 Presseecho: Freiheit in Gefahr? | 130
IV. GEGEN REPRESSION IN GEFÄNGNISSEN . D IE I NITIATIVEN FÜR G EFANGENE AUS DER RAF UND ANDEREN BEWAFFNETEN G RUPPIERUNGEN 1. S TAMMHEIM
IN DEN
K ÖPFEN | 135
2. E NTWICKLUNG VON G EFANGENENINITIATIVEN BIS 1977 | 137
Frühe Gefangeneninitiativen und Rote Hilfe | 137 Hintergrund: Der Foltervorwurf der Roten Armee Fraktion | 142 „Komitees gegen Isolationshaft“ – Entstehung und Zerfall | 150 „Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa“ | 155 3. G EFANGENENINITIATIVEN NACH DEM D EUTSCHEN H ERBST | 162
Vorbemerkungen | 162 Die Besetzung des Büros der Deutschen Presse Agentur in Frankfurt a.M. | 163 Kontext und Ablauf | 163 Hintergrund: Die „Antifas“ | 170 Nachspiel | 174 Die Besetzung der Zentrale des Belgischen Roten Kreuzes in Brüssel | 181 Kontext und Ablauf | 181 Die „Kommission zum Schutz der Gefangenen und gegen Isolationshaft“ | 191 Zusammenfassung | 196
V. AUSREISE AUS DEM „M ODELL D EUTSCHLAND“. D ER TUNIX-KONGRESS 1. D IE LINKE H ERBSTDEPRESSION 1977 UND IHR G EGENMITTEL | 203 2. V ON DER I DEE ZUM AUFRUF | 210
Hintergrund: Mescaleros, Spontis und die Gewaltfrage | 213 3. ABLAUF | 219
4. T EILNEHMER | 222
Die Vielfalt undogmatischer Linker – tausendundein Projekt: »taz« | 223 Spontis – Ende ohne Schrecken | 227 Alternative – Aufbruch ins Paradies? | 230 5. Ö FFENTLICHE R EAKTIONEN UND ERSTE D EUTUNGSVERSUCHE | 237 6. Z USAMMENFASSUNG | 241
VI. E INE DEMOKRATIE AUF DEM PRÜFSTAND. D AS 3. INTERNATIONALE RUSSELL-T RIBUNAL ZUR SITUATION DER M ENSCHENRECHTE IN DER BRD 1. D ER P FINGSTKONGRESS 1976 ALS ANSTOSS FÜR EINE INTERNATIONALE I NITIATIVE GEGEN R EPRESSION | 245
Hintergrund: „Joschka“ Fischers Römerberg-Rede | 245 2. AUFRUF AN DIE W ELTÖFFENTLICHKEIT UND F ORMIERUNG DER U NTERSTÜTZERSZENE | 253 3. D AS WESTBERLINER S EKRETARIAT UND DIE V ORBEREITUNGEN AUF DAS T RIBUNAL | 258 4. R EAKTIONEN AUS P OLITIK UND Ö FFENTLICHKEIT VOR DER ERSTEN S ITZUNGSPERIODE | 266
Hintergrund: Bertrand Russell | 268 5. D IE ERSTE S ITZUNGSPERIODE IN FRANKFURT-H ARHEIM | 274
Ablauf | 274 Ergebnisse und Außenwirkung | 282 Begleiterscheinungen: Die Gefangeneninitiativen | 289 6. Z WISCHENFAZIT | 293 7. D IE ZWEITE S ITZUNGSPERIODE IN K ÖLN -M ÜLHEIM | 294
Vorbereitungen | 294 Ablauf und Ergebnisse | 298 Begleiterscheinungen: Sozialdemokratische Gegeninitiativen | 304 8. Z USAMMENFASSUNG | 310
VII. R EPRESSIONSKRITIK IN GESAMTDEUTSCHER P ERSPEKTIVE . D ER I NTERNATIONALE KONGRESS FÜR UND ÜBER R UDOLF B AHRO 1. H INTERGRÜNDE | 319
Rudolf Bahros Verhaftung | 320
Das Engagement bundesdeutscher Linker gegen Repression in der DDR anhand früherer Beispiele | 322 Der Fall Brandt | 322 Der Fall Biermann | 325 Das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ | 330 Die »Alternative« | 333 2. B ETEILIGTE O RGANISATIONEN UND G RUPPIERUNGEN | 339 3. I NHALTE UND A BLAUF | 345 4. E RGEBNISSE UND AUSSENWIRKUNG | 350 5. D IE B AHRO-S OLIDARITÄTSKAMPAGNE 1979 | 358 6. B AHROS F REILASSUNG | 369 7. AUSBLICK : AUFRUF FÜR EIN ATOMWAFFENFREIES E UROPA UND R USSELL -A PPELL | 375 8. Z USAMMENFASSUNG | 377
VIII. SCHLUSSBETRACHTUNG 1. U NTERSUCHUNGSVERLAUF | 381 2. E RGEBNISSE | 382
Linker Protest und linkes Spektrum 1978/79 | 382 Linker Protest und Staat 1978/79 | 387 3. F AZIT | 390 4. W EITERFÜHRENDE Ü BERLEGUNGEN | 391
IX. ANHANG 1. K URZPORTRÄTS EINIGER P ARTEIEN UND O RGANISATIONEN DES LINKEN SPEKTRUMS | 395 2. Q UELLEN | 397 3. S EKUNDÄRLITERATUR | 404 4. ABKÜRZUNGS- UND ABBILDUNGSVERZEICHNIS | 414
I. Einführung
1. P ROLOG : B EERDIGUNG IN S TUTTGART -D EGERLOCH Am 27. Oktober 1977 ging der Deutsche Herbst zu Ende. 53 Tage nach der Entführung Hanns Martin Schleyers und nicht einmal 48 Stunden nach dessen Beisetzung wurde in Stuttgart-Degerloch der Schlussakt vollzogen. In der Feierhalle des Dornhaldenfriedhofs begann um 10.30 Uhr der evangelische Gottesdienst für Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel hatte den toten Führungsmitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF) nach einer einsamen Blitzentscheidung ein Gemeinschaftsgrab zugebilligt: Ensslin auf der einen, die beiden Männer auf der anderen Seite. Der Dornhaldenfriedhof, erst drei Jahre zuvor an Stelle einer alten Schießanlage eingerichtet, schien am ehesten dafür geeignet. Für den Fall, dass hier tatsächlich eine „Kult- und Pilgerstätte des Terrorismus“1 entstehen sollte, lag er weit genug am Stadtrand. Benachbarte Wohn- oder Geschäftshäuser gibt es bis heute nicht. Dennoch regte sich herbe Kritik gegen Rommels Entscheidung. Dass der Abstand zum Degerlocher Waldfriedhof, auf dem bekannte Persönlichkeiten wie Gottlob Bauknecht, Robert Bosch, Fritz Leonhardt sowie Bundespräsident Theodor Heuss ihre letzte Ruhe fanden, zu gering sei,2 war dabei nur ein Aspekt unter vielen. Rommel verteidigte seinen Beschluss: Zum einen hatte er dem Wunsch der Angehörigen entsprochen. Zum anderen wäre ein monatelanger Streit über die Grabstätte zur internationalen Peinlichkeit verkommen. Wer die Toten noch länger herumreichen wolle, möge bitte auch bedenken, was dann das Ausland über die Humanität in der Bundesrepublik denken würde, mahnte er.3 In diese Richtung zielte auch seine Warnung, „wenn wir Intoleranz mit Intoleranz beantworten, dann gefährden wir auf die Dauer die ethische Substanz unseres Staatswesens.“4 Mit dem Satz: „Alle Feindschaft sollte nach dem Tode ruhen“5, wurde Rommel weithin als integrer Liberaler bekannt. Die evangelische Kirche in Baden-Württemberg versuchte ihrerseits, eine öffentliche Herabwürdigung der Toten zu verhindern. Vom Oberkirchenrat wurden Alfred Herb und Horst Oberkampf, zwei Studienleiter der theologischen Akademie 1
o. A.: Rommels Mangel an Instinkt. In: Bayernkurier (29.10.1977).
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Vgl. KUMMER, Jochen: ‚Mit dem Tod muß jede Feindschaft enden‘. In: Bild (25.10.1977). Vgl. OSTER, Uwe A.: ‚Die Feindschaft endet mit dem Tod‘. Historisches Bild des Monats. Arte.tv (28.08.2007). Siehe: http://www.arte.tv/de/NAV-A-l-antenne/1698636.html (Stand: 06. 11.2011)) SCHREIBER, Hermann: ‚Ich bin auch schon ein Sympathisant‘. In: Der Spiegel (17.10.1977). Vgl. AUST, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. München 1989, S. 581.
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NACH DEM
D EUTSCHEN H ERBST
in Bad Boll, nach Stuttgart entsandt, um den zuständigen Gemeindepfarrer Rolf Streibel auf der Beerdigung zu unterstützen. Die Zeremonie sollte seriös und gesittet ablaufen, nicht selbst zum Politikum werden. „Keiner wusste, ob es Übergriffe von RAF-Sympathisanten geben würde“, erinnert sich Pfarrer Herb. Er und Oberkampf stellten sich darauf ein, im Ernstfall wie zwei Leibwächter des Gemeindepfarrers agieren zu müssen. Schon bei der Anreise zum Dornhaldenfriedhof hatten sie die „teilweise aggressive Stimmung“6 registriert, die sich zwischen den Trauergästen und den Polizeieinsatzkräften auflud. Etwa eintausend Studenten und Jugendliche traten wie ein stummer Demonstrationszug auf, der von ebenso vielen Uniformierten überwacht wurde. Am eigentlichen Schauplatz, dem Grabfeld Nummer 99 im südlichen Randbereich des Gottesackers, versammelten sich vor allem Kamerateams und Fotografen. Sie belagerten die beiden offenen Grabstellen bereits, als der Gottesdienst in der Feierhalle noch nicht einmal begonnen hatte. Einige Trauergäste mit vermummten Gesichtern trafen ein und wollten sich vor sie stellen. Sie hatten ein Spruchband dabei. Doch die Medienvertreter behaupteten energisch ihre Plätze. Also gaben die jungen Leute nach und zogen sich auf eine nahe gelegene Anhöhe zurück: „Wer die BRD angreift, begeht Selbstmord“ hatten sie auf das Tuch geschrieben. Weitere solcher Spruchbänder kamen hinzu. Flugblätter machten die Runde, Erklärungen wurden abgegeben.7 Als sich der eigentliche Trauerzug näherte, nahm das Gedränge der Journalisten und Kameraleute zu. Jeder wollte einen freien Blick auf die Angehörigen, jeder wollte ein Bild von den Särgen, die die Bestattungshelfer auf den Grabstellen absetzten. Es ging das Gerücht um, Mitarbeiter einer Illustrierten hätten Baaders Mutter einen stattlichen Geldbetrag geboten, wenn sie ihren Sohn im Sarg fotografieren durften.8 Doch alle drei Särge, hell und schmucklos, blieben geschlossen. Und dennoch drängten sich die Medienvertreter ganz nahe an sie heran, traten auf die niedergelegten Kränze, schoben sich dicht hinter die Angehörigen. Dort waren sie in der richtigen Position, um deren Gemütsregungen während der Traueransprache zu beobachten und die Worte zu verstehen, mit denen sie sich von den Toten verabschiedeten. Das Verhalten jener „Paparazzi“, meint Alfred Herb, „war schon sehr unwürdig. Das hat mich am meisten gestört.“9 Sein Kollege, Pfarrer Rolf Streibel, ließ sich nicht beirren. In der Traueransprache ging er feinsinnig auf die besonderen Umstände der Beerdigung ein und betonte: „Christus hat die Kräfte der Angst, der Resignation, auch die des Hasses und der Gewalt überwunden, indem er seinen Wider-
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SCHÄFER, Jürgen: ‚Wir waren eine Art Leibwächter‘. Begräbnis der Terroristen Baader, Ensslin und Raspe im Oktober 1977. In: Südwestpresse (26.10.2007). Siehe: http://www. suedwest-aktiv.de/region/nwz/aus_den_kreisgemeinden/3184435/artikel.php (Stand: 06.11. 2011). Vgl. DANS, Max/BECK, Lothar: Beerdigung. Ein Bildband. Hannover [1978], S. 30-32. Einige der Vermummten waren aus dem europäischen Ausland angereist – unter ihnen, laut Zeitungsbericht, auch ein „griechischer Einzelkämpfer“, der sich „,vor den Opfern des neuen deutschen Faschismus‘“ verneigt habe und „zweiseitige Erklärungen in Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch für eifrig mitschreibende Zeitungsleute“ verlas. Siehe: LANGKAMMER, Claus: Auf dem Dornhaldenfriedhof. In: Stuttgarter Zeitung (28.10.1977). Vgl. DANS, Max/BECK, Lothar: Beerdigung, S. 43. SCHÄFER, Jürgen: ‚Wir waren eine Art Leibwächter‘.
E INFÜHRUNG
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sachern vergeben und ihnen dadurch eine Bresche in der Mauer des Hasses und der Vergeltung geöffnet hat.“ Und weiter: „Gott hat das letzte Wort und nicht wir.“10 Im Anschluss hielt er ein kurzes Gebet, das von den Anweisungen der Kameraleute und ihrer Assistenten übertönt wurde.11 Gegen Ende der Zeremonie ergriffen zunehmend die vermummten Trauergäste das Wort, hielten eigene Nachrufe auf die Toten. Vergleichbares hatte sich schon bei früheren Beerdigungen von RAF-Mitgliedern abgespielt, so im Falle von Holger Meins in Hamburg-Stellingen und Ulrike Meinhof in Berlin-Mariendorf.12 Hier war nun vom „Mord in Stammheim“ die Rede, von „unverschämten Lügen“ des Staates und davon, dass „mit diesen Holzkisten nicht der Widerstand beerdigt“13 werde. Solche Äußerungen blieben nicht unkommentiert: Es gab auch Anwesende, die der Trauergemeinde feindselig gegenüber standen und Sprüche wie: „Das haben sie nicht anders verdient!“ oder „Das ist Eure Brut!“ an die Angehörigen der Toten richteten. Die Polizei hielt sich bei solchen Störungen zurück, wahrte Distanz zur Grabstelle. Für den Rückweg der Trauergäste waren jedoch umfangreiche Kontrollen vorgesehen, denen sich niemand entziehen konnte. Das gesamte Gelände um den Friedhof war abgeriegelt, ein „Kordon“14, wie es damals hieß. An den Ausgängen warteten Kamerateams der Polizei, die die Menge filmten und fotografierten. Beamte schrieben die Kennzeichen aller im Umkreis abgestellten oder vorbei fahrenden Autos auf. Zur regelrechten Konfrontation mit den Trauergästen kam es dann auf den Straßen in Richtung Innenstadt: Ein Polizeitrupp mit Schutzkleidung und Schlagstöcken schnitt der Menge den Weg ab, bildete eine Kette. Hinzu geeilte Beamte führten systematische Ausweiskontrollen und Leibesvisitationen durch. Die Umzingelten reagierten mit „Sieg Heil! Sieg Heil!“-Rufen. Es kam zu vereinzelten Festnahmen.15
10 Zit. nach: OSTER, Uwe A.: ‚Die Feindschaft endet mit dem Tod‘. 11 In einem Zeitungsbericht heißt es dazu: „Das kurze Gebet von Pfarrer Rolf Streibel übertönten Regieanweisungen: ‚Klappe jetzt‘, ‚Mikrofon‘, ‚Nimm den Ensslin im Profil‘, ‚Die Rolle rüber‘, ‚Langt mal die Leiter durch‘.“ Siehe: LANGKAMMER, Claus: Auf dem Dornhaldenfriedhof. 12 Holger Meins hatte ebenso wie Ulrike Meinhof der Gründergeneration der RAF angehört. Meins war am 9. November 1974 in der Haftanstalt Wittlich gestorben, Meinhof am 9. Mai 1976 in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim. 13 Zit. nach: o. A.: Licht in jede Ritze. In: Der Spiegel (31.10.1977). 14 o. A.: ‚Wen suchen wir denn eigentlich?‘ In: Der Spiegel (07.11.1977). 15 In einem Zeitungsbericht heißt es, dass es später auch in der Stuttgarter Innenstadt zu Rangeleien gekommen sei: „Die Auseinandersetzungen wurden zeitweilig auch in Ladengeschäfte und Kaufhäuser hineingetragen. Flüchtende Demonstranten wurden von ‚Rau-Reitern‘ auf Motorrädern sogar über Treppen verfolgt. Nach ersten Angaben wurden mindestens 20 Rädelsführer festgenommen.“ Siehe: o. A.: Nach der Beerdigung: Schlägerei mit Polizeibeamten. In: Stuttgarter Zeitung (28.10.1977).
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NACH DEM
D EUTSCHEN H ERBST
Abbildung 1: Dornhaldenfriedhof im Herbst 2011
Quelle: Privatarchiv Michael März
Der Pädagoge und Fotograf Max Dans erlebte den Polizeiaufmarsch aus unmittelbarer Nähe. Er war weder aus privaten, noch aus politischen Gründen zum Dornhaldenfriedhof gekommen. Zu den Toten, zum bewaffneten Kampf der RAF hatte er keine Beziehung: „Ich arbeitete damals in der Erwachsenenbildung einer evangelischen Akademie, insofern war ich ein sehr angepasster junger Mann.“ Allerdings gesteht er ein, „wie fast alle in diesem Bereich damals, sehr stark mit den Linken sympathisiert“ zu haben. Da Dans nebenberuflich einer Medienkartei zuarbeitete, sah er die Beerdigung als Gelegenheit, um das ein oder andere begehrte Foto zu schießen. Er hatte keinerlei Vorgaben, sondern fotografierte, was ihm spontan spannend vorkam. Die Polizei drängte sich in ihrer Präsenz geradezu als Motiv auf. Angesichts der Schutzhelme, Schlagstöcke und Straßensperren hatte er den Eindruck, dass die Einsatzkräfte gegenüber den Trauernden auf Provokation setzten: „Wenn die Polizei nicht aufmarschiert wäre, wäre da überhaupt nichts passiert“16, ist sich Dans sicher. Volker Schlöndorff, einer der elf Regisseure, die am Film »Deutschland im Herbst«17 mitwirkten, filmte Dans und die anderen Fotografen bei der Arbeit. Schlöndorff selbst blieb mit seiner Kamera meist auf Abstand, wagte sich nur kurz ins Getümmel und kehrte später auf den Friedhof zurück, wo er die Totengräber bei ihrer Arbeit aufnahm. Dans entschloss sich dagegen, näher am Geschehen zu bleiben, und studierte die aufgeheizte Stimmung zwischen Trauernden und Polizisten: Zwanzig- bis dreißigjährige Jeans- und Lederjackenträger standen ihren Altersgenossen in Uniform gegenüber; Unverständnis und Abneigung auf beiden Seiten. Erst später, als Dans die Bilder entwickelte und gemeinsam mit dem befreundeten 16 Max Dans am 11.11.2009 (Befragung, mündlich (m)). 17 Deutschland im Herbst. R: BRUSTELLIN, Alf/SINKEL, Bernhard/FASSBINDER, Rainer Werner/KLUGE, Alexander/MAINKA-JELLINGHAUS, Beate/SCHUBERT, Peter/MAINKA, Maximiliane/REITZ, Edgar/RUPÉ, Katja/SCHLÖNDORFF, Volker/CLOOS, Hans-Peter (Bundesrepublik Deutschland, 1977/78).
E INFÜHRUNG
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jungen Pfarrer Lothar Beck sichtete, begriffen beide, dass bemerkenswerte Aufnahmen darunter waren. Ganz wie Schlöndorff und die anderen Filmemacher hatte Dans zu jenen gehört, die schon auf der Beerdigung begannen, den Deutschen Herbst zu verarbeiten. Dans und Beck befanden, dass sich das Material für einen Bildband eignete. Das Buch wurde etwa Mitte 1978 unter dem Titel »Beerdigung« veröffentlicht. In einer Art Nachwort nahmen die beiden schriftlich Stellung: „Terrorismus lehnen wir ab“, war ihre zentrale Aussage. Es folgte ein wichtiger Nachsatz: „Wir halten es aber für sinnlos, den Terrorismus zu bekämpfen nur durch kriminaltechnische Perfektion, Ausweitung der polizeilichen Befugnisse und Verschärfung des Strafrechts; und wir halten es für gefährlich, seinetwillen die bürgerlichen Freiheitsrechte einzuschränken.“ Mit diesen Maßnahmen, so Dans und Beck, „begibt sich der Staat selber ein in die politische Selbstzerstörungsspirale eskalierender Gewalt von Terror und Gegenterror.“ Beim Anblick der Fotos sei ihnen bewusst geworden, „daß es sich bei dem, was uns im Fernsehen von der Beerdigung flüchtig vorgestellt und in der Zeitung routinemäßig serviert wurde, um eine Anfangsstufe von Gegenterror handelte.“ Was sie damit meinten, war das Zusammenspiel von Polizei und Medien, aus dem heraus Hass gegenüber jeglichen gesellschaftskritischen Mitbürgern erzeugt worden sei. Zehn Jahre nach der Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt, acht Jahre nach der Gründung der RAF, fünfeinhalb Jahre nach ihren ersten Bombenanschlägen, sahen Dans und Beck den „Terrorismus“ immer noch als „verzweifelten Protest von Leuten, die ihre Sehnsüchte, Hoffnungen und Lebensperspektiven nicht mehr politisch vermitteln können“18 und die eigentliche Bedrohung darin, wie der Staat auf diese Form des Protestes reagierte. Laut Lothar Beck, der einen eigenen Text beitrug, beschworen die staatlichen Maßnahmen eine neuerliche „Tyrannei“ herauf. Schuld daran seien die Mächtigen im Staate, jene, „denen das deutsche Volk regelmäßig seine Macht delegiert.“ Aus Angst davor, ihre Macht zu verlieren, unterdrückten sie jede Form von Opposition. Die Beerdigung auf dem Dornhaldenfriedhof habe noch einmal verdeutlicht: „Widerspruch ist unerwünscht. Die Erinnerung an die Möglichkeit, Interessen selbst zu artikulieren, gefährdet die freiheitlich-demokratische Herrschaftsordnung.“19 Mit diesen Worten brachten die beiden Herausgeber ihr tiefes Misstrauen gegenüber den staatlichen Entscheidungsträgern in der Bundesrepublik zum Ausdruck. Sie unterstellten ihnen ein unverhältnismäßiges repressives Vorgehen gegen politisch Andersdenkende.
2. B EZUGSRAHMEN : D IE SPÄTEN S IEBZIGER J AHRE – V ERUNSICHERUNG GEGENÜBER DEM S TAAT Ein verunsichertes oder gar gestörtes Verhältnis zum Staat, wie es Dans und Beck an ihrem Beispiel offen legten, war unter Bundesbürgern ausgangs der Siebziger Jahre kein Ausnahmefall. Zeitgenössische Beobachter wie die Politologen Martin Greiffenhagen und Kurt Sontheimer bescheinigten der Bundesrepublik ein unruhiges Innenleben, geprägt von Gefühlen der Selbstentfremdung und Verunsicherung. Letzterer meinte sogar, bei allen zentralen gesellschaftlichen Institutionen, also
18 DANS, Max/BECK, Lothar: Beerdigung, S. 75f. 19 Ebd., S. 78f.
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auch der Kirche, der Familie, den Unternehmen, einen Verlust an Integrationsfähigkeit auszumachen.20 Als Ursache wurde in erster Linie der rasche soziale und technologische Wandel der Industriegesellschaft der Bundesrepublik angesehen: Das produzierende Gewerbe verlor gegenüber dem Dienstleistungssektor an Bedeutung, die Bildung, Hochqualifizierung und Konsumorientierung der Bürger nahm zu. Diese Veränderungen hätten, so Sontheimer, soziale und moralische Normen immer unverbindlicher gemacht und die Bereitschaft des Einzelnen verringert, an den großen Institutionen teilzuhaben und sich mit ihnen zu identifizieren. Grundsätzlich blieb das Bedürfnis nach Partizipation jedoch erhalten; es suchte nur „neue ‚Gefäße‘“21, betont der Zeithistoriker Edgar Wolfrum, und meint jene Vielzahl an Bürgerinitiativen oder Initiativen in der Umwelt-, Frauen- oder Friedensbewegung, die abseits der politischen Parteien entstanden. Hier erfüllte sich der individuelle Wunsch nach menschlicher Nähe und gleichrangigen Kommunikationspartnern eher als in den „herkömmlichen sozialen Organisationen“22. Konnte der Staat Anfang des Jahrzehnts noch als Garant für stabiles Wirtschaftswachstum, sinkende Arbeitslosenzahlen und hohe Geldwertstabilität ein solides Bürgervertrauen wecken, überschätzte die sozialliberale Bundesregierung unter Willy Brandt ihren ordnungspolitischen Einfluss auf die Wirtschaft zunehmend, spätestens als es 1973 zur weltweiten Ölkrise kam.23 Der anschließende Konjunktureinbruch ging einher mit wachsender Kurzarbeit, (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Inflation und Staatsverschuldung. Von heute auf morgen hatte der Staat nicht nur den „Nimbus als omnipotente Regelungsinstanz“24 verloren, unter Kanzler Helmut
20 Vgl. SONTHEIMER, Kurt: Zeitenwende. Die Bundesrepublik zwischen alter und alternativer Politik. Hamburg 1983, S. 27; ders.: Die verunsicherte Republik. Die Bundesrepublik nach 30 Jahren. München 1979, S. 71f., S. 96, S. 107, S. 118; GREIFFENHAGEN, Martin/GREIFFENHAGEN, Sylvia: Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur Deutschlands. München 1979, S. 13-17, S. 318-321. Vgl. auch: RUDOLPH, Hermann: Bundesdeutsche Innenwelt. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (Nr. 1, 1979), S. 1034-1038. Zur „Verunsicherungsliteratur“ anlässlich des 30. Jahrestages der Bundesrepublik Deutschland, vgl. KORTE, Karl-Rudolph: Der Standort der Deutschen. Akzentverlagerungen der deutschen Frage in der Bundesrepublik Deutschland in den siebziger Jahren. Köln 1990, S. 80f. 21 MÖLLER, Frank: Mentalitätsumbruch und Wertewandel in Ost- und Westdeutschland während der 60er und 70er-Jahre. Ein Gespräch mit Edgar Wolfrum. In: Ders./MÄHLERT, Ulrich (Hg.): Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte. Berlin 2008, S. 43-60, hier: S. 56. Der Historiker Bernd Faulenbach bezeichnet die Zunahme von Partizipation auf allen politischen Ebenen bis hinunter zur Graswurzel als „Fundamentalpolitisierung“, in Anlehnung an den Soziologen Karl Mannheim. Vgl. FAULENBACH, Bernd: Die Siebziger Jahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt? In: Archiv für Sozialgeschichte (Bd. 44, 2004), S. 1-37, hier: S. 6. 22 SONTHEIMER, Kurt: Zeitenwende, S. 29. 23 In seiner Bilanz der sozialliberalen Wirtschaftspolitik bringt es der Volkswirt Udo E. Simonis auf den Punkt: Die damalige Bundesregierung habe sich „mangelnde Flexibilität bei der Anpassung an sich ändernde wirtschaftliche Situationen“ vorzuwerfen. Siehe: SIMONIS, Udo Ernst: Am Ende des Wachstums? Einige Nach-Gedanken zur Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Koalition. In: Gewerkschaftliche Monatshefte (Nr. 1, 1983), S. 30-39, hier: S. 35; vgl. SCHANETZKY, Tim: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982. Berlin 2007, S. 161-177. 24 SCHEIPER, Stephan: Der Wandel staatlicher Herrschaft in den 1960er/70er Jahren. In: WEINHAUER, Klaus/REQUATE, Jörg/HAUPT, Heinz-Gerhard (Hg.): Terrorismus in der Bundes-
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Schmidt wurde sogar die „Neue Soziale Frage“25 gestellt: Gab es in der Sozialordnung der Bundesrepublik, gemessen am Konzept der sozialen Marktwirtschaft, grundsätzliche Fehlentwicklungen?26 Schlich sich in die stolze Wohlstandsgesellschaft eine „Neue Armut“27 ein? Der Gesetzgeber jedenfalls, so bilanzierte der Soziologe Jens Alber, führte 1975 erstmals mehr sozialleistungsmindernde als -erweiternde Regelungen ein.28 Angesichts wachsender „Ungewißheit und Unsicherheiten, Beklemmung und Depression“ fragte »Der Spiegel« im Frühjahr 1977: „Ist Helmut Schmidt noch zu retten?“ Nicht nur, dass der Kanzler einen herben Vertrauensverlust bei seinen Wählern verzeichnete, er selbst machte seinem Frust über das parlamentarische Regierungssystem öffentlich Luft. Vor seiner Fraktion beklagte er, dass „man ja 85 Prozent seiner Zeit und Kraft braucht, um Entscheidungen, die man getroffen hat, in tausend demokratischen Gremien zu vertreten.“29 Dieses Unbehagen gegenüber der Komplexität und Bürokratisierung aller Vorgänge im politischen System teilte der Kanzler mit einer Vielzahl der Bundesbürger, die ihrerseits aus einer enttäuschten Anspruchshaltung auf Wohlstand, Sicherheit und Partizipation sogar zu regelrechter „Verdrossenheit“30 gegenüber dem Staat und seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung neigten: „Die Bereitschaft, eine Art Antipartei oder Ohne-Mich-Partei […] zu wählen“, schätzten Demoskopen 1977 als erheblich ein: „25,1 % würden ihre Stimme geben.“31 Im Deutschen Herbst trat die Bundesregierung dieser Stimmungslage energisch entgegen, indem die Geiselbefreiung von Mogadischu zum Anlass genommen wurde, ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl zu beschwören. Helmut Schmidt sprach in seiner Regierungserklärung am 20. Oktober 1977 von der Notwendigkeit, „daß
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republik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren (Campus Historische Studien, Bd. 42). Frankfurt a. M./New York 2006, S. 188-216, hier: S. 195. Vgl. Bundesvorstand der CDU (Hg.): Unsere Politik für Deutschland. Mannheimer Erklärung. Bonn 1975; vgl. auch DETTLING, Werner/HERDER-DORNEICH, Philipp: Die Neue Soziale Frage und die Zukunft der Demokratie (Untersuchungen und Beiträge zu Politik und Zeitgeschehen, Bd. 20). Bonn 1976. Laut dem Historiker Eckart Conze stellte sich angesichts der Wirtschaftskrise und der terroristischen Bedrohung eher die generelle Frage, ob der Staat noch in der Lage war, „den grundlegenden Sicherheitsbedürfnisse seiner Bürger nachzukommen?“ Siehe: CONZE, Eckart: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis zur Gegenwart. München 2009, S. 484. Vgl. FAULSTICH, Werner: Gesellschaft und Kultur der Siebziger Jahre: Einführung und Überblick. In: Ders. (Hg.): Die Kultur der 70er Jahre. München 2004, S. 7-18, hier: S. 14. Vgl. GEIßLER, Heiner: Armut in Deutschland, eine Neue Soziale Frage? Ist die Sozialpolitik falsch programmiert? In: Sozialer Fortschritt (Bd. 25, 1976), S. 49-54; vgl. auch: BOLDORF, Marcel: Die ‚Neue Soziale Frage‘ und die ‚Neue Armut‘ in den siebziger Jahren. In: JARAUSCH, Konrad H. (Hg): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 140-156, hier: S. 140-144. ALBER, Jens: Der Sozialstaat in der Bundesrepublik 1950-1983. Frankfurt a. M. 1989, S. 286. Hierauf verweist auch: SÜß, Winfried: Keynesianischer Traum und sein langes Ende. In: JARAUSCH, Konrad H. (Hg): Das Ende der Zuversicht?, S. 120-137, hier: S. 125. o. A.: ‚Schmidt erlebt die Macht des Kismet‘. In: Der Spiegel (28.03.1977). Vgl. RUDOLPH, Hermann: Politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Gespräch mit Hildegard Hamm-Brücher. In: SCHEEL, Walter (Hg.): Die andere deutsche Frage. Kultur und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland nach dreißig Jahren. Stuttgart 1981, S. 315327, hier: S. 320-324. DIPPER, Helmut: Verdruß über Parteien wächst. Jeder vierte Bundesbürger würde eine Protestpartei wählen. In: Frankfurter Rundschau (26.08.1977).
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wir alle uns selbst fragen, was wir der Gemeinschaft zu geben haben und wie wir ihr dienen können“ und dass es falsch sei, „nur danach zu trachten, was ein einzelner oder eine Gruppe von der Gemeinschaft, von der Gesellschaft oder vom Staat empfangen oder sich verschaffen könnte.“32 In ähnlicher Weise betonte Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel am 28. Oktober 1977 im Bundestag, dass „die Menschen […] in diesen Tagen und Wochen gespürt [haben], daß der Staat mehr sein muß als eine Schönwettervereinigung zur Wohlstandsmehrung, mehr als ein Gebilde, dem man nur als Fordernder, möglichst als lautstark und rücksichtslos Fordernder entgegentritt.“33 Dieses neue Verständnis vom Staat, der es war, „der die Geiseln rettete und die Väter, Mütter und Kinder – mit zwei schmerzlichen Ausnahmen und um den Preis der Toten von Köln – zu ihren Familien zurückbrachte“, sei in jenen Herbstwochen spürbar gewesen und habe sich, so Vogel, in einem „Mehr an Autorität und Sympathie seiner Bürger“34 gezeigt. Dass diese Äußerungen tatsächlich die Stimmung in der Bevölkerung widerspiegelten, räumen die Herausgeber der Dokumentation »Ein deutscher Herbst. Zustände 1977« ein: Der „Hunger nach Zusammengehörigkeit jenseits von Büround Schlafstädten, von entfremdeter Arbeit, zerstörten menschlichen Beziehungen“35 sei zumindest vorübergehend befriedigt worden. Hanno Balz, Kulturwissenschaftler und Historiker, geht in seiner Diskursanalyse zum Deutschen Herbst noch weiter und spricht von einem „quasifamiliären Zusammenrücken“36 der Bürger. Nach der Machtdemonstration in Mogadischu seien gesellschaftliche Widersprüche ausgeblendet und die Loyalität des Einzelnen gegenüber den staatlichen Entscheidungsträgern gestärkt worden. Ereignisse wie die Beerdigung auf dem Dornhaldenfriedhof zeigten allerdings, dass eine Annäherung gegenüber dem Staat nicht für alle Bürger infrage kam und nicht über alle politischen Lager hinweg eintrat. Die „Wiedergeburt des Obrigkeitsstaates“37, wie sie Politik und Medien laut Balz herbeigeredet hätten, weckte auch Misstrauen. „Bis an die Grenze dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist“38, hatte Helmut Schmidt nach der Botschaftsbesetzung in Stockholm 1975 angekündigt. Galt dieser Satz, der von vielen als Richtlinie seiner Politik ver-
32 In seiner Regierungserklärung vom 20. Oktober 1977. Siehe: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 8. Wahlperiode, Bd. 102. Bonn 1977, S. 3757. 33 Hans-Jochen Vogel in einer Beratung des Bundestags vom 28.10.1977. Siehe: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 8. Wahlperiode, Bd. 102. Bonn 1977, S. 4096. Von einer „Rückbesinnung auf den Staat“ sprach später auch der Staatsminister HansJürgen Wischnewski. Zit. nach: SCHEIPER, Stephan: Der Wandel staatlicher Herrschaft, S. 208f. 34 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 8. Wahlperiode, Bd. 102, S. 4096. 35 BOTZAT, Tatjana/KIDERLEN, Elisabeth u. a.: Wüstensand und Rote Erde. In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Ein deutscher Herbst. Zustände 1977. Frankfurt a. M. 1997, S. 144-149, hier: S. 144. 36 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren. Frankfurt a. M. 2008, S. 308. 37 Ebd., S. 307. 38 SCHMIDT, Helmut: Regierungserklärung vom 25. April 1975. In: Gesellschaft für Nachrichtenerfassung und Nachrichtenverbreitung (Hg.): Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte. Unveränderte Neuauflage. Schkeuditz 2005, S. 54.
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standen wurde,39 weiterhin? Würde der Rechtsstaat gar „abgebaut“40 werden? – Bewegt von diesen Fragen gerieten die Bundesbürger am Ende des Deutschen Herbstes in eine zwiespältige Stimmungslage: Manche waren froh, dass sie mit Inkaufnahme von Einschränkungen in ihrer persönlichen Freiheit zum vermeintlichen Sieg über den Terrorismus beigetragen hatten. Andere sahen im Erstarken des Staates eine Gefahr und fühlten sich veranlasst, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen.41 In ihrem bipolaren Charakter lehnte sich die Stimmungslage ganz an die Grundbefindlichkeit an, die Zeithistoriker heute als Kennzeichen der Siebziger Jahre betrachten:42 das Schwanken zwischen Aufbruch und Resignation, zwischen Zuversicht und Verunsicherung. Das gegenläufige Wirken von liberalen Demokratiewächtern und konservativen „Scharfmachern“ in der Bundespolitik trieb bei Linken kuriose Blüten. So erinnert der Historiker Nicolas Büchse daran, dass es innerhalb des Spektrums plötzlich zur Verschiebung klassischer Positionen kam: vom Verändern- zum Bewahrenwollen.43 Man habe sich konservativ gegeben und sei zum Missfallen von Sozialdemokraten wie Kurt Sontheimer „unter den neuen, vom Terrorismusschock geprägten Umständen mit publizistischem Nachdruck als der wahre Anwalt der demokratischen Republik“44 aufgetreten. Dabei hatten Linke eben diese demokratische Qualität der
39 Vgl. KOCH, Peter/OLTMANNS, Reimar: SOS. Freiheit in Deutschland. Ein Stern-Buch. 4. Auflage. Hamburg 1979, S. 11. 40 Nach dem Titel der Zeitschrift »Der Spiegel« vom 05.12.1977. 41 So erschienen wenige Wochen nach dem Deutschen Herbst die »Briefe zur Verteidigung der Republik« aus den Händen von Politikern, Schriftstellern und Wissenschaftlern: DUVE, Freimut/BÖLL, Heinrich/STAECK, Klaus (Hg.): Briefe zur Verteidigung der Republik. Reinbek b. Hamburg 1977; vgl. auch CONZE, Eckart: Die Suche nach Sicherheit, S. 484. 42 Mit Blick auf die Titel der Gesamtdarstellung von Edgar Wolfrum und des Sammelbandes von Konrad H. Jarausch. Vgl. WOLFRUM, Edgar: Deutschland im Fokus. Bd. 3: Die 70er Jahre. Republik im Aufbruch. Darmstadt 2007; JARAUSCH, Konrad H. (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008. Es sei „mittlerweile Usus geworden, das Jahr 1973 als […] Ende des ‚goldenen‘ Nachkriegszeitalters anzusehen“, stellt der Historiker Jens Hacke fest. Siehe: HACKE, Jens: Der Staat in Gefahr. Die Bundesrepublik der 1970er Jahre zwischen Legitimationskrise und Unregierbarkeit. In: Ders./GEPPERT, Dominik (Hg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980. Göttingen 2008, S. 188-206, hier: S. 189. Auch der Kulturwissenschaftler Werner Faulstich weist auf den Stimmungsumschwung von Euphorie zu Resignation hin, vgl. FAULSTICH, Werner: Gesellschaft und Kultur der Siebziger Jahre, S. 16. Schon 1981 beschrieb der Pädagoge Hartmut von Hentig die Stimmung in der Bundesrepublik ausgangs der Siebziger Jahre mit dem Gegensatzpaar Zuversicht und Zweifel: „Das Wort von der ‚Unregierbarkeit‘ kam auf – ein später Name für einen schon lange waltenden Zustand: Die Zuversicht in die gemeinsame Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten hält einer härteren Prüfung nicht stand; die Zweifel an der Republik werden durch die Selbstbeschwichtigung zugedeckt, daß unsere deutsche Verwaltung doch noch immer funktioniert habe, daß die Bundesrepublik im internationalen Vergleich vorzüglich abschneide, daß es uns in der Geschichte noch nie so lange gut gegangen sei […].“ Von Hentig empfand „die Republik, unsere politische Kultur […] zutiefst entmutigt.“ Siehe: von HENTIG, Hartmut: Die entmutigte Republik. In: SCHEEL, Walter (Hg.): Die andere deutsche Frage, S. 81-92, hier: S. 83. 43 BÜCHSE, Nicolas: Von Staatsbürgern und Protestbürgern. Der Deutsche Herbst und die Veränderung der politischen Kultur in der Bundesrepublik. In: KNOCH, Habbo (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren. Göttingen 2007, S. 311-332, hier: S. 328-330. 44 SONTHEIMER, Kurt: Die verunsicherte Republik, S. 116.
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Bundesrepublik noch bis in den Deutschen Herbst hinein in Zweifel gezogen: Am 28. Oktober 1977 kündigten prominente Vertreter des Spektrums in Kooperation mit der Bertrand Russell Peace Foundation (RF) die Ausrichtung eines 3. Internationalen Russell-Tribunals45 an, weil sie Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik befürchteten. Am 29. Oktober 1977 riefen zwanzig andere prominente Linke auf, „für den Schutz der demokratischen Grundrechte in der BRD zusammenzuarbeiten.“46 Solche widersprüchlichen Auftritte waren alles andere als Einzelfälle und verdichteten sich gewissermaßen auf dem Dornhaldenfriedhof, wo staatskritische demokratische Linke, die zur Verteidigung des Grundgesetzes aufriefen, und antistaatliche radikale Linke, die von „Mord in Stammheim“ sprachen, Seite an Seite durch die Polizeikontrollen liefen.
3. F ORSCHUNGSVORHABEN 3.1 Erkenntnisinteresse und Untersuchungsschwerpunkt In der vorliegenden Arbeit werden diese Beobachtungen zum Anstoß genommen, den Umgang Linker mit dem Deutschen Herbst und ihr Verhältnis zum Staat zu untersuchen. Ausgehend von den Protestszenen am Rande der Beerdigung soll die Perspektive möglichst weit aufgezogen werden: Wie ist das Verhalten ihrer linken Teilnehmer einzuordnen? Griff die Verunsicherung der einzelnen demokratischen und radikalen Linken auf das gesamte linke Spektrum über? Wurden in staatskritischen wie antistaatlichen Positionen neue Gemeinsamkeiten entdeckt? Näherten sich die verschiedenen Parteien, Organisationen und Gruppierungen des linken Spektrums gegenseitig an? Eine denkbare These wäre, dass sich jene, die einen „Gegenterror“ von Staats wegen beklagten, und jene, die sich schützend vor die bestehende Grundordnung stellten, plötzlich einig in ihrer Interpretation der politisch-gesellschaftlichen Situation wurden und sich somit auch zu gemeinsamen (protest-)politischen Aktivitäten entschlossen. Ziel dieses Forschungsvorhabens ist es daher, der damaligen Denkund Fühlweise von Linken auf den Grund zu gehen und nachzuvollziehen, wie sich diese (protest-)politisch äußerte. Mit den gesammelten Erkenntnissen sollte sich ein genaues Bild über den inneren Zustand des linken Spektrums nach dem Deutschen Herbst zeichnen lassen, sodass im Ergebnis nicht nur eine Detailstudie zur Geschichte der bundesdeutschen Linken, sondern auch ein gültiger Beitrag zum historischen Verständnis der Siebziger Jahre entsteht. Dieser Dekade widmet sich die Zeitgeschichtsforschung bereits seit längerem mit besonderer Aufmerksamkeit,47 allerdings steht einer Vielzahl an „übergreifenden Tendenzen und Etikettierungen“48 nach wie vor ein Mangel an empirischer Forschung gegenüber. 45 Im Folgenden verkürzt als „3. Russell-Tribunal“ bezeichnet. 46 Zit. nach: BRAND, Enno: Staatsgewalt. Politische Unterdrückung und Innere Sicherheit in der Bundesrepublik. 2. Auflage. Göttingen 1989, S. 136. 47 Vgl. Debatte: Die 1970er-Jahre in Geschichte und Gegenwart. In: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe (Nr. 3, 2006). Siehe: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041Debatte-3-2006 (Stand: 06.11.2011). 48 Tagungsbericht Epochenwende? Wandlungsprozesse der 1970er Jahre im politischen Diskurs. 7. Potsdamer Doktorandenforum zur Zeitgeschichte am 24.-25.04.2009. H-Sozu-Kult (18.06. 2009). Siehe: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2645 (Stand: 06.08. 2010).
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3.2 Eingrenzung und Kontextualisierung des Untersuchungsschwerpunkts Wie kann das skizzierte Forschungsvorhaben umgesetzt werden? Wie muss die Untersuchung angelegt und aufgebaut sein? Die notwendigen Überlegungen erfolgen Schritt für Schritt in den folgenden Abschnitten der Einführung. Die wohl dringlichste unter ihnen bezieht sich auf den Untersuchungsschwerpunkt: Wer gerät eigentlich in den Fokus, wenn von „Linken“ die Rede ist? Es gibt drei Möglichkeiten, dies festzustellen. Die erste besteht darin, eine gegenwärtige Auffassung über „Linkssein“ auf Personen oder Gruppierungen aus den Siebziger Jahren zu projizieren. Die zweite besteht darin, eine Definition von linkem Verhalten, linken Positionen, linker Politik in den Siebziger Jahren zu erarbeiten und dann zu sortieren, welche Personen oder Gruppierungen ihre Kriterien erfüllten und welche nicht. Die dritte besteht darin, die Personen oder Gruppierungen aus dieser Zeit in ihrer Selbstbezeichnung als Linke beim Wort zu nehmen, sie quasi selbst auf die Frage antworten zu lassen: Vom SPD-Mitglied bis zum Anhänger einer so genannten „K-Gruppe“49, vom Sozialrevolutionär bis zum „Judo“50, ohne Rücksicht darauf, dass sich diese Personen gegenseitig wahrscheinlich abgesprochen hätten, Linke zu sein. Alle drei Varianten bergen die Gefahr der Unvollständigkeit und Ungenauigkeit. Der entscheidende Vorteil der letzteren liegt jedoch darin, dass sie keinen festen Rahmen vorgibt, sondern potentiell viele Auffassungen darüber zulässt, was es hieß, links zu sein. Für eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung, die sich nicht mit ausgewählten linken Gruppierungen, sondern mit der Linken in der Breite, als politisches Spektrum, befassen will, scheint diese offene Definitionsweise am ehesten geeignet. Gleichwohl bringt sie den Nachteil mit sich, dass, abhängig vom Zuschnitt der Untersuchung, nur jeweils relevante Vertreter der Linken erfasst werden und alle anderen aus dem Blickfeld geraten. Auf dieses Problem des „Filterns“ wird an anderer Stelle noch einmal ausführlicher eingegangen. Mit der Eingrenzung des Untersuchungsschwerpunkts verknüpft sich die Frage, welche Kontexte bei der Forschung zur Linken nach dem Deutschen Herbst mitzudenken sind. Anhaltspunkte dafür liefert die Vorstellung, dass sich die Entwicklung des linken Spektrums in den Siebziger Jahren in einem relativ festen Ereignisrahmen abgespielt hat: Die eine Seite des Rahmens markieren die Jahre 1967/68 mit dem Höhepunkt der Außerparlamentarischen Opposition (APO), deren Kern, neben der Studentenbewegung, die so genannte „Anti-Notstandsbewegung“51 bildete. Die andere Seite des Rahmens markieren die Jahre 1979/80 mit dem Aufkom-
49 Als „K-Gruppen“ bezeichnete man alle kommunistisch bzw. maoistisch orientierten Kleinparteien oder Gruppierungen in der Bundesrepublik der Siebziger Jahre. Das Kürzel „K“ spielt auch darauf an, dass sich diese Gruppen in ihrem Selbstverständnis als Kaderorganisationen bezeichneten. 50 Mit dem Kürzel bezeichnete man in den Siebziger Jahren Mitglieder der „Jungdemokraten“ – ein Jugendverband der FDP. Seit 1982 sind die Judos ihrem Selbstverständnis nach parteiunabhängig. Seit 2006 nennen sie sich auch „Junge Linke“. 51 Laut dem Politologen Theo Schiller handelte es sich bei der Anti-Notstandsbewegung um die „erste breitere Demokratie- und Bürgerrechtsbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik“. Siehe: SCHILLER, Theo: Von der Notstandsbewegung zum Bürgerrechtsprotest. In: APPEL, Roland/HUMMEL, Dieter/HIPPE, Wolfgang (Hg.): Die neue Sicherheit. Vom Notstand zur sozialen Kontrolle. Köln 1988, S. 39-55, hier: S. 44.
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men der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss und der Gründung der Partei Die Grünen.52 Dass die Linke innerhalb des Rahmens, also vom außerparlamentarischen Protest bis zur parlamentarischen Mitwirkung, keinen direkten Weg nahm, führen zwei weitere Jahreszahlen exemplarisch vor Augen: 1972 forderte die RAF den Staat mit ihrer „Maioffensive“ zu einem Machtkampf heraus. 1975 beteiligten sich Linke erstmals in größerer Zahl an einer Besetzung eines AKW-Bauplatzes und machten die Gemeinde Wyhl am Kaiserstuhl zum Startpunkt der bundesdeutschen Anti-AKW-Bewegung.53 So verschieden die Blüten waren, die die Linke trieb, so heterogen war sie mit ihren Parteien, Organisationen und Gruppierungen im Innern. Dies hatte ideologische Gründe, hing aber auch mit Protesterfahrungen zusammen. So lagen die Wurzeln ihrer Zersplitterung sowohl im Niedergang der Studentenbewegung, als auch im Zerfall der Anti-Notstandsbewegung: Die daran beteiligten Linken – eine Interessengemeinschaft von links gerichteten Sozialdemokraten, zahlreichen Hochschullehrern, Gewerkschaftern und den Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) und des Liberalen Studentenbunds Deutschlands (LSD) – hatten ein kritisches Verhältnis zum Staat und eine Abwehrhaltung gegenüber dem drohenden „präventiven Sicherheitsstaat“54 eingenommen. Ihre Befürchtungen gingen dahin, dass die Große Koalition mit Einführung der Notstandsverfassung einer Neuauflage der Ermächtigungsgesetze aus der Weimarer Republik den Weg ebnen könnte.55 Damals konnte der Reichstag der Reichsregierung unter Notstandsbedingungen eine befristete Befugnis zur Gesetzgebung erteilen. Als die Große Koalition 1968 beschloss, dass es unter Notstandsbedingungen auch in der Bundesrepublik zu Einschränkungen von Grundrechten kommen kann, war die Verfassungsänderung zwar nicht so umfassend wie befürchtet. Die Notstandsgegner sahen sich dennoch als Verlierer, da sie die Novelle nicht gänzlich verhindert hatten.56 In Konsequenz daraus beharrte ein Teil von ihnen auf seiner 52 Wobei die Partei sich nicht allein aus dem linken Spektrum heraus entfaltete, sondern auch von „konservativen Alternativen“ aus Bürgerinitiativen mitbegründet wurde. Siehe: MEZ, Lutz: Von den Bürgerinitiativen zu den Grünen. Zur Entstehungsgeschichte der ‚Wahlalternativen‘ in der Bundesrepublik Deutschland. In: ROTH, Roland/RUCHT, Dieter (Hg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a. M./New York 1987, S. 263-276, hier: S. 269. 53 Vgl. PETTENKOFER, Andreas: Kritik und Gewalt. Zur Genealogie der westdeutschen Umweltbewegung (unveröff. Manuskript). Erfurt 2007, S. 293. 54 GÖSSNER, Rolf: Verfassungsstreit oder Klassenkampf? Das Dilemma der Anti-Notstandsbewegung gegen den drohenden Notstandsstaat in den 60er Jahren. Gespräch mit Jürgen Seifert. In: Ders. (Hg.): Widerstand gegen die Staatsgewalt. Handbuch zur Verteidigung der Bürgerrechte. Hamburg 1988, S. 110-127, hier: S. 113. 55 Dieser Meinung waren auch namhafte Staatsrechtler und Politologen, „zumeist […] Angehörige einer Generation […], die als Wissenschaftler und Intellektuelle den Nationalsozialismus nicht nur miterlebt, sondern überlebt hatten“. Siehe: KRAUSHAAR, Wolfgang: Die Furcht vor einem ‚neuen 33‘. Protest gegen die Notstandsgesetzgebung. In: GEPPERT, Dominik/HACKE, Jens (Hg.): Streit um den Staat, S. 135-150, hier: S. 138 u. S. 147f. 56 Die Politologen und damaligen SDS-Mitglieder Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker führen dazu aus: „Schon als der Bundestag die Notstandsgesetze verabschiedete, […] resignierten viele. Das angestrebte historische Bündnis zwischen einer Studentenschaft links von der SPD und der Arbeiterklasse kam nicht zustande, der SDS [als Kern der APO, Anm. M. M.] fraktionierte sich und löste sich auf.“ Siehe: FICHTER, Tilman/LÖNNENDONKER, Siegward: Von der APO nach TUNIX. In: RICHTER, Claus (Hg.): Die überflüssige Generation. Jugend zwischen Apathie und Aggression. Königstein/Taunus 1979, S. 132-150, hier: S. 133.
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staatskritischen Haltung und bemängelte von nun an das Fehlen einer „demokratischen Kultur“ im Rahmen der sonst demokratischen Verfassungsstruktur der Bundesrepublik, die „trotz Notstandsverfassung und der Rückentwicklung zum autoritären Verwaltungsstaat bestehen blieb“. Der andere Teil aber nahm eine antistaatliche Haltung ein und kam zu der Analyse: „Die Bundesrepublik ist ein faschistoides oder faschistisches System.“57 Mit dem so geschehenen Zerfall in ein demokratisches und ein radikales Lager ergaben sich zwei gesonderte protestpolitische Linien: Laut dem Rechtswissenschaftler Rolf Gössner und dem Politologen Jürgen Seifert seien letztere fortan in Antirepressionskampagnen, fundamentaloppositionelle Aktivitäten oder gar in terroristische Gruppierungen eingebunden gewesen. Erstere hätten dagegen „primär republikanisch“ reagiert, das heißt, sie besannen sich auf die Wertschätzung von Menschen- und Bürgerrechten und verabschiedeten sich ausdrücklich vom Kampf um eine Veränderung der Gesellschaft.58 Am Beispiel der Anti-Notstandsbewegung wird anschaulich, wie unmittelbar und nachhaltig sich das Verhältnis Linker zum Staat verändern konnte, wenn grundgesetzliche Freiheiten zur Disposition standen. Geht man mit dem Politologen Wolfgang Kraushaar davon aus, dass im Deutschen Herbst der „Modellfall für den ‚übergeordneten Notstand‘“59 eintrat, weil der Große Krisenstab als außerordentliches Organ ohne Rücksicht auf Grundgesetz und öffentlich-parlamentarische Kontrolle60 agierte und in einem „nicht erklärten Ausnahmezustand“61 die Presse-, 57 GÖSSNER, Rolf: Verfassungsstreit oder Klassenkampf?, S. 126. Zu einer ablehnenden Haltung gegenüber dem politischen System der Bundesrepublik sei es nur bei einer Minderheit der Notstandsgegner gekommen, betont der Zeithistoriker Boris Spernol. Den meisten von ihnen sei es „um die Abwendung der Gesetze und nicht um revolutionäre Ziele zu tun“ gewesen. Siehe: SPERNOL, Boris: Notstand der Demokratie. Der Protest gegen die Notstandsgesetze und die Frage der NS-Vergangenheit. Essen 2008, S. 87 u. 89. 58 Vgl. ebd., S. 126f. 59 KRAUSHAAR, Wolfgang: 44 Tage ohne Opposition. Die Schleyer-Entführung. In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck, S. 9-25, hier: S. 20. In einem späteren Aufsatz spricht Kraushaar auch vom „übergesetzlichem Notstand“. Vgl. ders.: Der nicht erklärte Ausnahmezustand. Staatliches Handeln während des sogenannten Deutschen Herbstes. In: Ders. (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. Hamburg 2006, S. 1011-1025, hier: S. 1021. Erst jüngst unterstrich Kraushaar noch einmal die Ausnahmesituation des Deutschen Herbstes: „Die Exekutive hat ihre Handlungskompetenzen mit Ausnahme der Zeit des sogenannten Deutschen Herbstes, in der die Bundesregierung eine Politik des nicht erklärten Notstandes praktizierte, nie über Gebühr auszubauen versucht.“ Siehe: Ders.: Die Furcht vor einem ‚neuen 33‘, hier: S. 147. Als einen „klammheimlichen Ausnahmezustand“ bezeichneten der Politologe Otto Kallscheuer und der Journalist Michael Sontheimer den Deutschen Herbst in ihrem Rückblick anlässlich des zehnten Jahrestages der Ereignisse. Vgl. KALLSCHEUER, Otto/SONTHEIMER, Michael: Kriegsbericht. In: Dies. (Hg.): Einschüsse. Besichtigung eines Frontverlaufs. 10 Jahre nach dem Deutschen Herbst. Berlin 1987, S. 9-31, hier: S. 21-24. 60 Vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: 44 Tage ohne Opposition, S. 19. Kraushaar verweist darauf, dass die von der Bundesregierung verfolgte Handlungsstrategie allein durch das Bundesverfassungsgericht sanktioniert wurde. Es sei aber kaum akzeptabel, sondern nur ein weiterer „Tiefpunkt“ gewesen, als dieses am 16. Oktober 1977 den Antrag Eberhard Schleyers und dreier Anwälte ablehnte, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, nach der die Bundesregierung den Forderungen der Schleyer-Entführer hätte nachkommen müssen. Begründet wurde der Antrag damit, dass nur auf diese Weise die drohenden Gefahren für das Leben Hanns Martin Schleyers abgewendet werden konnten. Das Gericht verwies in seinem Beschluss allerdings u. a. darauf, dass die staatlichen Organe selbst zu entscheiden hätten, wie sie mit terroristischen Erpressun-
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Informations- und Meinungsfreiheit einschränkte, dann liegt es nahe, die Untersuchung zum Umgang Linker mit dem Deutschen Herbst bei ihrem Verhältnis zum Staat anzusetzen und hier ihre deutlichsten Reaktionen auf die Ereignisse zu erwarten. Freilich darf dabei nicht die Entwicklung ausgeblendet werden, die das linke Spektrum nach 1968 durchlief: Die Unterscheidung von zwei Protestlinien in der Tradition der Anti-Notstandsbewegung war längst nicht so holzschnittartig, wie sie Gössner und Seifert erscheinen lassen. Kraushaar erinnerte in einem Essay jüngst noch einmal daran, dass die Linke nach 1968 in vier politische Grundausrichtungen zerfiel: Reformisten, undogmatische Neomarxisten, dogmatische Marxisten-Leninisten und orthodoxe Kommunisten. Sie alle hätten weitgehend auf der Ablehnung von Parlament und Parteienstaat beharrt.62 Die Betonung liegt hier jedoch auf weitgehend, denn „ihre Haltungen waren höchst unterschiedlich akzentuiert“63. So hatten etwa die Reformisten in und um die Jugendorganisation der SPD, die so genannten Jusos, unbestreitbar ein konstruktives Verhältnis zur demokratischen Ordnung und zu republikanischen Prinzipien. Sie traten für Formen direkter Demokratie und für eine antikapitalistische Reformpolitik ein und hielten beides nur im Rahmen der Sozialdemokratie für realisierbar. Der Politologe Theo Schiller beschreibt das Auseinandergehen der Notstandsgegner vor diesem Hintergrund als fließenden „Lernprozess“, auf den eine „Neuvermischung politischer Strömungen und Gruppierungen im Mitte-Links-Bereich“ gefolgt sei. Zusammen genommen hätten diese dann ein wichtiges „demokratieschützendes Potential […] in den bürgerrechtlich schwierigen Zeiten der Siebziger Jahre“64 gebildet. Mit dem zunehmenden Verlust der Überzeugungs- und Integra-
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gen im Einzelfall umgingen. Nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Bevölkerung in ihrer Gesamtheit trügen sie eine Schutzverpflichtung. Vgl. dazu: POLZIN, Carsten: Kein Austausch! Die verfassungsrechtliche Dimension der Schleyer-Entführung. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2, S. 1026-1047. Kraushaar macht den „nicht verkündeten, aber praktizierten Ausnahmezustand“ während des Deutschen Herbstes an fünf „Abwehrmaßnahmen“ der Bundesregierung fest: „die Einschränkung der Verteidigerrechte, die Verabschiedung des Kontaktsperregesetzes, das Versagen parlamentarischer Kontrollmechanismen, die Einschränkung der Pressefreiheit und die Ergreifung illegaler Abhörmaßnahmen.“ Siehe: KRAUSHAAR, Wolfgang: Der nicht erklärte Ausnahmezustand, S. 1021-1023. Vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: Hitlers Kinder? Eine Antwort auf Götz Aly. In: Perlentaucher. Das Kulturmagazin (25.03.2009). Siehe: http://www.perlentaucher.de/artikel/5353.html (Stand: 06.11.2011). Eine Übersicht über die vier „Erben“ der APO und ihre Entwicklung bis 1977 hat der Politologe Johannes Schütte zusammen mit Bernhard Weber erarbeitet. Sie unterteilen anders als Kraushaar in: Linksreformisten, revolutionäre kommunistische Gruppen, undogmatische Gruppen und politisch heterogene Frauengruppen. Vgl. SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung. Zur Politik und Sozialpsychologie der Spontibewegung. Gießen 1980, S. 26-28. Ebenfalls vierteilig ist Markovits’ Aufstellung. Der Politologe spricht von vier „Antworten“ der Linken auf die strategisch-moralische Sackgasse der APO: 1. Organisierung der Massen, 2. Einsatz bewaffneter Gewalt, 3. Rückzug aus der Politik und Gesellschaft, 4. Veränderung der bestehenden Institutionen durch radikale Reformen. Vgl. MARKOVITS, Andrei S./GORSKI, Philip S.: Grün schlägt rot. Hamburg 1997, S. 95f. KRAUSHAAR, Wolfgang: Hitlers Kinder?; vgl. auch ders.: Die Furcht vor einem ‚neuen 33‘, S. 142-146. SCHILLER, Theo: Von der Notstandsbewegung zum Bürgerrechtsprotest, S. 43f. Fichter und Lönnendonker erinnern daran, dass diese Vermischung durch das Scheitern aller Organisationsformen der Studentenbewegung, „von den Roten Zellen über die Basis- und Stadtteilgrup-
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tionskraft der Sozialdemokratie öffneten sich im Laufe der Siebziger Jahre, trotz „immer wieder sektenhafter Auseinandersetzungen“65 die Grenzen zwischen staatskritischen und antistaatlichen Orientierungen innerhalb des linken Spektrums. Infolgedessen sei, trotz aller Differenzen, ein engeres Zusammenwirken in politischen Schwerpunktfragen ausgangs der Siebziger Jahre wieder möglich gewesen, meinte der linke Politiker Lorenz Knorr seinerzeit66 – und wurde durch die Grünen-Gründung 1980 bestätigt. Auch von dieser Seite her stellt sich die Frage nach dem Verhältnis Linker zum Staat nach dem Deutschen Herbst: Inwiefern hat die Ereigniskette einen Prozess begünstigt, der als Aufgabe antistaatlicher Positionen gedeutet werden kann? 3.3 Forschungsstand Die Komplexität des linken Spektrums mag ein gewichtiger Grund dafür sein, dass die bisherigen geschichtswissenschaftlichen Studien über seine Entwicklung in den Siebziger Jahren nur fragmentarischen Charakter haben. Ein weiterer Grund liegt offensichtlich in dem geringen Interesse, das ihm von Forschern entgegengebracht wird. Die Tagung »Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren« machte zuletzt wenig Hoffnung auf Besserung. Auf der Veranstaltung im Herbst 2009 wurden lediglich drei laufende Projekte vorgestellt, die sich im engeren Sinne auf die bundesdeutsche Linke beziehen: Die Zeithistorikerin Saskia Richter geht der Genese der Grünen auf den Grund und stellt infrage, dass die Partei aus dem linksalternativen Protestmilieu hervorgegangen sei; der Kirchenhistoriker Christian Widmann befasst sich mit den linksprotestantischen Strömungen in den evangelischen Kirchen der Bundesrepublik während der Siebziger Jahre, mit besonderem Blick auf die Evangelischen Studierendengemeinden (ESG) und ihre Positionierung im linksalternativen Milieu; der Zeithistoriker Uwe Sonnenberg untersucht die Geschichte des Verbandes des linken Buchhandels im Zeitraum 1970 bis 1981.67 Mehr als ergänzt, wenn nicht gar dominiert, wird die Forschung zum linken Spektrum seit jeher von politikwissenschaftlichen Studien, die auf ihre Weise ein Stück Zeitgeschichte aufarbeiten und festhalten: So widmeten sich Jürgen Bacia, pen bis hin zu Parteineugründungen“, begünstigt worden sei. Ende der Siebziger Jahre bot sich ihnen im Bereich linker Jugendlicher und Studenten nur noch „das Bild einer unstrukturierten linken ‚scene‘“. Siehe: FICHTER, Tilman/LÖNNENDONKER, Siegward: Von der APO nach TUNIX, S. 135. 65 Sozialistische Studentengruppen: Welche Chance hat die Linke in der BRD? In: GREMLIZA, Hermann L./HANNOVER, Heinrich (Hg.): Die Linke. Bilanz und Perspektiven für die 80er. Hamburg 1980, S. 202-219, hier: S. 202. 66 Vgl. KNORR, Lorenz: Unzureichend genützte Chancen und Perspektiven der Linken. In: GREMLIZA, Hermann L./HANNOVER, Heinrich (Hg.): Die Linke, S. 149-164, hier: S. 161 u. S. 163f. Knorr war in den Fünfziger Jahren Mitglied der SPD und Mitglied des jugend- und kulturpolitischen Ausschusses ihres Parteivorstands. Nach dem Austritt 1960 wechselte er zur Deutschen Friedensunion (DFU). Später gehörte er auch der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) an. 67 Vgl. Tagungsbericht Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren. Akademiekonferenz für den wissenschaftlichen Nachwuchs am 16. bis 18.09.2009 in Heidelberg. H-Soz-u-Kult (03.11.2009). Siehe: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungs berichte/id=2830 (Stand: 06.08.2010).
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Günther Gellrich und Michael Steffen mit unterschiedlichen Ansätzen den kommunistischen Parteien und Organisationen in der Bundesrepublik und haben deren Entwicklungslinien von der Gründung bis zur Auflösung reflektiert.68 Desgleichen beschäftigte sich der Soziologe Gottfried Oy mit der Geschichte des Sozialistischen Büros (SB) und dessen Zeitschrift »links«.69 Einer der wenigen Historiker, die sich auf diesem Gebiet hervor taten, ist Andreas Kühn mit seiner Geschichte der KGruppen.70 Bemühungen, das linke Spektrum in der Breite zu untersuchen, sind selten. Als der Politologe Sebastian Haunss in seinem Aufsatz für den Band »Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945« die Geschichte der radikalen Linken anhand von zwei ihrer Strömungen zusammenfasste, der antiimperialistischen und der autonom-antifaschistischen, kam er zu dem Schluss, dass nicht einmal deren Wirkungen und Perspektiven „auf einen Nenner“71 zu bringen seien. Dies wirft einerseits die Frage auf, ob das linke Spektrum womöglich zu facettenreich für breit angelegte Untersuchungen ist. Andererseits kann man Haunss’ Feststellung aber auch als Warnung verstehen, hierfür keinen allzu großen Untersuchungszeitraum zu wählen. Sein Versuch, die Entwicklungen und Wendepunkte der radikalen Linken über vier Dekaden hinweg – von der Studentenbewegung bis zur Gegenwart – zusammenzufassen, ist zwar trotz allem geglückt, hatte aber auch keine tiefgehenden analytischen Ansprüche. In einem ausgewogenen Verhältnis stehen Analyse und übergreifende Darstellung dagegen in den „Klassikern“ zur Geschichte der Linken in den Siebziger Jahren: Gerd Koenens Chronik „der eigenen Lebensgeschichte“72, Andrei S. Markovits’ grün-roter „Bildungsroman“73 und Sebastian Scheerers soziologisches Por-
68 BACIA, Jürgen: Die Kommunistische Partei Deutschlands (Maoisten). In: STÖSS, Richard (Hg.): Parteien-Handbuch. Bd. 3. Opladen 1986, S. 1810-1830; GELLRICH, Günther: Die GIM. Zur Politik und Geschichte der Gruppe Internationale Marxisten 1969-1986. Köln 1999; STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991. Berlin 2002. Vgl. auch: KLEIN, Thomas: SEW – Die Westberliner Einheitssozialisten. Eine ostdeutsche Partei als Stachel im Fleische der Frontstadt? Berlin 2009; ROIK, Michael: Die DKP und die demokratischen Parteien 1968-1984. Paderborn 2006. 69 OY, Gottfried: Spurensuche Neue Linke. Das Beispiel des Sozialistischen Büros und seiner Zeitschrift ‚links‘ – Sozialistische Zeitung (1969 bis 1997). Frankfurt a. M. 2007. Siehe: http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Papers_Spurensuche.pdf (Stand: 06.11. 2011). 70 KÜHN, Andreas: Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre. Frankfurt a. M./New York 2005. 71 HAUNSS, Sebastian: Antiimperialismus und Autonomie. Linksradikalismus seit der Studentenbewegung. In: ROTH, Roland/RUCHT, Dieter (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945: Ein Handbuch. Frankfurt a. M. 2008, S. 447-473, hier: S. 471. 72 KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002. 73 Siehe Fn. 62: MARKOVITS, Andrei S./GORSKI, Philip S.: Grün schlägt rot. An der Passage über die Linke in den Siebziger Jahren war der Soziologe Gregory Wilpert beteiligt. In einer Buchbesprechung der Wochenzeitung »Der Freitag« heißt es, die politikwissenschaftliche Studie sei wie ein klassischer Bildungsroman gestrickt. Vgl. SCALLA, Mario: Ist das Wirkliche vernünftig? In: Der Freitag (05.02.1999).
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trät74 der außerparlamentarischen Linken von der Studentenbewegung bis zum Deutschen Herbst. In Vorbereitung befindet sich zudem eine geschichtswissenschaftliche Studie zur außerparlamentarischen Linken in den Siebziger Jahren 75, an die vergleichbare Erwartungen zu richten sind. Kleineren Zeitabschnitten dieses Jahrzehnts wird bisher kaum gesonderte Beachtung geschenkt – gerade bei der Zeitgeschichtsforschung zu den Sechziger Jahren war eine solche Fokussierung auf einzelne Jahre aber noch üblich.76 Wenn es eine Ereigniskette aus den Siebziger Jahren gibt, die bisher in ähnlicher Weise zum Schwerpunkt von historischen Betrachtungen geriet, dann allenfalls der Deutschen Herbst: Neben Hanno Balz’ Diskursanalyse entstanden mit dem Sammelband von Nicole Colin, Beatrice de Graaf, Jacco Pekelder und Joachim Umlauf, Martin Steinseifers mediengeschichtlich gelagerter Dissertation sowie Aufsätzen von Nicolas Büchse, Wolfgang Kraushaar und Anne Siemens in jüngster Zeit mehrere einschlägige Beiträge.77 Im Vergleich dazu ist die Literatur über den unmittelbaren Folgezeitraum noch äußerst knapp. Besonders bei Werken zur Geschichte des Terrorismus besteht die Tendenz, die Erzählung auf das Klimax der Schleyer-Entführung hin zu steuern und
74 SCHEERER, Sebastian: Deutschland : Die ausgebürgerte Linke. In: Ders./STEINERT, Heinz/ HESS, Henner (Hg.): Angriff auf das Herz des Staates. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1988, S. 193429. 75 Unter dem Titel »Aktion und Reaktion. Die außerparlamentarische Linke in der Bundesrepublik 1970 bis 1980« entsteht seit April 2009 an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology die Dissertation von Julia Klopstein. 76 Als Beispiele seien genannt: KRAUSHAAR, Wolfgang: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur. Hamburg 2000; RUPPERT, Wolfgang (Hg.): Um 1968. Die Repräsentation der Dinge. Marburg 1998; SCHÖNHOVEN, Klaus: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969. Bonn 2004. 77 Vgl. COLIN, Nicole/de GRAAF, Beatrice/PEKELDER, Jacco/UMLAUF, Joachim (Hg.): Der ‚Deutsche Herbst‘ und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven. Bielefeld 2008; STEINSEIFER, Martin: ,Terrorismus‘ zwischen Ereignis und Diskurs. Zur Pragmatik von Text-Bild-Zusammenstellungen in Printmedien der 1970er Jahre (unveröff. Dissertation). Gießen 2007. Als Aufsatz erschien: STEINSEIFER, Martin: Überlegungen zu Terrorismus als Medienereignis im Herbst 1977. Strategien, Dynamiken, Darstellungen, Deutungen. In: WEINHAUER, Klaus/REQUATE, Jörg/HAUPT, Heinz-Gerhardt (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik, S. 351-381; siehe Fn. 43: BÜCHSE, Nicolas: Von Staatsbürgern und Protestbürgern; KRAUSHAAR, Wolfgang: KRAUSHAAR, Wolfgang: Der nicht erklärte Ausnahmezustand. Staatliches Handeln während des sogenannten Deutschen Herbstes. In: Ders. (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. Hamburg 2006, S. 10111025; SIEMENS, Anne: Die Opfer der RAF. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (01.10.2007), S. 9-15. Zum Deutschen Herbst unter anderen Gesichtspunkten, vgl. auch: DEIß, Marina: Gnade für Gnadenlose? 30 Jahre Deutscher Herbst und die ‚Begnadigungsdebatte‘ in den Medien. Marburg 2008; POLZIN, Carsten: Deutscher Herbst im Bundesverfassungsgericht. Zur verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Dimension terroristischer Entführungsfälle. Neubiberg 2001; LÖWE, Bernd P.: Deutscher Herbst und Wandel der Ost-West-Beziehungen. Frankfurt a. M. 1991. Zur künstlerischen Verarbeitung der Ereigniskette vgl. HENATSCH, Martin: Das verwischte Bild der Geschichte: Gerhard Richters ,18. Oktober 1977‘. Die künstlerische Behauptung des Bildes im Zeitalter medialer Bildmächtigkeit. In: GALLI, Matteo/ PREUSSER, Heinz-Peter (Hg.): Mythos Terrorismus. Vom Deutschen Herbst bis zum 11. September (Jahrbuch Literatur und Politik, Bd. 1). Heidelberg 2006, S. 179-190.
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die nachfolgenden Entwicklungen als schlichtes „Nachspiel“78 zu schildern. Wird beim Blick auf die Entstehungsgeschichte zunächst noch darauf geachtet, die RAF fein säuberlich aus der 68er-Bewegung herzuleiten79 und den Widerhall auf die ersten Terrorakte aus dem linken Spektrum zu reflektieren, findet eine gleichwertige Analyse für die Jahre nach 1977 nicht mehr statt. Die Geschichte der RAF scheint danach von Selbstbezügen dominiert, ohne bedeutenden Input, ohne deutliche Querverbindungen zur Linken.80 Der Historiker und Politologe Alexander Straßner hat ansatzweise versucht, etwas Licht ins Dunkel der Jahre 1978 bis 1982 zu bringen.81 Seine Feststellung, dass die Friedensbewegung eine mögliche Basis für die RAF gewesen wäre und dass diese auch dahingehende Instrumentalisierungsversuche startete, beruht jedoch weitgehend auf Informationen über die frühen Achtziger Jahre. Auch abseits aller Forschungstätigkeit wird den Ereignissen des Jahres 1977 ein besonderer Stellenwert beigemessen – und zwar von Zeitzeugen. Die Frage ist, inwieweit ihre Auskünfte für diese Arbeit genutzt werden können. Ein Blick auf die autobiografischen Stellungnahmen bekannter und weniger bekannter Aktivisten aus dem linken Spektrum zeigt, dass das Verhältnis zum Staat vor allem in Verbindung mit der Erfahrung jener „44 Tage im Herbst“82 thematisiert wird. Ein typisches Beispiel dafür liefert Gerd Koenen:83 Der Historiker und einstige Funktionär des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) widmet dem Jahr 1977 zwar nur wenige Seiten, unterstreicht aber die Eindringlichkeit der damaligen Stimmung: So habe nach dem Tod der RAF-Spitze in Stammheim für die „meisten Gruppen der außerparlamentarischen Linken […] wie zehn Jahre zuvor das Gespenst einer parlamentarischen Allparteiendiktatur im Raum“ gestanden. Wie nach dem Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 sei auch diesmal dem Staat, „als Repräsentant der ‚Herrschenden‘“ fast selbstverständlich der Mord an Baader, Ensslin und Raspe zugetraut worden.84 Der Jurist und damalige RAF-Anwalt Peter O. Chotjewitz schließt in etwa daran an und beklagt in einem biografischen Roman, dass sich der Rechtsstaat als „fragile Fassade“ einer „Notstandsdiktatur“85 entpuppt habe, die sich erst nach der Beerdigung auf dem Dornhaldenfriedhof abschwächte. Vergleichbares behauptet der Schriftsteller und „Alt-Sponti“86 Matthias Horx in seiner Bilanz der „rebellischen Generation“: Im Deutschen Herbst sei genau das eingetroffen, was die 78 So überschreibt der Autor Willi Winkler in seiner RAF-Chronik die Zeit nach dem Deutschen Herbst als „Aftermath“, zu Deutsch: Nachspiel. Siehe: WINKLER, Willi: Die Geschichte der RAF. Reinbek b. Hamburg 2008, S. 359. 79 So ist die These, wonach die RAF teilweise ein „radikalisiertes Zerfallsprodukt“ der Außerparlamentarischen Opposition war, mittlerweile weitgehend unumstritten. Vgl. WUNSCHIK, Tobias: Aufstieg und Zerfall. Die zweite Generation der RAF. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 1, S. 472-488, hier: S. 487. 80 Vgl. ebd., S. 484-487. 81 STRASSNER, Alexander: Die dritte Generation der ‚Roten Armee Fraktion‘. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation. Wiesbaden 2005, S. 116-127. 82 So das gleichnamige Kapitel im Referenzwerk zur Geschichte der Roten Armee Fraktion bis 1977: AUST, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. Hamburg 1985. 83 Siehe Fn. 72: KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt. 84 Ebd., S. 487. 85 CHOTJEWITZ, Peter Otto: Mein Freund Klaus. Roman. Überarbeitete Neuausgabe. Berlin 2008, S. 347. 86 Gemeint ist seine frühere Mitgliedschaft in einer spontaneistischen Gruppierung in Frankfurt a. M.
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Linken immer befürchtet hätten, „eine Verschärfung des Polizeistaats, immer perfektere Sicherheitssysteme.“87 Deshalb habe sich unmittelbar die Frage gestellt: „Lebte man in einem Staat, der geradewegs auf einen neuen Faschismus zumarschierte, in einer Gesellschaft, in der die sozialen Experimente der letzten Jahre nichts als naiven Kinderkram darstellten?“88 Mit ähnlichen Worten umschreibt der Kabarettist und langjährige Mitstreiter des sozialistischen Zirkels „Revolutionärer Kampf“ Matthias Beltz die um sich greifende Verunsicherung gegenüber dem Staat: „[…] wir alle wussten nicht genau, ob wir nicht wieder in eine faschistoide Gesellschaft hineinschlitterten.“89 Von einer Einschränkung der Meinungsfreiheit spricht der Journalist und Mitbegründer der »taz« Max Thomas Mehr: „Einschneidend an diesem Herbst 1977, auch noch im Rückblick, […] war für mich die zeitweilige Gleichschaltung der Medien, die damit einhergehende Zerstörung von Öffentlichkeit […].“90 Generell erweisen sich die Aktivisten aus dem linken Spektrum von damals wenig auskunftsbereit, wenn es um die Frage geht, wie sie sich selbst respektive das eigene politische Umfeld nach den einschneidenden Ereignissen des Jahres 1977 verhielten. So hält Gerd Koenen in seiner Chronik der linken Protestbewegung der Siebziger Jahre am Deutschen Herbst als schließende Klammer fest, obwohl er ausdrücklich erwähnt, dass er danach seine „extremsten Erfahrungen“91 als KBW-Mitglied machte. Buchstäblich ausgeklammert wird die Jahreswende 1977/78 auch in den Selbstzeugnissen Ellen Diederichs, Rudi Dutschkes, Dieter Kunzelmanns, Reinhard Mohrs, Claudia Roths oder Peter Schütts, um nur einige Beispiele herauszugreifen.92 Filmische Dokumentationen wie Birgit Schulz’ »Die Anwälte. Eine deutsche Geschichte« und Robert Kriegs »Die Provinz, die Revolte und das Leben danach« fangen zwar individuelle Stimmungsbilder ein,93 gleichwohl bleiben Zweifel über ihre Aussagekraft. Dass die Verarbeitung von Zeitzeugenauskünften vor Untersuchungsbeginn problematisiert werden muss, legt auch Michael Schneider in seinem Essay »Den Kopf verkehrt aufgesetzt«94 nahe. Hier macht der Schriftsteller darauf aufmerksam, 87 HORX, Matthias: Aufstand im Schlaraffenland. Selbsterkenntnisse einer rebellischen Generation. München/Wien 1989, S. 143. 88 Ebd., S. 25. 89 BELTZ, Matthias: Unsere Toten. Ein Requiem. In: HORX, Matthias: Aufstand im Schlaraffenland, S. 59. 90 MEHR, Max Thomas: Ein zähes Gespräch nicht nur über einen Film. In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck. Die Linke, die RAF und der Staat. Frankfurt a. M. 1987, S. 40-48, hier: S. 43. 91 KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt, S. 450. 92 Eine Auswahl: DIEDERICH, Ellen: ‚Und eines Tages merkte ich, ich war nicht mehr ich selber, ich war ja ein Mann.‘ Offenbach 1981; DUTSCHKE, Gretchen (Hg.): Rudi Dutschke. Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979. Köln 2003; KUNZELMANN, Dieter: Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben. Berlin 1998; MOHR, Reinhard: Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern. Berlin 2008; SCHÜTT, Peter: Von Basbeck am Moor über Moskau nach Mekka. Stationen einer Lebensreise. Asendorf 2009; ROTH, Claudia: Das Politische ist privat. Erinnerungen für die Zukunft. Berlin 2006. 93 Die Anwälte. Eine deutsche Geschichte. R: SCHULZ, Birgit (Bundesrepublik Deutschland, 2009); Die Provinz, die Revolte und das Leben danach. R: KRIEG, Robert (Bundesrepublik Deutschland, 2004). 94 SCHNEIDER, Michael: Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke. Aspekte des Kulturzerfalls in den siebziger Jahren. Darmstadt u. a. 1981.
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dass ihm das „große Seufzen und Wehklagen über die ‚Ohnmacht des einzelnen gegenüber dem Staat‘“ schon seit Mitte der Siebziger Jahre aufgefallen und aufs Gemüt geschlagen sei. Er kritisiert seine linken Zeitgenossen für ihre „epidemisch um sich greifende […] Bewusstseinsverdüsterung und Willenslähmung“95 und geht so weit, sie in ihrer Gesamtheit als „die melancholische Linke“96 zu bezeichnen. In ähnlicher Weise übt der schon erwähnte Journalist Max Thomas Mehr Kritik am eigenen politischen Lager. Spätestens nach dem Deutschen Herbst habe er eine „Ohnmacht der Linken“ erlebt, die nicht in der Lage waren, dem staatlichen Handeln etwas entgegenzusetzen. „In Italien gab es wenigstens den Versuch einer politischen Auseinandersetzung. In Deutschland hingegen wechselte man einfach das Thema.“97 Die Tendenz zur Beschwichtigung und Passivität sprechen auch die Herausgeber des Bandes »Ein deutscher Herbst. Zustände 1977« an: So habe es Linke nur noch als „verstreute Haufen“ gegeben: „[…] demoralisiert, heimatlos“ und lange Zeit schweigend. Auf den zweiten Blick seien diese Marginalisierten zwar „irgendwie mutig und lebendig“ gewesen, jedoch nicht in der Selbstkritik, sondern „im übereifrigen Abschwören und Distanzieren“98. Damit decken die Herausgeber ein Problem der meisten Stellungnahmen auf: Ob intendiert oder nicht, legen sie meist den Schwerpunkt auf die Kritik am Vorgehen der staatlichen Entscheidungsträger wie Bundesregierung, Generalbundesanwaltschaft und Bundesverfassungsgericht, als wären diese geradezu die naturgemäßen Gegenspieler aller linken politischen Aktivitäten gewesen. Wolfgang Kraushaar bemängelt, dass auf diese Weise nicht nur die eigene Verstrickung in die Radikalisierung der linken Gewalt ausgeblendet werde, sondern auch die Tendenz zur Verharmlosung der Verbrechen der RAF vorangelegt sei.99 Oliver Tolmein, Jurist und Publizist, erkennt gerade hierin das typisch „Deutsche in den Erinnerungen an den Herbst 1977: Das dringende Bedürfnis der Mitläufer sich selbst als Opfer zu inszenieren. Wer ohnmächtig ist, bleibt gut und verantwortet nichts.“100 Vor diesem Hintergrund scheint es geboten, das Verhältnis Linker zum Staat nach dem Deutschen Herbst mit sparsamem Rückgriff auf Zeitzeugenauskünfte und autobiografische Stellungnahmen aufzuarbeiten. Das individuelle Wahrnehmen und Empfinden von Repression muss stärker hinterfragt werden als etwa bei der Erforschung der politischen Unterdrückung in der DDR.101 95 Ebd., S. 57f. 96 Im Titel seines Buchs, in Umkehrung von Walter Benjamins „linker Melancholie“. In einem Aufsatz von 1931 kritisierte der Philosoph die doppelbödige Haltung zeitgenössischer Schriftsteller, die mit ihren Werken eine Zielgruppe bedienten, deren politische und moralische Haltung sie im Grunde ablehnten. Vgl. BENJAMIN, Walter: ‚Linke Melancholie‘. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band III. Frankfurt a. M. 1972, S. 279-283. 97 MEHR, Max Thomas: Ein zähes Gespräch nicht nur über einen Film, S. 43. 98 Verlag Neue Kritik: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Ein deutscher Herbst. Zustände 1977. Frankfurt a. M. 1997, S. 13. 99 Vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: Der nicht erklärte Ausnahmezustand, S. 1025. 100 TOLMEIN, Oliver: Die Herbstzeitlosen. In: Konkret (Nr. 9, 1997). Siehe: http://tolmein.de/ linke-geschichte,raf,183,die-herbstzeitlosen.html (Stand: 06.08.2010). 101 Im Gegensatz zur Bundesrepublik war in der DDR ein institutioneller Apparat etabliert, der strukturelle Repression ermöglichte. Vgl. SCHULLER, Wolfgang: Repression und Alltag in der DDR. In: Deutschland-Archiv (Nr. 7, 1994), S. 272-276, hier: S. 273f. Individuelle Erfahrungen von DDR-Bürgern „im Hinblick auf die Einwirkung von staatssicherheitsdienstlicher Repression und staatlicher Lebenskonditionierung“ konnten laut der Historikerin Babett Bauer zweifelsfrei erhoben und zur weiteren Aufarbeitung gesichert werden. Siehe: BAUER, Babett:
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Von den Historikern, die sich zuletzt mit dem Deutschen Herbst befasst haben, trafen lediglich Nicolas Büchse und Hanno Balz Einschätzungen über den Umgang Linker mit dem Deutschen Herbst. Auffällig dabei ist ihre Uneinigkeit: Auf der einen Seite spricht Balz von einem enormen Anstieg des „Verfolgungs- und Dissoziationsdruckes“, der dem linken Spektrum nach dem Deutschen Herbst blühte. Infolgedessen sei die Linke in eine „Absatzbewegung vom Staat“ geraten, hätte sie sich auf die Suche nach einer „neue[n] Ausrichtung zu mehr Autonomie“102 begeben. Auf der anderen Seite geht Büchse von einer Rückbesinnung Linker auf die Grundwerte der Demokratie aus. Nach dem Deutschen Herbst hätten sie den bis dahin gültigen Zustand der Grundordnung bewahren wollen und keine revolutionären Veränderungen mehr angestrebt.103 Dies deckt sich in etwa mit dem Bild einer politisch wie moralisch in die Defensive geratenen Linken, wie es sich auf dem Dornhaldenfriedhof abzeichnete. Zugleich scheint die These nahe liegend, dass es Spannungen in dem politischen Spektrum gegeben haben muss, nämlich zwischen jenen, die sich freiwillig in die neue Situation fügten, und jenen, die es nur widerstrebend taten.104 Doch lassen die Einschätzungen der Historiker solche Folgerungen zu? Grundsätzlich beruhen beide auf einem Verständnis vom Deutschen Herbst als mentalitäts- und bewusstseinsgeschichtlichem Einschnitt,105 das kaum Widerspruch hervorrufen dürfte. Während Balz jedoch ausdrücklich vor einer Überhöhung der Ereigniskette zur Zäsur warnt, weil es in den Siebziger Jahren gravierendere gesellschaftliche Auseinandersetzungen gegeben habe,106 spricht Büchse von einem Schockerlebnis,107 das sich zumindest auch in den oben angeführten Stellungnahmen der Zeitzeugen abzeichnet. Seine Erklärung dafür, weshalb Linke in Reaktion auf diesen Schock ihren Frieden mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gemacht hätten oder gar daran gingen, sich „mit dem Staat zu versöhnen“108, grünKontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971-1989). Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History. Göttingen 2006, S. 457. 102 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 322. 103 Vgl. BÜCHSE, Nicolas: Von Staatsbürgern und Protestbürgern, S. 330. 104 Die Kluft zwischen beiden Positionen muss nicht zwangsläufig groß gewesen sein, weiß die Autorin Claudia Wolff aus eigener Erfahrung zu berichten. Freiwilligkeit und Widerwille hätten sich demnach im Einzelfall auch ineinander gefügt, weil linkes Denken im Deutschen Herbst generell von staatlicher Seite unter den Verdacht gesetzt worden sei, „Nährboden des Terrorismus“ zu sein. Im Bestreben, sich von der RAF zu distanzieren, habe man das „gefährliche Denken gleich selber bleiben lassen“. Siehe: WOLFF, Claudia: Vom Schwinden der Erregung: Die RAF und wir. In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck, S. 218-222, hier: S. 221. 105 Vgl. KREIMEIER, Klaus: Die RAF und der deutsche Film. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. Hamburg 2006, S. 1155-1170, hier: S. 1155. 106 Vgl. BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 322f. 107 Vgl. BÜCHSE, Nicolas: Von Staatsbürgern und Protestbürgern, S. 330. 108 Ebd. Der Historiker Jörg Requate unterstützt Büchses Beobachtung, hält die Rede von einer „Versöhnung mit dem Staat“ jedoch für „unangemessen“. Es sei vielmehr darum gegangen, bürgerliche, grundgesetzlich garantierte Freiheitsrechte gegen einen Staat zu verteidigen, der diese Freiheiten zunehmend einschränkte. „Insofern fand eine Rückbesinnung auf die Verfassung und damit verbunden eine Neuentdeckung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit statt. So kam es durchaus zu einem neuen, positiveren Staatsbezug […]“. Einen empirischen Beleg für diese Einschätzung liefert Requate (auch) nicht. Siehe: REQUATE, Jörg: Gefährliche Intellektuelle? Staat und Gewalt in der Debatte über die RAF. In: GEPPERT, Dominik/HACKE, Jörg (Hg.): Streit um den Staat, S. 251-268, hier: S. 258.
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det auf der Beobachtung, dass einige „staatsskeptische Autoren und APO-Apologeten“109 1977/78 beschlossen, so genannte »Briefe zur Verteidigung der Republik«110 zu schreiben. Für wen dieses Autorenkollektiv sprach und ob die Mehrheit der Linken ihr Projekt überhaupt begrüßte, kann Büchse nicht klarstellen. Ebenso fehlt auch Balz’ These von der Neuausrichtung der Linken und einem Wandel ihrer Staats- und Herrschaftskritik der wissenschaftliche Beleg. Von Zeitzeugen wird bisweilen eine dritte These ins Spiel gebracht: Den Linken sei im Deutschen Herbst wiederholt vor Augen geführt worden, dass die direkte Konfrontation mit dem Staat, in die noch immer viele ihrer Aktionsformen – ebenso wie der bewaffnete Kampf der RAF – mündeten, zu nichts führte.111 Welche Schlussfolgerung linke Aktivisten aus dieser verfahrenen Situation zogen, deutet der Journalist Reinhard Mohr mit folgender Anekdote an: „[…] zwei Tage nach dem Selbstmord von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, gab es ein großes ‚Sponti-Plenum‘ in der Frankfurter ‚Batschkapp‘, der Konzerthalle der linken Szene. Fast alles habe ich vergessen, an eines aber erinnere ich mich noch heute ganz genau: Eine hübsche, rothaarige und temperamentvolle Sponti-Frau, sie hieß Elfie, stand auf und rief laut in die vor Lähmung bedrückte und ratlose Versammlung: ‚Verdammt noch mal, ich will leben, ich will Kinder haben. Ich bin weder für die RAF noch für den Staat!‘.“
3.4 Aufbau der Untersuchung Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich drei Untersuchungsabschnitte, die der Arbeit ihren konzeptionellen Rahmen verleihen. In welche Richtungen und auf welche Ebenen sie die Betrachtungen zum Verhältnis Linker zum Staat nach dem Deutschen Herbst lenken, soll der Reihe nach erläutert werden. 1.) Rückblick: Zeithistorischer Kontext des Verhältnisses Linker zum Staat nach dem Deutschen Herbst. Zwischen Kraushaars These vom „nicht erklärten Ausnahmezustand“113 und der dokumentierten Furcht der Notstandsgegner vor einem „diktatorischen Ausnahmezustand“ in der Bundesrepublik,114 besteht eine produktive Spannung, die zur der Frage veranlasst, ob das Verhältnis Linker zum Staat zwischen 1968 und 1977 von
109 BÜCHSE, Nicolas: Von Staatsbürgern und Protestbürgern, S. 330. 110 Siehe Fn. 41: DUVE, Freimut/BÖLL, Heinrich/STAECK, Klaus (Hg.): Briefe zur Verteidigung der Republik; dies. (Hg.): Briefe zur Verteidigung der bürgerlichen Freiheit. Reinbek b. Hamburg 1978. 111 Laut Fichter und Lönnendonker habe der Göttinger Mescalero diese Erkenntnis bereits nach dem Mord an Siegfried Buback ausgesprochen. In seinem „Buback-Nachruf“ vom April 1977 erklärte der „Sponti“ den bewaffneten Kampf der RAF zur falschen Politik; zugleich erteilte er auch eine Absage an jegliches (partei-)politisches Engagement. Siehe: FICHTER, Tilman/ LÖNNENDONKER, Siegward: Die Klammheimlichen im Ghetto. In: Zurück zur politischen Diskussion! Info Extra der TU und FU Berlin (25.11.1977), S. 6f., hier: S. 7. Vgl. auch: MARKOVITS, Andrei S./GORSKI, Philip S.: Grün schlägt rot, S. 95. Mehr zum Mescalero-Brief, siehe: Kap. V.2, S. 213-215. 112 MOHR, Reinhard: Der diskrete Charme der Rebellion, S. 236. 113 Siehe Fn. 59. 114 Vgl. KOENEN, Gerd: Ach, Achtundsechzig. Fischer, das ‚Rote Jahrzehnt‘ und wir. In: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur (Nr. 2, 2001).
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einem kontinuierlichen Repressionsempfinden115 geprägt gewesen ist. Worauf beziehen sich Sozialwissenschaftler wie Roland Roth und Dieter Rucht, wenn sie von einer „Steigerung staatlicher Repression“116 in den Siebziger Jahren sprechen? Wie gelangen Politologen wie Andrei S. Markovits und Philip S. Gorski zu der Auffassung, dass der Staat im Kampf gegen den RAF-Terrorismus „Repressions- und Überwachungskräfte […] unter Verletzung seiner eigenen Werte – bürgerliche Freiheiten und ordentliche Gerichtsverfahren – mobilisierte?“117 Zur Klärung dieser Fragen soll in Kap. III „Linke und ihr ,Modell Deutschland’“ die frühe bis mittlere sozialliberale Ära (1969-1977) der Bundesrepublik bilanziert werden. Willy Brandt hatte seine Kanzlerschaft 1969 mit einem „Programm der Liberalisierung, der Emanzipation und Partizipation“118 angetreten, das auch als Antwort auf die Anti-Notstandsbewegung und die gesamte 68er-Bewegung gedacht war. Der Extremistenbeschluss von 1972 und die Politik der Inneren Sicherheit können als Bruch dieses Versprechens, „mehr Demokratie zu wagen“, aufgefasst worden sein.119 Die entscheidende Frage ist, ob die Enttäuschung darüber bis zum Ende der Siebziger Jahre unter den Linken nachwirkte und welchen Einfluss die Kanzlerschaft Helmut Schmidts auf ihre Stimmungslage hatte. Aufschluss soll eine Untersuchung zum Wahlslogan „Weiterarbeiten am Modell Deutschland“ geben, mit dem die SPD 1976 das Regierungsprogramm der Ära Schmidt überschrieb und die Ära Brandt zugleich als Erfolg verbuchte. Welche Erwartungen weckte die SPD damit bei ihren Wählern? Welche Erwartungen verknüpften Linke mit dem Programm? Inwieweit spiegelte sich für sie darin die empfundene Repression der Siebziger Jahre wieder? Passte das Regierungsprogramm zum linken Deutungsmuster vom „starken Staat“120? Ausgehend von der Überlegung, dass sich die Stimmungslage der Notstandsgegner einst in einer bestimmten Vorstellung vom bundesrepublikanischen Staat verdichtet hatte, die mit Begriff „Notstandsstaat“121 auf den Punkt gebracht worden 115 Die Politologin Susanne Kailitz führt die Wahrnehmung von Repression auf subjektives Empfinden zurück: Die sich objektiv in einem „normalen Rahmen“ bewegenden Sanktionsmaßnahmen des Staates gegenüber sich rechtswidrig verhaltenden Personen, werden im Einzelfall als Überreaktionen oder sogar als gewaltsame Übergriffe empfunden. Kailitz sieht hierin Unterdrückungsgefühle, auf Grund derer sich Personen oder Gruppen oftmals veranlasst sehen, gegen die „repressiven Strukturen“ des Staates ankämpfen zu müssen. Vgl. KAILITZ, Susanne: Von den Worten zu den Waffen? Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage. Wiesbaden 2007, S. 42-44. Siehe Kap. II.2.3, S. 64. 116 ROTH, Roland/RUCHT, Dieter: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, S. 9-38, hier: S. 20. 117 MARKOVITS, Andrei S./GORSKI, Philip S.: Grün schlägt rot, S. 122. 118 METZLER, Gabriele: Der lange Weg zur sozialliberalen Politik. Politische Semantik und demokratischer Aufbruch. In: KNOCH, Habbo (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl, S. 157-180, hier: S. 157. 119 Vgl. ROTH, Roland: Demokratie von unten. Neue soziale Bewegungen auf dem Wege zur politischen Institution. Köln 1994, S. 7. Roth bezieht sich auf den Wahlslogan Willy Brandts zur Bundestagswahl 1969. Von einem „Jahrzehnt der Enttäuschung“ für die außerparlamentarische Linke sprechen Andrei S. Markovits und Philip S. Gorski. Vgl. MARKOVITS, Andrei S./GORSKI, Philip S.: Grün schlägt rot, S. 125. 120 Vgl. BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 301-308. 121 Nach dem Titel des Buches: KOGON, Eugen/ABENDROTH, Wolfgang/RIDDER, Helmut/ HANNOVER, Heinrich/SEIFERT, Jürgen: Der totale Notstandsstaat. Frankfurt 1965. Jürgen Seifert äußerte später in einem Interview: „Die überzogenen Pläne der Bundesregierung von
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war, soll untersucht werden, ob Linke auf vergleichbare Weise mit dem Slogan „Modell Deutschland“ umgingen – ob sie ihn nicht nur umdeuteten, sondern auch umfunktionierten.122 Als Quellengrundlage dient eine Art „Modell Deutschland“Literatur linker Intellektueller aus den Jahren 1976 bis 1980: In Aufsätzen und Monografien haben unter anderem Karl Dietrich Bredthauer, Frank Haenschke, Joachim Hirsch und Wolf-Dieter Narr gegen den Wahlslogan der SPD Stellung bezogen und dargelegt, was sie mit ihm assoziierten.123 Während unter methodischen Gesichtspunkten die in der Wahlwerbung der SPD „initiierten und geronnenen Kommunikationsinhalte und -prozesse […] als Chiffren und Bewusstseinsäußerungen teil- oder gar gesamtgesellschaftlicher Dimension“124 verstanden und gedeutet werden können, lassen sich aus der Kritik am Slogan zwar keine wissenschaftlich verallgemeinerbaren Schlüsse, aber immerhin Hypothesen darüber ableiten, welche Vorstellungen vom bundesrepublikanischen Staat unter Linken in der Zeit des Deutschen Herbstes präsent waren. Die Entstehungsgeschichte des Slogans und des Regierungsprogramms wird mit Hilfe von Quellenmaterialien aus dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Bonn aufgearbeitet. 2.) Detailblick: Linker Umgang mit dem Deutschen Herbst – Linke und Staat nach dem Deutschen Herbst. Runde Jubiläen des Deutschen Herbstes nahmen linke Intellektuelle wiederholt zum Anlass, um die Folgen der Ereigniskette für ihr politisches Spektrum einzuschätzen.125 Meist rückt dabei das Verhalten staatlicher Institutionen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen: Über die Deutung als „nicht erklärten Ausnahmezustand“ hi-
1960 bis 1966 für eine Notstandsverfassung haben wesentlich dazu beigetragen, daß sich in der sowohl gewerkschaftlichen als auch der studentischen Protestbewegung die Auffassung durchsetzte, die Bundesrepublik sei auf dem Wege zu einem ‚totalen Notstandsstaat‘. Ich selbst war nicht dieser Ansicht, meinte aber, daß die Notstandsgesetze eine ‚Bombe mit Zeitzünder‘ seien und, wenn sie nicht entschärft würden, gegen die Demokratie und den Rechtsstaat instrumentalisiert werden könnten.“ Siehe: SEIFERT, Jürgen: Dieses harte Entweder-Oder. Über Ulrike Meinhofs Weg in den Terrorismus. In: Der Spiegel (24.07.1995). 122 Analog zur begriffsgeschichtlichen Theorie, wonach „einzelne Wörter im Rahmen verschiedener Erfahrungsbereiche […] verschieden gebraucht und verstanden werden“. Vgl. GUMPRECHT, Hans Ulrich: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München 2006, S. 40. 123 BREDTHAUER, Karl Dietrich: Modell Deutschland? Aus Liebe zu Deutschland? Scheinalternativen und Alternativen im Wahljahr 1976. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (Bd. 21/II, 1976), S. 975-997; HAENSCHKE, Frank: Modell Deutschland? Die Bundesrepublik in der technologischen Krise. Reinbek b. Hamburg 1977; HIRSCH, Joachim: Das ‚Modell Deutschland‘, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1986; NARR, Wolf-Dieter: Die Bundesrepublik Deutschland – Modell einer nachliberalen Gesellschaft. In: Rotbuch Verlag (Hg.): Die Linke im Rechtsstaat. Bd. 2. Berlin 1979, S. 8-33; des Weiteren u. a.: KADE, Gerhard: Die deutsche Herausforderung. ‚Modell Deutschland‘ für Europa? Köln 1979; FARIN, Klaus/ZWINGMANN, Hans-Jürgen (Hg.): Modell Deutschland? Berufsverbote. 2. neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Ettlingen 1979. 124 GRIES, Rainer/ILGEN, Volker/SCHINDELBECK, Dirk: ‚Ins Gehirn der Masse kriechen!‘ Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995, S. 15. 125 Vgl. TOLMEIN, Oliver/zum WINKEL, Detlef: Nix gerafft. 10 Jahre Deutscher Herbst und der Konservativismus der Linken. Hamburg 1987; siehe Fn. 35: Ein deutscher Herbst.
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naus wird der Deutsche Herbst zur Klimax einer staatlichen „Legitimationskrise“126 erhoben und zugleich die Rechtsstaatlichkeit im Handeln Helmut Schmidts und des Großen Krisenstabes infrage gestellt.127 Untermalt werden solche Einschätzungen durch die „Katerstimmung“ (oder Melancholie) in der Erinnerungsliteratur linker Zeitzeugen, wie sie bereits an einigen Beispielen gezeigt wurde. Die verschiedenen Ansätze ihrer Vergangenheitsbewältigung beziehen sich meist auf jene „44 Tage im Herbst“128, berücksichtigen jedoch kaum, wie sich das eigene politische Spektrum, der Kreis der Mitstreiter oder der jeweilige Verfasser selbst in der unmittelbaren Folgezeit verhielten. Werden den mageren Auskünften der Zeitzeugen noch die spärlichen historischen Forschungsergebnisse zur Seite gestellt, so offenbart sich, wie sehr die Zeit nach dem Deutschen Herbst in Vergessenheit geraten ist. Die Untersuchung zielt deshalb im zweiten Schritt darauf ab, Denk-, Fühl- und Handlungsweisen Linker im Zeitraum 1978/79 zu erfassen und daraus Schlussfolgerungen über ihren Umgang mit den einschneidenden Ereignissen zu ziehen – besonders im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Staat. Mit anderen Worten: Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf eine Gruppe von Akteuren, die auf Grund ihrer politischen Ausdifferenzierung von einer Pluralität der Deutungsmuster und Einstellungen gekennzeichnet ist; auf einen Zeitraum, dem aus ihrer Sicht womöglich ein paradigmatischer Bruch auf der gesellschaftlichen Makroebene vorausgegangen war;129 und auf das Verhältnis, in das sich diese Akteure zur gesellschaftlichen Makroebene setzten. Unter diesen Voraussetzungen erscheint ein mikrogeschichtlicher Zugang nahe liegend. Prämisse dieser geschichtswissenschaftlichen Teildisziplin ist es, auf Vergrößerung des Maßstabes und, im Umkehrschluss, auf Verkleinerung der Untersuchungseinheit zu setzen. „Ihre Qualität erweist sich nicht im Herausarbeiten von isolierbaren Einzelfaktoren, sondern in einer möglichst ‚dichten Beschreibung‘ der vorgefundenen Wirkungszusammenhänge“130, erläutert die Historikern Olivia Hochstrasser und verweist damit auf den Anspruch auf Realitätsnähe und Konkretheit, den die Mikrogeschichte gegenüber der eher auf „Durchschnitte, Typen und Gesetzmäßigkeiten“131 ausgerichteten Makrogeschichte für sich behaupte. Die Vergrößerung des Maßstabes soll bei der Untersuchung des linken Spektrums nach dem Deutschen Herbst dadurch erreicht werden, dass bedeutende Protestphänomene im engen Zeitraum der Jahre 1978/1979 als markante Beispiele für das Verhalten Linker herangezogen werden. Doch welche kommen dafür infrage? Auf Anhieb mag sich der Gedanke aufdrängen, dass Linke ausgangs der Siebziger
126 HACKE, Jens: Der Staat in Gefahr, S. 188, ausführlicher: S. 192-196. Vgl. auch: METZLER, Gabriele: Staatsversagen und Unregierbarkeit in den siebziger Jahren? In: JARAUSCH, Konrad H. (Hg.): Das Ende der Zuversicht?, S. 243-260, hier: S. 249. 127 Vgl. CHOTJEWITZ, Peter Otto: Mein Freund Klaus, S. 360. 128 So das gleichnamige Kapitel im Referenzwerk zur Geschichte der Roten Armee Fraktion bis 1977: AUST, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. Hamburg 1985. 129 VOGEL, Jakob: Historische Anthropologie. In: CORNELIßEN, Christoph (Hg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. Frankfurt a. M. 2000, S. 295-306, hier: S. 298. 130 HOCHSTRASSER, Olivia: Mikrohistorie und Gesellschaftsgeschichte: Thesen zu einem immer noch aktuellen Thema. In: Werkstatt Geschichte (Nr. 11, 1995), S. 48-54, hier: S. 50f. 131 ULBRICHT, Otto: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2009, S. 341.
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Jahre vor allem umweltpolitisch in Bewegung waren.132 Doch gerade nach dem Deutschen Herbst, genauer: nach den Demonstrationen in Kalkar am 24. September 1977, setzte in der Umweltbewegung133 und ihrem linken Flügel „eine Phase allgemeiner Skepsis gegenüber Großdemonstrationen zum Schwerpunkt ‚Atomkraft‘“134 ein. Diese äußerte sich in einem Schwund von Protestteilnehmern und einem Nachlassen der Aktivitäten.135 Was für die Umweltbewegung galt, lässt sich jedoch nicht auf das linke Spektrum verallgemeinern, denn für die Jahre 1978/79 wurden bundesweit immerhin fünf große Protestveranstaltungen verzeichnet, die auf Initiative von linken Organisationen oder Gruppierungen stattfanden.136 Darunter verdankten sowohl die Demonstration gegen den Neonazismus in Köln (29. März 1978), als auch das erste Konzertfestival »Rock gegen Rechts«137 in Frankfurt a. M. (16. Juni 1979) ihre Erfolge jeweils einem Bündnis mehrerer Initiatoren, die nicht durchweg im linken Spektrum angesiedelt waren. Übrig bleiben drei Großveranstaltungen, für die dies zweifelsfrei galt: Auf dem TUNIX-Kongress (27. bis 29. Januar 1978), auf dem 3. Internationalen Russell-Tribunal (28. März bis 4. April 1978, 3. bis 8. Januar 1979) und auf dem Internationalen Kongress für und über Rudolf Bahro (16. bis 19. November 1978) trafen hunderte, zum Teil tausende Linke zusammen, um Ansichten kund zu tun, Meinungen auszutauschen und Botschaften an die Öffentlichkeit zu übermitteln. Die drei Protestveranstaltungen eignen sich deshalb als Untersuchungsgegenstände, weil sie nicht nur eine Vielzahl an Zielgruppen aufwiesen, sondern auch aus verschiedenen Teilen des linken Spektrums hervor gingen: So gilt der TUNIXKongress in der Sekundärliteratur als „Massenerfolg“138 und Beispiel für die „Mo-
132 Die Auseinandersetzungen um den Bau der Kernkraftwerke in Wyhl, Brokdorf und Kalkar machten international Schlagzeilen. Was das Verhältnis zum Staat angeht, sprachen besonders die Besetzungen der Bauplätze und der Widerstand gegen Polizeieinsatzkräfte für sich. 133 Mit Umweltbewegung ist hier auch die Anti-AKW-Bewegung gemeint, die dabei als Teilbewegung der ersten verstanden wird. 134 PETTENKOFER, Andreas: Kritik und Gewalt, S. 415. 135 Laut dem Soziologen Andreas Pettenkofer griff ein regelrechter „Pessimismus“ um sich. Vgl. ebd., S. 393. Der Sozialwissenschaftler Dieter Rucht bestätigt diesen Eindruck und verweist darauf, dass sich verschiedenen Teile der Bewegung auf neue Aktionsmöglichkeiten besonnen und die Konfrontation mit dem Staat nicht mehr direkt gesucht hätten. Demnach habe ein Teil der Bewegung seither verstärkt Energiesparmaßnahmen und die Entwicklung regenerierbarer Energien propagiert. Ein anderer Teil habe auf „verfahrensförmigen Widerstand“ gesetzt. Ein weiterer Teil habe sich um den Aufbau von Umweltschutzorganisationen bemüht. Zudem hätten die Parteien eigene Kongresse zu Energie- und Umweltfragen veranstaltet, wodurch sich das Protestklima abkühlte. Vgl. RUCHT, Dieter: Anti-Atomkraftbewegung. In: ROTH, Roland/RUCHT, Dieter (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945: Ein Handbuch. Frankfurt a. M. 2008, S. 246-266, hier: S. 252; vgl. auch: RUCHT, Dieter/ROOSE, Jochen: Empirische Befunde zur Institutionalisierung der Ökologiebewegung. In: RUCHT, Dieter (Hg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen. Frankfurt a. M. 2001, S. 181-210, hier: S. 184f. 136 Vgl. ROTH, Roland/RUCHT, Dieter: Chronologie von Ereignissen. In: Dies. (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, S. 680. 137 Vgl. dazu: LEUKERT, Bernd: Thema: Rock gegen Rechts. Frankfurt a. M. 1980. 138 Autorenkollektiv Quinn, der Eskimo, Frankie Lee und Judas Priest: ‚Zum Tango gehören immer zwei, wenn ich gehe, kommst du mit!‘ In: HOFFMANN-AXTHELM Dieter/KALLSCHEUER, Otto/KNÖDLER-BUNTE, Eberhard/WARTMANN, Brigitte (Hg.): Zwei Kulturen? TUNIX, Mescalero und die Folgen. Berlin 1979, S. 125-138, hier: S. 128.
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bilität und Zugkräftigkeit“139 der spontaneistischen Bewegung, ebenso als „theoretischer und emotionaler Ausgangspunkt“140 der Alternativszene. Das 3. RussellTribunal kam laut Oliver Tolmein auf Initiative eines breiten politischen Spektrums in der bundesdeutschen Linken zu Stande.141 Und der Bahro-Kongress wird von Wolfgang Kraushaar als „großer Bahnhof“ beschrieben, auf dem neben ausländischen Gästen „Sozialisten und Sozialdemokraten, DDR-Abhauer und -Abgeschobene, Gewerkschaftler und linke Professoren, sozialistische Christen und liberale Radikaldemokraten einfuhren.“142 Einen Teil des linken Spektrums decken die Veranstaltungen demnach nicht ab: Gewaltbereite radikale Linke gehörten weder zu den Initiatoren, noch zu den Teilnehmern. Ausgehend vom Deutschen Herbst und der Beerdigung auf dem Dornhaldenfriedhof besteht jedoch ein besonderes Interesse daran, Personen, die der RAF nahe standen beziehungsweise mit den „politischen“ Gefangenen solidarisierten, in die Untersuchung einzubeziehen. Dazu ist es notwendig, ein gesondertes Protestphänomen zu berücksichtigen. Infrage kommen nur die so genannten Gefangeneninitiativen, weil sie die einzige Organisationsform darstellten, von der aus das Umfeld der RAF und anderer bewaffneter Gruppierungen Protestaktivitäten startete. Mit der Festlegung auf vier Protestphänomene ist die Verkleinerung der Untersuchungseinheit vollzogen. Allerdings kommt auch ein erster Nachteil zum Vorschein: Je fokussierter der Blick auf bestimmte Protestveranstaltungen und -initiativen, umso größer die Zahl von Personen und Gruppierungen, die aus dem „Blickfeld“ geraten. Dies betrifft etwa all jene, die im Zeitraum 1978/79 politisch inaktiv waren – eingeschlossen auch jene, die keine Veranlassung sahen, sich mit der Situation nach dem Deutschen Herbst auseinanderzusetzen, die sich womöglich über das Verhalten ihrer Mitstreiter beklagten und an deren Selbstverantwortung erinnerten. Ebenso bleiben all jene außen vor, die sich an kleineren Protestaktivitäten beteiligten oder in anderen Zusammenhängen politisch wie gesellschaftlich engagierten. Sollten einige von ihnen dabei als öffentliche Kritiker der ausgewählten Protestphänomene oder als Initiatoren von Gegenveranstaltungen in Erscheinung getreten sein, können sie allerdings noch über die Hintertür Eingang in die Untersuchung finden. Eine Forderung des mikrohistorischen Ansatzes ist es nämlich, alle zugänglichen Quellen zu sichten – „eine immense Arbeit“, wie der Historiker Otto Ulbricht betont, und bei größeren Untersuchungseinheiten „praktisch nicht möglich“143. Dies kann durchaus als ein weiterer Nachteil des Ansatzes betrachtet werden. Im vorliegenden Fall hat der Eifer der Veranstaltungsinitiatoren, sich als „Chronisten“ in eigener Sache zu betätigen, den Einstieg in die Recherchen immerhin ein Stück weit erleichtert. Das jeweilige Material ist von unterschiedlicher Qualität. Zum
139 GLOMB, Ronald: Auf nach Tunix. Collagierte Notizen zur Legitimationskrise des Staates. In: GEHRET, Jürgen (Hg.): Gegenkultur heute. Die Alternativbewegung von Woodstock bis Tunix. 2. Auflage. Amsterdam 1979, S. 137-144, hier: S. 138. 140 MAGENAU, Jörg: Die taz. Eine Zeitung als Lebensform. München 2007, S. 29. 141 TOLMEIN, Oliver: Wider das ‚Modell Deutschland im Herbst‘. Die Auseinandersetzungen um das Internationale Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der BRD. In: GÖSSNER, Rolf (Hg.): Widerstand gegen die Staatsgewalt. Handbuch zur Verteidigung der Bürgerrechte. Hamburg 1988, S. 128-143, hier v. a.: S. 133, S. 135f. 142 KRAUSHAAR, Wolfgang: Linke Geisterfahrer. Zum Solidaritätskongreß für Rudolf Bahro im November 1978 in West-Berlin. In: Ders.: Revolte und Reflexion, S. 151-169, hier: S. 151. 143 ULBRICHT, Otto: Mikrogeschichte, S. 14.
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TUNIX-Kongress liegt ein Band von Dieter Hoffmann-Axthelm vor,144 in dem verschiedene Beiträge zu Veranstaltung gesammelt wurden. Zum 3. Russell-Tribunal gaben die Organisatoren Wolf-Dieter Narr und Uwe Wesel gleich eine vierteilige Reihe von Berichten heraus.145 Und an den Bahro-Kongress erinnern ein Materialband sowie eine Art Abschlussbericht, für den unter anderem Rudolf Steinke verantwortlich zeichnete.146 Die zum Teil sehr umfangreichen Texte erlauben einen tiefen Einblick in den Ablauf der Veranstaltungen. Ihre Thematik erschließt sich jedoch schon bei oberflächlicher Lektüre. Die Einladung zum TUNIX-Kongress verspricht etwa ein „Treffen all derer, denen es stinkt in unserem Lande“: „Sie haben uns genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die Wohnungen, die Pässe, die Fresse poliert“ lautet ein Hauptvorwurf der Organisatoren; nun wollte man „neue Ideen für einen neuen Kampf entwickeln, den wir selbst bestimmen.“147 In den Bänden zum 3. Russell-Tribunal ist von der Sorge um die „Entwicklung und die Verwirklichung der rechtsstaatlichen Demokratie in der Bundesrepublik“148 die Rede. Eine internationale Jury sollte prüfen, ob in der Bonner Republik Menschenrechte gefährdet seien. Nicht juristisch, sondern politiktheoretisch ging es auf dem Bahro-Kongress zu: Hier wurde laut Materialienband eine „sozialistische Alternative“149 diskutiert. Die Veranstalter setzten sich für die Freilassung des SED-Kritikers Rudolf Bahro ein. Sein Schicksal als politischer Gefangener wurde zum Anlass genommen, gegen „Meinungsunterdrückung – ganz gleich, ob in der Bundesrepublik oder der DDR“150 zu protestieren. Weiteres Quellenmaterial kann aus dem Schriftverkehr der Organisatoren und ihrer Unterstützer, aus Grauliteratur und Verlautbarungen aller Art, die im Zusammenhang mit den Veranstaltungen entstanden, gewonnen werden. Verwahrorte solcher Quellen sind die Archive der sozialen Bewegungen wie das APO-Archiv der Freien Universität (FU) Berlin, das Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) und das International Institute of Social History (IISG) in Amsterdam. Im Falle des Bahro-Kongresses stellt die Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) eine wichtige Anlaufstelle dar. Das von Wolf-Dieter Narr angelegte Privatarchiv zum 3. Russell144 HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen? Tunix, Mescalero und die Folgen. Berlin 1979. 145 Wolf-Dieter Narr und Uwe Wesel gehörten dem Deutschen Beirat des Tribunals an, der als Herausgeber auftrat: 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente, Verhandlungen, Ergebnisse. Bd. 1-4. Berlin 1978/79. 146 MÄNICKE-GYÖNGYÖSI, Kristina/STEINKE, Rudolf u. a. (Hg.): Der Bahro-Kongreß. Aufzeichnungen, Berichte und Referate. Dokumentation des Bahro-Kongresses vom 16.-19. November 1978 in der Technischen Universität Berlin. Berlin 1979. 147 Flugblatt: Treffen in Tunix. In: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen?, S. 93. 148 DEDIJER, Vladimir: Einleitende Erklärung zur Eröffnung des 3. Internationalen Russell-Tribunals. In: 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente, Verhandlungen, Ergebnisse. Bd. 1. Berlin 1978, S. 9-13, hier: S. 9. 149 Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Internationaler Kongreß für und über Rudolf Bahro. Umbruch in Osteuropa – die sozialistische Alternative. Materialien. Köln 1978. 150 BERGER, Rolf: Rede zur Eröffnung des Bahro-Kongresses. In: MÄNICKE-GYÖNGYÖSI, Kristina/STEINKE, Rudolf u. a. (Hg.): Der Bahro-Kongreß, S. 7-10, hier: S. 10.
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Tribunal wurde in den Achtziger Jahren aufgelöst und scheidet leider als Forschungsumgebung aus. Der Totalitätsanspruch bei der Quellenrecherche erfordert es, „vielfältige und disparate Quellenmaterialien zu verwenden und aufeinander zu beziehen.“151 Dies schließt die Arbeit mit Zeitzeugen ein. Gespräche mit den Initiatoren der verschiedenen Protestphänomene, aber auch mit Teilnehmern und Beobachtern, können die Einordnung der über die verschiedenen schriftlichen und möglicherweise auch multimedialen Quellen generierten Informationen erleichtern: Themen, Ereignisse, Meinungen erscheinen durch ihre Präsenz in den Materialien vielleicht relevanter als sie es für die Beteiligten seinerzeit tatsächlich waren. Treten Widersprüche zwischen den schriftlichen Darstellungen und den Angaben der Zeitzeugen auf, provoziert dies neue, im Glücksfall produktive Fragen an das Material. Haben, umgekehrt, die schriftlichen Quellen Fragen aufgeworfen oder Zusammenhänge im Unklaren gelassen, können die Befragungen möglicherweise Antworten oder dem entsprechende Hintergrundinformationen liefern. Die eigentliche Methode dieser Oral History sind gezielte Erinnerungsbefragungen, mit deren Hilfe „durch Gespräche ein auswertbarer Text produziert wird“152. Der Zweck von Erinnerungsbefragungen besteht darin, die Subjektivität von Einzelpersonen, „wie sie sich in ihren Vorprägungen und Erwartungen, in ihrer besonderen Perspektive, in der Verknüpfung scheinbar gar nicht zusammengehöriger Erfahrungsbereiche und in der Verarbeitung dieser Erfahrung ausspricht“153, zu ermitteln. Sie kann der Objektivität, die aus der Arbeit mit den gesammelten schriftlichen und medialen Quellen aller Art „entstehen“ soll, ergänzend oder auch kontrastierend zur Seite gestellt werden. Um dies bei jedem der Protestphänomene ausgewogen zu gestalten, scheint es ratsam, jeweils mindestens zwei ihrer Initiatoren zu befragen. Spätestens im Kontakt mit den Zeitzeugen verdeutlicht sich, wie wichtig eine Problematisierung der Perspektive ist, die in der Untersuchung eingenommen wird. Die Aufarbeitung linker Sichtweisen verlangt ein dynamisches, offenes Verhältnis zum erforschten Objekt, darf aber nicht mit Identifikation verwechselt werden. Dies ist auch ein sprachliches Problem. Linke Deutungsmuster verdichten sich allzu gerne in Kampfbegriffen und der Zeitraum 1978/79 bildete dabei keine Ausnahme. Im Zusammenhang mit den zu untersuchenden Protestphänomenen fallen besonders „Repression“, „Berufsverbot“ und „politische Gefangene“ als Reizworte auf. Gerade das 3. Russell-Tribunal scheint eine Plattform für den inflationären Gebrauch dieser Begriffe gewesen zu sein. Die Eröffnungsrede zur zweiten Sitzungsperiode des Tribunals ist dafür ein gutes Beispiel, häuften sich hier doch Formulierungen wie „Pressionen“, „Unterdrückungsmaßnahmen“ und „repressive Methoden“ innerhalb weniger Absätze, kam das „Problem“ und die „Praxis des Berufsverbots“154
151 HOCHSTRASSER, Olivia: Mikrohistorie und Gesellschaftsgeschichte, S. 50. 152 NIETHAMMER, Lutz: Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History. In: Ders./von PLATO, Alexander (Hg.): ‚Wir kriegen jetzt andere Zeiten‘. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 3. Berlin/ Bonn 1985, S. 392445, hier: S. 399. 153 Ebd., S. 400. 154 DEDIJER, Vladimir: Eröffnungsrede des Präsidenten des 3. Internationalen Russell-Tribunals. In: 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 3: Zensur. Gutachten, Dokumente, Verhandlungen der 2. Sitzungsperiode – Teil 1. Berlin 1979, S. 10-16.
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energisch zur Sprache. Von „politischen“ Gefangenen155 war dagegen vor allem in den Verlautbarungen der jeweiligen Initiativen für die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen die Rede. Allerdings besaßen diese keinen Alleinanspruch auf den Begriff: Auch Initiativen, die sich für den Bahro-Kongress und in der Solidaritätskampagne für den inhaftierten SED-Kritiker engagierten, sorgten sich um die Haftbedingungen von „politischen Gefangenen“156, meinten aber jene in der DDR. Um die unterschiedlich intendierten Begriffsverwendungen nicht miteinander zu vermischen, sollen vor Beginn der Untersuchung neben dem Begriff „Linke“ auch die Begriffe „Repression“, „Berufsverbote“ und „politische Gefangene“ problematisiert werden. In dem dafür geschaffenen Kap. II „Begriffserläuterungen“ wird sich der Autor gegenüber den Begriffen positionieren, ihren tendenziellen, wertenden Charakter aufdecken und verdeutlichen, unter welchen Voraussetzungen er auf sie zurückgreift und warum er sie gegebenenfalls meidet. Dieser Arbeitsschritt ist Teil der Quellenkritik, wie sie für den Umgang mit sämtlichem, der Untersuchung zugrunde liegenden Material geboten ist, aber nicht in jedem Fall gesondert ausformuliert werden kann. Um die Lesbarkeit dieser Arbeit zu wahren, gilt: Je breiter die Materialgrundlage zu einem Sachverhalt erschlossen ist, umso knapper fällt die Problematisierung einzelner Quellen aus. Mit diesen Arbeitsschritten wären die Voraussetzungen für eine mikrogeschichtliche Untersuchung geschaffen. Praktisch umgesetzt wird sie mittels einer „Dichten Beschreibung“157. Das in Anlehnung an den Ethnologen Clifford Geertz entstandene Verfahren bedeutet nicht nur „minutiöses Nachzeichnen der allerkleinsten Details“, „präzise Beschreibung von Handlungsabläufen“158, sondern vor allem Erläuterung und Deutung kultureller und gesellschaftlicher Ausdrucksformen159 – von denen Protest eine mögliche ist: „Protest ist öffentliche, kollektive Aktion mit Konfliktcharakter“, formuliert der Historiker Manfred Gailus eine Art Minimaldefinition. „Protest konstituiert sich in und durch Aktionen, er lebt von Gruppenhandlungen, von und aus selbstinitiierten Ereignissen. Sie sind die eigentliche Sprache des Protests. Sie sagen und bedeuten stets mehr als das allein in Texten und durch Texte verbal Sagbare.“160 Und genau auf dieses „Große im Kleinen“ richtet sich das Erkenntnisinteresse der Mikrogeschichte, die es, entgegen ihrer Kritiker, nicht auf das Verharren im Kleinen oder Statischen abgesehen hat.
155 So trug etwa das „Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa – Sektion BRD“ diesen Begriff schon im Namen. Vgl. KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen. Zur Kampagne gegen die Justiz. Herausgegeben vom Bundesministerium des Innern. Bonn 1983, S. 87-105. 156 Zum Beispiel: HELLER, Agnes: Erklärung. In: 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 4: Einschränkung von Verteidigungsrechten, Verfassungsschutz. Gutachten, Dokumente, Verhandlungen zur 2. Sitzungsperiode – Teil 2. Berlin 1979, S. 184f., hier: S. 185. 157 Vgl. GEERTZ, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 1994. 158 Zit. nach: ALLWEIER, Sabine: Canaillen, Weiber, Amazonen. Frauenwirklichkeiten in Aufständen Südwestdeutschlands 1688 bis 1777. Münster 2001, S. 47. 159 Vgl. GEERTZ, Clifford: Dichte Beschreibung, S. 9. 160 GAILUS, Manfred: Was macht eigentlich historische Protestforschung? Rückblicke, Resümee, Perspektiven. In: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen (Nr. 34, 2005) – Forschungen und Forschungsberichte, S. 127-154, hier: S. 130.
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Deshalb ist es auch das Anliegen dieser Untersuchung, über die Beschreibung der Protestphänomene nicht nur Aussagen über den Umgang Linker mit dem Deutschen Herbst zu treffen, sondern davon ausgehend auch Schlussfolgerungen über ihr Verhältnis zum Staat zu ziehen. Die Themensetzungen der Veranstaltungen wie auch das Anliegen der Gefangeneninitiativen liefern hierfür gute Anhaltspunkte, ist doch den Forderungen nach Selbstbestimmung, Demokratisierung, Meinungsfreiheit und besseren Haftbedingungen – um die Erklärungen der Initiatoren einmal auf ihre Schlüsselbegriffe zu reduzieren –,161 die Frage nach dem Verhältnis zum Staat vorangestellt: Nur nach der (Selbst-)Vergewisserung, welche Ansprüche, Rechte, Wünsche, Begehren ich gegenüber dem Ansprechpartner habe, kann ich Forderungen an ihn stellen.162 Zweck der dichten Beschreibung ist es, solche Selbstvergewisserungen unter den Initiatoren und günstigstenfalls auch unter den Teilnehmern der Protestphänomene herauszuarbeiten und zu dokumentieren. 3.) Gesamtschau: Zustand des linken Spektrums nach dem Deutschen Herbst. Der Gewinn einer Kombination aus mikrogeschichtlicher Studie und dichter Beschreibung liegt darin, dass die entstandene Narration per se zum Untersuchungsgegenstand gewandelt werden kann, weil sie auf Grund ihrer „Vielheit und Hierarchie von Bedeutungsstrukturen für spätere Interpretationen“163 offen steht. Mit anderen Worten: Wenn nur „entsprechende Fragen“164 an die Narration gestellt werden, können auch Schlussfolgerungen auf höherer Ebene gezogen werden. Genau dies soll im abschließenden Kap. VII „Schlussbetrachtung“ mit Hilfe der Ausgangsfragen der Untersuchung getan werden: Wie verbindlich war die gemeinsame Verunsicherung von radikalen und demokratischen Linken gegenüber dem Staat nach dem Deutschen Herbst? Sahen Linke darin eine Chance zu neuer Einigkeit? Näherten sich die verschiedenen Parteien, Organisationen und Gruppierungen des linken Spektrums in der Folgezeit gegenseitig an? Auf der Suche nach Antworten sollen die Einschätzungen Balz’ und Büchses einbezogen werden, wonach es entweder zur „Versöhnung“165 Linker mit dem Staat oder eher zu „Absetzbewegungen“ von ihm kam. Beide unterstellen den Linken ein quasi einheitliches Verhalten. Ob dies trägt, werden die Mikrogeschichten der vier Protestphänomene zeigen. Das Schlusskapitel dient auch dazu, den Untersuchungsverlauf und die in den einzelnen Kapiteln gesammelten Erkenntnisse zusammenzufassen. Ausblickend sollen die vier Protestphänomene noch einmal in ihrem Ereigniszusammenhang betrachtet werden: Wie sind sie in der Geschichte der Linken und der Neuen Sozialen Bewegungen am Ausgang der Siebziger Jahre zu verorten? Und längerfristig gesehen: Was blieb von ihnen? Der Aufbau der Untersuchung im Überblick: Auf die Einleitung folgt in Kap. II „Begriffserläuterungen“ eine Problematisierung von vier zentralen Begriffen. In Kap. III „Linke und ihr ‚Modell Deutschland‘“ wird auf die Siebziger Jahre zu161 Siehe S. 38. 162 Vgl. GAILUS, Manfred: Was macht eigentlich historische Protestforschung?, S. 131. 163 MEDICK, Hans: ‚Missionare im Ruderboot?‘ Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft (Nr. 10, 1984), S. 295-319, hier: S. 308. 164 ULBRICHT, Otto: Mikrogeschichte, S. 15. 165 Vgl. BÜCHSE, Nicolas: Von Staatsbürgern und Protestbürgern, S. 330. 166 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 322.
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rückgeblickt. Welche Ereignisse und Entwicklungen könnten das Verhältnis Linker zum Staat in diesem Jahrzehnt geprägt haben? Und welche linken Vorbehalte gegenüber dem sozialliberal regierten Staat spiegelten sich in der Deutung und Kommentierung des „Modell Deutschlands“ wider? Die Kernkapitel der Arbeit sind entsprechend der Chronologie der vier untersuchten Protestphänomene angeordnet: In Kap. IV richtet sich der Blick zunächst auf „Die Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen“, welche sich in die Tradition der Rechtshilfegruppen der APO setzten.167 Darauf folgt mit Kap. V „Der TUNIXKongress“. Dessen Ursprung lag in der spontaneistischen Bewegung, die schon mit dem Zerfall der APO 1968/69 aufkam.168 In Kap. VI schließt sich „Das 3. Internationale Russell-Tribunal“ an, welches auf die Bewegung gegen Berufsverbote zurückging.169 Diese nahm ihren Anfang im Protest gegen den Extremistenbeschluss von 1972. Der in Kap. VII zu untersuchende „Internationale Kongress für und über Rudolf Bahro“ hatte eine kürzere Vorgeschichte: Die Solidaritätskampagne für Bahro kam nach dessen Festnahme im August 1977 in Gang. Auf die Kernkapitel folgt die „Schlussbetrachtung“ in Kap. VIII. Die Verzeichnisse aller Quellen und der genutzten Literatur befinden sich in Kap. IX „Anhang“. 3.5 Methodenkritik 3.5.1 Mikrogeschichte Seit ihrem Aufkommen170 begleiten die Mikrogeschichte zwei Kritikpunkte, mit denen sie sich auch noch in der Gegenwart auseinanderzusetzen hat: Zum einen liefere sie durch ihre Fokussierung auf „geschlossene gesellschaftliche Kleinstgebilde“ Forschungsergebnisse, die zusammenhanglos im wissenschaftlichen Raum stünden, 167 Und zwar in persona der Anwälte, vgl. REINECKE, Stefan: Die linken Anwälte. Eine Typologie. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, S. 948-956, hier: S. 956; vgl. auch: ESCHEN, Klaus: Das sozialistische Anwaltskollektiv. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, S. 957-972, hier: S. 964f. 168 Vgl. SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung, S. 24f.; HEIDER, Frank: Selbstverwaltete Betriebe in Deutschland. In: ROTH, Roland/RUCHT, Dieter (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, S. 513-526, hier: S. 516. 169 Vgl. WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen. München 2002, S. 283-290. 170 Ausgehend von Italien und dem Konzept der „microstoria“ von Carlo Ginzburg und Carlo Poni – vgl. u. a.: GINZBURG, Carlo: Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß. In: Historische Anthropologische Zeitschrift (Nr. 1, 1993), S. 169-192 – feierte die Mikrogeschichte in den Achtziger Jahren einen kurzen Siegeszug unter Vertretern der historischen Anthropologie und der Alltagsgeschichte. Sie wurde als Alternative zu einer verwissenschaftlichten und theoriefixierten Geschichtsschreibung begrüßt. Als „mikrogeschichtlich“ wird die „Analyse von kleinen, aber um so aussagekräftigeren Begebenheiten und Lebensbereichen“ verstanden. Das Anliegen besteht darin, die „Brüche und Inkongruenzen der ‚großen Geschichte‘“ mit den „Deutungs- und Handlungsweisen der ‚eigensinnigen‘ Akteure“ zu bündeln. Siehe: VOGEL, Jakob: Historische Anthropologie, S. 298. Mit seiner Vorstellung von „EigenSinn“ verweist der Historiker Alf Lüdtke darauf, dass sich Akteure in ihren Verhaltensweisen loslösen können von den Rahmenbedingungen, die ihnen Herrschafts- bzw. Gesellschaftsstrukturen vorgeben. Deshalb sollten die Deutungs- und Verhaltensmuster einzelner Akteure in der Geschichtsschreibung einen höheren Stellenwert erhalten. Vgl. LÜDTKE, Alf: Eigen-Sinn: Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hamburg 1993. Mit diesen Prämissen fand die Mikrogeschichte auch bei Vertretern der „history from below“ positive Aufnahme. Vgl. dazu u. a.: EHALT, Hubert Christian: Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags. Wien u. a. 1984.
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ja geradezu „anekdotischen“171 Charakter hätten. Zum anderen führe ihr Anspruch einer möglichst genauen Betrachtung eines kleinen Gegenstandes zu gleichsam statischen Fallstudien, in denen der Wandel der Zeit ausgeblendet werde.172 Aus diesem Grund überwiegen mittlerweile die Befürworter einer dynamischen „Koexistenz“ von Mikro- und Makrogeschichte – ohne dabei die bestehenden Probleme zu verkennen.173 International gibt es aber auch Historiker, die eine konsequente Mikrogeschichte für zeitgemäß und zukunftsfähig halten. Sie verweisen unter anderem auf ihren Vorzug, als pädagogisches Werkzeug geeignet zu sein: „Without any doubt, students often find it easy to relate their own experiences to the kinds of materials favored by microhistorians. As a result […] students are thus enabled to immerse themselves in complex historical relationships and gain an understanding of how they are made up.”174 Mit Rücksicht auf das Für und Wider der Mikrogeschichte und ihre jüngeren Trends ist die Untersuchung zum Umgang Linker mit dem Deutschen Herbst nicht strikt klassisch angelegt: Ihre Untersuchungseinheit ist eigentlich mehr als „mikro“, da keine einzelnen Individuen, kein Einzelfall, sondern gleich vier Protestphänomene im Mittelpunkt stehen. Daraus ergibt sich, dass auch der Anspruch auf totale Erschließung und Sichtung von Quellen nicht erschöpfend eingelöst werden kann. Treibender Gedanke bleibt, bei der dichten Beschreibung nicht die Makroebene aus den Augen zu verlieren und genug Raum zu schaffen, um die gesammelten Erkenntnisse in ihren übergeordneten Kontext zu setzen: Zu diesem Zweck werden die einzelnen Untersuchungsabschnitte stets mit einer reflektierten Zusammenfassung abgerundet und die Protestphänomene im Schlusskapitel vergleichend analysiert. 3.5.2 Dichte Beschreibung Da der methodische Grundsatz der Mikrogeschichte, alle verfügbaren Quellen zu einem Untersuchungsgegenstand zu erschließen, nicht apodiktisch verfolgt wird, könnte der Vorwurf laut werden, dass demzufolge auch die dichte Beschreibung an wissenschaftlicher Aussagekraft einbüßt. Dem seien drei Argumente entgegen gehalten: Erstens sollte die Quellenlage im Falle der vier Protestphänomene auch ohne restlose Erschließung eine umfassende Darstellung zulassen. Zweitens ging Clifford Geertz, auf den die Methode der dichten Beschreibung zurückgeführt wird, in seiner Theorie von einer ausgesprochenen „Fremdartigkeit“ der studierten Phäno171 Ohne hier die kritischen Stellungnahmen im Einzelnen aufzuführen: Vgl. HOCHSTRASSER, Olivia: Mikrohistorie und Gesellschaftsgeschichte, S. 51. 172 Vgl. SOKOLL, Thomas: Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft. In: WINTERLING, Aloys (Hg.): Historische Anthropologie. Stuttgart 2006, S. 211-238, hier: 235. 173 Vgl. ebd. und zuletzt auch: SCHLUMBOHM, Jürgen: Mikrogeschichte – Makrogeschichte: Zur Eröffnung einer Debatte. In: Ders. (Hg.): Mikrogeschichte – Makrogeschichte komplementär oder inkommensurabel? Göttingen 2000, S. 7-32; Vgl. auch: HERBST, Ludolf: Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte. München 2004, hier v. a. S. 24, S. 175, S. 200. Einige Beispiele aus der Forschungspraxis: STEINLE, Friedrich: Explorative Experimente. Ampère, Faraday und die Ursprünge der Elektrodynamik. Stuttgart 2005; ALTHAMMER, Beate: Herrschaft, Fürsorge, Protest. Eliten und Unterschichten in den Textilgewerbestädten Aachen und Barcelona 1830-1870. Bonn 2002; HOCHSTRASSER, Olivia: Ein Haus und seine Menschen 1549-1989. Ein Versuch zum Verhältnis von Mikroforschung und Sozialgeschichte. Tübingen 1993. 174 MAGNÚSSON, Sigurður Gylfi: The Future of Microhistory. In: Journal of Microhistory (Nr. 2, 2008). Siehe: http://www.microhistory.org/pivot/entry.php?id=46 (Stand: 06.11.2011).
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mene aus. Es lag also nahe, „Kleinarbeit“175 nicht nur bei der Materialsammlung, sondern auch beim Beschreiben einzufordern. Diese Fremdartigkeit hält sich bei Gegenständen zeitgeschichtlicher Untersuchungen allerdings in Grenzen. Drittens könnte eine mit Quellen überfrachtete Beschreibung in Gefahr geraten, sich in Details zu verlieren – ein Problem, das gerade bei der Erschließung von Denk-, Fühlund Handlungsweisen (protest-)politisch engagierter Personen oder Gruppierungen eine tiefere Dimension hat: Mit der Zahl der eingeflochtenen Quellen wächst hier zugleich der Raum, den die erzählerische Wiedergabe von politischen Botschaften und Standpunkten einnimmt, ohne dass dabei neue Erkenntnisse hervortreten. Dies lenkt das Augenmerk auf ein heikles Moment der Methode: „Wir wollen, jedenfalls was mich betrifft, weder Eingeborene werden […] noch auch die Eingeborenen nachahmen.“176 – Dieser Leitsatz von Geertz umschreibt, was auch Historikern nicht fremd ist, nämlich die Schwierigkeit, Distanz zum Untersuchungsgegenstand zu wahren. Und im vorliegenden Fall geht es darum, den Blick auf die Innensicht des linken Spektrums nicht mit der Innensicht des linken Spektrums gleichzusetzen. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit erfordert die „Einnahme der Perspektive der Handelnden“, wie Geertz es ausdrückt177 und verlangt im Ausgleich dazu eine Darstellungsweise, bei der das Augenmerk darauf liegt, die Grenze zwischen Subjektivität und Objektivität jederzeit erkennbar zu ziehen. Dies soll vor allem dadurch gelingen, dass die dichte Beschreibung regelmäßig durch analytische Einschübe in ihrem Fluss gebändigt wird. Dabei ist freilich Rücksicht auf den Leser zu nehmen, der bei mikrogeschichtlichen Untersuchungen auf Grund ihres ausgesprochen narrativen Charakters besonders involviert ist: „[He] participates in the whole process of constructing the historical argument.“178 3.5.3 Erinnerungsbefragungen Die Gefahr der unzulässigen Nähe zum Untersuchungsgegenstand verstärkt sich, wenn lebensgeschichtliches Erzählen von Zeitzeugen wiedergegeben wird; besonders von jenen, die an Erinnerungsbefragungen teilnahmen. Diese Erhebungsmethode orientiert sich am narrativen Interview der Biografieforschung,179 das heißt, die Befragungen sind nicht vorstrukturiert. Der Vorteil dieser offenen Form ist es, dass sie beim Befragten Erinnerungen aufbrechen lässt und ihre assoziative Vernet175 GEERTZ, Clifford: Dichte Beschreibung, S. 15. Der Historiker Otto Ulbricht weist darauf hin, dass es ungenau wäre, „mikrohistorisch orientierte Verfahren mit der dichten Beschreibung gleichzusetzen.“ Ulbricht nennt zwei Gründe. Erstens: „Historiker sind nicht vor Ort im fremden Land und treiben Feldforschung und machen dabei ihre eigenen Aufzeichnungen, sondern fassen nach dem Archivaufenthalt an ihrem Computer ihre Untersuchungen ab“. Zweitens: „Sie befragen auch keine Einheimischen, sondern lesen Quellen […].“ Selbst die Oral History „ist mit der Ethnographie schlecht vergleichbar; die Ethnografen leben längere Zeit mit den Bewohnern eines Dorfes zusammen, die Vertreter der Oral History kommen, um sie […] unter einer bestimmten Fragestellung zu interviewen“. Siehe: ULBRICHT, Otto: Mikrogeschichte, S. 55. 176 GEERTZ, Clifford: Dichte Beschreibung, S. 20. 177 Vgl. ebd., S. 21. 178 LEVI, Giovanni: On microhistory. In: BURKE, Peter (Hg.): New Perspectives on Historical Writing. Pennsylvania 1992, S. 93-113, hier: S. 106. 179 Vgl. SCHÜTZE, Fritz: Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis (Nr. 3, 1983), S. 283-293; darauf aufbauend: KÜSTERS, Ivonne: Narrative Interviews: Grundlagen und Anwendungen. Wiesbaden 2006.
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zung begünstigt. Bestenfalls kann er „durch den selbstempfundenen Zwang zur Erläuterung seiner Erinnerungen“180 auch vergessen Geglaubtes präsent machen. Wichtig ist die verhaltene Zuwendung und wahrnehmende Distanz des Zuhörers, durch die „dem Tasten des Befragten nach seinen Erinnerungen und der von ihm gewählten Erzählform Raum gegeben werden“181. Die Problematik, die sich mit den gesammelten Erzähldaten verbindet, verdeutlicht sich in den folgenden Fragen: In welcher Beziehung stehen Zeitzeuge und erzählter Gegenstand? Wie ist der Wahrheitsgehalt der Auskünfte einzuschätzen? Gibt es aktuelle Ereignisse oder Umstände, die den Entstehungsrahmen der Befragung beeinflussen?182 Zu bedenken ist auch, dass Zeitzeugen meist allein auf ihre Erinnerungen angewiesen sind und die Befragungssituation als Gelegenheit für Selbstrechtfertigungen ihres eigenen Tuns begreifen. Um das grundsätzliche Glaubwürdigkeitsproblem ihrer Aussagen abzufedern, soll bei den Befragungen darauf geachtet werden, zwischen dem „Was war?“ – also den Angaben zu Ereignissen – und dem „Wie war es?“ – den Bewertungen von Ereignissen – strikt zu trennen. Auch ist von Fall zu Fall zu prüfen, in welcher Weise Aussagen verwertet werden können. Bieten sie beispielsweise keinen neuen Erkenntniswert, weil sie sich mit Informationen aus anderen Quellen decken, können sie in Zitatform immer noch dazu dienen, die Narration lebhafter zu gestalten. Entsprechend des Untersuchungszuschnitts konzentrieren sich die Befragungen vor allem auf die Initiatoren der Protestveranstaltungen. Einschließlich der „Chronisten“ wie Dieter Hoffmann-Axthelm, Uwe Wesel und Rudolf Steinke183 wurden je zwei Initiatoren des TUNIX-Kongresses, des 3. Russell-Tribunals und des BahroKongresses für Befragungen gewonnen. Auch aus dem Bereich der Gefangeneninitiativen standen zwei Aktivisten der ersten Stunde Rede und Antwort. Die Erinnerungsbefragungen wurden vollständig per Diktiergerät aufgezeichnet; telefonische Befragungen bildeten die Ausnahme. Die Transkription erfolgte stets zeitnah und floss zusammen mit den jeweiligen Gesprächsmemos in Gesprächsprotokolle ein, die auf Grund ihrer Länge nicht im Anhang enthalten sind. Sie dienen als Quelle für die dichte Beschreibung. Wo es die Quellenlage erforderlich machte, wurden weitere Zeitzeugen hinzugezogen und „formlos“ um Auskunft gebeten, darunter der Publizist Kai Ehlers, einst APO-Aktivist, der Historiker Hubertus Knabe, zurzeit wissenschaftlicher Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, der Publizist Albrecht Müller, früher Wahlkampfleiter der SPD, und der Sozialphilosoph Oskar Negt, seit 2002 an der Universität Hannover emeritiert.
180 NIETHAMMER, Lutz: Fragen – Antworten – Fragen, S. 400. 181 Ebd., S. 401. 182 Vgl. BAUER, Babett: Kontrolle und Repression, S. 29. 183 Siehe Fn. 144-146.
II. Begriffserläuterungen
1. D IE L INKEN – EIN S PEKTRUM Dieser Abschnitt knüpft an die Eingrenzung des Untersuchungsschwerpunkts im Einführungskapitel an. Nach der Festlegung, dass unter „Linken“ alle Personen und Gruppierungen verstanden werden, die sich selbst als solche bezeichneten, bleiben drei Fragen offen: Auf wen trifft dies im Untersuchungszeitraum zu? Ist dieser Personenkreis überschaubar beziehungsweise abgrenzbar?1 Und was ist mit „linkem Spektrum“ gemeint? In der Gegenwart gibt es jedenfalls weder eine einheitliche linke Protestbewegung, noch ein einheitliches linkes politisches Spektrum, gleichwohl die 2007 gegründete Partei „Die Linke“ dies im Zeichen ihres Namens anstreben mag.2 Wer politisch links orientierte Personen und Gruppierungen unter einem Sammelbegriff vereint, muss aber nicht nur mit dem Vorwurf rechnen, die aktuelle Situation zu verkennen. Er macht sich auch verdächtig, die unzeitgemäße, konservative Position zu vertreten, wonach es in der Bundesrepublik so etwas wie eine „Vereinigte Linke“ oder gar „Volksfront“ gebe, die zur Systemveränderung oder Subversion der freiheitlich-demokratischen Grundordnung geneigt sei.3 Eine derart unscharfe Wahrnehmung der Linken treibt immer wieder Blüten. In jüngerer Vergangenheit erregte die Attacke des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder Aufsehen, mit der er auf die gemeinsame Ablehnung der Hartz IV-Reformen in Teilen der CDU und PDS reagierte: „Wenn man diese neue Volksfront mit ihrem gnadenlosen Populismus sieht, kann einem wirklich übel werden.“4 Auch
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Der Soziologe Sebastian Scheerer erinnert sich, dass eine der am häufigsten gestellten Fragen nach dem Deutschen Herbst lautete: „Gibt es die Linke noch?“ Vgl. SCHEERER, Sebastian: Deutschland : Die ausgebürgerte Linke. In: Ders./MOERINGS, Martin/HESS, Henner (Hg.): Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1988, S. 195-429, hier: S. 399. So wird der Parteivorsitzende Oskar Lafontaine auf der offiziellen Website des Linken-Kreisverbands Harburg-Land zitiert: „Deutschland braucht eine starke Linke. Eine Linke, die den Namen verdient […].“ Siehe: http://www.dielinke-harburg-land.de (Stand: 06.11.2011). Vgl. SCHREIBER, Manfred/BIRKL, Rudolf (Hg.): Zwischen Sicherheit und Freiheit (Geschichte und Staat, Bd. 206/207). München/Wien 1977, S. 40-43. Vgl. Hartz IV und der Volksfrontvorwurf. Kommentar. R: SUCKER, Jörg (Erstausstrahlung: 16.08.2004, Deutschlandradio). Siehe: http://www.dradio.de/dlr/sendungen/kommentar_dlr/ 294535?archiv=1&page=15 (Stand: 06.11.2011). Im Sommer 2010 knüpfte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel an Schröders Vorwurf an, indem er auf die Gefahr hinwies, dass die rotgrüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen sich vor einer „neue[n] schwarz-gelbdunkelrote[n] Volksfront” hüten müsse. Siehe: o. A.: Linke sucht Machtprobe mit Kraft.
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wenn sich dieses Begriffsspiel als Fauxpas erwies, schwang in ihm dennoch gut erkennbar ein Bild von den Linken als „Einheit“ mit – von der PDS bis zu den „verkappten“ Linken in der CDU, die Schröder auszumachen glaubte –, auf dem die verschiedenen Volksfront-Vorwürfe stets beruhen. Nachhaltig geprägt wurde dieses Bild in den Siebziger Jahren, als der zahlenmäßig wie konzeptionell geschwächte Überrest der Außerparlamentarischen Opposition „von außen zu einer Einheit zusammengedrängt [wurde], die durch den staatlichen Kampf gegen ‚den Terrorismus’ negativ definiert war.“5 Wie der Politologe Bernhard Blanke ausführt, seien dieser fiktiven Einheit, trotz wachsender Zersplitterung, alle Organisationen und politischen Strategien, die außerhalb des etablierten Parteienspektrums standen, wahllos zugeordnet wurden; bewaffnete Gruppierungen wie die RAF oder die Bewegung 2. Juni inbegriffen.6 Dass diese Zuordnung an der Realität vorbei ging, muss nicht weiter illustriert werden. Tatsächlich rangen Linke in ihrer Uneinigkeit jahrelang darum, ein neues Einverständnis über die Grundvoraussetzungen ihrer Politik und ihres Engagements herzustellen.7 Anfang Oktober 1977 veranstaltete die Zeitschrift »L 76« eine Tagung, die genau dieses Bestreben fördern sollte. Unter dem Titel „Was ist links?“ wurde über den Standort und das Selbstverständnis Linker „unter politischen, ökonomischen und kulturellen Aspekten“ diskutiert. Auf Grund der unmittelbaren Nähe zum Untersuchungszeitraum ist von besonderem Interesse, ob und wie dabei die Titelfrage dieser Tagung beantwortet wurde: Was bedeutete es, Ende 1977 links zu sein? Wer ordnete sich dieser politischen Orientierung zu? Carola Stern, SPD-Mitglied und damals Radioredakteurin beim Westdeutschen Rundfunk, versuchte darauf bereits in ihrem Redebeitrag auf der Eröffnungsveranstaltung zu antworten: „Links beginnt nicht erst links von der SPD, und es darf nicht bedeuten, seinen ‚Hauptfeind‘ in der SPD zu sehen“, sagte sie und meinte, einen klaren Bedeutungswandel des Begriffs „links“ zu erkennen. Die linken Volksparteien Europas hätten jeglicher revolutionärer Gewaltanwendung nach 1968 überwiegend ihre Absage erteilt. Zugleich sei „links“ zum „Synonym für systemverändernde, systemübergreifende Reformpolitik geworden“. Aus dieser Sicht lag für Stern auch auf der Hand, dass Linke nichts mit Terroristen zu tun hätten. Diese würden zu allem Übel aus „einer Bürgerwelt“ entstammen, „in der Wohlhabenheit mit der Neurose der Leere, Langeweile und Sinnlosigkeit bezahlt“ worden sei. Ähnlich klar trennte die Mitherausgeberin der »L 76« zwischen der „europäischen Linksbewegung“ und „Kommunisten von der DKP und SED“. Letztere teilten ihrer Ansicht nach nicht die Auffassung, dass Demokratie und Sozialismus für Linke einen „unauflösbaren Zusammenhang“8 bildeten. Links sei aber nur derjenige, der „Mehrheitsentscheidungen, Minderheitenschutz, das Recht auf Opposition, Koalitionsfreiheit, Streikfreiheit“9 anerkenne und liberale Freiheitsrechte verteidige.
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Spiegel-Online.de (17.07.2010). Siehe: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,707 087,00.html (Stand: 06.11.2011). BLANKE, Bernhard: Die Linke im Rechtsstaat BRD. In: Rotbuch Verlag (Hg.): Die Linke im Rechtsstaat. Bd. 1: Bedingungen sozialistischer Politik 1945-1965. Berlin 1976, S. 5-16, hier: S. 5. Ebd. Vgl. Redaktion der L 76: Was ist heute links? Dokumentation der ersten L 76-Tagung in Recklinghausen. In: L 76 – Demokratie und Sozialismus. Politische und literarische Beiträge (Nr. 7, 1978), S. 85-185, hier: S. 85. Ebd., S. 88-90. Ebd. Stern bricht die Aufzählung ab.
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Demzufolge unterschied sie auch zwischen Linken und K-Gruppen, weil diese „Antidemokraten“10 seien. Dass auf der Tagung längst keine Einigkeit herrschte, auch nicht, was die Antwort auf die Titelfrage betraf, verdeutlicht der Beitrag Rudi Dutschkes, welcher – zumindest laut Dokumentation – direkt auf Sterns folgte: „Das erste, was ich sagen würde, ist: Es gibt keine einheitliche Linke mehr. Diese Realität muß als Realität zur Kenntnis genommen werden.“11 Ein Zusammenwirken von Gruppierungen aus dem außerparlamentarischen Raum mit einzelnen Sozialdemokraten und weiten Teilen der Gewerkschaften im Sinne einer „linken Einheit“ habe nur vorübergehend in den Sechziger Jahren funktioniert. Mit Stern stimmte Dutschke allerdings in dem Punkt überein, dass es für Linke immer nur um Demokratisierung und Sozialisierung gehen könne.12 Wo über diesen Grundsatz Einigkeit bestehe und die Notwendigkeit eines Engagements gegen „die Monopolbourgeoisie im Westen und die Monopolbürokratie im Osten“13 erkannt werde, sei ein Bündnis zwischen Sozialisten, Demokraten und Christen möglich. „Was ist links?“ fragte auch der SPD-Politiker Freimut Duve. In seinem Beitrag hielt er gleich eingangs fest: „[D]as ist […] radikaler Humanismus.“ Dem gegenüber seien alle Entwicklungen, die den radikalen Humanismus im Marxschen Sinne schädigen, „nicht links.“14 Duve gab hiermit genau jenem Aus- und Abgrenzungsbedürfnis nach, das er an kommunistisch orientierten Gruppierungen kritisierte. Während diese in seinen Augen einen schädlichen „Tribalismus“ betrieben, bei dem „ein Stamm erklärt, wer dazugehört und wer nicht dazugehört“, hieß seine Schlussfolgerung: „Demokratische Sozialisten sind historisch die einzigen Linken.“15 Konnte auf dieser Basis die gemeinsame Plattform für Sozialdemokraten, Sozialisten und Eurokommunisten gefunden werden, wie es die »L 76« als Ziel der Tagung angekündigt hatte? Carola Stern war in ihrem zweiten Beitrag jedenfalls bemüht, die spalterischen Aussagen Duves zu kitten und warb wiederholt für die Geschlossenheit der Linken im Rücken der sozialliberalen Koalition: „Es ist für die Arbeiterklasse und die Mehrheit der Bevölkerung in diesen acht Jahren eine Menge getan worden, und ich denke, die Linke sollte es anerkennen.“16 Nicht alle gaben sich mit den Verlautbarungen auf der »L 76«-Tagung zufrieden. Wolfgang Abendroth griff die Frage „Was ist heute links?“ später noch einmal in einem Aufsatz auf und versuchte sie auf seine Weise zu beantworten. 1961 aus der SPD ausgeschlossen und danach Mitglied des Sozialistischen Büros (SB), befürwortete der Politologe und Staatswissenschaftler eine breitere Definition, die er auf die Erfahrung der APO stützte. Mit Rücksicht auf sie sei „eindeutig definierbar, was eine Linke in der Bundesrepublik vereint und wodurch sie charakterisierbar ist.“17 Abendroth zählte sieben Bedingungen auf, an die seiner Ansicht nach die Zugehörigkeit einer Person oder Gruppierung zur Linken geknüpft sei:18 Erstens die 10 11 12 13 14 15 16 17
Ebd. Ebd., S. 93. Vgl. ebd. Ebd., S. 95. Ebd., S. 98. Ebd., S. 100. Ebd., S. 102. ABENDROTH, Wolfgang: Was ist heute ‚links‘ in der Bundesrepublik Deutschland. In: GREMLIZA, Hermann L./HANNOVER, Heinrich (Hg.): Die Linke. Bilanz und Perspektiven für die 80er. Hamburg 1980, S. 9-26, hier: S. 21. 18 Vgl. ebd., S. 21f.
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Bejahung des Grundgesetzes und die Bereitschaft, es gegen jede Verletzung zu schützen. Zweitens die Entschlossenheit, für Abrüstung und Verständigungspolitik einzutreten. Drittens unbedingter Antifaschismus, im Bewusstsein des Faschismus als bleibende Bedrohung. Viertens aktiver Widerstand gegen Antikommunismus und Antimarxismus, verbunden mit dem Kampf oder zumindest der Kritik an „jeglicher antisowjetischen oder gegen Revolutionen in Entwicklungsländern gerichteten Außenpolitik der BRD“. Fünftens die Bereitschaft, „den sozialen und wirtschaftlichen Besitzstand der abhängig arbeitenden Massen, ihrer Kinder und Alten, gegen den stetigen Angriff des Monopolkapitals […] zu verteidigen“ und für Arbeitszeitverkürzung einzutreten. Sechstens die Solidarität mit allen Einwanderern. Und siebtens die Aufmerksamkeit und Offenheit gegenüber Fragen des Umweltschutzes. Damit entfernte sich Abendroth von der von Stern und Duve vertretenen Vorstellung von der Linken als Umfeld der SPD. Eher schloss er sich Dutschke an, indem er die Linke seit dem Ende der APO ebenfalls als „heillos zersplittert“ charakterisierte. In diesem Zustand betrachtete Abendroth die Linke dennoch als Ganzes, als ein potentiell „breites Bündnis“ von Personen mit „nach links tendierende[m] kritischen Bewußtsein“, die in verschiedenen Gruppierungen organisiert seien und dabei zum Teil Bindungen zu staatstragenden politischen Parteien aufwiesen, wie die Jungsozialisten und die Jungdemokraten. Im Verlaufe der Siebziger Jahre hätten sich die Gruppierungen, ähnlich wie ihre Vorgänger Mitte der Sechziger Jahre, zerstritten und in Interessenkonflikten verloren. Deshalb bestünden zwischen ihnen „Schranken“, die im Einzelfall bis zur „sektiererischen Verhärtung“ überhöht worden seien. Gleichwohl glaubte Abendroth mittelfristig an ein gemeinsames Aufgehen „in einer breiten Massenbewegung […] im Interesse der Demokratie und des Friedens“19. An dieser „Idee einer Einheitsfront“20, schrieb der Sozialphilosoph Oskar Negt in einem Nachruf auf Abendroth, habe kein anderer Sozialist der bundesdeutschen Nachkriegszeit so entschlossen festgehalten. Negt selbst bestritt, dass es gelingen kann, das „was ‚links‘ ist, mit Definitionen genau und abschließend“ zu fassen: Einer solchen Genauigkeit würden sich „Orientierungs- und Kampfbegriffe“21 stets entziehen. Dieser Einwand ist sicher berechtigt. Anstelle einer Definition soll in diesem Abschnitt jedoch versucht werden, den Begriff „Linke“ für eine Untersuchung des linken Spektrums nach dem Deutschen Herbst einzugrenzen und anschaulich zu machen. Zu diesem Zweck ist Abendroths Vorstellung von den Linken als potentiellem Bündnis durchaus fruchtbar, zumindest fruchtbarer als die verengende Sichtweise, für die auf der »L 76«-Tagung geworben wurde. Diese hat zwei entscheidende Nachteile: Zum einen bleibt bei der Definition der Linken als Gesamtheit aller demokratischen Sozialisten offen, wie mit den Gruppierungen jenseits dieses Rahmens umzugehen ist. Ihre Brandmarkung als „Antidemokraten“ rückt sie schließlich in unmittelbare Nähe zum Terrorismus. Zum anderen täuscht die enge Definition eine Einigkeit und Einheitlichkeit der Linken vor, die nicht den Tatsachen entsprach. Die bundesdeutsche Linke auf den Konsens des demokratischen Sozialismus einzudampfen, ist nämlich zugleich eine Komplexitätsreduktion, die für die Tagungsteilnehmer auf der Suche nach Gemeinsamkeiten sicher bequem war, nicht aber für eine geschichtswissenschaftliche Be19 Ebd., S. 24-26. 20 NEGT, Oskar: Unbotmäßige Zeitgenossen. Annäherungen und Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1994, S. 164. 21 Ebd., S. 10.
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trachtung taugt. Allerdings wirft auch die breite Definition nach Abendroth Fragen auf: Wie muss man sich dieses potentielle Bündnis der Linken, die seiner Ansicht nach nur vorübergehend in sich zerstritten und zersplittert waren, überhaupt vorstellen? Welche Position nahm darin die SPD ein? Und weiter: Gehörten auch bewaffnete Gruppierungen wie die RAF dazu? Zuallererst ist darauf hinzuweisen, dass Abendroths Aufsatz vor dem Hintergrund eines vorsichtigen Optimismus entstand, den vor allem jene Linken teilten, die mit einem Sieg der CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1980 rechneten und damit die Hoffnung verbanden, dass es Anfang der Achtziger Jahre „zu einem historischen Kompromiß“22 unter den zerstrittenen Gruppierungen kommen könnte. Die Entstehung einer linken Sammlungsbewegung schien, zumindest Teilen der Linken, möglich.23 Abendroth gehörte zu den „Kräften“24, die diesen Optimismus fördern wollten. Insofern machte er in seinem Aufsatz gezielt von dem „Bündnis“Begriff Gebrauch. Ob es diese Hoffnungsschimmer schon im Nachgang des Deutschen Herbstes gab, wird die Untersuchung zeigen. Nüchtern betrachtet war die Linke 1977 in sich zersplittert. Ihre Organisationen, Parteien und Gruppierungen verloren sich seit Jahren immer wieder in „sektenhaften Auseinandersetzungen aller gegen alle“25 und die Parteigründungsbemühungen Grüner und Bunter Listen standen vor einer ungewissen Zukunft. Angesichts dieser Lage scheint der Begriff des „Spektrums“, welcher ohnehin zur Beschreibung der Parteienvielfalt respektive der pluralistischen politischen Strömungen in demokratischen Verfassungsstaaten üblich geworden ist,26 am ehesten geeignet, um die Vielfalt der Linken zu erfassen. In einem linken Spektrum kann man Ende der Siebziger Jahre wiederum vier Schattierungen von links gerichteten Parteien, Organisationen und Gruppierungen erkennen, die quasi parallel existierten, sich gegeneinander abgrenzten und in ihren Positionen so weit auseinander lagen, dass ein Zusammenwirken im Sinne eines politischen Bündnisses nicht realistisch erschien: Reformisten, undogmatische Neomarxisten, dogmatische Marxisten-Leninisten und dogmatische Kommunisten.27 Zu
22 GREMLIZA, Hermann L./HANNOVER, Heinrich (Hg.): Die Linke, S. 7. 23 Vgl. Sozialistische Studiengruppen: Welche Chance hat die Linke in der BRD? In: Ebd., S. 202-219, hier: S. 202. 24 Ebd., S. 7. 25 Sozialistische Studiengruppen: Welche Chance hat die Linke in der BRD?, S. 202. 26 Vgl. zuletzt: JESSE, Eckhard: Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland. Berlin 2007. 27 Vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: Hitlers Kinder? Eine Antwort auf Götz Aly. In: Perlentaucher. Das Kulturmagazin (25.03.2009). Siehe: http://www.perlentaucher.de/artikel/5353.html (Stand: 06.11.2011). Eine Überblicksdarstellung zum Charakter und zur Entwicklung dieser vier Schattierungen in den Siebziger Jahren liegt bislang nicht vor. Wie eine solche strukturiert sein könnte, zeigt der Band »Schlagwörter der Neuen Linken« des Sprachwissenschaftlers Andreas von Weiss. Von Weiss lieferte 1974 eine Zusammenfassung zur Entwicklung der außerparlamentarischen Linken, einschließlich ihrer Organisationen und politischen Vorstellungen. Anstelle der Bezeichnungen „orthodoxe Kommunisten“, „Marxisten-Leninisten“ und „undogmatische Neomarxisten“ verwendete er die Bezeichnungen „sowjetisch beeinflusste Organisationen“, „Maoisten“ und „Trotzkisten“. Diese zählte er zu den „nichtdogmatischen Linken“, denen er außerdem u. a. das „Sozialistische Büro“ zuordnete. Siehe: von WEISS, Andreas: Schlagwörter der Neuen Linken. Die Agitation der Sozialrevolutionäre (Geschichte und Staat, Bd. 179/180, Sonderauflage der bayerischen Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit). München/Wien 1974, S. 26-41.
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den reformerischen Kräften gehörten auch Mitglieder der SPD, die sich genauso als Linke begriffen wie die Mitglieder der K-Gruppen, obwohl sich beide Seiten keinesfalls einer gemeinsamen Linken zugehörig fühlten.28 Der Begriff des Spektrums trägt dieser Zerwürfnisse Rechnung, spricht aber keiner Partei, Organisation oder Gruppierung ab, Teil der Linken zu sein. Der Vorteil liegt darin, dass auf diese Weise weder eine Definition noch ein Kriterienkatalog für „die Linke“ benötigt wird, wie er auf der »L 76«-Tagung oder auch von Wolfgang Abendroth zur Diskussion gebracht wurde. Allerdings tun sich auch Probleme auf: Können etwa die bewaffneten Gruppierungen zum linken Spektrum gezählt werden? Und einmal mehr brennt die Frage: Wo stand die SPD? Vonseiten der Unionsparteien wurde die SPD auch zu Beginn der Siebziger Jahre noch gern in die Ecke der „Volksfront“ gedrängt und zur Gefahr für das „Besitzbürgertum“ stilisiert. Zu ihrer Verteidigung verwies die Partei stets auf die Grundsätze des Godesberger Programms mit dem Bekenntnis zur Marktwirtschaft und der Absage an die marxistischen Wurzeln des demokratischen Sozialismus.29 Ungeachtet dessen wollte sich die SPD weiterhin als „große linke Volkspartei“30 verstanden wissen und nahm bewusst die Rolle der „parlamentarischen Linken“ ein, gleichwohl Willy Brandt 1975 zugestand, dass seine Partei durch den starken Mitgliederzuwachs seit 1969 allmählich „in das Lager der neuen Mitte hineingewachsen“31 war. Infolge dieser Entwicklung haben sich innerhalb der SPD unterschiedliche Strömungen gebildet, die sich zunehmend im Parteivorstand abzeichneten,32 und zur Bildung von „allerlei Kreisen und Zirkeln“33 innerhalb der Partei führten. So sammelten sich einige SPD-Linke etwa im so genannten Frankfurter Kreis um Peter von Oertzen und Jochen Steffen oder im Leverkusener Kreis um Peter Conradi und Dietrich Sperling. Diese SPD-Mitglieder können einem linken Spektrum zugerechnet werden. Zahlreicher und tonangebender waren in den Siebziger Jahren allerdings SPD-Mitte und SPD-Rechte, die eigene konkurrierende Kreise bildeten und der SPD das Gesicht einer großen, nicht mehr eindeutig linken Volkspartei gaben. Ausdifferenzierung lautet das Schlagwort, mit dem man auch die Entwicklung auf der anderen politischen Ebene des linken Spektrums, in der außerparlamentarischen Linken, auf den Punkt bringen kann. Hier drohten sich die reformistisch orientierten Jusos seit Mitte der Siebziger Jahre mit Antirevisionisten und „Stamokap“-Vertretern zu verkrachen.34 Unter dem Vorsitzenden Gerhard Schröder wurde 28 Gerade im Untersuchungszeitraum spitzte sich die Gegnerschaft der K-Gruppen zur SPD zu. So schrieb ein Mitglied der hessischen Jungsozialisten 1976: „Im gegenwärtigen Bundestagswahlkampf werden zahlreiche SPD-Veranstaltungen durch K-Gruppen (KBW und KPD) gestört und SPD-Redner werden in vielen Fällen tätlich angegriffen.“ Siehe: KURTH, Matthias: Die K-Gruppen längst im Abseits. Für die ‚Links‘-Chaoten ist die SPD der Hauptgegner. In: Sozialdemokratischer Pressedienst (19.08.1976). 29 Vgl. o. A.: Angst vor ‚links‘. In: Sozialdemokratischer Pressedienst (26.07.1972). 30 Parteivorstand der SPD: Zu den Spekulationen um ‚links‘ und ‚rechts‘. In: Sozialdemokratischer Pressedienst (14.04. 1973). 31 VINKE, Hermann/VITT, Gabriele (Hg.): Die Anti-Terror-Debatten im Parlament. Protokolle 1974-1978. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 132. 32 Vgl. Parteivorstand der SPD: Zu den Spekulationen um ‚rechts‘ oder ‚links‘. 33 ZUNDEL, Rolf: SPD-Gruppen. Sie schlagen die alten Schlachten. In: Die Zeit (16.04.1976). 34 Die Antirevisionisten wandten sich gegen den reformistischen Kurs, weil dieser ihrer Ansicht nach nicht nur parlamentarische Mehrheiten, sondern auch das Einlenken der kapitalistischen Wirtschaft voraussetzte. Sobald eine von einer reformistischen Partei getragene Regierung antikapitalistische Reformen einleite, würde die kapitalistische Wirtschaft aber mit einer „um-
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der Konflikt 1978 weitgehend beigelegt und die Jusos suchten verstärkt Anschluss an ihre Mutterpartei, sodass sie im Untersuchungszeitraum nicht mehr der außerparlamentarischen Linken zugerechnet werden können.35 Für die orthodoxen Kommunisten, Marxisten-Leninisten und Neomarxisten kam seinerzeit die Unterscheidung in dogmatische und undogmatische Linke auf, gegen deren Verwendung zunächst einmal nichts spricht. Im Untersuchungszeitraum ist relativ überschaubar, wer zur Schattierung der so genannten Dogmatiker gehörte; und zwar alle prosowjetischen, orthodoxen Kommunisten der K-Gruppen und verschiedene, zum Teil sowjetkritische marxistisch-leninistisch orientierte Gruppen (siehe Tabelle 1). Diskutabel bleibt, wo die undogmatische Linke – ein buntes Sammelbecken von organisierten und unorganisierten Neomarxisten – endete: Sind ihr auch die Gruppierungen, die sich dem bewaffneten Kampf verschrieben hatten,36 zuzuordnen? Gerade spontaneistische Gruppierungen in Westberlin und Frankfurt a. M. standen der RAF, der Bewegung 2. Juni oder den Revolutionären Zellen (RZ) nahe.37 Der antiautoritäre Ansatz der so genannten „Spontis“ passte jedoch nicht zur Organisationsform der bewaffneten Gruppierungen. Überdies wichen ihre politischen Ziele voneinander ab. Auf die Frage, ob die RAF-Mitfassenden Wirtschaftskrise antworten und dadurch die Regierung zur Rücknahme ihrer Reformvorhaben zwingen. Ihre Aufgabe sahen die Antirevisionisten deshalb darin, „die Entfaltung autonomer Gegenmachtpositionen an der gesellschaftlichen Basis […] nach Kräften zu unterstützen.“ Siehe: STEPHAN, Dieter: Jungsozialisten: Stabilisierung nach langer Krise? Theorie und Politik 1969-1979. 2. Auflage. Bonn 1980, S. 39f. Die Vertreter der „Stamokap“-Theorie betrachteten „die gesellschaftliche Struktur der Bundesrepublik als ein ‚voll entwickeltes System des staatsinterventionistischen Monopolkapitalismus‘, das in seinem Wesen von der ‚Konzentration und Zentralisation eines stets wachsenden Teils der gesellschaftlichen Produktion und des Kapitals bei wenigen Großkonzernen‘ gekennzeichnet sei.“ In einer solchen Struktur „seien demokratische Rechte und […] ökonomische und soziale Lebensbedingungen des größten Teils der Bevölkerung“ bedroht. Ziel müsse daher sein, die Produktionsmittel zu vergesellschaften und die Staatsmacht der arbeitenden Bevölkerung zu übergeben. Siehe: Ebd., S. 37f. 35 Vgl. ebd., S. 88-93 und S. 97. 36 Neben der RAF vor allem die Bewegung 2. Juni und die Revolutionären Zellen (RZ). Die Bewegung 2. Juni entstand Anfang der Siebziger Jahre als eines von verschiedenen Zerfallsprodukten der Westberliner APO. Sie verschrieb sich ebenso wie die RAF dem Konzept der Stadtguerilla nach Carlos Marighella und eröffnete 1972 mit einem Sprengstoffanschlag den bewaffneten Kampf gegen den „Herrschaftsapparat“ in der Bundesrepublik. Vgl. dazu: WUNSCHIK, Tobias: Die Bewegung 2. Juni. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 1. Hamburg 2006, S. 531-561. Die Revolutionären Zellen waren ein Netzwerk militanter autonomer Gruppen, die 1976 zum bewaffneten Kampf übergingen, sich allerdings weitgehend auf „Gewalt gegen Sachen“ beschränkten. Vgl. dazu: KRAUSHAAR, Wolfgang: Im Schatten der RAF. Zur Entstehungsgeschichte der Revolutionären Zellen. In: Ebd., S. 583-604. 37 „Da gibt es die Position der RAF, die sich selbst als verlängerten Arm der Befreiungsbewegung der Dritten Welt sieht […] und folgerichtig auch keine Gemeinsamkeit mit sozialrevolutionären Bewegungen hier sieht, außer einem funktionalen Zusammenhang. […] Das können wir nicht unterstützen. Nur, wie die RAF zu dieser Position gekommen ist, hat schon etwas mit uns zu tun.“ Siehe: Autorenkollektiv Quinn, der Eskimo, Frankie Lee und Judas Priest: ‚Zum Tango gehören immer zwei, wenn ich gehe, kommst du mit!‘ In: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto/KNÖDLER-BUNTE, Eberhard/WARTMANN, Brigitte (Hg.): Zwei Kulturen? Tunix, Mescalero und die Folgen. Berlin 1979, S. 125-138, hier: S. 135; vgl. auch: BLÜM, Burkhard: RAF und Staat. Zwei Stellungnahmen. In: SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung. Zur Politik und Sozialpsychologie der Spontibewegung. Giessen 1980, S. XVII-XX.
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glieder Linke seien, antwortete Horst Mahler 1979: „Es ist doch ganz klar: Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin waren ganz zweifellos überzeugte Sozialisten und bereit, für die Sache des Sozialismus das Letzte zu geben, das Leben zu opfern. Und jeder weiß, dass sie zur linken Bewegung gehört haben und dort eine ganz intensive Rolle gespielt haben.“38 Mahler spielte darauf an, dass die erste Generation der RAF in der Pariser Kommune, in der russischen Oktoberrevolution und im Volkskrieg in China politische „Lehrstücke“39 sah und demzufolge eine kommunistische Gesellschaftsordnung anstrebte. Zu ihrer revolutionären Verwirklichung formte sie eine Gruppierung, die in ihren Organisationsprinzipien starke Überschneidungen mit den dogmatischen Linken aufwies. Gerade von ihrem demokratischen Zentralismus, das heißt, ihrer streng hierarchischen Führungsstruktur und ihrem elitären Auftreten, grenzten sich Spontis klar ab. Grundsätzlich bleibt die Vorstellung von der Linken als Spektrum diskussionswürdig, ihre Untergliederung in Schattierungen ein Ergebnis von Kompromissen. Der größte von ihnen besteht wohl darin, dass ausschließlich politisch aktive und organisierte Linke erfasst werden, also Mitglieder von linken Parteiorganisationen oder festen politischen Gruppierungen. Von jenen, die sich keiner festen Organisation anschlossen – wie es ohnehin dem antiautoritären Leitbild der außerparlamentarischen Linken um 1968 entsprach –, finden nur diejenigen Berücksichtigung, die einer politisch aktiven und öffentlich wahrgenommenen linken Szene40 angehörten; zum Beispiel Spontis oder Alternative. Ganz außen vor bleiben dagegen all jene, die im privaten Umfeld und abseits der öffentlichen Wahrnehmung linke Positionen vertraten.41 Zur Verteidigung des Schemas sei festgehalten, dass es an alternativen Vorschlägen aus der Politikwissenschaft mangelt. Der Linksextremismusbegriff, welcher in den Siebziger Jahren in Zusammenhang mit den Verfassungsschutzberichten in Erscheinung trat und heute von Extremismusforschern wie Uwe Backes und Eckhard Jesse verwendet wird,42 stellt weithin den einzigen Versuch dar, linke Gruppierungen voneinander zu unterscheiden: und zwar in diejenigen, die die freiheitlichdemokratische Grundordnung der Bundesrepublik anerkennen, und jene, die die
38 BÄCKER, Hans-Jürgen/MAHLER, Horst: Die Linke und der Terrorismus. Gespräch mit Stefan Aust. In: Rotbuch Verlag (Hg.): Die Linke im Rechtsstaat. Bd. 2. Bedingungen sozialistischer Politik 1965 bis heute. Berlin 1979, S. 174-203, hier: S. 195. 39 ID-Verlag (Hg.): Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Bearbeitet von Martin Hoffmann und Gudrun Grundmann. Berlin 1997, S. 49. 40 Mit dem Begriff „Szene“ – oder englisch „Scene“ – bezeichneten unorganisierte, undogmatische Linke seinerzeit ihr unmittelbares politisches und oft zugleich auch persönliches Umfeld. Vgl. dazu: MAILÄNDER, Ulf: Das kleine Westberlin-Lexikon. Von ‚Autonome‘ bis ‚Zapf‘ – die alternative Szene der siebziger und achtziger Jahre. Berlin 2003; TRANKOVITS, Laszlo: Alternative Szene. Gesellschaft in der Gesellschaft. Hamburg 1981. Der Journalist Reinhard Mohr beschreibt den Begriff auf folgende Weise: „Die scene war der Kosmos, in den die 78er hineinwuchsen. Sie war sozialer Zusammenhang, befreites Territorium, Aktionsfeld und Rückzugsgebiet in einem. […] Dort sollten sich die diffusen Träume erfüllen, die sonst nur auf dem Papier standen oder ‚isoliert‘ in den ‚bürgerlich vereinzelten‘ Köpfen herumschwirrten.“ Siehe: MOHR, Reinhard: Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 1992, S. 52. 41 Hinweise darauf, welche sozialen und politischen Positionen im Untersuchungszeitraum typisch für Linke waren, liefern die damaligen Diskussionen zur Frage „Was ist links?“, auf die in Kap. II.1 bereits eingegangen wurde. 42 Zuletzt: BACKES, Uwe: Extremismus in Deutschland. Schwerpunkte, Perspektiven, Vergleich. München 2007; JESSE, Eckhard: Politischer Extremismus und Parteien. Berlin 2007.
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revolutionäre Umwälzung dieser Ordnung anstreben.43 Diese Unterscheidung ist allerdings an so weiche Kriterien geknüpft, dass auch Parteien, die im Bundestag oder in Länderparlamenten vertreten sind, als extremistisch eingestuft werden44 – mitunter sogar im Widerspruch zu den Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV).45 Tabelle 1: Das linke Spektrum im Untersuchungszeitraum 1978/79 Politische Ebene Schattierung
Parteien/Organisationen/Gruppierungen46
Parlamentarische Linke a)
-
Linke in der SPD
b)
Reformisten
Jungsozialisten (Jusos) und Jungdemokraten (Judos)
Außerparlamentarische Linke a)
undogmatische Sozialistisches Büro (SB), Informationsdienst Neomarxisten zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (ID), Spontis, Alternative, Männer- und Frauengruppen, Antifas, Unorganisierte
b)
dogmatische MarxistenLeninisten
c)
dogmatische Deutsche Kommunistische Partei (DKP), einorthodoxe schließlich der Sozialistischen Einheitspartei Kommunisten Westberlins (SEW) und des Marxistischen Studentenbunds Spartakus (MSB)
Kommunistischer Bund (KB), marxistischleninistische Kommunistische Partei Deutschlands (KPD/ML), maoistische Kommunistische Partei Deutschlands (KPD (m)), Gruppe Internationaler Marxisten (GIM)
Illegale Linke -
Rote Armee Fraktion (RAF), Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen (RZ)
43 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.): Verfassungsschutz – Was wir für sie tun. Köln 2008, S. 5. Im Wortlaut: „Linksextremisten bekämpfen die bestehende freiheitliche Staats- und Gesellschaftsordnung, die sie als kapitalistisch, imperialistisch und rassistisch diffamieren. Sie streben eine grundlegende Umwälzung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik an.“ 44 Vgl. JESSE, Eckhard: Die Linke – der smarte Extremismus einer deutschen Partei. München 2008. 45 Jesses „smarter Extremismus“ trägt der Einschätzung des BfV, wonach „Die Linke“ die Kriterien einer linksextremistischen Gruppierung nicht (mehr) erfüllt, nur annähernd Rechnung und weicht den Extremismus-Begriff weiter auf: „In der parlamentarischen Praxis sowie bei Regierungsbeteiligungen [war] eine Umsetzung des programmatischen Ziels der Überwindung der herrschenden Staats- und Gesellschaftsordnung nicht zu erkennen; vielmehr scheint die Partei darauf zu setzen, als reformorientierte, neue linke Kraft wahrgenommen zu werden“. Siehe: Bundesministerium des Innern (Hg.): Verfassungsschutzbericht 2007. Berlin 2008, S. 151. 46 Für punktuelle Informationen zu den Parteien und Organisationen, siehe Kap. IX.1.
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Im Rahmen dieser Arbeit wird aus drei Gründen auf den Linksextremismusbegriff verzichtet und das Schema eines linken Spektrums bevorzugt: Erstens, weil kein Kriterienkatalog zur nachträglichen Unterscheidung von meist nicht mehr existenten Gruppierungen erstellt werden soll. Zweitens, weil die Zersplitterung der Linken im Untersuchungszeitraum mit dem Spektrums-Begriff besser veranschaulicht werden kann. Drittens, weil der Extremismusbegriff keine entscheidenden Vorteile bringt. Wie bereits in der Einführung geschildert, geht es bei der Untersuchung der vier Protestphänomene nach dem Deutschen Herbst gerade darum, das Verhältnis Linker zum Staat im Querschnitt zu erfassen und, wenn möglich, die Feinheiten in den Positionen einzelner Organisationen und Gruppierungen herauszuarbeiten. Hierbei wäre ein Orientierungsbegriff, der die Linke wie einen politischen Block behandelt und nahezu beliebig in zwei Hälften teilt, fehl am Platze.
2. Z UM U MGANG MIT DEM R EPRESSIONSBEGRIFF 2.1 Repression als eine grundlegende staatliche Funktion Der Begriff „Repression“ wird alltagssprachlich, besonders in der Berichterstattung der Medien, als Synonym für politische Unterdrückung verwendet. Am häufigsten ist von ihm im Zusammenhang mit staatlichen Zwangsmaßnahmen und Menschenrechtsverletzungen die Rede, etwa den Stalinschen Säuberungen, der Judenverfolgung im Dritten Reich, den Massenmorden der Roten Khmer in Kambodscha oder den Militärdiktaturen der Siebziger Jahre in Südamerika, die nicht zufällig unter dem Schlagwort „La Représion“ summiert werden. Auch mit Ereignissen der jüngeren Vergangenheit ist der Begriff gelegentlich verknüpft worden: So gelten die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und das Tian’anmen-Massaker in Peking 1989 als grausame Repressionsakte kommunistischer Regime, die Foltermaßnahmen in Guantanamo und Abu Ghuraib hingegen als repressive Terrorismusbekämpfung eines demokratischen Staates, nämlich der USA. Diese prominenten Beispiele zeigen, dass der Repressionsbegriff häufig mit überzogenen, ja unmenschlichen Maßnahmen staatlicher Institutionen gegenüber Minderheiten oder politisch Andersdenkenden gleichgesetzt wird. Wie ist dann allerdings zu erklären, dass sowohl die Reaktionen der SED auf Oppositionelle in der DDR47, als auch die Reaktionen bundesdeutscher Institutionen auf die Protestbewegungen mit dem Begriff Repression umschrieben werden?48 War die Repression in 47 Zuletzt thematisiert u. a. bei: BAUER, Babett: Kontrolle und Repression: Individuelle Erfahrungen in der DDR, 1971-1989. Göttingen 2006; BUCHSTAB, Günter (Hg.): Repression und Haft in der SED-Diktatur und die ‚gekaufte Freiheit‘. Dokumentation des 14. BuchenwaldGesprächs (22./23.11.2004) in Berlin zum Thema ‚Häftlingsfreikauf‘. Sankt Augustin 2005; KORZILIUS, Sven: ‚Asoziale‘ und ‚Parasiten‘ im Recht der DDR/SBZ. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung. Köln u. a. 2005; RASCHKA, Johannes/ KUHRT, Eberhard (Hg.): Am Ende des realen Sozialismus, Bd. 5: Zwischen Überwachung und Repression. Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989. Opladen 2001. 48 Wiederum nur einige ausgewählte Beispiele: KNOCH, Habbo: ‚Mündige Bürger‘, oder: Der kurze Frühling einer partizipatorischen Vision. Einleitung. In: Ders. (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren. Göttingen 2007. Hier als Option staatlichen Handelns und Reagierens auf Systemkritik, vgl. S. 41; STEINSEIFER, Martin: ‚Terrorismus‘ zwischen Ereignis und Diskurs. Zur Pragmatik von Text-Bild-Zusammenstellungen in Printmedien der 1970er Jahre (unveröff. Dissertationsschrift). Gießen 2008. Hier als diffuser Druck auf „Terroristen-Sympathisanten“, vgl. S. 543;
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der DDR nicht mit den Verbrechen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) verknüpft? Blendet die undifferenzierte Verwendung des Repressionsbegriffs nicht die unbestreitbare Dichotomie zwischen der SED-Diktatur und dem freiheitlichdemokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik aus? Offensichtlich wird in der Wissenschaft anders mit dem Repressionsbegriff umgegangen als es in Öffentlichkeit und Medien der Fall ist, denn hier gilt zunächst: Repression ist gleich Repression – und zwar deshalb, weil damit eine der grundlegenden Funktionen jedes Staates gemeint ist. 49 Mit anderen Worten: Bei Repression handelt sich um einen leeren Oberbegriff für alle denkbaren Maßnahmen staatlicher Institutionen, die „einerseits auf die Unterdrückung, gleichzeitig aber auch auf die Entlegitimierung von oppositionellem Verhalten abziel[en].“50 Repression ist schlicht eine „Herrschaftstechnik“, präzisiert der Historiker Lutz Klinkhammer. Wie sie staatliche Entscheidungsträger anwenden, ob sie dabei verbrecherisch oder menschenverachtend vorgehen, ist ein Aspekt, der nur mit Blick auf die konkreten Maßnahmen eingeschätzt werden kann. In einem Rechtsstaat bestehen klare Vorgaben, in welchem Rahmen sich diese bewegen dürfen: So gilt Repression in der Rechtspflege und Rechtsprechung der Bundesrepublik als der „Inbegriff notwendiger staatlicher Mittel und Reaktionen auf illegale Akte gegen Staat und Gesellschaft, die der Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens dienen.“51 Daran anknüpfend wird Repression in der Kriminologie als das polizeiliche Vorgehen der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung definiert.52 Lässt sich illegitime von legitimer Repression noch recht klar unterscheiden, indem beispielsweise geprüft wird, ob die ergriffenen Maßnahmen zu Menschenrechtsverletzungen führen, wird es umso schwieriger, Repression nach ihrer Notwendigkeit zu beurteilen: Wo liegt die Grenze zwischen punktueller Gefahrenab-
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OPP, Karl-Dieter: Die enttäuschten Revolutionäre. Politisches Engagement vor und nach der Wende. Opladen 1997. Hier als Sanktionierung politischen Engagements durch staatliche Institutionen, vgl. S. 130; PETTENKOFER, Andreas: Kritik und Gewalt. Zur Genealogie der westdeutschen Umweltbewegung (unveröff. Dissertationsschrift). Erfurt 2007. Hier v. a. als „polizeiliche Repression“, vgl. S. 312. Ein weiteres Beispiel: UKA, Walter: Terrorismus im Film der 70er Jahre: Über die Schwierigkeiten deutscher Filmemacher beim Umgang mit der Gegenwart. In: WEINHAUER, Klaus/REQUATE, Jörg/HAUPT, Heinz-Gerhard (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren. Frankfurt a. M. 2006, S. 382-399, hier: S. 384: „Es war für die Linksintellektuellen der Siebziger Jahre eine permanente Herausforderung, zwischen den konkreten Gewaltaktionen der Gruppe [RAF, Anm. M. M.] […] und der Repression, mit welcher der bundesdeutsche Staat von seinen Bürgern ein Bekenntnis zum Rechtsstaat abforderte, Position […] zu beziehen.“ So schreibt der US-amerikanische Politikwissenschaftler Christian Davenport: „[…] repression can be rare or frequent, it can be legitimate or illegitimate, but it is always essential to the very definition of state – one of the most basic functions of the institution.” Siehe: DAVENPORT, Christian: State Repression and the Domestic Democratic Peace. New York 2007, S. 35. KLINKHAMMER, Lutz: Staatliche Repression als politisches Instrument. Deutschland und Italien zwischen Monarchie, Diktatur und Republik. In: DIPPER, Christof (Hg.): Deutschland und Italien 1860-1960 (Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 52). München 2005, S. 133158, hier: S. 133. Vgl. KAASE, Max/NEIDHARDT, Friedhelm: Politische Gewalt und Repression. Ergebnisse von Bevölkerungsumfragen. In: SCHWIND, Hans-Dieter (Hg.): Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission). Bd. 4. Berlin 1990, S. 7-71, hier: S. 56. BURGHARD, Waldemar/HEROLD, Horst u. a. (Hg.): Kriminalistik Lexikon. Grundlagen der Kriminalistik (Schriftenreihe der Kriminalistik, Bd. 20). Heidelberg 1984, S. 177.
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wehr und dauerhafter, systematischer Unterdrückung? Wann ist Repression nicht mehr im Interesse der Gesellschaft? Wann wird sie selbst zur Gefahr für den öffentlichen Frieden? – Fragen wie diese sind Bestandteil jeder kritischen Auseinandersetzung mit Repression, egal, ob sie von liberaler oder linker Seite betrieben wird. Um die Spezifik der linken Repressionskritik in den Siebziger Jahren zu veranschaulichen, soll im folgenden Abschnitt zusammengefasst werden, welches Verständnis von Repression Linke entwickelten und welche politisch-gesellschaftlichen Deutungen ihren Begriffszuschreibungen zu Grunde lagen. 2.2 Linkes Verständnis von Repression in den Sechziger und Siebziger Jahren Wann der Repressionsbegriff in linke Debatten Einzug hielt und zum Schlagwort in der Verständigung über das Verhältnis zum Staat wurde, darüber liegen keine gezielten Untersuchungen oder Erhebungen vor. Dabei ließen sich von den antiautoritären Bestrebungen der 68er-Generation bis zu den antirepressiven Ansätzen der Spontis ausgangs der Siebziger Jahre sicher interessante Bögen schlagen, die auch die Geschichte des „linken“ Repressionsbegriffs gut umrissen. Ein grundlegendes Merkmal linken Protests blieb die „Reizbarkeit gegenüber Herrschaft“ beziehungsweise „die Abneigung gegen bereits etablierte Führer, Apparatschiks jeder Sorte und Politiker“53 über das Jahrzehnt hinweg zweifellos. Angefangen hatte es damit, dass sich in der antiautoritären Politik und Lebensführung der 68er-Generation Emanzipationswünsche äußerten, die, so der Psychologe Jörg Bopp, mit der Erfahrung kollidierten, „dass eigenes Denken und Empfinden, ja der gesamte Triebhaushalt durch das ‚repressive System‘ – in allen Institutionen von der Familie bis zum Staat – gefesselt war.“54 Bopp verweist mit seiner Wortwahl deutlich auf den psychoanalytischen Ursprung der Auseinandersetzung mit Repression, nämlich Sigmund Freuds These, wonach Kultur und Zivilisation auf der permanenten Unterdrückung der menschlichen Triebe beruhen. Eine Bewegung, die nicht nur nach Freiheit und Glück strebte, sondern beides auch „sofort, auf der Stelle und wenn es nötig ist, im kollektiven Kampf“55 zu verwirklichen suchte, musste dieser pessimistischen These widersprechen, auch wenn sie sich im Alltag der „formierten Gesellschaft“ der Sechziger Jahre für den ein oder anderen zu bewahrheiten schien. Alternative Theorien waren gefragt. Die 68er entdeckten Herbert Marcuse. Der Philosoph, nach Hitlers Machtergreifung 1933 in die USA emigriert, zog erstmals auf dem Heidelberger Soziologentag 1964 das breite Interesse der Nachkriegsgeneration auf sich, als er in seinem Vortrag heftig gegen Max Weber polemisierte. Drei Jahre später durfte sich Marcuse bereits wie der „gefeierte Lehrer der Neuen Linken“56 fühlen: Wer seine Abrechnung mit dem Lieberalismus in dem Sammelband »Kritik der reinen Toleranz«57 nicht gelesen hatte, 53 MARCUSE, Herbert: Versuch über die Befreiung. Frankfurt a. M. 1988, S. 130f. 54 BOPP, Jörg: Die ungekonnte Aggression. In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck, S. 136-143, hier: S. 137. 55 KNAPP, Udo: Gelassenheit. In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck, S. 110-114, hier: S. 111. 56 HABERMAS, Jürgen: Zum Geleit. Vorwort zu: Antworten auf Marcuse. In: SIEVERS, Rudolf (Hg.): 1968. Eine Enzyklopädie. 1. Auflage. Frankfurt a. M. 2004, S. 165-170, hier: S. 165. 57 WOLFF, Robert Paul/MOORE, Barrington/MARCUSE, Herbert: Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt a. M. 1966.
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konnte in den allgegenwärtigen Diskussionen über Emanzipation, Pluralismus und neue Gesellschaftsmodelle nicht mitreden.58 Die Sympathien beruhten auf Gegenseitigkeit. Marcuse begrüßte das Aufkommen einer antiautoritären Bewegung, deckte sie sich doch mit seiner Idee der notwendigen Befreiung von der „ausbeuterischen Ordnung“59 des Kapitalismus und ihrer Herrschaftsverhältnisse. Seine Philosophie wurzelte in der langjährigen Auseinandersetzung mit Sigmund Freud. Zunächst teilte er dessen Auffassung, wonach der Mensch sowohl bewussten als unbewussten, äußeren wie inneren Vorgängen der Hemmung unterliege60 und dass diese Repression(en) eine Form der Triebmodifizierung seien, also der Fortentwicklung des Menschen von seiner animalischen Natur, die wiederum die Kultivierung und Zivilisierung der Menschheit erst möglich mache.61 Marcuse bezeichnete diese Art der Repression daher auch als „(Grund-)Unterdrückung“. Neu war jedoch sein Ansatz, jene „notwendige“ von einer „überflüssigen Repression“ zu unterscheiden.62 Während Freud biologisch und sozialgeschichtlich bedingte Hemmungen nicht begrifflich voneinander unterschied, hob Marcuse hervor, dass in einer alltäglichen Realität, in der der Mensch zur Befriedigung seiner Bedürfnisse dem Leistungsprinzip unterworfen sei, sprich: Arbeit zu verrichten und seine Lust zurückzustellen habe, Repression auch dadurch entstünde, dass der Mensch Teil einer patriarchalisch dominierten Zivilisation sei, in der seine Entfremdung zur Arbeit im Interesse der bestehenden Herrschaftsform organisiert werde.63 Diese Art der Unterdrückung zu überwinden, die „in Umfang und Maß je nachdem verschieden [sei], ob die soziale Produktion auf individuellen Verbrauch oder auf Profit hin orientiert ist“64, hielt Marcuse – im Widerspruch zu Freud – für nicht-utopisch respektive „wirklichkeitsnah“65. Indem er behauptete, die Menschheit habe eine kulturelle Entwicklungsstufe erreicht, auf welcher die Vorbedingungen für die Abschaffung der überflüssigen Repression erfüllt seien, mit anderen Worten also Wissen und Macht im Dienste der Freiheit eingesetzt werden könnten,66 bezog sich Marcuse bewusst auf den historischen Materialismus, warf er Marx und Freud gewissermaßen in einen Topf. Hierbei orientierte er sich an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, neben denen er der so genannten „Frankfurter Schule“ zugerechnet wird. Während Adorno und Horkheimer in ihrer Kritischen 58 Nicht umsonst sagte der Sozialhistoriker Eric Hobsbawm einst über die 68er: „Wohl keine andere Bewegung umfasste je eine größere Zahl von Bücher schreibenden oder lesenden Menschen.“ Zit. nach: HABERMAS, Jürgen: Verteufelung kritischen Denkens. In: Arbeitsstab ‚Öffentlichkeitsarbeit gegen Terrorismus‘ im Bundesministerium des Innern (Hg.): Hat sich die Republik verändert? Bonn 1978, S. 80-92, hier: S. 89. 59 MARCUSE, Herbert: Versuch über die Befreiung, S. 10. 60 Vgl. MARCUSE, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. In: Ders.: Schriften. Bd. 5. Frankfurt a. M. 1978, S. 14. Vgl. auch: HOROWITZ, Gad: Repression. Basic and surplus repression in psycho-analytic theory: Freud, Reich, and Marcuse. Toronto 1977, S. 2. 61 Vgl. MARCUSE, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 38. 62 Marcuse gestand Freud jedoch zu, zumindest „den Unterschied zwischen progressiver und regressiver, befreiender und zerstörerischer Unterdrückung“ zu kennen. Siehe: MARCUSE, Herbert: Repressive Toleranz. In: SIEVERS, Rudolf (Hg.): 1968. Eine Enzyklopädie, S. 143169, hier: S. 162. 63 Vgl. MARCUSE, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 38f. 64 Ebd., S. 39. 65 Ebd., S. 12. 66 Vgl. ebd., S. 13. Vgl. auch: HOROWITZ, Gad: Repression, S. 183.
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Theorie jedoch keine Auswege des Menschen aus seinem Zustand der Unterwerfung gegenüber den Mechanismen der bestehenden Herrschaftsverhältnisse aufzeigen, sondern vielmehr ausschließen, lieferten Marcuses Werke »Triebstruktur und Gesellschaft« (1955) und »Der eindimensionale Mensch« (1964) der antiautoritären Bewegung wichtige Anregungen und trugen so zur Verbreitung seines psychoanalytisch-soziopsychologischen Repressionsbegriffs67 bei. Noch 1977 befasste sich der Soziologe Gad Horowitz mit Marcuses „überflüssiger Repression“. Der Kanadier bestreitet in seiner Arbeit nicht, dass von dieser Fusion aus Freud und Marx ein gewisser Reiz ausging, merkt jedoch an, dass ihr Ergebnis von Freuds Standpunkt aus vage und spekulativ bleibt: Marcuse habe Freud vor allem darin missverstanden, dass der Anstoß für die „notwendige Repression“ allein von außen komme. Stattdessen habe Freud darauf hingewiesen, dass auch der menschliche Instinkt an sich zur Triebunterdrückung führe – „that is the dictate of human biology.“68 Doch der Repressionsbegriff der Linken wurde nicht allein über Marcuse geprägt. Aus der marxistischen Theorie und der Frankfurter Schule heraus hatte sich auch ein politisch-sozioökonomisches Verständnis von Unterdrückung entwickelt, das für Theorie und Praxis der antiautoritären Bewegung mindestens ebenso relevant war. Wenn Rudi Dutschke, als führender Kopf der APO, vom „weltweiten Netz der organisierten Repression“69 sprach, dann meinte er mehr als die bloße globale Existenz autoritärer Herrschaftsordnungen und repressiver Herrschaftsverhältnisse. Er bezeichnete damit auch all jene Maßnahmen und Mittel, mit denen diese „staatlich-gesellschaftlichen Gewaltmaschinerie[n]“70 ihren Fortbestand gesichert hätten. Repression war demnach nicht nur ein Unterdrückungszustand, aus dem der Mensch befreit werden sollte, sondern auch eine wesentliche Form staatlicher Politik. Schon Horkheimer hatte den autoritären Staat im Nationalsozialismus über sein Handeln charakterisiert: „Der Staatskapitalismus ist der autoritäre Staat der Gegenwart.“ Er beseitige „den Markt und hypostasiert die Krise für die Dauer des ewigen Deutschlands. […] Die Arbeitslosigkeit wird organisiert.“71 „In allen seinen Varianten ist der autoritäre Staat repressiv.“72 Im Zuge der antibürgerlichen Kritik der 68er wurde dieses marxistisch geprägte Verständnis vom Staat als kompromisslosen Garanten eines Wirtschaftssystems, in dem sich Ausbeutung und Unterdrückung angeblich gegenseitig bedingten, auf die Bundesrepublik übertra67 Eine neuere Definition dieses „Marcuse’schen“ Repressionsbegriffs ist nachzulesen bei: HILLMANN, Karl-Heinz: Art. Repression. In: Ders. (Hg.): Wörterbuch der Soziologie. 4. überarb. Auflage. Stuttgart 1994, S. 735. 68 Vgl. HOROWITZ, Gad: Repression, S. 189. 69 DUTSCHKE, Rudi: Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf. In: SIEVERS, Rudolf (Hg.): 1968. Eine Enzyklopädie, S. 252-262, hier: S. 260. 70 Ebd., S. 254. Wolfgang Kraushaar bringt auf den Punkt: „Aus Dutschkes Sicht produziert das kapitalistische System Gewalt.“ Siehe: KRAUSHAAR, Wolfgang: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf. In: Ders. u. a. (Hg.): Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF. Hamburg 2005, S. 13-50, hier: S. 38. 71 HORKHEIMER, Max: Autoritärer Staat. In: SIEVERS, Rudolf (Hg.): 1968. Eine Enzyklopädie, S. 117-125, hier: S. 118. Der Originaltext entstand etwa 1940/42 im US-amerikanischen Exil. Er ist abgedruckt in: HORKHEIMER, Max: Autoritärer Staat. In: SCHMIDT, Alfred/ SCHMID NOERR, Gunzelin (Hg.): Max Horkheimer. Gesammelte Schriften. Bd. 5. Frankfurt a. M. 1987, S. 293-319. 72 HORKHEIMER, Max: Autoritärer Staat. In: SIEVERS, Rudolf (Hg.): 1968. Eine Enzyklopädie, S. 119.
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gen. Hinter der krisenanfälligen sozialen Marktwirtschaft habe sich demnach nichts anderes verborgen als der Spätkapitalismus73 – verkürzt gesagt: der Staatskapitalismus des Dritten Reichs an der Schwelle seiner Überwindung. Wer sich gegen dieses „System der repressiven Institutionen“74 stellte, wer sich für Verhältnisse einsetzte, „unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können“75, so Dutschke, der begab sich in radikale Opposition gegenüber einem autoritären Staat im Gewand einer „Pseudo-Demokratie“76, der nicht mit seiner faschistischen Vergangenheit gebrochen hatte, und demzufolge mit „massive[m] und brutale[m] Einsatz aller Repressionsmittel“77 reagieren würde. Diese Reaktion zu provozieren, sah Dutschke als Hauptaufgabe der Opposition an, da nur auf diese Weise das System als „Diktatur der Gewalt“ entlarvt werden könnte.78 Etwa zur selben Zeit hielt „Repression“, bislang ein Terminus der Psychologie, im Wortschatz deutscher Soziologen Einzug. Auch wenn er in den einzelnen Disziplinen freilich nicht unumstritten blieb, etablierte sich bis 1973 die Auffassung, dass unter Repression „jede Form der illegitimen politischen Machtausübung und Gewaltanwendung“79 zu verstehen sei. Mit dieser Definition erhielt der bis dahin doch eher diffuse, gar reformpädagogisch angehauchte Begriff eine klare Kontur, was ihn über die Soziologie hinaus für die Wissenschaft interessant machte: Mitte der Siebziger Jahre entstanden die ersten politik- und geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, die sich auf die ein oder andere Weise mit Repression befassten.80 Dass der Begriff im wissenschaftlichen und damit auch universitären Bereich gängiger wurde, machte ihn wiederum – über alle theoretischen Schriften hinaus – leichter für agitatorische Zwecke der Linken handhabbar. Der „Betondruck der bürgerlichen
73 Zur Charakteristik des Spätkapitalismus und seiner Krisentendenzen, vgl. HABERMAS, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973, S. 50-130. 74 MIERMEISTER, Jürgen (Hg.): Rudi Dutschke. Geschichte ist machbar. Berlin 1980, S. 94. 75 DUTSCHKE, Rudi: Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf. In: SIEVERS, Rudolf (Hg.): 1968. Eine Enzyklopädie, S. 252. 76 MARCUSE, Herbert: Versuch über die Befreiung, S. 12. 77 DUTSCHKE, Rudi: Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf, S. 256. 78 Vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, S. 38. 79 KLIMA, Rolf: Art. Repression. In: FUCHS, Werner u. a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie. Opladen 1973, S. 711. Ähnlich lautet die Definition bei: HORN, Klaus/LAUTMANN, Rüdiger: Art. Unterdrückung. In: FUCHS-HEINRITZ, Werner/LAUTMANN, Rüdiger u. a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie. 4. überarb. Auflage. Wiesbaden 2007, S. 687. Noch nicht aufgenommen worden war der Begriff „Repression“ bei: BERNSDORFF, Wilhelm (Hg.): Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1969. Auch neuere soziologische Wörterbücher kommen ohne den Begriff aus, beispielsweise: ENDRUWEIT, Günter/TROMMSDORF, Gisela (Hg.): Wörterbuch der Soziologie. 2. überarb. Auflage. Stuttgart 2002. 80 Um nur einige Beispiele zu nennen: SAUL, Klaus: Der Staat und die ‚Mächte des Umsturzes‘. Ein Beitrag zu den Methoden antisozialistischer Repression und Agitation vom Scheitern des Sozialistengesetzes bis zur Jahrhundertwende. Bonn 1972; LÜDTKE, Alf: Praxis und Funktion staatlicher Repression: Preußen 1815-50. In: Geschichte und Gesellschaft (Nr. 3, 1977), S. 190-211; MÜTH, Reinhard: Studentische Emanzipation und staatliche Repression. Die politische Bewegung der Tübinger Studenten im Vormärz, insbesondere von 1825 bis 1837 (Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 11). Stuttgart 1977; ELLSSEL, Christian: 100 Jahre Sozialistengesetz. Eine Ausstellung zur Praxis staatlicher Repression im Deutschen Reich und Bremen 1878-1890. Bremen 1978.
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Verhältnisse“81, wie ihn die 68er auf unterschiedlichste Art empfunden und beklagt hatten, ließ sich nun gewissermaßen mit wissenschaftlicher Rückendeckung benennen und auch ohne ständige Rückbezüge auf Marcuse, Dutschke und all die anderen82, auf die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik beziehen. Unter diesen Voraussetzungen überdauerte der Vorwurf von „staatlicher“83 Repression das gesamte „rote Jahrzehnt“. Noch 1979 war die Formel offensichtlich so brisant, dass Michael Th. Greven ihr in einem Vortrag für die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft auf den Grund ging: „Kann es in einem Rechtsstaat in soziologischem Sinne zu Repression kommen?“ fragte er und richtete sein Augenmerk zunächst auf die Bedeutung von „Legitimität“. Berücksichtige man die Argumente Max Webers, dann sei illegitime politische Machtausübung nur dort möglich, wo eine politische Ordnung oder Gruppe regiere, der keine politische Rechtmäßigkeit zuerkannt wird.84 In diesem Sinne sei „staatliche“ Repression in der Bundesrepublik mit ihrer freiheitlichdemokratischen Grundordnung also ausgeschlossen, geradezu ein lexikalisches „Unding“85. Doch Greven gab sich damit nicht zufrieden. Er meinte, im Extremistenbeschluss und den so genannten „Anti-Terror-Gesetzen“ Fälle von legalisierter (durch Gesetz erlassen) und legitimierter (durch Mehrheitsentscheidung beschlossen) staatlicher Repression zu erkennen. Dies machte er fest an einem historisch geprägten Maßstab und einem gesellschaftlich entwickeltem Bewusstsein, auf Grund dessen „zwischen der Repression, die durch die Existenz staatlicher Gewalt ‚als solcher’ gegeben ist, und jener repressiven Praxis staatlicher Gewaltausübung“86 wohlweislich unterschieden werden könne. Demnach sei die Politik der 81 KNAPP, Udo: Gelassenheit, S. 111. 82 Als Kanonliteratur der 68er hatten das Repressionsverständnis mitgeprägt: AGNOLI, Johannes: Die Transformation der Demokratie. Berlin 1967; FANON, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Reinbek b. Hamburg 1966; HAUG, Wolfgang Fritz: Der hilflose Antifaschismus. Frankfurt a. M. 1967; NOLTE, Ernst: Der Faschismus in seiner Epoche. München 1963. 83 Ohnehin waren die Kategorien verwischt worden. Wie Habbo Knoch resümiert, lief die antibürgerliche Kritik der 68er darauf hinaus, ‚Bürgerlichkeit‘ und ‚Staat‘ gleichzusetzen: Man habe das emanzipatorische Potential der Bewegung „von den staatlichen, mithin bürgerlichen Herrschaftspraktiken bedroht“ empfunden. Siehe: KNOCH, Habbo: ‚Mündige Bürger‘, S. 36. 84 Vgl. GREVEN, Michael Th.: Reform und Repression. Über den Zusammenhang von Sozialpolitik und ‚Innerer Sicherheit‘. In: Politikfeld-Analysen (Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, 1.10.-5.10.1979). Opladen 1980, S. 331-347, hier: S. 337. Greven bezieht sich an dieser Stelle auf: WEBER, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilbd. 4: Herrschaft. In: BAIER, Horst u. a. (Hg.): Max Weber. Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden. Bd. 22. Tübingen 2005, S. 148. Hier heißt es: „Der einzelne Träger der Befehlsgewalt ist dann durch jenes System von rationalen Regeln legitimiert und seine Gewalt soweit legitim, als sie jenen Regeln entsprechend ausgeübt wird.“ An anderer Stelle schreibt Weber: „Mit zunehmender Befriedung und Erweiterung des Markts parallel geht daher auch 1. jene Monopolisierung legitimer Gewaltsamkeit durch den politischen Verband, welche in dem modernen Begriff des Staats als der letzten Quelle jeglicher Legitimität physischer Gewalt, und zugleich 2. jene Rationalisierung der Regeln für deren Anwendung, welche in dem Begriff der legitimen Rechtsordnung ihren Abschluß finden.“ Siehe: WEBER, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilbd. 1: Gemeinschaften. In: BAIER, Horst u. a. (Hg.): Max Weber. Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden. Bd. 22. Tübingen 2005, S. 215. 85 GREVEN, Michael Th.: Reform und Repression, S. 337. 86 Ebd., S. 338.
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Bundesregierung im Einzelfall in ihrer Form wie in ihrem Zweck durchaus repressiv, sei Repression also auch in der Bundesrepublik eine erkennbare Qualität staatlichen Handelns. Greven vertieft den Ursprung staatlicher Repression jedoch nicht theoretisch, womöglich hätte er sich sonst auf die ausgetretenen Wege der Vordenker der 68erBewegung begeben oder sie in Erinnerung gerufen. Ein streitbarer Intellektueller, der den hoch aufgeladenen Repressionsbegriff dagegen wieder aufgenommen und anhand der Protestereignisse der Jahre 1967/68 noch einmal theoretisch reflektiert hatte, war der Franzose André Glucksmann. 1972 erschien in »La Cause du Peuple«, der einst von Jean-Paul Sartre mitherausgegebenen Zeitschrift der französischen Maoisten, seine eigenwillige Definition eines „Neuen Faschismus“.87 Am Beispiel Frankreichs versuchte er aufzuzeigen, dass sich die bürgerlich-kapitalistische Herrschaftsordnung nur eine demokratisch-rechtsstaatliche Fassade gegeben hätte, um dahinter die Vorbereitung zur Etablierung eines faschistischen Regimes zu verbergen.88 Glucksmann kritisierte, dass weite Teile der Linken drei Jahre nach dem Pariser Mai, in dem Frankreich am Rande einer Revolution stand, beinahe ohnmächtig den „sich verschärfenden ‚Polizei‘staat“89 registrierten und gebetsmühlenhaft, ja geradezu einschläfernd, ihre Warnungen vor der alltäglichen Repression aussprachen, ohne den Gefahren aktiv entgegen zu treten. Dabei sei die Repression in ihren vielfältigen Erscheinungen, von den Produktionsbedingungen in den Fabriken über den brutalen Umgang mit den Festgenommenen und Inhaftierten der „Volkserhebung“ in den Kommissariaten und Gefängnissen bis hin zu den „Schurkenstreiche[n] der Justiz“, die aufrüttelnde, „sinnliche Erfahrung des permanenten Faschismus.“90 Diesen wiederum wollte Glucksmann nicht mit jenem „vergangenen“ Faschismus unter Hitler oder Mussolini gleichgesetzt wissen. Stattdessen definierte er ihn als „vollendete Form der Konterrevolution“91 – eine Eingebung, die keineswegs bahnbrechend war. Glucksmann knüpfte lediglich an eine kommunistische Tradition an, der als „bürgerlich“ kategorisierten Staatsgewalt faschistoide Züge zu unterstellen. Sein Bruch mit dem etablierten Faschismusbegriff ging so weit, dass er dem Faschismus den Charakter einer Massenbewegung absprach und ihn als „von oben kommend“92 beschrieb. Mit anderen Worten: Der Neue Faschismus bedeute nicht die Einnahme des Innenministeriums durch rechtsgerichtete Gruppen, sondern die Einnahme Frankreichs durch das Innenministe87 In deutscher Übersetzung: GLUCKSMANN, André: Der alte und der neue Faschismus. In: Ders./GEISMAR, Alain/FOUCAULT, Michel u. a.: Neuer Faschismus, neue Demokratie. Über die Legalität des Faschismus im Rechtsstaat (Rotbuch Nr. 43). Berlin 1972, S. 7-68. Die französische Originalausgabe »Temps modernes« sorgte wegen ihrer politischen Schärfe für Empörung. Allerdings schrieb Glucksmann auch „zahlreiche Artikel in weniger anrüchigen Zeitungen und Zeitschriften […].” Der Politologe Yves Bizeul weist außerdem darauf hin, dass der französische Intellektuelle bis heute „durch seine zahlreichen Bücher, Aufsätze in europäischen und internationalen Zeitungen und Wochenschriften sowie durch seine Rundfunk- und Fernsehauftritte […] präsent” sei. Siehe: BIZEUL, Yves: André Glucksmanns Weg zum Leitintellektuellen. Aufstieg und Fall. In: BLUHM, Harald/REESE-SCHÄFER, Walter (Hg.): Die Intellektuellen und der Weltlauf. Schöpfer und Missionare politischer Ideen in den USA, Asien und Europa nach 1945. Baden-Baden 2006, S. 171-194, hier: S. 176. 88 Vgl. GLUCKSMANN, André: Der alte und der neue Faschismus, S. 7. 89 Ebd., S. 8. 90 Aus dem gleichnamigen Kapitel: Ebd., S. 17-25. 91 Ebd., S. 26. 92 Ebd., S. 68.
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rium93, wobei dieses, wie alle staatlichen Institutionen überhaupt, zum Werkzeug der Bourgeoisie gegen die Massen geworden sei. An Glucksmanns Aufsatz ist leicht erkennbar, wie der Repressionsbegriff in einem „umfänglichen“94 Faschismusbegriff versinken konnte, den vor allem die Befürworter einer gewaltsamen Revolution vertraten. Zu welchen weltanschaulichen Vergröberungen derartige Begriffsverzerrungen führten, skizzieren die Politologen Iring Fetscher, Herfried Münkler und Hannelore Ludwig in ihrer Studie zum Faschismusbegriff der RAF und anderer bewaffneter Gruppierungen: „Entscheidend ist dabei die Verwandlung des politikwissenschaftlichen Begriffs des Faschismus in einen beliebig zu verwendenden Kampfbegriff, der seine Ansätze schon bei der KPD der Weimarer Zeit hat und immer wieder neue Blüten trieb, weil zwischen dem realen Faschismus und der bürgerlichen Repression in einem Staat, der im Sinne Max Webers das Gewaltmonopol für sich in Anspruch nimmt, nicht unterschieden wird.“
Dem Problem der Pauschalisierung versuchte der US-amerikanische Soziologe Martin Oppenheimer 1978 ohne einen neuen Faschismusbegriff, aber mit Hilfe einer Begriffsschöpfung zu begegnen.96 In Abgrenzung zu Weber, der Repression durch Wachstum, Rationalisierung und Bürokratisierung einer Gesellschaft bedingt sehe,97 führte Oppenheimer das Auftreten von Repression auf die Entstehung ver93 Vgl. ebd., S. 17 und S. 62. 94 Dieses Attribut verwendet der Pädagoge Gerhard Fels, der die Kampfbegriffe der 68er in ihrer Qualität, allerdings sehr überspitzt, mit dem Prinzip der Wortbedeutungen in totalitären Systemen vergleicht. Demnach mussten Begriffe wie Faschismus sehr „umfänglich und wegen ihrer Unbestimmtheit in der Lage sein, jederzeit neu auftauchende Phänomene in sich aufzunehmen. […] Zudem müssen die Begriffe so gewählt werden, dass sie in einer Aura gefühlsbesetzter Vorstellungen erscheinen, und diese Vorstellungen müssen jedermann vertraut sein.“ Siehe: FELS, Gerhard: Der Aufruhr der 68er. Zu den geistigen Grundlagen der Studentenbewegung und der RAF. Bonn 1998, S. 20. 95 FETCHER, Iring/MÜNKLER, Herfried/LUDWIG, Hannelore: Ideologien der Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland. In: FETCHER, Iring /ROHRMOSER, Günter: Ideologien und Strategien. Analysen zum Terrorismus, Bd. 1. Herausgegeben vom Bundesministerium des Innern. Opladen 1981, S. 16-273, hier: S. 190. 96 OPPENHEIMER, Martin: The national security state : repression within capitalism. In: Berkeley Journal of Sociology. A ciritical review (Nr. 23, 1978), S. 3-33. 97 Oppenheimer bezieht sich hier auf: WEBER, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilbd. 4: Herrschaft, S. 157-234, hier v. a. S. 185: „Der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisation war von jeher ihre rein technische Überlegenheit über jede andere Form. Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich zu diesen genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten der Gütererzeugung. Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten sind bei strenger bürokratischer, speziell: monokratischer Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert.“ Weiter auf S. 187: „Die Bürokratie in ihrer Vollentwicklung steht in einem spezifischen Sinn auch unter dem Prinzip des ,sine ira ac studio‘. Ihre spezifische, dem Kapitalismus willkommene, Eigenart entwickelt sie umso vollkommener, je mehr sie sich ,entmenschlicht‘, je vollkommener [...] die Ausschaltung von Liebe, Haß und allen rein persönlichen, überhaupt aller irrationalen, dem Kalkül sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte gelingt.“ Zu Marcuse, vgl. HOROWITZ, Gad: Repression, S. 157.
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schiedener Typen staatlicher Kontrollapparate zurück: dem (a) faschistischen sowie dem nationalen Sicherheitsstaat von (b) Typus I und (c) Typus II. Relevant für die Auseinandersetzung mit Repression ist vor allem Oppenheimers Unterscheidung von (b) und (c). Bei den Typus I-Staaten handele es sich vorrangig um Dritte-WeltLänder, die aus einem Befreiungskrieg heraus entstanden seien und noch keine starken Traditionen eines westlichen Rationalismus sowie liberaler und sozialdemokratischer Bewegungen ausgeprägt hätten, dabei jedoch unter einer permanenten Krise litten, die in einer Abhängigkeit der wirtschaftlichen Elite von ausländischem Kapital angelegt sei und mit langen Perioden von ländlicher und städtischer Arbeitslosigkeit einher gehe. Die Typus II-Staaten stünden dagegen für ein ausgeprägtes System sozialer Sicherheit und Wohlfahrt, dem zunehmend ein System politischer Sicherheit gegenüber gestellt werde. Diese Sicherheit werde laut Oppenheimer durch Kontrolle abweichenden kulturellen und politischen Verhaltens gewährleistet. Seine provokante These schließt ein, dass ausgerechnet die Bundesrepublik das beste Beispiel für einen Staat dieses Typus’ liefere: Nirgendwo auf der Welt sei der legale Apparat zur Bekämpfung von Extremismus, Spionage und Terrorismus stärker ausgeprägt.98 Besonders der mit den „Anti-Terror-Gesetzen“ einhergehende Ausbau der Polizeikräfte sei beispiellos, allenfalls Norwegen habe seine Staatsausgaben in diesem Bereich ähnlich gesteigert. Die Gründe für die Entwicklung der Bundesrepublik zu einem nationalen Sicherheitsstaat seien im wachsenden Legitimitätsverlust des Staates, in einem Aufbruch des nationalen Konsenses zu suchen. Oppenheimer erläutert: „In case of West Germany, the consensus has consisted of two interrelated parts: solidarity with the Western Alliance against monolithic communism, and the economic miracle.”99 Mit dem Nachlassen des Wirtschaftswunders Anfang der Siebziger Jahre und dem Aufkommen des Eurokommunismus100 in West- und Südeuropa habe die politische Elite nun das Bedürfnis, „preemptive repression“101, also vorbeugende Repression auszuüben, um die öffentliche Moral und Ordnung nach den Erfahrungen von 1968 vor weiterem Schaden zu bewahren. 2.3 Zusammenfassung: Repression, Repressionsempfinden, Repressionskritik Was konnte dieser Rückblick auf die Bedeutungsgeschichte des Repressionsbegriffs der Linken zeigen? In erster Linie offenbarte sich, dass er wie viele andere Kampfbegriffe der 68er aus der Sprache ihrer geistigen Väter stammte und in den programmatischen Schriften ihrer Aktivisten eine Bedeutungsaufladung erfuhr. Daneben konnte angedeutet werden, dass der Begriff nach 1968 als Terminus in der Soziologie und später in der Politik- und Geschichtswissenschaft Aufnahme fand und bis zum Ende der Siebziger Jahre präsent blieb, wofür vor allem die Arbeiten Horowitz’, Oppenheimers und Grevens als Belege dienten. Allerdings blieb im Dunkeln, inwieweit der Begriff auch in der Protestpraxis, also in den Hörsälen und 98 Vgl. OPPENHEIMER, Martin: The national security state, S. 24-26. 99 Ebd., S. 28. 100 Der Begriff „Eurokommunismus“ bezeichnet ein gemeinsames Projekt der kommunistischen Parteien in Italien, Frankreich und Spanien, die im März 1977 ein Programm des demokratischen Überganges zum Sozialismus proklamierten. Ihre Einigkeit ging an unterschiedlichen Haltungen zum sowjetischen Afghanistan-Einmarsch 1979 zu Bruch. 101 OPPENHEIMER, Martin: The national security state, S. 29.
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auf den Straßen, präsent war. Doch es ist nicht gar notwendig, weitere Nachforschungen anzustellen, um zu behaupten: Neben den drei Stammbegriffen der 68er, „antiautoritär“, „antifaschistisch“, „antiimperialistisch“102, fand „antirepressiv“ keinen Platz. Grund dafür könnte der erweiterte Emanzipationsbegriff jener Zeit gewesen sein, der die allgemeine Befreiung des Menschen von gesellschaftlichen Abhängigkeiten und Handlungsnormen meinte. Damit stand „Emanzipation“ als Überbegriff für alle Freiheits- und Selbstbestimmungsbedürfnisse, während „Repression“ die Funktion eines Überbegriffs für alle Formen ihrer Hemmung und Unterdrückung zufiel. Wer also gegen Autoritäten, gegen Faschismus und gegen Imperialismus Position bezog, war von vornherein immer auch gegen Repression. Sie war bei allen drei Phänomenen mit inbegriffen – allerdings auch schwer greifbar. Bei der Reizbarkeit gegenüber Autoritäten und der Ablehnung „enger“ bürgerlicher Verhältnisse ging es offenbar vorrangig um eine Empfindung, eine Art Lebensgefühl, man würde als Andersdenkender, gar „Abweichler“, von oben her durch die staatlichen Institutionen in seiner persönlichen Freiheit politisch, weltanschaulich, gesellschaftlich, zwischenmenschlich usw. beschränkt oder eben unterdrückt (lateinisch: „reprimo“).103 Dieses Gefühl konnte mit Hilfe des Begriffs „Repression“ benannt werden. In diese Richtung führen auch die Überlegungen der Politologin Susanne Kailitz. Sie untersuchte in ihrer Dissertation ideologische Verbindungslinien von der Frankfurter Schule über die Studentenbewegung bis zur RAF. Hierbei führte sie die Inanspruchnahme des Widerstandsrechts, nach Art. 30 GG, durch Träger der Studentenbewegung wie auch der bewaffneten Gruppierungen auf das Empfinden dieser Personen oder Gruppen zurück, gegen repressive Strukturen des Staates ankämpfen zu müssen. Die Motivation kann laut Kailitz in der Wahrnehmung von Repression gelegen haben: Die sich objektiv in einem „normalen Rahmen“ bewegenden Sanktionsmaßnahmen des Staates gegenüber sich rechtswidrig verhaltenden Personen wurden als Überreaktionen oder sogar als gewaltsame Übergriffe empfunden. Infolge dessen sahen sich die betroffenen Personen in der Rolle von Unterdrückten beziehungsweise als „Opfer staatlicher Gewalt“104. Darüber hinaus kann angenommen werden, dass Repression von einigen Personen und Gruppen auch indirekt, und zwar durch Betroffenheit mit den „Opfern“ solcher staatlicher Maßnahmen, empfunden werden konnte;105 vorausgesetzt, sie hatte eher den Charakter einer solidarischen Verbundenheit im Sinne Dutschkes106 102 Eine kompakte Kontextualisierung der drei Begriffe liefert: FELS, Gerhard: Der Aufruhr der 68er, S. 18-42. 103 Wie stark diese Unterdrückung empfunden wird, hängt nach Einschätzung der Politologin Susanne Kailitz von der individuellen Haltung zum staatlichen Gewaltmonopol ab. Demnach empfinden nicht alle Menschen, die bestimmte Aspekte eines politischen Systems bemängeln, dieses aus ihrer Unzufriedenheit heraus für repressiv. Vgl. KAILITZ, Susanne: Von den Worten zu den Waffen? Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage. Wiesbaden 2007, S. 42-44. 104 Vgl. ebd., S. 42. Hier auch mit Verweis auf: IMBUSCH, Peter: Der Gewaltbegriff. In: HEITMEYER, Wilhelm/HAGAN, John (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Opladen 2002, S. 26-57, hier: S. 40 und S. 48. 105 Ein Beispiel hierfür sind die Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen Gruppierungen, auf die in Kap. IV eingegangen wird. 106 Vgl. KNOCH, Habbo: ‚Mündige Bürger‘, S. 36-41. Knoch führt die Betroffenheit auf Marcuse und Dutschke zurück: „Hatte Marcuse die ‚neue Sensibilität‘ zum Ausgangspunkt eines
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als den eines unverbindlichen Mitgefühls. Eine mitfühlende Betroffenheit könnte im Untersuchungszeitraum durch drei Faktoren begünstigt worden sein: (1) durch entsprechende mediale Berichterstattungen, zum Beispiel in links gerichteten Zeitschriften; (2) weil auf Grund des Helsinki-Prozesses ohnehin eine erhöhte Sensibilität der Öffentlichkeit gegenüber Menschenrechtsfragen bestand; außerdem, weil (3) zu vermuten ist, dass das Repressionsempfinden in einigen Fällen von einem Bewusstsein um Ausgrenzung und Unterlegenheit der eigenen politischen Vorstellungen gegenüber den gestaltenden Kräften der Politik herrührte.107 Bei der mikrogeschichtlichen Untersuchung des TUNIX-Kongresses, des 3. Russell-Tribunals, des Bahro-Kongresses und der Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen sollen diese Annahmen, wenn möglich, überprüft werden. Der Rückblick auf die Bedeutungsgeschichte des Repressionsbegriffs zeigte auch, dass ein verbreitetes Repressionsempfinden die negative Bedeutungsaufladung des linken Repressionsbegriffs gefördert, zumindest aber die Denkweise begünstigt hat, Repression von Staats wegen als etwas grundsätzlich Illegitimes zu verstehen. Mit anderen Worten: Die Verunsicherung gegenüber dem Staat brachte Linke dazu, ihm und seinen Institutionen das Recht, Repression auszuüben, generell abzusprechen. Ihren Ausdruck fand diese Haltung besonders eindeutig in der so genannten „Anti-Knastbewegung“. Deren Aktivisten spitzten ihre Repressionskritik mit der Forderung zu, alle Gefängnisse abzuschaffen, da sie Institutionen der „Entfremdung“108 seien. Diese werde innerhalb ihrer Mauern „produziert und reproduziert“, weil „soziale Widersprüche nicht sozialrevolutionär“ auflösbar seien. Im Gegenteil hätten die staatlichen Entscheidungsträger sich entschieden, den politischen Widerstand zu kanalisieren.109 Jeglicher Wille zur Fundamentalopposition, jegliche antistaatliche Auflehnung werde durch „Kontrolle und Überwachung im
grundlegenden Strukturwandels erklärt, so machte Rudi Dutschke daraus ein Programm für den inneren Zusammenhalt der Protestbewegung […], nach dem sich, wer diesem Identitätsmodell folgte, einer Sache ungeteilt und mit ganzem Engagement verschrieb.“ In ähnlicher Weise hat der Politologe Roland Roth später Betroffenheit als ein Leitmotiv von Bürgerinitiativen definiert. Er betont jedoch, dass dieses mobilisierende Gefühl weniger auf Unmittelbarkeit und Sensibilität beruht, sondern von „relativ fernen Ereignissen, deren Folgewirkungen sich zunächst menschlichen Wahrnehmungsvermögen entziehen“ begründet werden kann. Siehe: ROTH, Roland: Demokratie von unten. Neue soziale Bewegungen auf dem Wege zur politischen Institution. Köln 1994, S. 216f. 107 In seiner Dissertation widmet sich der Philosoph Gregor Kritidis den „von der Sozialdemokratie und dem Parteikommunismus ausgegrenzten, historisch unterlegenen demokratisch-sozialistischen Strömungen“ [Hervorhebungen durch M. M.] in der Bundesrepublik. Kritidis fasst zusammen: Auf Grund der Erfahrung eines vorwiegend obrigkeitsstaatlichen Denkens und autoritär-vordemokratischer Bewusstseinsformen während der Ära Adenauer und den frühen Sechziger Jahren „traten die Linkssozialisten für eine Erweiterung der politischen Partizipationsmöglichkeiten und eine konsequente gesellschaftliche Demokratisierung in allen Bereichen ein“. Siehe: KRITIDIS, Gregor: Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik. Hannover 2008, S. 11 und S. 544f. Kritidis’ Fazit legt einen Zusammenhang zwischen der offensichtlichen historischen Unterlegenheit der linkssozialistischen Opposition und ihrem wachsenden Engagement für mehr politische Partizipationsmöglichkeiten nahe. Relevant für die vorliegende Arbeit ist, dass sich einzelne dieser Personen und Organisationen auch im linken Protest der Jahre 1978/79 engagierten. 108 JÜNSCHKE, Klaus: Spätlese. Texte zu Knast und RAF. Frankfurt a. M. 1988, S. 122. 109 Vgl. ebd., S. 135.
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Zellengefängnis“110 liquidiert. Die Zustände in den Gefängnissen seien deshalb exemplarisch für den Gesamtzustand der Gesellschaft. Neben solch offensiver Repressionskritik entstand in den Siebziger Jahren quer durch die Linke eine „merkwürdige Opferkultur“, die der frühere SDS-Aktivist Klaus Hartung als „ganz schön bequem“ beschreibt: Das Repressionsempfinden wurde nach außen getragen und selbstmitleidig zur Schau gestellt, die Kritik an Repression aus einer freiwillig eingenommenen Defensive heraus geäußert. Mit der Selbstinszenierung als Repressionsopfer hätten sich Linke vor dem eigenen Versagen geschützt, hätten sie sich um kritische Einwände gedrückt und die Mühe einer Veränderung erspart, kritisiert Hartung: „Eine selbst ernannte Minderheit kann kaum noch verlieren.“111 Insgesamt machten die Betrachtungen deutlich, dass Linke den Repressionsbegriff und ihre Repressionskritik in vielerlei Hinsicht funktionalisiert haben; nicht zuletzt auch, um ihre disparaten politischen Standpunkte zu überbrücken: So sieht der Politologe Michael Steffen in „Repression“ eine Formel, „mit der die Kritik an der Entwicklung der Bundesrepublik hin zum ‚autoritären Staat‘ spektrenübergreifend zusammengefasst werden konnte.“112 Steffens Definition deckt sich mit den oben gezeigten Ursprüngen des linken Repressionsbegriffs, der seit Marcuse als ein Kampf- und Sammelbegriff funktionierte, mit dem es den heterogenen linken Protestgruppen untereinander erleichtert wurde, Interessenüberschneidungen herzustellen und eine größere Öffentlichkeit auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, zwei Fragen bei der mikrogeschichtlichen Untersuchung der vier Protestphänomene mitzudenken: Dauerte die Funktionalisierung des Repressionsbegriffs und der Repressionskritik über den Deutschen Herbst hinaus an? Und wenn ja, inwiefern veränderte sie sich und was sagt dies über das Verhältnis Linker zum Staat aus?
3. D IE D EFINITION „ POLITISCHER “ G EFANGENER ALS P RINZIPIENFRAGE Wie der vorangegangene Abschnitt zeigte, ist die Auseinandersetzung mit Repression für Linke nicht zufällig auch mit der Frage nach den Zuständen in Haftanstalten verbunden. Noch heute erklären linke Organisationen Gefangenschaft zum Politikum. Der Standpunkt, wonach jeder Gefangener „selbst immer ein politischer Gefangener“113 sei, wird in seiner Vehemenz zwar nicht mehr vertreten. Die Gefan-
110 Vgl. ebd., S. 122. 111 HARTUNG, Klaus: Die Linke und die RAF. Über leidvolle Stereotypen und leidige Geschichten. In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck. Die Linke, die RAF und der Staat. Frankfurt a. M. 1987, S. 148-159, hier: S. 153f. 112 STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991 (Inauguraldissertation). Marburg 2002, S. 211. Siehe: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2002/0060/pdf/z2001-0060.pdf (Stand: 06.08.2010). Die Dissertation wurde im selben Jahr veröffentlicht: STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991. Berlin 2002. 113 Vgl. STUBBE, Lars: ‚Der Gefangene ist selbst immer ein politischer Gefangener.‘ Ex-Black Panthers über das US-Gefängnissystem und den Widerstand dagegen. In: Analyse & Kritik (Nr. 458, 2002). In der Bundesrepublik geht der Trend dahin, dass Gefangeneninitiativen keinen Unterschied mehr zwischen „sozialen“ und „politischen“ Gefangenen machen: „Es geht
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genenhilfsorganisation Rote Hilfe sieht im „Knast“ aber nach wie vor „den augenfälligste[n] Höhepunkt staatlicher Repression“. So schrieb ihr Bundesvorstand im Jahre 2008: „Das Wegsperren politischer Menschen, der Versuch, sie aller Handlungsmöglichkeiten zu berauben und aus allen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu reißen – das ist auch heute noch die letzte Konsequenz politischer Unterdrückung.“114 Auch zwei der vier zu untersuchenden Protestphänomene stellten die Situation von Gefangenen in ihren Mittelpunkt: Einerseits die Solidaritätskampagne für Rudolf Bahro, andererseits die Initiativen für die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen. Die Aktivisten aus beiden Protestzusammenhängen betrachteten ihre Schützlinge als „politische“ Gefangene. Doch weder Rudolf Bahro noch die Mitglieder der RAF und anderer bewaffneter Gruppierungen konnten diesen Status entsprechend der juristischen Grundsätze ihrer Heimatländer für sich beanspruchen. In der Bundesrepublik würde eine politisch motivierte beziehungsweise begründete Inhaftierung eines Bürgers gegen die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verstoßen, da die Rechtsprechung laut Art. 20 GG an Gesetz und Recht gebunden ist und Freiheitsstrafen laut Strafgesetzbuch nur auf Grund von Gesetzesverstößen verhängt werden dürfen. Diese konnten den Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen in den jeweiligen Strafverfahren durch die Staatsanwaltschaft nachgewiesen werden. Regierung, Behörden und Justiz sprachen in diesen Fällen von „politisch motivierten Straftaten“. Dennoch beanspruchten vor allem die Gefangenen aus der RAF, politische Gefangene zu sein. Sie betrachteten die Gerichtssäle und Haftanstalten als Schauplätze ihres „antiimperialistischen Kampfes“ gegen ein Gesellschaftssystem, in dem sie, als Revolutionäre, keine normalen Strafprozesse, sondern politische Prozesse gegen die Justiz einer herrschenden Klasse führten.115 Das heißt, es ging ihnen nicht um die Feststellung ihrer Unschuld, „die RAF, die Guerilla ist nicht justiziabel“, sondern um die öffentliche Wirkung der Prozesse.116 Ihren besonderen (Gefangenen-)Status sahen sie da-
immer um Menschen, die im Knast sind. Menschen haben nicht immer ‚nur‘ politische Bedürfnisse. Wir alle sind vor allem soziale Wesen. Für jeden von uns, und das schlägt in einer Knastsituation besonders zu, ist es irre wichtig das Gefühl zu haben, nicht vergessen zu sein. […] Wenn Gefangene Aktionen im Knast planen, um auf Missstände hinzuweisen, unterstützen wir das von außen, machen Veranstaltungen, Flugblätter, Radiosendungen usw.“ Siehe: o. A.: ‚Der Kontakt nach draußen ist wie die Luft zum atmen.‘ Ein Interview mit der Roten Hilfe Ortsgruppe Dresden über Anti-Knast-Arbeit und konkrete Solidarität mit Gefangenen. In: Rote Hilfe Zeitung (Sonderausgabe 18.03.2009). 114 Bundesvorstand der Roten Hilfe: Vorwort. In: Rote Hilfe Zeitung (Sonderausgabe 18.03.2008). 115 Hierzu ließe sich auf viele Texte der RAF verweisen, stellvertretend dazu vgl. Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in West-Europa (Hg.): Texte : der RAF. Lund 1977, S. 146: „die prozesse selbst sind ziemlich unwichtig, sie sind in dem ganzen verfahren zur vernichtung der gefangenen leere veranstaltungen, die den urteilen, die auf regierungsebene längst gefallt sind, rechtsstaatliche transzendenz, legitimität und natürlich propaganda verschaffen sollen.“ 116 Die RAF hoffte nach Art. 103 GG auf das, „was rechtliches Gehör genannt wird. Vor Gericht soll jeder […] ausführlich seinen Standpunkt darlegen können, wozu auch das Recht gehört, sich durch einen frei gewählten Anwalt vertreten zu lassen, mit dem man ungehindert und unbeobachtet sprechen kann.“ Siehe: WESEL, Uwe: Strafverfahren, Menschenwürde und Rechtsstaatprinzip. Versuch einer Bilanz der RAF-Prozesse. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. Hamburg 2006, S. 1048-1059, hier: S. 1048. Die Ver-
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rin bestätigt, dass ein angebliches Vernichtungsprogramm gegen sie und alle, die sich ihrem bewaffneten Kampf anschlossen, vollzogen würde.117 Auch Rudolf Bahro wurde von der Justiz der DDR formell nicht auf Grund seiner politischen Überzeugung, sondern wegen „landesverräterischer Sammlung von Nachrichten“ und „Geheimnisverrats“ zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Dennoch galt er in der westlichen demokratischen Öffentlichkeit – wie alle anderen inhaftierten Oppositionellen in der DDR – als politischer Gefangener; einer von vier- bis sechstausend, wie Amnesty International (AI) 1979 schätzte.118 Ebenso wie der UN-Menschenrechtsausschuss billigt AI nur solchen Gefangenen den Status des politischen Gefangenen zu, die in ihren Heimatländern auf Grund ihrer politischen Überzeugung respektive gewaltfreier politischer Aktivitäten inhaftiert wurden.119
bindung zur Außenwelt, zur (internationalen) Öffentlichkeit, lief über die Anwälte: „[…] das moment der öffentlichkeit in dem geschlossenen system trakt bundesanwaltschaft gericht staatsschutzpresse waren die anwälte.“ „im politischen prozess sind also die anwälte […] ‚aktivisten‘ der progressiven/revolutionären tendenz der geschichte, aufklärer, sozusagen mit kreide, zeigestock und schautafel: bitte, hier die beweislücke. wodurch sich der inhalt der lücke ‚maximal‘, das heisst ‚von selbst‘ als das definiert was er ist: politik. genau diese möglichkeit, also sozusagen von ‚forschung und lehre‘ im interesse des volks, haben die richter und staatsanwälte nicht, im gegensatz zu den anwälten. […] es ist also so, dass die anwälte teil, und eben wichtiger teil, der volksfrontstrategie sind. wobei es jetzt […] erstmal um die herstellung demokratischer öffentlichkeit, der ‚öffentlichen meinung‘ geht […].“ Vgl. Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in West-Europa (Hg.): Texte : der RAF, S. 146 u. 148. Das Zitat: „Die Guerilla ist nicht justiziabel“ stammt aus einem Protokoll zu den Verhandlungen im Stammheim-Prozess vom 22.06.1976. Vgl. ebd., S. 492. 117 Wie dieses Vernichtungsprogramm bzw. die „Vernichtungshaft“ aussah, fassten die RAF-Gefangenen u. a. in ihrer Hungerstreikerklärung vom 13.09.1974 zusammen. Siehe: ID-Verlag (Hg.): Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Bearbeitet von Martin Hoffmann und Gudrun Grundmann. Berlin 1997, S. 190-192. 118 Vgl. Flugblatt: Appell. Freiheit für Rudolf Bahro. Herausgegeben vom Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros. Februar 1979. In: APO-Archiv, Ordner: Bahro. 119 Dies ist ein Grundsatz der Organisation, der in ihrem internationalen Statut verankert ist. Dort heißt es: „Eingedenk des Rechtes eines jeden Menschen, seine Überzeugungen frei zu äußern und an ihnen festzuhalten, sowie eingedenk der Verpflichtung, die gleiche Freiheit auch für andere zu gewährleisten, ist es die Aufgabe von Amnesty International, in der ganzen Welt die Einhaltung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf folgende Weise zu erreichen: (a) durch Arbeit ohne Rücksicht auf politische Erwägungen für die Freilassung und für die Unterstützung von Menschen, die unter Mißachtung der vorgenannten Schutzbestimmungen verhaftet, gefangen, auf andere Weise physischem Zwang ausgesetzt oder Freiheitsbeschränkungen unterworfen sind und zwar aufgrund ihrer politischen, religiösen oder anderen geistigen Überzeugung, aufgrund ihrer ethnischen Abstammung, ihrer Hautfarbe oder ihrer Sprache – vorausgesetzt, daß sie Gewalt nicht angewendet und sich für die Anwendung von Gewalt auch nicht eingesetzt haben […].“ Siehe: Internationales Statut von Amnesty International. In: CLAUDIUS, Thomas/STEPAN, Franz: Amnesty International. Portrait einer Organisation. 3. Erweiterte Auflage. München/Wien 1978, S. 297-304, hier: S. 297. Gefangene, auf die die genannten Kriterien zutrafen, bezeichnet AI auch als „Gewissensgefangene“. Der Begriff geht zurück auf den AI-Gründer Peter Benenson, der in seinem Artikel „Die vergessenen Gefangenen“ vom Mai 1961 eine erste Definition vorlegte: „Gewissensgefangener ist jede Person, die physisch daran gehindert wird, ihre ehrliche Ansicht zu äußern, ohne daß sie persönlich Gewalt angewandt oder befürwortet hat.“ Zit. nach: Ebd., S. 89. Diese Gewaltklausel wurde 1973 auf einer AI-Tagung in Wien genauer geprüft. Hier kam man unter anderem zu dem Schluss: „Wenn AI damit begänne, die Freilassung jener zu fordern, die ihre Regierung mit Gewalt
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Diese Kriterien trafen auf die inhaftierten Oppositionellen in der DDR und speziell auf Rudolf Bahro zu, weil seine Verurteilung wegen Landes- und Geheimnisverrats außerhalb der DDR und des Ostblocks nicht als rechtmäßig, sondern als Verstoß gegen den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) der Vereinten Nationen angesehen wurde, den auch die DDR unterzeichnet hatte.120 In wenigen Ausnahmefällen hat die Menschenrechtsorganisation inhaftierte Bundesbürger als politische Gefangene anerkannt und „adoptiert“.121 Entscheidendes Kriterium dafür war – ebenso wie bei den politischen Gefangenen in der DDR –, die unzweifelhafte Gewaltfreiheit ihrer politisch motivierten Straftat. In der Regel galt jedoch, dass die Organisation diesen Status nicht an inhaftierte politisch motivierte Straftätern in der Bundesrepublik verlieh, sondern diese alternativ als „Personen“ bezeichnete, „die politisch motivierter Verbrechen verdächtigt werden oder wegen solcher verurteilt sind.“122 AI unterstellte ihnen somit grundsätzlich, dass ihre Straftaten entweder gegen das Kriterium der Gewaltfreiheit verstoßen hatten oder dass sie zumindest der Befürwortung von Gewalttaten schuldig waren.123 Abgesehen davon, dass diese Haltung bis in die Gegenwart Kontroversen hervorruft, ist AIs Formulierung wohl die konsequenteste – nicht nur wegen ihrer Präzision, sondern auch, weil sie dem Status des politischen Gefangenen in internationaler Perspektive seine besondere Geltung bewahrt. Leider eignet sie sich auf Grund ihrer syntaktischen Sperrigkeit nicht dazu, durchgängig in dieser Arbeit Verwendung zu finden. Aus diesem Grund wird im Folgenden am apostrophierten „politischen“ Gefangenen festgehalten, und zwar immer dann, wenn von inhaftierten Personen die Rede ist, die in der Bundesrepublik politisch motivierter Verbrechen verdächtigt wurden oder wegen solcher verurteilt waren. Sind aus dieser Gesamtheit dagegen nur diejenigen gemeint, die sich zu einer Mitgliedschaft in der RAF oder einer anderen bewaffneten Gruppierung bekannten, so ist im Folgenden
bekämpft haben, würde sie in den Augen der Regierung mit der Opposition gemeinsame Sache machen und ihre Glaubwürdigkeit und ihren Einfluß verlieren.“ Siehe: Ebd., S. 93. 120 Der ICCPR wird auch verkürzt als „UN-Zivilpakt“ bezeichnet. Die DDR unterzeichnete ihn am 23. März 1973. Die Bundesrepublik am 9. Oktober 1968. 121 So im Falle von Albert Mayr. Hierzu teilte AI seinerzeit mit: „Am 19. Mai 1980 wurde der Steinmetz Albert Mayr vom Amtsgericht Bruchsal zu sechs Monaten Haft wegen Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht verurteilt. Der Gefangene […] hatte zweimal versucht, als Kriegsdienstverweigerer aus religiösen und moralischen Gründen anerkannt zu werden. Beide Male (1977/1979) hatte der zuständige Prüfungsausschuß in Kempten, respektive in Augsburg, seinen Antrag abgelehnt. Nach der zweiten Ablehnung schrieb Albert Mayr an die zuständigen Militärdienststellen, daß er sich keiner weiteren Gewissensprüfung unterziehen werde, da er sie für unrechtmäßig halte. Anläßlich seines Prozesses teilte amnesty international dem Vorsitzenden, Zimmermann, mit, daß man Albert Mayr für einen echten Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen halte und seine sofortige Freilassung fordere. Er ist von amnesty international als gewaltloser politischer Gefangener adoptiert worden.“ Siehe: Amnesty International (Hg.): Jahresbericht 1981. Deutschland. Berichtszeitraum 01.05.1980 bis 30.04.1981. Amnesty.de. Siehe: http://www.amnesty.de/umleitung/1981/deu03/001?lang=de%26mimetype%3dtext%2fhtml (Stand: 06.11.2011). 122 Amnesty International (Hg.): Amnesty Internationals Arbeit zu den Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland für Personen, die politisch motivierter Verbrechen verdächtigt werden oder wegen solcher Verbrechen verurteilt sind: Isolation und Isolationshaft. Bonn 1980. 123 Dazu noch einmal der Verweis auf das Statut der Organisation, siehe Fn. 119.
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vereinfacht von „Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen“ die Rede. In Tabelle 2 werden die drei verwendeten Formulierungen noch einmal aufgelistet. Tabelle 2: Zum Umgang mit dem Begriff „politischer“ Gefangener „Offizielle“ Formulierung
Verwendete Mit der verwendeten Formulierung Formulierung bezeichnete Personengruppen
politischer Gefangener
politischer Gefangener
alle inhaftierten Personen in der DDR, die politisch motivierter Verbrechen verdächtigt wurden oder wegen solcher verurteilt waren
„Personen, die politisch motivierter Verbrechen verdächtigt werden oder wegen solcher verurteilt sind“
„politischer“ Gefangener
alle inhaftierten Personen in der Bundesrepublik, die politisch motivierter Verbrechen verdächtigt wurden oder wegen solcher verurteilt waren
Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen
alle inhaftierten Personen in der Bundesrepublik, die politisch motivierter Verbrechen verdächtigt wurden oder wegen solcher verurteilt waren, und sich darüber hinaus zur Mitgliedschaft in der RAF oder einer bewaffneten Gruppierung bekannten
4. E XTREMISTENBESCHLUSS GLEICH B ERUFSVERBOTE ? An vierter und letzter Stelle soll in diesem Kapitel auf die Begriffsverwirrung eingegangen werden, die im Zusammenhang mit dem Extremistenbeschluss vom 28. Januar 1972 entstanden ist. Damals hatten sich die Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz des Bundeskanzlers Willy Brandt auf neue Grundsätze zum Umgang mit verfassungsfeindlichen Angestellten im öffentlichen Dienst geeinigt. Die Prinzipien waren eine Art „Handlungsanweisung“124: Von nun an galt, dass Beamte, die sich nicht in ihrem „gesamte[n] Verhalten“ zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekannten und für deren Erhalt eintraten, aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden konnten. Betroffen waren vor allem Mitglieder einer K-Gruppe oder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Die tiefere Absicht der neuen Grundsätze lag aber darin, verfassungsfeindlich eingestellte Bewerber gar nicht erst für den öffentlichen Dienst zuzulassen. Wer Mitglied einer Partei oder Organisation war, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgte, gegen den konnten begründete Zweifel an seiner Verfassungstreue angemeldet werden, was „in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrages“125 zur Folge hatte.
124 HISTOR, Manfred: Willy Brandts vergessene Opfer. Geschichte und Statistik der politisch motivierten Berufsverbote in Westdeutschland 1971-1998. 2. Auflage. Freiburg i. Br. 1992, S. 8. 125 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1972, S. 342.
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Da in der Praxis fast ausschließlich Bewerbern aus dem linken Spektrum die Einstellung verweigert wurde,126 hatten die Grundsätze in der öffentlichen Debatte schnell ihren Ruf als „Radikalenerlass“ weg. Die Bezeichnung „radikal“ sei unter Linken seinerzeit durchaus positiv konnotiert gewesen, meint der Historiker Dominik Rigoll und spricht sich dafür aus, den Extremistenbeschluss als Radikalenbeschluss zu bezeichnen – mit Rücksicht darauf, dass die formulierten Grundsätze kein Erlass in herkömmlichen Sinne gewesen sind. Rigoll blendet damit jedoch aus, dass der „Radikalenerlass“ eine bewusste zeitgenössische Wortschöpfung war, um auf den obrigkeitsstaatlichen Charakter des Extremistenbeschlusses zu verweisen. Sein Vorschlag vergrößert die Begriffsverwirrung eher, als dass er Klarheit schafft. Deshalb soll in dieser Arbeit an der offiziellen Bezeichnung „Extremistenbeschluss“ festgehalten werden. Wenn an der einen oder anderen Stelle dennoch von „Radikalenerlass“ die Rede ist, dann stets in der Sprache der Beteiligten. Ohnehin besteht das eigentliche Problem darin, sich zum Vorwurf der Berufsverbote zu positionieren: Die Gegner des Extremistenbeschlusses sahen in der Ablehnung von Bewerbern um den öffentlichen Dienst von Anfang an ein effektives Berufsverbot, da die Bewerber ihrer Ansicht nach keine Möglichkeit mehr hatten, ihren gewünschten und erlernten Beruf in der Bundesrepublik auszuüben. Auch bereits seit Jahren im öffentlichen Dienst beschäftigte Beamte konnten nach dem Extremistenbeschluss suspendiert werden und danach nicht mehr ihrem Beruf nachgehen. Zur Bestätigung dieses Vorwurfs fanden Kritiker viele Fallbeispiele. Ein prominentes unter ihnen war Fritz Güde. Bereits mehrere Jahre arbeitete der Sohn des ehemaligen Generalbundesanwalts Max Güde als Lehrer für Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde an einem Gymnasium in Baden-Württemberg, als ihm 1974 sein Engagement im Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) zum Verhängnis wurde: Zunächst suspendierte ihn das Stuttgarter Kultusministerium, 1977 folgte seine endgültige Entlassung aus dem Staatsdienst. Der Verwaltungsgerichtshof des Landes bestätigte: „Güde habe gegen die Dienst- und Treuepflicht des Landesbeamtengesetzes verstoßen. Außerdem hätte er die Verfassungsfeindlichkeit des KBW erkennen müssen.“ Güde glaubte zunächst, eine Anstellung an einer Privatschule finden zu können. Er schrieb eine Vielzahl von Bewerbungen, telefonierte, sprach bei einigen auch persönlich vor. „Die Bilanz: 50 Bewerbungen, 50 Absagen.“127 Der Arm des Stuttgarter Kultusministeriums reichte bis in die privaten Bildungsanstalten. Die Behörde drohte jeder Schule, die Güde einstellen wollte, mit der Kürzung öffentlicher Zuschüsse und dem Entzug ihrer staatlichen Anerkennung. Güde blieb am Ende nur die Option, seinen Beruf im Ausland auszuüben. Alle Vorwürfe, es sei in der Bundesrepublik zu Fällen von Berufsverboten gekommen, wurden von staatlicher Seite beständig dementiert. Noch im Juli 1985 nahm der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann auf eine Große Anfrage zu „Berufsverboten in der BRD“ mit folgenden Worten Stellung: „Die Verfassung und die sie konkretisierende Regelung des Beamtenrechts statuiert kein
126 Vgl. RIGOLL, Dominik: Versuch, Herbert vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die These von der ‚Fundamentalliberalisierung‘ der Bundesrepublik und die westdeutschen Berufsverbote. In: BOIS, Marcel u. a. (Hg.): Strömungen: Politische Bilder, Texte und Bewegungen. Berlin 2008, S. 125-136, hier: S. 129. 127 KOCH, Peter/OLTMANS, Reimar: SOS – Freiheit in Deutschland. 4. Auflage. Hamburg 1979, S. 146f.
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Berufsverbot.“128 In der liberalen Presse hatte sich der Begriff allerdings längst durchgesetzt. So berichtete »Der Spiegel« ebenfalls im Juli 1985 von einem Briefträger, dem wegen seines Engagements für die DKP „Berufsverbot erteilt“129 worden sei. Mit Rücksicht auf beide Perspektiven spricht sich Rigoll dafür aus, zwischen den rechtlichen Grundlagen und der tatsächlichen Auswirkung des Extremistenbeschlusses zu unterscheiden: „In der Tat stellt die westdeutsche Ablehnungspraxis kein Berufsverbot im strafrechtlichen Sinne dar, wie es nach Missbräuchen der Berufs- und Gewerbefreiheit (§§ 70, 62 StGB) oder nach Insolvenzdelikten verhängt werden kann (§ 283 StGB).“ Auf der anderen Seite stellten „Fälle, die sich wie ein Berufsverbot auswirkten, […] ohne jeden Zweifel den Regelfall und nicht die Ausnahme dar, namentlich bei den am häufigsten betroffenen Berufen im Bildungssektor und anderen Bereichen, in denen der öffentliche Dienst eine Monopolstellung innehat.“130 Folgt man dieser Logik, könnte sich allerdings jeder, dessen Berufsaussichten sich auf Grund gesetzlicher Bestimmungen dramatisch verschlechtern, als Opfer eines faktischen Berufsverbots fühlen: Private Lottovermittler beispielsweise, denen der Glücksspielstaatsvertrag vom 1. Januar 2008 ihre Tätigkeit im Internet verbot.131 Oder Gastwirte, denen mit der Einführung von Rauchverboten in Lokalen seit 2007 langfristig die Kundschaft fernblieb.132 Worum es Rigoll geht, ist die unbedingte Unterscheidung zwischen der Perspektive des Gesetzgebers und der Perspektive der Betroffenen. Diese Unterscheidung kann allerdings auch verdeutlicht werden, ohne, dass der Berufsverbotsbegriff unnötig aufweicht, und ohne, dass für eine der beiden Seiten Partei ergriffen wird: Es reicht völlig aus, einerseits an der Bezeichnung Extremistenbeschluss festzuhalten und andererseits die Gruppe der Kritiker und Betroffenen als „Berufsverbotsgegner“ oder insgesamt als „Bewegung gegen Berufsverbote“ zu bezeichnen. Auf diese Weise wird weder ausgeblendet, dass es zu keinen Berufsverboten in juristischem Sinne kam, noch fällt unter den Tisch, dass es eine gewisse Anzahl von Personen gab, die die Sachlage anders empfanden und ihrer Sichtweise Ausdruck verliehen. Nach diesem Prinzip soll in dieser Arbeit verfahren werden.
128 Zit. nach: HISTOR, Manfred: Willy Brandts vergessene Opfer, S. 3. 129 o. A.: Urteile. In: Der Spiegel (01.07.1985). 130 RIGOLL, Dominik: Versuch, Herbert vom Kopf auf die Füße zu stellen, S. 130. 131 Vgl. dazu: GOEBELS, Wilfried: Lotto-Streit: Faber spricht von Heuchelei. Der Westen.de (14. 09.2007). Siehe: http://www.derwesten.de/nachrichten/politik/Lotto-Streit-Faber-spricht-vonHeuchelei-id1923079.html (Stand: 06.11.2011). 132 Vgl. dazu: JUNGHOLT, Thorsten: Verfassungsklage gegen Rauchverbot. Kommentar. WeltOnline.de (21.12.2007). Siehe: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article6070939/ Verfassungsklage-gegen-Rauchverbot.html (Stand: 06.11.2011).
III. Jahrzehnt der Enttäuschung? Linke und ihr „Modell Deutschland“ im „SPD-Staat“ der Siebziger Jahre
Nachdem die für die Untersuchung zentralen Begriffe problematisiert worden sind, blickt dieses Kapitel auf den historischen Kontext des Verhältnisses Linker zum Staat nach dem Deutschen Herbst zurück. Es hält Ausschau nach Ereignissen und Entwicklungen der Siebziger Jahre, mit denen sich linkes Repressionsempfinden verband, an denen sich linke Repressionskritik entzündete. Darüber hinaus geht es der Frage nach, welche Vorstellungen vom bundesrepublikanischen Staat ausgangs des Jahrzehnts unter Linken präsent waren. Es ergeben sich zwei Arbeitsschritte. Erstens steht ein Resümee der frühen bis mittleren sozialliberalen Ära (1969-1977) an, und zwar aus zweifachem Blickwinkel: Deutungen linker Chronisten werden mit Erkenntnissen der zeithistorischen Forschung abgeglichen. Zweitens soll, als Engführung dieses makrogeschichtlichen Rahmens, die Entstehung und Wirkung des Wahlslogans „Weiterarbeiten am Modell Deutschland“ untersucht werden. Mit diesen markigen Worten überschrieb die SPD 1976 das Regierungsprogramm der Ära Schmidt und stilisierte die Ära Brandt zugleich zur offenen Erfolgsgeschichte. Wie begründete die Partei ihren Enthusiasmus? Wie nahmen Linke Wahlprogramm und Slogan auf, wie gingen sie mit beidem um?
1. L INKE UND S TAAT IN DER FRÜHEN UND MITTLEREN SOZIALLIBERALEN Ä RA 1969-1976 1.1 Die Amtszeiten Willy Brandts „Fest steht aber für mich, daß die folgenden Jahre bis zum Herbst 1977 im Nebel verbleiben, wenn nicht Klarheit herrscht über dieses Jahr der Großen Koalition“1, schrieb der frühere Kommunarde Dieter Kunzelmann in seiner Biografie. Gemeint war 1969, das Jahr, in dem „die Weichen für das darauf folgende Jahrzehnt gestellt“2 wurden, wie Wolfgang Kraushaar nachbetrachtend feststellt. Die wegweisenden Umwälzungen sahen wie folgt aus: Auf parlamentarischer Ebene vollzog sich das Ende einer christdemokratischen Ära. Nach zwanzig Jahren Regierungs-
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KUNZELMANN, Dieter: Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben. Berlin 1998, S. 107. KRAUSHAAR, Wolfgang: Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus. Hamburg 2005, S. 15.
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beteiligung mussten sich die Unionsparteien mit der Rolle der Opposition abfinden. Die SPD konnte die Große Koalition mit ihnen lösen, weil die FDP für eine sozialliberale Koalition bereit stand. Willy Brandt wurde am 21. Oktober 1969 zum neuen Kanzler gewählt. Auf der Ebene der außerparlamentarischen Opposition begann eine etwa dreijährige „Gründerphase“3. Dogmatische Marxisten-Leninisten deuteten die September-Streiks4 in der Schwerindustrie des Ruhrgebiets als Auftakt des proletarischen Klassenkampfs in der Bundesrepublik. Um mit ihren ideologischen Ansprüchen ernst zu machen, begannen viele von ihnen, sich in festeren Strukturen zu sammeln. Dabei grenzten sie sich bewusst zur Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und marxistisch-leninistischen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD/ML) auf der einen, und zur undogmatischen, antiautoritären Linken auf der anderen Seite ab. „Ganze Heerscharen von ‚unbehausten Intellektuellen‘ und jüngeren Leuten“5, so Gerd Koenen, suchten bis 1972 in neuen Zirkeln und Parteiaufbauorganisationen einen verbindlichen politischen Standort. Sie wollten die „Organisationsfrage“ klären, die sich seit dem Niedergang der APO für sie stellte: „Wer ist in der Lage, für die Zukunft Veränderungen zu erzwingen? Oder, in der Sprache von damals, wer ist das ‚revolutionäre Subjekt‘?“6 Mit der Geschichte im Blick, wandten sie sich einer ideologischen Palette aus Marxismus, Leninismus, Trotzkismus und Maoismus zu; intensiver noch als auf dem Höhepunkt der APO 1968. Die Suche nach neuen Formen politischer Praxis erstreckte sich bis in den Bereich der Illegalität. Im Sommer 1969 liegen auch die Anfänge des organisierten Terrorismus in der Bundesrepublik. Ende Juni beteiligten sich Andreas Baader und Gudrun Ensslin im hessischen Staffelberg an einer Protestaktion gegen den „Erziehungsterror“. Hier fanden die späteren RAF-Mitbegründer an der Seite von hunderten Aktivisten der Heimkampagne Anhänger für ihren Plan, sich zu bewaffnen. Im Juli versammelten sich in der fränkischen Marktgemeinde Ebrach zahlreiche Aktivisten aus der linksradikalen Szene zu einer „Roten Knastwoche“ mit Festzelt, Livemusik und Filmabenden. Viele von ihnen gehörten später „zum harten Kern oder engeren Unterstützerkreis der terroristischen Gruppen und Bewegungen“7. Nahmen diese außerparlamentarischen Linken in ihrer Umbruchsituation überhaupt vom politischen Wandel in Bonn Notiz? Ihr offenkundiger Selbstfindungsdrang lässt zumindest Zweifel daran aufkommen. Und dabei sparte der neue Kanzler nicht mit großen Ankündigungen. In seiner ersten Regierungserklärung stellte Brandt „umfassende Reformen“ in Aussicht und bekräftigte sein Wahlversprechen, er wolle „mehr Demokratie wagen“.8 Sein Programm der Liberalisierung, der 3 4
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KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, S. 186. Vgl. dazu: BIRKE, Peter: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark. Frankfurt a. M. 2007, S. 218-248. KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt, S. 191. WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen. München 2002, S. 161f. KOENEN, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Köln 2003, S. 224. Vgl. BRANDT, Willy: Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 28. Oktober 1969. In: von BEYME, Klaus (Hg.): Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt. München/Wien 1979, S. 251-281. Siehe: http://www.hdg.de/l emo/html/dokumente/KontinuitaetUndWandel_erklaerungBrandtRegierungserklaerung1969/in dex. html (Stand: 06.11.2011).
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Emanzipation und Partizipation, richtete sich jedoch nicht nur einseitig-selbstkritisch an die Politik, sondern beinhaltete auch Forderungen an die Bürger: In ihrem Verhältnis zum Staat und seiner Regierung müsse sich „manches änder[n]“, betonte Brandt. „Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. […] wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten.“9 Diese Ansätze für eine regelrechte „Umgründung der Republik“10, fußten im Konzept einer „mündigen Gesellschaft“. Mit ihr glaubten die Sozialdemokraten laut Gabriele Metzler, „das Demokratieproblem der klassischen Moderne lösen“ zu können. Die Historikerin beruft sich dabei auf Positionspapiere verschiedener SPDSpitzenpolitiker, aus denen sich deutlich das Leitbild herauskristallisierte, dass jeder Bundesbürger zukünftig imstande sein sollte, „,alte und neue Abhängigkeiten in Staat und Wirtschaft zu erkennen und ihnen die Stirn zu bieten‘.“ Neben dieser „mündigen Selbstverwaltung“ würde dem Staat die Aufgabe zufallen, „die gesellschaftlichen Gruppen durch seine planende und ausgleichende Politik und durch Orientierungshilfen auf das Gemeinwohl hinzuführen.“11 Mit der planerischen Rolle des Staates seien dem Konzept von Anfang an auch „die Grenzen des ‚Wagnisses Demokratie‘“12 eingeschrieben gewesen, meint Metzler und verweist darauf, dass sich das Engagement der mündigen Bürger nach den sozialdemokratischen Vorstellungen nur „in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen oder Vereinen“13 vollziehen sollte. Sie stellten aus Sicht des Staates verlässliche, berechenbare Größen dar. „An ein politisches Handeln im basisdemokratischen Sinn“14 außerhalb dieser und vergleichbarer Institutionen, war dagegen nicht gedacht. Damit bestand ein zweifaches Konfliktpotential: Nicht nur zwischen dem planenden Staat und jeglichem unplanbaren außerinstitutionellem politischen Engagement – vor allem im Bereich von sozialen Bewegungen wie der APO. Sondern auch innerhalb der SPD. Hier traf die „45er“-Generation, welche die Partei durch die vielen Wandlungsprozesse der Nachkriegszeit manövriert hatte und nun die „mündige Gesellschaft“ propagierte, auf eine Generation von Jungmitgliedern, von denen viele beabsichtigten, die außerinstitutionellen Demokratiebestrebungen einzubeziehen. Sie wollten die SPD für linke Positionen öffnen, um die „werktätigen Massen“ wiederzugewinnen, und im antiautoritären, basisdemokratischen Geist der APO von innen reformieren.15 9
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Ebd. An anderer Stelle erklärte Brandt, dass die Sozialdemokratie den historischen Auftrag habe, „den Untertanengeist, der unserem Volk so viel Schaden zugefügt hat“, durch „Demokratisierung zu überwinden“, wie es der Historiker Bernd Faulenbach formuliert. Siehe: FAULENBACH, Bernd: Die Siebziger Jahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt? In: Archiv für Sozialgeschichte (Bd. 44, 2004), S. 1-37, hier: S. 15. GÖRTEMAKER, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999, S. 475. METZLER, Gabriele: Am Ende aller Krisen? In: Historische Zeitschrift (Nr. 275, 2002), S. 57103, hier: S. 91; vgl. auch: FAULENBACH, Bernd: Die Siebziger Jahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, S. 14-17. METZLER, Gabriele: Der lange Weg zur sozialliberalen Politik. Politische Semantik und demokratischer Aufbruch. In: KNOCH, Habbo (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren. Göttingen 2007, S. 157180, hier: S. 159 u. 175. METZLER, Gabriele: Am Ende aller Krisen?, S. 97. METZLER, Gabriele: Der lange Weg zur sozialliberalen Politik, S. 174. KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt, S. 203-206.
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Zwischen 1969 und 1972 verzeichnete die SPD etwa dreihunderttausend Neuzugänge. Mit dieser Integrationsleistung hatte die Partei zweifelsohne dazu beigetragen, dass die politische Sprengkraft der radikalen Zerfallsmasse der 68er-Revolte entschärft wurde. Brandts Ankündigungen sorgten für Optimismus, von „Aufbruchsjahren“16 ist im Rückblick die Rede, und die linken und liberalen deutschen Intellektuellen schlossen sich der Euphorie an. „Für eine kurze Periode waren [sie] halbwegs zufrieden mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik“17, erinnert sich Kurt Sontheimer. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, hatte die sozialliberale Regierung ein rasches Ausrufezeichen hinter ihre Reformankündigungen gesetzt: Im Rahmen des Straffreiheitsgesetzes vom Mai 1970 wurde all jenen, die in der Zeit vom 1. Januar 1965 bis zum 31. Dezember 1969 im Zusammenhang mit politischen Demonstrationen straffällig geworden waren, eine Amnestie gewährt.18 Bedingung war, dass die verhängte Freiheitsstrafe neun Monate nicht überstieg. Auch Fälle von schwerer oder tödlicher Körperverletzung sowie Brandstiftung wurden nicht berücksichtigt. Unterm Strich profitierten knapp sechstausend Personen von der Rechtskorrektur. Aber auch Brandt zog Nutzen daraus. Seine Nachsicht gegenüber den aufrührerischen 68ern hatte Symbolkraft, sah es doch so aus, als wolle der neue Kanzler einen Schlusspunkt unter die Ereignisse der vergangenen Jahre setzen und der „unruhigen Jugend“19 wieder einen Platz in der Gesellschaft anbieten. Vom Geiste der Aussöhnung fühlten sich aber nicht alle Linken ergriffen. Die Amnestie sorgte für Härtefälle und schlug gerade jenen die Tür zu, die die Schlüsselfiguren der Radikalisierung gewesen waren.20 Somit wurde das Auseinanderfallen der außerparlamentarischen Linken von staatlicher Seite begünstigt: Justiz und Polizei, die sich zunehmend auf die vom Straferlass Ausgenommenen fokussierten,21 lieferten den Radikalisierungsprozessen in den meinungsführenden Organisationen und Gruppierungen der Rest-APO neue Vorwände, neue agitatorische Munition. In der selektiven Wahrnehmung ihrer Aktivisten leistete die soziallibe16 HACKE, Jens: Der Staat in Gefahr. Die Bundesrepublik der 1970er Jahre zwischen Legitimationskrise und Unregierbarkeit. In: Ders./GEPPERT, Dominik: Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980. Göttingen 2008, S. 188-206, hier: S. 191. Vgl. zum Topos des „Aufbruchs“, v. a. WOLFRUM, Edgar: Deutschland im Fokus. Bd. 3: Die 70er Jahre. Republik im Aufbruch. Darmstadt 2007. 17 SONTHEIMER, Kurt: Die verunsicherte Republik. Die Bundesrepublik nach 30 Jahren. München 1979, S. 84. 18 Zu den Hintergründen des Straffreiheitsgesetzes und der Amnestie, vgl. DRESCHER, Heiko: Genese und Hintergründe der Demonstrationsstrafrechtsreform von 1970 unter Berücksichtigung des geschichtlichen Wandels der Demonstrationsformen (unveröff. Dissertation). Düsseldorf 2005. Siehe: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn= 975962833&dok_var=d1&dok_ ext=pdf&filename=975962833.pdf (Stand: 06.08.2010). 19 Vgl. WEIß, Claus: Grundgesetz und Demonstrationsdelikte. In: Gewerkschaftliche Monatshefte (Nr. 2, 1970), S. 65-69, hier: S. 65. Die Formulierung entnahm Clauß einem Kommentar des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann: „Die Unruhe in der jungen Generation hat viele von uns in den letzten Jahren überrascht, oft auch verärgert. Dieser Unruhe verdanken wir – das möchte ich nachdrücklich sagen – viele fruchtbare Anstöße. Die junge Generation drängt in allen Völkern zu neuem Denken und zu entschlossenem Handeln, damit wir in der sich rapide wandelnden Welt als einzelne und als Gemeinschaft bestehen können.“ 20 Als Beispiele werden in diesem Zusammenhang immer wieder die späteren RAF-Mitbegründer Andreas Baader und Gudrun Ensslin sowie der ehemalige Asta-Vorsitzende der Münchener Ludwig-Maximiliams-Universität, Rolf Pohle, genannt. Pohle wurde ebenfalls Mitglied der RAF. 21 Vgl. DITFURTH, Jutta: Ulrike Meinhof. Die Biografie. Berlin 2007, S. 267.
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rale Regierung Vorarbeit für „den erwarteten faschistischen Gegenschlag […] der ‚Herrschenden‘“22. Willy Brandt wurde nur eine episodische Amtszeit zugetraut, ein Comeback der Unionsparteien unter Franz Josef Strauß befürchtet. Solche Ansichten waren auch eine Folge der allgemeinen Loslösung von politischen und gesellschaftlichen Vorgängen,23 die die außerparlamentarischen Linken in ihrer Radikalisierung vollzogen. Nicht wenige Aktivisten erkannten darin eine Fehlentwicklung und kehrten Anfang der Siebziger Jahre aus der „revolutionären Peripherie“ an die Universitäten zurück.24 Hier war nach wie vor eine Studentenbewegung im Gange, die sich streng an den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ausrichtete. Für Aufruhr sorgten in der frühen sozialliberalen Ära in erster Linie die Hochschulreformen: Zwischen 1968 und 1970 hatten die Bundesländer Landeshochschulgesetze erlassen, um die Universitäten zu demokratisieren. Etwa zeitgleich richtete die Bundesregierung ein Ministerium für Bildung und Wissenschaft ein, um die Bildungspolitik bundesweit mitzugestalten. 1976 verabschiedete sie ein bundeseinheitliches Hochschulrahmengesetz. Die Reform brachte im Wesentlichen zwei Neuerungen: Erstens, die Einheit von akademischer und wirtschaftlicher Verwaltung einer Hochschule, für die ab sofort ein gewählter Präsident Hauptverantwortung trug und die in den neu gebildeten „Fachbereichen“25 organisiert wurde. Diese verteilten von nun an die ihnen zur Verfügung gestellten Personal- und Sachmittel an die einzelnen Institute. Auf diese Weise entschieden zum ersten Mal in der Geschichte der Universitäten Wissenschaftler untereinander darüber, „wo und in welchem Umfang Wissenschaft betrieben wird […] – und zwar demokratisch, im Fachbereichsrat, in dem Hochschullehrer, Assistenten, Studenten und andere Dienstkräfte vertreten sind“26, blickt der Rechtswissenschaftler Uwe Wesel zurück. Diese Neuerung verärgerte viele Professoren. Sie konnten nicht mehr im Alleingang darüber entscheiden, wer eingestellt wurde, welche Mittel für das Institut beantragt werden sollten und wo diese dann zum Einsatz kamen. Die zweite Neuerung verärgerte viele Studenten: Ab sofort durften sie sich zwar in allen universitären Gremien über gewählte Vertreter an Beratungen und Entscheidungen beteiligen. Im Gegenzug allerdings sank der Einfluss der Allgemeinen Studierendenausschüsse (AStA).27 Aus Sicht der Gesetzgeber waren diese Interessenvertretungen überflüssig geworden. Die Studenten sahen das anders, „denn nun fehlte ihnen ein zentrales Kampforgan mit eigenen finanziellen Mitteln“28, so Wesel, der damals als Vizepräsident der FU Berlin amtierte. In der Folge gewannen inneruniversitäre studentische Gruppen an Bedeutung, vor allem die Roten Zellen. Demokratisch gewählt, errangen sie in vielen Fachbereichen große Stimmanteile. Anstelle des alten Ordinarienwesens regierte nun „Gesinnungskumpanei“29: Wo „Rotzeg“, „Rotzpäd“30 und Co. in Fach- und Personalfragen mitbestimmen konn22 23 24 25 26 27
KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt, S. 185. Vgl. ebd. Vgl. WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 202f. Heute meist wieder unter der Bezeichnung „Fakultät“. WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 175. In einigen Bundesländern wurden sie aufgelöst, in anderen bekamen sie die Auflage, sich nicht mehr allgemein-politisch äußern zu dürfen. 28 WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 176. 29 KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt, S. 202. 30 So die gängigen Abkürzungen für Rote Zelle Germanistik (Rotzeg) und Rote Zelle Pädagogik (Rotzpäd).
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ten, gingen oftmals politische Entscheidungskriterien über wissenschaftliche. Kritiker warnten deshalb vor einem Qualitätsverlust in Ausbildung und Forschung und einer Ideologisierung der Hochschulpolitik.31 Willy Brandt bekam den linken Zeitgeist auch in seiner eigenen Partei zu spüren. Auf dem Steuerparteitag im November 1971 verwarfen die Delegierten alle Pläne des sozialdemokratischen Wirtschafts- und Finanzministers Karl Schiller und setzen stattdessen eine Anhebung des Spitzensteuersatzes durch. Daraufhin ermahnte der Kanzler die Delegierten, die Vertrauensgrundlagen der Partei nicht zu schwächen. Allein, er blieb ungehört. Die Beschlüsse des Parteitags eigneten sich nur zu gut, „die Sozialdemokratie in den oppositionellen Massenmedien als linken Bürgerschreck zu verteufeln“32, erinnert Brandt-Biograf Peter Merseburger. Vermehrt Sorgen bereiteten der SPD-Spitze auch die Bestrebungen der Jusos, sich gegenüber sozialistischen, kommunistischen und christlich orientierten Arbeiterparteien und Gewerkschaften in der Bundesrepublik und Westeuropa zu öffnen.33 Die Opposition reagierte äußerst sensibel auf den sich abzeichnenden Linksruck der SPD, sah sie sich doch in ihrem Vorwurf bestätigt, Brandt würde sich zum „,nützlichen Idioten‘ der Kommunisten“34 machen. Die Annäherungen an Moskau, Warschau und Ostberlin im Rahmen der Neuen Ostpolitik wurden in einen Zusammenhang mit innenpolitischen Entwicklungen gesetzt: die Amnestieregelung, die Hochschulreform, die Aufmüpfigkeit der Jusos, die Re-Ideologisierung der außerparlamentarischen Linken und die Gründung von terroristischen Gruppierungen ergaben insgesamt für sie das schlüssige Bild einer Volksfront von links – entsprechende Vorwürfe äußerten Unionspolitiker spätestens 1972 wie am Fließband. Darunter waren auch sehr persönliche Angriffe gegen Brandt: Sein früherer Parteigenosse Günther Müller nannte ihn beispielsweise einen „alte[n] Berufsrevolutionär, der die Betriebe mobilisieren und die Volksfront wiedererwecken will […], der sich nicht scheut, die Straße zu mobilisieren, um auf dem Altar seiner eigenen Karriere die deutsche Demokratie notfalls zu opfern.“35 Die Sozialdemokraten versuchten sich im Wesentlichen mit zwei Maßnahmen gegen die Vorwürfe zu verteidigen: Im November 1970 legten sie einen so genannten „Abgrenzungsbeschluss“ vor, in dem es ausdrücklich hieß, dass es keine politischen Aktionsgemeinschaften mit Kommunisten geben wird.36 In Bezug auf die Außenpolitik stellte die SPD klar, dass „keine Friedenspolitik, keine außenpolitische Annäherung […] den Gegensatz der Systeme beseitigen“ könne. Als deut-
31 Vgl. MÜNKEL, Daniela: Der ‚Bund Freiheit der Wissenschaft‘. Die Auseinandersetzungen um die Demokratisierung der Hochschule. In: GEPPERT, Dominik/HACKE, Jens: Streit um den Staat, S. 169-187, hier: S. 176. Vgl. auch: o. A.: Links ist mir ein liebes Wort. Interview mit Thomas Nipperdey. In: Der Spiegel (15.11.1971). 32 MERSEBURGER, Peter: Willy Brandt. Visionär und Realist. Stuttgart/München 2002, S. 633. 33 Vgl. STEPHAN, Dieter: Jungsozialisten. Stabilisierung nach langer Krise? Theorie und Politik 1969-1979. 2. Auflage. Bonn 1980, S. 30. 34 Zit. nach: ZUNDEL, Rolf: Glaubenskrieg in Bonn. In: Die Zeit (05.02.1971). 35 o. A.: Was Strauß für fair hält. In: Die Zeit (06.10.1972). 36 Infolge dessen löste sich die SPD von ihrem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB). Dieser durfte das Wort „sozialdemokratisch“ nicht weiter im Namen führen und benannte sich zum Sozialistischen Hochschulbund um. Der SHB hatte sich zum Missfallen der SPD zunehmend marxistischen Theorien und den Vertretern der Stamokap-Theorie geöffnet. Siehe dazu: Kap. II, Fn. 34; vgl. auch: ROIK, Michael: Die DKP und die demokratischen Parteien 19681984. Paderborn 2006, S. 139f.
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lichste Antwort auf die „Volksfrontangriffe der Rechten“37 gilt der Extremistenbeschluss vom 25. Januar 1972. In ihm formulierten die Innenminister der Länder – fünf Vertreter der Union, sechs Vertreter der SPD – jene Grundsätze neu, die den Umgang mit verfassungsfeindlich eingestellten Beamten oder Beamtenanwärtern regelten. Nach Ansicht Kurt Sontheimers hatte der Beschluss vor allem zwei Funktionen: Zum einen diente er als „eine Art Ersatz für das aus übergeordneten politischen Gründen nicht gewollte Parteienverbot […], auf dessen Beantragung man sowohl gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) wie gegen die Deutsche Kommunistische Partei verzichtet hatte.“38 Zum anderen richtete er sich gegen „die überraschend starke linksradikale Politisierung innerhalb der in Beamtenstellungen strebenden akademischen Jugend“39. Rasch offenbarte sich, dass sich die Sozialdemokraten mit ihrem „Ja“ zum Extremistenbeschluss keinen Gefallen getan hatten. Aus juristischer Sicht war die Neuregelung nämlich nicht ganz wasserdicht: Solange DKP und NPD als Parteien zugelassen waren, durften ihren Anhängern aus der bloßen Mitgliedschaft keine Rechtsnachteile erwachsen. Das heißt, der Gesetzgeber durfte ihnen auch das Recht der freien Berufswahl nicht einschränken. Bei einer Tätigkeit in Organisationen oder Gruppierungen, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik richteten, lagen die Dinge freilich anders. Allerdings konnte eine solche kaum „ohne Gesinnungsschnüffelei und Spitzeldienste von Verfassungsschützern“40 nachgewiesen werden. Zur rechtlichen Problematik kam die politische hinzu: „Es ist schon fatal, wenn gerade er [Brandt, Anm. M. M.], der ja den größeren, nicht zu Gewalt bereiten Teil der rebellierenden Jugend in den demokratischen Prozeß integrieren will, seine Unterschrift unter jenen Erlaß setzt, der Andersdenkende mit beruflicher Repression bedroht“41, bringt Peter Merseburger das Dilemma des Kanzlers auf den Punkt. Um den Schaden gering zu halten, lag es nahe, den Extremistenbeschluss nach außen hin als Notwendigkeit zu verkaufen. Dabei spielte die Frage, inwieweit die bundesdeutsche Gesellschaft „von einem inneren Feind bedroht sei“42, eine entscheidende Rolle. Bequem für die SPD, dass Medien, Meinungsführer und Politiker aus dem konservativen Lager hierzu gewissermaßen schon Vorarbeit geleistet hatten: Seit dem Aufkommen der APO waren von deren Seite bereits vielfältige Szenarien einer Bedrohung von Innen gemalt worden. So verwundert es nicht, dass etwa zeitgleich mit dem Extremistenbeschluss und noch vor den schweren Anschlägen der RAF im Frühjahr 1972, die so genannte „Sympathisantendebatte“ ihren Anfang nahm: „Zunächst ist der ‚Sympathisanten‘-Begriff eng verbunden mit der medialen Strategie der Personalisierung“, erklärt Hanno Balz und präzisiert: „Wichtig für den Erfolg ist die Kopplung an prominente Personen. Ihre Prominenz lässt sie als geeignete Träger der zugeschriebenen gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen.“43 Erste Opfer dieser Medienstrategie waren Heinrich Böll, nachdem er „freies Geleit“ für
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MERSEBURGER, Peter: Willy Brandt, S. 634. SONTHEIMER, Kurt: Die verunsicherte Republik, S. 103. Ebd., S. 101. o. A.: Radikale im öffentlichen Dienst. In: Der Spiegel (08.05.1972). MERSEBURGER, Peter: Willy Brandt, S. 634. BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren. Frankfurt a. M. 2008, S. 77. 43 Ebd., S. 79.
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Ulrike Meinhof gefordert hatte,44 sowie Peter Brückner, als herauskam, dass er Ulrike Meinhof „Unterschlupf“45 geboten haben soll. Während dem Schriftsteller vonseiten der Kommentatoren noch eine gewisse Naivität unterstellt wurde, erschien ihnen der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker als „Linksradikaler […] von vornherein verdächtig“46. Böll und Brückner standen von nun an exemplarisch für zwei Formen der Unterstützung des RAF-Terrorismus: der ideologischen und der materiellen. Und sie repräsentierten zwei gesellschaftliche Gruppen, die ab sofort im Verdacht standen, der RAF auf vergleichbare Weise Unterstützung zu leisten: Künstler und Hochschullehrer. „Man soll sich weder von politisierenden Soziologen noch von böllernden Schreibtischhelfern davon abbringen lassen, in der Baader/Meinhof-Gruppe Kriminelle zu erblicken“47, schrieb passend dazu »Die Welt« am 21. Januar 1972. Auf dem Angela-Davis-Kongress am 3./4. Juni 1972 in Frankfurt a. M. versuchten zwei prominente Köpfe der außerparlamentarischen Linken, einem drohenden Generalverdacht gegenüber ihrem politischen Spektrum entgegenzutreten. In ihren Reden auf dem Opernplatz nahmen Oskar Negt und Wolfgang Abendroth die offene thematische Ausrichtung der Veranstaltung zum Anlass, nicht nur über den Fall Davis48, nicht nur über die „Politik der imperialistischen Führungsmacht USA“ 49, sondern auch über die Reaktion der bundesdeutschen Linken zu sprechen. Dabei wandten sich beide gegen die „unsinnigen Terrorakte“50 der RAF und deren Versuch, auf dem Boden der Bundesrepublik bewaffneten Widerstand gegen das „politische Herrschaftssystem“51 der USA zu leisten. Wolfgang Abendroth, damals Mitglied des Sozialistischen Büros (SB), warnte davor, dass das Phänomen „Baader-Meinhof-Gruppe“ von der gesamten bundesdeutschen Presse, von den großen Parteien, von Rundfunk und Fernsehen erfolgreich „als Agitationsmaterial gegen die linke Bewegung“ eingesetzt würde. Sie allesamt würden auf diesem Wege nur vertuschen, „daß zunächst der Staatsapparat 44 Vgl. BÖLL, Heinrich: Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? In: Der Spiegel (10.01.1972). 45 o. A.: Pfarrer und ein Professor halfen der Meinhof-Bande. In: Bild (19.01.1972). 46 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 88. Brückner hatte sich für die Studentenbewegung engagiert und 1967/68 den Dialog mit dem SDS gesucht. Außerdem veröffentlichte er zusammen mit dem italienischen Politologen Johannes Agnoli 1967 den Band »Transformation der Demokratie« – eine „zeitgerechte Radikalkritik der Bonner Demokratie“, wie Wolfgang Kraushaar bemerkt. Vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: Die Furcht vor einem ‚neuen 33‘. Protest gegen die Notstandsgesetzgebung. In: GEPPERT, Dominik/HACKE, Jens (Hg.): Streit um den Staat, S. 135-150, hier: S. 143f. 47 Zit. nach: BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 89. 48 Angela Davis ist eine US-amerikanische Bürgerrechtlerin. Sie setzte sich besonders in den Sechziger und Siebziger Jahren gegen die Rassendiskriminierung und für die „Black Panther Party“ (BPP) ein – wie sich die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung nannte. Im Oktober 1970 wurde sie verhaftet, weil sie angeblich an der versuchten Befreiung eines Mitglieds der BPP aus einem Gerichtssaal in Kalifornien beteiligt gewesen sein soll. Allein, dass die dabei verwendeten Waffen auf ihren Namen registriert waren, sollte sie der „Mittäterschaft“ überführen. Nach 16 Monaten Untersuchungshaft wurde Davis im Juni 1972 freigesprochen. Vgl. dazu: o. A.: Schwarzer Prinz. In: Der Spiegel (19.10.1970). 49 VACK, Klaus: Nachwort. In: Angela Davis Solidaritätskomitee (Hg.): Am Beispiel Angela Davis. Der Kongreß in Frankfurt. Reden, Referate, Diskussionsprotokolle. Frankfurt a. M. 1972, S. 213-216, hier: S. 214. 50 ABENDROTH, Wolfgang: Rede auf dem Angela-Davis-Kongress. In: Ebd., S. 28-30, hier: S. 29. 51 NEGT, Oskar: Rede auf dem Angela-Davis-Kongress. In: Ebd., S. 17-27, hier: S. 25.
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selbst in Berlin den Studenten Ohnesorg erschoß.“ „Diese gleiche Regierung, diese ‚öffentliche Meinung‘“, fuhr Abendroth fort, „sie verschweigt die Ermordung des Studenten v. Rauch in Berlin vor wenigen Wochen.“52 Die gesamte „Arbeiterklasse“ müsse sich darüber im Klaren sein, dass es die Terrorakte der RAF genauso zu verurteilen gelte, wie „den Terror der eigenen Polizei in diesen Fällen“. Wer dies nicht begreife, sei „ein Heuchler und Lügner“53. Oskar Negt, früher im SDS, nun Wortführer des SB, verurteilte die gewaltsamen Handlungen der RAF auf seine Weise: „Verletzte oder getötete SpringerJournalisten tasten nicht den Springer-Konzern an; ein verletzter oder getöteter Polizist mag den Polizeiapparat einen Augenblick verunsichern, aber mit Sicherheit wird er ihn langfristig verstärken.“ Insofern hätten die Taten der Gruppierung von vornherein nichts mit „revolutionärer Gewalt zu tun“54. Neben der Kritik an dem ideologisch-theoretischen Ansatz der RAF ging es Negt in seiner Rede vor allem um eine klare Stellungnahme zur Sympathisantendebatte: Wahre Solidarität beruhe „stets auf Gegenseitigkeit“, mahnte er. Die RAF setze mit „vollendeten Tatsachen“ aber auf eine „Form erpresserischer Solidarität“, indem sie bei Linken gezielt „Minderwertigkeitskomplexe“ erzeuge. Wer ihr „keine aktive Hilfe“ leiste, so Negt, würde von der Gruppierung „herabgedrückt“, weil er der „angeblich großen, revolutionären Politik“ der RAF wie in „blinder Handwerkelei“55 im Wege stehe. Negt rief alle Kongressteilnehmer, aber auch jeden „ernst zu nehmende[n] Sozialist[en]“ dazu auf, sich nicht die „fatale Alternative von Bombenlegen und Anpassung aufzwingen zu lassen“. Stattdessen plädierte er für eine „Erneuerung der sozialistischen Bewegung“ um den „arbeitende[n] harte[n] Kern“ der Linken und für eine Solidarität mit jenen, „die an anderen Orten der Welt und unter anderen Bedingungen einen ähnlichen Kampf führen.“56 Ungeachtet dieser deutlichen Signale einer linken „Entsolidarisierung“57 von der RAF, wurde der Begriff des Sympathisanten im Laufe der Siebziger Jahre weiter instrumentalisiert und umdefiniert. Festgehalten sei an dieser Stelle, dass der Diskurs von der Bundesregierung nicht gezielt gelenkt wurde, um dem Extremistenbeschluss eine breite Akzeptanz zu verschaffen. Allerdings gehörte „das Aufbau-
52 ABENDROTH, Wolfgang: Rede auf dem Angela-Davis-Kongress, S. 29. Georg von Rauch war aus der APO als Befürworter des bewaffneten Kampfs hervor gegangen. In Berlin gehörte er einigen Vorläufern der späteren Bewegung 2. Juni an. Beim Versuch seiner Festnahme verwickelten ihn Polizeibeamte im Dezember 1971 in einen Schusswechsel, bei dem von Rauch tödlich verletzt wurde. 53 Ebd., S. 29f. 54 NEGT, Oskar: Rede auf dem Angela-Davis-Kongress, S. 21. 55 Ebd., S. 23. 56 Ebd., S. 26f. Vgl. dazu auch: o. A.: Spielt nicht mit der Legalität. Gespräch mit Oskar Negt. In: Der Spiegel (12.06.1972). 57 So betrachtete das damalige RAF-Mitglied Irmgard Möller den Angela-Davis-Kongress als herben Einschnitt im Verhältnis Linker zur RAF. Oskar Negt habe für eine „Fraktion der Linken“ gesprochen, „die sich entschlossen hatte, den Marsch durch die Institutionen anzutreten. […] Sie wollten auf jeden Fall eine Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen Linken und dem Staat vermeiden. Die Message war klar: Wir sollten verraten und denunziert werden, damit das schnell ein Ende hatte und man in Ruhe mit der eigenen Politik weitermachen konnte […]. Das hat unsere Bedingungen erheblich verändert.“ Siehe: TOLMEIN, Oliver: RAF – Das war für uns Befreiung. Ein Gespräch mit Irmgard Möller über bewaffneten Kampf, Knast und die Linke. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. 4. Auflage. Hamburg 2005, S. 42.
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schen oder die Verharmlosung der Bedrohung“58 nach Einschätzung des Historikers Jörg Requate seinerzeit obligatorisch zur politischen Rhetorik. Dass diese von den Medien dankbar aufgriffen und verselbstständigt würde, muss für alle Beteiligten außer Frage gestanden haben. Offen ist dagegen, inwieweit sich jeder einzelne Teilnehmer des Diskurses darüber im Klaren war, dass er die ideologischen Fronten innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft mitgestaltete und mitverfestigte:59 Für die eine Seite ergriffen linke Intellektuelle das Wort, die „mit Böll den Notstand des Gemeinwesens gerade in der hysterischen Jagd auf Terroristen und der Hetze gegen ihre vermeintlichen ‚Sympathisanten‘“60 sahen. Auf der anderen Seite machten sich Konservative dafür stark, die staatliche Macht angesichts der inneren Bedrohung in obrigkeitsstaatlicher Tradition auszubauen. Die Front verlief quer durch die gesellschaftliche Mitte und damit auch durch die SPD, in der sich schon ein Jahr nach dem Extremistenbeschluss mehrere Landesväter für dessen Abschaffung aussprachen: „Der niedersächsische Ministerpräsident Alfred Kubel bekannte: ‚Der Beschluß ist nicht ganz sauber.‘ NRW-Regent Heinz Kühn gestand: ‚Der ist überflüssig wie ein Wurmfortsatz.‘ Und sein Bremer Kollege Hans Koschnick distanzierte sich: ‚Wir haben das nie gewollt‘“61, zitierte »Der Spiegel« am 26. Februar 1973. Trotz dieser inneren Widerstände, trotz ihrer Krise im April 1972, als sich Willy Brandt einem Misstrauensvotum stellen musste, brachte die sozialliberale Regierung weitere Gesetzesvorhaben gegen die innere Bedrohung und für die Innere Sicherheit auf den Weg. Was Balz, unisono zur linken Kritik von damals, als „Gesinnungsparagraphen“ bezeichnet,62 waren nüchtern betrachtet eine Reihe von Maßnahmen zur effektiveren Bekämpfung des Terrorismus. Deshalb gingen sie auch als „Anti-Terror-Gesetze“ in den Sprachgebrauch ein. Die Grundlage für diese Gesetzespakete hatte dieselbe Innenministerkonferenz erarbeitet, von der auch der Extremistenbeschluss verabschiedet worden war. Offiziell sprach die Bundesregierung aber erst am 22. März 1972 von einem „Schwerpunktprogramm ‚Innere Sicherheit‘“. Hinter dieser Bezeichnung verbargen sich konkrete Vorhaben zum Ausbau des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesgrenzschutzes (BGS), des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und des Ausländerzentralregisters. Nach der „Maioffensive“ der RAF setzten sich die Innenminister erneut zusammen, um Sofortmaßnahmen für die Terrorismusbekämpfung zu besprechen. Horst Herold, der Präsident des BKA, erwies sich bei dieser Gelegenheit als regelrechter „Kriminalpolitiker“63 und setzte sich erfolgreich für eine deutliche Kompetenzerweiterung seiner Behörde ein. Das „Programm für die Innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ sah dann vor: Telefonüberwachungen bei allen Kontaktpersonen, Einschleusungen von V-Leuten, die Erfassung sämtlicher Besucher der Gefangenen aus der RAF sowie der Adressaten ihres Schriftverkehrs, fliegende Fahndungen auf allen Autobahnen in Form von Hubschrauberpatrouillen, Dauerobservation der RAF-Anwälte, unmittelbare Alibi-Kontrollen bei namentlich bekannten Kontaktpersonen aus dem Umfeld der RAF auf Wunsch des BKA, publizistische Kampagnen gegen die Verharmlosung der bewaffneten Ge58 REQUATE, Jörg: Gefährliche Intellektuelle? Staat und Gewalt in der Debatte über die RAF. In: GEPPERT, Dominik/HACKE, Jörg (Hg.): Streit um den Staat, S. 251-268, hier: S. 253. 59 Vgl. BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 77. 60 KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt, S. 391f. 61 o. A.: Giftzahn ziehen. In: Der Spiegel (26.02.1973). 62 Vgl. BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 92. 63 SCHENK, Dieter: Der Chef. Horst Herold und das BKA. München 2000, S. 95.
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walttäter und ihrer propagandistischen Botschaften sowie die Aktivierung „von Feindgefühlen in der Bevölkerung“ gegen die selbst ernannten Guerilleros.64 Begleitend zu dem Programm verabschiedete der Bundestag am 22. Juni 1972 auch das Bundesverfassungsschutzgesetz, welches dem BfV größere Befugnisse als bisher einräumte – andernfalls hätte das Programm nicht praktisch umgesetzt werden können. Im Sommer 1972 ging der Polizei zwar die gesamte Spitze der RAF ins Netz, andererseits hinterließ der Anschlag auf die Sommerolympiade in München bei den leitenden Beamten des Bundesinnenministeriums die Gewissheit, dass weiterhin politischer „Handlungsbedarf und auch -zwang“65 bestand. Unmittelbar kam es zum Beschluss über die Aufstellung der Spezialeinheit GSG9. Die „Grenzschutzgruppe 9“ sollte zunächst über 176 Mann verfügen und in den verschiedenen Ballungsräumen stationiert werden.66 Geplant war, dass die Kräfte jeden Ort in der Bundesrepublik in spätestens 45 Minuten erreichen konnten. Zur Einsatzbereitschaft reifte die GSG9 am 1. Mai 1973. Einen Monat zuvor, am 1. April 1973, war das neue Bundesgrenzschutzgesetz in Kraft getreten. Es regelte den Ausbau des BGS zur „Polizei des Bundes“. Lagen seine ursprünglichen Aufgaben darin, Einzeldienst an den Grenzen einschließlich der Demarkationslinie zur DDR zu leisten, wurden dem BGS nun Fahndungsaufgaben gegen kriminelle Gruppierungen übertragen, auch die „Jagd auf die BaaderMeinhof-Guerillas“67, wie es in der Presse hieß. Ungeachtet dessen stieg Horst Herold zum unangefochtenen „Terrorismus-Abwehrchef“ auf. Für das BKA konzipierte er alle wichtigen Instrumente zur Fahndung und Überwachung und besaß darüber hinaus das Geschick, ihre Einführung dem Bundesinnenministerium und den Innenministern der Länder jederzeit plausibel zu machen. Herold-Biograf Dieter Schenk geht sogar so weit zu behaupten, dass alle wichtigen Beschlüsse dieser Instanzen zu Fragen der Terrorismusbekämpfung auf Vorlagen beruhten, die der BKA-Präsident „auf seiner Reiseschreibmaschine getippt hatte“68. So gehörte auch das am 29. Juni 1973 in Kraft getretene, erneuerte BKA-Gesetz zu den persönlichen Verdiensten Herolds. Die Wiesbadener Behörde wurde danach als „Informations- und Kommunikationszentrale der Polizei institutionalisiert“. Sie erhielt die Ermittlungshoheit für Fälle von international organisiertem Waffen-, Falschgeld- und Rauschgifthandel, bei politisch motivierten Straftaten und Anschlägen gegen Verfassungsorgane des Bundes, sowie auf Wunsch von Landeskriminalämtern, auf Anordnung des Bundesinnenministers, des Generalbundesanwalts einschließlich dessen Ermittlungsrichter. Außerdem wurde dem BKA die Zuständigkeit für den Personenschutz von Spitzenpolitikern und staatlichen Repräsentanten anvertraut.69 Das öffentliche Bedürfnis nach Sicherheit ging nicht allein auf die Anschläge der RAF oder das Olympiaattentat zurück, sondern korrespondierte auch mit sozioökonomischen Erfahrungen, wie dem Ölpreisschock oder der Einsicht in die Grenzen des Wachstums. 1973 war ein Wendejahr, ein Punkt, an welchem „man plötzlich sieht: Die Welt ist risikoreich. Es geht nicht mehr nur nach oben, sondern 64 Vgl. ebd., S. 109; vgl. auch: DIETL, Wilhelm: Die BKA-Story. München 2000, S. 95. 65 DAHLKE, Matthias: Der Anschlag auf Olympia ’72. München 2006, S. 41. 66 Vgl. BRAND, Enno: Staatsgewalt. Politische Unterdrückung und Innere Sicherheit in der Bundesrepublik. 2. Auflage. Göttingen 1989, S. 121. 67 o. A.: Genschers Truppe in der Schußlinie. In: Die Zeit (23.03.1973). 68 SCHENK, Dieter: Der Chef, S. 152. 69 Vgl. BRAND, Enno: Staatsgewalt, S. 121f.
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es geht sogar scharf nach unten“, meint Edgar Wolfrum. Der Historiker macht hieran den Beginn einer „Ära der Verunsicherung“70 fest, die wie ein später Kater des überschwänglichen Freiheitsdranges und -drängens der 68er scheint, das zugleich mit einer Art „Ankunft im Alltag“71 ausklang: „Man wurde sich seit Mitte der 70er Jahre bewusst, dass Freiheit auch Risiko bedeutete und dass dieses Risiko nicht steuerbar war, weil es von außen kam: von fremden wirtschaftlichen Mächten einerseits oder zum Beispiel auch in Form des internationalen Terrorismus […].“72 Eine wesentliche Rolle dürfte aber auch die innenpolitische Entwicklung gespielt haben: Nachdem Willy Brandt in den vorgezogenen Bundestagswahlen vom Herbst 1972 einen klaren Wahlsieg gefeiert hatte, beendete die Affäre Guillaume seine zweite Amtszeit abrupt und unwürdig. Ein schwerer Schlag für die SPD und ihre Wähler, besonders für jene, die dem Aufruf „Willy wählen!“ 1972 gefolgt waren – unter ihnen eine große Zahl von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Schauspielern und Künstlern. Sogar Heinrich Böll, Opfer der Sympathisantendebatte, hatte sich in der sozialdemokratischen Wählerinitiative73 engagiert und auf dem Wahlparteitag eine kämpferische Rede für eine „aufgeklärte Gesellschaft“ gehalten.74 Den hochgesteckten „Erwartungen und Hoffnungen auf eine durchgreifende Demokratisierung der Gesellschaft“75 wurde mit dem Rücktritt Brandts ein herber Dämpfer erteilt: Einerseits in persona Helmut Schmidts, der ein Kabinett „folgsamer Polithandwerker“76 zusammenstellte und als Kopf der SPD-Rechten galt. Andererseits mit der Erweiterung des Programms zur Inneren Sicherheit und dem Ausbau der gesetzlichen Terrorismusbekämpfung. 1.2 Die erste Amtszeit Helmut Schmidts Wie der neue Kanzler zur außerparlamentarischen Linken stand, hatte er schon zu Hochzeiten der APO in einem ausführlichen Beitrag für die Münchener »Abendzeitung« bekundet:
70 MÖLLER, Frank: Mentalitätsumbruch und Wertewandel in Ost- und Westdeutschland während der 60er und 70er-Jahre. Ein Gespräch mit Edgar Wolfrum. In: Ders./MÄHLERT, Ulrich (Hg.): Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte. Berlin 2008, S. 43-60, hier: S. 55. Zum Phänomen der „Verunsicherung“, siehe auch Kap. I.2. 71 Eigentlich eine Formel aus der DDR-Geschichte, geprägt von Brigitte Reimanns gleichnamigen Roman. Gemeint ist die „alltägliche Bewährung“ junger Abiturienten und Studenten „in der gesellschaftlichen Arbeit“, ihr „Realistischwerden gegenüber den eigenen idealistischen Erwartungen“. Siehe: EMMERICH, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Berlin 2000, S. 145f. 72 MÖLLER, Frank: Ein Gespräch mit Edgar Wolfrum, S. 56. 73 Eine Gruppe von Künstlern, Intellektuellen und politisch interessierten Bürgern, die die Partei seit Ende der Sechziger Jahre bei Wahlkämpfen und in Sachfragen unterstützte. Vgl. dazu: MÜNKEL, Daniela: Intellektuelle für die SPD. Die sozialdemokratische Wählerinitiative. In: HERTFELDER, Thomas/HÜBINGER, Gangolf (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik. Stuttgart 2000, S. 222-238. 74 MERSEBURGER, Peter: Willy Brandt, S. 653. 75 CZITRICH, Holger: Konservativismus und nationale Identität in der Bundesrepublik Deutschland. Der Konservativismus, seine Theorie und Entwicklung im Spiegel der Diskussionen über das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland seit Mitte der siebziger Jahre (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Bd. 393). Frankfurt a. M. u. a. 1989, S. 67. 76 o. A.: Regierung Schmidt: Schonfrist gibt es nicht. In: Der Spiegel (20.05.1974).
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„Ich gestehe ungeschützt, dass ich Intellektuelle von links oder rechts, die die repräsentative Demokratie und die demokratisch-liberale Gesellschaft westlicher Prägung zum Hauptgegenstand ihres Spottes, ihrer Verteufelung und ihrer Aggression machen, im gleichen Horizont sehe, wie ich Faschisten und diejenigen, die im Namen der ‚Diktatur des Proletariats‘ in Wirklichkeit eine ‚Diktatur über das Proletariat‘ (Rosa Luxemburg) errichteten.“
Schmidt räumte zwar ein, „dass eine liberale Rechtsordnung, dass eine auf Wettbewerb gestellte Wirtschaftsordnung und eine repräsentativ-demokratische Staatsordnung unvermeidlich tausend Fehler“ hätten und den Intellektuellen oder Studenten „Grund genug zur Kritik“ böten. Er mahnte jedoch an, dass diese Kritik nur fruchtbar werden könne, „je mehr sie auf konkret formulierte Reform tendiert.“ Ausdrücklich wandte sich Schmidt gegen sozialrevolutionäre Bestrebungen: „Ich gestehe ungeschützt, dass ich Utopien einer Gesellschaft, in der es keinerlei Über- und Unterordnung, keinerlei Abhängigkeit von Fremdbestimmung und keinerlei Arbeitsteilung zwischen Leitung und Ausführung gibt, für unwissenschaftlich halte und – wenn sie mit politisch-revolutionärem Anspruch vorgetragen werden – für potentiell diktaturverdächtig. […] Wer […] seine Utopie zur Legitimation der Gewaltanwendung macht, der ist vor dem Umschlag in die Unmenschlichkeit nicht gefeit.“
Schon damals sah Schmidt eine gefährliche Spirale aus Gewalt und Gegengewalt heraufbeschworen, sofern sich der Protest weiter radikalisierte: „Wer rücksichtlose Provokation und rücksichtslose Negation der bestehenden Ordnungen für eine sittlich gerechtfertigte Politik hält, der mag sich für einen Radikalen halten und hochschätzen. Aber ebenso sicher müssen wir anderen ihn für einen gefährlichen Sozialromantiker ansehen. Wer intolerante Provokation zum Hauptinhalt seiner politischen Aktivität macht, der erweckt die intolerante Reaktion. Provokation und Reaktion tendieren gleicherweise zur Repression – sie können gleicherweise lebensgefährlich werden.“
Dass Schmidt kein Interesse hegte, diesen Prozess zu fördern, unterstrich er auf folgende Weise: „Da wir die Industrialisierung, die Automation, die Arbeitsteilung der modernen Massengesellschaft und das ganze ‚großorganisierte Dasein‘ (Alfred Weber) nicht zurückdrehen können und wollen, werden wir die Abhängigkeit des Menschen nicht beseitigen können. Wir können deshalb die Unabhängigkeit des Einzelnen genau so wenig absolut setzen wie das vermeintliche oder das vorgebliche Gesamtinteresse der Gemeinschaft. Aber wir müssen unsere ganze Vernunft und unsere ganze Kraft daran wenden, durch konkrete, d.h. durch rechtliche und sozialinstitutionelle Regelung und – mehr noch – durch Selbsterziehung zur Toleranz die Chancen zur Selbstbestimmung des Einzelnen und den Raum für seine Freiheit zu bewahren 77 und zu vergrößern.“
Der Artikel ist auch deshalb interessant, weil er drei Grundzüge des Politikers Schmidt offen legt: Seinen intellektuellen Habitus, seinen pädagogischen Duktus und seine fast provozierende Sachlichkeit, besonders deutlich in der illusionslosen 77 SCHMIDT, Helmut: Wider die elitäre Arroganz. In: Informationen der Sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag (20.11.1967). Hierbei handelt es sich um einen Abdruck des Artikels aus der »Abendzeitung«.
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Haltung gegenüber der bundesdeutschen Demokratie. Aus linker Sicht wurden diese Grundzüge natürlich überzeichnet. So galt Schmidt bei ihnen als „Sozialimperialist mit monarchischer Attitüde“ und technokratischer Manager.78 Und er hatte eine – für Linke – wesentliche Gemeinsamkeit mit den Feindbildern Franz Josef Strauß und Horst Herold: Sie waren ehemalige Leutnants der Wehrmacht. In Schmidts frühe Kanzlerjahre fiel der Stammheim-Prozess, den der Rechtswissenschaftler Christopher R. Tenfelde als „politischen Prozess neuer Art“79 bezeichnet. Mit ihm seien juristische Neuregelungen einhergegangen, die die Waffengleichheit zwischen den Beschuldigten und den Strafverfolgungsbehörden zugunsten letzterer verschoben hätten:80 Die §§231a und 231b der Strafprozessordnung (StPO), welche die Verhandlung in Abwesenheit der Angeklagten ermöglichten, die Beschränkung auf maximal drei Wahlverteidiger nach §137 Abs. 1, Satz 2 StPO, das Verbot der Mehrfachverteidigung nach § 146 StPO oder der Verteidigerausschluss im Falle des Verdachts einer Tatbeteiligung nach §138a bis d StPO. Diese und weitere Änderungen der Strafprozessordnung steckten laut Tenfelde in ihrer Begründung „voller Widersprüche und Unklarheiten“81. Weil ihr vornehmlicher Zweck, nämlich zur Beschleunigung des Stammheimer Prozesses beizutragen, über die „Verschlechterung der Beschuldigtenposition“ erkauft wurde, habe es der RAF propagandistisch gelingen können, auf die „defizitäre Rechtsstaatlichkeit“ des Verfahrens aufmerksam zu machen. Die Angeklagten konnten sich „leicht in die Rolle politisch verfolgter Opfer einer fanatischen Justiz finden“82. Für die Bundesregierung hatte der Stammheim-Prozess noch weitere unangenehme Begleiterscheinungen: Mit der Lorenz-Entführung in Westberlin und der Botschaftsbesetzung in Stockholm 1975 versuchten RAF und Bewegung 2. Juni, die Freilassung vieler ihrer inhaftierten Mitglieder zu erzwingen.83 Schmidt erwies sich in beiden Fällen als zögerlich, eher darauf bedacht, eine Eskalation der Gewalt zu vermeiden, als staatliche Härte zu zeigen.84 In Konsequenz willigte er ein, Bundesinnenminister Werner Maihofer und BKA-Präsident Herold in der Terrorismusbekämpfung schalten und walten zu lassen. Zum wichtigen Signal nach außen geriet dabei die Gründung der Abteilung Terrorismus (TE) im BKA am 11. April 1975. Die Behörde in Wiesbaden übernahm Kompetenzen, die bisher dem BfV zugeordnet waren: das Sammeln und Bearbeiten von Daten, die in allen laufenden Verfahren gegen Mitglieder der RAF und anderer bewaffneter Gruppierungen sowie deren Umfeld anfielen; die selbstständige Entscheidung über Fahndungstaktiken; die Koordination des Einsatzes von V-Leuten und der Überwachungstechnik.85 Mit der Begründung, dass zur Terrorismusbekämpfung weitere juristische Instrumente notwendig seien, verabschiedete der Bundestag im Sommer 1976 das „Anti-Terrorismus-Gesetz“ und stellte zugleich die „Anleitung zu Straftaten“ wie auch „die verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten“ per Gesetz unter 78 Vgl. KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt, S. 460 und S. 496. 79 TENFELDE, Christopher R.: Die Rote Armee Fraktion und die Strafjustiz. Anti-Terror-Gesetze und ihre Umsetzung am Beispiel des Stammheim-Prozesses. Osnabrück 2009, S. 241. 80 Vgl. ebd., S. 222. 81 Ebd., S. 221f. 82 Ebd., S. 240f. 83 Vgl. MÄRZ, Michael: Die Machtprobe 1975. Wie RAF und Bewegung 2. Juni den Staat erpressten. Leipzig 2007, S. 119f. u. 122f. 84 Auch wenn es die Presse im Fall Stockholm so interpretierte, vgl. dazu: o. A.: Mein Instinkt sagt mir: Nicht nachgeben. In: Der Spiegel (28.04.1975). 85 Vgl. BRAND, Enno: Staatsgewalt, S. 125; vgl. auch: DIETL, Wilhelm: Die BKA-Story, S. 99.
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Strafe. Mit Hilfe dieser Paragraphen 129a, 130a und 88a, von Linken auch als „Maulkorbgesetze“ bezeichnet, konnten nun schon „bestimmte Sprechakte“86, die einem Werben für eine terroristische Vereinigung gleichbedeutend waren, strafrechtlich verfolgt werden. Richteten sich die neuerlichen Anti-Terror-Gesetze in erster Linie gegen den illegalen Rand des linken Spektrums, kam es im Zusammenhang mit den Neuen Sozialen Bewegungen zu deutlichen Konfrontationen zwischen der außerparlamentarischen Linken und dem Staat. Mit dem Protest gegen das geplante Atomkraftwerk (AKW) in Wyhl am Kaiserstuhl hatte im Februar 1975 die bundesdeutsche AntiAKW-Bewegung ihren Anfang genommen: Über einhundert Aktivisten besetzten den Bauplatz und behinderten die Arbeiten, bis die Polizei mit Wasserwerfern, Panzerwagen und Hundestaffeln anrückte.87 Wenige Tage später kehrten fast dreißigtausend Demonstranten an den Ort zurück und besetzten das Gelände erneut. Diesmal für mehrere Monate. Dass sich die Atomkraft zu einem Protestgegenstand entwickelte, in dem sich Technikkritik und Staatskritik der Neuen Sozialen Bewegungen verbanden, hing mit den Gewaltereignissen zusammen, die auf den Protest in Wyhl folgten.88 Hatte es dort zwar auch schon „knüppelnde Polizisten und steinewerfende Demonstranten“ gegeben, spitzten sich die Auseinandersetzungen 1976 im schleswig-holsteinischen Brokdorf zu einem brutalen Katz- und Mausspiel zwischen Polizei und Demonstranten zu: Neben dem Einsatz des Bundesgrenzschutzes als Sonderpolizei – erst möglich durch das BGS-Gesetz von 1973 – bedeutete auch die große Zahl von Verletzten und Festgenommenen einen Einschnitt für die AntiAKW-Bewegung. In der Folge erfuhr der Protest gegen die Atomkraft eine starke Politisierung. Zum einen in Form einer Wiederkehr jener „in den 60er Jahren geführte[n] Debatte […], deren Fokus sich auf die Grundrechtsverletzungen richtete“89, zum anderen über die zunehmend veränderte organisatorische Zusammensetzung der Bewegung: Während die lokalen und regionalen Bürgerinitiativen in den Hintergrund traten, „strömten mit den Ereignissen von Brokdorf Gruppen und Spektren der radikalen Linken in die Anti-AKW-Bewegung.“90 Gerade militante Gruppierungen entdeckten den Kampf um die Bauplätze für sich, sahen sie hier doch eine Gelegenheit der direkten Konfrontation mit dem Staat, dessen Institutionen es mit wachsender Gewaltbereitschaft der Atomkraftgegner immer leichter fiel, die Bewegung zu kriminalisieren. So zeichnete sich für die Aktivisten spätestens 1977 ab, dass ihre Widerstandshandlungen zu langen Haftstrafen führen konnten.91 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der frühen und mittleren sozialliberalen Ära eine Reihe von innenpolitischen Entscheidungen getroffen wurden, die das Verhältnis Linker zum Staat beeinträchtigten und Anlass zu Repressionskritik geboten haben können – abhängig von der individuellen Sichtweise und dem Empfinden der von den Maßnahmen Betroffenen. Dies muss gerade angesichts der 86 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 77. 87 Vgl. BRAND, Enno: Staatsgewalt, S. 182. 88 Vgl. PETTENKOFER, Andreas: Kritik und Gewalt. Zur Genealogie der westdeutschen Umweltbewegung (unveröff. Dissertation). Erfurt 2007, S. 312. 89 Ebd., S. 312f. 90 STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991 (Dissertationsschrift). Marburg 2002, S. 173. Siehe: http:// archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2002/0060/ pdf/z2001-0060.pdf (Stand: 06.08.2010)) Die Dissertation wurde im selben Jahr veröffentlicht: STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991. Berlin 2002. 91 Vgl. dazu: o. A.: Schwarz vor Augen. In: Der Spiegel (15.05.1978).
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Amnestieregelung und der Hochschulreform betont werden, waren diese doch Bestandteile eines Demokratisierungsprojektes, das Brandt 1972 vor allem im linken und linksintellektuellen Lager viele Stimmen sicherte. Bevor, in Annäherung an den Untersuchungszeitraum, auf das Jahr 1977 zurückgeblickt wird, soll im nächsten Abschnitt der Entstehung und Wirkung des SPD-Wahlslogans „Weiterarbeiten am Modell Deutschland“ auf den Grund gegangen werden. Der Wahlkampf um die zweite Amtszeit Helmut Schmidts ist für eine Untersuchung des Verhältnisses Linker zum Staat nach dem Deutschen Herbst aus zwei Gründen interessant. Zum einen, weil die SPD gefordert war, ihre Regierungspolitik seit 1969 zu bilanzieren: Wie stand sie mittlerweile zu dem Vorsatz, „mehr Demokratie“ zu wagen? Welche Position bezog sie beispielsweise zum Extremistenbeschluss? Zum anderen, weil die Vorhaben und Versprechen, die sie in Bezug auf die kommende Legislaturperiode formulierte und denen sie sich in ihrem Regierungsprogramm verpflichtete, Anhaltspunkte dafür liefern, woran die Partei und ihr Kanzler vonseiten ihrer linken Kritiker gemessen wurden.
2. „M ODELL D EUTSCHLAND “ – VOM S LOGAN ZUM U NWORT 2.1 Die Wahlkampfplattform der SPD im Bundestagswahlkampf 1976 Die Meistererzählung der bundesdeutschen Geschichte beruht spätestens seit der Wiedervereinigung auf dem Leitmotiv der „Erfolgsgeschichte“92 und auch im „gesamtdeutschen Erinnerungsjahr“93 2009 wurde sie in diesem Sinne weitergestrickt. Wie der Historiker Andreas Rödder vor einiger Zeit bemerkte, fordere dieses Narrativ angesichts einer Welle von öffentlichen Krisendiagnosen und mittlerweile tatsächlich eingetretenen Krisenerscheinungen kritische Nachfragen heraus.94 Ein solches Schwanken zwischen positiver Leistungsbilanz und Verunsicherung über das Erreichte scheint für die deutsche Zeitgeschichtsschreibung zunehmend charakteristisch. Es wird im schillernden Slogan „Modell Deutschland“, mit dem Rödder die in 92 Vgl. u. a.: WOLFRUM, Edgar: Die geglückte Demokratie; BAUERKÄMPER, Arnd/JARAUSCH, Konrad H./PAYK, Markus M.: Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945-1970. Göttingen 2005; JARAUSCH, Konrad H.: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995. Frankfurt a. M. 2004; WINKLER, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom ‚Dritten Reich‘ bis zur Wiedervereinigung. München 2000. 93 So etwa in der Einladung zur Tagung „Die geglückte Demokratie – 1949, 1969, 1989“ am 18.09.2008 in Berlin. Siehe: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=9853 (Stand: 06.08.2010). 94 Vgl. RÖDDER, Andreas: Das ,Modell Deutschland‘ zwischen Erfolgsgeschichte und Verfallsdiagnose. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (Nr. 3, 2006), S. 345-364. Jüngste Beispiele für Kritik an der Erfolgsgeschichtsschreibung: WEHLER, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Von der Gründung der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zur Vereinigung 1949-1990. München 2008; GLIENKE, Stephan Alexander/PAULMANN, Volker/PERELS, Joachim (Hg.): Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus. Göttingen 2008; sowie: SCHILDT, Axel: Überlegungen zur Historisierung der Bundesrepublik. In: JARAUSCH, Konrad H./SABROW, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. M. 2002, S. 253-272; FREI, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996.
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kollektiver Selbstzufriedenheit geschriebene Erfolgsgeschichte seit den Achtziger Jahren etikettiert sieht,95 recht treffsicher eingefangen: Einst als Alternative zum schwedischen und japanischen Modell gefeiert, macht das „Modell Deutschland“ heute vor allem noch im angloamerikanischen Raum von sich reden,96 wo es für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, gesicherten Wohlstand und innere Stabilität steht. Dem gegenüber scheint der Slogan hierzulande beinahe ebenso in Vergessenheit geraten wie der Glaube an das, was er versprach. So griffen ihn in den letzten Jahren allenfalls Wirtschaftswissenschaftler auf, wenn sie den Niedergang Deutschlands zum „kranken Mann Europas“ diagnostizierten.97 Unter diesen Umständen mag es kaum verwundern, dass über die Herkunft des Slogans nur noch wenig bekannt ist. Auch seine zuletzt stärkere Beachtung bei Zeithistorikern ändert daran nichts.98 Relativ geläufig ist nur, dass seine Entstehung mit dem Regierungsprogramm der SPD zur Bundestagswahl 1976 verbunden ist, welches den Titel trug: „Weiterarbeiten am Modell Deutschland.“ Erste parteiinterne Diskussionen zu den inhaltlichen Schwerpunkten des Wahlkampfs wurden im Vorfeld von Helmut Schmidts Bericht zur Lage der Nation vor dem Bundestag am 29. Januar 1976 geführt.99 Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang die erste Sitzung des Parteivorstands nach dem Jahreswechsel. Im Bonner Erich-Ollenhauer-Haus, der damaligen Bundesparteizentrale der SPD, referierte Willy Brandt einführend über seine Vorstellungen zum bevorstehenden Wahlkampf. Anschließend brachten die Vorstandsmitglieder ihre Ansichten vor und gaben weitere Anregungen. Man einigte sich darauf, dass den Wählern deutlich gemacht werden müsse, „daß die Sozialdemokraten durch ihre vorausschauende Politik Antworten auf die Fragen der Bürger nach der weiteren Entwicklung zu geben in der Lage sind.“100 Vorarbeiten zu dieser Sitzung hatte die Planungsabteilung des Bundeskanzleramts geleistet. Ihr damaliger Leiter Albrecht Müller erinnert sich, dass man schon im Spätherbst 1975 Vorschläge zur Wahlkampfführung und Wahlkampfplattform gesammelt hatte.101 Anlass war die jährliche Klausur der Planungs95 Vgl. RÖDDER, Andreas: Das 'Modell Deutschland' zwischen Erfolgsgeschichte und Verfallsdiagnose, S. 345. 96 Einige Beispiele: WHITTALL, Michael: Modell Deutschland under Pressure: The Growing Tensions between Works Councils and Trade Unions. In: Economic and Industrial Democracy (No. 4, 2005), S. 569-592; ALLEN, Christopher S.: Ideas, Institutions and the Exhaustion of ‘Modell Deutschland‘. In: German Law Journal (Nr. 9, 2004), S. 1134-1154; DEEG, Richard: The Comeback of the Modell Deutschland? The New German Political Economy in the EU. In: German Politics (Nr. 2, 2005), S. 1-22. Mehr dazu bei: PULZER, Peter: ‚Modell Deutschland‘ – aus angelsächsischer Sicht. In: HERTFELDER, Thomas/RÖDDER, Andreas (Hg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion? Göttingen 2007, S. 190-204. 97 Vgl. dazu: CATTERO, Bruno (Hg.): Modell Deutschland, Modell Europa. Probleme, Perspektiven. Opladen 1998. Der Ausspruch vom „kranken Mann Europas“ stammt von: SINN, HansWerner: Ist Deutschland noch zu retten? 4. Auflage. München 2003, S. 13. 98 Vgl. HERTFELDER, Thomas/RÖDDER, Andreas (Hg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion? Göttingen 2007; FACH, Wolfgang: Das Modell Deutschland und seine Krise (1974-1989). In: ROTH, Roland/RUCHT, Dieter (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945: Ein Handbuch. Frankfurt a. M. 2008, S. 94-108. 99 Verschiedene Fassungen und Korrekturanmerkungen einzelner Bundesminister können eingesehen werden im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) unter den Signaturen: AdsD, 1/HSAA010246 bis 010252. 100 Protokoll über die Sitzung des Parteivorstandes am 26.01.1976, S. 5. In: AdsD, 1/HSAA 006220. 101 Albrecht Müller am 04.06.2009 (m).
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abteilung, auf der das parteiinterne Planungspapier für das kommende Jahr ausgearbeitet wurde. Noch vor Jahresende sei es an die Spitzengremien der SPD und Helmut Schmidt weitergeleitet worden und somit in die Parteivorstandssitzung im Januar eingeflossen. Den Bericht zur Lage der Nation nahm die CDU/CSU-Fraktion zum Anlass, um in erster Linie die Außen- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Regierung zu kritisieren. Doch Helmut Schmidt verteidigte die langjährige Verständigung mit der DDR und dem Ostblock entschlossen, konnte er dabei doch auf den Ertrag des jüngsten deutsch-deutschen Verkehrsabkommens und des Rentenabkommens mit Polen verweisen.102 Beobachter bescheinigten dem Kanzler einen Auftritt „im schönsten Licht“103; Schmidt habe ganz den gelassenen, die weltpolitischen Bedingungen sorgfältig abwägenden Staatsmann gegeben. Am 9. Februar 1976 folgte eine SPD-Präsidiumssitzung, in der die Diskussion des Parteivorstandes fortgeführt wurde. In Vorbereitung auf diese Sitzung hatte Schmidt Albrecht Müller um einige Stichworte zum bisherigen Stand des Entwurfs einer Wahlkampfplattform gebeten. Bereits 1972 an der erfolgreichen Wahlkampagne Willy Brandts beteiligt,104 formulierte der Volkswirt und Soziologe die Entwürfe seiner Planungsabteilung aus und lieferte damit ein aufschlussreiches Papier: Auf insgesamt zehn Seiten fasst es die Grundlinien für den bevorstehenden Wahlkampf zusammen.105 Einleitend blickt Müller auf die Kampagnen der vorangegangenen Bundestagswahlen zurück. Er erinnert an 1969, als die SPD mit dem Slogan antrat: „Wir schaffen das moderne Deutschland“, und an 1972, als Brandt mit dem Slogan: „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land“ wiedergewählt wurde. Für 1976 prognostiziert Müller eine „Generalabrechnung der CDU/CSU“106, die die Regierungszeit der sozialliberalen Koalition den Wählern als „sieben magere Jahre“ verkaufen werde. Außerdem müsse mit bewusst nationalen bis nationalistischen Parolen gerechnet werden. Um das Feld „‘Unser Staat‘, ‚Unsere Nation‘“ nicht der Opposition zu überlassen, folgert Müller, dass die SPD im Wahlkampf „offensiv und für jeden Bürger verständlich“ ihre Leistungen aufzeigen müsse, allem voran die „erfolgreiche Verständigungspolitik“. Mit Rücksicht auf die Rede zur Lage der Nation und ihre Wirkung steht die Außenpolitik ganz oben auf der Liste der eigenen Verdienste. Darunter folgen die Punkte: „hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“, „dicht geknüpftes Netz an sozialer Sicherheit“, „Politik stetiger Reform“, „in-
102 Das Verkehrsabkommen betraf die Nutzung und den Ausbau der Autobahnen nach Westberlin. Im Rentenabkommen mit der Volksrepublik Polen ging es darum, einen Ausgleich zu schaffen für die 1,4 Millionen polnischen Arbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs zwangsweise in Deutschland arbeiteten und Sozialversicherungsbeiträge zahlten, sowie für die polnischen Bergarbeiter, die zwischen 1920 und 1939 im Ruhrgebiet arbeiteten. Auf der anderen Seite hatten mehrere hunderttausend polnische Aussiedler, die nach 1945 in die Bundesrepublik zogen, ihre in Polen erarbeiteten Rentenansprüche verloren. Vgl. SUND, Olaf: Polenvertrag: Kein Feld für polemische Scharfmacher. In: Sozialdemokratischer Pressedienst (01.10.1975), S. 4-6. 103 ZUNDEL, Rolf: Pralle Gesinnung, magere Vorschläge. Die Strategie der Opposition. In: Die Zeit (06.02.1975). 104 Zur Wahlkampfberatung der SPD bei früheren Bundestagswahlkämpfen, vgl. BÖSCH, Frank: Werbefirmen, Meinungsforscher, Professoren. Die Professionalisierung der Politikberatung im Wahlkampf (1949-1972). In: FISCH, Stefan/RUDLOFF, Wilfried (Hg.): Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive. Berlin 2004, S. 309-328. 105 Brief von Albrecht Müller an Helmut Schmidt vom 09.02.1976. In: AdsD, 1/HSAA009984. 106 Ebd., S. 3.
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nergesellschaftliche Solidarität und reale Freiheit des Einzelnen.“107 Abgeleitet von der Einschätzung, dass die Leistungen der sozialliberalen Regierung „beispielhaft, vielleicht sogar ein Modell für andere“108 seien, wirbt Müller für die Verwendung des Slogans „Modell Deutschland“ als große Überschrift und inhaltliche Klammer der SPD-Wahlkampagne. Der Vorschlag war nicht neu. Bereits im Dezember 1975 hatte Müller in einem persönlichen Vermerk an Helmut Schmidt über den Sloganentwurf der Planungsabteilung informiert; der Kanzler hatte sein Gefallen ausgedrückt und Müller schriftlich bestätigt, dass er den Entwurf unterstütze.109 Doch das „Modell Deutschland“ war innerhalb der SPD nicht unumstritten. So kursierte nach der Präsidiumssitzung im Januar ein Vorentwurf für eine Wahlkampfplattform, der mit dem Satz eingeleitet wird: „Unsere Gesellschaft, die wir Sozialdemokraten im Bündnis mit den Freiendemokraten seit 7 Jahren gestalten, wird von vielen hier und im Ausland als ein Beispiel betrachtet.“110 Die Bundesrepublik als Beispiel oder als Modell? – Hier ging es um Feinheiten. Das Protokoll einer weiteren Sitzung des SPD-Parteivorstandes am 20. Februar 1976 zeigt, dass Willy Brandt eher die erste Variante favorisierte: Zu den fünf inhaltlichen Schwerpunkten der Wahlkampfplattform gehörte seiner Ansicht nach, dass den Bürgern verdeutlicht werde, „daß wir wirtschaftlich besser dastehen als die meisten vergleichbaren Länder und wir auf zahlreichen anderen Gebieten auf beispielhafte Lösungen verweisen können.“111 Schon in vorangegangenen Sitzungen hatte Brandt die Befürchtung geäußert, dass das „Modell Deutschland“ in der in- und ausländischen Öffentlichkeit „als Modell eines geteilten Landes interpretiert und kritisiert“112 werden könnte. Auch Herbert Wehner hatte Bedenken, dass der Slogan Chauvinismusvorwürfe provoziere. Dem gegenüber schloss sich Holger Börner, Bundesgeschäftsführer der SPD, der Haltung des Kanzlers an. Hätten sich beide Seiten nicht geeinigt, wäre das „Modell Deutschland“ nie öffentlich geworden. In einem weiteren Vorentwurf zur Wahlkampfplattform vom 23. Februar 1976 schien sich der Alternativvorschlag von Brandt und Wehner schon durchgesetzt zu haben. Das Papier ist überschrieben mit der Frage: „Worum es im Grunde geht: konsequente Weiterarbeit am Beispiel Bundesrepublik oder Tendenzwende.“113 Auf den weiteren Seiten wird erläutert, was die SPD unter dem „Beispiel Bundesrepublik“ verstand: „hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“, „soziale Sicherheit“ und „einzigartige soziale Stabilität“, „innergesellschaftliche Solidarität und reale Freiheit des Einzelnen“, „konsequente Politik stetiger Reformen“114. Wollte man mögliche Chauvinismusvorwürfe gegenüber dem „Modell Deutschland“ noch mit „einer starken Betonung des Elements ‚Verständigung und Versöhnung‘ wegkriegen“115, verloren außenpolitische Aspekte im „Beispiel Bundesrepublik“ an Bedeutung. Sie
107 Ebd., S. 4-5. 108 Ebd., S. 3. 109 Beide Papiere befinden sich im Privatarchiv von Albrecht Müller. 110 Vorentwurf einer Wahlkampfplattform vom 16.02.1976. In: AdsD, 1/HSAA009901. 111 Protokoll über die Sitzung des Parteivorstandes am 20.02.1976, S. 5. In: AdsD, 1/HSAA 006219. Hervorhebung durch den Autor. 112 Brief von Albrecht Müller an Helmut Schmidt, S. 7. 113 Vorentwurf einer Wahlkampfplattform vom 23.02.1976, S. 1. In: AdsD, 1/HSAA009900. 114 Ebd., S. 2-5. 115 Brief von Albrecht Müller an Helmut Schmidt, S. 7.
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bildeten mit den Schlagworten „aktive Friedenssicherung und erfolgreiche Verständigungspolitik“ den Abschluss der Auflistung. Doch auch am „Beispiel Bundesrepublik“ bestanden Zweifel. Noch im April 1976 herrschte innerhalb des Parteivorstands der SPD Unklarheit über den roten Faden der Wahlkampagne. Ein weiterer Entwurf der Wahlkampfplattform blieb nun jedenfalls ohne Überschrift, enthielt allerdings den einleitenden Satz: „Sozialdemokraten haben […] ein Deutschland geschaffen, das vielen Menschen, auch im Ausland, als nachahmenswertes Modell gilt.“116 Ohne Zutun der Planungsabteilung können zu diesem Zeitpunkt auch noch Alternativvarianten wie „Deutsches Modell“ oder „Modell Bundesrepublik Deutschland“ erwogen worden sein.117 Eine Liste, die der Regierungssprecher und Leiter des Bundespresseamtes Klaus Bölling Anfang Mai für den Bundeskanzler anfertigte, deutet darauf hin. Sie enthält elf Vorschläge für den Slogan der Wahlkampfplattform, davon sieben Abwandlungen des Modell-Gedankens und vier weitere, die ohne die Begriffe „Modell“ und „Beispiel“ auskommen. Zwei von ihnen sind sogar mit einem Stern markiert, was darauf hindeutet, dass sie Schmidt gefielen: „Damit Deutschland vorn bleibt“ und „Deutschland bleibt vorn“.118 Befürchtungen vor möglichen Chauvinismusvorwürfen dürften angesichts dieser Auswahl keine Rolle mehr gespielt haben. In einer SPD-Präsidiumssitzung war etwa zur selben Zeit wieder für das „Modell Deutschland“ argumentiert worden. Offenbar hatte der Slogan auch in den eigenen Reihen genau die Wirkung entfaltet, die man sich für den Wahlkampf von ihm versprach: Er war eben ein „Stolperer“119. Und gerade über seine Dissonanz, so die Vorstellung der SPD-Spitze, rege er letztlich zum Gespräch und zur Diskussion an, könne er „Kommunikation auslösen“ und Glaubwürdigkeit vermitteln.120 Deshalb empfahl die Planungsabteilung der SPD dem Kanzler in einem Schreiben vom 5. Mai 1976, „nicht mehr zu fackeln, sondern jetzt sofort entschlossen den Begriff zu benutzen.“121 Für die Wahlkampfplattform, die schließlich in ein Regierungsprogramm für die kommende Legislaturperiode münden sollte, schlugen Müller und seine Mitstreiter das Motto vor: „Mit Helmut Schmidt weiterbauen am Modell Deutschland.“ Grund für den gewachsenen Entscheidungsdruck war eine Offensive der CDU, die die Landtagswahlen in Baden-Württemberg im April 1976 zum Anlass genommen hatte, mit dem Slogan „Freiheit oder Sozialismus“ zugleich die sozialliberale Bundesregierung zu attackieren. Helmut Schmidt, dessen Anzeigen- und Briefkam-
116 Entwurf einer Wahlkampfplattform vom 23.04.1976, S. 1. In: AdsD, 1/HSAA009922. 117 Vgl. Brief von Albrecht Müller an Helmut Schmidt, S. 7. 118 Interner Vermerk von Klaus Bölling für Helmut Schmidt am 06.05.1976. In: AdsD, 1/HSAA 009985. Die anderen Vorschläge lauteten: „Deutschland – Modell für die Zukunft, Unser Deutschland – Modell für die Zukunft, Unser Land – Modell für die Zukunft, Wir bauen das Modell Deutschland, Wir schaffen das Modell Deutschland, Ein Land wie kein anderes – Modell Deutschland, Deutschland vorn, Deutschland bleibt vorn mit Helmut Schmidt, Wo es sich leben läßt – Modell Deutschland“. Von den markierten Vorschlägen taucht im weiteren Verlauf der Kampagne zumindest der Bestandteil „bleibt vorn“ wieder auf: „Unsere starke Wirtschaft bleibt vorn“ lautete die Überschrift auf einem Wahlplakat, das im AdsD unter der Signatur 6/PLKA021791 zu finden ist. 119 Brief von Albrecht Müller an Helmut Schmidt, S. 9. 120 Vgl. ebd. 121 Interner Vermerk Albrecht Müllers und Volker Rieggers für Helmut Schmidt am 05.05.1976, S. 1. In: AdsD, 1/HSAA009985.
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pagne gerade startete,122 hatte in der Zeitschrift »Stern« wie folgt darauf reagiert: Wenn die CDU behaupte, „es gehe um ‚Freiheit oder Sozialismus‘“, so sei dies „eine grobe Fälschung! Das hat mit der politischen Wirklichkeit in unserem Lande nichts zu tun. Es ist der alte Versuch der Konservativen, uns Sozialdemokraten in die Nähe der Kommunisten zu rücken.“123 Doch der Gegenangriff verpuffte. Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) wurde mit deutlichem Ergebnis wiedergewählt, die Union machte aus „Freiheit oder Sozialismus“ für ihre bundesweite Kampagne „Freiheit statt Sozialismus. Aus Liebe zu Deutschland“ und den Kanzler ereilten Warnungen, „nicht mit beiden Beinen in die Fußschlinge zu springen, die die CDU/CSU […] gelegt hat.“125 In Abstimmung mit seiner Partei, die die Kampagne mit „Befremden und in Sorge“126 zur Kenntnis nahm, begegnete Schmidt dem Slogan jedoch weiterhin offensiv, konterte die „Unanständigkeit“127 der Union alsbald im Bundestag, indem er die Unterstellung einer „‘soziale[n] Sicherheit auf Kosten der Freiheit‘ umkehrte und mehr Freiheit durch soziale Reformen proklamierte“128. Hoffnungen der Unionsparteien auf einen Fehler Schmidts oder der SPD im Umgang mit dem Begriff Sozialismus erfüllten sich nicht. Am 11. Juni 1976 gab der SPD-Parteivorstand schließlich die Musterargumentation für Redner und Multiplikatoren im anstehenden Bundestagswahlkampf heraus. Hierin erläuterte die SPD erstmals öffentlich, was es mit dem „Modell Deutschland“ auf sich hatte: „Sozialdemokraten gehen einen neuen Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. […] Unsere Alternative ist die Gesellschaft, die auf den drei Grundwerten des Godesberger Programms aufbaut: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität“129, heißt es einführend. Dann die Erklärung: „Das Modell Deutschland ist nichts Abgeschlossenes. Wir sagen ausdrücklich: ‚Weiterarbeiten am Modell Deutschland‘. Der Stolz auf das Erreichte darf nicht Anlaß zur Selbstgefälligkeit, zu Überheblichkeit oder zu dem Irrtum sein, man brauche nichts mehr zu tun.“130 Das Erreichte wurde in den bewährten fünf Punkten zusammengefasst, wo122 Vgl. HOLTZ-BACHA, Christina: Wahlwerbung als politische Kultur. Parteienspots im Fernsehen 1957-1998. Wiesbaden 2000, S. 119-123, hier bes. S. 119. 123 SCHMIDT, Helmut: Wahlkampfanzeige. In: Stern (14.04.1976). 124 Die CSU warb mit dem Slogan: „Deutschland vor der Entscheidung. Freiheit oder Sozialismus“ und implizierte eine Entscheidungsmöglichkeit zwischen zwei Gesellschaftsmodellen, während die CDU sich als Alternative zu einer bereits bestehenden, vermeintlich sozialistisch geprägten Regierung positionierte. Vgl. TOMAN-BANKE, Monika: Die Wahlslogans von 1949 bis 1994. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 51-52, 1994), S. 47-55, hier: S. 52. 125 Brief von Helmut Saake an Helmut Schmidt vom 14.05.1976. In: AdsD, 1/HSAA009985. 126 Protokoll über die Sitzung des SPD-Parteipräsidiums am 27.04.1976. In: AdsD, 1/HSAA006232. In dem Protokoll heißt es: „Das SPD-Präsidium fragt die Oppositionsparteien, im Verhältnis zu welchen Zuständen in der Bundesrepublik Deutschland sie sich als ‚freiheitliche Alternative‘ verstehen wollen. […] Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist die freiheitliche Alternative zu allen totalitären Staatsformen. Den aus dem Grundgesetz erwachsenen Verfassungsauftrag zu verwirklichen, ist allen demokratischen Parteien aufgegeben. Der Streit kann also nur um den besten Weg zu diesem gemeinsamen Ziel gehen.“ 127 Brief von Helmut Schmidt an Max Müller vom 01.06.1976. In: AdsD, 1/HSAA009985. 128 ZUNDEL, Rolf: Zweimal Verschnitt. In: Die Zeit (16.04.1976). Zum Umgang der SPD mit dem Slogan „Freiheit statt Sozialismus“, vgl. auch: HOLTZ-BACHA, Christina: Wahlwerbung als politische Kultur, S. 121; KALTEFLEITER, Werner: Vorspiel zum Wechsel. Eine Analyse der Bundestagswahl 1976. Berlin u. a. 1977, S. 159. 129 Parteivorstand der SPD (Hg.): Musterargumentation für Redner und Multiplikatoren im Bundestagswahlkampf 1976, S. 4-5. Bonn 1976. In: AdsD, 1/HSAA006454. 130 Parteivorstand der SPD (Hg.): Musterargumentation für Redner und Multiplikatoren, S. 12.
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bei entgegen der Einschätzung des Kanzlers, die bevorstehenden Wahlen würden maßgeblich von wirtschaftlichen Umständen beeinflusst,131 wieder die „erfolgreiche Verständigungspolitik“ an erster Stelle der Auflistung erscheint. Ein relativ großer Abschnitt wird der Verteidigung des „Modell Deutschland“Slogans gegenüber Chauvinismusvorwürfen eingeräumt. Fast beschwörend folgen Sätze aufeinander wie: „Wir fühlen uns nicht als ‚Nabel der Welt‘.“ „Es gibt für uns in der Bundesrepublik keinen Grund, gegenüber dem Ausland hochmütig oder selbstgefällig zu sein.“ „Wir wehren uns gegen jede Form deutschnationaler Überheblichkeit, die man manchmal auf Seiten der Opposition hört.“132 Sie klingen wie leise Zurücknahmen der grundlegenden Wahlkampfaussage: „Wir haben ein Deutschland geschaffen, das vielen schon als Modell gilt“, mit der hier, im Unterschied zu den bisherigen Entwürfen, erstmals die Person Helmut Schmidt deutlich in Verbindung gebracht wird. Entsprechend personalisiert dann die abschließende Botschaft des Papiers: „Auf Sozialdemokraten ist Verlaß. Unser Land braucht den Sozialdemokraten Helmut Schmidt als Bundeskanzler.“133 Eine Woche später, am 18./19. Juni 1976, präsentierten Willy Brandt und Helmut Schmidt in deutlicher Geschlossenheit das Regierungsprogramm der SPD auf dem Außerordentlichen Parteitag in Dortmund. Die Verabschiedung der 54-seitigen Vorlage wurde eingeleitet von den Reden des Parteivorsitzenden und des Kanzlers, die naturgemäß auf viele Textbausteine aus den Entwürfen der Wahlkampfplattform zurückgriffen. So sprach Brandt vom „Beispiel eines zukunftsbereiten und weltoffenen Deutschlands“, von einem „Modellstaat“134 Bundesrepublik als einer langfristigen Zielsetzung, der man näher gekommen sei. So gab Schmidt bei allem Stolz „auf unser Land, den Aufbau unserer Gesellschaft und unseres Staates, auf die Achtung und Freundschaft, die wir erworben haben“ zu bedenken, dass das Erreichte „nichts Endgültiges, nichts Vollkommenes“135 sei. Im Anschluss an den Parteitag in Dortmund nahm der Wahlkampf an Fahrt auf. Dass er bis heute als einer der härtesten in der Geschichte der Bundesrepublik gilt, lag vor allem an den konfrontativen Slogans der Union, denen die SPD mit ihrem „Modell Deutschland“ wenig entgegen zu setzen vermochte.136 Nach Ansicht des Politologen und früheren CDU-Wahlkampfmanagers Peter Radunski war der Modell-Gedanke noch zu sehr in den Ansätzen des Jahres 1969 „stecken geblieben“ und unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten nicht auf die veränderte politi-
131 Vgl. HERLT, Rudolf: Wird der Boom zum Bumerang? Der beginnende Aufschwung birgt Risiken. In: Die Zeit (30.04.1976). 132 Parteivorstand der SPD (Hg.): Musterargumentation für Redner und Multiplikatoren, S. 12. 133 Ebd., S. 83. 134 Bundesvorstand der SPD (Hg.): Weiterarbeiten am Modell Deutschland. Reden von Willy Brandt und Helmut Schmidt. SPD-Parteitag Dortmund, 18./19. Juni 1976. Bonn 1976, S. 6. 135 Ebd., S. 24. Eine komplette Vorlage von Schmidts Rede befindet sich in: AdsD, 1/HSAA009432. 136 Vgl. TOMAN-BANKE, Monika: Die Wahlslogans von 1949 bis 1994, S. 52; vgl. auch: HOLTZ-BACHA, Christina: Wahlwerbung als politische Kultur, S. 120; ELLWEIN, Thomas: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. 4. Auflage. Opladen 1977, S. 221; JÄGER, Wolfgang/LINK, Werner: Republik im Wandel. 1974-1982. Die Ära Schmidt (Geschichte der Bundesrepublik, Bd. 5/2). Stuttgart u. a. 1987, S. 47. Zur Wahlwerbung der SPD, FDP und CDU/CSU im Bundestagswahlkampf 1976, vgl. o. A.: Sehr im Dunkeln. In: Der Spiegel (13.09.1976).
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sche Gesamtsituation abgestimmt gewesen.137 Im Gegensatz dazu habe die CDU mit ihrem Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ zwei Begriffe gegenübergestellt, die tatsächlich auch von der Bevölkerung als starke Kontraste wahrgenommen wurden. Wie eine Umfrage des Allensbach-Instituts vom Winter 1975 ergeben hatte, war „Freiheit“ für die Mehrheit der Westdeutschen wieder ein „sympathischer Begriff“, während sie den Begriff „Sozialismus“ eindeutig „unsympathisch“ empfanden.138 Abbildung 2: Ausgewählte Plakate der großen Parteien im Bundeswahlkampf 1976
Quelle: Parteiarchive
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Weitere Umfragen legten zwar offen, dass der Slogan „Weiterarbeiten am Modell Deutschland“ nicht zwangsläufig implizierte, dass es bei der Bundestagswahl 1976 um eine Entscheidung für oder gegen ein sozialistisches Gesellschaftsmodell ging140 – wie es die Union unterstellte –, der Slogan erwies sich aber ohnehin als diffus und missverständlich. So berichtete ein SPD-Mitglied: „Bei Gesprächen mit unseren Freunden der Parteien des ‚Bundes‘ bin ich darauf hingewiesen worden, daß dringend erwünscht ein kurzes übersichtliches Papier darüber wäre, wie wir das ‚Modell Deutschland‘ begründen und warum wir damit in die Wahlauseinandersetzung gehen.“141 Grundsätzliche Nachfragen wie diese sollten sich in einer Phase, in der das Regierungsprogramm längst diskutiert und veröffentlicht worden war und die Regierung durch zeitlich abgestimmte Auftritte in der Öffentlichkeit eigentlich offensiv ihre Leistungen hervorheben wollte,142 erübrigt haben. Bei den Bundestagswahlen am 3. Oktober 1976 verlor die SPD ihre Position als stärkste Fraktion an die Union, die 48,6 Prozent der Stimmen errang und die SPD 137 Vgl. RADUNSKI, Peter: Wahlkämpfe. Moderne Wahlkampfführung als politische Kommunikation. München 1980, S. 105. 138 Vgl. Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 2172, November/Dezember 1975. In: NOELLE-NEUMANN, Elisabeth: Wahlentscheidung in der Fernsehdemokratie. Freiburg/Würzburg 1980, S. 130. 139 Quelle: Archiv für Christliche-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung (ACDP) Plakatsammlung 10-001: 1863; AdsD 6/PLKA 005303; ACDP Plakatsammlung 10-001: 1847; ACDP Plakatsammlung 10-001:1920. 140 Vgl. Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 3032, August 1976. In: NOELLE-NEUMANN, Elisabeth: Wahlentscheidung in der Fernsehdemokratie, S. 134; vgl. auch: o. A.: Politik mit falschen Zahlen. In: Der Spiegel (06.09.1976). 141 Interner Vermerk für Willy Brandt, Hans Koschnick, Helmut Schmidt und Holger Börner vom 01.07.1976. In: AdsD, 1/HSAA006223. 142 Vgl. Verteilerbrief Helmut Schmidts an die Bundesminister vom 26.07.1976, S. 2. In: AdsD, 1/HSAA009987.
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um genau vier Prozent distanzierte. Deren Koalitionspartner, die FDP, hatte sich im Wahlkampf auf eine „Strategie der Eigenständigkeit“143 verlegt, und mit dem Slogan „Leistung wählen“ um ihre Unterstützung als dritte Kraft geworben. Mit 7,9 Prozent trug sie zur knappen Mehrheit der sozialliberalen Regierung bei. Vor den Fernsehkameras gab sich Helmut Schmidt am Wahlabend zwar als „der Sieger, lachend, zähnebleckend“144, doch hinter den Kulissen begann in den Reihen der SPD schon die Ursachenforschung für das schlechte Abschneiden. Zum ersten Mal seit 1953 hatten die Sozialdemokraten keine Stimmen dazu gewonnen. Die Erklärung, wonach der eigene Reformeifer an den leeren Staatskassen erstickt sei, und somit vor allem die Weltwirtschaftskrise der sozialliberalen Koalition eine deutlichere Zustimmung versagt hätte, erschien nahe liegend, aber auch wie eine leichtfertige Ausrede. Gerade im Wahljahr 1976 hatte sich die Lage vorübergehend entspannt. In ihrer Analyse kamen Holger Börner und Hans Koschnick, stellvertretender Vorsitzender der SPD, wenig überraschend zu einer komplexeren Schlussfolgerung: Das Erscheinungsbild der Partei habe durch innere Konflikte und Nachlässigkeiten ihrer öffentlichen Amtsträger gelitten, zudem sei eine wachsende Distanz zu den neuen Lebensgewohnheiten vieler Bürger entstanden.145 Dies zeichnete sich auch im Auftreten Helmut Schmidts ab, der nach Einschätzung seiner Minister gegenüber den Wählern „allzu unterkühlt“ aufgetreten sei und „zu wenig fürs Gemüt“146 geboten habe. Vor allem seine Zielansprache an die junge Generation sei „ziemlich in die Hose gegangen“147, urteilten Wahlanalytiker, weil Schmidt immer wieder Redewendungen wie „die jungen Leute“ benutzt habe, die psychologisch distanzierend gewirkt hätten. Darüber hinaus sprachen Börner und Koschnick auch von einem Versagen des Slogans „Modell Deutschland“: Er habe den „Wertbezug sozialdemokratischer Politik nicht vermitteln“148 können. Als bloße Leistungsbilanz angelegt, habe die Kampagne der SPD nicht ausgereicht, um eine ähnliche Mobilisierung auszulösen wie die Union. Anders als „Freiheit statt Sozialismus“ sei das „Modell Deutschland“ öffentlich nicht zu einem Thema geworden, an dem sich „dichte und breite Kommunikation entwickeln“149 konnte. Dazu sei auch sein Bekanntheitsgrad zu gering geblieben: Im Juli 1976 hätten erst 19,7 % der Befragten den Slogan gekannt. Auch im Hauptwahlkampf von August bis Oktober sei diese
143 Zit. nach: TOMAN-BANKE, Monika: Die Wahlslogans von 1949 bis 1990, S. 53. Vgl. auch: Bundesvorstand der FDP (Hg.): Freiheit, Fortschritt, Leistung. Wahlprogramm zur Bundestagswahl 1976. Beschlossen auf dem Wahlkongress in Freiburg am 31.05.1976. In: Archiv des Liberalismus (ADL), Druckschriftenbestand, D1-182. 144 o. A.: „Hoffentlich hält das vier Jahre“. In: Der Spiegel (04.10.1976). 145 Vgl. MILLER, Susanne/POTTHOFF, Heinrich: Kleine Geschichte der SPD. Darstellung und Dokumentation 1848-1980. 4. Auflage. Bonn 1981, S. 235f. Miller und Potthoff beziehen sich auf: BÖRNER, Holger/KOSCHNICK, Hans: Der Bundestagswahlkampf 1976. Analyse und Folgerungen für die Arbeit der SPD. Bonn 1976. Abgedruckt im Anhang zum Protokoll der Tagung des SPD-Parteirats am 27./28.01.1977 in Bonn-Bad Godesberg. 146 o. A.: Koalition: ‚Jetzt müssen wir was machen‘. In: Der Spiegel (10.10.1976). 147 Erfahrungsbericht über die Wahlkampagne des Bundeskanzlers anlässlich der Bundestagswahl 1976 vom 15.12.1976. In: AdsD, 1/HSAA006454. 148 BÖRNER, Holger/KOSCHNICK, Hans: Bundestagswahlkampf 1976. Analyse und Folgerungen für die Arbeit der SPD. Bonn 1976, Anhang 2, S. 28. In: AdsD, 1/HSAA006458. Hierbei handelt es sich nicht um die Druckfassung, auf die sich Miller und Potthoff beziehen, vgl. Fn. 145. 149 Ebd., S. 11.
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Bekanntheit nur geringfügig angestiegen.150 Die inhaltliche Perspektive der Wahlkampfplattform und des Regierungsprogramms sei deshalb kaum vermittelt worden. Gerade im Bereich der unentschlossenen und schwach an die SPD gebundenen Wähler habe die „Kampfformel“ der Union deshalb punkten können.151 Wie die Journalistin Monika Toman-Banke bilanziert, können Wahlslogans zum langlebigen Symbol ihrer Zeit werden, wenn sie das, „was die Parteien und/oder die Öffentlichkeit bewegt, im Sinne der Realitätsverdichtung“152 zusammengefasst wiedergeben, oder schlicht gesagt: wenn sie den Nagel auf den Kopf treffen; beispielsweise wie der CDU-Slogan „Keine Experimente“ von 1957 oder der SPD-Slogan „Wir schaffen das moderne Deutschland“ von 1969. Ihre Langlebigkeit könne jedoch auch negativ ausfallen. Demnach würden Wahlslogans Symptome ihrer Zeit, wenn den Parteien die Realitätsverdichtung mit ihnen nicht gelänge, wenn sie gewissermaßen am Zeitgeist vorbei formulieren. Symbol oder Symptom – was von beidem trifft auf das „Modell Deutschland“ zu? Klafften Leitbild und Realität schon auseinander, fragt Andreas Rödder, als es für eine „bis dahin tatsächlich außergewöhnlich erfolgreiche Geschichte als Ideal festgeschrieben“153 wurde? Beruhte die SPD-Kampagne „Weiterarbeiten am Modell Deutschland“ auf Verklärungen und Missverständnissen? – Vorwarnungen über einen Fehlschlag hatten die Partei zumindest schon seit Sommer 1976 ereilt. In dem bereits zitierten Brief eines SPD-Mitglieds bestätigten sich die frühen Befürchtungen Brandts und Schmidts vor Chauvinismusvorwürfen aus dem Ausland: „Es besteht […] die Gefahr, daß auch hier wieder – wie bei der Diskussion um die ‚Radikalenfrage‘ – eine Mißdeutung durch eine Kampagne der kommunistischen Parteien, die leicht von den konservativen Kräften in Frankreich unterstützt werden könnte, planmäßig hervorgerufen und gegen uns ausgespielt wird. Unsere französischen Freunde haben soeben […] in 154 Brüssel darauf hingewiesen.“
Doch auch in der Bundesrepublik fassten Kritiker aus dem linken Spektrum den Slogan „Modell Deutschland“ als Steilvorlage für eine Abrechnung mit dem sozialliberal regierten und ihrer Ansicht nach auch geprägten Staat auf. Bevor skizziert wird, was sie unter der Modellhaftigkeit der Bundesrepublik verstanden, sollen im Folgenden die Positionen der SPD zum Thema Innere Sicherheit – Freiheit des Einzelnen in den Blick genommen werden, die sowohl im Regierungsprogramm, als auch in den Reden Willy Brandts und Helmut Schmidts auf dem Parteitag in Dortmund dargelegt wurden. Wie wurde die bisherige Regierungspolitik in dieser Hinsicht
150 Vgl. ebd., S. 13. Daran änderte offenbar auch nichts, dass eine Folge der WDR-Fernsehserie »Ein Herz und eine Seele« – bekannt durch Heinz Schubert alias „Ekel Alfred“ – unter dem Titel »Modell Tetzlaff« ausgestrahlt wurde. Die Folge vom 27. September 1976 handelt davon, dass ein amerikanischer Journalist die Tetzlaffs aufsucht, um sie als typisch deutsche Familie zu porträtieren. Seine Reportage soll als Hintergrundbericht für die bevorstehenden Bundestagswahlen dienen. Die Tetzlaffs sind bemüht, möglichst positive Eindrücke bei ihrem Beobachter zu hinterlassen. Weil sie sich vor dem Abschlussinterview in einem Nobel-Restaurant betrinken, sind ihren guten Vorsätzen allerdings Grenzen gesetzt. 151 Vgl. BÖRNER, Holger/KOSCHNICK, Hans: Bundestagswahlkampf 1976, S. 29. 152 TOMAN-BANKE, Monika: Die Wahlslogans von 1949 bis 1990, S. 55. 153 HERTFELDER, Thomas/RÖDDER, Andreas (Hg.): Modell Deutschland, S. 12. 154 Interner Vermerk für Willy Brandt, Hans Koschnick, Helmut Schmidt und Holger Börner vom 01.07.1976. In: AdsD, 1/HSAA006223.
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bilanziert? Von welchen Vorhaben oder Versprechen für die Legislaturperiode 1976 bis 1980 konnten sich Kritiker aus dem linken Spektrum angesprochen fühlen? 2.2 Das SPD-Regierungsprogramm 1976-1980 Die auf vier bis fünf Punkte verdichtete Leistungsbilanz der SPD, wie sie noch in den Entwürfen zur Wahlkampfplattform und in der Musterargumentation für Redner und Multiplikatoren nachzulesen war, gestaltete sich im Regierungsprogramm wesentlich ausführlicher. In nunmehr zehn Abschnitten versuchte die Partei zu veranschaulichen, warum die von ihr gemeinsam mit der FDP regierte Bundesrepublik einen Modellcharakter erworben habe, oder pathetischer formuliert: wie man ein Deutschland geschaffen habe, „auf das viele mit Recht stolz sind und das in West und Ost Respekt genießt“155: Das Panorama reichte von der Wirtschaftspolitik, die „sichere Arbeitsplätze und eine leistungsfähige Volkswirtschaft“ gewährleiste, über die Lage der öffentlichen Finanzen bis zur Außenpolitik der „aktiven Friedenssicherung und Verständigung“.156 Diese Aufteilung entsprach etwa dem Vorentwurf zur Wahlkampfplattform vom 23. Februar 1976, bei dem auch das Thema Innere Sicherheit schon einen Mittelplatz eingenommen hatte. Im Regierungsprogramm stand dieses Thema unter dem Leitgedanken „Den Rechtsstaat ausbauen und bewahren“ aber nun deutlich entfernt von den beiden Eckpfeilern Wirtschaftspolitik und Verständigungspolitik. Es ist fragwürdig, ob dieser Platz angemessen war, wenn man bedenkt, dass sich die Innere Sicherheit bereits im Frühjahr 1976 als das zweite große Sachproblem im Wahlkampf herauskristallisiert hatte.157 Anders herum betrachtet ist allerdings denkbar, dass es die SPD als das eigentliche Herzstück ihres Programms verstanden wissen wollte. In der Rede Willy Brandts gab es vier Passagen, mit denen er zu Fragen der Inneren Sicherheit Stellung nahm. Anders als man erwarten konnte, referierte er nicht über Gesetzgebungsmaßnahmen, sondern machte die Notwendigkeit eines stabilen Rechtsstaates mit innerem Frieden und gesicherter Ordnung aus dem Blickwinkel der Bürger plausibel. Anstelle der Terrorismusbekämpfung erklärte er so den Ausbau der inneren Freiheit zum „zweiten großen Auftrag“158 für die kommende Legislaturperiode. Brandt leitete die innere Freiheit „von der Liberalität und der Sicherheit im Inneren unseres Volkes“ ab. Auffällig ist, dass in dieser Passage nicht mehr vom Anspruch einer weitergehenden Demokratisierung die Rede war, wie zu Beginn der sozialliberalen Ära 1969, sondern von der Freiheit als „Wagnis“.159 Diese Position deckte sich mit Brandts Zustimmung zum Extremistenbeschluss von 1972, machte ihn jedoch angreifbar: Der SPD-Vorsitzende wusste um den Erfolg des Pfingstkongresses 1976, der bis heute als Höhepunkt der Bewegung gegen Berufsverbote gilt, und hatte von der Gründung eines Komitees der Sozialistischen
155 Bundesvorstand der SPD (Hg.): Weiterarbeiten am Modell Deutschland. Regierungsprogramm 1976-80. Beschluß des Außerordentlichen Parteitages in Dortmund, 18./19. Juni 1976. Bonn 1976, S. 53. 156 Schon im Inhaltsverzeichnis erscheinen diese Leitgedanken. Vgl. ebd., S. 6-7. 157 Vgl. ANDERSEN, Uwe/GROSSER, Dieter/WOYKE, Wichard: Bundestagswahl 1976: Parteien und Wähler, politische Entwicklung, Probleme nach der Wahl. Opladen 1976, S. 56. 158 Bundesvorstand der SPD (Hg.): Weiterarbeiten am Modell Deutschland. Reden, S. 9. 159 Vgl. dazu auch: METZLER, Gabriele: Der lange Weg zur sozialliberalen Politik. Politische Semantik und demokratischer Aufbruch. In: KNOCH, Habbo (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl, S. 157-180, hier: S. 159.
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Partei Frankreichs (PS) zur „Verteidigung der bürgerlichen und beruflichen Rechte in der Bundesrepublik Deutschland“ erfahren.160 Diese Form der Kritik wies er jedoch als antidemokratisch zurück: „[…] wenn wir das Prinzip nicht preisgeben wollen, dass das Volk selbst bestimmt, wie es regiert werden will“, so Brandt, dürfe nicht zugelassen werden, „dass aus geistiger Freiheit und innerer Sicherheit ein Gegensatz gemacht wird. Beides formt sich zu dem, was wir unter innerer Freiheit verstehen.“161 In Bezug auf die Kampagne „Freiheit statt Sozialismus“ äußerte er: „Man sollte unsere Bürger und uns verschonen von törichtem Volksfrontgerede. Die Sozialdemokraten haben gerade auch in der Auseinandersetzung mit den Kommunisten für die Freiheit gestritten.“ Entgegen der antikommunistischen Propaganda der Union, habe sozialdemokratische Politik, „überall dort, wo sie sich als Gestaltung sozialer Demokratie niederschlug, Kommunisten überflüssig gemacht.“ An die aufkommende Alternativbewegung gerichtet sagte Brandt: „Da gibt es, wie wir wissen, die Sehnsucht nach dem politikfreien Leben. In der Tat, wird mancher sagen, so übel wäre das nicht: Ein Wochenende mehr, den Abend frei zu haben vom vermeintlich grauen Ernst der Politik […].“ Doch gerade mit dem Ausstieg des Bürgers aus der Politik werde die Gefahr herauf beschworen, dass sich „Politik […] zum abgekarteten Spiel einer selbsternannten Führungselite“162 entwickle. Bei aller Sehnsucht nach Individualität und Freiheit dürfe deshalb nicht vergessen werden, dass „der demokratisch verfasste Staat […] eine Privatheit des Einzelnen“ überhaupt erst möglich mache. Insgesamt warb Brandt also darum, an der Gestaltung einer liberalen Demokratie aktiv teilzunehmen, womit gleichzeitig zur Stabilisierung der Inneren Sicherheit beigetragen würde. Um Bezüge zum Regierungsprogramm herzustellen, musste Helmut Schmidt in seiner Rede zwangsläufig konkreter werden, die aktuelle Problematik der Inneren Sicherheit in der Bundesrepublik benennen: Eingeleitet wurde das Thema von ihm über harte Kritik an der Union. Sie habe, anders als sie in ihrer Kampagne verkündete, mit „Liberalität wenig im Sinn“. Tatsächlich hätten CDU und CSU in den von ihnen regierten Bundesländern „Gesinnungsschnüffelei“ und „politische Kriminalisierung“ betrieben, während der Extremistenbeschluss in SPD-regierten Ländern nicht mehr angewandt werde. Zugleich einschränkend und an die Bewegung gegen die Berufsverbote gerichtet, sagte Schmidt: „Natürlich machen wir keine Feinde unserer grundgesetzlichen Ordnung zu staatlichen Hoheitsträgern.“ Der Protest gegen die „fälschlich sogenannten Berufsverbote“ sei Beispiel dafür, wie das „Klima der Unfreiheit“, das die Union mit ihrer Politik forciere, den „Extremisten“ rundweg zum Vorwand für ihre Aktivitäten gereiche. Auf diese Weise habe sich die Union auch zum Stichwortgeber für antideutsche „Agitation im Ausland“163 gemacht. 160 Vgl. Interne Vorlage für die Sitzung des Präsidiums der SPD am 29.06.1976 vom 28.06.1976, S. 1. In: AdsD, 1/HSAA006233. 161 Bundesvorstand der SPD (Hg.): Weiterarbeiten am Modell Deutschland. Reden, S. 9. 162 Ebd., S. 15-18. 163 Ebd., S. 37. Schmidt bezieht sich auf ein Gespräch zwischen Willy Brandt und François Mitterrand im Sommer 1976, in dem der französische Ministerpräsident von „Ansätze[n] zu einer antideutschen Stimmung im Ausland“ sprach. Vgl. Interne Vorlage für die Sitzung des Präsidiums der SPD vom 28.06.1976, S. 2. In: AdsD, 1/HSAA006233. Zur antideutschen Stimmung in Frankreich Mitte der Siebziger Jahre, vgl. auch: BREDTHAUER, Karl Dietrich: Modell Deutschland? Aus Liebe zu Deutschland? Scheinalternativen und Alternativen im Wahljahr 1976. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (Bd. 21/II, 1976), S. 975-997. hier: S.
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Dem Rundumschlag folgte eine knappe Bilanz der Politik zur Inneren Sicherheit: „Wir haben seit 1969 unser inneres Sicherheitssystem energischer und zielstrebiger ausgebaut als jede andere Bundesregierung zuvor“, betonte Schmidt und nannte als Musterbeispiele den Ausbau des Bundeskriminalamts zu einer „intakte[n], einsatz- und leistungsfähigen Organisation“, die Neuordnung der Nachrichtendienste sowie die Welle von Festnahmen zahlreicher politisch motivierter Gewalttäter, bei der auch der harte Kern ihrer kriminellen Vereinigungen „hinter Schloß und Riegel“164 gebracht worden sei. In diesem Zusammenhang wies er ausdrücklich daraufhin, dass es nicht zu der „Terroristenhysterie“ kommen werde, in die die Unionsparteien die Bevölkerung angeblich hineinmanövrieren wollten: „Dieser Staat ist stabil, er ist gefestigt; unsere Freiheit ist stabil, und sie ist gefestigt.“165 Im Regierungsprogramm ist der Abschnitt zur Inneren Sicherheit mit drei Leitgedanken aufgegliedert, die so auch in beiden Reden zum Ausdruck kamen: „Innere Freiheit und innere Sicherheit gehören zusammen“, „Leistungen für die Innere Sicherheit“, „Innere Sicherheit – kein Thema für Angst- und Panikmache“. Unter dem ersten Leitgedanken versammelte die SPD grundlegende Aussagen zu ihrem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Sie verwies auf die lange sozialdemokratische Tradition im Kampf um rechtsstaatliche Freiheiten im Geiste der Liberalität und Toleranz. Sie bekannte sich zu einer wehrhaften Demokratie, in der sich Sicherheit und Freiheit bedingten, und beschrieb die demokratische Ordnung der Bundesrepublik als „gefestigt, aber dynamisch genug, Angriffe auf die Grundlagen des Rechtsstaats mit verfassungsmäßigen Mitteln abzuwehren.“ Daneben stehen Ankündigungen, „den Rechtsstaat zu bewahren und auszubauen, unsere Rechtsordnung immer humaner und sozial gerechter auszugestalten“ sowie „auf dem Gebiet der allgemeinen Kriminalität […] durch gezielte Maßnahmen der Gesellschaftspolitik, vor allem der Sozial-, Jugend- und Familienpolitik“166, Prävention zu betreiben. Besonders in diesem Punkt schien der Einfluss des BKA-Präsidenten Horst Herold auf, der sich als aktives SPD-Mitglied für eine „’gesellschaftssanitäre‘ Rolle der Polizei“167 stark machte. Unter dem zweiten Leitgedanken folgt eine Auflistung von Maßnahmen, die nach Ansicht der SPD zur Stärkung des polizeilichen Fahndungsapparates und zur Verbesserung der Strafverfolgung beigetragen hätten:168 Allen voran der Ausbau des Bundeskriminalamts, dessen Finanzmittel sich seit 1969 von 22,4 Mio. DM auf 130,9 Mio. DM im Jahre 1975 erhöht hatten und das im Zuge einer umfassenden Personalaufstockung von 933 auf 2.237 Mitarbeiter innerhalb dieses Zeitraums schließlich auch um eine Spezialabteilung zur Terrorismusbekämpfung erweitert worden war; zweitens die Straffung und Beschleunigung der Strafverfahren; drittens die verstärkte internationale Zusammenarbeit zur übergreifenden Fahndung
978f.; o. A.: ‚Diese Deutschen sind gefährlich‘. Interview mit General François Binoche. In: Der Spiegel (22.09.1975). 164 Bundesvorstand der SPD (Hg.): Weiterarbeiten am Modell Deutschland. Reden, S. 38. 165 Ebd., S. 45. 166 Bundesvorstand der SPD (Hg.): Weiterarbeiten am Modell Deutschland. Regierungsprogramm 1976-80, S. 38. 167 SCHENK, Dieter: Der Chef. Horst Herold und das BKA. München 2000, S. 145. Vgl. hier auch: S. 189-192. 168 Vgl. Bundesvorstand der SPD (Hg.): Weiterarbeiten am Modell Deutschland. Regierungsprogramm 1976-80, S. 39.
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nach Gewalttätern und zur Erleichterung von Auslieferungsverfahren. „Neuen Herausforderungen“, wie Wirtschaftskriminalität, Umweltvergehen, Geiselnahmen beziehungsweise Luftpiraterie oder kriminelles Zusammenwirken von einzelnen Anwälten und Terroristen in der Untersuchungshaft, sei mit Gesetzesbeschlüssen begegnet worden. „Übertriebene und der Liberalität unseres Staates abträgliche Forderungen der CDU/CSU-Opposition“ habe man hierbei abwehren können. Zur Senkung der Rückfallkriminalität sei mit der Strafvollzugsreform ein wichtiger Schritt unternommen worden, da das „Bemühen um wirksame und dauerhafte Wiedereingliederung des Straftäters in die Gemeinschaft“ nun gesetzlich gestärkt sei. Unter dem dritten Leitgedanken, „Innere Sicherheit – kein Thema für Angstund Panikmache“, suchte die SPD die deutliche Abgrenzung zur CDU, indem sie ihr auf der einen Seite vorwarf, „das berechtigte Verlangen unserer Bürger nach innerer Sicherheit für ihr Geschäft mit der Angst“169 zu missbrauchen, und auf der anderen Seite sich selbst zum Garanten für den Schutz des Bürgers vor Kriminalität und für die rechtsstaatliche Gewährleistung seiner Grundrechte erklärte. In den Mittelpunkt des „Kampfes“170 um Innere Sicherheit wurde die Frage nach dem Umgang mit politischer Kriminalität gestellt. Hier könne statt Hysterie vor allem die freie Diskussion in „liberaler Atmosphäre“ helfen, all jene „ins Unrecht“ zu setzen, „die anderen ihre Meinung durch Terror aufzwingen wollen.“ Nur in einer solchen Atmosphäre bestünde die Chance, „potentielle Sympathisanten an die freiheitlichdemokratische Ordnung zu binden und wirkliche Sympathisanten zum Umdenken zu veranlassen.“ An die Berufsverbotsgegner gerichtet betonte die SPD, dass der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat von den Angehörigen des öffentlichen Dienstes erwarten könne, „daß sie sich aktiv für unsere freiheitliche Grundordnung einsetzen.“ 1972 hätte die damalige Bundesregierung unter Willy Brandt genau aus diesem Grund den Versuch der Ministerpräsidenten der Länder mitgetragen, „ein einheitliches Verwaltungshandeln in der Feststellung der Verfassungstreue im einzelnen Falle herzustellen.“ Dies sei eine rechtsstaatlich einwandfreie gesetzliche Lösung gewesen, die „jedoch durch die CDU/CSU-Opposition im Bundesrat verhindert“171 wurde. Die SPD habe 1975 schließlich eigene Grundsätze zur Überprüfung der Verfassungstreue beschlossen, welche seitdem für Sozialdemokraten in Bund, Ländern und Gemeinden verbindlich wären. Wie diese Grundsätze aussahen, wie sie sich von denen des Ministerpräsidentenbeschlusses von 1972 unterschieden und was sie rechtsstaatlich einwandfrei machte, wurde nicht näher erläutert. In der Hauptsache zeigte sich das Umdenken darin, dass in den SPD-regierten Bundesländern nunmehr auf die Regelanfrage beim Verfassungsschutz verzichtet und die Verfassungstreue eines Bewerbers solange vermutet wurde, wie sie nicht durch besondere Aktivitäten für eine verfassungsfeindliche Partei oder Organisation in begründeten Zweifel gezogen werden konnte. Insgesamt machen die Ausführungen zur Inneren Sicherheit einen oberflächlichen und wenig zukunftsorientierten Eindruck. Es handelt sich tatsächlich mehr um eine Leistungsbilanz als um eine Ankündigung von Vorhaben, wie sie ein Regierungsprogramm erwarten ließ. Zum Vergleich: Im Wahlprogramm des Koalitionspartners FDP werden die bisherigen Maßnahmen zur Inneren Sicherheit in einem kurzen Absatz zusammengefasst, während die Liste von Vorhaben und Forderungen an die künftige Bundesregierung ganze neun Punkte umfasst, vom Schutz 169 Ebd., S. 39f. 170 So der Ausdruck der SPD, vgl. ebd. 171 Ebd.
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der Privatsphäre des Bürgers, insbesondere durch „Aufbau eines wirksamen Datenschutzes“, bis zum „besseren Rechtsschutz für den Bürger durch Vereinheitlichung der Gerichtsorganisation“172. Analog zur SPD trat die FDP für die Überprüfung der Verfassungstreue bei Bewerbern um Stellen im öffentlichen Dienst nach den Grundsätzen von 1975 ein, erläuterte ihrerseits jedoch, zu welchem Verfahrensablauf dies konkret führte: „Einzelfallprüfung, Anhörung des Bewerbers, Abstellen auf gerichtsverwertbare Tatsachen, schriftliche Begründung einer Ablehnung auf Antrag des Bewerbers und Entscheidung in Zweifelsfällen durch die obersten Dienstbehörden.“ Deutlich machte die FDP auch ihre Haltung zur Zukunft der Inneren Sicherheit: Der „Ausbau der Sicherheitseinrichtungen“ müsse fortgesetzt werden, um international organisierte Kriminalität wie auch internationalen Terrorismus besser bekämpfen zu können. Getreu ihrem Grundsatz: „Kritik an Staat und Gesellschaft ist ein Lebenselement der Demokratie“, gab sie an anderer Stelle ein klares Bekenntnis zur Meinungs- und Informationsfreiheit, die gestärkt und gesichert werden müssten.173 2.3 Das „Modell Deutschland“ aus linker Sicht Der Überblick hat gezeigt, dass die Innere Sicherheit keinesfalls das Herzstück oder Schwerpunktthema der „Modell Deutschland“-Kampagne war. Die SPD nutzte den Programmpunkt nicht, um etwa die Vision eines Sicherheitsstaates zu präsentieren, sondern hauptsächlich dazu, ihre Haltung zum Extremistenbeschluss zu verteidigen, den Protest, der sich gegen ihn richtete, als fehlgeleitet zu charakterisieren und die bisherigen Leistungen in der Terrorismusbekämpfung hervorzuheben. Warum also wurde das „Modell Deutschland“ von Kritikern aus dem linken Spektrum mit Illiberalität und Repressivität assoziiert? Lag hier nur eine Fehldeutung vor, wurde der „Modell“-Anspruch missverstanden? Oder waren ihre Vorwürfe grundsätzlicher Natur, also gegen die sozialliberale Politik insgesamt gerichtet, die sich womöglich in der Praxis anders gestaltete als in der Theorie? Antworten darauf sollen die folgenden Abschnitte liefern. Als Quellen werden Monografien und Aufsätze herangezogen, die als linke Repliken auf den „Modell Deutschland“-Entwurf gelesen werden können. Das heißt, die Texte müssen sich inhaltlich auf den Wahlslogan und das Regierungsprogramm beziehen, zeitnah zum Bundestagswahlkampf 1976 entstanden sein und von Autoren stammen, die dem linken Spektrum zugeordnet werden können. Diese Kriterien erfüllen Karl Dietrich Bredthauers »Modell Deutschland? Aus Liebe zu Deutschland? Scheinalternativen und Alternativen im Wahljahr 1976«, Ernest Mandels »Modell Deutschland? Die Bundesrepublik als wirtschaftliche Großmacht in Europa« und Wolf-Dieter Narrs »Die Bundesrepublik Deutschland – Modell einer nachliberalen Gesellschaft«, drei Aufsätze, die in Zeitschriften beziehungsweise Sammelbänden erschienen sind.174 Als Interview geplant, aber formal einem Aufsatz 172 Bundesvorstand der FDP (Hg.): Freiheit, Fortschritt, Leistung. Wahlprogramm zur Bundestagswahl 1976, S. 7f. 173 Vgl. ebd., S. 12. 174 Siehe Fn. 163: BREDTHAUER, Karl Dietrich: Modell Deutschland?; MANDEL, Ernest: Modell Deutschland? Die Bundesrepublik als wirtschaftliche Großmacht in Europa. In: GRUBE, Frank /RICHTER, Gerhard (Hg.): Der SPD-Staat. München 1977, S. 48-61; NARR, WolfDieter: Die Bundesrepublik Deutschland – Modell einer nachliberalen Gesellschaft. In: Rotbuch Verlag (Hg.): Die Linke im Rechtsstaat. Bd. 2. Berlin 1979, S. 8-33.
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entspricht die Stellungnahme der RAF zu ihrer strategischen und politischen Situation vom Juli 1976.175 Hinzu kommen folgende Monografien: Frank Haenschkes »Modell Deutschland. Die Bundesrepublik in der technologischen Krise«, Joachim Hirschs »Das ‚Modell Deutschland‘, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen«, Gerhard Kades »Die deutsche Herausforderung. ‚Modell Deutschland‘ für Europa?«, Winfried Thomsens »Modell Deutschland. Jahrbuch für vaterlandslose Geselligkeit« sowie die Gemeinschaftsarbeit von Klaus Farin und Hans-Jürgen Zwingmann mit dem Titel: »Modell Deutschland? Berufsverbote«.176 Eine Gegenprobe wäre zum Beispiel Rolf Gössners Aufsatz »Der unheimliche Aufstieg des präventiven Sicherheitsstaates« aus dem Jahre 1988,177 in welchem der Rechtswissenschaftler den Beitrag Joachim Hirschs wieder aufgreift und auf die „Krisenbereinigung und Herrschaftssicherung“178 der Großen wie der sozialliberalen Koalition zurückblickt. 2.3.1 Absage an den Modell-Anspruch Als erste gezielte Replik auf den Slogan „Modell Deutschland“ kann der Aufsatz von Karl Dietrich Bredthauer betrachtet werden. Er erschien noch während des Wahlkampfes in der Septemberausgabe der »Blätter für deutsche und internationale Politik«. Bei den so genannten „Blättern“ handelte es sich in den Siebziger Jahren um eine „’kryptokommunistische‘ Bündniszeitschrift, die einem weiten Kreis von Autoren offen stand.“179 Kryptokommunistisch wurde sie deshalb genannt, weil sie im Verlag Pahl-Rugenstein erschien, der finanziell „gleichsam am Tropf der SED und der DKP“180 hing, wie der Historiker Klaus Naumann es formuliert. Als Mitherausgeber war seinerzeit Helmut Ridder verantwortlich. Der Verfassungsrechtler
175 Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in West-Europa (Hg.): Texte : der RAF. Lund 1977, S. 261-303. 176 HAENSCHKE, Frank: Modell Deutschland? Die Bundesrepublik in der technologischen Krise. Reinbek b. Hamburg 1977; HIRSCH, Joachim: Das ‚Modell Deutschland‘, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. Frankfurt a. M. 1980; KADE, Gerhard: Die deutsche Herausforderung. ‚Modell Deutschland‘ für Europa? Köln 1979; FARIN, Klaus/ZWINGMANN, HansJürgen (Hg.): Modell Deutschland? Berufsverbote. Karlsruhe 1978; THOMSEN, Winfried: Modell Deutschland. Jahrbuch für vaterlandslose Geselligkeit. 666 Radikalauer. Hamburg 1978. 177 GÖSSNER, Ralf: Der unheimliche Aufstieg des präventiven Sicherheitsstaates. Einführende Kurz-Geschichte einer blühenden Karriere. In: Ders. (Hg.): Widerstand gegen die Staatsgewalt. Handbuch zur Verteidigung der Bürgerrechte. Hamburg 1988, S. 17-30. Außerdem unberücksichtigt blieben: ALTVATER, Elmar: Deutschland – eine Modellskizze. In: GREMLIZA, Hermann L./HANNOVER, Heinrich (Hg.): Die Linke. Bilanz und Perspektiven für die 80er. Hamburg 1980, S. 39-56; JUNNE, Gerd: Internationalisierung und Arbeitslosigkeit. Interne Kosten des ‚Modell Deutschland‘. In: Leviathan (Nr. 7, 1979); PESTEL, Eduard: Das Deutschland-Modell. Herausforderungen auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Stuttgart 1978. 178 GÖSSNER, Ralf: Der unheimliche Aufstieg, S. 20. Die weiteren Gründe: Altvaters Aufsatz erschien relativ spät und lehnt sich im Wesentlichen an die Aufsätze Mandels, Narrs und die Monografie Hirschs an. Gerd Junne und Eduard Pestel können nicht dem linken Spektrum zugeordnet werden. Pestel war CDU-Mitglied. 179 NAUMANN, Klaus: Nachrüstung und Selbstanerkennung. Staatsfragen im politisch-intellektuellen Milieu der ‚Blätter für deutsche und internationale Politik‘. In: GEPPERT, Dominik/HACKE, Jens (Hg.): Streit um den Staat, S. 269-289, hier: S. 284. 180 Ebd., S. 271.
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gilt als „einer der Exponenten“181 der Anti-Notstandsbewegung und trug mit dazu bei, dass sich die Blätter zu einem der führenden Organe der außerparlamentarischen, vor allem dogmatischen Linken entwickelten. Auch Karl Dietrich Bredthauer fungierte in den Siebziger Jahren und weit darüber hinaus als Mitherausgeber der Zeitschrift. Er hatte früher dem SDS angehört und sich in dessen orthodox-marxistischem Flügel gegen die antiautoritäre Fraktion stark gemacht. Seit den Sechziger Jahren hatte er den Charakter der Blätter wesentlich mitgeprägt. Als einer der leitenden Redakteure stimmte er die inhaltliche Gestaltung regelmäßig mit der SED ab, die dafür bereitwillig zahlte und obendrein eine kleine Verlagslandschaft rund um den Bonner Pahl-Rugenstein unterhielt.182 Bredthauers Aufsatz ist als kritischer Kommentar zur Bundestagswahl 1976 angelegt. Er fragt in einem breiteren Rahmen nach den Alternativen, die die drei großen Parteien ihren Wählern in Aussicht stellten, und hinterfragt zuspitzend Anspruch und Wirklichkeit des „Modells Deutschland“. Bereits eingangs verdeutlicht Bredthauer, worauf er hinaus will: Anders als Union und SPD es mit ihren Wahlkampfstrategien vorgaukelten, gehe es für den Wähler eben nicht um eine Entscheidung zwischen Sozialismus und Freiheit, sondern um die Wahl zwischen „Scheinalternativen“. Ebenso gehe es nicht darum, sich für ein „Modell Deutschland“ zu entscheiden oder es abzuwählen. Seine Skepsis begründet der linke Publizist mit einer „illusionslosen“ Skizze des Alltags, der dem beworbenen Modell gegenüberstünde: „Stagnation und sich häufende Kollapse in wesentlichen Bereichen der Wirtschaft, Gewöhnung an Dauerarbeitslosigkeit auf Jahre hinaus, anhaltende Inflation bei Stagnation, tendenziell sogar Abbau der Realeinkommen, Abbau der Leistungen der kommunalen und anderen öffentlichen Dienste bei gleichzeitigen drastischen Gebührenerhöhungen auf breiter Front, Zusammenbruch der Bildungsreform, gleichzeitig Wogen eines neuen McCarthyismus, […] Leistungsangst und Duckmäusertum als Bedrohung ganzer Schüler-, Studenten- und Lehrlingsgenerationen […].“183
Derlei sozialpsychologische Erscheinungen führt Bredthauer auf eine Ausweitung der „Berufsverbote“, eine zunehmende Diskriminierung von Streikenden sowie auf Gesetzesverschärfungen zurück, die die „demokratische[n] Rechte beschneiden“ – allen voran „Einschüchterungsparagraphen wie de[r] §88“184. In diesem Ursachengeflecht sieht Bredthauer die zwei Leitgedanken seines Artikels verknüpft: Weil den Wählern von keiner der drei großen Parteien Entscheidungsalternativen im Hinblick „auf tiefgreifende Probleme wie die Massenarbeitslosigkeit oder der Anteil des Rüstungshaushalts“185 angeboten würden, rege sich in der Bevölkerung ein „systemkritisches Alternativdenken“. Zum Beispiel in Fragen der Abrüstung: So 181 SPERNOL, Boris: Notstand der Demokratie. Der Protest gegen die Notstandsgesetze und die Frage der NS-Vergangenheit. Essen 2008, S. 61. Hier auch mehr zu Ridders Rolle in der AntiNotstandsbewegung, vgl. S. 61-68. 182 Vgl. BARON, Udo: Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei ‚Die Grünen‘. Münster u. a. 2003, S. 58. Laut Historiker Udo Baron war Bredthauer Ende der Siebziger Jahre Chefredakteur der Blätter. Vgl. ebd., S. 80. 183 BREDTHAUER, Karl Dietrich: Modell Deutschland? Aus Liebe zu Deutschland?, S. 975-977. 184 Ebd., S. 977. Gemeint ist eigentlich der §88a: die Befürwortung verfassungsfeindlicher Straftaten. Der Paragraph wurde 1980 wieder abgeschafft. 185 Ebd., S. 979.
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hätten am 22. Mai 1976 in Bonn über 40.000 Bürger, Gewerkschafter, Geistliche, Handwerker, Hausfrauen, Schüler für die Vertiefung der Ost-West-Entspannung durch „Abrüstungsschritte“ demonstriert. Als weiteres Beispiel nennt Bredthauer die „Berufsverbote“: Ermutigt „durch wachsende Resonanz im In- und Ausland“ breite sich der Protest gegen den Extremistenbeschluss quer durch Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Bürgerinitiativen aus. Auch in Fragen der Umweltzerstörung würden immer mehr Bürgerinitiativen unterschiedlichster sozialer und politischer Prägung gegen „Industrie, Behörden und etablierte Parteien“ mobil machen, um ihre Interessen zur Sprache zu bringen. Unterm Strich stellt Bredthauer klar, dass er in den Wahlslogans des Jahres 1976 nur austauschbare Etiketten sieht. Egal, ob ein Wähler sich für die Union, die SPD oder die FDP entscheide, handele es sich doch nur um verschiedene „Gesichter und Varianten der Systemstabilisierung“186. „Was also tun?“ fragt Bredthauer abschließend und gibt eine deutliche Wahlempfehlung für die DKP, weil „letzten Endes auch bei Bundestagswahlen einmal […] sichtbar gemacht werden“ müsse, dass es zu der „weitaus durchsichtiger als in früheren Wahljahren gewordenen Kapitalabhängigkeit aller Bonner Parteien eine eigenständige demokratische Alternative“187 gebe. Ergänzend zu Bredthauers Aufsatz erschien in derselben Ausgabe der »Blätter für deutsche und internationale Politik« ein Aufsatz von Karl Unger,188 in welchem die sozialliberale Ära unter dem Aspekt der individuellen Freiheit bilanziert wurde: „Unter einem Bundeskanzler Brandt“, so der linke Publizist, sei „das schon sattsam bekannte Muster der Einschränkungen der Bürgerfreiheit weiterpraktiziert“189 worden. Aufhänger dieses Vorwurfs sind der „Ministerpräsidentenbeschluß zur Radikalenfrage“, der zu „Schnüffelei und Duckmäusertum“ geführt habe, die „Änderung des Grundgesetzes von 1972, wo die Rechte der Staatsschutzorgane und des Bundesgrenzschutzes sowie der Polizei wesentlich erweitert wurden“, sowie die „52 seit 1969 erlassenen Gesetze zur ‚inneren Sicherheit‘.“ „Als Gegenkraft“ dieser Entwicklung sieht Unger, analog zu Bredthauer, die „breiter werdende demokratische Bewegung“ in der Bundesrepublik in Form von „gewerkschaftlichen Kämpfen, Berufsverbotskomitees, Aktionen für Abrüstung und Entspannungsfortschritt, […] zahlreich[e] Bürgerinitiativen usw.“190 Während in Bredthauers Aufsatz eine grundsätzliche Ablehnung des politischen Systems der Bundesrepublik zum Tragen kommt und einer Auseinandersetzung mit den Wahlargumenten der Parteien aus dem Weg gegangen wird, versucht Ernest Mandel in seinem Aufsatz für den Band »Der SPD-Staat« immerhin, die Kanzlerpartei beim Wort zu nehmen: Er fragt nach, worin die Modellhaftigkeit der Bundesrepublik bestehen könnte. Nach einer Rekapitulation der Geschichte der SPD seit 1945 kommt der bekannte Wirtschaftswissenschaftler mit marxistischer Überzeugung zu demselben Schluss wie Bredthauer – nämlich dass die Sozialdemokratie sich „dem gebietenden Zwang der Kapitalinteressen genauso wenig entziehen kann wie irgendeine andere
186 Ebd., S. 986-988. 187 Ebd., S. 992. 188 UNGER, Karl: Die Bundesdeutschen und ihre Freiheit. Anmerkungen zu Anspruch, Realität und Interesse. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (Bd. 21/II, 1976), S. 998-1007. 189 Ebd., S. 1006. 190 Ebd., S. 1007.
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Regierungspartei“191. Die im Regierungsprogramm präsentierte Erfolgsbilanz verneint Mandel nicht völlig. Seiner Ansicht nach beschränkt sie sich allerdings darauf, dass „der westdeutsche Kapitalismus die Wirtschaftskrise 1974/75 besser überstanden hat als seine wichtigsten Konkurrenten“192. Dass dies ausgerechnet einer sozialliberalen Regierung zu verdanken war, betrachtet der bekennende Trotzkist als Beleg dafür, dass die „einstmals sozialistisch-antikapitalistische Sozialdemokratie“ in die „Rolle eines Konkursverwalters, der den Kapitalismus über gefährliche Krisen hinwegretten soll“193, geschlüpft sei. Zwei Faktoren hätten hierbei begünstigend mitgewirkt: Zum einen, dass die Wirtschaft der Bundesrepublik auf Reserven zurückgreifen konnte, die aus der „überdurchschnittlichen Wachstumsrate der Kapitalakkumulation, der Innovation und der Arbeitsproduktivität“ der Wirtschaftswunderzeit resultierten. Zum anderen, dass die bundesdeutsche Arbeiterbewegung aus historischen Gründen „entpolitisierter und an klassenbewußten Kadern und breiten Schichten mit kämpferischem Selbstvertrauen relativ ärmer ist“ als etwa in Frankreich oder Italien. Gerade dieses Defizit hätte es der SPD leicht gemacht, den Arbeitgebern Mitte der Siebziger Jahre verminderte Sozialleistungen und stagnierende Realeinkommen zuzumuten. Folgen dieser Politik seien ein verstärkter Kaufkraftschwund und wachsende Erwerbslosenzahlen. Mandel schlussfolgert: „Anstatt eines auf das Ausland übertragbaren ‚Modells Deutschland‘ haben wir einen Sonderfall, der sich von gegenläufigen Tendenzen im übrigen Europa (mit Ausnahme einiger kleinerer Länder) abhebt.“194 Damit widerspricht er der Grundformel des Regierungsprogramms, wonach die sozialliberale Regierung ein Deutschland geschaffen hätte, „das vielen schon als Modell gilt.“195 Deutlicher als Bredthauer macht Mandel, dass der „Ausbau des ‚starken Staates‘“ auf die strukturell bedingte Verschränkung von Politik und Wirtschaft zurückzuführen sei. Die „immer offener zutage tretende repressive Tendenz“ habe nichts mit der Bedrohung durch den Terrorismus zu tun. Ursache sei vielmehr die „wachsend[e] Unfähigkeit des spätkapitalistischen Wirtschaftsmanagements, kämpferische Gewerkschaften, selbsttätige Lohnabhängige, tatsächliche Tarifautonomie und uneingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit zu dulden.“196 Mandel wagt die Prognose, dass die „explosiven Gesellschaftskonflikte in Südeuropa […] nicht ohne Auswirkungen“ auf die Bundesrepublik bleiben werden. Für diesen Fall befürchtete er eine schärfere Polarisierung „in der politischen Landschaft überhaupt wie innerhalb der SPD und des DGB“197. Auf solche vorausblickenden Analysen ist der gesamte Band angelegt, in dem Mandels Aufsatz im Sommer 1977 erschien. Seine Herausgeber, die Politologen Frank Grube und Gerhard Richter, beabsichtigten, „Autoren mit durchaus konträren politischen Positionen Gelegenheit zu geben, Entwicklungstendenzen gegenwärtiger Partei- und Regierungspraxis in der Bundesrepublik zu analysieren.“198 Dabei
191 MANDEL, Ernest: Modell Deutschland?, S. 54. 192 Ebd., S. 56. 193 Ebd., S. 55. 194 Ebd., S. 57f. 195 Parteivorstand der SPD (Hg.): Musterargumentation für Redner und Multiplikatoren, S. 83. 196 MANDEL, Ernest: Modell Deutschland?, S. 55f. 197 Ebd., S. 58. 198 GRUBE, Frank/RICHTER, Gerhard: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Der SPD-Staat, S. 7-12, hier: S. 11f.
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stellten sie die These voran, dass es auch nach acht Jahren sozialliberaler Regierung eigentlich die Union sei, die die Bundesrepublik regiere. Aus dem CDU-Staat der Ära Adenauer habe sich der SPD-Staat entpuppt, ohne, dass sich die Politik veränderte.199 Kurt Sontheimer greift diesen Gedanken in seinem Buch »Die verunsicherte Republik« auf und erläutert: „Was linke Autoren etwas abschätzig als den ‚CDU-Staat‘ bezeichneten, das war, sieht man von einigen christdemokratischen Schlagseiten und Verfilzungen ab, im Grunde der Staat der Bundesrepublik. Es spricht für die Stärke dieser Konstruktion, dass mit der Übernahme der Macht durch die Sozialdemokraten allen Wandlungen des politischen Klimas zum Trotz kein neuer Staat entstanden ist, den man in Abgrenzung vom Vorherigen einen ‚SPD-Staat‘ nennen könnte […].“200
Diese These von der sozialliberalen Regierung ohne eigene Akzente geht mit einer Verneinung ihrer „modellhaften“ Leistungen einher. 2.3.2 Modellhafter Umgang mit sozialen und politischen Konflikten? In dieselbe Kerbe schlägt der Politologe Wolf-Dieter Narr, damals Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität (FU) Berlin. In seinem Aufsatz für den Band »Die Linke im Rechtsstaat«, erschienen 1978, zieht er eine vermeintlich knappe Bilanz der sozialliberalen Ära: „Die inneren Reformen scheiterten.“ Die SPD sei den Interessen der wirtschaftlichen Entscheidungsträger unterworfen, Stichwort „Neokorporativismus“, und Kanzler Schmidt habe sich, angesichts von Krisenerscheinungen, zu einem „Garant des Stabilitätsmodells“201 aufschwingen wollen. Nun könne er allerdings, bis auf „prekär[e] Resultate“, keine Erfolge, sondern nur ein hohes Staatsdefizit vorweisen. Wie Mandel sieht Narr einen direkten Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen Stabilisierungsversuchen und den Folgen für die Arbeitnehmer: Interessen würden verletzt, Bedürfnisse unterdrückt, Kosten erzeugt. Und hierin meint Narr die zweifelhafte Leistung der sozialliberalen Regierung zu erkennen: Im Unterschied zu Bredthauer und Mandel, sieht er die Bundesrepublik in einem Punkt nämlich tatsächlich „anderen vergleichbaren Ländern voraus“ – und zwar „im illiberalen Rechtsverständnis und in der Fähigkeit, politische Probleme bürokratisch zu lösen.“202 Habe es in den Fünfziger und Sechziger Jahren noch eines Antikommunismus bedurft, im Sinne einer „primär an ‚Moskau und Pankow‘ festgemachte[n] innenpolitisch fungible[n] Ideologie“, so könnten mittlerweile auch „ohne diese Fixierung […] alle politischen und betrieblichen, ja gewerkschaftlichen Kritiker mundtot“203 gemacht werden. Wie Narr im Titel verdeutlicht, sei das „Modell Deutschland“ deshalb das Modell einer „nachliberalen Gesellschaft“, in der die Linken, anders als etwa in Frankreich oder Italien, um die Legalität ihrer „Programmatik und […] Pra-
199 Vgl. ebd., S. 11. 200 SONTHEIMER, Kurt: Die verunsicherte Republik, S. 21. 201 NARR, Wolf-Dieter: Die Bundesrepublik Deutschland – Modell einer nachliberalen Gesellschaft, S. 28. 202 Ebd., S. 32. 203 Ebd., S. 14.
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xis“ zu kämpfen hätten. Konkret gehe es vor allem darum, „Verfassungspositionen“204 zu verteidigen. Narrs Aufsatz kann als Einleitung in den Band »Die Linke im Rechtsstaat« gelesen werden. Die verschiedenen Aspekte seiner Kritik tauchen in den folgenden Aufsätzen immer wieder auf. Dem Zusammenhang von sozialdemokratischer Reformpolitik und dem Bedürfnis nach Innerer Sicherheit sind die Politologen Heiner Busch und Albrecht Funk vertiefend nachgegangen.205 Grundtenor hier: „Ökonomische Krise, Terrorismus und Spannungen im politischen System sind Ursachen, die nicht nur in der Bundesrepublik zu einer Verstärkung der staatlichen Sicherheitsapparate geführt haben.“ Das Spezifikum der Bundesrepublik bestehe darin, dass „die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen so stark wie in keinem anderen vergleichbaren Land der EG verrechtlicht“ seien. Dies könnte, so die Autoren, „für viele Konservative in den EG-Nachbarländern auch ein Modell für die eigene Politik“ sein. Anschaulich machen Busch und Funk die Verrechtlichung an zwei Beispielen: Die Fälle von Berufsverboten, Denkverboten, Bücherbeschlagnahmungen und Lauschangriffen auf Bürger, wie sie in den Siebziger Jahren aufgetreten seien, würden öffentlich nicht als „Tatsache“, sondern nur in der „Form“ skandalisiert. Nicht, dass es solche Vorfälle gebe, werde Anlass zur Aufregung, sondern lediglich die im Einzelfall „fehlende rechtsstaatliche Absicherung staatlichen Handelns“. In vergleichbarer Weise würden „Haus- und Platzbesetzungen von Bürgerinitiativen, die Frage wilder Streiks wie der Mitbestimmung immer weniger unter dem Aspekt des Kampfes um materielle Interessen, immer stärker unter dem Aspekt ihrer ‚Rechtsstaatlichkeit‘ diskutiert.“206 Die Gedanken von Busch und Funk wieder aufgreifend, versucht der italienische Rechtswissenschaftler Salvatore Senese in einem weiteren Aufsatz,207 das „Modell Deutschland“ aus linker Sicht zu definieren. Dabei geht er davon aus, dass das Modellhafte an der Bundesrepublik der besondere Zustand ihrer demokratischen Institutionen sei: „Gewiß weist die BRD im wesentlichen die Merkmale einer liberalen Demokratie auf, darunter die Versammlungsfreiheit, die Pressefreiheit, einen von der Exekutive relativ unabhängigen Justizapparat. Aber die vielfachen erwähnten Freiheitseinschränkungen deuten eine Unterminierung dieser Stützpfeiler an, lassen diese statt zu einem Gegengewicht des demokratischen Spiels zur bloßen Hilfsgröße bei der Integration der Massen werden.“
Auf diese Weise stelle das „Modell Deutschland“ „eine Art präventive Antwort auf die Entwicklung sozialer und politischer Konflikte dar“208, die sich vor dem Hintergrund der ökonomischen Krisenentwicklung und der damit einher gehenden Abnahme der Integrationsfähigkeit der bundesdeutschen Gesellschaft, abzeichneten.
204 Ebd., S. 12. 205 Vgl. BUSCH, Heiner/FUNK, Albrecht: Innere Sicherheit und Reformpolitik. In: Rotbuch Verlag (Hg.): Die Linke im Rechtsstaat. Bd. 2. Berlin 1979, S. 205-227. 206 Ebd., S. 221f. 207 SENESE, Salvatore: Bürgerrechte und demokratische Freiheiten in der BRD und in Italien. In: Rotbuch Verlag (Hg.): Die Linke im Rechtsstaat. Bd. 2. Berlin 1979, S. 228-254. 208 Ebd., S. 234f.
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Passend zu dieser These formulierte der Politologe Joachim Hirsch 1980 seine Theorie vom „Modell Deutschland“ als politisches Regulierungsmodell.209 Ausgangspunkt dafür war einmal mehr die Annahme, dass die SPD eine reformerische Wirtschaftspolitik vorantrieb, mit der sozialpolitische Einschnitte einhergingen. Mit Hirschs Worten: „Grundlage ist die Strategie einer staatlich abgestützten ‚Modernisierung der Volkswirtschaft‘, mittels deren die technologische Spitzenstellung, der Produktivitätsvorsprung der westdeutschen Wirtschaft und damit die Konkurrenzposition des bundesdeutschen Kapitals auf dem Weltmarkt qua gezielter Spezialisierung längerfristig gesichert werden sollten.“ Infolge dieser Modernisierung habe sich die Produktions- und Branchenstruktur der bundesdeutschen Wirtschaft stark gewandelt – „mit schwerwiegenden Folgen für Beschäftigung […], Arbeitsintensivierung, Arbeitskraftqualifikation, Regionalentwicklung und ‚Umwelt‘.“ Von vornherein seien dabei eine „Reihe gesellschaftlicher Opfer“ einkalkuliert gewesen: „[E]ine steigende Zahl von Arbeitslosen, Dequalifizierten, Zwangsmobilisierten, von der ‚Leistungsgesellschaft‘ an den Rand Gedrängten, Zerschlissenen, Ruinierten, Ausgestiegenen.“ Um diese Nebenwirkungen einzudämmen, so Hirschs These, „bedarf es spezifischer Methoden der politischen Absicherung.“ Zu diesem Zweck hätten die Sozialdemokraten seit ihrer Regierungsübernahme ein „ökonomisch-soziales Regulierungskartell“ entwickelt, welches „Staatsadministration, ‚Volksparteien‘ und Gewerkschaften, […] den ‚Kern der Leistungsgesellschaft‘ (beschäftigte, qualifizierte Arbeiter und Angestellte, ‚modernes Kapital‘)“ umfasse. Dieses Kartell sorge dafür, dass die „ausgegrenzten Opfer auseinanderdividiert und unter Kontrolle“ gehalten würden. Zu seinen Methoden gehörten „taktisch und selektiv gebrauchte materielle Konzessionen, Interessenspaltung (paradigmatisch bei der Atomenergiepropaganda, die ‚sichere Arbeitsplätze‘ gegen ‚gesundes Leben‘ ausspielte), gezielte Repression gegen einzelne und kollektive Versuche, Widerstand gegen diese Entwicklung zu leisten.“210 Protestphänomene wie die „Studentenrevolte, spontane Streiks […,] ‚Bürgerinitiativen‘ […] das Aufblühen verschiedenartiger Protestparteien“ seien von den Regierenden ebenso als „deutliche Warnzeichen“ verstanden worden wie „eine sich ausbreitende Aversion gegen die politischen Apparate überhaupt“211. So habe sich Repression zum „Korrelat“, also zu einer Ergänzung, der sozialdemokratischen Politik entwickelt. Gerade in der Bindung mit der liberalen FDP hätte von Anfang an die Gefahr bestanden, „abweichende[n]‘ Bewegungen außerhalb und innerhalb der politischen Apparate Raum zu geben.“ Deshalb hätten sich repressive Maßnahmen vorrangig gegen „(potentielle) Träger radikaler Interessendurchsetzung innerhalb der massenintegrativen Apparate und innerhalb der Teile der Staatsadministration […] und gegen (potentielle) Verbreiter ideologischer ‚Abweichungen‘ innerhalb der ideologischen Apparate“, also gegen Lehrer, Dozenten, Gewerkschafter und Mit-
209 Den Entstehungszeitraum seiner Monografie umschreibt Hirsch wie folgt: „Die erste Fassung dieses Buches wurde Ende der siebziger Jahre geschrieben. Beherrschende Eindrücke waren damals die Staatsschutzorgien des ‚Deutschen Herbstes‘, die mit erheblichem publizistischen Aufwand inszenierten Terroristenjagden, die scheinbare Erfolglosigkeit von Massendemonstrationen gegen den Ausbau der Atomenergie und schließlich die sich abzeichnende ‚Wende‘ im bundesrepublikanischen Herrschaftssystem, die in der Kanzlerkandidatur von Franz-Josef Strauß ihren personellen Ausdruck fand.“ Siehe: HIRSCH, Joachim: Das ‚Modell Deutschland‘, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1986, S. 7. 210 Ebd., S. 38. 211 Ebd., S. 43.
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glieder kommunistischer Parteien, sowie „gegen ‚autonome‘, d. h. nicht in das bestehende institutionelle System von Massenintegration integrierbare Bewegungen“212 gerichtet. Hirschs Theorie misst den sozialliberalen Bundesregierungen der Siebziger Jahre damit eine erkennbare gestalterische Kraft bei. Sein Verständnis vom „Modell Deutschland“ unterscheidet sich deutlich von Bredthauers und Mandels Absagen an speziell sozialdemokratische Akzente in der Innenpolitik. Im Gegenteil: Hirsch übersteigert Narrs Vorstellung von einer justiziellen „Kanalisierung“ sozialen Protestpotentials hin zu einer Art Verschwörungstheorie, deren Kern die fixe Idee bildet, Bürokratie, Parteien, Gewerkschaften und „Kapital“ würden seit Ende der Sechziger Jahre an einem Strang ziehen. 2.3.3 Ausschau nach Bedrohungspotentialen Von einer Wirkmächtigkeit des „Modells Deutschland“ geht, wenn auch in anderer Form, Gerhard Kade in seinem 1979 erschienenen Buch »Die deutsche Herausforderung« aus. Seinerzeit selbst Mitglied der SPD, äußert der Wirtschaftswissenschaftler keine Zweifel daran, dass die Bundesrepublik unter der sozialliberalen Regierung eine modellhafte Entwicklung nahm. Mit diesem (Selbst-)Verständnis fragt er danach, welche Folgen eine Übertragung des Modells auf „die zu formende europäische Wirklichkeit“213 haben könnte. Mit anderen Worten: Was würde geschehen, sollten die gesellschaftlichen Verhältnisse in ganz Westeuropa nach bundesdeutschem Vorbild stabilisiert werden?214 Kritisch betrachtet Kade vor allem, wie in der Bundesrepublik seiner Ansicht nach mit Andersdenkenden umgegangen wurde: „Verbot und Verbotsdrohungen gegen Kommunisten sind in diesem Lande besonders problematisch. Sie wären […] äußerst problematisch für dieses Europa, dem die Bundesrepublik angehört. Da wären Andreotti oder Mitterand wegen ihres Umgangs mit Kommunisten ‚Verdächtige‘. Da wäre Alfred Grosser ein höchst verdächtiger ‚Sympathisant‘.“215 – Gemeint sind der damalige italienische Ministerpräsident und der französische Präsident. Der Politologe und Soziologe Grosser hatte 1975 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Aufsehen erregt. In seiner Dankesrede stellte er die Frage in den Raum, ob in der Bundesrepublik vielleicht manche Bürger mehr dem Staat als dem Recht huldigten.216 Diesen Aspekt vertieft Kade, als er begründet, warum das „Modell Deutschland“ nach seinem Befinden kein Modell für ein „Europa der Freiheit und der Bürger“ wäre. Mit dem Verweis auf das „Instrumentarium zur politischen Überwachung und Bespitzelung“217, welches von der sozialliberalen Bundesregierung im Laufe der Siebziger Jahre vervollkommnet worden sei, zählt er einige der bereits
212 Ebd., S. 43f. 213 KADE, Gerhard: Die deutsche Herausforderung, S. 92. 214 Vgl. ebd., S. 93. 215 Ebd., S. 115. 216 Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels stellt die Rede Grossers wie auch die Laudatio von Paul Frank auf seiner Website zur Verfügung. Siehe: http://www.boersenverein-sasathue .de/sixcms/media.php/806/1975_grosser.pdf (Stand: 06.11.2011). Zur Wirkung der Rede, vgl. auch: KORTE, Karl-Rudolf: Der Standort der Deutschen. Akzentverlagerungen der deutschen Frage in der Bundesrepublik Deutschland in den siebziger Jahren. Köln 1990, S. 60. 217 KADE, Gerhard: Die deutsche Herausforderung, S. 129f.
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erwähnten Gesetzesinitiativen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung auf. Darüber hinaus erwähnt Kade einen „Maßnahmeplan“ der Bundesregierung zum Ausbau der Sicherheitsbehörden für die Jahre 1978 bis 1981, von dem im Regierungsprogramm der SPD 1976 noch keine Rede ist. Wortwörtlich handelte es sich um die „Ausbauplanung Innere Sicherheit“218 vom September 1977. Sie basierte auf Diskussionen und Entwürfen früherer Innenministerkonferenzen. Kade sieht in ihr wietere Schritte verankert, die zur „Einschränkung demokratischer Rechte besonders im Strafverfahren, des Brief- und Fernmeldegeheimnisses, des Demonstrations- und Versammlungsrechts“ führten. Hinzu komme der Entwurf für ein einheitliches Polizeigesetz, den die Innenministerkonferenz im November 1977 vorlegte: „Dieses Gesetz soll u. a. den gezielten Todesschuß der Polizei legitimieren. Es ist auch der Gebrauch von automatischen Waffen bis zum Maschinengewehr sowie von Handgranaten gegen eine Menschenmenge vorgesehen.“219 Es sei angemerkt, dass diese Befürchtungen keineswegs aus der Luft gegriffen waren, sondern auf dem damaligen Diskussionsstand der Innenministerkonferenz basierten.220 Nach seinem kleinen Ausblick in die Zukunft kommt Kade auf die Gegenwart zu sprechen, in der das „Anzapfen von Telefonleitungen oder die Überwachung des Briefverkehrs auf Geheiß von Geheimdiensten“ gängige Praxis sei. Schlimmer noch: „Sämtliche der Aufsicht eines Bundeslandes unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts […], aber auch Bedienstete von Handwerks-, Notars-, Apotheker-, Ärzte-, Industrie- und Handelskammern, Finanzfahnder und Forstbeamte, Pädagogen und Bürgermeister, Richter und Amtsärzte“ hätten, so Kade, „den geheimen Nachrichtendiensten zuzuarbeiten.“221 Am Ende seiner Aufzählung stellt er provozierend die Frage in den Raum: „Und diese offensichtliche Bereitschaft zu einem wachsenden Abbau demokratischer Grundrechte soll ‚Modell‘-Charakter für ganz Westeuropa haben?“222 Kade schreibt sich selbst in die Rolle eines warnenden Apostels, dessen Anliegen es ist, vor der Vorbildwirkung des „Modells Deutschland“ zu warnen. Dass es zu einem Export dieses politischen Modells kommen könnte, versucht er mit diversen Zitaten von Helmut Schmidt zu untermauern. Dabei weckt er den Anschein, der Kanzler wolle die deutsche Sozial- und Wirtschaftsordnung auf die Partnerstaaten in der EG unbedingt übertragen und die Zusammenarbeit mit Staaten, in denen kommunistische Regierungen an die Macht kämen, im Ernstfall einschränken.223 Hintergrund für Kades scharfe Äußerungen sind offensichtlich dessen Querelen mit der eigenen Partei. Als Mitglied des Lenkungsbüros des „Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit“ um Pastor Niemöller und Mechthild Jansen, der Vorsitzenden des SHB, war Kade im Februar 1975 von der SPD dazu aufgefordert worden, aus der Organisation auszutreten. Der Grund dafür lag in der personellen Nähe des Komitees zur DKP „und ihr nahe stehenden Kräften“224. Weil Kade der
218 Vgl. dazu: BAUM, Gerhart Rudolf: Deutsche Innenpolitik. Der Staat auf dem Weg zum Bürger. Düsseldorf 1980, S. 134. 219 KADE, Gerhard: Die deutsche Herausforderung, S. 129f. 220 Vgl. dazu: o. A.: Ich kann ja die Handgranate danebenwerfen. Interview mit Heinz Schwarz. In: Der Spiegel (02.08. 1976). 221 KADE, Gerhard: Die deutsche Herausforderung, S. 130. 222 Ebd., S. 133. 223 Vgl. ebd., S. 116f. 224 Entscheidung der Bundesschiedskommission der SPD in dem Parteiordnungsverfahren gegen Gerhard Kade vom 13.10. 1977, S. 2. In: AdsD, 1/HSAA009867.
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Aufforderung nicht Folge leistete, wurde schließlich ein Parteiordnungsverfahren gegen ihn eröffnet. Es war nur eines von etwa einhundert, die die SPD seinerzeit in ihren Abgrenzungsbemühungen zu kommunistischen Gruppierungen initiierte. Im Juli 1977 belegte eine Schiedskommission Gerhard Kade mit einem dreijährigen Funktionsverbot in seiner Partei.225 Gegen die Politik der eigenen Partei erhob 1977 auch Frank Haenschke, seinerzeit Berichterstatter des Innenausschusses der SPD, das Wort. In seinem Buch »Modell Deutschland? Die Bundesrepublik in der technologischen Krise« wendet sich der studierte Chemiker gegen einen allzu arglosen Fortschrittsglauben: Die Bonner Republik werde vielfach „dargestellt als Modell dafür, wie man mit den Problemen der Welt am besten fertig wird“, stellt Haenschke einleitend fest. „Vor lauter Selbstgefälligkeit über das Vollbrachte dürfen wir allerdings nicht übersehen, dass wir genauso wenig wie die anderen die Rezepte kennen, um den Herausforderungen von morgen zu begegnen.“226 Seine kritischen Anmerkungen konzentrieren sich im Wesentlichen auf Fragen des Umwelt- und Datenschutzes. Beide Themen sieht Haenschke in der Politik der sozialliberalen Regierung vernachlässigt. Sein Vorwurf lautet, dass sich praktische Politik an der öffentlichen Meinung zu orientieren habe. „Es erscheint deshalb als Widerspruch, wenn der Umweltschutz, trotz hohen Bürgerinteresses, für das politische Handeln nur einen relativ geringen Stellenwert hat.“227 Ebenso warnt er davor, jene Gefahren zu ignorieren, die von dem „Allbedürfnis und [der] Allgegenwart von Information“228 ausgingen. Der eingeschlagene politische Kurs, welcher das „Modell Deutschland“ hervor gebracht habe, erweise sich als dessen eigene Bedrohung: Wenn es in den nächsten Jahren nicht gelänge, „Wachstum von Wirtschaft und Energieverbrauch endgültig auseinanderzukoppeln“229, seien Arbeitsplätze gefährdet und das soziale Gefüge aufs Spiel gesetzt. Die negativen sozialpolitischen Folgen eines stetig wachsenden Energieverbrauchs lägen auf der Hand: „Umweltverschlechterung z. B. erfordert höheren Aufwand für die Lebenshaltung und bei der Gesundheitsfürsorge. Hohe Energiepreise treffen vor allem Einkommensschwache. […] Wachsender Energieverbrauch verschlechtert möglicherweise das Angebot an Arbeitsplätzen.“230 Eindringlich appelliert Haenschke an den gesunden Menschenverstand: „Unsere natürlichen Lebensgrundlagen als unübertretbare Grenze der wirtschaftlichen und zivilisatorischen Tätigkeit, ist das denn mehr verlangt, als die Achtung der Menschenwürde und das Gebot, einander nicht totzuschlagen?“231 Als Datenschutz-Experte der SPD sorgt sich Haenschke auch darum, dass der Mensch, angesichts der immer müheloseren „Bewältigung riesiger Datenmengen“ und infolge der „Aufhebung der Grenzen von Raum und Zeit für die Informationsverarbeitung und -verschiebung durch den Computer“232 vom freien, selbstverantwortlichen Subjekt „zum scheinbar berechenbaren und von außen gesteuerten
225 Vgl. o. A.: SPD: Mit Ausschluß oder Ämterentzug zur Parteiräson. In: Der Spiegel (01.08. 1977). 226 HAENSCHKE, Frank: Modell Deutschland?, S. 11. 227 Ebd., S. 16. 228 Ebd., S. 127. 229 Ebd., S. 119. 230 Ebd., S. 121. 231 Ebd., S. 40. 232 Ebd., S. 136.
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‚Objekt‘“233 werde. Sollte sich die Wirklichkeit eines Tages in einem Modell abbilden lassen, das weitgehend mit ihr übereinstimme, werde „das Individuum kontrollierbar auf sein exaktes Funktionieren und […] aussteuerbar, sobald es nicht zum System passt.“ So sieht Haenschke auch die Möglichkeiten oppositionellen Handelns und sozialer Proteste bedroht: „Computersimulierte Gesellschaftsmodelle könnten für die öffentliche und die private Hand zum wichtigen Instrument des Krisenmanagements werden, mit dem Ziel, potentielle Konflikte frühzeitig zu erkennen und sie im Keime zu ersticken, ohne auf deren Ursachen eingehen zu müssen.“234 Auch mit implizitem Verweis auf die technisierte Terrorismusbekämpfung warnt Haenschke davor, dass die Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung, „wenn sie ungebremst verläuft, die Machtbalance in unserer Gesellschaft zerstören“235 könnte. Mit der Bedrohung individueller Freiheiten durch den Staat setzt sich der Band »Modell Deutschland? Berufsverbote« auseinander, welcher 1978 zunächst im Karlsruher Doku-Verlag Kunz und 1979 in erweiterter Auflage im Doku-Verlag in Ettlingen erschienen ist. Als Herausgeber fungierten Klaus Farin und Hans-Jürgen Zwingmann; der eine Volkshochschuldozent, der andere Diplomkaufmann. Unterstützung für ihr Buchprojekt erhielten die damals noch unerfahrenen Publizisten von Günter Wallraff, der das Geleitwort schrieb. Sein Name hatte Gewicht, denn als Enthüllungsjournalist hatte der gelernte Buchhändler bereits seit 1965 mit mehreren Reportagen über die industrielle Arbeitswelt und den Arbeitsalltag in der Bundesrepublik Aufsehen erregt. Das Grundanliegen der Herausgeber bestand darin, die Folgen des Extremistenbeschlusses von 1972 zur Diskussion zu stellen. Die „Berufsverbote“ hätten sich seitdem auf über viertausend Fälle summiert, zuzüglich „einer hohen Dunkelziffer […], da viele Bewerbungen schon bei der ersten Aufforderung zur Anhörung zurückgezogen“236 würden. Im Detail schildern Farin und Zwingmann, wie die Überprüfungen von Bewerbern auf eine Stelle im öffentlichen Dienst vorgenommen wurden, unter welchen Voraussetzungen es zu Anhörungen der Bewerber kam und wie diese Verfahren abliefen. Die Schilderungen gehen soweit, dass konkrete Schlüsselfragen aufgezählt werden, die die Einstellungsbehörden den Bewerbern gewöhnlich stellten. Zum Beispiel: „Haben Sie nicht einen linksradikalen Freund?“ „Ihr Mann ist doch in der DKP …?“ „Können Sie nachweisen, dass Sie sich deshalb scheiden ließen, weil Ihr Mann Kommunist ist?“ „Ihr Vater ist bereits Kommunist. Das färbt doch bei der Erziehung ab …“237 Eindrücklich wird die Dokumentation auch in Passagen, in denen die Herausgeber Betroffene zu Wort kommen lassen. So berichtet ein Bewerber, dass er bei der Überprüfung deshalb gescheitert sei, weil herauskam, dass er an einer Chile-Demonstration teilgenommen hatte: „Im Klartext: Wer dagegen protestiert, dass die Militärfaschisten in Chile die Verfassung wie ein Fetzen Papier zerrissen und die Demokratie im Blut erstickt haben, kann nicht Lehrer werden.“238 Für Kurt Sontheimer sind es gerade solche Einzelfälle, ohne die die öffentliche Kampagne gegen 233 Ebd., S. 127. 234 Ebd., S. 136. 235 Ebd., S. 134. 236 FARIN, Klaus/ZWINGMANN, Hans-Jürgen (Hg.): Modell Deutschland? Berufsverbote. 2. neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Ettlingen 1979, S. 57. 237 Ebd., S. 60. 238 Ebd., S. 63.
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den Extremistenbeschluss „niemals die außerordentliche Wirkung“ erzeugt hätte, „die sie schließlich gehabt hat“. So sei bisweilen kaum eine Woche vergangen, in der nicht neue spektakuläre Fälle zu vermelden waren, „die sich genüsslich ausschlachten ließen und bei deren Lektüre auch der vom Prinzip der Fernhaltung Radikaler aus dem öffentlichen Dienst überzeugteste Demokrat nicht mehr so recht einsehen konnte, ob die Praxis der Anwendung das Prinzip nicht um seinen demokratischen Kredit brachte.“239 Dass die Bewegung gegen Berufsverbote mittlerweile stärker als Mitte der Siebziger Jahre war, halten auch Farin und Zwingmann fest: „Das führt dazu, dass wir in viel größerem Ausmaß als noch vor etwa zwei Jahren die Diskussion über den Abbau demokratischer Rechte in die Öffentlichkeit tragen können.“240 Aussagen wie diese zeigen aber auch, dass die Herausgeber das Problem der „Berufsverbote“ nicht isoliert betrachtet sehen wollen, sondern bewusst als Teil der Problematik um die Innere Sicherheit in der Bundesrepublik präsentieren. Mit dieser Intention streuen sie immer wieder provokante Verallgemeinerungen ein, beispielsweise: „Allein die Ausdehnung der Gesinnungsschnüffelei auf immer mehr Bereiche – Privatwirtschaft, Schulen, Universitäten usw. – zeigt eindeutig, dass es hier um die Einschüchterung aller kritischen Demokraten geht.“241 Besonders scharfzüngig werden Farin und Zwingmann dort, wo sie die Geltung des Grundgesetzes infrage stellen. Etwa im Vorwort: „Man ist bereits dabei, sich an die allmähliche Kastration unserer Grundrechte zu gewöhnen.“242 Oder im mittleren Abschnitt, wo sie eine zynische „Neufassung“243 des Grundgesetzes vorstellen: „Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar, außer durch Organe der Regierung. Artikel 2: Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, außer er entfaltet sie in nicht genehmer Richtung. Artikel 3: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Manche gleicher als gleich, manche weniger gleich […].“ In der Gesamtschau zeichnet die Dokumentation das Bild von einem Staat, in dem keine Rechtssicherheit mehr herrscht. Bezeichnend, dass die Behauptung, der Extremistenbeschluss widerspreche „Art. 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12. 1948 und Art. 25 der Internationalen Konvention über Bürgerrechte und politische Rechte vom 16.12.1966“244, beinahe zur Randbemerkung gerät. Dabei betont der an anderer Stelle zitierte Theologe Helmut Gollwitzer: „Sozialisten darf die Berufung auf die Grundrechte des GG nicht nur ein taktisches Manöver sein; sie muß Ausdruck grundsätzlicher Bejahung sein.“ Dass es Farin und Zwingmann darum geht, wird nicht durchgängig deutlich. Mit Blick auf seinen Titel wirkt ihr Buch eher wie eine Abrechnung mit dem „Modell Deutschland“, das hier als „Obrigkeitsstaat“ gezeichnet wird, in welchem „die, die an der Macht sind, nach ihrer Schnauze bestimmen, was Bürger denken und tun dürfen“245 – so die Wortwahl Gollwitzers.
239 SONTHEIMER, Kurt: Die verunsicherte Republik, S. 106. 240 FARIN, Klaus/ZWINGMANN, Hans-Jürgen (Hg.): Modell Deutschland? Berufsverbote, S. 75. 241 Ebd., S. 99. 242 Ebd., S. 9. 243 Ebd., S. 121-123. Ursprünglich veröffentlicht in: Metall (Nr. 8, 19.04.1977). 244 Ebd., S. 47. 245 Ebd., S. 156
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2.3.4 Zerrbilder des Slogans Um den Streifzug durch die „Modell Deutschland“-Literatur zu vervollständigen, soll an dieser Stelle auf zwei Texte eingegangen werden, die gegensätzlicher nicht sein könnten und doch eines gemeinsam haben: Ihre Urheber überfrachteten den Wahlslogan mit negativen Assoziationen. So steht das „Modell Deutschland“ nach Ansicht der RAF einmal für „ein krisenmanagement, das auf korporativismus und einen technischen polizeistaat rausläuft“, im nächsten Atemzug aber auch für „reformfaschismus“246. Diese Stellungnahme stammt aus der Rohfassung eines Interviews der RAF und ihrer Anwälte mit der französischen Monatszeitschrift »Le Monde Diplomatique« vom Juli 1976. Ein Jahr später wurde sie ungekürzt in dem Band »texte: der raf« abgedruckt.247 Wie bei schriftlichen Interviews üblich, sind die Antworten sehr ausführlich gehalten. Die RAF nahm die Gelegenheit wahr, ihr theoretisches Konzept zur sozialliberalen Politik zu entfalten. Grundsätzlich ging die bewaffnete Gruppierung davon aus, dass Innenpolitik in der Bundesrepublik immer „innenpolitik eines staates ohne souveränität“ sei und dass sie sich nach den Interessen der US-amerikanischen Außenpolitik richte; zugespitzt in der Vorstellung einer „militärdoktrin […], die im die im fall eines angriffsund eines verteidigungskrieges die nukleare vernichtung“ der Bundesrepublik „im interesse der usa“ bedeute. Egal, welche parlamentarischen Parteien die Bonner Republik regierten, die innere und äußere Sicherheit stünde „letztlich unter dem kommando des pentagon“. Demzufolge betrachtete die RAF das „Modell Deutschland“ als „modell der integrationistischen variante des neokolonialismus“, das heißt, als eine mehr oder weniger verdeckte Herrschaftssicherungsstrategie der USA. Grundlage dieser Strategie sei es, die „gesellschaftliche arbeitskraft“ unter die Kontrolle des Staates zu bringen, der diese seinerseits den Interessen des „kapitals“ ausliefere, dessen internationales Monopol in den USA liege. Auf diese Weise seien in der Bundesrepublik „alle bereiche des gesellschaftlichen reproduktionsprozesses vertikal und horizontal militärisch“ erfasst, kontrolliert und durchdrungen. Parteien könnten verboten, Gewerkschaften zerschlagen und die „demokratische opposition“ unterdrückt werden „mit den im kalten krieg entwickelten, inzwischen verwissenschaftlichten repressionstechnologien des antikommunismus“. Die RAF schrieb gerade der SPD eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der angeblichen US-amerikanischen Strategie zu: „nach der dramaturgie der grossen koalition hatte sie ab 67 die sozialen folgen der krise, in der das strukturelle moment der dekolonisation mit dem zyklischen moment am ende der rekonstruktionsperiode zusammenfiel, institutionell zu befrieden. sie setzte die notstandsgesetze gegen die opposition der gewerkschaften durch, sie instituierte ein altes faschistisches modell der klassenkollaboration – semantisch neu verpackt: die konzertierte aktion – und verrechtlichte schliesslich im stabilitätsgesetz einen mechanismus der staatlichen krisensteuerung, der die kosten der krise erst über die inflation, später über kontrollierte arbeitslosigkeit voll auf
246 Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in West-Europa (Hg.): Texte : der RAF. Lund 1977, S. 261-303, hier: S. 293. 247 Vorangestellt sind dem Abdruck folgende Anmerkungen: „das interview entstand auf fragen von le monde diplomatique im juli 76 (im november 76 ergänzt an 2 stellen), wobei der modus war, dass der politische teil der fragen den anwälten von den gefangenen beantwortet wurde, weil die veröffentlichung von texten und erklärungen der gefangenen in der bundesrepublik praktisch unmöglich ist.“ Ebd., S. 261.
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die arbeiter abwälzt und gleichzeitig den konzentrations- und zentralisationsprozess zugunsten der internationalen konzerne anheizt. sie hatte damit die krise im staat benutzt, um das modell innerer sicherheit durchzusetzen, das voraussetzung war, um in der koalition mit der fdp – die von der hypothek des deutschen konservativismus frei war – ab 69 die bundesrepublik nach der nixon-doktrin zum subzentrum der amerikanischen strategie gegen den süden, den osten […], gegen die arbeiter in westeuropa, schliesslich gegen die konkurrierenden nationalen kapitale auszubauen.“
Darüber hinaus maß die RAF der SPD auch ein beachtliches internationales Gewicht bei. So sei sie als „regierungspartei der stärksten und zugleich us-abhängigsten europäischen wirtschaftsmacht“ in der Lage gewesen, „durch ökonomische und politische erpressung, durch die korrumpierung der führungsgruppen in den gewerkschaften und den reformistischen arbeiterparteien, schliesslich [durch] ihre techniken der im kalten krieg entwickelten antikommunistischen demagogie“ auch die Sozialistische Internationale und die anderen großen sozialdemokratischen Parteien in West- und Südeuropa auf Kurs zu bringen. Mit anderen Worten habe die SPD als „politischer operator des internationalen konzentrationsprozesses, in dem sich die us-konzerne die nationalen kapitalismen subsummieren […]“248, fungiert. Dem bitteren Ernst der RAF-Ideologen sei zuletzt eine schelmische Replik auf die Wahlkampagne der SPD nachgestellt. Der Autor und Karikaturist Winfried Thomsen trug 1978 unter dem Titel »Modell Deutschland. Jahrbuch für vaterlandslose Geselligkeit« hunderte von Wortspielen zusammen, die hauptsächlich auf das politische und gesellschaftliche Tagesgeschehen in der Bundesrepublik gemünzt waren. Nicht wenige von ihnen hatte die linksintellektuelle Monatszeitschrift »konkret« abgedruckt.249 Thomsen schrieb seit Mitte der Siebziger Jahre für sie. Seine so genannten „Radikalauer“ gehörten ebenso wie die Cartoons und Karikaturen von Gerhard Seyfried „zur humoristischen Grundausbildung linker Nachwuchskräfte“250, wie es der Satiriker Gerhard Henschel einmal formulierte. Thomsens Jahrbuch ist nicht wie ein reiner Sammelband angelegt, in dem ein Wortspiel auf das andere folgt. Die Ein- bis Zweizeiler werden von zahlreichen kürzeren Begleittexten eingerahmt, deren vorgebliche Funktion darin besteht, den Leser darüber zu informieren, wie die sozialliberale Regierungspolitik in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen der Bundesrepublik zum Tragen kommt. Um den Anschein zu erwecken, es handele sich um eine herkömmliche Parteiwerbebroschüre, wird eingangs erklärt: „Dieses Buch feiert die erfolgreiche Reformpolitik der letzten Jahre […] unter der Bezeichnung ‚Modell Deutschland‘.“ Und weiter: „Möge dieses Büchlein helfen, daß auch jene, die jetzt noch kühl und uninteressiert im Abseits stehen, bald schon mitarbeiten am Aufbau des modernen Deutschland.“251 Tatsächlich bedient sich Thomsen solcher Versatzstücke, um die Wirkung seiner ironischen bis sarkastischen Sprüche zu verstärken. Im Ergebnis ist das Gefälle zwischen gespielter Seriosität in Aussagen, wie: „unsere Zukunft muß gesichert werden, ohne daß die Freiheit verloren geht“ und der Bissigkeit eines Ka-
248 Ebd., S. 292-295. 249 Im Oktober 1974 hatte der frühere »Spiegel«-Redakteur Hermann L. Gremliza die Herausgeberschaft der Zeitschrift übernommen. Damit war ihr tiefer Fall vom Sprachrohr der APO zum Boulevardblatt gestoppt, für den sein Vorgänger Klaus Rainer Röhl verantwortlich war. 250 HENSCHEL, Gerhard: ‚Die SPD, juchhee, juchhee, juchhee!‘ In: JungleWorld (08.03.2006). 251 THOMSEN, Winfried: Modell Deutschland. Jahrbuch für vaterlandslose Geselligkeit, S. 9.
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lauers, wie: „schon 1933 konnte nicht an der stärksten Partei vorbeiregiert werden“252, sehr markant, bisweilen verstörend. Dass es nicht die reine Provokation ist, um die es Thomsen geht, darauf hat der Redakteur und Kabarettist Hanns-Herrmann Kersten aufmerksam gemacht, als er das Jahrbuch einen „Agitprop-Hammer“253 nannte: Die Wortspiele schlagen den Leser mit ihrer übertriebenen ideologischen Aufladung geradezu vor den Kopf. Hinzu kommt, dass Thomsen auf seinem Streifzug durch Politik, Medien, Kultur und Rechtswesen wirklich nichts auslässt, womit sich Linke seinerzeit auseinandersetzten. Damit verrät er natürlich viel über das Innenleben seines politischen Spektrums und legt offen, welche Denkmuster in ihm verbreitet waren: Da wäre zum Beispiel das Bild von den „Großen Männern“, die in der Bundesrepublik angeblich über alles bestimmt hätten; allen voran Helmut Schmidt, „immer auf rechtem Kurs“, Willy Brandt, die „frühere Aufbruchsstimmungskanone“ und Herbert Wehner, „der Stalin im Godesberger Pelz.“ Daneben die Vorstellung von der SPD als Partei, die „auf dem Holzweg“ zum Sozialismus gewesen sei und ihren „eingeschlafenen Weg weiter“ ging, gemeinsam mit der FDP als „Pöstchen“255verliebte Anhängselpartei. Doch nicht nur in der Politik, auch im Alltag scheinen die Rollen von Gut und Böse klar verteilt gewesen zu sein: Hier riss sich „ein Baulöwe rasch noch ein paar Mieter“256, da schenkte „der Aktionär seiner Tochter einen neuen Faulpelz“257 und dabei sollte Vermietern und Vorstandsvorsitzenden doch die „Enteignung“258 blühen. Dass es nicht gerecht zuging, dafür macht Thomsen vor allem Rechtsprechung und Sozialbehörden verantwortlicht: „Die Justiz wird auf einem Auge immer blinder, die Richter werden immer rechter […]“259 und der öffentliche Dienst unterliege einer „Reinhaltung“ – „es gibt kein Berufsverbot, wohl aber den Weihnachtsmann.“260 Am Ende des Jahrbuchs gerät weit aus dem Blick, wo genau eigentlich die Zusammenhänge zwischen der Reformpolitik der SPD und den beklagten Missständen liegen. Thomsen zielt mit seinen Spitzen gegen die bestehenden Verhältnisse, auf alles und nichts. Dies spiegelt sich auch in seiner Verwendung des Slogans „Modell Deutschland“ wider, der für ihn offenbar nicht mehr und nicht weniger als den Zustand bezeichnet, in welchem Linke die Bundesrepublik seinerzeit erlebten. Ob AKW-Bau, ob Gesinnungsprüfung, alles sei irgendwie „Modell Deutschland“ oder auch „Modell Großdeutschland“, eben im Rechtsruck begriffen; alternativ mit Thomsens Schlusswort: „Freiheitlich Demokratisches Ende.“261
252 Ebd., S. 113. 253 KERSTEN, Hanns-Herrmann: Neuerscheinungen. In: Die Zeit (16.11.1979). 254 THOMSEN, Winfried: Modell Deutschland. Jahrbuch für vaterlandslose Geselligkeit, S. 12-14. 255 Ebd., S. 21f. 256 Ebd., S. 29 und S. 37. 257 Ebd., S. 37. 258 Ebd., S. 70. 259 Ebd., S. 103. 260 Ebd., S. 73f. 261 Ebd., S. 119.
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2.4 Zusammenfassung: „Modell Deutschland“ als Symptom seiner Zeit Wie die vorangegangenen Abschnitte gezeigt haben, ist das „Modell Deutschland“ ein geeigneter Untersuchungsgegenstand, um mehr über die Selbstwahrnehmung der SPD wie auch über die Fremdwahrnehmung der Partei im linken Spektrum ausgangs der Siebziger Jahre zu erfahren. Der Slogan funktionierte wie eine doppelte Projektionsfläche: zum einen für die positive Eigenbilanz der Sozialdemokraten, zum anderen für die kritische Bilanz der sozialliberalen Politik aus Sicht der Linken. Dass sich beide Seiten in ihren Einschätzungen nicht auf Entwicklungen vor und während des Wahljahres 1976 fokussierten, sondern weiter zurück blickten, erhöht deren Aussagekraft. So lassen sie auch erkennen, welchen politischen Themenfeldern in der sozialliberalen Ära jeweils besondere Relevanz beigemessen wurde. Schon ein flüchtiger Vergleich fördert hier eine deutliche Diskrepanz zutage: Während die SPD in ihrem Wahlprogramm nur oberflächlich auf die Problematik der Inneren Sicherheit einging und ihr Erfolgsmodell eher von den Eckpfeilern Wirtschafts- und Verständigungspolitik ableitete, konzentrierten sich die kritischen Repliken in erster Linie auf rein innenpolitische Fragen. Den roten Faden der „Modell Deutschland“-Literatur bildete die Problematik der Repression, sprich: der Unterdrückung demokratischer Freiheiten durch den Staat. Mit Gerhard Kade und Frank Haenschke äußerten sogar zwei SPD-Mitglieder Kritik an den gesetzlichen Rahmenbedingungen, die die eigene Partei zur Verbesserung der Inneren Sicherheit schuf. In den erweiterten Instrumentarien zur Überwachung und Eindämmung oppositionellen Handelns sahen sie eine Bedrohung, nicht nur für einzelne Bürger, sondern für den Staat an sich, da seine Institutionen die Kontrolle über die Instrumentarien verlieren könnten. Dass dies bereits eingetreten war, versuchten Klaus Farin und Hans-Jürgen Zwingmann in ihrer Dokumentation zum Extremistenbeschluss aufzuzeigen. Ausgehend von verschiedenen „Berufsverbots“-Fällen zogen sie sogar die Rechtssicherheit in der Bundesrepublik in Zweifel. Joachim Hirsch sah die Situation weniger dramatisch. Gerade in der Regulierungswut der Institutionen spiegelte sich seiner Meinung nach die Stärke des sozialdemokratisch geprägten Staates wieder. Soziale und politische Konflikte würden demnach präventiv entschärft. Auch Wolf-Dieter Narr und Ernest Mandel betrachteten den „starken Staat“ als stabilisiert. Narr sah darin eine Leistung der sozialliberalen Regierung, Mandel nur einen deutschen Sonderfall. Optimistischer in seiner Analyse gab sich Karl Dietrich Bredthauer, der einer demokratischen Gegenbewegung Chancen einräumte, die festgefahrenen Verhältnisse zu verändern. Abgesehen von ihren teils geringfügigen Meinungsverschiedenheiten über die Stabilität des Staates waren sich die Autoren einig in dem Befund, dass es unter den sozialliberalen Regierungen seit 1969 zu einer Verengung der gesellschaftlichen Spielräume für politisch Andersdenkende gekommen war. Der Extremistenbeschluss und der Ausbau des polizeilichen Fahndungsapparats wurden wiederholt als Belege für diese Entwicklung angeführt. Neben den verschiedenen Anzeichen von Repression spielten bei einigen Autoren auch wirtschaftliche Aspekte der sozialliberalen Ära eine Rolle. So kritisierten Mandel, Narr und Hirsch das unbeirrte Festhalten der SPD am kapitalistischen Wirtschaftssystem, anstatt dessen Krisenerscheinungen zum Anlass zu nehmen, den Übergang in ein alternatives sozialistisches System zu suchen. Stattdessen würden seit Jahren sinkende Reallöhne, wachsende Arbeitslosigkeit und ein negativer Staatshaushalt hingenommen. Haensch-
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ke erinnerte zudem daran, dass ein weiteres Wirtschaftswachstum nur mit ernsten Umweltschäden erkauft werden könne. Ein Umdenken sei notwendig. Dem entsprechend getrübt stellte sich das Verhältnis zur SPD dar, die neben Union und FDP zwar weiterhin als das „kleinere Übel“262 galt, aber ebenso wie diese als „bürokratische Integrationspartei“ betrachtet wurde, die der „kapitalistischen Akkumulation“263 verpflichtet sei. Auch der Kanzlerwechsel von Brandt zu Schmidt änderte an solchen Einschätzungen nichts. Der Übergang von der frühen zur mittleren sozialliberalen Ära wurde bruchlos wahrgenommen. Ohnehin war die Kritik selten personalisiert, sondern vielmehr auf die SPD als Ganzes bezogen. Aus linker Sicht schien „nicht nur die Politik, sondern die Partei selbst […] undemokratisch und reformunwillig“264, meint Andrei S. Markovits. Alles in allem verwundert es kaum, dass der Slogan „Modell Deutschland“ in keiner der Repliken mit positiven Vorstellungen verknüpft wird: Einige der linken Kritiker erkannten zwar durchaus einen Vorbildcharakter der sozialliberalen Politik an, in ihren Augen handelte es sich aber um ein negatives Vorbild oder gar warnendes Beispiel. Gerade in dieser Weise begegneten die Kritiker aus der SPD dem Slogan. Sie sträubten sich gegen den hohen Anspruch, eine modellhafte Politik zu betreiben, und sahen darin die Gefahr der Selbstüberschätzung. Außerhalb der SPD wurde der formulierte Anspruch mal mehr, mal weniger ernst genommen: Die Spannbreite reichte von Bredthauer, der den Slogan ein bloßes „Etikett“ einer verwechselbaren Politik nannte, bis zu Hirsch, der mit „Modell Deutschland“ ein ausgeklügeltes Herrschaftssystem bezeichnet sah. In der kritischen Deutung des Slogans lassen sich auch Züge der linken „Strategie der Gegendramatisierung und Gegenskandalisierung“265 wiedererkennen, wie sie seinerzeit ohnehin beim kritischen Diskurs um die Innere Sicherheit in Erscheinung trat: Während dort jedoch der Begriff Faschismus und der Topos des „betroffenen Bürgers“ irrlichterten,266 wurde hier mit Begriffen wie „Korporativismus“, „Systemstabilisierung“, oder dem Topos des „Sicherheitsstaats“ gearbeitet.267 Angesichts der vielfältigen Kritik ist zu hinterfragen, ob der Slogan „Modell Deutschland“ als Symbol für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik seine Berechtigung hat. Schon bei seinem Bekanntwerden stellte er keine Realitätsverdichtung dar, die auf breite Zustimmung stieß. Stattdessen diente er als Aufhänger für vielfältige linke (Um-)Deutungen, die die Siebziger Jahre insgesamt als „Jahrzehnt der Enttäuschung“268 erscheinen lassen. Viel eher als Symbol kann der Slogan daher als Symptom seiner Zeit verstanden werden, weil er, wie kaum ein anderer Wahlslogan in der Geschichte der Bundesrepublik, eine sich verselbstständigende kritische Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik provozierte. Dies kann als symptomatisch für jene späten Siebziger Jahre und die seinerzeit extrem ausgeprägte Politisierung linksintellektueller Kreise betrachtet werden.
262 BREDTHAUER, Karl Dietrich: Modell Deutschland?, S. 989. Vgl. auch: Verlag Arbeiterkampf (Hg.): SPD: Das ‚kleinere Übel‘, das zu immer größeren Übeln führt. Hamburg 1976. 263 HIRSCH, Joachim: Das ‚Modell Deutschland‘, S. 38 u. S. 42. 264 MARKOVITS, Andrei S./GORSKI, Philip S.: Grün schlägt rot. Hamburg 1997, S. 153. 265 KUNZ, Thomas: Der Sicherheitsdiskurs. Die Innere Sicherheitspolitik und ihre Kritik. Bielefeld 2005, S. 361. 266 Vgl. ebd., S. 321-324 u. S. 332-334. 267 An dieser Stelle wird auf (wiederholte) Verweise verzichtet. Siehe Kap. III.2.3.1 bis III.2.3.4. 268 MARKOVITS, Andrei S./GORSKI, Philip S.: Grün schlägt rot, S. 125.
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Symptomatisch für jenen Zeitraum ist auch der Charakter der kritischen Diskussion über das „Modell Deutschland“, das offensichtlich quer durch das linke Spektrum verbreitete Bedürfnis, auf die SPD reagieren und sich von ihr abgrenzen zu müssen. Und auch der inhaltlichen Ausrichtung der Diskussion haftet etwas Symptomatisches an: Dass sich Willy Brandts Befürchtung nicht bewahrheitete, das „Modell Deutschland“ könnte als Modell eines geteilten Landes gedeutet und verurteilt werden,269 ist bezeichnend für das damalige Desinteresse Linker an Fragen der Entspannungspolitik im Äußeren wie der Deutschlandpolitik im Inneren. „Die Existenz der DDR“, erinnert sich Gerd Koenen, „bedeutete […] eine doppelte Verlegenheit. Weder hatten wir Lust, dem peinlichen ‚Arbeiter- und Bauern-Staat‘ […] irgendwie näher zu treten, noch dieser angeblich ungelösten ‚deutschen Frage‘, die daran hing. Die ‚neue Ostpolitik‘ Brandts trug dazu nur noch mehr bei. Dem Kniefall in Warschau trauten wir nicht, im Gegenteil.“270 Noch 1980 mahnte der damalige Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder: „Die Linke muß Frieden oder besser, die Abwesenheit von Krieg, muß Entspannung […] wieder als politische Kampfaufgabe begreifen.“271 Auch der Blick auf die „Modell Deutschland“-Literatur zeigte: Lediglich Bredthauer und Kade befassten sich ausführlich mit der außenpolitischen Dimension der sozialliberalen Politik. Beide äußerten Bedenken, dass mit der von der Bundesregierung angestrebten Vorbild- und Vorreiterrolle in Europa „weltpolitische Ambitionen“272 einher gehen könnten. Besonders die im Regierungsprogramm bekräftigte Festigung des NATO-Bündnisses gab ihnen Anlass zur Sorge. Bredthauer deutete sie als bewusste Distanzierung der SPD vom Prozess einer schrittweisen Auflösung der Militärblöcke und konkreter Abrüstungsmaßnahmen,273 wie ihn die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) seit 1973 ankurbelte. Hintergrund: FDP und „Modell Deutschland“ Wenn sich ein Slogan, der im Speziellen die Leistungen der SPD, im weiteren Sinne aber auch die Verdienste der sozialliberalen Koalition hervorheben sollte, auf die beschriebene Weise zu einer Art Unwort entwickelt, dann wirft dies die Frage auf, ob sich auch die FDP – als Regierungspartner der SPD – davon angesprochen fühlte. Nahm sie die negative Auslegung des „Modells Deutschland“ auch als Kritik an ihrer eigenen Politik wahr? Zumindest im Wahlkampf 1976 war vonseiten der FDP keine Distanzierung vom „Modell“-Anspruch zu erwarten, da die Partei schon auf ihrem Bundesparteitag 1975 eine Zusage für die Fortsetzung der sozialliberalen Koalition gegeben hatte. Von der Polarisierung zwischen Union und SPD in die Ecke gedrängt, befand sich die FDP in der schwierigen Situation, sich nicht als Anhängsel der SPD zu präsentieren, sondern ihre Eigenständigkeit zu betonen. Die FDP erklärte sich zur Partei der „Liberalen“ und setzte auf die Sympathiewerte ihrer vier Bundesminister
269 Siehe S. 91. 270 KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt, S. 223. 271 SCHRÖDER, Gerhard: Die Linke vor der Alternative: Krieg oder Frieden. In: GREMLIZA, Hermann L./HANNOVER, Heinrich (Hg.): Die Linke, S. 182-192, hier: S. 191. 272 KADE, Gerhard: Die deutsche Herausforderung, S. 92; vgl. hier auch: S. 94-109, S. 169-215 und S. 216-240. 273 BREDTHAUER, Karl Dietrich: Modell Deutschland?, S. 980.
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Hans-Dietrich Genscher, Hans Friderichs, Werner Maihofer und Josef Ertl.274 Der Wahlausgang war anschließend für beide Regierungsparteien enttäuschend: Die Koalition verlor 3,7 Prozent gegenüber 1972. Mit einem Verlust von 0,5 Prozent befand sich die FDP allerdings nicht in der Position, die SPD zu kritisieren, oder gar das „Modell Deutschland“ zu hinterfragen. Die Enttäuschung innerhalb der Partei hielt sich in Grenzen: Immerhin konnte die sozialliberale Regierung ihre Arbeit fortsetzen. Damit war das wichtigste Wahlziel erreicht worden. In der zweiten Amtszeit Schmidts verschlechterte sich die Lage der FDP zunehmend: Bei den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hamburg 1978 fiel sie unter die Fünf-Prozent-Marke. In Hessen und Bayern blieb sie nur knapp in den Parlamenten vertreten. Auch die Europawahl 1979 brachte für die FDP ein bitteres Ergebnis: Nur sechs Prozent der Stimmen – das war für die europaorientierten Liberalen eine Ohrfeige. 1980 folgte sogar der Auszug aus dem Düsseldorfer Parlament, obwohl Nordrhein-Westfalen damals als das „Stammland der FDP“ galt.275 Kurzum: In einer solchen Phase, in der die FDP-Führung eine geeignete Überlebensstrategie suchte, um sich vor der Bundestagswahl 1980 noch aus dem Stimmungstief zu retten, muss es der Partei fern gelegen haben, sich mit Problemen zu beschäftigen, die vorrangig die Sozialdemokraten betrafen – wie die Beispiele zeigten, waren diese ja der erste Adressat der „Modell Deutschland“-Kritik. Es sollte daher nicht verwundern, dass sich die FDP offiziell überhaupt nicht mit dem Slogan und seinem Widerhall beschäftigt hat: Im parteinahen Archiv des Liberalismus ist kein einziges publiziertes Dokument überliefert, in welchem der Slogan aufgegriffen oder thematisiert wird.276
3. M ODELL -S ITUATION D EUTSCHER H ERBST ? 3.1 Die Entführungsfälle Schleyer und „Landshut“ „Es habe eine ‚ernsthafte Bereitschaft‘ gegeben, ‚gegebenenfalls über das Grundgesetz hinauszugehen, ganz klar‘, sagt heute Siegfried Fröhlich, damals Staatssekretär im Innenministerium.“277 – Mit dieser Information gingen der Journalist Georg Bönisch und der Historiker Klaus Wiegrefe im September 2008 an die Öffentlichkeit. In ihrem Artikel für die Zeitschrift »Der Spiegel« präsentierten sie die Ergebnisse ihrer Recherche zu den internen Absprachen des Großen und Kleinen Krisenstabes während des Deutschen Herbstes. Beide Beratungskreise waren von Bundeskanzler Schmidt nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer einberufen worden. Die RAF hatte in Köln erbarmungslos alle vier Begleiter des Arbeitgeberpräsidenten ermordet und erwartete dennoch ein umfangreiches Entgegenkommen der Bundesregierung: Die Freilassung von elf inhaftierten Mitgliedern und jeweils 100.000 DM, damit diese sorglos in ein Land ihrer Wahl ausreisen konnten.
274 Vgl. HENNING, Friedrich: FDP – Die Liberalen. Porträt einer Partei (Geschichte und Staat, Bd. 218). München 1982, S. 133. 275 Vgl. DITTBERNER, Jürgen: FDP – Partei der zweiten Wahl. Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Partei und ihrer Funktionen im Parteiensystem der Bundesrepublik. Opladen 1987, S. 46. 276 Laut Angaben eines Archivmitarbeiters vom 28.05.2009. 277 BÖNISCH, Georg/WIEGREFE, Klaus: ‚Massive Gegendrohung‘. In: Der Spiegel (08.09. 2008).
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Bönisch und Wiegrefe gelang es, Mitschriften von Teilnehmern des Großen Krisenstabs ausfindig zu machen, anhand derer sie geheime Details über die Beratungen rekonstruierten. Bemerkenswert dabei: Der Kreis um Schmidt, dem Justizminister Hans-Jochen Vogel, Außenminister Hans-Dietrich Genscher und den Oppositionsführern Helmut Kohl und Franz Josef Strauß rührte in seinen Beratungen offenbar an den Grenzen des Grundgesetzes. Bönisch und Wiegrefe belegten zum einen, dass über eine Todesstrafe für jene RAF-Mitglieder nachgedacht wurde, die mit Hilfe von Schleyer freigepresst werden sollten. Zum anderen erfuhren sie aus den Notizen, dass sowohl Strauß, als auch Kohl „die Frage nach ‚Repressalien‘ aufgeworfen“ hatten. Ebenfalls für nachweisbar halten die Autoren, dass dieser Gedanke von Schmidt aufgenommen wurde. So habe der Kanzler persönlich einen Text redigiert, der über das BKA an die Entführer weitergeleitet werden sollte. Er enthielt folgende Botschaft: „BKA geht von der Erwartung aus, dass sich die Entführer bewusst sind, dass die Tötung von Schleyer oder eine neue Gewalttat oder der Abbruch der Kontakte auf das Schicksal der ihnen befreundeten Angeklagten und Häftlinge zurückwirken muss.“278 Wie sich diese „Rückwirkungen“ auf die Gefangenen aus der RAF konkret gestalten sollten, bleibt offen. Eine Einladung zu Spekulationen. Bönisch und Wiegrefe gelang es bislang nicht, weiterführende Informationen zu beschaffen. Klar ist: Wären die Gedankenspiele der Krisenstäbe bereits damals an die Öffentlichkeit gekommen, hätten sich all diejenigen, die ohnehin eine Zuspitzung der Repression zu beobachten glaubten, endgültig in ihrer staatskritischen Haltung bestätigt gesehen. Das Wissen um die Inhalte der Beratungen besaß eine kaum schätzbare politische Sprengkraft. Der Deutsche Herbst brach schließlich nicht aus heiterem Himmel über die Bundesrepublik herein. Einerseits hatte die RAF mit ihren Mordanschlägen auf Siegfried Buback und Jürgen Ponto ihre „Offensive 77“ begonnen. Andererseits war gerade ein „heißer Sommer“ zu Ende gegangen, in welchem die Zusammenstöße zwischen den Kernkraftgegnern und der Polizei ungekannte Ausmaße angenommen hatten. Die Bauplätze in Grohnde und Brokdorf entwickelten sich zu ständigen Unruheherden, wobei mit jeder weiteren Auseinandersetzung auch bei denjenigen die „Zweifel an der Authentizität der ‚gewaltfreien‘ Haltung“ schwanden, die bisher nicht auf der Seite der militanten Gruppen waren. „Die Intensivierung staatlicher Repression [… machte] es immer schwieriger zu beweisen, dass ‚Gewaltfreiheit‘ nicht eine Form der Anpassung bedeutet“279, beschreibt Andreas Pettenkofer die Sichtweise der Aktivisten. Gewissermaßen ideologisch genährt wurde die Bereitschaft zur Auflehnung gegen die Staatsgewalt durch Robert Jungks »Atomstaat«280. Der Zukunftsforscher veröffentlichte 1977 seine emotionsgeladene Abrechnung mit der Kernenergie und ihren Gefahren für die Menschheit. Darin äußert er seine Überzeugung, dass es Technologien gebe, „die die Struktur von Herrschaft aufweisen, etwa die Gentechnologie oder die Atomtechnologie. Sie verkörpern Herrschaft, sie müssen bewacht werden, wenn sie funktionieren, wenn sie nicht funktionieren, wenn sie verschrottet werden.“ Kurzum: „Wer das Gelände der Gesellschaft mit Atomanlagen bestückt, der will den Atomstaat, den Überwachungsstaat.“281 278 Ebd. 279 PETTENKOFER, Andreas: Kritik und Gewalt, S. 377. 280 JUNGK, Robert: Der Atomstaat. München 1977. 281 Zit. nach: NEGT, Oskar: Unbotmäßige Zeitgenossen. Annäherungen und Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1994, S. 176.
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Erfahrbar wurde dieser Überwachungs- und Kontrollstaat für viele Kernkraftgegner spätestens am 24. September 1977: Unter dem Eindruck der SchleyerEntführung mobilisierten mehrere Bundesländer insgesamt etwa zehntausend Polizeikräfte, als es im nordrhein-westfälischen Kalkar zur bis dahin größten Demonstration gegen den Bau eines Kernkraftwerks kam. Fünfzigtausend Kernkraftgegner sollen auf den Beinen gewesen sein.282 Die Innenministerien drängten darauf, den Zustrom der Teilnehmer möglichst schon im Vorfeld einzudämmen. Die Folge waren Kontrollen und Sperrungen auf Autobahnen, an den Grenzen und in Westberlin. Die Polizeibeamten suchten vor allem nach Helmen, Gasmasken oder Tarnmitteln. Wenn die Absicht einer Teilnahme in Kalkar erkennbar war, hatten sie die Anweisung, die jeweiligen Personen aufzuhalten.283 Auch die Bundesbahnverbindungen unterlagen den Kontrollen. Die Bahnpolizei war im Einsatz, unterstützt von Polizeihubschrauberpatrouillen, die auf offener Strecke Züge stoppten, damit die Fahrgäste kontrolliert werden konnten – vorgehaltene Maschinenpistolen prägten sich ins Gedächtnis.284 Manche Beteiligten fühlten sich von all dem nachhaltig abgeschreckt, blieben späteren Großdemonstrationen fern. Man sprach deshalb auch vom „Kalkar-Schock“285. Doch nicht nur gegenüber der Anti-AKW-Bewegung hatte der „starke Staat“ Stellung bezogen: „Martialisch“ ging es auch in Bonn zu, wo die Bundespolitiker nach dem Vorfall in Köln mit weiteren Entführungen oder Anschlägen der RAF rechneten und sich nur in Begleitung „von Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag“286 zeigten. Auf den Straßen rollten Panzerwagen, Beamte des Bundesgrenzschutzes richteten Posten ein und befestigten sie mit Sandsäcken. Von den Medienvertretern bekamen nur wenige Zutritt zu den Konferenzräumen, in denen die Besprechungen der Krisenstäbe stattfanden. Der kleinere traf täglich im Kanzleramt zusammen, der größere ein- bis zweimal pro Woche. Zusätzlich tagte mehrfach die AG Kripo, ein gemeinsames Verhandlungsgremium der Landeskriminalämter und des BKA. Wirklich informiert nennen konnten sich nur die von Ministern, Staatssekretären, Ministerberatern oder Fachbeamten handverlesenen Journalisten.287 Es bestand eine Art Nachrichtensperre: Regierungssprecher Klaus Bölling hatte die Chefredakteure sämtlicher Zeitungen sowie der Presse- und Rundfunkanstalten darum gebeten, „in der Berichterstattung nichts zu tun, was die Arbeit der Sicherheitsorgane beeinträchtigen könnte.“288 Der Deutsche Presserat schloss sich dieser Bitte mit einem eigenen Appell an. Obwohl es sich nicht um rechtlich verbindliche Verhaltensgebote handelte, sind keine nennenswerten Verstöße bekannt. Wolfgang Kraushaar spricht deshalb von einer „Selbstzensur“: Die Medienlandschaft habe
282 Vgl. PETTENKOFER, Andreas: Kritik und Gewalt, S. 379. 283 Vgl. o. A.: Glatte Verdrehung. In: Der Spiegel (12.01.1981). 284 Vgl. PETTENKOFER, Andreas: Kritik und Gewalt, S. 379. 285 GERONIMO: Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen. 4. Auflage. Berlin/Amsterdam 1995, S. 84. 286 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 286. 287 Vgl. HOFMANN, Günter: Nr. 0288: Bonn. In: SONTHEIMER, Michael/KALLSCHEUER, Otto (Hg.): Einschüsse. Besichtigung eines Frontverlaufs. 10 Jahre nach dem Deutschen Herbst. Berlin 1987, S. 32-57, hier: S. 48. 288 KRAUSHAAR, Wolfgang: Der nicht erklärte Ausnahmezustand. Staatliches Handeln während des sogenannten Deutschen Herbstes. In: Ders. (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. Hamburg 2006, S. 1011-1025, hier: S. 1018.
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ihre Unabhängigkeit eingebüßt und sei „zum integralen Bestandteil eines autoritären Staatsverständnisses“289 geworden. Die Stärke, die die Krisenstäbe nach außen hin demonstrierten, fand keine Entsprechung im Machtzentrum selbst: Die sozialliberale Koalition befand sich in der schwierigsten Situation seit Sommer 1972. Für Aufregung sorgte nicht das Krisenmanagement des Kanzlers an sich, sondern dessen rechtliche Basis. Im Wesentlichen ging es um das so genannte Kontaktsperregesetz. Die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen waren seit der Entführung untereinander, aber auch von Anwälten und Besuchern abgeschnitten. Damit befanden sie sich „tatsächlich in der zuvor stets angeprangerten Isolationshaft“290. Verfügt hatte dies am 6. September der Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel, wobei nicht alle Länderjustizminister mitzogen. Sie hatten Bedenken, dass Vogels Berufung auf §34 des Strafgesetzbuches und den darin verankerten Rechtsgedanken des „rechtfertigenden Notstandes“ nicht ausreichte, um den Häftlingen das nach §148 StPO gewährleistete Recht der freien Verteidigung zu nehmen. Diese Bedenken wurden auch in den Bundestag hineingetragen. Als die Kontaktsperre am 29. September auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden sollte, stimmten ausgerechnet vier SPDAbgeordnete dagegen. Ihre Begründung lautete: „Die Aufgabe rechtsstaatlicher Prinzipien rettet kein Menschenleben.“291 Unter den Sozialdemokraten kam es daraufhin zu herben Wortgefechten. Fraktionschef Herbert Wehner knurrte: „Die große Mehrheit der Fraktion weiß, was sie der Bundesrepublik Deutschland, unserem Gemeinwesen schuldig ist.“292 Willy Brandt, der SPD-Vorsitzende, hatte aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Abstimmung teilgenommen. Wären in dieser Gemengelage auch noch die brisanten Details aus den Beratungen der Krisenstäbe ans Licht gekommen, hätte sich wohl eine handfeste Regierungskrise angebahnt. So blieb es, heikel genug, bei einer Zitterpartie für die SPDFraktionsspitzen, die bei sämtlichen Abstimmungen in jenen Herbsttagen bangen mussten, „ob ihre Politik von den Genossen im Parlament unterstützt oder blockiert wird.“293 Dass die Stabilität der parlamentarischen Demokratie letztendlich gewahrt blieb, verdankte die Bundesregierung dem fraktionsübergreifenden Zusammenspiel mit der Union.294 Dumm nur, dass dieser Bonner Burgfrieden all jenen Kritikern Munition lieferte, die die SPD schon lange im Verdacht hatten, sie würde „eine bessere Unions-Politik machen“295. Ob Aktion oder Reaktion, in jenen Tagen lagen angenehme Vorzüge und bittere Kehrseiten eben dicht beisammen. Dem einen gingen die Maßnahmen gegen den Terrorismus zu weit, dem anderen konnten sie nicht weit genug gehen. Für die Bundesregierung stand viel auf dem Spiel und zugleich Vieles auf der Kippe. Vor diesem Hintergrund kann der Deutsche Herbst als eine Entscheidungssituation betrachtet werden, die ihre äußerste Zuspitzung am 18. Oktober 1977 in Mogadischu fand. Mit der glücklichen Geiselbefreiung auf der einen Seite und der
289 Ebd. 290 KLAUS, Alfred/DROSTE, Gabriele: Sie nannten mich Familienbulle. Meine Jahre als Sonderermittler gegen die RAF. Hamburg 2008, S. 255. 291 Zit. nach: KRAUSHAAR, Wolfgang: Der nicht erklärte Ausnahmezustand, S. 1016. 292 Zit. nach: o. A.: So kann man nicht regieren. In: Der Spiegel (10.10.1977). 293 Ebd. 294 Vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: Der nicht erklärte Ausnahmezustand, S. 1023. 295 BREDTHAUER, Karl Dietrich: Modell Deutschland?, S. 989.
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wohlkalkulierten Ausreizung „der Grenzen des Rechtsstaats“296 auf der anderen, bestätigten sich binnen weniger Tage die bislang nur unverbindlichen Deutungen des „Modells Deutschland“ als „Ausnahmestaat“297 – und zwar jede auf ihre Weise: (1) Aus Sicht der SPD bewahrheitete sich die Einschätzung, wonach die Bundesrepublik eine Vorbildrolle innehatte und hohes „Ansehen in der Welt“ genoss. Im Deutschen Herbst hatte sie der „Demokratie weltweit einen Dienst erwiesen“298 – mit anderen Worten: Modell gestanden. Lob und Hochachtung dafür sprachen westeuropäische Staatsmänner und internationale Presse vor allem Helmut Schmidt aus, der vom Nimbus des Machers „bis heute zehrt“299. (2) Anders in der liberalen bundesdeutschen Presse: Hier erfüllten sich in den Augen kritischer Beobachter die hartnäckigen Vorbehalte gegenüber dem Kanzler. Der Deutsche Herbst wurde als Modellfall eines „Krisen-Deutschland[s]“300 bewertet, da die sozialdemokratischen Entscheidungsträger endgültig unter Beweis gestellt hätten, dass sie nur mit Hilfe von „Notgesetzen“ und „Ausnahmerecht“301 effektiv handlungsfähig waren. (3) Aus linker Sicht erhärteten sich schließlich alle Verdachte, die Bundesrepublik verwandele sich unter der sozialliberalen Regierung in einen modellhaften westlichen Obrigkeitsstaat. Der Deutsche Herbst wurde als Punkt empfunden, „an dem die Repression in der BRD in den siebziger Jahren und überhaupt ihren schärfsten Ausdruck gefunden hat.“302 Diese drei Deutungsvarianten könnten um weitere ergänzt werden, zum Beispiel um liberale oder konservative. Sie reichen jedoch aus, um zu veranschaulichen, warum dem Deutschen Herbst so häufig zugeschrieben wird, er wäre ein Einschnitt oder Wendepunkt gewesen: Offensichtlich bot er schlichtweg eine ideale Gelegenheit, unter die Ereignisse und Entwicklungen der vorangegangenen Jahre einen Schlussstrich zu ziehen und dahinter ein relativ konkretes Ergebnis zu formulieren. Für Hanno Balz besteht es im „Sieg des Krisenkanzlers“, im „Sieg der 296 In seiner Bundestagsrede vom 15.06.1978. Siehe: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 8. Wahlperiode, Bd. 106. Bonn 1978, S. 7770. 297 HIRSCH, Joachim: Das ‚Modell Deutschland‘, S. 9. 298 Hans-Jochen Vogel in einer Beratung des Bundestags vom 28.10.1977. Siehe: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 8. Wahlperiode, Bd. 102. Bonn 1977, S. 4112. 299 WIEGREFE, Klaus: Schrecklicher Zustand. In: Der Spiegel (03.03.2008). 300 In einem Kommentar zum Bundestagswahlkampf 1976 heißt es: „Kein Zweifel […] KrisenDeutschland braucht Schmidt, und Schmidt braucht die Krise. Was aber macht ein Schmidt ohne Krise? Dem Konservativen mangelt es, wenn es einmal nicht um Weltwirtschaft und Weltwährung geht, an Willen und an der Phantasie, neue gesellschaftliche und politische Perspektiven zu entwerfen. Das ist es, was ihn trotz aller weltweit anerkannten ökonomischen Leistungen vom Wahlgewinner Brandt trennt.“ Siehe: o. A.: Was macht ein Schmidt ohne Krise. In: Der Spiegel (30.08.1976). 301 o. A.: Die Sache geht an die Eingeweide. In: Der Spiegel (03.10.1977). 302 TOLMEIN, Oliver: Wider das ‚Modell Deutschland im Herbst‘. Die Auseinandersetzungen um das Internationale Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der BRD. In: GÖSSNER, Rolf (Hg.): Widerstand gegen die Staatsgewalt. Handbuch zur Verteidigung der Bürgerrechte. Hamburg 1988, S. 128-143, hier: S. 143.
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Ideologie eines starken Staates“ und der „Niederlage des sozialdemokratischen Aufbruch-Projektes“303 aus der Ära Brandt. Ob sich Schmidt tatsächlich als Triumphator über seinen Vorgänger wähnte, darüber bleibt zu spekulieren. Dass der zweite sozialdemokratische Kanzler ein anderes Verständnis von Freiheit und Partizipation hatte, ist allerdings unbestritten. In einem Interview für die christliche Monatszeitschrift »Herder-Korrespondenz« vom Juli 1978 legte Schmidt seine Haltung noch einmal ähnlich ausführlich dar wie elf Jahre zuvor in seinem Beitrag für die Münchener »Abendzeitung«: Nach wie vor begrüßte er zwar, dass „Menschen sich des Wertes bewusst geworden sind, der darin liegt, Dinge für sich selbst entscheiden zu können und nicht andere über sich entscheiden zu lassen.“ Zugleich warnte er aber davor, dass dieses Freiheitsbewusstsein umschlagen könne in „eine stärkere Neigung des Bürgers […], Ansprüche an den Staat zu stellen.“ Schmidt wiederholte den Gedanken mit dem etwas kryptischen Satz: „Es ist ein allgemeiner Hang zur Anspruchshaltung zu verzeichnen, aber wenig Neigung zur Beitragshaltung.“ Auf der Suche nach den Ursprüngen dieser – aus seiner Sicht problematischen – Mentalität, blickte Schmidt auf die jüngere deutsche Geschichte zurück: „Speziell auf Deutschland gewendet, kann man sagen: Nachdem die nationalsozialistische Diktatur die Bürgerinnen und Bürger, einschließlich der Jugendlichen, bis zum letzten überfordert hat, ist nun eher die gegenläufige Tendenz zu beobachten, dass die Bürger ihrerseits dazu neigen, die Leistungsfähigkeit des Staates zu überfordern.“
Schmidt führte den Gedanken an anderer Stelle weiter aus. So habe … „[…] als Antwort auf die Nazi-Diktatur in Deutschland, die faschistischen Diktaturen in südeuropäischen Ländern, auf die stalinistische Diktatur in der Sowjetunion und auf zum Teil unvermeidliche, zum Teil über das Unvermeidliche hinausgehende übertriebene Rigiditäten in allen am Zweiten Weltkrieg beteiligten Staaten eine Gegenwelle eingesetzt […], eine Gegenwelle in Richtung auf Befreiung der einzelnen Person von einem Übermaß an ihr von Staats wegen übergestülpter Ordnung. Diese Gegenbewegung ist sicherlich am stärksten in Deutschland […].“
Einen Zusammenhang mit den jüngsten Entwicklungen in der Bundesrepublik sah Schmidt dagegen nicht. Jedoch räumte er ein, dass auch in den Siebziger Jahren Demokratiebedürfnisse entstünden seien und enttäuscht würden: „Es gibt viele in unserer Zeit, die haben auf der Schule oder im Seminar die Demokratie als etwas schlechthin Ideales gelernt und sind nun enttäuscht, dass sie sich in der praktischen Verwirklichung an vielen Enden als allzu menschlich erweist. Ich kann die Enttäuschung verstehen. Aber ich warne vor der Idealisierung der Demokratie.“
Mit dem Verweis auf die Bildungsanstalten als Quelle unhandlicher Demokratievorstellungen wandte sich Schmidt leicht verklausuliert gegen die Politik Willy Brandts in den frühen Siebziger Jahren. In erster Linie bezog er sich auf die da303 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 305. 304 SEEBER, David A.: Von den Schwierigkeiten des Regierens heute. Ein Interview mit Bundeskanzler Helmut Schmidt. In: Herder-Korrespondenz. Monatshefte für Gesellschaft und Religion (Nr. 7, Juli 1978), S. 338-344, hier: S. 339f.
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maligen Hochschulreformen, die ja einen Linksruck der Studentenschaft nach sich gezogen hatte. An diese gerichtet, heißt es bei Schmidt: „Eine der Zwangsläufigkeiten der Demokratie ist, dass nicht das sich durchsetzt, was der eine oder andere für das Richtige hält, sondern die Auffassung der Mehrheit. […] Es wäre ein Unglück, wenn personale Glückserwartungen unmittelbar an den Staat gerichtet würden, die dieser nur um den Preis einer staatlich verordneten Ideologie erfüllen könnte.“
Wie bereits in seinem Beitrag von 1967 forderte Schmidt vom politischen Nachwuchs Sachlichkeit und Toleranz ein. In Andeutung seines späteren Ausspruchs, „wer eine Vision hat, sollte zum Arzt gehen“306 – mit dem er sich übrigens ebenso gegen Brandt stellte –, unterstrich Schmidt, dass er für Utopien und gesellschaftlichen Umgestaltungswillen wenig übrig hatte. Seine Sache war das Berechenbare, das Machbare, und so trat er ganz illusionslos für die Bewahrung der bestehenden freiheitlichen Demokratie ein. Diese Aufgabe hatte sich im Deutschen Herbst ja als schwierig genug erwiesen. 3.2 Todesnacht in Stammheim Schmidts Regierungsstil ist es in einem gewissen Grade auch zuzuschreiben, dass sich Journalisten und Zeithistoriker wiederholt versucht fühlten, den letzten Ungewissheiten in der langen Ereigniskette zwischen Köln und Stammheim auf den Grund zu gehen.307 Dabei spielt sicher eine Rolle, dass Schmidt praktisch durchgängig öffentlich präsent blieb: Wo der Alt-Kanzler auftritt, ist er wie eh und je der „weitsichtige Staatsmann“308, wird er als Politikertyp gefeiert, für den es gegenwärtig keine Entsprechung gibt.309 Doch ebenso wie der elder statesman seit jeher als kluger Kopf imponiert, ruft er stets auch ein gewisses Misstrauen hervor. Prominent zum Ausdruck kam dieses in den schwierigen Verhältnissen zwischen ihm und Willy Brandt respektive Helmut Kohl. Letzterer warf seinem Amtsvorgänger einst vor,
305 Ebd., S. 343f. 306 In einem Interview verwies Schmidt jüngst noch einmal darauf, dass es nicht hieß: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“. Auf die Frage, wie der Satz überhaupt an die Welt gekommen sei, antwortete der Alt-Kanzler: „Das weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich ihn in einem Interview gesagt. Das muss mindestens 35 Jahre her sein, vielleicht 40. Da wurde ich gefragt: Wo ist Ihre große Vision? […] Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“ Siehe: Di LORENZO, Giovanni: Verstehen Sie das, Herr Schmidt? In: Zeit Magazin (04.03.2010). Der Ausspruch wurde später vom österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard aufgegriffen, allerdings mit Verweis auf den österreichischen Bundeskanzler Franz Vranitzky. Vgl. BERNHARD, Thomas: Heldenplatz. Frankfurt a. M. 1995, S. 164. 307 Vgl. zuletzt: WIEGREFE, Klaus: Schrecklicher Zustand; AUST, Stefan/BÜCHEL, Helmar: Der letzte Akt der Rebellion. In: Der Spiegel (10.09.2007); WERNICKE, Lutz: Stammheim 1977. Wirklichkeit und Propaganda. Münster 2004; OESTERLE, Kurt: Stammheim. Die Geschichte des Justizvollzugsbeamten Horst Bubeck. Tübingen 2003. 308 POSCHE, Ulrike: Ruhiger Fels in globaler Brandung. Stern.de (12.04.2008). Siehe: http:// www.stern.de/politik/deutschland/helmut-schmidt-ruhiger-fels-in-globaler-brandung-616867. html (Stand: 06.11.2011). 309 Vgl. CHRIST, Sebastian: ‚Ein Politikertyp, der nicht mehr existiert.‘ Interview mit Peter Lösche. Stern.de (03.04.2008). Siehe: http://www.stern.de/politik/deutschland/helmut-schmidtein-politikertyp-der-nicht-mehr-existiert-616119.html (Stand: 06.11.2011).
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er strahle eine „Eiseskälte der Distanz“310 aus. Was Kohl abstieß, zieht besonders Journalisten an: Es ist der Eindruck, nicht vollends schlau aus dem souveränen Polit-Strategen zu werden. So bringen sie in Interviews mit dem Alt-Kanzler immer wieder dieselben Fragen zu denselben Ereignissen zur Sprache. Zuletzt 2007, als Schmidt im Interview mit der »Zeit« wiederholt darauf angesprochen wurde, was ihm persönlich vom Deutschen Herbst geblieben sei und er zum wiederholten Male eingestand: „Ich bin verstrickt in Schuld – Schuld gegenüber Schleyer und gegenüber Frau Schleyer.“311 Das entscheidende Datum für das ungebrochene Interesse an Schmidt und seiner Rolle im Großen Krisenstab ist der 18. Oktober 1977: Dachte der damalige Kanzler im Augenblick der Geheimoperation in Mogadischu noch an Rücktritt, wurde er mit der Nachricht von ihrem glücklichen Ausgang im Handumdrehen der „bewunderte Deutsche“312. Allein: Vom Triumph über das palästinensische Terrorkommando bis zum totalen Sieg über die RAF war es kein großer (gedanklicher) Schritt. Nachdem auch die Meldungen vom Tod Andreas Baaders, Gudrun Ensslins und Jan-Carl Raspes um die Welt gingen, hieß es in einigen Ländern nicht nur „Bravo Schmidt“, sondern auch „Hängt Schmidt!“313 Deshalb blieb vom 18. Oktober nicht nur die Freude über das Ende der „Landshut“-Entführung, sondern auch die leidige Frage, ob es sich in Stammheim um Mord oder Selbstmord handelte.314 Sie war von Anfang an eine „Testfrage über das Verhältnis zum Staat“, gab der Schriftsteller Peter Schneider 1978 zu bedenken. Da niemand genau gewusst habe, was in der Stuttgarter Haftanstalt vorgefallen war, habe jede Diskussion über diese Frage zwangsläufig dazu geführt, dem Staat das eigene Ver- oder Misstrauen auszusprechen. Der Fokus lag dabei auf den Schlüsselpersonen. Und so lautete ein typischer Gesprächsfetzen jener Herbsttage: „‘Sie glauben doch nicht, daß Helmut Schmidt oder Filbinger …‘“315, erinnert sich Schneider. Einige bekannte Köpfe der Linken, allen voran Otto Schily, hielten nicht mit ihrer Überzeugung hinterm Berg und brachten kurzerhand Mordvorwürfe vor, die „überall in der Presse ein großes Echo“316 fanden. Hanno Balz hat die Skandalisierungstendenzen jener Tage und Wochen untersucht und festgestellt, dass Fragen nach Ungereimtheiten nur für kurze Zeit in Umlauf blieben. Bald habe sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Wirkung der linken Verschwörungstheorien verschoben.317 Wollte die RAF den Tod ihrer Gründerfiguren zur weiteren Mobilisierung von Sympathisanten nutzen? Unterdessen kamen sowohl die von internationalen Experten beobachteten Obduzenten, als auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss zu dem Ergebnis, dass es sich in allen drei Fällen um Selbstmorde gehandelt hatte. Wer sich jedoch 310 LEINEMANN, Jürgen: Ein bißchen Adenauer und viel Wachtturm. In: Der Spiegel (04.10. 1982). 311 Di LORENZO, Giovanni: ‚Ich bin in Schuld verstrickt‘. In: Die Zeit (30.08.2007). 312 Nach dem Titel der Ausgabe des »Spiegels« vom 24.10.1977. 313 Zit. nach: o. A.: Deutsche können stark und menschlich sein. In: Der Spiegel (24.10.1977). 314 „Solche Irritationen gaben auch Auskunft über ein Bild der Staatsmacht, das gerade in den Köpfen junger, keineswegs politisch radikaler Menschen existierte“, hält der Historiker Eckart Conze fest. Siehe: CONZE, Eckart: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis zur Gegenwart. München 2009, S. 480. 315 SCHNEIDER, Peter: Der Sand an Baaders Schuhen. In: Kursbuch (Nr. 51, März 1978), S. 115, hier: S. 1. 316 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 316. 317 Vgl. ebd., S. 317.
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weiterhin unsicher darin war, ob man den staatlichen Institutionen trauen oder nicht trauen konnte und was man dem Kanzler zutrauen und was ihm nicht zutrauen konnte, dem standen eine ganze Reihe alternativer Berichte zur Auswahl. Auch von ihnen beanspruchten einige, die Hintergründe der Todesnacht in Stammheim wahrheitsgemäß zu rekonstruieren, oder sie warfen eine Reihe von Fragen auf,318 die die Schwächen und Lücken der staatlichen Berichte entlarvten.319 Die Verwirrung, die diese zum Teil sehr offensichtlichen Pannen stifteten, wirkt lange nach: Zwar hat sich mittlerweile die große Aufregung um das Thema gelegt, aber es gibt tatsächlich noch immer Stimmen, die behaupten, dass die Frage, ob Selbstmord oder Mord, völlig offen und „voraussichtlich nie mehr in der einen oder in der anderen Richtung“320 zu beantworten sei. Unabhängig von dieser dezidiert linken Sichtweise, haben Stefan Aust und Helmar Büchel die restlose Aufklärung der Todesumstände der drei RAF-Gefangenen vorangetrieben. Die beiden Journalisten legten 2007 Details zur Abhörpraxis im Stammheimer Zellentrakt von Baader, Ensslin und Raspe offen. Demnach habe es nicht nur Wanzen in den Zellen für die Verteidigergespräche gegeben, wie seit April 1977 bekannt ist,321 sondern auch technische Möglichkeiten, die geheime Kommunikationsanlage der Gefangenen anzuzapfen. Diese basierte auf einem Senderund Empfängersystem, das über die Schwachstromleitungen in den Zellenwänden lief. Die notwendigen Geräte gab es in jeder Zelle, es handelte sich um „die Verstärker und Lautsprecher der Stereoanlagen, die sowohl mit Netzanschluss als auch mit Batterien betrieben werden konnten. Die Gefangenen hatten die Geräte auch während der Kontaktsperre behalten dürfen.“ 318 Vgl. dazu stellvertretend: WEIDENHAMMER, Karl-Heinz: Selbstmord oder Mord? Todesermittlungsverfahren Baader, Ensslin, Raspe. Kiel 1988; BAHR-JENDGES, Jutta: Irmgard Möller berichtet. Dokumentation über die Todesnacht in Stammheim, über die letzten Wochen vor dem 18.10.77, Beschlüsse der Anstaltsleitung, Strafanzeige, Parlamentarischer Untersuchungsausschuss, ausländische Stellungnahmen. Bremen 1977; Arbeitsgruppe ‚Behinderung linker und demokratischer Öffentlichkeit‘ u. a. (Hg.): Selbstmord in Stammheim? Dokumente der Informationsveranstaltung über die Todesumstände von Stammheim am 24.11.1977 in Oldenburg (teilweise ergänzt und aktualisiert). Oldenburg 1977. 319 So fasst der Jurist und Publizist Oliver Tolmein zusammen: „Während etwa die Gutachter davon ausgegangen sind, daß der Griff der Waffe, mit der Baader sich erschossen haben soll, nach oben zeigen und Baader mit links geschossen haben mußte, weil nur so ein Abfeuern der Waffe ins eigene Genick erfolgen konnte, hat die Kriminalpolizei Stuttgart festgestellt, der Griff der Waffe müsse nach unten gezeigt und Baader mit rechts abgedrückt haben, weil nur das die Lage der Hülse des tödlichen Schusses erklärt. Auch das Gutachten, das nach kriminaltechnischen Untersuchungen an Baaders Wunde zu dem Ergebnis kam, die Waffe könne nicht aufgesetzt, sondern nur aus einem Abstand von 30-40 cm abgefeuert worden sein“, spricht gegen die offizielle Verlautbarung, es habe sich um einen aufgesetzten Schuss gehandelt. Siehe: TOLMEIN, Oliver: Schmidteinander. In: Konkret (Nr. 8, 1997). Christiane Ensslin, Schwester der verstorbenen Gudrun Ensslin und von Beruf Journalistin, nennt noch einen weiteren Fehler: „Schon nach dem Tod Ulrike Meinhofs wurde das Unterlassen eines Histamintestes scharf kritisiert. Dieser Test ermöglicht festzustellen, ob der Mensch lebend oder tot in die Schlinge gekommen kam. Im Falle von Gudrun Ensslin hätte so ein Mord ausgeschlossen werden können, doch „die beiden verantwortlichen Obduzenten […] leisteten sich diesen Fehler tatsächlich ein zweites Mal“. Siehe: ENSSLIN, Christiane: Alle Kreter lügen … In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck. Die Linke, die RAF und der Staat. Frankfurt a. M. 1987, S. 86-97, hier: S. 91. 320 WERNICKE, Lutz: Stammheim 1977, S. 4. 321 Vgl. PETERS, Butz: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF. Berlin 2004, S. 350f.
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Aust und Büchel fanden nicht nur heraus, dass Baader, Ensslin, Raspe und die Mitgefangene Irmgard Möller während des Deutschen Herbstes auf diese Weise miteinander sprechen konnten, sie konnten auch belegen, dass das baden-württembergische Landeskriminalamt zur selben Zeit eine „Sondermaßnahme“ in Stammheim durchführte. „Unmittelbar nach dem Selbstmord der Häftlinge wusste das Landeskriminalamt ganz genau, auf welche Weise die Gefangenen miteinander kommunizieren konnten. Was man monatelang angeblich übersehen hatte, war plötzlich in allen Details bekannt, wie ein LKA-Dokument vom 21. Oktober 1977 beweist. Das war, bevor der Sachverständige der Bundespost überhaupt seine Arbeit aufgenommen hatte. In dem Papier heißt es: ‚Die Verständigung war außergewöhnlich gut.‘ Das konnte man eigentlich noch nicht wissen, denn Verstärker, Lautsprecher, Kopfhörer und Kabel waren nicht miteinander verbunden, als die Leichen entdeckt 322 wurden.“
Auch wenn damit längst nicht bewiesen ist, dass die Zellen der RAF-Gefangenen in der Todesnacht abgehört wurden, legen es die Recherchen von Aust und Büchel zumindest nahe. Sollte sich ihr Verdacht anhand weiterer Aktenfunde bestätigen, dann wäre erstmals eine Modifikation der offiziellen Darstellung notwendig: Gingen die ermittelnden Behörden 1977/78 davon aus, dass sich Baader, Ensslin und Raspe zweifelsfrei selbst richteten, könnte stattdessen von einem „staatlich gebilligten Selbstmord“323 die Rede sein, wie es Hanno Balz offensiv formuliert. 3.3 Pressecho: Freiheit in Gefahr? Der Rückblick auf die frühe und mittlere sozialliberale Ära verlangt abschließend nach einem Perspektivwechsel zur methodischen Vergewisserung: Führt die Betrachtung linker Positionen nicht zu weit ins Abseits? Wie weit außen vor standen Linke mit ihrer kritischen Haltung zum „Modell Deutschland“? Wie anschlussfähig waren ihre Einschätzungen der sozialliberalen Innenpolitik, ihre Vorstellungen vom Staat, ihre Repressionskritik in der liberalen Öffentlichkeit? – Eine ungefähre Vorstellung davon ergibt sich bei der Betrachtung des Presseechos auf den Deutschen Herbst, genauer gesagt anhand einer kleinen Freiheitsdebatte, die zum Jahresende 1977 in den Wochenzeitschriften »Die Zeit« und »Der Spiegel« aufflammte und Mitte 1978 vom »Stern« in einer fünfteiligen Artikelserie wieder aufgegriffen wurde. „Aus der Freiheit in die Geborgenheit?“324 fragt Gunter Hofmann in der 47. Ausgabe der »Zeit« 1977. Der Bonn-Korrespondent nimmt Bezug auf die ersten Bemühungen sozialdemokratischer Politiker, den Deutschen Herbst parteiintern zu verarbeiten. Noch immer gärte der Konflikt um die vier Bundestagsabgeordneten, die dem Kontaktsperregesetz ihre Zustimmung versagt hatten, weil sie sich dem Rechtsstaat und ihrem Gewissen verpflichtet fühlten. Hinzu kam die Affäre um den schleswig-holsteinischen Landesvorsitzenden Jochen Steffen, der in einem Interview während der Schleyer-Entführung Polizei und Sicherheitskräfte als „Unterdrückungsapparat“325 bezeichnet hatte. Hofmann nimmt diese „‘kleine radikale Minderheit‘“ in der SPD beim Wort, mit Verweis darauf, dass die Partei es sich gefallen 322 AUST, Stefan/BÜCHEL, Helmar: Der letzte Akt der Rebellion. 323 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 314. 324 HOFMANN, Gunter: Aus der Freiheit in die Geborgenheit? In: Die Zeit (11.11.1977). 325 o. A.: Im Rücken des Kanzlers. In: Allgemeine Zeitung Mainz (29.09.1977).
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lassen müsse, „daß wieder geprüft wird, ob sich nicht ein ‚Abbau der Freiheitsrechte unter der Parole ihrer Verteidigung‘ vollzieht.“ Es gehe ihnen nicht darum, einen Nachtwächterstaat einzufordern, sondern die „‘Kumulation von Gesetzesänderungen‘“ zu hinterfragen, zu der es unter den sozialliberalen Regierungen in den Siebziger Jahren gekommen sei. Was die „SPD-Abweichler“ damit meinten, seien „die vielen kleinen Veränderungen im Strafrecht, Verfahrensrecht, Prozeßrecht, die BKA-Novellen und Abhörgesetze“, welche in ihrer Gesamtheit über die Grenzen des Rechtsstaats „hinausführen“ könnten, so Hofmann.326 Sensibel reagiert der Journalist auch auf das, was Helmut Schmidt nach dem Tod Schleyers angekündigt hatte: „Schwere Zeiten stünden bevor“, die Terroristen kämen wieder. „Wer mag sich da noch mit seinen rechtsstaatlich-moralischen Skrupeln ans Licht wagen?“ fragt Hofmann, der die Befürchtungen Liberaler aus SPD und FPD teilt, das Recht könne „allzuleicht bloßes Mittel zum Zweck […] werden“327. Drei Wochen später gingen »Spiegel«-Autoren dem „ramponierte[n] Rechtsstaat“ auf den Grund. In ihrem Artikel erinnern sie zunächst an die zwiespältigen Reaktionen, die der Deutsche Herbst hervorgerufen habe: Auf der einen Seite „Gratulationen, Bewunderung“ für Helmut Schmidt, das Bild der Bundesrepublik als „angenehm temperiertes Staatsgepräge, ein bißchen Skandinavien.“ Auf der anderen Seite „paßt der Schlag von Mogadischu beängstigend genau zu den Stammheimer Selbstmorden, die für manche eben nicht nur Selbstmorde sind […].“ Für manche „beherrschten Hexenjagd, Isolationsfolter, Gesinnungsschnüffelei, der Fall Croissant […] das Bild der Bundesrepublik“, von einem „Repressionsstaat“ sei die Rede. Ohne diese Sichtweise direkt bestätigen zu wollen, stellen die Autoren grundsätzlich fest: „Es atmet sich auch für alle […] nicht mehr so frei wie noch vor drei, vier Jahren.“ Die Aussichten für die nähere Zukunft gäben keinen Anlass, auf Besserung zu hoffen. Die „Flut von Gesetzen und Ermächtigungen“, welche mit dem Zweck der Terrorismusbekämpfung losgestoßen worden sei, werde sich aller Wahrscheinlichkeit nach fortsetzen, zum Beispiel mit der „Sicherungsverwahrung für Terroristen“ und Plänen, „das Polizeirecht zu militarisieren.“ Außerdem bestünden Zensurprobleme: Es gebe „verbotene Bücher […], Antiterrorismus-Paragraphen machen es möglich. Da werden Verleger, Drucker, Vertriebe, Verkäufer mit Strafe bedroht, nur der Leser bleibt straffrei; aber wie soll der schließlich noch ans Buch kommen?“ Angedeutet wird auch das Problem der „Selbstzensur“ der Medien. Folgerichtig läuft der Artikel auf ein pessimistisches Fazit hinaus: „Allzulange wird sich die Bundesrepublik die Entwicklung in die falsche Richtung kaum noch leisten können, ohne daß die Einbußen an offener Gesellschaft und am Rechtsstaat irreparabel werden.“328 Während die Journalisten ihre Freiheiten von staatlicher Seite her gefährdet sahen, fürchteten die Galionsfiguren der bundesdeutschen Literaturszene zur selben Zeit etwas anderes: Als Heinrich Böll, Max Frisch, Siegfried Lenz und Siegfried Unseld am 16. Oktober 1977 bei Helmut Schmidt zu einem Gespräch mit dem 326 Dass die sozialliberale Innenpolitik die „Haltbarkeit der eigentlichen Bürgerrechte“ auf die Probe stelle, zu dieser Einschätzung kam auch der Redakteur Hans Schueler in einem Artikel zum Bundestagswahlkampf 1976. Schon damals fragte er: „Ist unsere Freiheit in Gefahr?“ Seine Kritik richtete sich vor allem gegen die Reform des Sexualstrafrechts, den Extremistenbeschluss und die Reform des §218. Siehe: SCHUELER, Hans: Ist unsere Freiheit in Gefahr? Eine Bilanz von vier Jahren Innenpolitik der Bonner Regierung. In: Die Zeit (03.09.1976). 327 HOFMANN, Gunter: Aus der Freiheit in die Geborgenheit? 328 o. A.: Der ramponierte Rechtsstaat. In: Der Spiegel (05.12.1977).
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Kanzler und anderen Bundespolitikern zusammentrafen, äußerten die Schriftsteller in erster Linie „große Besorgnis […] vor einem ‚geistigen‘ Rechtsruck der deutschen Bürger“. Aus einer Gesprächsnotiz des damaligen Bundesministers für Arbeit und Soziales Herbert Ehrenberg geht hervor, dass besonders Böll sich „von boykottähnlicher Feindschaft einfacher Bürger, seiner Nachbarn, umgeben“ fühlte und die „Ausbreitung dieser Tendenzen“ fürchtete. Demgegenüber billigten alle Teilnehmer „die Haltung der Bundesregierung in den Entführungsfällen und bekundeten Dankbarkeit für das Eintreten des Bundeskanzlers für kritische Offenheit gegenüber dem Staat“. Ehrenberg vermerkte abschließend, der Kanzler möge in seinen kommenden Reden deutlich machen, „dass auch die Kritiker dieses Staates wissen müssen, dass entgegen altliberalen Vorstellungen zur Zeit nicht der Schutz des Bürgers vor staatlichen Übergriffen im Vordergrund stehe, sondern die Aufgabe des Staates, die Bürger vor den Rechtsbrüchen einzelner Bürger zu schützen.“329 Solch unerschütterlichem Vertrauen in den Staat konnte sich Henri Nannen, Verleger und Herausgeber des »Stern«, nicht anschließen: „[…] wer in jedem konfliktbewußten Bürger den zu verfolgenden Feind sieht – der kämpft gegen den Wind und verliert die Witterung für den eigentlichen Brandherd, die terroristische Gewalt.“330 In dem Band »SOS – Freiheit in Deutschland«, für den Nannen dieses Vorwort schrieb, veröffentlichte der »Stern« im August 1978 die gleichnamige Artikelserie von Peter Koch und Reimar Oltmans. Sie ist eine ausführliche Abrechnung mit der Unverhältnismäßigkeit, mit der nach Ansicht der Journalisten die Politik der Inneren Sicherheit in den Siebziger Jahren betrieben worden sei. Den Beginn dieser Entwicklung sehen die Autoren in der Reaktion Schmidts auf die Botschaftsbesetzung in Stockholm, im April 1975. Die damalige Erklärung, im Kampf gegen die RAF „bis an die Grenze dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist“, sei zur neuen „Richtlinie der Politik“331 geworden. Koch und Oltmans sprechen vom „Überwachungsstaat“332, wenn sie die polizeiliche Observation von Demonstrationen, die Technologisierung der polizeilichen Fahndungsarbeit und die Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und BKA meinen. Sie sprechen von einer „Bürgerkriegsarmee“333 und meinen die polizeilichen Spezialeinsatzkommandos (SEK), die in jedem Bundesland geschaffen worden waren. Und sie präsentieren mit sarkastischer Note eine Reihe von „Feinde[n] der Verfassung“334, also Wissenschaftlern, Lehrern und Staatsbeamten, die nach dem Extremistenbeschluss ihre Anstellungen verloren hatten. Zuletzt zeichnen Koch und Oltmans die düstere Vision eines autoritären Verfassungsstaats, der seine Stärke aus „demokratische[m] Patriotismus und Vaterlandsliebe“335 beziehe. Diese Freiheitsdebatte, wie sie mit den drei Beispieltexten nur angerissen werden konnte, griff im Wesentlichen auf Gedanken und Argumente zurück, wie sie in der linken Kritik an der sozialliberalen Innenpolitik aufgekommen waren und sich
329 Brief von Herbert Ehrenberg an Helmut Schmidt vom 08.11.1977, darin: Notiz im Anschluss an das Gespräch beim Bundeskanzler mit Heinrich Böll, Max Frisch, Siegfried Lenz und Siegfried Unseld am 16.10.1977, S. 2f. In: AdsD, 1/HSAA009436. 330 KOCH, Peter/OLTMANS, Reimar: SOS - Freiheit in Deutschland. 4. Auflage. Hamburg 1979, S. 9. 331 Ebd., S. 11. 332 Ebd., S. 63. 333 Ebd., S. 109. 334 Ebd., S. 145. 335 Ebd., S. 249.
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in den verschiedenen Repliken auf den „Modell Deutschland“-Slogan gesammelt hatten. Allerdings war sie nicht ohne den Deutschen Herbst und das in seinem Zusammenhang verbreitete konservative Verständnis von „Freiheit“ denkbar: „Aus der Demokratie entwickelt sich Tyrannei, wenn Freiheit im Übermaß bewilligt wird“, zitiert Hanno Balz die »Bild«-Zeitung als Beispiel dafür, wie Freiheit im Schatten der Schleyer- und „Landshut“-Entführungen zu einem „potentiell gefährlichen Zugeständnis“336 umdefiniert wurde. Je weiter die Ereignisse zurücklagen, und das haben die aufgeführten Beispiele gezeigt, umso energischer setzte sich die liberale Presse allerdings gegen ein solches Freiheitsverständnis zur Wehr. Wie der Historiker Eckart Conze beim Blick auf das Jahr 1977 festhält, hätten nicht nur die Fragen, die der Ausbau und die Verteidigung der Inneren Sicherheit in der Bundesrepublik aufwarf, sondern auch die öffentlichen Auseinandersetzungen darüber „staatskritische Haltungen“ und die „Skepsis gegenüber staatlicher Macht“337 unter den Bundesbürgern verstärkt. In den folgenden Kapiteln soll untersucht werden, ob sich diese Tendenzen im linken Spektrum besonders deutlich abzeichneten oder ob es hier eventuell auch gegenläufige Entwicklungen, bis hin zu einer Annäherung an den Staat, gab.
336 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 304. 337 CONZE, Eckart: Die Suche nach Sicherheit, S. 484.
IV. Gegen Repression in Gefängnissen Die Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen „Neulich, 6 Uhr früh, tritt man mir die Tür ein/Ich spring aus dem Bett, da stürmt die Polizei rein/Los stellen sie sich an die Wand, man hat sie erkannt/Ein Nachbar rief uns an: Sie sind ein Sympathisant“ „GRÜSS MIR DIE GENOSSEN“ – TEXT & MUSIK: MARIUS MÜLLER-WESTERNHAGEN – JAHR: 1978
1. S TAMMHEIM IN DEN K ÖPFEN Eingangs der Arbeit wurden vier Protestphänomene zu Untersuchungsgegenständen bestimmt, anhand derer die Denk-, Fühl- und Handlungsweisen Linker nach dem Deutschen Herbst erfasst und aufgearbeitet werden sollen. Im ersten Schritt der Untersuchung richtet sich der Blick auf die Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen. Diese waren von den Ereignissen und Entwicklungen des Deutschen Herbstes wie kein anderer Teil des linken Spektrums betroffen – mitunter sogar unmittelbar und persönlich. Zu ihren Aktivisten gehörten Verwandte, Freunde oder Weggefährten der Toten. Zur öffentlichen Bekundung ihrer Trauer war ihnen nach der Nacht von Stammheim praktisch nur eine Gelegenheit geblieben: die Beerdigung auf dem Dornhaldenfriedhof. Wie aus einem Teilnehmerbericht hervorgeht, hätten allerdings nicht die Angehörigen, sondern linke „Organisationen und Vereine“1 das Geschehen dominiert, markige Worte von sich gegeben, Fäuste geballt, Transparente gezeigt. Erst am Schluss hätten einzelne Trauergäste am Grab Platz gefunden. Einige blieben dabei ganz in sich gekehrt, andere trugen bewusst nach außen, was in ihnen vorging: „Ein maskiertes Gesicht spricht etwas, ist zu leise, wirft die Blume hinab, tritt ab. […] Einer erzählt mit lauter Stimme, was auch im Nachobduktionsbefund von Ulrike [Meinhof, Anm. M.M.] stand. Er erinnert daran, daß die Version des ‚Selbstmordes‘ nicht einfach hingenommen werden kann.“2 Im Anschluss an die Beerdigung fanden die Angehörigen keine Ruhe. Noch tagelang standen sie im öffentlichen Rampenlicht. Pfarrer Helmut Ensslin nutzte die Aufmerksamkeit, um wiederholt zu bekunden, dass er nicht an einen Selbstmord 1 2
o. A.: Der Faden ist gerissen… Bericht von der Stuttgarter Beerdigung. In: Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (Nr. 202, 1977), S. 6f., hier: S. 6. Ebd., S. 7.
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seiner Tochter glaubte und die Umstände ihres Todes restlos aufgeklärt werden müssten. In einem Interview beschrieb er die eigene Situation als schwierig, Eltern und Verwandte der RAF-Mitglieder seien gesellschaftlich isoliert, einige wenige hätten sich von ihren Kindern losgesagt, andere versuchten, untereinander „solidarisch zu sein“3. Sich gegenseitig zu stützen, bedeutete für einige der Angehörigen auch, sich gemeinschaftlich für die Interessen der Gefangenen stark zu machen. Es überwog die Auffassung, dass das, was in Stammheim passiert war, auch anderen zustoßen könnte: „Wir, die Angehörigen von politischen Gefangenen in der Bundesrepublik, bitten Sie, daß Sie sich um des Lebens unserer Angehörigen willen sofort selbst von den tödlichen Haftbedingungen in den Gefängnissen der Bundesrepublik Deutschland überzeugen“, heißt es in einem offenen Protestbrief vom November 1977. „Unsere Angehörigen in den Gefängnissen haben uns versichert, daß ein Selbstmord auszuschließen ist und nach allem, was wir über die Verhältnisse in den Gefängnissen der Bundesrepublik Deutschland erfahren haben, glauben auch wir nicht an Selbstmord.“4 Jene, die die Sorgen der Angehörigen am ehesten teilten, waren die Aktivisten aus RAF-nahen Gefangeneninitiativen. Eine der wenigen Quellen, die Einblick in deren damalige Gefühlslage gibt, ist der Beitrag einer anonymen RAF-Sympathisantin für das »Info Hamburger Undogmatische Gruppen«, kurz: »HUG«, in der Ausgabe vom Dezember 1977: „viele von uns (auch ich) sind jetzt verwirrt, eingeschüchtert und entmutigt durch die propagandistische und pogromartige hetze und die terrormaßnahmen der verfolgungsbehörden“, beklagt sie, und schreibt weiter: „jetzt werden einige behaupten, wir hätten dies alles der raf zu verdanken. aber nicht die raf macht die gesetze und wendet sie so voll an, sondern der staat und seine figuren – die bedrohen uns […].“ Zu den Ereignissen in Köln, Mogadischu und Stammheim meint die Verfasserin: „ich glaube, es ist auch unsere schuld, dass diese aktion gelaufen ist. was haben wir getan, um der schleyer-entführung zum erfolg zu verhelfen (was hätten wir tun können)? wir haben fast nichts getan. dabei fordern wir doch auch ‚freiheit für alle (politischen) gefangenen‘. meint ihr denn (oder ich), die gefangenen kämen allein frei durch sprüche, ohne den praktischen und massiven widerstand von uns allen? […] (ebenso hilflos ist wohl solch ein bewältigungsversuch, wenn ich ‚nur‘ was schreibe, allerdings um uns zu ermutigen, nicht aufzugeben, son5 dern hier was klarer zu kriegen).“
Aus dem Text spricht, was ein späteres RAF-Mitglied einmal das Verlangen nach „kritikloser Zustimmung“ nannte: In dem „kleinen Zusammenhang von Leuten, verteilt über die ganze BRD, die Kontakt zu RAF-Gefangenen hatten und sich […] als politisches Sprachrohr der RAF verstanden haben“, sei nach dem Deutschen 3 4
5 6
ENSSLIN, Helmut: ‚Ich bin davon überzeugt, dass Gudrun ermordet worden ist‘. In: Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (Nr. 202, 1977), S. 5-6, hier: S. 6. Brief von Ilse Ensslin und Wienke Zitzlaff, ohne Datum. In: Angehörige und Rechtsanwälte: Erklärungen zum Tod der Gefangenen. November 1977. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019771114. Sumpfblume: Schleyer, ein Aufruf. In: Info – Hamburger Undogmatischer Gruppen (Nr. 18, Dezember 1977). HOGEFELD, Birgit: Ein ganz normales Verfahren … Prozeßerklärungen, Briefe und Texte zur Geschichte der RAF. Berlin 1996, S. 100f.
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Herbst jede Infragestellung von Sinn und Zweck der Schleyer- und „Landshut“Entführungen ein Tabubruch gewesen. Entscheidend war das Freund-Feind-Verhältnis. Für die RAF beherrschten der Schmerz und die Wut über die „Blutbäder“7 in Mogadischu und Stammheim alles. Trauerarbeit, die in eine andere Richtung tendierte, galt als verräterisch. Dreißig Jahre danach kann eine anonyme Aktivistin die Resignationsgefühle und Abkanzelungsbedürfnisse ihrer Mitstreiter von damals nur bestätigen. In dem Band »Nach dem bewaffneten Kampf« äußert sie sich nach eigenen Angaben erstmals öffentlich zu ihrem Befinden nach dem Deutschen Herbst: „Wahrscheinlich begreift heute kein Mensch mehr, welche Bedeutung die Stammheimer in der geschichtlichen Situation und als Personen hatten“, ahnt sie und bemüht sich, einen Eindruck davon zu vermitteln: Als Mitglied der RAF oder auch als Teil ihres Umfelds habe man mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe jene „politische[n] Menschen verloren, denen man uneingeschränkt vertrauen konnte“, die „Maßstäbe gesetzt [hatten] in Radikalität und Integrität“. Zudem sei mit ihrem Tod endgültig klar geworden, dass „keiner der Gefangenen aus der RAF über viele Jahre hinweg mehr freigelassen werden würde“8. Nicht nur die RAF selbst befand sich demnach in einer politischen Sackgasse, auch die bisherige Arbeit ihrer Gefangeneninitiativen hatte mit dem Deutschen Herbst keine Erfolgsaussichten mehr. Die Untersuchung dieses Protestphänomens muss demnach mit der Frage verbunden sein, welche neuen Ziele sich die Aktivisten setzten und ab wann sie begannen, diese zu verfolgen. Wichtig ist es, dabei die Arbeit der Angehörigen zu berücksichtigen und auf unterschiedliche Ansätze der Initiativen einzugehen. Die einen mögen eine Grenze zwischen dem solidarischen Engagement für die Gefangenen aus der RAF und der aktiven Unterstützung des bewaffneten Kampfes gezogen haben. Für die anderen kann diese Grenze entweder grundsätzlich oder wenigstens zeitweise aufgehoben gewesen sein. Um die Hintergründe dieser Unterscheidung wie auch der generellen Ausprägung von Gefangeneninitiativen zu verstehen, ist ein Blick auf deren Entstehungsgeschichte unentbehrlich.
2. E NTWICKLUNG VON G EFANGENENINITIATIVEN BIS 1977 2.1 Frühe Gefangeneninitiativen und Rote Hilfe Die Schauplätze der Außerparlamentarischen Opposition (APO) lagen nicht nur in den Universitäten oder auf den Straßen der bundesdeutschen Metropolen, sondern auch in ihren Gerichtssälen. Ob Sit-Ins, Go-Ins, Flugblattaktionen oder Demonstrationen, praktisch jede Form von Protestveranstaltungen konnte zu Strafverfahren führen, bei denen junge politisch engagierte Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben vor den Richterstuhl treten mussten. Die meisten von ihnen waren auf Pflichtverteidiger angewiesen, die die Gerichtsvorsitzenden aus einer von ihnen selbst zusammengestellten Liste auswählten.9 Erschwerend kam hinzu, dass die Anwalt7 8
9
Vgl. ID-Verlag (Hg.): Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Bearbeitet von Martin Hoffmann und Gudrun Grundmann. Berlin 1997, S. 273. o. A.: Reparaturarbeiten. In: HOLDERBERG, Angelika (Hg.): Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit. Gießen 2007, S. 157-168, hier: S. 162. Vgl. ESCHEN, Klaus: Das sozialistische Anwaltskollektiv. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. Hamburg 2006, S. 957-972, hier: S. 958.
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schaft Ende der Sechziger Jahre noch immer aus vielen ehemaligen Mitgliedern des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes10 bestand. Eine neue Generation von Anwälten, die sich kritisch mit dem bundesdeutschen Justizsystem auseinandersetzte, die die Autorität der Richter in Frage stellte und auch im äußerlichen Erscheinungsbild mit den konservativen Traditionen brach, ließ auf sich warten. Eine erste Bewährungschance boten die Prozesse gegen Mitglieder der illegalen Kommunistischen Partei Deutschlands, in denen sich bereits einige junge Anwälte profilieren konnten.11 Von einem Durchbruch konnte aber erst 1967 die Rede sein, als die Prozesse gegen die APO-Aktivisten anrollten. An der Seite der mal mehr, mal weniger bekannten Mandanten gelang es einer Reihe von Anwälten, juristische Nadelstiche gegen die Staatsanwaltschaft zu setzen. Am 1. Mai 1969 taten sich drei von ihnen zusammen, um ein gemeinsames Büro zu gründen: Horst Mahler, Hans-Christian Ströbele und Klaus Eschen. Als „Sozialistisches Anwaltskollektiv“ traten sie bewusst „an [die] Seite der APO“, um den „Benachteiligten, den Unterdrückten“12 „den Rechtsweg zu ebnen, Zugangsschwellen zu den Gerichten abzubauen und für ein faires Verfahren zu sorgen.“13 Je mehr die 68er-Revolte an Fahrt aufnahm, umso stärker wurde die Justiz zur Zielscheibe ihrer Provokationen und Proteste. Sie galt nicht nur als Inbegriff des verhassten „Establishments“, sondern stand nach dem Freispruch von Karl-Heinz Kurras, dem Polizeiobermeister, aus dessen Pistole sich am 2. Juni 1967 der tödliche Schuss auf Benno Ohnesorg gelöst hatte, unter dem Generalverdacht, Rechtsbeugung zu betreiben.14 Dies wiederum bewog nicht wenige APO-Aktivisten zum Engagement in einer Gefangeneninitiative. Eine der ersten ihrer Art war die Kampagne „Freiheit für Fritz Teufel“. Der Kommunarde saß im Herbst 1967 in Untersuchungshaft, weil ihm vorgeworfen wurde, bei den Demonstrationen anlässlich des Schah-Besuchs in Westberlin einen Pflasterstein geworfen zu haben. Die Empörung darüber war groß. 10 Die zentralisierte Vereinigung der verschiedenen juristischen Berufsgruppen im Dritten Reich. Zur gescheiterten Entnazifizierung der bundesdeutschen Justiz, vgl. KALINOWSKI, Harry Hugo: Kampfplatz Justiz : politische Justiz und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1990. Pfaffenweiler 1993, S. 68, S. 75-77. Zu den Justizskandalen um die NS-Vergangenheit von Richtern und Staatsanwälten, vgl. auch REQUATE, Jörg: Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz: Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M. 2008, S. 76-91. Ein „generationeller Wechsel“ unter den Richtern zeichnete sich laut Requate jedoch seit 1967/68 ab. Vgl. ebd., S. 131-135. 11 Das Verbot der KPD zog etliche Ermittlungsverfahren gegen ihre Mitglieder nach sich. Als Verteidiger in solchen Verfahren machten sich bis Ende der Fünfziger Jahre u. a. Diether Posser, Gustav Heinemann, Heinrich Hannover und Walther Ammann einen Namen. Vgl. REINECKE, Stefan: Die linken Anwälte. Eine Typologie. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2, S. 948. Vgl. dazu auch: LAMPRECHT, Rolf: Ein bißchen Bibel und viel Unrecht. Tradition und Kontinuität des Reichsgerichts. In: Der Spiegel (Nr. 40, 01.10.1979). 12 So die Formulierung Hans-Christian Ströbeles im Film: Die Anwälte. Eine deutsche Geschichte. R: SCHULZ, Birgit (Bundesrepublik Deutschland, 2009). 13 ESCHEN, Klaus: Das sozialistische Anwaltskollektiv. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, S. 960. 14 Friederike Dollinger, die den Tod Ohnesorgs aus nächster Nähe erlebt hatte, äußerte dazu in einem Interview: „Ich denke, es war nicht allein der 2. Juni. Sondern es war vor allem der Ausgang des Prozesses, also dass der Kurras freigesprochen worden ist. Das hat einem den letzten Rest an Glauben in den Rechtsstaat genommen.“ Siehe: SOUKUP, Uwe: 40 Jahre ohne Reue. Der Mann, der Benno Ohnesorg erschoss. In: Die Tageszeitung (20.11.2007). Siehe: http://www.taz.de/!7892/ (Stand 06.11.2011).
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Für viele Studenten gehörte Teufel zu den Ikonen ihrer Revolte: Nun saß er – wie bald fest stand – unschuldig im Gefängnis, während Kurras lediglich vom Dienst suspendiert war. „Der böse Anschein blieb, dass hier wieder gemessen war mit zweierlei Maß“15, meint Uwe Wesel, damals Jurist an der Universität München. Für APO-Aktivisten, die infolge eines verlorenen Strafprozesses inhaftiert wurden, gründeten Mitstreiter 1968 in Westberlin und Frankfurt a. M. erste Rechtshilfeorganisationen.16 Sie kümmerten sich um die materielle, ideologische und rechtliche Betreuung der „politischen“ Gefangenen und fanden in diversen „GenossenhilfeGruppen“ Nachahmer.17 Ab 1970 hielt die Bezeichnung „Rote Hilfe“18 Einzug. In bewusster Tradition zur Roten Hilfe Deutschlands, die in der Weimarer Republik die Solidarität mit politisch Verfolgten aus dem linken Spektrum organisiert hatte, schlossen sich verschiedene Gruppen bundesweit zu relativ autonomen Roten Hilfen zusammen. (Es gab allerdings auch Rote-Hilfe-Vereine, die bis 1979 auf Initiative der maoistischen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD (m)) oder der Marxisten-Leninisten (KPD/ML) betrieben wurden.19) Jede von ihnen verschrieb sich einem ähnlichen, stets zweigleisigen Aufgabenkatalog: So sollte die Hilfe einerseits in der Aufrechterhaltung von Kontakten zwischen dem Gefangenen und seinem Umfeld, in der damit verknüpften Übermittlung von Informationen, Zeitschriften, Zeitungen, Büchern sowie von Geld und Paketen bestehen. Andererseits förderten die Gruppen die jeweilige Prozessvorbereitung, übernahmen das Sammeln von Materialien und Analysen für den Verteidiger, trugen mitunter auch die anfallenden Kosten.20 Manche von ihnen erweiterten ihren Aufgabenkatalog über diese Rechtshilfe hinaus. So behielt sich etwa die Rote Hilfe Westberlin vor, bei gegebenem Anlass auch Solidaritätsaktionen zur Abwehr der Maßnahmen von Jus15 WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen. München 2002, S. 65. 16 Als Beispiele zu nennen sind der „Zentrale Ermittlungsausschuss“ und der „Rechtshilfefond“. Letzterer wurde nach dem Tod Benno Ohnesorgs gegründet und gab sich folgende Aufgaben: Durchführung von Ermittlungen bei polizeilichen Übergriffen; Erarbeitung der politischen Analyse der Maßnahmen des Staatsapparates; Initiierung und Propagierung von Solidaritätsaktionen. Vgl. BAUM, Ottokar: Bürgerinitiativen und Strafvollzug. Zur Typologie von außerinstitutionellen Gruppen und ihrer Bedeutung für Strafgefangene und Strafvollzug (unveröff. Diplomarbeit). Göttingen 1977, S. 75. 17 Vgl. KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen. Zur Kampagne gegen die Justiz. Herausgegeben vom Bundesministerium des Innern. Bonn 1983, S. 62. Vorbilder für die Gründung solcher Gruppen gab es z.B. in Frankreich: Hier begründeten am 8. Februar 1971 u. a. Jean-Marie Domenach, Michel Foucault und Pierre Vidal-Naquet die „Groupe d’information sur les prisons“, bekannt unter dem Kürzel GIP. Vgl. dazu: ARTIÈRES, Philippe/QUÉRO, Laurent/ZANCARINI-FOURNEL, Michelle (Hg.): Le Groupe d'informations sur les prisons. Archives d'une lutte, 1970-1972. Imec 2003. 18 Es mangelt nach wie vor an Forschungsliteratur zur Roten Hilfe. Der Historiker Nikolas Brauns befasste sich mit ihrer Vorgängerorganisation, der Roten Hilfe Deutschlands. Siehe: BRAUNS, Nikolas: Schafft Rote Hilfe! Geschichte und Aktivitäten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene (1919-1938). Bonn 2003. In jüngster Zeit gibt es jedoch Bemühungen, die Forschungslücken zu schließen. Siehe: POLLÄHNE, Helmut: Rote Hilfe(n). Hilfe für die RAF und/oder gegen die Justiz? In: DRECKTRAH, Volker Friedrich (Hg.): Die RAF und die Justiz. Nachwirkungen des ‚deutschen Herbstes‘. München 2010, S. 139-170. Ein Sammelband zur Roten Hilfe ist in Vorbereitung: MOHR, Markus (Hg.): Prinzip Solidarität. Die Rote Hilfe (RH) in den 1970er Jahren. Berlin 2012. 19 Vgl. dazu: REIMANN, Aribert: Dieter Kunzelmann. Avantgardist, Protestler, Radikaler. Göttingen 2009, S. 264f. 20 Vgl. BAUM, Ottokar: Bürgerinitiativen und Strafvollzug, S. 76.
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tiz und Polizei durchzuführen.21 Als sich 1972 die Rote Hilfe Hamburg gründete – in Konkurrenz zu einem bereits bestehenden Rote Hilfe e.V. der KPD/ML –, zählte sie auch medizinische Hilfe, Angehörigenunterstützung und Solidaritätskampagnen für Gefangene zu ihren Hauptaufgaben.22 Zu diesem Zeitpunkt waren sie und die anderen Rote-Hilfe-Vereine längst ins Visier des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) geraten. Die Begründung für das Misstrauen der staatlichen Sicherheitsbehörde lieferte ihr Bericht von 1972: „Die ‚Rote Hilfe‘ […] sucht unter den Anhängern der ‚Neuen Linken‘ eine stärkere Solidarität mit inhaftierten ‚Genossen‘, insbesondere den Mitgliedern der RAF [Rote Armee Fraktion, Anm. M. M.] zu wecken.“23 Und tatsächlich gehörten sowohl die Vorbereitung der Prozesse, als auch das Engagement für verbesserte Haftbedingungen der inhaftierten Mitglieder von bewaffneten Gruppen, wie der RAF oder der Bewegung 2. Juni, seit 1970 zu den Schwerpunkten der Rote-Hilfe-Aktivitäten.24 Von ihrem eigentlichen Anliegen, Mitstreiter aus der APO zu unterstützen, die in Schwierigkeiten mit Polizei und Justiz geraten waren, hatten sich die Roten Hilfen allmählich entfernt. Denn bei Festgenommenen wie Horst Mahler, Monika Berberich, Irene Goergens, Ingrid Schubert und anderen handelte es sich eben nicht mehr um bloße Provokateure beziehungsweise Demonstranten, sondern um selbst ernannte Revolutionäre, die eine Waffe trugen. Die Solidarität mit den ersten Gefangenen aus der RAF setzte die Roten Hilfen der Gefahr der Kriminalisierung aus.25 Was die Aufmerksamkeit der Polizei und des BfV besonders erregte, war die unkritische Haltung der Roten Hilfen gegenüber den Behauptungen, die die einsitzenden RAF-Mitglieder über ihre Haftbedingungen aufstellten und mit Hilfe von Briefen, Besuchern und Anwälten nach außen kommunizierten. So versuchten besonders die Roten Hilfen Westberlin und Frankfurt a. M. gegen „die Brutalität, mit der die Gefangenen fertiggemacht werden sollen“26 zu mobilisieren. Von einer generellen Instrumentalisierung im Sinne der RAF konnte jedoch keine Rede sein. Auch wenn dieser Verdacht seitens des BfV bestand, muss ihm aus beschlagnahmten Papieren von Gudrun Ensslin bekannt gewesen sein, dass für die RAF eine Ko21 Vgl. KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 62. 22 Vgl. Infopapier der Roten Hilfe Hamburg vom 27.03.1972. In: IISG, Anarchiv Collection, Knastarchiv Bochum (KA) Systematik 65212 = Mappe 23, Umschlag 58. 23 Bundesministerium des Innern (Hg.): Betrifft: Verfassungsschutz ’72. Bonn 1973, S. 61. 24 Vgl. Bundesvorstand Rote Hilfe: 70/20 Jahre Rote Hilfe. Vorwärts und nicht vergessen! Nadir.org (19.06.1997). Siehe: http://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/ antirepression/rote_hilfe/20-rh-16.html (Stand: 06.11.2011). Die Broschüre liegt in gedruckter Fassung vor: Rote Hilfe (Hg.): Vorwärts und nicht vergessen! 70/20 Jahre Rote Hilfe. Die Geschichte der Roten Hilfe von der Weimarer Republik bis zur Wiedergründung in den Siebziger Jahren. Kiel 1998. 25 Wie langlebig die Vorstellung von einer engen Beziehung zwischen Roter Hilfe und RAF ist, illustrierte vor einiger Zeit das Wortgefecht zwischen dem Ministerpräsidenten von Niedersachsen Christian Wulff (CDU) und Katja Kipping (Die Linke) in der Talkrunde »Maybrit Illner« (Erstsendung: 04.09.2008, ZDF). 2007 provozierte die Mitgliedschaft der damaligen Juso-Vorsitzenden Franziska Drohsel in der Roten Hilfe heftige Kritik aus den Reihen der SPD. Drohsel trat daraufhin aus dem Verein aus. 26 Zitiert aus einer Dokumentation der Roten Hilfe Westberlin nach: KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 63. Belege für die Ziele der Frankfurter Roten Hilfe liefert das Dokument: Rote Hilfe Frankfurt u. a. (Hg.): Stellungnahmen zu den Forderungen (Mai 1973). In: IISG Rote Armee Fraktion Collection, Mappe: RAF 1968-1973. Aufschlussreich ist auch das Tonbandprotokoll eines Teach-Ins der Roten Hilfe Frankfurt vom 31. Mai 1972. Siehe: ID-Verlag (Hg.): Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, S. 148-150.
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operation nur mit einer nach ihren Vorstellungen umorganisierten und umfunktionierten Roten Hilfe denkbar war.27 Genaue Untersuchungen über die Beziehungen zwischen den einzelnen Gefangenenhilfegruppen zur RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen stecken noch in den Anfängen.28 Doch ist zumindest bekannt, dass es innerhalb der Roten Hilfen und ihrem Umfeld seit 1971/72 rumorte, weil viele ihrer Mitglieder erkannten, dass die wachsende Unterstützung der RAF-Gefangenen eine Benachteiligung aller anderen „politischen“ Gefangenen aus der APO respektive der außerparlamentarischen Linken zur Folge hatte. Besonders die Rote Hilfe München tat sich in diesem Konflikt hervor, indem sie klarstellte, dass sie die Unterscheidung zwischen „politischen“ Gefangenen und „normalen“ Gefangenen auf Grund ihrer antiautoritären Haltung ablehnte.29 Dies war auch die Prämisse der „Schwarzen Hilfen“, die im Umfeld der Bewegung 2. Juni und anarchistischen Gruppierungen entstanden oder sich aus Rote-Hilfe-Vereinen abspalteten. Ihnen gegenüber standen wiederum mehrere jüngere Rote Hilfen, die sich vorrangig zur Unterstützung der Gefangenen aus der RAF gebildet hatten. Abbildung 3: Plakat zur Gründung der KPD/ML-nahen Roten Hilfe Deutschland
Quelle: Archiv Rote Flora
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27 So schrieb Gudrun Ensslin im Juni 1973: „Man muß ne Arbeitsteilung machen: sofort, dringend, planen, organisieren. Eine Rote Hilfe, die die Reste der bürgerlich-liberalen Front ortet, sammelt, aufbaut. Ihr Bier ist die Öffentlichkeit, die sogenannte, also das Menschenexperiment, die Übergriffe, die Auswüchse.“ Und weiter: „Zitzlaff [Schwester von Ulrike Meinhof, Anm. M. M.] und solche müssen diese Rote Hilfe machen, Gollwitzer [Theologieprofessor an der FU Berlin, Anm. M. M.] an die Spitze zwingen etc.“ Siehe: ENSSLIN, Gudrun: Stück zu den Roten Hilfen. In: IISG Rote Armee Fraktion Collection, Mappe: RAF 1968-1973. 28 Der Rechtsanwalt Helmut Pollähne kommt in seinem Aufsatz zum Schluss, dass das „Verhältnis der Roten Hilfe(n) zur RAF und zu den politischen Gefangenen von Anfang an gespannt“ war. Hilfe für die RAF sei „allenfalls mittelbar – mal mehr, mal weniger reflektiert“ geleistet worden. „Dies geschah mit legitimen und zumeist auch mit legalen Mitteln“. Den Zeitraum für diese Unterstützung grenzt Pollähne auf 1972 bis 1975 ein. Siehe: POLLÄHNE, Helmut: Rote Hilfe(n), S. 150-163, hier bes. S. 158f. u. S. 168. 29 Vgl. Bundesvorstand Rote Hilfe (Hg.): 70/20 Jahre Rote Hilfe. 30 Archiv Rote Flora.
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Die gegensätzliche Interessenlage führte Ostern 1974 auf dem gemeinsamen Treffen aller Rote- und Schwarze-Hilfe-Gruppen unweigerlich zum Bruch zwischen den Gefangeneninitiativen.31 Sowohl die kommunistischen als auch die RAF-nahen Gruppen hielten am Kampf für verbesserte Haftbedingungen und für die Anerkennung der politisch motivierten Straftäter als politische Gefangene fest. Die anderen, von Anarchisten, Trotzkisten und Revisionisten geführte Gruppen, wollten sich nach dem Gleichheitsprinzip für alle Gefangenen einsetzen und auf die generelle Abschaffung von Haftanstalten hinwirken. Um sich gegen diese „Spalter“ abzugrenzen, gründeten die kommunistischen Rote-Hilfe-Vereine im Januar 1975 ihren neuen Dachverband: die Rote Hilfe Deutschlands (RHD). Mit dieser „proletarischen Massenorganisation im Kampf gegen politische Unterdrückung“32 sollte die Rote Hilfe der Weimarer Republik wiederauferstehen – nun im Interesse aller „Werktätigen“, die in der Bundesrepublik vom „weißen Terror der Herrschenden“33 verfolgt wurden. Hintergrund: Der Foltervorwurf der Roten Armee Fraktion Die vielen Festnahmen von RAF-Mitgliedern und die brutale Anschlagsserie im Mai 1972 hatten einen Teil der Roten Hilfen davon abgebracht, uneingeschränkte Solidarität mit den Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen zu üben. Diese versuchten deshalb verstärkt, ihre Anwälte in die Propagandaarbeit einzubinden, um weiterhin auf die Ziele des bewaffneten Kampfes und ihre Haftbedingungen aufmerksam machen zu können. „Einige linke Anwälte hatten ein entschieden dichotomisches Bild von der Justiz, die es als Repressionsapparat per se abzulehnen und in toto zu bekämpfen galt. Umso stärker neigten sie dazu, sich ihren RAF-Mandanten auch unterzuordnen“34, erklärt der Politologe Stefan Reinecke das bis zum „Mitkämpfen“ erweiterte Engagement einiger Verteidiger. Leichter von der Notwendigkeit ihres Einsatzes überzeugen ließen sich Klaus Croissant, Siegfried Haag, Jörg Lang und andere wohl auch dadurch, dass die RAF die Situation in den Gefängnissen von Anfang an als bezeichnendes Bild für den Zustand der bundesdeutschen Gesellschaft im Ganzen zu stilisieren wusste: Die repressiven Züge des Staates offenbarten sich demnach drinnen wie draußen, weil sich die Bürger „im Erziehungs- und Gesundheitswesen, in der Arbeitswelt, durch die Behörden“35 ebenso den Bedingungen des Staates, kurz: seiner „Verfügungsgewalt“, zu unterwerfen hätten wie jeder einzelne Häftling im Gefängnis. Und wenn in den Gefängnissen unmenschliche Bedingungen herrschten, dann war es dieser Logik zufol31 Vgl. dazu: POLLÄHNE, Helmut: Rote Hilfe(n), S. 146f. 32 So im programmatischen Aufruf nach der Gründungskonferenz, zit. nach: Bundesvorstand Rote Hilfe (Hg.): 70/20 Jahre Rote Hilfe. 33 Die RHD wollte sich für die Abschaffung des §129 StGB einsetzen, mit dem linke Gruppierungen als kriminelle Vereinigungen strafverfolgt werden konnten. Außerdem forderte sie die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Abschaffung der strengen Einzelhaft sowie die freie politische Betätigung in Kasernen. 34 REINECKE, Stefan: Die linken Anwälte. Eine Typologie. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, S. 948-956, hier: S. 950. 35 HANSEN, Hartwig/PEINECKE, Horst: Reizentzug und Gehirnwäsche in der BRD. 2. Auflage. Hamburg 1985, S. 99. Die beiden Diplom-Psychologen trugen in ihrer Arbeit eine Vielzahl von Berichten über die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen zusammen, die von den Gefangenen selbst verfasst wurden. So fiel es ihnen schwer, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, sich nicht von deren Perspektive vereinnahmen zu lassen.
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ge klar, dass auch ein Gesellschaftssystem, welches diese Haftbedingungen zuließ, von „Unmenschlichkeit“36 geprägt war. Die glaubhafte und vollständige Zurückweisung dieser Vorwürfe, und das war sozusagen der Kniff an der Propaganda der RAF, ist nur möglich, wenn man die Haftbedingungen überprüft, um die Darstellungen der Gefangenen mit Fakten zu widerlegen. Da die Gefängnisse aber nun einmal für die Öffentlichkeit verschlossen waren, standen in dieser Problematik von Anfang an die Berichte der Gefangenen aus der RAF und ihrer Verteidiger den Stellungnahmen der staatlichen Institutionen (widersprüchlich) gegenüber. Gab es Versuche unabhängiger Institutionen, die Haftbedingungen zu beurteilen, wurden ihre Ergebnisse weitgehend ignoriert.37 So fehlt bis heute, wie der Historiker Martin Jander treffend bilanziert, „eine distanzierte, alle Fakten minutiös berücksichtigende wissenschaftliche Darstellung.“38 Eine Ursache dafür ist der Mangel an Zeitzeugen aus dem Bereich des Strafvollzugs. Leider trat in der Vergangenheit allein der Vollzugsbeamte Horst Bubeck mit seinen Erinnerungen an die Stammheimer RAF-Gefangenen an die Öffentlichkeit.39 Ihr wissenschaftlicher Wert ist allerdings zweifelhaft. Der Journalist Kurt Oesterle verarbeitete Bubecks mündliche und schriftliche Auskünfte nämlich in einer Reportage, die mit unseriösen Details unterfüttert ist: So ist das erste, was der Leser über Ulrike Meinhofs Alltag in Haft erfährt, die Art und Weise, wie sie sich selbst befriedigte. Sein hehres Vorhaben, „die Propagandalüge von der Isolation“40 zu entlarven, muss angesichts des Einzelbeispiels, das die JVA Stammheim nun einmal darstellt, von vornherein scheitern. Oesterle blendet das Grundproblem der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Strafvollzug in den Siebziger Jahren aus: „Was in der Gesamtperspektive für eine Strafanstalt zutreffend sein kann, ist schon auf eine andere Strafanstalt nicht mehr übertragbar.“41 Stammheim erweist sich sogar
36 So ausgeführt u. a. in der Hungerstreikerklärung der RAF-Gefangenen vom 08.05.1973. Siehe: ID-Verlag (Hg.): Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, S. 188. Die Verknüpfung von angeblich repressiven Zügen der bundesdeutschen Gesellschaft mit der Situation der Gefangenen, die Gleichsetzung ihrer Ursachen, wird auch in einem so genannten „Kampfprogramm“ vom September 1974 deutlich. Vgl. ebd., S. 190. 37 Wie im Falle des Berichts von Amnesty International aus dem Jahr 1980: Vgl. Amnesty International (Hg.): Amnesty Internationals Arbeit zu den Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland für Personen, die politisch motivierter Verbrechen verdächtigt werden oder wegen solcher Verbrechen verurteilt sind: Isolation und Isolationshaft. Bonn 1980, S. 5-8. Auch die kritischen Nachfragen des UN-Menschenrechtsausschusses an die Bundesregierung, die 1977 zu ihrem ersten Bericht an diese Kommission Stellung nehmen sollte, wurden von Behördenseite verschleppt. Siehe S. 200f. 38 JANDER, Martin: Isolation. Zu den Haftbedingungen der RAF-Gefangenen. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, S. 973-993, hier: S. 973. 39 OESTERLE, Kurt: Stammheim. Die Geschichte des Vollzugsbeamten Horst Bubeck. Tübingen 2003. 40 Ebd., S. 8. 41 PÉCIC, Denis: Der Strafvollzug aus der Sicht eines Gefangenen. In: SCHWIND, Hans-Dieter/ BLAU, Günter: Strafvollzug in der Praxis. Eine Einführung in die Probleme und Realitäten des Strafvollzuges und der Entlassenenhilfe. Berlin/New York 1976, S. 333-343, hier: S. 335. Pécics Einschätzung stützt sich zum einen auf die Tatsache, dass Strafvollzug Sache der Länder ist, und zum anderen auf den Umstand, dass die Anstaltsleiter bis zum Strafvollzugsgesetz von 1977 für den gesamten Vollzug in einer Anstalt verantwortlich waren. Vgl. ALTENHAIN, Gustav Adolf: Organisation des Strafvollzuges in den einzelnen Bundesländern. In: SCHWIND, Hans-Dieter/BLAU, Günter: Strafvollzug in der Praxis, S. 39. Die Persönlichkeit
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als besonders untauglich für eine umfassende Einschätzung der Haftbedingungen der Gefangenen aus der RAF, weil die Anstalt Schauplatz eines bundes-, ja beinahe weltweiten Medienereignisses war, also ein regelrechter Ausnahmefall, wie Oesterle zugesteht: „Doch der Wirkungskreis dieser Anstalt, in Stuttgart bisher harmlos das ‚Männerwohnheim‘ genannt, dehnte sich schnell weiter aus, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. […] Die Gefangenen wussten spätestens seit ihrem Einzug […], dass alle Welt auf sie schaute. Ihre Behandlung im Gerichtssaal oder im Gefängnis musste zur Bewährungsprobe für den 42 bundesdeutschen Rechtsstaat werden […].“
So verwundert es nicht, dass in Stammheim außergewöhnlich gute Haftbedingungen bestanden: Die Einzelhaft war für Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe aufgehoben. Anderthalb Stunden täglich gab es einen Umschluss, der unter Aufsicht im Gang stattfand. Dort konnte sich die RAF-Spitze über Zeitungsberichte und die Briefe von ihren Rechtsanwälten austauschen, die Prozessvorbereitung vorantreiben, gemeinsam Musik hören und sogar Späße über die Aufsichtsbeamten treiben.43 In ihren Zellen standen Fernseher und Radios, jeder verfügte über eine kleine Bibliothek, in die auch Bücher Eingang finden durften, die sich durchaus dazu eigneten, das politische, logistische und operative Wissen für den bewaffneten Kampf zu erweitern.44 Ganz klar: Die Haftbedingungen in Stammheim waren alles andere als unmenschlich! Doch wie erging es der Mehrheit der Gefangenen aus der RAF und den Gefangenen aus anderen bewaffneten Gruppierungen? Was genau spielte sich in deren Haftanstalten ab? Weitere Stellungnahmen von ehemaligen Vollzugsbeamten stehen aus und sind laut Joachim Hiob eher nicht zu erwarten. Der Gefängnisarzt machte schon in den Siebziger Jahren darauf aufmerksam, dass der Rollenkonflikt, in dem sich diese Beamten befanden, „außerordentlich groß“ sei. In der Öffentlichkeit hätten sie oftmals nur Negatives über ihre Arbeit gehört. Viele aus ihrem Bekanntenkreis fragten: „Warum laßt Ihr die nicht eigentlich hängen? Oder: Warum unterstützt Ihr nicht noch deren Wunsch, sich umzubringen? Sie haben doch so viel Schuld auf sich geladen.“45 Vergessen werde dabei, dass die Vollzugsbeamten auch eine Fürsorgepflicht für die Häftlinge wahrzunehmen hatten. Der Anreiz, nachträglich über ihren Umgang mit Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen zu berichten, ist für die betroffenen Beamten also gering. Entweder laufen sie dabei Gefahr, für ihre „übertriebene“ Fürsorge kritisiert zu werden, oder sie decken eventuelle Versäumnisse ihrer Arbeit auf. Ohne ihre Auskünfte wird es allerdings auch weiterhin nur einseitige Antworten geben, denn ehemalige Gefangene und ihr Umfeld sind seit jeher mitteilsam, wenn es um ihre Hafterlebnisse
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des Anstaltsleiters war laut Pécic entscheidend für den in einer Strafanstalt praktizierten Strafvollzug. Ebd., S. 29-32. Vgl. OESTERLE, Kurt: Stammheim, S. 60-71. Vgl. KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 32-35. Klaus hat an dieser Stelle seines Berichts eine nahezu komplette Liste über die Bücher zusammengestellt, welche sich im Besitz der Stammheimer Häftlinge befanden. HIOB, Joachim: Einstellung des Beamten und Einstellung der Öffentlichkeit. In: Evangelische Akademie Hofgeismar (Hg.): Suizidprobleme im Strafvollzug. Akademietagung vom 10. bis 12. Januar 1977 (Protokoll Nr. 126/1977), S. 37-40, hier: S. 38.
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geht, und bemühen sich wieder vermehrt, „das Schweigen – ihr eigenes, sowie das der Gesellschaft – zu durchbrechen.“46 Christiane Ensslin und der Soziologe Christian Sigrist, zwei Personen stellvertretend für viele, die jahrelang in engem Kontakt mit Gefangenen aus der RAF standen, sind nach Erfahrung des Autors bereit, zur Aufarbeitung dieses umstrittenen Kapitels der deutschen Zeitgeschichte mit Erinnerungen und Hintergrundwissen beizutragen. Voraussetzung dafür ist, dass Historiker ihnen unvoreingenommen und mit einer gewissen Offenheit für ihre Sichtweise begegnen. Ein bekanntes Beispiel dafür, zu welch aussagekräftigen Resultaten die Zusammenarbeit mit diesen Zeitzeugen führen kann, ist Margarethe von Trottas Film »Die bleierne Zeit« (1981). Das mit dem Deutschen Filmpreis47 prämierte Porträt zweier Schwestern, die sich mit unterschiedlichen Mitteln politisch engagieren, bis die eine untertaucht, gefasst und inhaftiert wird, und die andere ihren Beruf als feministische Journalistin aufgibt, um ihre Schwester in Haft zu unterstützen, beruht auf den Lebensgeschichten von Gudrun und Christiane Ensslin. Margarethe von Trotta hatte die Schwester der RAF-Mitbegründerin im Herbst 1977 kennen gelernt. Die Regisseurin und Schauspielerin begleitete ihren Mann Volker Schlöndorff damals zu Motivbesichtigungen auf den Stuttgarter Dornhaldenfriedhof. Dort wollte er seine Aufnahmen für den Film »Deutschland im Herbst« (1978) drehen. Schlöndorff schreibt dazu in seiner Biografie: „Vor der Kapelle hatten wir am Nachmittag eine lebhafte, auf ihre Art sehr erregte junge Frau kennen gelernt, Gudrun Ensslins Schwester Christiane. Sie sah ihr zum Verwechseln ähnlich, so abgemagert, als hätte sie die Hungerstreiks solidarisch nachvollzogen.“ Christiane Ensslin habe gerade mit der Friedhofsverwaltung gesprochen, weil sie ihre Schwester in einem Grab mit Andreas Baader bestatten lassen wollte. Ohne den notwendigen Trauschein musste die Behörde jedoch auf der Trennung nach Geschlechtern bestehen. „Christiane war untröstlich“48, so Schlöndorff. Die Idee zu einem Film über das Schwesternpaar hatte Margarethe von Trotta: „Sie kam zu mir nach Köln und fragte, wie ich dazu stünde. Das Datum erinnere ich nicht mehr genau, aber es war frühestens im Sommer/Herbst 1978“49, blickt Christiane Ensslin zurück. Im Film sind die Namen der Hauptfiguren verfremdet, wird das Schicksal der Geschwister weniger als Einzelfall, sondern eher symptomatisch für die erste Nachkriegsgeneration in der Bundesrepublik geschildert. Der Zuschauer begleitet jedoch nicht die radikalere Marianne auf ihrem Weg in den bewaffneten Kampf, sondern bekommt die bis dahin (und bis heute) kaum beleuchtete Perspektive ihrer Schwester Juliane vermittelt, für die sich als Angehörige einer Terroristin bald das ganze Leben auf den Kopf stellt. Während sich Juliane im Film wie eine Einzelkämpferin für Marianne einsetzt, entstand im wirklichen Leben schon recht früh die erste Angehörigeninitiative, als sich Wienke Zitzlaff, die Schwester von
46 Jüngstes Beispiel: HOLDERBERG, Angelika (Hg.): Nach dem bewaffneten Kampf; vgl. ebd., S. 9. 47 Es gab genaue genommen zwei Auszeichnungen: Zum einen für die Hauptdarstellerin Barbara Sukowa wegen ihrer darstellerischen Leistungen. Zum anderen für die Filmgesellschaft Bioskop für den besten programmfüllenden Spielfilm. Der Film erhielt auch mehrere internationale Preise wie den »Goldenen Löwen« in Venedig und den »Goldenen Hugo« beim Internationalen Filmfestival in Chicago. 48 SCHLÖNDORFF, Volker: Licht, Schatten und Bewegung. Mein Leben und meine Filme. München 2008, S. 227. 49 Christiane Ensslin am 11.10.2008 (Auskünfte, schriftlich (s)).
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Ulrike Meinhof, kurz nach deren Inhaftierung bei Christiane Ensslin meldete. Nach dem Motto: Wir haben dasselbe Schicksal, aber „wir wissen nichts voneinander“, suchten beide engeren Kontakt, vor allem um „politische Dinge“ gemeinsam regeln zu können.50 Gemeint sind damit in erster Linie Versuche, die breite Öffentlichkeit auf die Situation der Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen aufmerksam zu machen. Anstoß für ihr Engagement waren die persönlichen Eindrücke, die sie bei den Besuchen in den Haftanstalten gewannen. Grundsätzlich kamen Termine nur selten zu Stande, blieben geradezu auf ein „Kontaktminimum“51 beschränkt. Ulrike Meinhof etwa durfte 1972/73 innerhalb von 240 Tagen nur achtzehn private Besuche empfangen.52 Damit galt für sie gerade noch der Regelfall, wonach „Untersuchungsgefangene mindestens einmal in zwei Wochen, meistens jedoch häufiger, abhängig ‚von der jeweiligen Auffassung des betreffenden Richters oder Staatsanwalts‘, Besuch erhalten […].“53 Wie die Besuche für gewöhnlich abliefen, zeigt Margarethe von Trottas Film: Nach der obligatorischen Leibesvisitation wurden die Angehörigen in einen Raum geführt, in dem mindestens zwei Vollzugsbeamte mit dem Häftling warteten. Die Gesprächszeit betrug zwischen fünfzehn Minuten und zwei Stunden. Die Beamten blieben anwesend. Unter diesen Umständen fiel es nicht leicht, miteinander zu kommunizieren. Manchmal kam es zu Wutausbrüchen, zu heftigen Wortwechseln, manchmal diktierten die Gefangenen ihren Besuchern auch nur Dinge, die sie ihnen beim nächsten Mal mitbringen sollten. Der Postweg stand ihnen dafür nicht uneingeschränkt offen: „Postsendungen an Gefangene und von ihnen, vor allem Briefe, Bücher und Drucksachen mit politischem Inhalt, werden festgehalten. […] Die beschlagnahmten Briefe werden als belastendes Beweismaterial gegen die Gefangenen benutzt […]“54, obwohl es Untersuchungsgefangenen in der Bundesrepublik nach den Regelungen in §119 der Strafprozessordnung (StPO) eigentlich grundsätzlich erlaubt ist, unbegrenzt Post zu verschicken und zu empfangen. Begründet wurden die Maßnahmen aber unter anderem damit, dass Briefe als „Beweismittel für die Grundhaltung und das beabsichtigte künftige Verhalten der Beschuldigten von Bedeutung“55 sein konnten. Auch der erkennbare psychische und physische Zustand der Gefangenen brachte Angehörige dazu, die Bedingungen der Haft zu hinterfragen. Seit die RAF-Spitze um Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof im Sommer 1972 gefasst war und den bewaffneten Kampf gegen den Staat aus den Gefängnissen heraus neu organisierte, hatte sie begonnen, ihren Standpunkt zur Repression in der Bundesrepublik umzuformulieren.56 In ihren Texten für Anwälte, Angehörige und Mitglieder 50 Christiane Ensslin am 03.04.2008 (m). 51 ENSSLIN, Christiane/ENSSLIN, Gottfried (Hg.): Gudrun Ensslin. ‚Zieht den Trennungsstrich, jede Minute‘. Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973. Hamburg 2005, hier aus dem Vorwort der Geschwister, S. 7. Die Briefsammlung gibt einen Einblick in die Problematik der Kommunikation zwischen Gefangenen und Angehörigen. 52 Vgl. DITFURTH, Jutta: Ulrike Meinhof. Die Biografie. Berlin 2007, S. 364. 53 BAKKER SCHUT, Pieter: Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion. Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung. Sonderausgabe 20 Jahre Stammheim. Bonn 1997, S. 59. 54 Vgl. ebd., S. 60. 55 Zit. nach: Ebd. 56 Vgl. FETCHER, Iring/MÜNKLER, Herfried/LUDWIG, Hannelore: Ideologien der Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland. In: FETCHER, Iring/ROHRMOSER, Günter (Hg.):
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wurden – was auch nahe lag – zunehmend die Umstände und Besonderheiten ihrer Haft thematisiert. Hieß ihr großer politischer Vorwurf bislang, „in der Bundesrepublik herrsche tendenziell Faschismus, der sein wahres Gesicht hinter der Maske reformistischer, sozialdemokratischer Politik“57 verberge, war es zu der nun aufkommenden Behauptung, in den Gefängnissen der Bundesrepublik würde gefoltert, kein großer Schritt. Entscheidend für die Nachhaltigkeit dieses propagandistischen Winkelzugs waren drei Umstände: (1) Dass die „justiziellen und exekutorischen Vorbereitungen auf die Prozesse in Stammheim und an anderen Orten […] von den Betroffenen so empfunden werden [konnten], als gelte für sie ein ‚Sonderrecht‘“58. – Diese Feststellung trafen nicht etwa die RAF-Anwälte, sondern die Politologen Iring Fetscher und Günter Rohrmoser in einer vom Bundesinnenministerium beauftragten Studie. Zur Erläuterung reihten die Autoren noch einmal die umstrittensten Maßnahmen der Justiz aneinander „- als Manipulation erscheinende Auswahl von Prozeßort und Prozeßleitung (Stammheim/ Prinzing); - Verbot der gemeinschaftlichen Verteidigung in einem Blockverfahren durch den Gesetzgeber (kurz vor Eröffnung des Verfahrens, dadurch direkte Einwirkung); - Ausschluß von eingearbeiteten Verteidigern; - Gesetzgebung für ein laufendes Verfahren (Kontaktsperregesetz); - Nichtanerkennung von Verhandlungsfähigkeit, die mit der urteilsmäßig noch gar nicht feststehenden Gefährlichkeit der Angeklagten begründet wurde; - illegales Abhören von Gesprächen durch nachrichtendienstliche Mittel; - Erklärung einer wesentlichen Aussage zur Geheimsache (Affäre Müller)“
Über diese Verkettung von Unstimmigkeiten hinaus, maßen Fetscher und Rohrmoser auch der Haftsituation der Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen eine gewisse Bedeutung für den Vorwurf eines geltenden Sonderrechts bei, sei diese doch von „besonderer Art“ gewesen und habe „Rückwirkungen auch auf das intellektuelle und psychische Vermögen der Inhaftierten“59 gehabt. Der frühere niederländische RAF-Anwalt Pieter Bakker Schut versucht in seiner Bilanz des Stammheim-Prozesses noch detaillierter nachzuweisen, worin seiner Ansicht nach der „Ausnahmecharakter“60 der Haftbedingungen vieler Gefangener
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Ideologien und Strategien. Analysen zum Terrorismus, Bd. 1. Herausgegeben vom Bundesministerium des Innern. Opladen 1981, S. 16-273, hier: S. 191. JANDER, Martin: Isolation. Zu den Haftbedingungen der RAF-Gefangenen. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, S. 974. Detaillierter zum Foltervorwurf auch auf S. 975-982. FETCHER, Iring/MÜNKLER, Herfried/LUDWIG, Hannelore: Ideologien der Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland. In: FETCHER, Iring/ROHRMOSER, Günter (Hg.): Ideologien und Strategien, S. 194. Dass es im ersten Stammheimprozess „mit den rechtsstaatlichen Prinzipien eines fairen Verfahrens nicht sehr genau genommen wurde“, hält auch Jörg Requate fest, der darauf verweist, dass selbst die konservative Presse die Umstände des Prozesses bemängelte. Eine umfassende Untersuchung der „Terroristenprozesses“, so Requate, stehe noch aus. Vgl. REQUATE, Jörg: Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz, S. 391. FETCHER, Iring/MÜNKLER, Herfried/LUDWIG, Hannelore: Ideologien der Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland. In: FETCHER, Iring/ROHRMOSER, Günter (Hg.): Ideologien und Strategien, S. 194. BAKKER SCHUT, Pieter: Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion, u. a. S. 51-60, hier: S. 53. Von „Sonderhaftbedingungen“ spricht auch der Historiker Tobias Wun-
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aus der RAF in den Siebziger Jahren bestand. Als Kriterium führt er unter anderem deren überlange Verwahrungsdauer in strenger Einzelhaft an – eine Vollzugsform, die laut §60 der Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO) deutlich als Ausnahme definiert sei und im Regelfall auf begrenzte Dauer angeordnet werden sollte.61 Bakker Schut verschweigt allerdings, dass die UVollzO nur eine Vorwaltungsvorschrift ist, die keine Verbindlichkeit für Richter besitzt. Entscheidend für die Nachhaltigkeit der RAF-Propaganda war (2) der Umstand, dass der Foltervorwurf von Beginn an anhand von zwei Beispielen illustriert werden konnte: Die festgenommenen Astrid Proll und Ulrike Meinhof hatten nacheinander mehrere Monate in der JVA Köln-Ossendorf verbracht, wo sie ihre Untersuchungshaft nicht in der normalen Frauenabteilung, sondern in einem Sonderbereich der Abteilung für psychiatrische Untersuchung verbüßten. Kriminaloberkommissar Alfred Klaus, der für das Bundeskriminalamt (BKA) das Verhalten der Gefangenen studierte und darüber einen Bericht verfasste,62 erinnert sich in seiner Biografie an einen Besuch bei Astrid Proll: „[…] mir war aufgefallen, wie erschöpft sie wirkte. […] Dann erklärte sie eindringlich, dass sie die isolierte Unterbringung einfach nicht ertrage.“63 Auch die auffallend schlechte Konstitution Ulrike Meinhofs, die er einige Zeit später in Köln-Ossendorf besuchte, blieb Klaus im Gedächtnis. Als er einen beisitzenden Justizinspektor auf den „körperlich und seelisch desolaten Zustand“64 der Gefangenen ansprach, konnte dieser ihm nur zustimmen. Klaus’ Eindruck relativierte sich allerdings bei dem darauf folgenden Besuch. Hier habe sich Meinhof erleichtert und aufgeschlossen gezeigt.65 Was der BKA-Beamte damals als „strenge Einzelhaft“ in einem „leeren Flügel“66 bezeichnete, fassten die RAF und ihre Anwälte später, als sich Ulrike Meinhof ausführlicher zu ihren Haftbedingungen geäußert hatte, mit der Formel: „Isolationshaft“ im „toten Trakt“. Grundlage für beide Formulierungen ist die Hausverfügung des Leiters der JVA Köln-Ossendorf vom 28. Juni 1972. Hier heißt es in Bezug auf die Untersuchungsgefangene Ulrike Meinhof unter anderem: „Strenge Einzelhaft a) Unterbringung Frauenlazarett. Die benachbarten Zellen dürfen nicht belegt werden. Zusätzliche Sicherung der Zelle durch ein Vorhängeschloss. […] Auf dem Flur vor der Zelle ist ein männlicher Bediensteter ständig als Posten eingeteilt. Die Ablösung des Postens geschieht nur über die Lazarettverbindungsgänge, nicht über die psychiatrische Abteilung. Die Verbindungstüren bis zur psychiatrischen Abteilung bleiben verschlossen. […] Tägliche Kontrolle der Zelle, der Habe der Gefangenen sowie Leibesvisitation. Unregelmäßige, mindestens vier-
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schik: „Jedoch fehlte es der Justiz im Umgang mit der politisch motivierten Kriminalität an der nötigen Souveränität – die Bundesrepublik war seinerzeit in Fragen der inneren Sicherheit über die Maßen sensibilisiert. […] Auch mit der Unterbringung der terroristischen Straftäter im Strafvollzug zeigte sich die Justiz überfordert […]“. Siehe: WUNSCHIK, Tobias: BaaderMeinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF. Opladen 1997, S. 376. BAKKER SCHUT, Pieter: Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion, S. 53 und S. 56. Hier mit Verweis auf: GRUNAU, Theodor: Kommentar zur Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO). Köln 1972, S. 111f. und S. 122-124. Siehe Fn. 17: KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen. KLAUS, Alfred/DROSTE, Gabriele: Sie nannten mich Familienbulle. Meine Jahre als Sonderermittler gegen die RAF. Hamburg 2008, S. 148. Ebd., S. 157. Vgl. ebd., S. 157f. KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 69.
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telstündliche Beobachtung bei Tag und bei Nacht. Nachts bei abgeschirmter Dauerbeleuchtung. Das Ergebnis der Beobachtung sowie sämtliche besonderen Vorkommnisse sind im Meldebuch festzuhalten. b) Maßnahmen innerhalb der Anstalt: Einzelfreistunde […] Es ist strengstens darauf zu achten, dass jegliche Kontaktaufnahme zu der U-Gefangenen Proll unterbunden wird. Die Freistunde darf nur stattfinden, wenn im Haus 15 nicht gebadet wird und die Unterrichtsräume 67 nicht besetzt sind. […]“
Die Unterbringung beider Frauen in sozial, akustisch und visuell abgeschirmten Zellen,68 bestätigte die Gefangenen aus der RAF, ihre Anwälte sowie die Angehörigen in der Auffassung, Staatsschutz, Bundesanwaltschaft und Justizvollzugsbehörden führten eine gezielte Sonderbehandlung durch. Der Druck, „das was in den Gefängnissen passiert ist und passiert“69 ans Licht bringen zu müssen, verstärkte sich im wechselseitigen Kontakt der drei genannten Gruppen und mit der zunehmenden Schärfung der Begriffe Isolationshaft – Isolationsfolter – Vernichtungshaft in internen und öffentlichen Verlautbarungen:70 Aus der „Isolation“, unter der die vollständige Vereinzelung und Abschottung der Gefangenen verstanden wurde, leitete sich der Vorwurf der Folter ab, die angeblich dazu diente, die Betroffenen „zu zermürben und zu zerstören“71. Dass die gefährliche Haftsituation, wie sie Proll und Meinhof zu Beginn ihrer Untersuchungshaft erlebten, bei keinen anderen Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen eintrat – zumindest sind keine Wiederholungsfälle einer derart umfassenden sozialen, akustischen und visuellen Isolation bekannt geworden – blieb bei der Skandalisierung der Isolation ebenso außer Acht, wie der Fakt, dass praktisch jeder gewöhnliche Strafgefangene im Gefängnisalltag einer Desozialisation ausgesetzt ist; das heißt, dass er abgesehen von Mitgefangenen und Anstaltspersonal ohne seine eigentlichen sozialen Partner auskommen muss, dass ihm „hinter Mauern, Gittern und Riegeln […] soziale Isolation“72 widerfährt.
67 Hausverfügung des Leiters der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf vom 28. Juni 1972 betreffend Ulrike Meinhof. In: HIS Ordner: Russell-Tribunal-material. 68 Dass die „strenge Einzelhaft“ im Falle von Astrid Proll und Ulrike Meinhof mit gefährlichen Beschränkungen der Möglichkeiten zur Kommunikation und sozialen Interaktion einherging, ist in der Terrorismusforschung unbestritten. Vgl. JANDER, Martin: Isolation. Zu den Haftbedingungen der RAF-Gefangenen. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, S. 981f. Auch Gerd Koenen meint: „Die zuständigen Justiz- und Vollzugsbehörden der verschiedenen Bundesländer hatten in der Tat mit fragwürdigen Anordnungen zur ‚Sicherheitsverwahrung‘ der gefangenen RAF-Kader begründete Anlässe für Proteste geliefert.“ Siehe: KOENEN, Gerd: Camera Silens. Das Phantasma der ‚Vernichtungshaft‘. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, S. 1004. 69 Aus einem Rundbrief der RAF-Anwälte vom 19.03.1973. Zit. nach: KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 69. 70 Relativ anschaulich wird der Umgang mit diesen Kampfbegriffen in einem Interview von Gefangenen aus der RAF mit »Der Spiegel« vom 20.01.1975, das bezeichnenderweise auch in voller Länge in die erste RAF-Textsammlung aufgenommen wurde. Vgl. Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa (Hg.): Texte : der RAF. Lund 1977, S. 241-261. 71 Aus der Gründungserklärung der Komitees gegen Isolierfolter in Gefängnissen der BRD vom 29.04.1973. Zit. nach: KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 70. 72 PÉCIC, Denis: Der Strafvollzug aus der Sicht eines Gefangenen, S. 339.
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(3) Ein weiterer Umstand, der die RAF-Propaganda begünstigte, hing eng mit dem eher geringen Kenntnisstand von Medien und Öffentlichkeit über die Zustände in bundesdeutschen Justizvollzugsanstalten zusammen. Jahrelang hatten diese Einrichtungen eine „Politik der nicht-offenen Tür“73 betrieben: Probleme, Sorgen und unangenehme Vorfälle drangen nicht nach außen. Umgekehrt trug die abgeschiedene und isolierte Lage der Anstalten zum Desinteresse der Bevölkerung bei. Reformen im Strafvollzug waren nach den Skandalen in der JVA Köln-Klingelpütz und in der Hamburger „Glocke“ zwar seit Herbst 1967 in Gang gekommen,74 doch weitgehend ein internes Thema des Bundesjustizministeriums. Welcher Außenstehende konnte mit Gewissheit ausschließen, dass es in diesen Institutionen, die auf Grund ihres „tendenziell totalitären Charakters“75 ohnehin als besonders anfällig für unmenschliche, entwürdigende und erniedrigende Vorgehensweisen gelten, nie zu Menschenrechtsverletzungen kam? Systematische Untersuchungen über das Auftreten und die Verbreitung von Folter und anderen Formen psychischer und physischer Misshandlungen gab es jedenfalls nicht – und sie liegen nach Angaben des Sozialwissenschaftlers Johannes Feest noch immer nicht vor.76 Damit verbunden bestanden in den Siebziger Jahren auch Defizite bei der genauen Definition von „Folter“. Zugute kam der RAF-Propaganda sicher, dass damals noch nicht eindeutig zwischen unmenschlicher und erniedrigender Bestrafung und Folter im engeren Sinne, das heißt „einer vorbedachten, vorsätzlichen Zufügung schwerer Leiden mit dem Ziel, Aussagen oder Geständnisse zu erlangen“77, unterschieden wurde. So konnten die Anwälte der RAF-Gefangenen auch unreguläre Haftbedingungen als Foltermaßnahmen deklarieren, ohne etwa in Widerspruch zu Richtlinien unabhängiger Menschenrechtsorganisationen zu geraten. 2.2 „Komitees gegen Isolationshaft“ – Entstehung und Zerfall Weil sie alle rechtlichen Mittel und Wege, um die erhofften Hafterleichterungen zu erreichen, ausgeschöpft sahen, forcierten die Anwälte Klaus Croissant, Kurt Groenewold, Jörg Lang, Hans-Christian Ströbele und andere zur Jahreswende 1973 die Bildung so genannter „Komitees gegen Isolierfolter in Gefängnissen der BRD“. Sie sollten die kritische Öffentlichkeit – eine fiktive Schnittmenge von KPD-Mitglie-
73 BAUM, Ottokar: Bürgerinitiativen und Strafvollzug, S. 98. Baum bezieht sich nach eigenen Angaben auf eine Formulierung des Richters Hans-Jörg Münchbach. Vgl. MÜNCHBACH, Hans-Jörg: Strafvollzug und Öffentlichkeit (Beiträge zur Strafvollzugswissenschaft Nr. 13). Stuttgart 1975, S. 121f. 74 Vgl. o. A.: Dampf in der Debatte. Ein Gespräch mit Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel. In: Die Zeit (30.08.1974). 75 FEEST, Johannes: Justizvollzugsanstalten: totale Institutionen, Folter und Verbesserungen der Prävention. In: FOLLMAR-OTTO, Petra/BIELEFELDT, Heiner/SCHÄFTER, Petra (Hg.) für das Deutsche Institut für Menschenrechte (Hg.): Prävention von Folter und Misshandlung in Deutschland. Baden-Baden 2007, S. 93-116, hier: S. 93. 76 Vgl. ebd., S. 100. Feest merkt jedoch an, dass das Europäische Komitee zur Verhütung der Folter, welches seit 1987 auch deutsche Haftanstalten überwacht, in seinen Berichten durchweg „keine Anzeichen von Folterungen“ feststellen konnte. 77 Ebd. Feest orientiert sich mit dieser Formulierung nach eigenen Angaben an: MORGAN, Rod/EVANS, Malcolm (Hg): Combating Torture in Europe: the Work and Standards of the European Committee for the Prevention of Torture (CPT). Strasbourg 2001, S. 63.
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dern bis hin zu Liberalen –78 informieren und mobilisieren, um schließlich über Solidaritätsaktionen Druck auf Politik und Vollzugsbehörden auszuüben. Ab April 1973 entstanden in bundesdeutschen Städten zunächst zehn, später dreizehn weitere dieser Gefangeneninitiativen, oft mit Unterstützung bekannter Persönlichkeiten wie den Schriftstellern Martin Walser, Heinrich Böll, Gerhard Zwerenz, oder den Regisseuren Alexander Kluge und Volker Schlöndorff. Letzterer gehörte zusammen mit seiner damaligen Frau Margarethe von Trotta auch der Roten Hilfe München an, einem kleinen „Grüppchen, das sich wie frühchristliche Gläubige in Kellerverliesen traf und sich auf russische Anarchisten des 19. Jahrhunderts berief. Sah man ihre Gesichter, wirkten sie eher romantisch als politisch“, schildert Schlöndorff in seiner Biografie. Als Mitglieder benennt er unter anderem den früheren Kommunarden Fritz Teufel, Gerhard Seyfried, damals Herausgeber der Szenezeitung »Blatt«, das spätere RAF-Mitglied Juliane Plambeck sowie den Anglisten Christian Enzensberger. Trotz der spürbaren, leicht ironisierenden Distanz, mit der Schlöndorff an seine Zeit bei den Gefangeneninitiativen erinnert, versucht er an einer Stelle auch, die individuelle Motivation zu beschreiben, die zum Engagement für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen veranlasste: „An manchen Abenden kam noch eine distinguierte Dame dazu, Witwe eines Rechtsprofessors der Münchner Universität, deren Sohn Rolf [Pohle, Anm. M. M.] irgendwo in Bayern einsaß. An ihrem Beispiel konnte man sehen, wie ein paar Gefängnisbesuche und praktische Erfahrungen im Umgang mit den Behörden ein über Generationen gültiges bürgerliches Weltbild erschüttern können: Sie war eine der radikalsten Rednerinnen, wenn es um Isolation 79 und Haftbedingungen der so genannten politischen Gefangenen ging.“
Abgesehen von regelmäßigen Zusammenkünften habe die Tätigkeit der Gruppierung darin bestanden, Gefangene in bayerischen Haftanstalten zu besuchen, von denen bei weitem nicht alle einen politischen Hintergrund hatten. Einen kategorischen Unterschied habe man ohnehin nicht gemacht: „[…] es hieß damals, letztlich seien alle Häftlinge insofern politische, als sie ja durch die Gesellschaft, in der sie lebten, kriminalisiert worden seien“, so Schlöndorff. Den typischen Ablauf eines Besuches fasst er wie folgt zusammen: „Nach langwierigen Eingaben bei Gericht hatten wir einen Besuchsschein, mussten nun Kontrollen passieren, durch vergitterte Schleusen gehen, um den mit Genrebildern dekorierten Warteraum zu erreichen, wo Angehörige anderer Insassen uns zeigten, wie man mit im Voraus abgezählten Münzen Schokolade und Zigaretten, Marke Rothändle, aus einem Apparat ziehen konnte, bis wir schließlich einen wildfremden Menschen im Gefangenendrillich wie einen alten Freund umarmten. Nach ein paar Monaten wurde er es tatsächlich, und wir erkannten, dass diese ‚Knastarbeit‘ eine gute Sache war. Die Besuchsdauer war meist eine Stunde. Das Gespräch war stets stockend […]. Worüber hatten wir gesprochen? Enthielten die Gespräche wichtige Informationen? Trugen wir einen Kassiber in der geballten Faust? 80 Nein, nichts von alledem; wir hatten nur einen Menschen kennen gelernt.“
78 Vgl. KLAUS, Alfred/DROSTE, Gabriele: Sie nannten mich Familienbulle, S. 165. Klaus zitiert Andreas Baaders „Wunsch nach einer möglichst breit gestreuten Solidarität“. 79 SCHLÖNDORFF, Volker: Licht, Schatten und Bewegung, S. 208. 80 Ebd., S. 209.
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1974 schloss sich Schlöndorff, der sein Engagement rückblickend eher als karitative denn als politische Arbeit betrachtet, einem Komitee gegen Isolationshaft an.81 Das erste gemeinsame Treffen dieser „Anti-Folter-Komitees“, wie sie verkürzt hießen, hatte am 11. Mai 1973 stattgefunden – wenige Tage nachdem Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen ihren nunmehr zweiten Hungerstreik aufgenommen hatten. Wie breit gestreut der politische Hintergrund der Komiteemitglieder war, zu denen nicht nur RAF-Anwälte, -Angehörige oder -Unterstützer gehörten, deuteten drei Redebeiträge auf dieser Veranstaltung an: Der niederländische Psychiater Sjef Teuns sprach über den destruktiven Druck, der auf die Gefangenen in Isolationshaft ausgeübt würde, um sie zum Sprechen zu bringen – Stichwort: „programmierte Folter“. Der Soziologe Christian Sigrist wertete das Vorgehen der „mit den Bluttaten des Faschismus befleckte[n]“82 deutschen Justiz zwar als „formal-rechtsstaatlich“, aber terroristisch in seinen Untersuchungspraktiken und willkürlich in seinem Strafmaß. Dies stufte er als Begleiterscheinung einer weltweiten US-geführten Repressionsstrategie gegen antiimperialistische Kämpfer ein, der sich die Bundesrepublik zwangsläufig angeschlossen habe. Er begründete seine Einschätzung mit persönlichen Erfahrungen, die er während seiner Forschungsaufenthalte in ehemaligen portugiesischen Kolonien Afrikas mit den dortigen Befreiungsbewegungen gesammelt hatte. Sigrist, ein Berater auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe, hatte 1972 von sich aus Kontakt zu RAF-Anwälten aufgenommen, um sich über die Haftbedingungen zu informieren. Er unterstützte als einer von wenigen deutschen Hochschulprofessoren offen die Kampagnen der „AntiFolter-Komitees“.83 Der dritte bekannte Redner auf der Frankfurter Veranstaltung war Heinz Brandt, Redakteur bei der IG Metall. Als ehemaliger KZ- und BautzenHäftling behauptete er in seinem Beitrag, „dass die Isolationshaft [in der Bundesrepublik] schlimmer, gefährlicher und zerstörerischer sei, als die von ihm unter den Nationalsozialisten erlebte Isolationshaft.“84 Doch nicht nur solche Diskussionsveranstaltungen, sondern auch konkrete Protestaktionen erregten Aufsehen. Am 9. März 1974 reagierte das Heidelberger
81 Später unterstützte Schlöndorff den Rechtshilfefond für die Anwälte der RAF-Mitglieder, um ihre Arbeit „materiell zu sichern und diese vor gesellschaftlicher Isolierung zu schützen.“ Gegen den Vorwurf, er finanziere damit auch RAF-Propaganda, setzte er sich öffentlich zur Wehr. Der Rechtshilfefond habe ein „rein humanitäre[s] Anliegen […], das niemals Billigung von Straftaten oder Terror beinhaltet hat.“ Außerdem seien seine finanziellen Mittel so gering gewesen, „daß er praktisch wirkungslos blieb.“ Siehe: Brief von Volker Schlöndorff an Legationsrat Kliesow im Bundeskanzleramt vom 15.09.1977, darin: Presseerklärung, S. 1f. In: AdsD, 1/HSAA006891. 82 Zit. nach: SIGRIST, Christian: Imperialismus: Provokation und Repression. In: Kursbuch (Nr. 32, August 1973), S. 137-141, hier: S. 140. 83 Christian Sigrist am 13.08.2008 (m). Namentlich bekundeten ihre Solidarität mit den „AntiFolter-Komitees“ auch: Prof. Ernst Bloch, Tübingen, Prof. Ulrich Albrecht und Prof. Uwe Wesel, Berlin. Vgl. Komitee zur Aufklärung über Gefängnisse/Initiative gegen Folter (Hg.): Beitritts- und Kontaktformular. In: Erklärung des Komitees gegen Politische Verfolgung in der Bundesrepublik und in Westberlin. Frankfurt a. M. o. J., o. S. 84 BAKKER SCHUT, Pieter: Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion, S. 100. Heinz Brandt hatte die Zeit von 1940 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Auschwitz und Buchenwald verbringen müssen. Vgl. MIHR, Anja: Die internationalen Bemühungen von Amnesty International im Fall Heinz Brandt. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung (Bd. 37, 2001), S. 449-464, hier: S. 449.
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Komitee auf Ulrike Meinhofs Haftbedingungen in Köln-Ossendorf mit einer Demonstration: Es hatte deutsche und niederländische Ärzte dazu eingeladen, eine Kundgebung vor dem Gefängnis zu veranstalten. Etwa dreißig Mediziner, viele von der Universitätsklinik Heidelberg, kamen in ihren weißen Kitteln und warnten lautstark vor latenten Foltermethoden.85 Fünf Tage später folgte eine ähnliche Demonstration von Mitgliedern verschiedener Komitees vor dem nordrhein-westfälischen Justizministerium in Düsseldorf. Sie erstreckte sich über 45 Tage. Sogar in Den Haag und Amsterdam waren Menschen bereit, sich mit der „Anti-Folter-Kampagne“ der Komitees zu solidarisieren und ebenfalls auf die Straße zu gehen. Der Protest gegen die Haftbedingungen der Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen nahm internationale Ausmaße an. Er zog „offene Briefe an die westdeutsche Botschaft in den Niederlanden, eine Pressekonferenz in Paris, ausführliche Artikel in französischen Zeitungen“ sowie einen offenen Brief „gegen den toten Trakt“ und „für die Abschaffung von Folter durch Isolation und sensorische Deprivation“86 nach sich, den vierzig französische Prominente, unter anderem Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Michel Foucault, unterzeichnet hatten. Als Hauptproblem für die Arbeit der Komitees erwies sich bald der Generalverdacht, unter dem sie standen. Vonseiten der Ermittlungsbehörden wurde ihnen die Schuld für die wachsende Unterstützung und personelle Verstärkung der bewaffneten Gruppierungen untergeschoben.87 Anlass dazu gab die politische Orientierung vieler Komiteemitglieder, die sich „mit der Anti-VietnamkriegsBewegung der sechziger Jahre verwandt fühlten, aus der die RAF hervorgegangen war, und die nicht schon in einer der vielen einander heftig und dogmatisch bekämpfenden radikal-linken Gruppen verwurzelt waren.“88 Deshalb, so Bakker Schut weiter, habe man sich in einigen Komitees aus Betroffenheit heraus auch zunehmend die politische Analyse der RAF zueigen gemacht; so auch Robert Krieg, aus dem Komitee gegen Isolationshaft in Münster. Als Soziologiestudent hatte er sich mit der Einstellung der Medien gegenüber politisch Andersdenkenden auseinandergesetzt sowie die computerisierten Methoden zur Fahndung und Beobachtung des BKA auf ihre Folgen für den Datenschutz untersucht. Seine Magisterarbeit89 legt unmissverständlich Zeugnis davon ab, dass er ein politisch überzeugter Student mit antifaschistischer Grundeinstellung war. Er verfolgte neben dem Vietnamkrieg auch den Befreiungskampf verschiedener Gruppierungen in der Dritten Welt. Für ihn war die RAF damals Teil dieses „weltweiten antiimperialistischen Widerstands“, erinnert sich Krieg. Aus diesem Grund empörte er sich auch über die Situation der Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen. „Obwohl ich Gewalt als politisches Mittel ablehnte, habe ich mich für die politische
85 Zu den Hintergründen dieser Aktion, vgl. DITFURTH, Jutta: Ulrike Meinhof, S. 377. 86 BAKKER SCHUT, Pieter: Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion, S. 107. 87 Zum Erscheinungsbild des Terrorismus zählten nach Ermessen der Justiz bereits „Unterstützungshandlungen“, also materielle und selbst verbale Unterstützung, wie „die Befürwortung von Gewalt, Wandschmierereien, die Werbung für terroristische Gruppen“, wovon letztlich die Arbeit mancher Komitees kaum zu unterscheiden war. Vgl. BLATH, Richard/HOBE, Konrad: Strafverfahren gegen linksterroristische Straftäter und ihre Unterstützer. Schriftenreihe ‚Recht‘ des Bundesministeriums der Justiz. Bonn 1982, S. 9. 88 BAKKER SCHUT, Pieter: Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion, S. 100. So auch Christian Sigrist am 13.08.2008 (m). 89 KRIEG, Robert: Öffentliche Gewalt, ihre widersprüchliche Widerspiegelung in den Massenmedien (unveröff. Magisterarbeit). Münster 1975.
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Theorie der RAF interessiert“90, gesteht Krieg ein – ein Bekenntnis, das sicher nicht allen ehemaligen Mitgliedern der „Anti-Folter-Komitees“ so leicht über die Lippen käme. Ohnehin blieben viele ihrer Namen unbekannt. Der Vorwurf, ein bloßer Rekrutierungspool für die RAF zu sein, traf auch das Komitee in Münster. Die Durchführung von Informationsveranstaltungen an der Universität oder auch von öffentlichen Kundgebungen sei dadurch spürbar erschwert worden, so Krieg, der sich erinnert, dass tatsächlich nur einer der Mitstreiter den Weg in die RAF suchte. Nicht alle Komitees schwenkten von ihrer Solidarität mit den Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen zu einer generellen Befürwortung ihres bewaffneten Kampfes um. Vor allem das Kölner Komitee, welches von Christiane Ensslin ins Leben gerufen worden war und von Prominenten wie Günter Wallraff, Dorothee Sölle, Heinrich Böll unterstützt und mitorganisiert wurde, hegte keine Absichten, in irgendeiner Weise Propaganda für die RAF zu betreiben. Folglich betrachteten es die anderen Komitees auch eher als eine „bourgeoise Initiative“. Schon früh zeigte sich, wie brüchig das Verhältnis zwischen den Komitees auf Grund ihrer widersprüchlichen Ansichten war. Bei einem nationalen Treffen zur Jahreswende 1975/76 wurde das Kölner Komitee sogar „hinausgeschmissen“91. Wenige Wochen zuvor, im Herbst 1974, hatten die Anti-Folter-Komitees einen großen Rückschlag verkraften müssen. Mit dem Tod von Holger Meins in der JVA Wittlich, den die meisten Komiteemitglieder als Ermordung von Staats wegen deuteten,92 machten sich Frust und Resignation breit: Welchen Sinn hatte das eigene Engagement, wenn man den Gefangenen in kritischen Situationen nicht helfen konnte? Der Racheakt der Bewegung 2. Juni an Günter von Drenkmann, einem Berliner Richter, machte alles nur noch schlimmer: Die Innenminister von Bund und Ländern starteten ihre „Aktion Winterreise“ – eine bundesweite Fahndungsaktion der Polizei, die sozusagen in einem Überraschungsangriff hunderte Wohnungen, WGs, Büros sowie Druckereien und Verlagshäuser durchsuchte und die dabei Aufgegriffenen erkennungsdienstlich behandelte, verhörte oder sogar festnahm. Offizielle Absicht war es, Personen ausfindig zu machen, die wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung gesucht wurden. In Wahrheit ging es vor allem da-
90 Robert Krieg am 10.11.2008 (m). 91 Christiane Ensslin am 08.05.2008 (s). Am 16.06.2008 fügte sie in einer schriftlichen Mitteilung hinzu: „Unser Komitee wollte ausschließlich die Isolationshaft skandalisieren und darauf aufmerksam machen, dass Isolation in einer Demokratie nicht sein darf, weil sie Menschen vernichtet.“ 92 Holger Meins, der sich seit September 1974 am dritten Hungerstreik der RAF beteiligte, verstarb am 11.11.1974 an Unterernährung, obwohl er in der JVA Wittlich künstlich ernährt wurde. Während die Ermittlungen der zuständigen Staatsanwaltschaft gegen den Anstaltsarzt mit der Begründung eingestellt wurden, die Verantwortung für seinen Tod läge bei Meins „selbst und bei denen, die ihn möglicherweise zum Hungerstreik veranlasst“ hätten, zit. nach: CONRADT, Gerd: Starbuck Holger Meins. Ein Porträt als Zeitbild. Berlin 2001, S. 146, bekennt der damalige BKA-Oberkommissar Alfred Klaus in seiner Biografie: „Holger Meins’ lebensbedrohlicher Zustand war in der Wittlicher Anstalt falsch eingeschätzt worden, wenn auch gewiss nicht mit Absicht.“ Und weiter: „Der Anstaltsarzt hätte erkennen müssen, wie es um ihn stand, er hätte den Stuttgarter Strafsenat informieren und den Gefangenen in die Intensivstation eines Krankenhauses bringen lassen sollen. Stattdessen hatte der Doktor sich ins Wochenende begeben.“ Siehe: KLAUS, Alfred/DROSTE, Gabriele: Sie nannten mich Familienbulle, S. 193f.
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rum, Unterstützer93 der RAF sowie möglichst viele ihrer Kontaktpersonen zu erfassen.94 Infolge der Ereignisse wurde die Arbeit der „Anti-Folter-Komitees“ besonders „ins bürgerliche Lager hinein […] sehr erschwert“95. Zudem verloren sie viele Mitglieder. Die einen sprangen ab, weil sie die öffentlichen Anfeindungen satt hatten und sich von der Polizei verfolgt fühlten, die anderen, weil bloßes Protestverhalten offensichtlich nicht ausreichte, um den Gefangenen zu helfen; und schließlich war der liberalen Basis der Komitees nicht mehr zu vermitteln, weshalb sie sich für inhaftierte Mitglieder bewaffneter Gruppierungen einsetzen sollte, deren Kampfgenossen in Freiheit wahllos mordeten. Auch Christiane Ensslin mochte fortan nicht mehr regelmäßig zu Veranstaltungen ihres Kölner Komitees erscheinen. Sie konnte prominenten Unterstützern wie Heinrich Böll oder Günter Wallraff nicht verübeln, dass sie ihr ab sofort nicht mehr helfen wollten, zweifelte selbst an dem Sinn der Kampagnen.96 2.3 „Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa“ Infolge des Mitgliederschwundes zerfielen die „Anti-Folter-Komitees“ allmählich. Einige ihrer Mitglieder schlossen sich der RAF oder einer anderen bewaffneten Gruppierung an. Die RAF-Spitze in Stammheim sah sich gezwungen, „ein neues Konzept für die Öffentlichkeitsarbeit zu entwerfen.“97 Das damalige RAF-Mitglied Klaus Jünschke erinnert sich: „[Es] blieb uns nur der Versuch, eine diplomatische Front aufzubauen: Solidaritätskomitees gegen die Isolation bzw. das Modell Deutschland in allen westeuropäischen Ländern. Von den Rückwirkungen dieser Initiativen war zweierlei zu erwarten: erstens eine Ermutigung und damit ein Wiedererstarken der innerstaatlichen Opposition gegen die Isolation und die totalitäre Führung der Prozesse in den Staatsschutzfestungen und zweitens ein Nachgeben der Regierung aus Gründen der Imagepflege, d.h. eine Bereitschaft von oben, die Haftbedingungen 98 zu lockern.“
93 Die Formulierung „Unterstützer“ bezieht sich hier und im Folgenden auf „Personen, die keiner bestimmten Terroristengruppe […] angehör[t]en, aber linksterroristisch motivierte Straftaten verüb[t]en oder die Begehung solcher Straftaten unterstützten.“ Siehe: BLATH, Richard/HOBE, Konrad: Strafverfahren gegen linksterroristische Straftäter und ihre Unterstützer, S. 6. 94 Vgl. SCHENK, Dieter: Der Chef. Horst Herold und das BKA. München 2000, S. 166. 95 Christiane Ensslin am 11.10.2008 (s). 96 Christiane Ensslin am 05./06.07.2008 (s). 97 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 87. 98 JÜNSCHKE, Klaus: Spätlese. Texte zu Knast und RAF. Frankfurt a. M. 1988, S. 126. Irmgard Möller, seit 1971 RAF-Mitglied, wies in einem Interview auf einen weiteren Aspekt hin: „1976 beantragte die Bundesregierung die Auslieferung von Rolf Pohle“, einem RAF-Mitglied, das 1976 in Griechenland untergetaucht und später gefasst worden war. Vor Ort „entwickelte sich eine Kampagne, in der vor allem ehemalige Partisanen und Widerstandskämpfer aus der Zeit, als Griechenland von der deutschen Wehrmacht besetzt war, aktiv waren. Die Kampagne hatte zum Ziel, die Auslieferung zu verhindern. Da zeigte sich ein Terrain, auf dem man agieren konnte, und zwar politisch und nicht mit der Waffe. Das war für uns ganz wichtig zu sehen, weil es uns eine Idee davon vermittelt hat, wie man in Ländern, die von den Nazis besetzt gewesen waren, […] politisch handeln konnte […].“ Siehe: TOLMEIN, Oliver: RAF – Das
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Wieder lag es an den Anwälten, die Pläne umzusetzen. Mit Unterstützung einiger französischer und niederländischer Kollegen gaben Klaus Croissant und Kurt Groenewold am 14. Dezember 1974 in Utrecht die Gründung des „Internationalen Komitees zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa“ (IKV) bekannt.99 Das Gremium verschrieb sich der Solidaritätsarbeit für Gefangene aus der IrischRepublikanischen Armee (IRA) und der „Sicherung der Verteidigung der politischen Gefangenen in Westdeutschland und Westberlin“100. In seiner Satzung vom 20. Januar 1975 begründete das IKV dieses Engagement mit dem Verweis auf drei Grundannahmen: Erstens betrachtete es die bewaffneten Gruppierungen nicht als Terroristen, sondern als Teil „der antiimperialistischen und antifaschistischen Kämpfe […] in den Ländern der 3. Welt und in den Metropolen“. Zweitens ging es davon aus, dass gegenüber diesen Kämpfen „in allen kapitalistischen Staaten die Anwendung verschiedener Methoden zur Einschränkung der zivilen und politischen Rechte festzustellen“ sei, besonders auf dem Gebiet der Justiz. Drittens übernahm es völlig unkritisch die Darstellung der Gefangenen, wonach diese „von Seiten der Exekutiv- und Justizorgane speziellen Haftbedingungen unterworfen [seien], die darauf abzielen, ihre Identität zu zerstören.“101 Mit diesen Grundannahmen stimmten die Rechtsanwälte in wesentlichen Punkten mit der Linie der RAF und anderer bewaffneter Gruppierungen überein, den eigenen Kampf als Teil eines internationalen Befreiungskampfes zu propagieren und die Kriminalisierung dieses Kampfes durch den jeweiligen Staat zur Vernichtungsstrategie zu stilisieren. Die Arbeitsweise des IKV lässt sich wie folgt zusammenfassen: Anwälte wie Klaus Croissant, Kurt Groenewold, Armin Newerla und Arndt Müller, die an Verfahren gegen RAF-Mitglieder als Verteidiger eingebunden waren, sammelten in ihren Kanzleien alle Informationen über die Umstände und den Verlauf der Verfahren und über die Haftbedingungen ihrer Mandanten. Als wichtiges Medium dienten, neben dem persönlichen Kontakt, die Briefe der Gefangenen. In gewissen Abständen fanden Arbeitstreffen des IKV statt, auf denen diese Informationen dann mit den ausländischen Rechtsanwälten ausgetauscht und besprochen wurden. So konnten sich die deutschen IKV-Mitglieder immer wieder der Solidarität ihrer Kollegen versichern. Christian Sigrist, der dem Komitee angehörte, musste bei diesen Zusammentreffen enttäuscht feststellen, dass die französischen Anwälte die gemeinsamen Anliegen weitaus weniger ernst nahmen als die deutschen. Dies sei etwa darin zum Ausdruck gekommen, dass ihnen bei den Beratungen über die Haftbedingungen, „das Mittagessen wichtiger als der Hungerstreik der Gefangenen“102 war. Sie hörten sich an, was Klaus Croissant, Kurt Groenewold und die anderen zu sagen hatten, hielten sich jedoch mit eigenen Vorschläge oder gar kritischen Gegenfragen dezent zurück.
war für uns Befreiung. Ein Gespräch mit Irmgard Möller über bewaffneten Kampf, Knast und die Linke. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. 4. Auflage. Hamburg 2005, S. 108. 99 Utrechter Erklärung. In: HIS, Ordner: 1974-1979/Internationale Komitees/Solidarität. Unterzeichner der Gründungserklärung waren Jean-Jacques de Félice, Danielle Domboy, Irène Terrel, Evelyne Mortier, Pieter Bakker-Schut, Klaus Croissant und Kurt Groenewold. 100 Ebd. 101 Bericht über die Arbeitssitzung und die Pressekonferenz des Internationalen Komitees zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa vom 20. Januar 1975 in Paris, S. 2. In: HIS, Ordner: 1974-1979/Internationale Komitees/Solidarität. 102 Christian Sigrist am 25.06.2008 (m).
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Eine Ausnahme bildete Jean-Jacques de Félice, der sich laut Sigrist stets engagiert gezeigt haben soll. Für die Zwecke des IKV musste die Passivität der ausländischen Mitglieder kein Nachteil sein: Als der französische Rechtsanwalt Danielle Domboy und der Politologe Jean-François Blet im März 1975 als Prozessbeobachter in die Bundesrepublik kamen, meinten sie nämlich, alles so vorzufinden, wie es ihnen beschrieben worden war. In ihrem veröffentlichen Bericht kritisierten sie, dass der Prozess gegen Ronald Augustin, ein RAF-Mitglied, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfände. Und sie hielten die Ausschlussmaßnahmen gegen einzelne Verteidiger für skandalös: „Daß man einem Verteidiger untersagt, den Angeklagten, der ihn gewählt hat, zu besuchen, dass er ihm nicht einmal mehr schreiben kann und dass er nicht mehr die Möglichkeit hat, ihn zu beraten, dabei handelt es sich um einen schwerwiegenden Angriff auf die Verteidigerrechte.“103 Worauf sich die Domboy und Blet bezogen, das war ein neuer Katalog von Vorschriften und Änderungen zur Strafprozessordnung, den der Bundestag Anfang 1975 verabschiedet hatte. Danach durften Rechtsanwälte, die im Umgang mit Mandanten ihre Sonderstellung missbrauchten, vom Verfahren ausgeschlossen werden. Für Klaus Croissant bedeutete die Neuregelung, dass es ihm nicht mehr erlaubt war, Andreas Baader zu verteidigen. Er blieb aber weiterhin mit ihm in Kontakt, indem er in der Strafsache gegen Ulrike Meinhof nach Stammheim kam. „Trotz Gesetz ist der Kommunikationsfluß zwischen Zellen und Zirkeln ‚ungebrochen‘“104, stellte »Der Spiegel« im Mai 1975 fest. Domboy und Blet sahen dennoch „eines der Grundrechte unserer westlichen juristischen Systeme“ verletzt, das Recht der freien Verteidigung. Ein solcher Angriff auf die Freiheit erinnerte sie nach eigenem Bekunden „an die düstersten Stunden zwischen beiden Weltkriegen“. Aus diesem Grund machten sie es sich zur Aufgabe, „die europäische und internationale Öffentlichkeit auf den Plan zu rufen, sie wachsam zu machen gegenüber diesem Räderwerk, das sich hier einrichtet, bevor es zu spät ist, dieses anzuhalten.“105 Dem IKV gelang es auch, US-amerikanische Rechtsanwälte für die eigene Sache zu gewinnen und zu ähnlichen Stellungnahmen zu veranlassen. So entstand 1975 eine „Erklärung amerikanischer Rechtsanwälte zu den Gefangenen aus der Roten-Armee-Fraktion und deren Anwälte“. Darin hieß es unter anderem: „Wir, die unterzeichnenden amerikanischen Rechtsanwälte haben die Maßnahmen und Aktivitäten der westdeutschen Regierung im Zusammenhang mit den bevorstehenden Prozessen gegen die Mitglieder der Roten Armee Fraktion genau verfolgt. Wir haben mit Unverständnis die unmenschliche Behandlung der Gefangenen, die illegale Kampagne der Regierung zur Verfolgung und Hetze gegen die Verteidiger der Gefangenen und die gezielte Missachtung von Gesetz und Verfahrensregeln, die sonst allen angeklagten Personen in der Bundesrepublik garantiert sind, beobachtet. Ebenso wie wir das Interesse ausländischer Anwälte an der Aufrechterhaltung der rechtsstaatlichen Regeln in den USA begrüßen, fühlen wir uns zum
103 DOMBOY, Danielle/BLET, Jean-François: Erklärung der französischen Delegation anlässlich der Beobachtung des Prozesses gegen Ronald Augustin in Bückeburg vom 13. März 1975. In: Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener (Hg.): Ausschaltung der Verteidigung in den Prozessen gegen die RAF. o. O. 1975, S. 2-4, hier: S. 2. 104 o. A.: Heute Abgang. In: Der Spiegel (05.05.1975). 105 DOMBOY, Danielle/BLET, Jean-François: Erklärung der französischen Delegation, S. 3.
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Protest verpflichtet, wenn wir sehen, dass fundamentale Menschenrechte und demokratische Rechte in anderen Ländern schwer verletzt werden.“
Die Propagandaerfolge des IKV sind vor allem auf den Besuch Jean-Paul Sartres in Stammheim zurückzuführen. Auf Betreiben von Ulrike Meinhof und Klaus Croissant war der seinerzeitige „pontifex maximus der literarischen Linken“107 am 4. Dezember 1974 zu der Stuttgarter Haftanstalt gekommen, um sich über die Haftbedingungen zu informieren und in einer Besucherzelle mit Andreas Baader zu sprechen. Oft wird Sartre in dieser Situation als hilfloser alter Mann beschrieben, von der RAF instrumentalisiert und geistig verwirrt: Er habe nicht einmal die Besucherzelle von Baaders richtiger Zelle unterscheiden können und überhaupt nicht geahnt, wie sehr er seinem Ansehen schadete.108 Dem Literaturwissenschaftler Hans Egon Holthusen ist diese Darstellungsweise zu einfach. Sartre habe durchaus gewusst, was er tat. Er sei jedoch einem Deutschlandbild aufgesessen, das „in den Köpfen der Terroristen und ihrer Sympathisanten herumgeisterte; es war eine Darstellung der Lage, in der sich das Bonner Staatswesen als ein ‚imperialistisches‘ Ungeheuer präsentierte, als ginge es noch immer um Hitlers Großdeutsches Reich.“109 Erschwerend kam hinzu, dass Sartre in Baader keinen gewöhnlichen Kriminellen sah. Für ihn war die RAF-Führungsfigur ein Intellektueller „nach seinem gusto“, der sich „den ‚Prinzipien der Revolution‘ unter allen Umständen verpflichtet“110 fühlte. Und noch etwas habe Sartre beeindruckt: Er wusste, dass sich in den frühen Manifesten der RAF seine eigene Gewaltpropaganda widerspiegelte. Sein Besuch in Stammheim könne daher „kaum anders gemeint gewesen sein als [eine] demonstrative Bestätigung einer Lehrer-SchülerBeziehung, als ein Bekenntnis des Meisters zum Adepten zwecks öffentlicher Schützenhilfe und persönlicher Rückenstärkung“111, so Holthusen. Für die RAF, für ihre Anwälte spielte es letztlich keine Rolle, warum Sartre kam. Dass er kam, war entscheidend. Durch ihn wurde „die deutsche Malaise international bekannt“112, erinnert sich Peter O. Chotjewitz, der Baader mehrmals in
106 Erklärung amerikanischer Rechtsanwälte zu den Gefangenen aus der Roten-Armee-Fraktion und deren Anwälte. In: Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener (Hg.): Ausschaltung der Verteidigung in den Prozessen gegen die RAF. o. O. 1975, S. 4. 107 HOLTHUSEN, Egon Hans: Sartre in Stammheim. Zwei Themen aus den Jahren der großen Turbulenz. Stuttgart 1982, S. 138. 108 Solche Behauptungen verbreitete hauptsächlich die bundesdeutsche Presse. Wolfgang Kraushaar hat in einem Aufsatz die verschiedenen Stimmen zusammengetragen. Er selbst zieht nicht in Zweifel, „daß der Philosoph propagandistisch benutzt wurde. […] Er war nicht nur zu einem rhetorischen Instrument, sondern auch zu einer ideologischen Geisel gemacht worden.“ Dennoch: „Sartres Vorbehalte gegenüber der Bundesrepublik beruhten nicht einfach auf Einbildung.“ Es gebe keinen Grund, die seinerzeitigen Haftbedingungen schönzureden […].“ Siehe: KRAUSHAAR, Wolfgang: Sartre in Stammheim. In: Lettre International. Europas Kulturmagazin (Nr. 80, 2008), S. 50-56, hier: S. 54-56. Klaus Oesterle, der sich an die Schilderungen des Justizbeamten Horst Bubeck hält, behauptet hingegen strikt: Was Sartre nach dem Besuch berichtet hätte, seien „lauter Lügen, weiter nichts“ gewesen. Siehe: OESTERLE, Kurt: Stammheim, S. 118. 109 HOLTHUSEN, Egon Hans: Sartre in Stammheim, S. 173. 110 Ebd., S. 169. 111 Ebd., S. 174. 112 CHOTJEWITZ, Peter Otto: Mein Freund Klaus. Roman. Überarb. Neuausgabe. Berlin 2008, S. 288.
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Stammheim besuchte. Was der Jurist und Schriftsteller damit meint, verdeutlichen Sartres Aussagen auf der anschließenden Pressekonferenz mit über 150 anwesenden Journalisten: Baader sei mager gewesen, fünfzehn bis zwanzig Kilo zu leicht, „er hatte viele Falten und jedes Mal wenn er sprach, sah man mehr Falten, sein Gesicht war zusammengedrückt, er hat das Gesicht gehabt eines gefolterten Menschen, der ausgehungert war.“113 „Es ist nicht die Folter wie bei den Nazis. Es ist eine andere Folter. Eine Folter, die psychische Störungen herbeiführen soll.“114 Diese Worte gingen ebenso um die Welt wie Sartres abschließender Aufruf, ein Komitee zur Rettung der Gefangenen zu gründen. War das IKV im ersten Jahr seines Bestehens vor allem in eigener Sache aktiv, also mehr ein Komitee zur Verteidigung von Verteidigern, so wurde der Tod von Ulrike Meinhof am 8. Mai 1976 zur Nagelprobe für die Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit dieser Gefangeneninitiative. Auf der Beerdigung erklärte Klaus Croissant noch: „Wir haben versagt, weil es uns nicht gelungen ist, den Tod von Ulrike zu verhindern.“115 Drei Monate später leitete er eine Pressekonferenz im Hotel „Graf Zeppelin“ in Stuttgart. Neben den Anwälten der RAF traten auch Personen als Redner auf, die seit Jahren – und über 1976 hinaus – eine wichtige Funktion bei der internationalen Propagandaarbeit des IKV hatten. Personen, die bereit waren, für Pressekonferenzen und Informationsveranstaltungen durch West-, Nord- und Südwesteuropa zu reisen und die die Erklärungen des IKV zuverlässig an den Kreis ihrer Fachkollegen und Freunde weiterleiteten. Sie alle sprachen sich dafür aus, eine internationale Untersuchungskommission einzuberufen, die die Todesumstände von Ulrike Meinhof restlos aufklären sollte. Dieser „IUK“ schlossen sich an: Rechtsanwalt Denis Payot aus Genf, Generalsekretär der Internationalen Vereinigung für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen, Lelio Basso, Völkerrechtsexperte aus Rom, früher Präsident des Vietnamkriegstribunals, Henrik Kaufholz, Deutschlandkorrespondent der dänischen Zeitung »Politiken«, der niederländische Philosoph Lolle W. Nauta, Johann van Minnen, Ombudsmann des niederländischen Fernsehens, außerdem der Psychologe Jørgen Paul Jensen aus Kopenhagen und der Soziologe Joachim Israel aus Lund.116 Als Arbeitsgrundlage der IUK legte Klaus Croissant eine 45-seitige Dokumentation vor, die Widersprüche und Mängel in den kriminologischen und gerichtsmedizinischen Untersuchungen zum Tode Meinhofs aufzeigte. Er erklärte, die Kommission wolle ausgehend von diesen Informationen in den nächsten Monaten Zeugen und Sachverständige hören und auch die Haftbedingungen untersuchen. Infolge dieser Aufsehen erregenden Pressekonferenz raschelte es noch einmal im Blätterwald: „Warum soll der toten Ulrike Meinhof nicht eine ‚Auferstehung‘ widerfahren, als schlechthin unsterbliches Zeugnis dafür, daß die deutsche Justiz vom Bösen ist?“117 fragte beispielsweise »Die Welt«. Die »Stuttgarter Zeitung« reagierte etwas vorsichtiger und wies darauf hin, dass ein österreichischer Gerichts-
113 Zit. nach: TOLMEIN, Oliver: Vor 30 Jahren besucht Jean-Paul Sartre Andreas Baader in Stammheim. Deutschlandradio.de (04.12.2004). Siehe: http://www.dradio.de/dlr/sendungen/ kalender/324819/ (Stand: 06.11.2011). 114 Zit. nach: o. A.: An der Brüstung. In: Der Spiegel (09.12.1974). 115 Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa: Erklärung der Anwälte. In: Schwarze Hilfe Fulda (Hg.): Der Tod Ulrike Meinhofs. Fulda 1976, S. 59. 116 Vgl. Verschriftlichung einer Tonbandaufnahme der Pressekonferenz vom 26.08.1976 im Steigenberger Hotel Graf Zeppelin in Stuttgart, S. 20-24. In: HIS, RA 02/044,002. 117 o. A.: ‚Aufklärung‘. In: Die Welt (28.08.1976).
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mediziner die bisherigen Obduktionsgutachten infragestellte.118 Im britischen »Observer« kam das Gerücht auf, Meinhof sei in ihrer Zelle vergewaltigt und dann erwürgt worden.119 Daraufhin sah sich die Staatsanwaltschaft in Stuttgart genötigt, entsprechende Details aus ihrem Obduktionsgutachten preiszugeben, die die Fama widerlegen sollen.120 Das IKV nahm zu dem Wirbel in einer Pressemitteilung Stellung: „Die publizistische Vermarktung des politischen Mordes an Ulrike Meinhof als Sexualverbrechen lenkt von der Verantwortung der Bundesrepublik für das Projekt der Vernichtung der Gefangenen aus der RAF […] ab.“121 Im Dezember 1976 tagte die Internationale Untersuchungskommission zur Aufklärung der Todesumstände Ulrike Meinhofs in Brüssel. In einer Pressemitteilung hieß es anschließend: „Nach einem vorläufigen Durchsehen der Dokumente sind alle Mitglieder der Kommission davon überzeugt, daß ihre Arbeit notwendig und wichtig ist. Es ist eine absolut offene Frage, ob Ulrike Meinhof am 9.5.1976 in ihrer Zelle Selbstmord beging.“122 Deshalb kündigte das Gremium an, im Laufe des Jahres 1977 in Paris ein Tribunal abzuhalten, auf dem der Öffentlichkeit sämtliches Material der Kommission vorgelegt würde. Zuvor wolle man sich auf einer weiteren Sitzung im dänischen Århus treffen. Um finanzielle Unterstützung der IUK wurde gebeten. Das Spendenkonto führte Wienke Zitzlaff. Als weitere Mitglieder hatte die Kommission die französische Philosophin Simone de Beauvoir, den französischen Theologen Georges Casalis sowie einige britische, irische und griechische Rechtsanwälte gewonnen. Das letzte deutliche Lebenszeichen gab die IUK im März 1977 von sich, als sie dem IKV eine Anklageschrift gegen die Bundesrepublik Deutschland vorlegte. „Die Anklage lautet: Ulrike Meinhof ist in der Nacht vom 8. auf 9. Mai 1976 im Gefängnis in Stuttgart-Stammheim ermordet worden. Die Mörder haben ihren Selbstmord vorgetäuscht.“123 Das Textwerk fasste die Ergebnisse der IUK zusammen, die später in verkürzter Form in dem Band »Der Tod Ulrike Meinhofs«124 veröffentlicht wurden. Für das IKV hatten 1977 andere Projekte an Priorität gewonnen. Da der Stammheim-Prozess zu Ende ging, bekamen die Angeklagten keine Gelegenheit mehr, sich im Gerichtssaal zu äußern. Also suchten sie nach alternativen Wegen, „um mehr ‚Gegenöffentlichkeit‘ zu erreichen.“125 Die Idee bestand darin, einen Sammelband zu erstellen, der alle bisherigen Texte der RAF enthalten sollte. Über Kontakte nach Schweden konnte sichergestellt werden, dass der Band im Cavefors Verlag unter dem Tarnnamen »Kärlek med förhinder« (Liebe mit Hindernissen) erscheinen würde. Zunächst hatte man noch in der Kanzlei Croissant in Stuttgart an dem Pro118 Vgl. o. A.: Kommission will Tod Ulrike Meinhofs klären. In: Stuttgarter Zeitung (28.08.1976). 119 Vgl. o. A.: 7 Punkte zur angeblichen Vergewaltigung der Meinhof. In: Die Welt am Sonntag (22.08.1976). 120 Vgl. STUBERGER, Ulf G.: Gutachter beweisen Ulrike Meinhofs Selbstmord. In: Frankfurter Rundschau (20.08. 1976). 121 Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa: Pressemitteilung vom 23.08.1976. In: HIS, Ordner: Knast 1974-1977. 122 Internationale Untersuchungskommission zur Aufklärung der Todesumstände Ulrike Meinhofs: Pressemitteilung vom 19.12.1976. In: HIS, Ordner: Knast 1974-1977. 123 Anklageschrift des IKV im Falle Meinhof vom 19.03.1977, S. 1. Die komplette Anklageschrift umfasst 135 Seiten und befindet sich in: HIS, RA 02/055,007. 124 Internationale Untersuchungskommission zur Aufklärung der Todesumstände Ulrike Meinhofs (Hg.): Der Tod Ulrike Meinhofs. Bericht der Internationalen Untersuchungskommission. Tübingen 1979. 125 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 96.
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jekt gearbeitet, wo seit Jahren alle Informationen und Nachrichten der inhaftierten RAF-Mitglieder zusammenliefen. Weil die Kanzlei im Sommer 1977 nach den Strafanzeigen gegen die Rechtsanwälte Arndt Müller und Armin Newerla jedoch endgültig arbeitsunfähig war, wurde das Projekt gewissermaßen ausgelagert. Peter O. Chotjewitz erinnert sich, in die Arbeiten eingebunden gewesen zu sein: „Ich traf mich mit Christoph Wackernagel, um das Material durchzugehen. Es gibt ein Foto von uns an meinem Schreibtisch. Tagsüber sortierten wir Texte, abends gingen wir ins Kirmeszelt im Nachbardorf, wo sich bald herumsprach, mein Freund sei ein Terrorist.“126 Im Sommer 1977 begleitete das IKV den neuerlichen Hungerstreik der RAFGefangenen noch einmal mit zahlreichen Pressekonferenzen und Veranstaltungen im Ausland. Christian Sigrist erinnert sich, dass er damals einen Vortrag im großen Pariser Versammlungshaus „Mutualité“ hielt, bei dem auch der italienische Literaturnobelpreisträger Dario Fo zu Gast war.127 Im selben Zeitraum steuerte die Herstellung und Verbreitung von Broschüren, „für die die Gefangenen nach bewährtem Muster das Material lieferten“128, auf ihren quantitativen Höhepunkt zu. Eigentlich sah es so aus, als habe das Komitee seine volle Leistungsfähigkeit entfaltet. Doch stattdessen mehrten sich die internen Meinungsverschiedenheiten, besonders zwischen Klaus Croissant und Kurt Groenewold. Spätestens seit Croissant im Januar 1976 die Öffentlichkeitsarbeit für die Gefangenen in seiner Kanzlei konzentriert hatte, war es zwischen beiden zu einem Bruch gekommen. Groenewold verstand nicht, warum Croissant „RAF-Unterstützer in seinem Büro geduldet habe“. Diese hätten ihn immer mehr in Bedrängnis gebracht, seine berufliche Existenz gefährdet. „Klaus war kein Täter. Er war Opfer“129, betont Groenewold rückblickend. Wenige Wochen nachdem sich Klaus Croissant, aus Angst vor seiner Festnahme, nach Paris abgesetzt hatte, musste das Komitee sein eigenes Ende verkünden. In einer Pressemitteilung vom 30. August hieß es, die Bundesanwaltschaft habe Armin Newerla, „einen der wenigen Verteidiger, die versuchen, das Leben der Gefangenen zu schützen“ zum wiederholten Male festgenommen. Zugleich sei der ermittelnde Bundesanwalt Joachim Lampe mit drei bewaffneten Beamten in die Büroräume der Stuttgarter Kanzlei eingedrungen, „um die gesamte Adressenkartei zu beschlagnahmen, da in seinen Augen die Adressenkartei ein Beweismittel für die Unterstützung einer kriminellen Vereinigung ist.“130 Newerla und Arndt kamen bald wieder auf freien Fuß. Klaus Croissant nützte die Flucht nach Paris nichts. Im November 1977 lieferte ihn die französische Justiz an die Bundesrepublik aus, wo er 1978 zu einer Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren verurteilt wurde. Nach der Todesnacht in Stammheim veranlassten Newerla und Arndt die IUK zu einer letzten Erklärung, in der die Einsetzung einer internationalen Kommission zur Untersuchung der Todesfälle gefordert wurde. Sie fand 35 Mitunterzeichner, darunter der spätere Grünen-Politiker Arnold von Bosse.131 Die Forderung blieb freilich „unerfüllt, obgleich es Äußerungen von Persönlichkeiten des In- und Auslandes gab, in denen offen oder versteckt behauptet wurde, Baader, Ensslin und 126 CHOTJEWITZ, Peter Otto: Mein Freund Klaus, S. 352. 127 Christian Sigrist am 13.08.2008 (m). 128 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 100. 129 CHOTJEWITZ, Peter Otto: Mein Freund Klaus, S. 310. 130 Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa: Pressemitteilung vom 30.08.1977. In: Info - Hamburger Undogmatischer Gruppen (Nr. 18, Dezember 1977). 131 Vgl. Erklärung der Rechtsanwälte in Hamburg vom 04.11.1977. In: HIS, RA 01/014,005.
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Raspe seien auf Veranlassung deutscher Behörden ermordet wurden“132, weiß Kriminaloberkommissar Alfred Klaus zu berichten. Das Projekt »Texte : der RAF«133 fand im Dezember 1977 seinen Abschluss. Alle Exemplare, die in die Bundesrepublik gelangten, ließ das Oberlandesgericht Stuttgart einziehen. Armin Newerla und Arndt Müller wurden am 31. Januar 1980 für schuldig befunden, eine terroristische Vereinigung unterstützt und für sie geworben zu haben.134 Sie erhielten Freiheitsstrafen von drei bis vier Jahren.
3. G EFANGENENINITIATIVEN NACH DEM D EUTSCHEN H ERBST 3.1 Vorbemerkungen Nach 1977 gingen die Aktivitäten von Rechtsanwälten zu Gunsten von Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen deutlich zurück. Zwar fanden RAF-Mitglieder weiterhin Verteidiger, die sich energisch für ihre Belange einsetzten. Der Typus des sich selbst aufopfernden, quasi mitkämpfenden Rechtsanwalts, wie ihn ganz speziell Klaus Croissant verkörpert hatte, gehörte jedoch zunehmend der Vergangenheit an – nicht ohne gewisse Spuren zu hinterlassen: Stammheim blieb unter linken Anwälten als Chiffre für viele schlechte Erfahrungen während der Siebziger Jahre in Erinnerung.135 Im Dezember 1978 unterzeichneten 34 Rechtsanwälte und Hochschullehrer einen Aufruf zur Gründung einer neuen bundesweiten Vereinigung, die „die Beistandsfunktion des Rechtsanwalts für den Bürger gegen staatlichen und wirtschaftlichen Machtanspruch“ behaupten sollte. Man beklagte, dass der Strafverteidigung in der Bundesrepublik zunehmend Fesseln angelegt würden. „Angstfreie Verteidigung, vor allem in politischen Verfahren, ist seltener geworden. Rechtsanwälte, die sich unerschrocken für ihre Mandanten einsetzen, sind in Gefahr, Ehrengerichts- oder Strafverfahren ausgesetzt zu werden. Es zeigen sich Tendenzen, die Anwaltschaft beamtenähnlich an den Staat zu binden.“136 Der Rechtsanwalt Hellmut Brunn erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass sich „Fälle von Repressionsmaßnahmen von Staatsseite […] Mitte der 70er Jahre massiv gehäuft“ hatten: „[…] sei es Verweigerung der Zulassung zum 1. Staatsexamen, dann zum Referendariat, dann zum 2. Staatsexamen, schließlich zur Anwaltschaft […]; Durchsuchungen von Kanzleien, Telefonüberwachung, Ausbildungsverbote, Anlegen von Sonderakten, Verschlußakten, Berufsverbote, Inhaftierungen und Strafverfahren etwa gegen einen Dortmunder Anwalt wegen Falschaussage, weil er als Zeuge erklärt hatte, eine Äußerung seines Mandanten in einer Pro137 zeßpause nicht gehört zu haben.“
Aus diesen Entwicklungen zogen 118 Rechtsanwälte Anfang 1979 den Schluss, eine neue Vereinigung zur Verteidigung der Freien Advokatur zu gründen, den
132 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 100. 133 Siehe Fn. 70: Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa (Hg.): Texte : der RAF. 134 Vgl. KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 105. 135 BRUNN, Hellmut/KIRN, Thomas: Rechtsanwälte – Linksanwälte. Frankfurt a. M. 2004, S. 337. 136 Ebd., S. 338. 137 Ebd., S. 347.
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„Republikanischen Anwaltsverein“.138 In seinem Vorstand saßen mit Kurt Groenewold und Otto Schily zwei ehemalige Anwälte von RAF-Mitgliedern sowie Klaus Eschen, einer der Mitbegründer des Sozialistischen Anwaltskollektivs. Dieses löste sich Ende Juli 1979 auf, weil seine Mitglieder individuelle Laufbahnen einschlugen:139 Eschen übernahm in den Achtziger Jahren notarielle Tätigkeiten und wurde 1992 Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin. Hans-Christian Ströbele mitbegründete die Alternative Liste in Westberlin und zog 1985 für die Grünen in den Bundestag ein. Horst Mahler hatte sich von der RAF distanziert und arbeitete einige Jahre nach seiner Freilassung wieder als Anwalt. Später trat er der NPD bei. Das Ausscheiden der Rechtsanwälte aus dem Unterstützerkreis für Gefangene aus der RAF und anderen Gruppierungen wirft Fragen auf: Wer übernahm die organisatorische Führung der Initiativen? Und wie wirkte sich dies auf die Zielsetzungen der verbliebenen Aktivisten aus? Als Ansätze für eine Untersuchung bieten sich im Zeitraum 1978/79 lediglich zwei kleinere Protestereignisse an: Zum einen die Besetzung des Büros der Deutschen Presse Agentur (dpa) in Frankfurt a. M. am 6. November 1978. Zum anderen die Besetzung der Zentrale des Belgischen Roten Kreuzes in Brüssel am 6. Juni 1979. Während die friedliche Aktion in Brüssel auf Angehörige der Gefangenen aus der RAF und anderen Gruppierungen zurückging, löste der Vorfall im dpa-Büro einen größeren Polizeieinsatz aus – neben Personen aus dem engeren Umfeld der RAF ging den Beamten auch ein RAF-Mitglied ins Netz. Ob Zusammenhänge zwischen den Protestaktionen bestanden und vor welchem Hintergrund sie initiiert wurden, soll im Folgenden geklärt werden. 3.2 Die Besetzung des Büros der Deutschen Presse Agentur in Frankfurt a. M. 3.2.1 Kontext und Ablauf Als am 7. November 1978 die Hauptausgabe der »Tagesschau« auf den Bildschirmen strahlte, erreichten die Besetzer des dpa-Büros in Frankfurt a. M. einen beachtlichen Erfolg: Zwar wurde ihre Botschaft von den Gefangenen aus der RAF nicht wortwörtlich verlesen, immerhin erfuhren aber mehr als sechs Millionen bundesdeutsche Fernsehzuschauer, welches Anliegen sie mit ihrer Aktion verfolgt hatten.140 Im Filmbericht zu ihrem „Überfall“ wurde erwähnt, dass sie die dpa dazu zwingen wollten, eine „zwei Seiten lange Erklärung über den Gesundheitszustand der inhaftierten Terroristen Karl-Heinz Dellwo und Werner Hoppe abzusetzen“141. Damit war der elfköpfigen Gruppe eine der meist beachteten Protestaktionen aller Gefangeneninitiativen gelungen. Besetzungen öffentlicher Einrichtungen hatten sich seit geraumer Zeit zu einem probaten Mittel von Gefangeneninitiativen entwickelt, um öffentlich Aufmerksamkeit zu erregen. Bereits im Oktober 1974 waren Susanne Albrecht, Karl-Heinz Dellwo, Knut Detlef Folkerts, Christian Klar, Adelheid Schulz, Willy-Peter Stoll, Lutz 138 Ebd., S. 355. 139 ESCHEN, Klaus: Das sozialistische Anwaltskollektiv, S. 971. 140 Die Reichweite der »Tagesschau« lag Mitte der Siebziger Jahre knapp unter 30 Prozent bei einer Gesamtzahl von etwa 19,2 Millionen Fernsehgeräten in bundesdeutschen Haushalten. Vgl. o. A.: Galoppierende Schwindsucht 7. In: Der Spiegel (23.06.1975); REICHARDT, Sven: Große und Sozialliberale Koalition. In: ROTH, Roland/RUCHT, Dieter (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945: Ein Handbuch. Frankfurt a. M. 2008, S. 71-92, hier: S. 77. 141 Tagesschau (Hauptausgabe vom 07.11.1978, ARD).
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Taufer und Stefan Wisniewski in das Hamburger Büro von Amnesty International (AI) gestürmt, um zu erreichen, „daß die internationale Gefangenenhilfsorganisation in einer Erklärung die Abschaffung der ‚Sonderbehandlung und Vernichtungshaft von politischen Gefangenen‘ in der Bundesrepublik fordere.“142 Die Aktion ging auf das Konto des Hamburger „Anti-Folter-Komitees“. Nach einem Tag rief AI die Polizei und es kam zu Festnahmen.143 1977 besetzten andere Aktivistengruppen drei Kirchen: am 17. April zuerst die Altstädter Nicolaikirche in Bielefeld, zugleich die Peterskirche in der Frankfurter Innenstadt, eine Woche später die Emmauskirche am Lausitzer Platz in Berlin-Kreuzberg. In allen drei Fällen ging es den Besetzern darum, ihre „Solidarität mit den hungernden politischen Gefangenen“144 zu erklären. Anlass bot der mittlerweile vierte Hungerstreik der RAF.145 Während es über die acht Jugendlichen in der Bielefelder Nicolaikirche und ihren „inszenierten Hungerstreik“146 wenig zu berichten gab, war die Kirchenbesetzung in Frankfurt a. M. allen größeren Tageszeitungen einen Artikel wert. Da das RAF-Attentat auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback erst wenige Tage zurück lag, stießen Personen, die sich scheinbar freimütig zur „Politik“ der bewaffneten Gruppierung bekannten, auf reges Medieninteresse. Die »Frankfurter Allgemeine« nannte sie „jugendliche Terroristen-Anhänger“147. Für »Die Zeit« handelte es sich schlicht um „linke Gruppen“148. Die Besetzer selbst bezeichneten sich als „Initiativgruppe zur Verteidigung der politischen Gefangenen“149. Nach dem sonntäglichen Gottesdienst in der Peterskirche hatten sich die etwa sechzig jungen Leute nicht dazu bewegen lassen, das Kirchengebäude zu verlassen. „Stattdessen entrollten sie Spruchbänder auf denen beispielsweise zu lesen war: „Solidarität mit den hungernden politischen Gefangenen.“ Sie verteilten Flugblätter und verlasen Texte: „Die speziellen Haftbedingungen würden langfristig zum Tode der Gefangenen führen‘; die ‚Isolation‘ müsse abgeschafft werden, und die Regierung solle die ‚Morde an Holger Meins, Ulrike Meinhof und Siegfried Hausner aufklären‘.“ Erst wenn diese Bedingungen erfüllt seien, könne die Peterskirche wieder freigegeben werden. „Und so richteten sie sich mit Schlafsäcken im Gotteshaus an der Bleichstraße häuslich ein.“150
142 WUNSCHIK, Tobias: Baader-Meinhofs Kinder, S. 202; vgl. dazu auch: KLAUS, Alfred/ DROSTE, Gabriele: Sie nannten mich Familienbulle. Meine Jahre als Sonderermittler gegen die RAF. Hamburg 2008, S. 205. 143 Vgl. DELLWO, Karl-Heinz: Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel. Hamburg 2007, S. 105. 144 o. A.: Besetzte Kirche. Protestaktionen linker Gruppen für die Stammheimer Häftlinge. In: Die Zeit (22.04.1977). 145 Er dauerte vom 29. März 1977 bis zum 30. April 1977. 146 o. A.: Größere Messe. In: Der Spiegel (02.05.1977). Zur Bielefelder Kirchenbesetzung, vgl. auch: BENAD, Matthias/SCHMUHL, Hans-Walter (Hg.): Aufbruch in die Moderne. Der evangelische Kirchenkreis Bielefeld von 1817 bis 2006. Bielefeld 2006, S. 143f. 147 ODIN, Karl-Alfred: Der Ruf nach dem Schlagstock im Gotteshaus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (20.04.1977). 148 o. A.: Besetzte Kirche. 149 Vgl. o. A.: Pfarrer Ensslin spricht von Geisterprozeß. Initiativgruppe verteidigt Inhaftierte der ‚RAF‘. In: Frankfurter Rundschau (22.04.1977). 150 o. A.: Besetzte Kirche.
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Innerhalb von vier Tagen erhöhte sich die Zahl der Besetzer auf etwa einhundert.151 Der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) der Universität Frankfurt verbreitete ein Flugblatt, auf dem er Partei für sie ergriff. Dabei achteten die Herausgeber darauf, zwischen Solidarität mit der RAF und aktiver Unterstützung ihres bewaffneten Kampfes klar zu unterscheiden: „Bei einem Protest gegen Haftbedingungen und Umstände, unter denen Prozesse wie der in Stammheim oder Köln stattfinden, geht es keineswegs darum, ob man mit der Theorie und Praxis der RAF übereinstimmt oder nicht.“ Stattdessen sei „der Versuch der Regierung und der Massenmedien, ein Eintreten für Rechte der Gefangenen mit einer bedingungslosen Unterstützung ihrer politischen Arbeit“ gleichzusetzen, eine „bewusste Irreführung der Öffentlichkeit.“152 Rückendeckung erhielten die Besetzer auch vom Frankfurter Pfarrer Martin Jürges, der auf der abschließenden Pressekonferenz am 20. April erklärte, dass er sich zwar von den Thesen der RAF distanziere, „gleichzeitig aber […] Angst habe, dass der Staat auf dem Wege zu einem Polizei- und Unrechtsstaat sei, wenn im Zuge der Verteidigung dieses Staates weiterhin mit Mitteln gearbeitet würde, die unrechtmäßig seien.“ Helmut Ensslin knüpfte in seiner Rede daran an, bediente sich eines eindeutigen Zitats des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi: „Um einen Staat kennenzulernen, muß man seine Gefängnisse aufsuchen.“ Ensslins Stellungnahme deckte sich weitgehend mit einer Presseerklärung von „Professoren, Filmemachern, Schauspielern und anderen Personen“, die die „unmenschliche[n], destruktive[n] Haftmethoden und Prozesse“153 in der Bundesrepublik verurteilten. Obwohl die Aktivisten am Ende selbst erklärten, dass „mit dem Mittel der Kirchenbesetzung […] kein weiteres öffentliches Interesse für die Haftbedingungen politischer Gefangener in der Bundesrepublik zu erreichen“154 sei und auch die Bielefelder Jugendlichen mit ihrem Hungerstreik auf keine (christliche) Gegenliebe gestoßen waren, fand sich in Berlin eine Gruppe von Gleichgesinnten, die am 24. April mit der Besetzung der Emmauskirche an die Protestaktionen anknüpfte. Wie »Die Welt« am folgenden Tag berichtete, hätten die bis zu sechzig Besetzer erklärt, „den Hungerstreik der in Haft befindlichen Baader-Meinhof-Häftlinge zu unterstützen.“155 Der Gemeindekirchenrat setzte sich umgehend mit rechtlichen Schritten gegen die Inbeschlagnahme seines Gotteshauses zur Wehr, drohte mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Die „Schüler und Studenten, ‚Spontis‘ und Sektierer linker Gruppierungen von KBW bis ‚Rote Zelle‘“156 seien in den folgenden Tagen weitgehend unter sich geblieben, berichtete »Der Spiegel«. Von ihren Diskussionen über die Hintergründe der Hungerstreiks und das Verhalten der Medien sei wenig nach außen gedrungen. Am Ende hätten sie die Kirche „besenrein“ an die Gemeinde zurück übergeben. Pfarrer Gert Wettig habe mit seinem Aufruf zur Gewaltfreiheit eine Eskalation auf beiden Seiten verhindert.157
151 Vgl. o. A.: Besetzer räumen die Peterskirche. In: Frankfurter Rundschau (21.04.1977). 152 Isolationshaft ist Mord. Flugblatt der politischen Gefangenen im Hungerstreik. Herausgegeben vom AStA Frankfurt, April 1977. In: HIS, Ordner: Haftbedingungen allgemein (nach Kontaktsperre) 1975-1979. 153 o. A.: Pfarrer Ensslin spricht von Geisterprozeß. 154 o. A.: Besetzer räumen die Peterskirche. 155 o. A.: Wieder Kirchenbesetzung. In: Die Welt (25.04.1977). 156 o. A.: Größere Messe. 157 Vgl. ebd.
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Auf den ersten Blick fanden die Kirchenbesetzungen mit der Protestaktion im dpa-Büro am 6. November 1978 eine Art Fortsetzung. Folgt man der These des Historikers Tobias Wunschik, dann hat sich das Umfeld der bewaffneten Gruppierungen nach dem Deutschen Herbst jedoch deutlich verändert. Zwar sei „immer noch Zustimmung für das Vorgehen der RAF signalisiert“ worden, doch „alles in allem machte sich Verunsicherung breit“. Die Initiativen hätten begonnen, „stark zu erodieren.“158 Zwei Aspekte der dpa-Besetzung scheinen Wunschik Recht zu geben: Zum einen gingen ihr im Zeitraum 1977/78 keine ähnlichen Protestaktionen voraus.159 Die Aktivitäten der Gefangeneninitiativen ließen mutmaßlich nach. Zum anderen unterschied sich die dpa-Aktion in ihrem Charakter wesentlich von den Kirchenbesetzungen. Hatte es sich bei ihnen um regelrechte Kundgebungen gehandelt, auf denen die Aktivisten versuchten, die eigenen Positionen öffentlich zu vertreten und im Kontakt mit Schaulustigen und Vertretern von kirchlichen oder staatlichen Institutionen zu vermitteln, wurde die Besetzung des dpa-Büros von Anfang an als „Überfall“ wahrgenommen. Die »Bild«-Zeitung titelte sogar: „Terror! Elf Maskierte überfielen dpa-Büro.“160 Wenn Wunschik von Verunsicherung spricht, dann spiegelt sich diese tatsächlich im Vorgehen der Aktivisten wider: So wagte sich die elfköpfige Gruppe nur im Schutz der Dunkelheit und bewaffnet mit „gelben Holzkeulen sowie zwei Tränengasbomben“161 zum dpa-Büro. Nachdem sie um 20.38 Uhr über einen Nebeneingang in den Gebäudekomplex der Baseler Straße 33-37 eingedrungen waren, stürzten sich die Maskierten zuerst auf die Telefonistin, damit diese keinen Alarm auslösen konnte, und fesselten anschließend auch den Dienst habenden Redakteur, einen Expedienten sowie zwei Sekretärinnen.162 Damit war ihnen die komplette Nachtbesatzung des dpa-Büros hilflos ausgeliefert. Nachdem sie Situation unter Kontrolle glaubten, teilten die Besetzer den Gefesselten mit knappen Worten ihr Protestanliegen mit: „Es passiert Ihnen nichts, wir wollen nur über Ihren Dienst eine Meldung absetzen.“163 Es handelte sich um die zweiseitige Erklärung zum Gesundheitszustand der RAF-Mitglieder Karl-Heinz Dellwo und Werner Hoppe, von der später auch in der »Tagesschau« die Rede war. Konkret forderten die Besetzer, den in der JVA Köln-Ossendorf „isolierten“ Dellwo in den Normalvollzug zu integrieren und den „totkranken“ Hoppe umgehend freizulassen. Außerdem verlangten sie die Freilassung des „haftunfähigen“ Günter Sonnenberg.164 Letzterer war im Mai 1977 bei seiner Festnahme am Kopf verletzt worden. Die Polizei vermutete hinterher, dass sich einer der Besetzer den „Umgang mit den brandneuen technischen Geräten im dpa-Büro zutraute“165. Dem widersprach 158 WUNSCHIK, Tobias: Baader-Meinhofs Kinder, S. 379f. 159 Wenn man einmal von der Besetzung des Büros von Amnesty International in Amsterdam am 9. Oktober 1978 durch die niederländische Rood Verzetsfront (zu Deutsch: Rote Widerstandsfront) absieht. 160 o. A.: Terror! Elf Maskierte überfielen dpa-Büro. In: Bild (08.11.1978). 161 NEANDER, Joachim: Unter den dpa-Bürobesetzern fand die Polizei viele ‚alte Bekannte‘. In: Die Welt (08.11.1978). 162 Vgl. ebd.; HOFFMANN, Alexander: Beunruhigend bei allem Dilettantismus. In: Süddeutsche Zeitung (07.11.1978). 163 Zit. nach: Ebd. 164 Vgl. Erklärung der Gefangenen aus den Kommandos Willy Peter Stoll und Michael Knoll. November 1978. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019781107. 165 HOFFMANN, Alexander: Beunruhigend bei allem Dilettantismus.
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allerdings der Chef des dpa-Büros, Klaus Bosse, gegenüber der Presse. Unbefugte könnten die Apparate der Agentur „nicht mehr bedienen, ohne bestimmte Codes zu kennen.“ So oder so hatte sich schon wenige Minuten nach der Besetzung herausgestellt, dass die Aktion schlecht vorbereitet und nicht bis ins Detail durchdacht war. Der dpa-Redakteur hatte beim Hereinstürmen der Gruppe nämlich einen Notknopf gedrückt, von dem die Besetzer nichts ahnten. Unmittelbar war im Frankfurter Polizeipräsidium Alarm ausgelöst worden. Dies führte dazu, dass die Einsatzkräfte schon anrückten, noch bevor die Besetzer dazu kamen, ihre Erklärung über den Nachrichtenticker zu verbreiten. Abbildung 4: Der Gebäudekomplex Baseler Straße 33-37 im Sommer 2010
Quelle: Privatarchiv Gunnar Erdmann
Als sie die Polizeisirenen hörten, gerieten die sieben Männer und vier Frauen in Panik. Ohne genauere Ortskenntnisse, versuchten sie „zu flüchten, verirrte[n] sich dabei aber indem ansonsten leeren Bürohaus. Ein paar Glastüren gingen zu Bruch.“166 Die Besetzer konnten schließlich zum Teil im dpa-Büro selbst, zum Teil im Keller des Gebäudes gestellt und festgenommen werden.167 Wie die »Frankfurter Rundschau« schrieb, seien zwei oder drei Männer entkommen.168 Diese Angabe wurde aber in keinem weiteren Bericht bestätigt. Unmittelbar nach der Festnahme begannen im Frankfurter Polizeipräsidium die Vernehmungen. Dabei zeigte sich, dass einer der Besetzer als RAF-Mitglied bekannt war: Wolfgang Beer. Er hatte bereits eine Haftstrafe wegen eines Sprengstoffvergehens und der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung abgesessen. Außerdem stellte sich heraus, dass zwei Besetzerinnen unlängst ins Visier des Verfassungsschutzes geraten waren: Rosemarie Prieß und Simone Borgstede.169 Bei
166 NEANDER, Joachim: Unter den dpa-Bürobesetzern fand die Polizei viele ‚alte Bekannte‘. 167 Vgl. o. A.: Elf Ermittlungsverfahren nach Überfall auf Frankfurter dpa-Büro. In: Der Tagesspiegel (10.11.1978). 168 DILLMANN, Claudia: 11 Maskierte von Polizei überrascht. In: Frankfurter Rundschau (09.11. 1978). 169 Vgl. o. A.: Eigene Schlosser. In: Der Spiegel (22.01.1979).
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beiden handelte es sich, ebenso wie bei den acht übrigen Beteiligten, um RAFSympathisanten aus so genannten „Antifa“-Gruppen in Hamburg, Frankfurt und Berlin.170 Eben jener Antifa in Berlin gehörte damals auch Peter Alexa an. 2007 bekannte er sich im Weblog »Spreeblick« noch einmal öffentlich zu seiner Tatbeteiligung und gab darüber hinaus zu, bis Anfang der Achtziger Jahre „jede bewaffnete Aktion […] glühend verteidigt zu haben“. Die „Landshut“-Entführung betrachtete er rückblickend als „traurigen Höhepunkt“. Seinerzeit habe er jedoch selbst dafür eine Rechtfertigung gefunden, und zwar „mit dem Argument, dass die Passagiere als Bürger eines imperialistischen Staates auch Verantwortung tragen, für das, was in den Ländern der 3. Welt an Ausbeutung und Unterdrückung läuft.“ Als Hauptmotive für seine Entscheidung, sich für die RAF zu engagieren, benannte Alexa die NSVergangenheit der Bundesrepublik und den kritiklose Unterstützung der Vereinigten Staaten „durch die BRD im Vietnamkrieg“. Vor diesem Hintergrund hielt er „die Anschläge der RAF auf die Headquarter der USA in Frankfurt und Heidelberg“ noch immer für „mehr als nur gerechtfertigt“171 – wenngleich er eingesehen habe, dass in und um die Gruppierung der Fehler gemacht worden sei, Menschen ebenso als Objekte zu betrachten, sie ebenso zu verdinglichen, wie es nach eigenem Empfinden in den Herrschaftsapparaten der Fall war, die man am liebsten abschaffen wollte. Das Zusammenwirken von RAF-Mitgliedern und RAF-Unterstützern bei der Besetzung des dpa-Büros belegt Wunschiks These, dass es im Umfeld der RAF nach 1977 zu Veränderungen gekommen war. Offenbar versuchte die RAF mit Hilfe von nachrangigen Gefolgsleuten wie Beer, ihre selbst gewählte Isolation gegenüber dem solidarischen Umfeld aufzuweichen. Hatte sich der harte Kern der bewaffneten Gruppierung nach dem Deutschen Herbst zunächst ins Ausland zurückgezogen, mussten nun Kompromisse eingegangen werden, um die Aktivitäten des RAF-Umfelds zu beleben. Während dieses bei den Kirchenbesetzungen im Frühjahr 1977 noch Beistand von Aktivisten aus anderen legalen Gruppierungen des linken Spektrums erfahren hatte, war es nun darauf angewiesen, dass ihm die RAF direkt unter die Arme griff. Ein deutliches Signal für die „Autorisierung“ der dpa-Besetzung durch den Kern der RAF setzte die Verwendung von Kommandonamen. War es bis dahin üblich gewesen, dass sich die Beteiligten an gewaltsamen Anschlägen in ihren Bekennerschreiben als ein „Kommando aus der RAF“ bezeichneten, galt für die Besetzer des dpa-Büros eine Ausnahme: Obwohl es sich bei ihrer Aktion nur um eine Solidaritätsbekundung für die Gefangenen aus der RAF handelte, durften sie als „Kommando Willy Peter Stoll“ und „Kommando Michael Knoll“ auftreten. Entweder wollte sich die RAF auf diese Weise gegenüber den „Antifas“ erkenntlich zeigen und ihnen das Gefühl geben, für engagierte Unterstützer Aufstiegschancen in den harten Kern der Gruppierung zu bieten. Oder die RAF wollte vor aller
170 Mit vollem Namen genannt wurden diese Personen in einem Artikel des »Tagesspiegels«: Peter A., Mathias B., Bernhard L., Eckhard M., Helga R., Hans Christian W., Olaf W. Vgl. o. A.: Elf Haftbefehle gegen die Besetzer des dpa-Büros in Frankfurt. In: Der Tagesspiegel (09. 11.1978). 171 WELDING, Malte: Peter Alexa – ein ehemaliger Unterstützer der RAF. Spreeblick.com (16. 03.2007). Siehe: http://www.spreeblick.com/2007/03/16/peter-alexa-ein-ehemaliger-unterstut zer-der-raf (Stand: 06.11.2011).
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Öffentlichkeit beweisen, dass sie noch existierte und weiterhin ein handlungsfähiges Umfeld besaß. Nicht umsonst verwiesen die beiden Kommandonamen auf die jüngsten Rückschläge der RAF: Am 6. September 1978 war das RAF-Mitglied Willy-Peter Stoll in einem Düsseldorfer Restaurant von Polizisten erschossen worden, als er im Augenblick der Festnahme versuchte, seine Waffe zu ziehen. Am 24. September war es zu einer weiteren Konfrontation zwischen der RAF und der Polizei gekommen, als Angelika Speitel, Werner Lotze und Michael Knoll in einem Waldstück bei Dortmund während ihrer heimlichen Schießübungen überrascht wurden.172 Bei dem Schusswechsel zwischen ihnen und zwei Polizisten erlitt ein Beamter tödliche Verletzungen. Michael Knoll, eher „Randfigur der terroristischen Szene“173, zog sich so schwere Verletzungen zu, dass er zwei Wochen später verstarb. Seine Mitstreiterin Angelika Speitel konnte verhaftet werden. Werner Lotze gelang die Flucht. Die Vorfälle in Düsseldorf und Dortmund verdichteten zwei wesentliche Erfahrungen der RAF nach dem Deutschen Herbst: Auf der einen Seite zeichnete sich ab, dass die Wachsamkeit einzelner Bürger vermehrt zu Festnahmen ihrer Mitglieder führte – von Sympathie und Rückhalt in der Bevölkerung also keine Spur. Auf der anderen Seite musste sie erkennen, dass die Härte des polizeilichen Vorgehens zunahm. Beides verstärkte die Verunsicherung innerhalb der Gruppierung.174 In der Folge nutzte sie die unmittelbaren deutschen Nachbarländer nicht nur als Rückzugsraum, sondern verlagerte auch ihre Kampfaktivitäten dahin: Der Anschlag auf den NATO-General Alexander Haig in Belgien am 25. Juni 1979 und der Bankraub in Zürich am 19. November 1979 sind klare Belege für die räumliche Umorientierung.175 172 Zum Fall Stoll, vgl. PFLIEGER, Klaus: Die Rote Armee Fraktion – RAF. 14.5.1970 bis 20.4.1998. Baden-Baden 2004, S. 113. Zum Vorfall in Dortmund bezog Werner Lotze jüngst in einer TV-Dokumentation Stellung. Vgl. Die Witwe und der Mörder. Die vergessenen Opfer der RAF. R: KLÜNDER, Irene (Bundesrepublik Deutschland, 2011). 173 o. A.: Etwas läuft. In: Der Spiegel (10.09.1979). 174 Gerade „Verhaftungen aus ihrer Mitte heraus“, wie sie sich im Falle von Stefan Wisniewski am 1. Mai 1978 in Paris oder im Falle von Brigitte Mohnhaupt, Peter-Jürgen Boock, Rolf Clemens Wagner und Sieglinde Hofmann im Mai 1978 in Jugoslawien ereigneten, hätten laut Wunschik „Verunsicherung, ja Panik“ ausgelöst. Siehe: WUNSCHIK, Tobias: Baader-Meinhofs Kinder, S. 429. Hinzu kam, dass bei Festnahmen auch Hinweise auf die Adressen von Unterstützern sichergestellt wurden. Vgl. dazu: o. A.: Willi Peter Stolls ergiebiges Notizbuch. In: Süddeutsche Zeitung (18. 11.1978). 175 Haig war seinerzeit der Oberkommandierende der NATO in Westeuropa. Die RAF wollte einen Mordanschlag auf ihn verüben und bereitete sich darauf unter anderem in Südjemen vor. Von der Idee bis zur Umsetzung verging über ein Jahr. Dem entsprechend lange hielten sich RAF-Mitglieder in Belgien auf, wo Haig lebte und stationiert war. Der Anschlag scheiterte aus technischen Gründen, wenngleich Haigs Begleiter dabei verletzt wurden. Um weitere Aktionen finanzieren zu können, überfielen RAF-Mitglieder fünf Monate später eine Schweizer Großbank. Dem Überfall in Zürich waren umfangreiche Ausspähmanöver vorausgegangen. Als Aufenthaltsort diente eine konspirative Wohnung in Fribourg. Trotz sorgfältiger Vorbereitungen endete der Überfall für die RAF in einem Fiasko: Ein Mitglied wurde auf der Flucht gefasst, ein Großteil der Beute ging verloren. Zudem erlitt eine unbeteiligte Passantin bei einem Schusswechsel zwischen den Tätern und der Polizei tödliche Verletzungen. Eine weitere Unbeteiligte wurde bewusst angeschossen, als die Täter ihr Auto entwendeten. Nach dem Banküberfall zogen sich viele RAF-Mitglieder nach Paris zurück. Vgl. PFLIEGER, Klaus: Die Rote Armee Fraktion – RAF, S. 118-122.
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Hintergrund: Die „Antifas“ Doch zurück zu den Gefangeneninitiativen: Unter welchen Bedingungen konnten sie ihr Engagement 1978/79 fortführen? Wie lässt sich ihr Verhältnis gegen über dem Staat charakterisieren? Und wo verlief die Grenze zwischen der Solidarität mit den Gefangenen und der aktiven Unterstützung für die RAF? Ein wichtiges Stichwort wurde bereits genannt: „Antifa“. Mit der Absicht, propagandistische Arbeit für die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen zu leisten, suchten Mitglieder der Komitees gegen Isolationshaft im Laufe des Jahres 1976 nach einem neuen organisatorischen Umfeld. Sie schlossen sich zu regionalen Kleinstgruppen zusammen, die sich „Antifaschistische Arbeitsgruppen“ oder kurz: „Antifas“ nannten. Der Gedanke liegt nahe, hierin eine Art Konkursmasse der Komitees zu sehen. Über das Ausmaß personeller Kontinuitäten ist allerdings zu wenig bekannt, um dies als Tatsache zu postulieren. Sicher ist, dass die RAF von der Entstehung dieser Gruppen wusste und dass Anwälte wie Klaus Croissant Einfluss auf ihre Arbeitsweise nahmen. So soll das erste gemeinsame Treffen der Antifas Ende 1976 auf Initiative von ihm und seinen Kanzleimitarbeitern zu Stande gekommen sein.176 Auch ihre zeitweilige Bereitschaft, sich an der Vorbereitung des 3. Internationalen Russell-Tribunals 1978 zu beteiligen, ist auf Croissants Einwirken zurückzuführen. So ging im März 1977 ein Brief aus seiner Kanzlei an die „Genossen“, in dem es heißt: „es ist notwendig jetzt so schnell wie möglich ein treffen von uns zu machen. wenn wir da relevant werden wollen bei der russel sache, dann kann das nicht so laufen wie das bisher geplant war […].“ Kritisiert wurde vor allem, dass die einzelnen Antifa-Gruppen seit ihrer Gründung nur sporadisch zusammenarbeiteten. Mit Blick auf das 3. Russell-Tribunal sei es besser, „sich gemeinsam als gruppe (ausschuß) zu konstituiren.“177 Was aus diesem Vorschlag wurde, wie sich die Gruppen gegenüber dem Tribunal positionierten, das sind Fragen, die in Kap. VI noch einmal aufgegriffen werden. An dieser Stelle interessieren vor allem die politische Grundhaltung sowie die Struktur und Arbeitsweise der Antifas. Informationen darüber lassen sich sowohl aus dem internen Schriftverkehr, als auch aus Stellungnahmen ehemaliger Mitglieder gewinnen. So beschreibt Wunschik die Gruppen mit Verweis auf Werner Lotze als „regional gegliedert und jeweils über eine bestimmte Person aus dem engsten RAF-Unterstützerkreis an die Illegalen ‚angebunden‘“178. Welche tiefere Logik hinter dieser Struktur steckte, verrät ein anonymer Bericht, der offensichtlich von einem Insider für das Bundeskriminalamt angefertigt wurde:179 Demnach sei die regionale Verbreitung der Antifas vor allem dazu gedacht gewesen, dass unterge176 Vgl. Anonymer Bericht zu den Antifas. Ohne Datum, S. 1. In: HIS, TE 009,005. 177 Formloser Brief des IKV bzw. der Kanzlei Croissant (Name des Verfassers unkenntlich gemacht) an „Genossen“ aus den Gefangeneninitiativen vom 01.03.77. In: HIS, RA 02/061,009. 178 WUNSCHIK, Tobias: Baader-Meinhofs Kinder, S. 381. 179 Siehe Fn. 176: Anonymer Bericht zu den Antifas. Da der Bericht auf dem Kenntnisstand vom Herbst 1977 beruht, liegt es nahe, in einem der damals festgenommenen RAF-Mitglieder seinen Verfasser zu suchen. Bekannt ist, dass Volker Speitel nach seiner Festnahme im Oktober 1977 als Kronzeuge fungierte. Karl-Heinz Dellwo erinnert sich, dass Speitel „damals die ganze Kommunikation zwischen den Illegalen und den Stammheimern organisiert“ hat. Speitel kehrte während des Deutschen Herbstes „gegen das dringende Anraten seiner Begleiterinnen“ von einem Dänemarkaufenthalt in die Bundesrepublik zurück. Siehe: DELLWO, Karl-Heinz: Das Projektil sind wir, S. 149. Speitel und Rosemarie Prieß wurden kurz nach ihrer Einreise festgenommen. Für Speitel wirkte sich die Zusammenarbeit mit den Behörden strafmindernd aus.
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tauchte RAF-Mitglieder in allen Ecken der Bundesrepublik rasch einen „anlauf/ kontaktpunkt“ finden konnten. Auch die „kontinuierliche nationale zusammenarbeit“ der Gruppen, die „gemeinsam entwickelte kampagnen oder aktionen auf legaler ebene“ anstrebten, hatte eine Kehrseite. „Anbindung“ an die RAF bedeutete für die Antifas nämlich auch, ein Rekrutierungspool zu sein. Damit dies jedoch nicht ans Licht kam, mussten die wenigen Kontaktpersonen ein doppeltes Spiel spielen: „pespektivisch wurden die antifas als ‚wasser‘ angesehen. so war unser […] job - neben den legalen aktivitäten - die ‚starken typen‘ rauszufiltern, rauszubekommen wer, wann für was in frage kommen könnte. dh. wir sammelten informationen/einschätzungen die wir mit den illegalen oder den gefangenen zusammen auswerteten. unsere wirkliche funktion war den meisten antifa leuten nicht bekannt, nur denen die wir direkt im auftrag der illegalen ansprachen.“
Damit scheint die Antifas auf den ersten Blick das gleiche Schicksal ereilt zu haben wie die Komitees gegen Isolationshaft, über die einst viele RAF-Mitglieder den Einstieg in den bewaffneten Kampf gefunden hatten. Bei näherer Betrachtung gestaltete sich die Instrumentalisierung der neueren Gefangeneninitiativen für die RAF jedoch schwieriger. So heißt es in dem Bericht: „grundsätzlich muss man davon ausgehen, das die arbeit/konzept der illegalen sehr langfristig angelegt ist, dh. ein kontakt kann ein ½ jahr völlig lahm sein was aber nicht heißt, das der kontakt aufgehoben ist.“180 Zudem unterhielt die RAF nicht zu jeder Antifa Kontakte und nicht alle Kontakte machten für sie einen viel versprechenden Eindruck. Im Bericht werden die Potentiale von zwölf Gruppen mit jeweils etwa fünf Kernmitgliedern ausgelotet.181 Der Verfasser schätzt ein, dass die RAF zu sechs von ihnen Kontakte unterhielt. Neben der Antifa in Stuttgart, die wegen der räumlichen Nähe zur Kanzlei Croissant und den Anwälten Müller und Newerla als „der sicherste kontakt“182 galt, nennt er die Antifa in der Wiesbadener Goldgasse, die Antifa in der Hamburger Bartelstraße und die Antifa Heidelberg als wahrscheinliche Kontakte.183 Ein „potentieller Anlaufpunkt mit geringerer Wahrscheinlichkeit“ war seiner Ansicht nach die Antifa Berlin. Als „relativ zuverlässig“ hätte ebenso die Gruppe in Düsseldorf beziehungsweise Bochum gegolten. Einschließlich der Antifas Freiburg, München und Münster, die in dem Bericht nicht erwähnt werden, konnte die RAF also mehr als die Hälfte dieser Gefangeneninitiativen weder zur Rekrutierung nutzen, noch als zuverlässige Unterstützer ansehen. Dass die Antifas in ihrer politischen Haltung „ungefähr auf der linie des büros“184, sprich: der Kanzlei Croissant, lagen, bedeutete also lediglich, dass sie die Gewaltakte der RAF billigten und sich mit den inhaftierten Mitgliedern solidarisier180 Anonymer Bericht zu den Antifas, S. 1. 181 Der Verfasser zählt folgende Gruppen auf – die genaue Anzahl ihrer festen Mitglieder bleibt im Dunkeln: „hamburg (bartelstr.), info hamburger undogm. gruppe horst […]; braunschweig (hauptsächlich gruppiert in der kneipe ‚bambule‘); salzgitter (wildes huhn + blenckenstädt?, ne wohngemeinschaft); berlin […]; düsseldorf/bochum […]; frankfurt ([…] im bü weidenhammer); wiesbaden, kaiserslautern, stgt, heidelberg.“ Siehe: Ebd. In Wiesbaden kannte er zwei Gruppen. Einer von ihr gehörte das spätere RAF-Mitglied Wolfgang Grams an. Die Antifa Heidelberg wurde im November 1978 durch Verhaftungen dezimiert. Sie soll eine Anlaufstelle für Willy-Peter Stoll, Christian Klar und Adelheid Schulz gewesen sein. Vgl. o. A.: Willi Peter Stolls ergiebiges Notizbuch. 182 Anonymer Bericht zu den Antifas, S. 4. 183 Vgl. ebd., S. 1-3. 184 Ebd., S. 3.
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ten. Dagegen war ihre Bereitschaft, den bewaffneten Kampf der Gruppierung aktiv zu unterstützen eher gering. Dieser Zustand wurde innerhalb der Antifas durchaus wahrgenommen und diskutiert, zum Beispiel anhand der Frage, wie aktiv man auch als Unterstützer der Gefangenen „Widerstand gegen den Imperialismus“ in der Bundesrepublik leisten sollte. Die radikaleren Gruppen kritisierten die passiveren als scheinheilig: Sie würden eine Grenze ziehen zwischen der „guerilla die kämpft“ und sich, den „sympis“, als „letzte aufrecht[e] menschen, die sich nicht von dem kampf distanzieren.“ Dies sei „letztlich caritas […], selbstbeweihräucherung“185, heißt es in einem Diskussionsprotokoll zum gemeinsamen Treffen der „Antifas“ im August 1977. Den Gefangenen würde nur geholfen, wenn jeder akzeptierte, dass es zwei „sich gegenseitig bedingend[e] ebenen des kampfes“ gebe: „hier wir – kampf gegen vernichtungshaft u. da – guerilla, konkreter angriff gegen die vernichtungsstrategen in der konfrontation mit dem staat.“186 Mit diesen Worten wurde all jenen eine Abfuhr erteilt, die ein politisch unverbindliches Engagement in den Gruppen bevorzugten, also beispielsweise nur Gefangenenbesuche unternahmen und sich nicht an öffentlichen Aktionen beteiligten. Abgesehen von solchen Streitigkeiten bestand der gemeinsame Konsens der Antifas darin, gegen den angeblichen Faschismus in der Bundesrepublik ankämpfen zu müssen. Dieser zeigte sich für sie im Wesentlichen daran, dass die RAF von Staats wegen vernichtet werden sollte187 – am Foltervorwurf wurde festgehalten. Auf Grund der räumlichen Distanz zwischen den Antifas gab es im Detail keine völlige Vereinheitlichung der politischen Haltung. Eine wichtige Rolle spielte dabei sicher, dass ihre Mitglieder in den jeweiligen Städten und Stadtvierteln meist mit anderen linken Gruppierungen in Kontakt standen und hier Rückhalt in ihren jeweiligen Standpunkten fanden. Während die radikaleren Antifas neben den Kontakten zur RAF auch Verbindungen zu den Revolutionären Zellen (RZ) und ersten autonomen Gruppierungen pflegten, dürften die gemäßigten unter ihnen dem Kommunistischen Bund (KB) und auch kirchlichen Kreisen nahe gestanden haben. Die Vernetzung der Antifas mit anderen Linken dürfte von der RAF anfangs begrüßt worden sein, verbesserte sie doch die Reichweite ihrer Propaganda und zu185 Anonymer Bericht zum Treffen der „Antifa“-Gruppen in Braunschweig vom 7. August 1977, S. 1. In: HIS, RA 02/061, 009. 186 Ebd., S. 2. 187 So heißt es in einem anonymen Schreiben: „Denn natürlich wird der Kampf gegen die Vernichtungshaft und Menschenrechtsverletzung der Job bleiben […].“ Siehe: Protokoll zum Treffen der „Antifa“-Gruppen in Braunschweig am 5./6. August 1977, S. 3. In: HIS, RA 02/061,009. 188 Darauf lässt zumindest der Schriftverkehr des Jahres 1977 schließen, der in folgenden Akten nachzulesen ist: HIS, RA 02/061,008 und HIS, RA 02/061,009. 189 Dies geht sowohl aus dem in Fn. 188 erwähnten Schriftverkehr, als auch aus den Angaben im Insiderbericht hervor. Vgl. Anonymer Bericht zu den Antifas, S. 1-3. Bis zum Deutschen Herbst galt auch die Kommunistische Partei (KPD/ML) als solidarisch mit den Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen. Nach der „Landshut“-Entführung äußerte sich die Partei jedoch zunehmend kritisch über die, ihrer Meinung nach „antimarxistisch[e] und antirevolutionär[e]“, Vorgehensweise der RAF. Die Solidarität mit den Gefangenen wurde dennoch aufrechterhalten. Siehe: BENICKE, Jens: ‚Von Heidelberg nach Mogadischu, ein Weg von der revolutionären bis zur konterrevolutionären Aktion‘. Das Verhältnis der bundesdeutschen K-Gruppen zur RAF, am Beispiel der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML). In: GEHRIG, Sebastian/MITTLER, Barbara/WEMHEUER, Felix (Hg.): Kulturrevolution als Vorbild? Maoismen im deutschsprachigen Raum. Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 133-152, hier bes.: S. 147.
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gleich die Aussichten, Unterstützer zu gewinnen. Spätestens mit dem Deutschen Herbst haben sich die gemäßigten Antifa-Gruppen jedoch zu weit von der RAF entfernt, um von ihr instrumentalisiert zu werden. Die „übrig gebliebenen Inhaftierten“ hatten laut Wunschik „längst nicht mehr die Autorität, die noch den Stammheimern zugekommen war.“190 Außerdem fiel die Stuttgarter Anwaltskanzlei als Agitationsund Werbezentrale der RAF aus. Der Versuch, ihre Funktionen auf die „Fantasia“Druckerei und eine Wohngemeinschaft in der Stuttgarter Schlosserstraße zu übertragen, schlug fehl. Im Mai 1978 leitete die Bundesanwaltschaft an beiden Orten Durchsuchungen ein, die zu Festnahmen führten.191 Während die gemäßigten Gruppen auf Distanz gingen, weil sie in ihrem Umfeld auf Vorbehalte bei anderen Linken stießen,192 gab es radikalere Antifas, die die Gelegenheit nutzen wollten, um sich in den Vordergrund zu spielen und der RAF „anzudienen“. Einen regelrechten Musterfall für diese Vorgehensweise bildete die Antifa Kaiserslautern. Einige ihrer Mitglieder suchten seit längerem Kontakt zur RAF und waren 1977 bereits vorübergehend in den Untergrund gegangen. „[E]iner der aktivsten typen in der gruppe“ wurde in dem Insiderbericht so eingeschätzt, „das er weiterhin versuchen wird, […] auf dem niveau von brandanschlägen […]“193 zu agieren. In dem Bericht des BKA-Oberkommissars Alfred Klaus spiegelt sich dieser Vorsatz folgendermaßen wider: „Die Gruppe [Antifaschistischer Kampf Kaiserslautern] setzte nach dem kollektiven Selbstmord der RAF-Führung am 18. Oktober 1977 ihre Aktivitäten fort. Sie bestanden im wesentlichen aus Wandschmierereien, einer versuchten Nötigung durch Anschläge auf die Verlagshäuser der Tageszeitung ‚Rheinpfalz‘ sowie die Herausgabe einer ‚Dokumentation‘ und der Verbreitung von Flugblättern mit Erklärungen und Parolen zur Unterstützung der RAF. Sie stand außerdem in Verdacht, am 31. Oktober 1977 einen Sprengstoffanschlag auf das Ober194 landesgericht Zweibrücken verübt zu haben.“
Im Mai 1979 sorgten Lauterer Aktivisten noch einmal für Aufsehen, als sie an verschiedenen Schulen und an der Universität Kaiserslautern unter der Überschrift „Wir informieren zur Sache – SPD Sozialdemokraten“ ein Flugblatt mit einer Hungerstreik-Erklärung von Gefangenen aus der RAF verteilten. Darin heißt es unter anderem, „dass die als Selbstmorde getarnten Morde [in Stammheim, Anm. M. M.] für die politischen Ziele der Bundesregierung – die Durchsetzung des ‚Modell Deutschland‘ der Sozialdemokratie in ganz Westeuropa und darüber hinaus zur Sicherung des ‚inneren Friedens‘ […] – counterproduktiv“ gewesen seien. Den aufkeimenden Widerstand gegen ihre Politik versuche die Bundesregierung nun gemeinsam mit den zuständigen Behörden auf andere Weise zu brechen. Die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen bekämen dies mit „fortdauernder und perfektionierter Isolation“195 zu spüren. Weil das Druckwerk mit
190 WUNSCHIK, Tobias: Baader-Meinhofs Kinder, S. 382. 191 Vgl. o. A.: Sabotage vom Knallfrosch bis zum Hijacking. In: Der Spiegel (21.08.1978). Zum Prozess gegen die „Fantasia“-Drucker, vgl. IISG, Anarchiv Collection, KA Systematik 672 = Mappe 109, Umschlag 469. 192 Vgl. WUNSCHIK, Tobias: Baader-Meinhofs Kinder, S. 381. 193 Anonymer Bericht zu den Antifas, S. 1. 194 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 174. 195 Brief der Rechtsstelle des SPD-Parteivorstands an das Bundeskanzleramt vom 01.06.1979, darin: Anhang: Hungerstreikerklärung. In: AdsD 1/HSAA006891.
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dem Signum einer örtlichen SPD-Bundestagsabgeordneten versehen war, wurde Strafanzeige gegen die unbekannten Urheber erstattet.196 3.2.2 Nachspiel Letztendlich kamen aus Sicht der RAF nur wenige Mitglieder der Antifas für eine engere Zusammenarbeit infrage. Von organisatorischen Aufgaben, die das Recherchieren zu potentiellen Anschlagszielen ebenso umfassten wie einfache Kurierfahrten, war es ein großer Schritt bis zum Sprung in die Illegalität. Es scheint, als wäre die Besetzung des dpa-Büros ein notwendiger Testfall gewesen, um die Zuverlässigkeit und Bereitschaft einiger ausgewählter Aktivisten auf die Probe zu stellen. Dies würde erklären, weshalb die RAF das Risiko einging, ein festes Mitglied wie Wolfgang Beer daran zu beteiligen. Und es würde auch erklären, warum die Besetzung keine klare taktische Linie hatte, sondern wie ein einziger Kompromiss wirkte: So verzichteten die Beteiligten zwar auf Schusswaffen, entschieden sich mit ihren Knüppeln aber gegen ein gewaltfreies Vorgehen. Ebenso zweideutig erschien die Aktion aus Sicht der Öffentlichkeit. Zwar wollten die Besetzer über den Nachrichtenticker möglichst viele Menschen mit ihrem Anliegen erreichen, doch wie konnten sie auf Verständnis hoffen, wenn sie dafür unschuldige Redakteure und Sekretärinnen fesselten? Dies weckte unweigerlich Erinnerungen an frühere Geiselnahmen der RAF, wie zum Beispiel in der Deutschen Botschaft in Stockholm 1975. Kaum in Haft, begannen die elf Besetzer einen gemeinsamen Hungerstreik. Nach eigener Aussage protestierten sie damit „gegen die Eskalation staatlichen Faschismus als Reaktion auf die Offensive ’77 der RAF […], die jeden Widerstand gegen das Counterinsurgency-Programm von Regierung, BKA und Nachrichtendiensten zur faschistischen Formierung Westeuropas ausschalten soll.“ In einem Anflug von Selbstüberschätzung erklärten sie, dass diesem Dreigespann staatlicher Institutionen klar geworden sein müsse, „daß die Einverleibung sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche in ihren Sicherheitsapparat ohne die Eliminierung der Metropolenguerilla nicht bruchlos durchzusetzen ist.“ Zu diesem Zweck hätte es in Stammheim ein Massaker gegeben, zu diesem Zweck seien die Polizeikräfte dazu übergegangen, „die Fighter auf der Straße zu liquidieren – wie Willi Peter Stoll und Michael Knoll.“ Sich selbst betrachteten die Besetzer als Teil einer antiimperialistischen Bewegung. Die Aktion im dpa-Büro umschrieben sie nachträglich als Angriff auf „eine der Institutionen, die wesentlich die psychologische Kriegsführung transportieren und so die Hinrichtung der Kämpfer vorbereiten und legitimieren.“ Mit anderen Worten: die Medien als dienstbare Gehilfen des staatlichen Faschismus. Zu guter Letzt bekräftigten die elf Inhaftierten ihr eigentliches Anliegen, für die Verlegung Karl-Heinz Dellwos in den Normalvollzug und für die Freilassung Werner Hoppes einzutreten. Ihr Engagement für die Gefangenen zeigte Wirkung. Nicht nur bei der dpa, die am Tag nach der Besetzung freiwillig die Erklärung der „Kommandos Willy Peter Stoll“ und „Michael Knoll“ per Fotofax verbreitete.197 Sondern auch bei der Justiz, die offiziell natürlich unbeeindruckt von der dpa-Besetzung blieb: Karl-Heinz Dellwo wurde noch im Dezember 1978 von der JVA Köln-Ossendorf in die JVA Celle 196 Vgl. Brief der Rechtsstelle des SPD-Parteivorstands an das Bundeskanzleramt vom 01.06. 1979, darin: Strafantrag und Strafanzeige eines Bonner Rechtsanwalts im Auftrage seiner Mandantin gegen Unbekannt. In: AdsD 1/HSAA 006891. 197 Vgl. ZIEGLER, Gerhard: Eine Übung für den Nachwuchs? In: Die Zeit (10.11.1978).
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verlegt, wo gerade ein neuer Hochsicherheitstrakt zur Verfügung stand und er auf die inhaftierten RAF-Mitglieder Lutz Taufer und Sigurd Debus traf.198 Und auch im Fall Hoppe tat sich etwas. Das Hamburger Landgericht gewährte dem 29-Jährigen auf Grund seines Gesundheitszustandes Haftaussetzung. Nach sieben Jahren Freiheitsentzug kam Hoppe am 8. Februar 1979 in Hamburg auf freien Fuß – „psychosomatisch krank und arbeitsunfähig“199, wie er in einer späteren Stellungnahme angab. Die elf Besetzer konnten diese Maßnahmen als Erfolg für sich verbuchen und genossen mehrere Monate lang die Aufmerksamkeit sowohl der Gefangenen aus der RAF, also auch ihres eigenen politischen Umfelds. So entschloss sich beispielsweise die Hamburger Schwarze Hilfe am 22. November 1978 unter dem Motto „Freiheit für die dpa-Besetzer“ zu einer Demonstration in der St. Katharinen-Kirche. Anlass war der Auftritt des Bundesjustizministers Hans-Jochen Vogel, welcher im Rahmen der Buß- und Bettagsfeierlichkeiten ein Plädoyer für die Abschaffung der Todesstrafe halten wollte. Zwanzig bis dreißig Mitglieder der Schwarzen Hilfe drangen während Vogels Rede in das Gotteshaus ein, warfen Flugblätter und Stinkbomben unter die vierhundert Anwesenden und riefen, von einem Mann mit Megaphon dirigiert: „Freiheit für Werner Hoppe“, „Freiheit für die dpa-Besetzer“, „Isolation ist Mord.“200 Der Minister, den die Störer als „Schreibtischmörder“ beschimpften, ließ sich nicht beirren und fuhr mit seinen Ausführungen fort. Auch die Zuhörer blieben „überwiegend diszipliniert“201. Nord- und Westdeutscher Rundfunk, die die Rede live im Radio übertrugen, zogen es jedoch vor, wegen der Unruhe zu unterbrechen. Im Anschluss an Vogels Auftritt kam es vor der Kirche zu Handgreiflichkeiten zwischen einigen Besuchern und den Demonstranten. Die Polizei sah sich nach eigenen Angaben gezwungen, in das Geschehen einzugreifen. Sie nahm zwanzig Mitglieder der Schwarzen Hilfe wegen Störung der Religionsausübung vorübergehend fest. Laut dem Hamburger Büro von Amnesty International sei dabei „nach Aussagen einer Anzahl von Zeugen in Einzelfällen brutal vorgegangen“202 worden. Die Organisation hatte die Veranstaltung in der Kirche initiiert und fühlte sich für den missglückten Verlauf mitverantwortlich. Neben dieser öffentlichen Solidarität erfuhren die elf inhaftierten Besetzer des dpa-Büros auch publizistische Unterstützung vonseiten einer Antifa-Gruppe in Hamburg.203 Sie widmete ihnen eine eigene Broschüre, die Anfang 1979 im Selbstverlag mit einer Auflage von tausend Exemplaren erschien. Darin enthalten waren 198 Dellwo empfand die Verlegung von Köln-Ossendorf nach Celle jedoch nicht als Verbesserung seiner Situation. In Köln sei es darum gegangen, „Gefangene fertig zu machen.“ In Celle habe er sich jahrelang „entweder in Einzelisolation, in Zweierisolation oder in Kleingruppenisolation“ befunden. Abgesehen davon sei die Besetzung des dpa-Büros eine „sehr solidarische Aktion“ gewesen. Siehe: DELLWO, Karl-Heinz: Das Projektil sind wir, S. 159-161. 199 HOPPE, Wolfgang: Zeugenaussage im Prozeß gegen Monika Haas. In: Angehörigen Info (Nr. 185, 1996). 200 o. A.: Radikale störten Vogel-Predigt mit Stinkbomben. In: Die Welt (23.11.1978). 201 o. A.: Linksextremisten stören Predigt Vogels. In: Süddeutsche Zeitung (23.11.1978). 202 o. A.: Rede Vogels in Hamburg gestört. In: Der Tagesspiegel (24.11.1978). 203 Aus dem Umfeld der Antifa Berlin gab es musikalische Unterstützung: Die Rockband »Katapult« schrieb ein Lied für die Besetzer. Nach Angaben der Musiker hatten sich zwei Bandmitglieder an der Aktion im dpa-Büro beteiligt. Siehe: o. A.: Interview Katapult. In: Rockmusik. Zeitung der AG Rockmusik Hamburg (Nr. 4, 1979). Siehe: http://www.highdive.de/over/rm4 .htm (Stand: 06.11.2011).
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ein ausführliches Gruppeninterview, die persönliche Erklärung eines Besetzers, ein lobender Kommentar aus der Hamburger Szene sowie eine Namensliste der Beteiligten204. Im Gruppeninterview erläuterte die so genannte „Elferbande“ noch einmal die Hintergründe ihrer Aktion. Sie seien nicht davon ausgegangen, „das unsere meldung unbemerkt in die nationale und internationale presse reinrutscht, wie das in den medien teilweise gebracht wurde […].“ Stattdessen hätten sie über den Ticker „die zeitungsredaktionen im saarland, rheinland-pfalz und hessen […] und die dpa-zentrale in hamburg, die für die nationale und internationale verteilung der dpameldungen zuständig“ erreichen wollen. Gleichwohl diese Einrichtungen ihre Erklärung wahrscheinlich nicht weitergegeben hätten, wäre allein der Versuch, „die nachrichtensperre“ zu durchbrechen, Zweck ihrer Aktion gewesen. Man habe wenigstens einmal „informationen durchgeben“ wollen, die sonst „systematisch unterdrückt“ würden. Dass sich die Besetzer gerade für Werner Hoppe und Karl-Heinz Dellwo einsetzten, hing eng mit ihren Erinnerungen an die Umstände der Stammheimer Todesnacht zusammen: „bei werner sah die situation konkret so aus, daß er nach 7 jahren isolation, – und jeder weiß, daß das folter ist, – physisch an dem punkt ist, wo man jeden augenblick damit rechnen muß, das er stirbt.“205 Dellwo habe sich zum Zeitpunkt der Aktion seit 46 Tagen „im hunger- und durststreik“ befunden, „gleichzeitig lief eine gezielte kampagne der psychologischen kriegsführung über zeitungen und fernsehen gegen ihn, vergleichbar mit dem, was in den jahren vorher gegen ulrike, andreas, gudrun und jan lief. das war immer eindeutiger.“ Kurzum: Mit der Besetzung hofften die Aktivisten, das Leben beider Gefangenen zu retten. Sie wollten die eigene „unentschlossenheit aus der objektposition gegenüber dem staat aufbrechen“. Als Objektposition verstanden sie dabei die ihrer Ansicht nach vorherrschende Selbsteinschätzung der Linken, in „eigener ohnmächtigkeit der scheinbar undurchbrechbaren totalität des staates“ ausgeliefert zu sein. Langfristig hofften sie, dass sich innerhalb des Spektrums eine „einheit des widerstandes“ entwickeln würde, wenn sich noch mehr Linke dazu entschieden, ihre Passivität aufzugeben. Im Deutschen Herbst habe sich „jegliche norm aufgelöst, die staatliches handeln eingrenzt“, habe der Staat „jeglichem antiimperialistischen widerstand den totalen krieg erklärt“. Wer deshalb weiterhin an die Moral der staatlichen Entscheidungsträger appelliere, wer auf ihre Menschlichkeit hoffe – ob im Hinblick auf ihren Umgang mit den „gefangenen genossen“ oder im Hinblick auf ihren grundsätzlichen Umgang mit linkem Widerstand –, der manifestiere nur den Nimbus der Unangreifbarkeit der „herrschenden“. Wahre Moral, so die Besetzer, „moral, die befreiung, selbstbestimmung, kollektivität, also menschlichkeit meint“, gebe es „nur im widerstand gegen den imperialismus“. Mit ihrer Aktion im dpa-Büro hätten sie einen Startpunkt setzen wollen, um die nach dem Deutschen Herbst entstandenen Fragen nach und nach zu beantworten: „wie können wir was, und vor allem uns bewegen? welche formen und strukturen des kampfes, welche politischen bestimmungen waren wieder und/oder neu zu set204 Genau genommen handelt es sich um eine Liste mit den Namen aller seit 1977 festgenommenen und inhaftierten „Genossen“, womit RAF-Mitglieder und RAF-Unterstützer gemeint waren. Da letztere zum Großteil keine Personen der Zeitgeschichte sind, werden ihre Namen in aktuellen Publikationen nicht mehr erwähnt bzw. verfremdet. 205 Antifa Hamburg (Hg.): Entweder bist Du ein Teil des Problems oder ein Teil seiner Lösung. Dazwischen gibt es nichts. Dokumentation. Hamburg 1979, S. 5.
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zen? auf welche angriffspunkte konzentrieren?“ Antworten darauf ließen sich ihrer Ansicht nach nur finden, „in dem man partei ergreift, angreift, weitergeht als bisher.“ Alle Protestansätze innerhalb des linken Spektrums, angefangen von den „kleinkarierten und bornierten privatkampfplätze[n] gegen berufsverbote“, über das Engagement gegen Unterdrückung „in diesem oder jenem land der dritten welt“ bis hin zum Widerstand gegen „folter an den gefangenen aus der raf, oder weiß der geier was“, betrachteten sie als „verschiedene abschnitte und ebenen […] der konfrontation“. Um wirklich von einer Bewegung sprechen zu können, musste „gegen die einheit der politik und herrschaft des imperialismus die einheit des widerstands gesetzt“206 werden. Die Frage der Gewaltfreiheit dieses Widerstands stellte sich für die Besetzer nicht: „offensiv zu werden, ist nur bewaffnet denkbar.“207 Dies ist nur logisch, insofern sie die RAF nach wie vor als „spitze des widerstands“ verstanden: „daß hier leute die notwendigkeit erkannt haben zu kämpfen und sich in dieser notwendigkeit selber gesehen haben, das sie auf die kriterien dieses marktes geschissen haben, nicht nur an ihren eigenen wanst gedacht haben, sondern sich in dem leiden, dem kampf, der hoffnung von milliarden menschen gesehen haben, sich wiedergefunden haben, indem sie kompromißlos zu 208 kämpfen anfingen –, das ist für mich orientierung an der raf […].“
Zum Abschluss ihres Interviews schlugen die Besetzer noch einen inhaltlichen Bogen zum Thema Menschenrechte. Sie erklärten, dass sie den antifaschistischen Kampf auch als Kampf gegen die „menschenverachtung“ empfanden, die vom „machtapparat“ ausginge und vor allem in der „vernichtungspolitik gegen die gefangenen der antiimperialistischen guerilla“ zum Ausdruck käme. Wie im „kolonialismus, […] nazifaschismus oder [im] iran“ seien die „rechte des menschen“ auch in der Bundesrepublik „nicht die rechte der sklaven, nicht die rechte der aufständischen“. Deshalb setzten Politik und Justiz die „verteidigung von menschenrechten gleich mit der verteidigung krimineller ziele“. Mit anderen Worten: Die strafrechtliche Verfolgung der RAF und ihres Unterstützerumfeldes sei nichts anderes als die Kriminalisierung von Menschenrechtsaktivisten. Mit ihrem Interview lieferten die Besetzer ein propagandistisches Bravourstück ab. Zum einen stachelten sie die Antifas an, sich zum bewaffneten Kampf zu entschließen. Dazu weckten sie die Vorstellung von einer einheitlichen Widerstandsfront, ohne die Zerstrittenheit und die Interessengegensätze im linken Spektrum zu thematisieren. Zweitens polierten sie das Image der RAF auf, indem sie sie trotz ihres Scheiterns 1977 zur Spitze des Widerstandes erklärten. Zum anderen nutzten sie den Raum, um von ihrer eigenen Aktion jede Kritik abzuschütteln und ihr Vorbildwirkung zu attestieren. So viel Selbstgefälligkeit musste früher oder später auf Widerspruch stoßen. Bemerkenswert dabei: Sogar unter den Gefangenen aus der RAF wurden kritische Stimmen gegenüber den Besetzern laut. Klaus Jünschke, der seit Juni 1977 eine lebenslängliche Freiheitsstrafe absaß, bemerkte in einem Brief, dass die Aktion vor allem „polarisierung“ ausgelöst hätte: „was ich mitgekriegt hab war, dass es unter denen die gegen die isolation sind […] nicht mehr darum ging, was getan werden kann, sondern nur noch um pro- oder contra dpa-besetzung; rechthaberische streiterei, lähmung, statt: ‚was tun?‘“ Anstatt „praktische kritik“ zu üben, es schlichtweg 206 Ebd., S. 6-8. 207 Ebd., S. 9. 208 Ebd., S. 11.
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„besser [zu] machen“, hätte es unter Sympathisanten und Unterstützern eine „beknackte debatte“ gegeben. In dem Schreiben, das an eine der Besetzerinnen gerichtet war, machte Jünschke seine Kritik an zwei Punkten fest: Erstens an der Unvorsichtigkeit, zweitens an der Gewaltsamkeit des Vorgehens. „wer von denen die verhaftet worden sind steht nicht unter der befa + der sorte observation […]?“209 fragte er und bezog sich auf das System der Beobachtenden Fahndung (BEFA), wie es das BKA 1975 eingeführt hatte. Die BEFA war eine Art Datenbank, mit der Polizei und Behörden zunächst den Personenkreis erfassten, der die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen besuchte. Im Laufe der Zeit wurden auch die Begleitpersonen der Besucher, „Eltern, Ehegatten, Verwandte, Verlobte […] oder der Halter eines Pkw, der sein Auto für die Besuchsfahrt verliehen hatte [, …] oder Briefschreiber“210 erfasst. Worauf Jünschke hinaus wollte, ist der rasche Polizeieinsatz, durch den die Besetzung des dpa-Büros frühzeitig scheiterte: „mit ‚pech gehabt‘ erklärst du die verhaftungen nicht, ich glaub auch nicht, dass die verhaftungen möglich gewesen sind, weil der redakteur den alarmknopf drückte […]. bei der masse von fehlalarmen jede nacht nicht.“ Jünschke äußerte die Vermutung, dass die Polizei wusste, was die Gruppe vorhatte. Und jedem in der Gruppe hätte dies von Vornherein klar sein müssen. Auch das gewaltsame Vorgehen sei unüberlegt gewesen. „ich versteh nicht, warum ihr […] nicht am tag da rein seid – ohne kapuzen, ohne prügel, ohne ‚kommando willy-peter stoll und michael knoll […]. mit so einem sit-in hättet ihr dasselbe erreicht […].“211 Jünschke war überzeugt davon, dass kein Richter ihre Haftbefehle unterschrieben hätte, wenn sie gewaltfrei vorgegangen wären. Die Konsequenz sei nun, dass die Gruppe monatelang aus dem Verkehr gezogen sei und sich im linken Spektrum Schadenfreude breit mache – Stichwort: „kindergarten-kamikaze.“ Grundsätzlich begrüßte Jünschke das Bestreben der Besetzer, sich für die Verbesserung der Haftbedingungen einzusetzen: „die isolation von gefangenen ist nicht zu rechtfertigen. punkt.“ Als überflüssig habe er jedoch empfunden, dass die Besetzung des dpa-Büros auch als Protestaktion gegen die angebliche Verschleierungstaktik der Medien angelegt war. „‘die massen‘ wissen, was sie von den medien zu halten haben. ‚sie lügen wie gedruckt‘. volksmund.“ Diese Problematik anzusprechen, mache keinen Sinn. „dagegen kommst du mit worten nicht an.“212 Ungeachtet dessen hielten die dpa-Besetzer auch im späteren Gerichtsverfahren an ihrer Medienkritik fest.213 Zu ihrer Verteidigung stellten sie einen Beweisantrag zur vermeintlichen „Nachrichtensperre“ in der Bundesrepublik. Dabei ging es ihnen vor allem darum, die Berichterstattung der bundesdeutschen Presse- und Rundfunkmedien als „integrierten Bestandteil der Antiguerilla-Kriegsführung“214 zu diffamieren. Hintergrund dieses Vorwurfs war die Imperialismustheorie der Antifas, die sich
209 Brief von Klaus Jünschke an Helga R. vom 01.05.1979, S. 1. In: HIS, Jü,K/021,003. 210 SCHENK, Dieter: Der Chef, S. 207. 211 Brief von Klaus Jünschke an Helga R., S. 1. 212 Ebd., S. 2. 213 Mit der Urteilsverkündung am 25. Juni 1979 ergingen zehn- bzw. zwölfmonatige Freiheitsstrafen gegen sie, die in mehreren Fällen zur Bewährung ausgesetzt wurden. Vgl. BRAND, Enno: Staatsgewalt. Politische Unterdrückung und Innere Sicherheit in der Bundesrepublik. 2. Auflage. Göttingen 1989, S. 193. 214 o. A.: 2. Info zum DPA-Prozess. o. O. 1979, S. 30.
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stark an die programmatischen Schriften der RAF anlehnte.215 Danach übten die Vereinigten Staaten in ihrer Außenpolitik seit Kriegsende ungehemmt Kontrolle über ihre Verbündeten aus. Ihren Ausdruck fand diese Hegemonie, übrigens in den Augen vieler Linker, in der Gründung der NATO. Seit dem Vietnamkrieg, in welchem die Stützpunkte der US-Armee im Bundesgebiet eine wichtige strategische Bedeutung innehatten, war eine regelrechte Verschwörungstheorie entstanden, nach der die Bundesrepublik die Rolle der „2. Führungsmacht im US-imperialistischen Staatensystem“216 einnahm. Kam es im Bundesgebiet nun zu revolutionären Bestrebungen, zu einem Widerstand gegen das angeblich vom „transnationalen Kapital“217 durchdrungene und beherrschte politische System, bedeutete dies zugleich auch Widerstand gegen den Imperialismus der Vereinigten Staaten. Also musste, umgekehrt, jede staatliche Reaktion auf die RAF oder andere bewaffnete Gruppierungen in der Bundesrepublik ihren eigentlichen Ursprung in Washington haben. Wurden RAF-Mitglieder oder RAF-Unterstützer festgenommen, dann waren „ihre Internierungen“ Teil der „militärischen antisubversionsstrategie“ der Vereinigten Staaten. Andersherum bedeutete jeder Versuch, diese Gefangenen zu befreien, eine Störung dieser Strategie. Im Deutschen Herbst habe „der Staat“ darauf mit den „Massakern in Stammheim und Mogadi[s]chu“ reagiert. Der „antiimperialistische Widerstand“218, wie ihn die RAF ausgeübt habe, sollte niedergeschlagen werden. Der Vorwurf der dpa-Besetzer lautete nun, dass die Presse- und Rundfunkmedien während des Deutschen Herbstes, auf Grund ihrer „militärstrategischen Funktion“ von der Bundesregierung aufgefordert worden waren, „sich bei Information und Berichterstattung über den Kampf der RAF an die von der Bundesregierung und den Sicherheitsorganen herausgegebenen Richtlinien […] zu halten.“ Dies sei einer „militärischen Gleichschaltung der Medien“219 gleichbedeutend gewesen. Letztendlich war der Beweisantrag der dpa-Besetzer eine reine Provokation. Er stand allerdings in einem größeren Zusammenhang, den man als „antiimperialistische Neuausrichtung“220 der Gefangeneninitiativen im Zeitraum 1978/79 bezeichnen kann: Der Versuch, von der politischen Auseinandersetzung in „spezialbereiche[n]“ wegzukommen und die wahrgenommenen Probleme und Missstände stattdessen „im antifaschistischen und antiimperialistischen zusammenhang zu begreifen“. Ziel war es, das eigene Engagement in einen „internationalistischen zusammenhang“221 zu setzen, das heißt, die Gemeinsamkeiten mit der Linken in 215 Das IKV führte die Antifas auf gemeinsamen Tagungen an das ideologische Konzept der RAF heran. Eindeutiges Zeugnis dieser Art Schulungen sind die Aufzeichnungen einer Antifa-Gruppe zum ‚Kongress gegen politische Repression in Westdeutschland‘ am 7. Mai 1977. Das dreiseitige Papier befindet sich in: HIS, Ordner: Knast 1974-1977. 216 o. A.: 2. Info zum DPA-Prozess. o. O. 1979, S. 18. 217 Ebd., S. 17. 218 Ebd., S. 23f. 219 Ebd., S. 32f. 220 Der Grund für die neue Betonung der antiimperialistischen Idee kann ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den Neuen Sozialen Bewegungen gewesen sein, denen gemeinsam war, „dass ihnen […] ein Antiimperialismusbezug und damit auch ein auf die Machtfrage gegen den Staat zugespitztes Militanz- und Gewaltverständnis weitgehend fehlt[e].“ Siehe: HAUNSS, Sebastian: Antiimperialismus und Autonomie. Linksradikalismus seit der Studentenbewegung. In: ROTH, Roland/RUCHT, Dieter (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945: Ein Handbuch. Frankfurt a. M. 2008, S. 447-473, hier: S. 450. 221 Wolfgang Beers Rede auf der antiimperialistischen Woche in Frankfurt a. M. am 21.10.1978, S. 1. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019781021/2.
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Westeuropa und den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt auszuloten und die Bindung zu ihnen zu suchen. Begründet wurde diese Orientierung damit, dass auch dem Imperialismus eine „globalstrategie“ zu Grunde liege, deren Kern die NATO als „koordinierendes zentrum“222 bilde. Wichtige Impulse für diese „Trendwende“ lieferten Veranstaltungen wie die „antiimperialistische Woche“ in Frankfurt a. M. Auf dem für den 21. Oktober 1978 angesetzten Diskussionsmarathon sollte laut offiziellem Ankündigungsschreiben versucht werden, die „Vereinzelung und Begrenztheit“ von Initiativen und Gruppen zu durchbrechen, die sich gegen die „Faschisierung der BRD nach innen“223 zur Wehr setzten. Der Gedanke, eine „Einheit des Widerstandes“ formieren zu wollen, wie es die dpa-Besetzer in ihrem Interview forderten, scheint in dieser Formulierung greifbar. Bis daraus „das Bedürfnis und die Bereitschaft“ wurde, eine „Front mit der RAF“ zu bilden, vergingen allerdings noch zwei bis drei Jahre. Im Mai 1982 erklärte die RAF in ihrem Papier »Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front«: „Die Front wird nur darüber real werden, daß jeder, egal an welcher Stelle, es zu seiner Sache macht, die Momente und Formen der Einheit des bewaffneten Kampfs aus der Illegalität und des politisch-militanten Widerstands aus der Legalität […] praktisch herauszufinden und sie bewusst im strategischen Prozeß weiterzubringen. Die Front ist die Entwicklung des politischen und praktischen Zusammenhangs des Angriffs gegen die imperialistische Macht – oder 224 sie ist nichts.“
Der Historiker und Politologe Alexander Straßner sieht in dem so genannten „MaiPapier“ den Versuch, ein Widerstandspotential zu nutzen, das sich auf dem Feld der Anti-AKW-Bewegung und im Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss von 1979 tatsächlich andeutete,225 das der RAF bei nüchterner Betrachtung aber nicht offen stand. In der linken Kritik an dem Papier wurde der bewaffneten Gruppierung deshalb auch „Selbstüberschätzung“, „peinliche Avantgarde-Arroganz“ und „Realitätsferne“226 vorgeworfen. Straßner weist allerdings auch darauf hin, dass der Gedanke der „Front“ spätestens 1986 bei „Aktivisten und Sympathisanten aus zahlreichen terroristischen Gruppierungen Westeuropas“227 Anklang fand, nicht zuletzt bei militanten Linken in der Bundesrepublik. An die Stelle der Antifas waren längst so 222 Ebd., S. 7. 223 Flugblatt: Einladung und Aufruf zur antiimperialistischen Woche Frankfurt/Main. Herausgegeben von Jürgen Wengler. Ohne Datum. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019781021/1. Die Veranstaltung wurde auch dazu genutzt, um gegen die Aussteigerberichte von Michael Baumann und Hans-Joachim Klein vorzugehen: In der Frankfurter Innenstadt überfielen einige Teilnehmer eine Buchhandlung und eine Druckerei, „um alle erreichbaren Schriften von Stadtguerilleros, die sich inzwischen von ihren Taten und Genossen distanziert haben, […] auf der Straße zu zerreißen.“ Siehe: KRAUSHAAR, Wolfgang: Die Instrumentalisierbarkeit der linken Moral. In: SCHÜLEIN, Johann August (Hg.): Auf der Suche nach Zukunft. Alternativbewegung und Identität. Gießen 1980, S. 43-49, hier: S. 43. 224 ID-Verlag (Hg.): Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Berlin 1997, S. 291-306, hier: S. 297. 225 Vgl. STRAßNER, Alexander: Die dritte Generation der ‚Roten Armee Fraktion‘. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation. Wiesbaden 2005, S. 121f. 226 Zit. nach: Ebd., S. 133. 227 Ebd., S. 128.
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genannte „Antiimps“ getreten, „Personen, die offenkundig zu jedem Zeitpunkt bereit waren, eine durch Verhaftungen und Tötungen geschrumpfte [RAF]-Kommandoebene personell aufzufüllen und damit den Gang in den Untergrund anzutreten.“228 3.3 Die Besetzung der Zentrale des Belgischen Roten Kreuzes in Brüssel 3.3.1 Kontext und Ablauf Von der Bildung einer „Front“ sprach auch Wienke Zitzlaff, als sie im Juli 1979 ein Thesenpapier für das nächste Arbeitstreffen einreichte, auf dem sich Angehörige der Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen über ihr gemeinsames Engagement abstimmen wollten. Die Schwester der verstorbenen Ulrike Meinhof hatte sich seit 1972 als Motor im Bereich der Gefangenenbetreuung und Angehörigenarbeit etabliert. Peter O. Chotjewitz nennt sie deshalb anerkennend „die Rote Hilfe in Person“229. Mit der Ideologie der RAF hatte Zitzlaff jedoch wenig am Hut. Ihre Idee einer „Front“ bezog sich allein auf die Zusammenarbeit der Angehörigen mit den Gefangenen. Beide Seiten sollten sich demnach geschlossener verhalten, besser als bisher miteinander kooperieren. Zitzlaff umschrieb den Gedanken auch mit dem sprachlichen Bild einer „Aktionseinheit, bescheidener: einer Abwehrlinie“, von der aus man sich gegen die „Isolations- und Vernichtungsstrategie“ des Staates zur Wehr setzen wollte – hinter die man sich aber genauso gut schützend zurückziehen konnte, wenn es die Situation verlangte. Sie ging bei ihrem Vorschlag von zwei Erfahrungen aus: Zum einen hatte sie die „Terroristenjagd“ der vergangenen Jahre als „gegenrevolutionäre Strategie“ erlebt, mit der „revolutionäre und bewaffnete Gegner [des] Systems“230 isoliert und vernichtet sowie radikaldemokratische und sozialistische Alternativen bewusst eingeschüchtert worden seien. Zum anderen hätten sich die Gefangenen aus den bewaffneten Gruppierungen mit Dauer ihrer Haft zunehmend in „Selbst-Isolation“ begeben, die zwangsläufig zum „Realitätsverlust“ der Betroffenen führte. Um diesen Entwicklungen etwas entgegen zu setzen, solle eine „antifaschistisch-demokratische Front“ gebildet werden, die sich folgenden Aufgaben verschreiben müsste: „- Beteiligung der sich selbst als ‚guerilla‘ verstehenden Gruppen, Personen am antifaschistisch-demokratischen Kampf; - Aufnahme von Patenschaften für Verhaftete durch demokratisch zusammengesetzte Gruppen der Linken und radikaldemokratischen Bewegung; - Keine Sonderbehandlung der Gefangenen im Knast, sondern Gleichbehandlung, ‚kein 231 Knast im Knast‘.“
Kurz gefasst: Zitzlaff wollte die Gefangeneninitiativen der Angehörigen stärker an die undogmatische Linke binden und somit verhindern, dass sich einige Eltern, Ge228 STRAßNER, Alexander: Perzipierter Weltbürgerkrieg. In: Ders. (Hg.): Sozialrevolutionärer Terrorismus. Theorie, Ideologie, Fallbeispiele, Zukunftsszenarien. Wiesbaden 2008, S. 209236, hier: S. 214. 229 CHOTJEWITZ, Peter Otto: Mein Freund Klaus, S. 527. 230 Thesenpapier Wienke Zitzlaffs zum Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Front gegen Haft- und Vernichtungsterror in der BRD vom 06.07.1979, S. 1. In: HIS, RA 02/057,004. 231 Ebd., S. 1f.
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schwister oder Ehepartner von Gefangenen weiterhin von ihnen und der RAF instrumentalisieren ließen.232 Um dies zu erreichen, sollten feste Kontakte zwischen den Gefangenen und „der Linken und demokratischen Szene“ hergestellt werden. Zitzlaff hatte dafür „Patenschaften“ nach dem Vorbild Amnesty Internationals ins Auge gefasst.233 Die Betreuung der Gefangenen sollte dauerhaft sein, „wie Kinderkriegen! Man/frau kommt nicht wieder davon los.“ Eine weitere Aufgabe für die Angehörigen sollte darin bestehen, „propagandistisch“ zu arbeiten, also die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Fahndungsmethoden der Polizei, auf die Haftbedingungen der Gefangenen und auf die laufenden Gerichtsverfahren zu lenken. Zitzlaff fasste diese drei Schwerpunkte mit den Schlagwörtern „Todesschußprotest“, „Sicherheits-‚KZ‘“ und „Faschisierung der Justiz“ zusammen. Wege der öffentlichen Vermittlung stellten ihrer Ansicht nach die Herausgabe eines „Stammheim-Infos“, in dem sich die Angehörigen mit einzelnen Berichten zu Wort melden konnten, sowie die „Einberufung eines Jahrestages am 17./18.10. in Stuttgart“ dar. Die Veranstaltung hätte ein breites kulturelles Rahmenprogramm bekommen und wäre Gelegenheit zur endgültigen Verständigung über die Bildung der Aktionseinheit gewesen. Zitzlaff dachte daran, Gäste wie Dario Fo, Volker Schlöndorff und Peter O. Chotjewitz dazu einzuladen. Gemeinsam mit Christiane Ensslin hätten sie ein „Enthüllungstribunal“234 über die Todesnacht in Stammheim vorbereiten können. So weit Zitzlaffs Vorschläge auch ausgearbeitet waren – realisiert wurde die „antifaschistisch-demokratische Front“ nie. Bei genauer Betrachtung hatte die Idee einer patenschaftlichen, organisierten Betreuung der Gefangenen 1979 schon ein wenig Staub angesetzt. Auch der Ansatz, möglichst viel, möglichst international Aufmerksamkeit für die Anliegen der Gefangenen zu schaffen, lockte niemanden mehr hinter dem Ofen vor. Vermutlich ging es Zitzlaff auch eher darum, mit ihrem Papier die Eckpunkte zusammenzufassen, an denen sich das Engagement der Angehörigen ihrer Ansicht nach mittelfristig orientieren sollte. Worum es ihnen nach dem Deutschen Herbst konkret ging, das heißt, welche Forderungen sie an die Justizbehörden stellten und von wem sie sich dabei Unterstützung erhofften, hatten die Angehörigen im Januar 1978 in einer gemeinsamen Erklärung dargelegt.235 Schon damals wurde der Wunsch geäußert, die Haftsituation der Gefangenen ständig durch persönliche Besuche überprüfen zu können, möglichst aber durch Vertreter von Amnesty International oder dem Internationalen Roten Kreuz (IRK). Diese Organisationen spielten in Zitzlaffs Papier jedoch keine Rolle mehr. Was hatte sich in der Zwischenzeit getan?
232 Dass dies vorkam, bestätigte auch Christiane Ensslin am 03.04.2008 (m). So seien im Laufe der Zeit „immer mehr Mütter Teil der Angehörigeninitiativen“ geworden, die sich „natürlich auch instrumentalisieren ließen, weil sie dachten, sie tun das Richtige für ihre Kinder.“ 233 Die Menschenrechts- und Gefangenenhilfsorganisation pflegt „Gewissensgefangene“ zu adoptieren. Dieses Prinzip war der Organisation von Anfang an durch ihren Gründer Peter Benenson eingeschrieben. Vgl. CLAUDIUS, Thomas/STEPAN, Franz: Amnesty International. Portrait einer Organisation. 3. Erweiterte Auflage. München/Wien 1978, S. 18-25. Siehe Kap. II.3, Fn. 119. 234 Thesenpapier Wienke Zitzlaffs zum Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Front, S. 2. 235 Vgl. Erklärung der Angehörigen der politischen Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen Ländern vom 07.01.1978. In: Angehörige von politischen Gefangenen (Hg.): Familienangehörige fordern: Zusammenlegung der politischen Gefangenen der BRD sofort. Es geht ums Siegen über die organisierte Unmenschlichkeit. Karlsruhe 1981, S. 36.
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Am 6. Juni 1979 besetzten Angehörige von Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen die Zentrale des Belgischen Roten Kreuzes in Brüssel. Sie gelangten um 10 Uhr morgens in das quaderförmige Gebäude in der Rue de Stalle, gaben sich dort umgehend als Demonstranten zu erkennen und konnten „nach anfänglichem misstrauen“236 von Seiten des Personals mit offiziellen Vertretern der Organisation sprechen. Als Vorteil erwies sich, dass die Angehörigengruppe in Begleitung eines deutschen Anwalts und eines niederländischen Arztes kam. Ernst genommen wurde das Anliegen auch deshalb, weil die Gruppe eine Presseerklärung verteilte, die von 26 Eltern und Geschwistern der Gefangenen unterzeichnet worden war.237 Man trat also nicht nur für sich, sondern für eine ganze Interessengemeinschaft auf – einschließlich der über vierzig Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen. Die eigentliche „Besetzung“ der Rotkreuzzentrale bestand darin, dass auf Wunsch der Angehörigengruppe eine Pressekonferenz stattfinden konnte. Die Vertreter der Organisation hatten sich einsichtig gezeigt und bereitwillig einen Sitzungssaal zur Verfügung gestellt. Da die Protestaktion gut vorbereitet war, erschienen zeitnah „zwei belgische fernsehteams und belgische presse und liberation aus frankreich“238; eine „große publizistische Resonanz“239, wie Alfred Klaus rückblickend hervorhebt. Auf der Konferenz sprachen „mehrere angehörige, ein deutscher anwalt, ein holländischer arzt und zwei ehemalige gefangene“240. Einer von ihnen war Johannes Thimme.241 Der 23-Jährige hatte gerade eine mehrmonatige Freiheitsstrafe wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung abgesessen und engagierte sich nun für die Verbesserung der Haftbedingungen.242 Seine Eltern äußerten zwar Verständnis für sein Engagement, fühlten sich aus persönlichen und politischen Gründen jedoch nicht in der Lage, mit den anderen Angehörigen in Kontakt zu treten: „Wir waren der Meinung, daß die Häftlinge im Lebensalter, in bezug auf die Schwere der Tat oder des Tatverdachts, vielleicht auch in ihrer Motivation, Intelligenz und vor allem Radikalität, in ihren Äußerungen und ihrem Verhalten zu unterschiedlich waren, um für alle insgesamt eintreten zu können. Hinzu kamen die unterschiedlichen Bedingungen in den Haftanstalten und die verschiedenen Grade, in denen sich die Angehörigen mit den Häftlingen und ihren Zielen identifizierten.“
Unter diesen Voraussetzungen eine gemeinsame Basis für Proteste zu entwickeln, hielten Thimmes Eltern für aussichtslos: „Wir wollten in erster Linie unseren Sohn von seinem in unsern Augen falschen Weg abbringen.“243 236 Bericht zur Besetzung des Roten Kreuzes in Brüssel durch Angehörige von politischen Gefangenen in der Bundesrepublik. In: Ebd., S. 38. 237 Vgl. Presseerklärung der Angehörigen der politischen Gefangenen vom 06.06.1979. In: Ebd., S. 39. 238 Bericht zur Besetzung des Roten Kreuzes in Brüssel. 239 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 108. 240 Bericht zur Besetzung des Roten Kreuzes in Brüssel. 241 Vgl. THIMME, Ulrike: Eine Bombe für die RAF. Das Leben und Sterben des Johannes Thimme. München 2004, S. 143. 242 Vgl. SCHIMMECK, Tom: Der Onkel mit der Bombe. SchimmecksArchiv (Februar 2004). Siehe: http://klugschiss.org/Texte/thimme.html (Stand: 06.08.2010); vgl. auch: FELDMANN, Joachim: Als ich anfing zu kämpfen. In: Der Freitag (28.01.2005). 243 THIMME, Ulrike: Eine Bombe für die RAF, S. 109f.
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Die Besetzung der Brüsseler Rotkreuzzentrale entpuppte sich als eine Art Gegenbeweis für die Vorbehalte mancher Angehöriger und zeigte, dass einzelne Gruppen von ihnen durchaus in der Lage waren, wirkungsvolle Protestaktionen auf die Beine zu stellen. Dass sich der Einsatz in Brüssel lohnen könnte, deutete sich an, als ein Vertreter des Belgischen Roten Kreuzes seine Bereitschaft signalisierte, auf der Pressekonferenz Stellung zu nehmen. Zwar bekundete er vor den laufenden Kameras lediglich „seine mangelnde kompetenz für [die] vorgebrachten probleme und verwies auf die zuständigkeit der genfer zentrale“244 des Internationalen Roten Kreuzes. Im Anschluss daran setzte er sich aber dafür ein, dass das IRK umgehend per Telex über die Protestaktion und die Forderungen der Angehörigengruppe informiert wurde. Der Ursprung der Idee, sich an das IRK zu wenden, lag in Genf. Dort hatte eine andere Angehörigengruppe im April 1977 versucht, eine vergleichbare Protestaktion durchzuführen. Anlässlich der Konferenz über den Ausbau des humanitären Völkerrechts, die vom 20. Februar 1974 bis zum 10. Juni 1977 regelmäßig in der Diplomatenstadt tagte, wollte die achtköpfige Gruppe im Hauptgebäude der Vereinten Nationen (UNO) demonstrieren und Funktionäre dieser Organisation auf ihr Anliegen aufmerksam machen. Eine Beteiligte berichtet: „Am Mittwochmorgen [27. April 1977, Anm. M. M.] machten wir dann die Aktion. Zuerst machten wir alle die Führung mit […]. Am Ende derselben gelangten wir dann in den PresseSaal. […] Hinter jeder Tür eine Presse-Agentur und die wichtigsten Zeitungen. Gingen drei von uns dorthin, reichten das Info-Material rein und sagten, sie sollten sofort in den Saal kommen, dort findet eine Demonstration statt. […] Da entfalteten wir unser Transparent und stellten uns in Pose. War aber leider keiner da, der uns knipste. Gleich war auch ein ziviler UNO-Ober-Bulle da, der sich auf das transparent stürzte, weil sowas hier verboten sei.“
Die Angehörigen teilten dem Beamten mit, dass sie mit Marc Schreiber, dem damaligen Direktor der Abteilung Menschenrechte der UNO, sprechen wollten. Sie beabsichtigen, dem Funktionär die Situation der Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen in den bundesdeutschen Haftanstalten darzulegen, und hofften, dass er das UN-Menschenrechtskomitee davon überzeugen würde, sich für sie einzusetzen. Die Hoffnungen der Angehörigen ruhten in erster Linie auf dem Umstand, dass die Vereinten Nationen gerade über Fragen der Kriegsgefangenschaft verhandelten.246 Musste das humanitäre Völkerrecht den Bedürfnissen der Zeit angepasst und auf Guerillakämpfer ausgedehnt werden? Würden diese künftig den Status von „Kriegführenden haben und damit auch den regulären Schutz Kriegsgefangener genießen, wenn sie dem Feind in die Hände fallen“?247 Seit dem Stammheimer Verfahren bezogen sich speziell die Gefangenen aus der RAF und ihre Verteidiger „verstärkt auf das internationale Recht, vor allem auf das
244 Bericht zur Besetzung des Roten Kreuzes in Brüssel. 245 Bericht einer Angehörigen zur Aktion in Genf vom 02.05.1977, S. 2. In: HIS, RA 02/011,010. 246 Dies war allerdings nur einer von vielen Verhandlungspunkten. Hauptsächlich ging es der UNO um die Festlegung von Richtlinien zum Schutz von Opfern von internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten. Außerdem wurden Absprachen darüber getroffen, wie Journalisten, medizinische Helfer sowie Personen, Gegenstände und Einrichtungen, die unter dem Schutz der UNO stehen, in bewaffneten Konflikten identifizierbar – also erkennbar oder gekennzeichnet – sein müssen. 247 o. A.: Völkerrecht soll für Guerillas gelten. In: Die Welt (23.04.1977).
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humanitäre Kriegsvölkerrecht, dessen Zweck darin bestand, die Einhaltung der Menschenrechte in bewaffneten Konflikten sicherzustellen und insbesondere die Menschenrechte von Kriegsgefangenen zu schützen“248, erklärt der Jurist HansMichael Empell und erinnert daran, dass dieses Recht in den vier Genfer Konventionen vom 12. August 1949 kodifiziert wurde. Das Dritte Genfer Abkommen regelte den Schutz von Kriegsgefangenen. Mit der Konferenz über den Ausbau des humanitären Völkerrechts verbanden die Gefangenen aus der RAF die Hoffnung, als Kriegsgefangene der Bundesrepublik anerkannt zu werden. Dann hätten sie nicht mehr in regulären Haftanstalten, sondern in speziellen Lagern249 untergebracht werden müssen – unter internationaler Aufsicht und bei regelmäßiger medizinischer Betreuung durch das IRK. Laut Pieter Bakker Schut hätten sich die Gefangenen aber schon mit weniger zufrieden gegeben und „deutlich gemacht, daß […] sie in Gruppen von mindestens 15 Gefangenen aus der Stadtguerilla in einem oder mehreren Gefängnissen zusammengeführt“250 werden wollten. Anstelle von Marc Schreiber nahm sich der Angehörigen-Gruppe ein „Skandinavier“ an, dem sie ihr Anliegen gemeinsam erklärten. Man bestand „[…] darauf, daß es sich bei den Haftbedingungen auch um eine gravierende Verletzung der Menschenrechte handelte, weshalb das auch eine Sache für Schreiber sei.“ Der skandinavische UNO-Funktionär gab nach und ließ sich das an Schreiber adressierte Info-Paket aushändigen, wobei er versicherte, dass es ihm sobald wie möglich übergeben würde. Die Angehörigen waren damit nicht zufrieden, sprachen von einer „Farce“. Der Funktionär erwiderte ungerührt, dass auch bei der UNO „alles seinen bürokratischen Gang“251 zu gehen habe. Im Ergebnis landete das Info-Paket auf dem Tisch von Jakob Th. Möller, damals Chief of Communication Units der Abteilung Menschenrechte bei den Vereinten Nationen in Genf. Möller zögerte nicht lange und antwortete mit einem Brief an Klaus Croissant. Dessen Kanzlei diente auch als Anlaufstelle für Angehörige der RAF-Gefangenen. Der isländische Jurist erklärte: „[…] the appeal was delivered to this office by Ms. Beate Taufer on 27 April 1977, on behalf of a group of relatives of alleged political prisoners in the Federal Republic of Germany.” Frau Taufer habe ihn gebeten, sich mit der Antwort an Croissant zu wenden. Erwartete dieser nun eine Reaktion von Marc Schreiber, eine Einladung zu einem Gespräch oder irgendein anderes Entgegenkommen, so hielt Möllers Schreiben eine dicke Enttäuschung bereit. Der UNO-Funktionär hatte sich damit begnügt, Croissant die Kopien der wichtigsten Beschlüsse der Vereinten Nationen zu übersenden, die den Umgang mit „Mitteilungen über Menschenrechtsverletzungen“252 regelten. Aus den Papieren 248 EMPELL, Hans-Michael: Die Menschenrechte der politischen Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland. Völkerrechtliche Beiträge zum Kampf gegen die Isolationshaft. Köln 1995, S. 14. 249 Im englischsprachigen Originaltext der „Convention (III) relative to the Treatment of Prisoners of War” vom 12. August 1949 ist von der Unterbringung in „camps“ die Rede. Das Abkommen geht auf die Erfahrungen regulärer Kriege zurück, was sich auch im Sprachgebrauch bemerkbar macht. Das vollständige Vertragswerk ist auf der Website des Internationalen Roten Kreuzes einsehbar. Siehe: http://www.icrc.org/ihl.nsf/FULL/375?OpenDocument (Stand: 06. 11.2011). 250 BAKKER SCHUT, Pieter: Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion, S. 330. 251 Bericht einer Angehörigen zur Aktion in Genf, S. 2. 252 Brief von Jakob Th. Möller an Klaus Croissant vom 10.05.1977. In: HIS, RA 02/056,005. Möller sprach von „communications concerning alleged violations of human rights“.
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ging hervor, dass der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen 1959 festgelegt hatte, dass die UN-Menschenrechtskommission anerkennen müsse, dass sie keine Befugnis dazu besitzt, auf öffentliche Beschwerden, die die Nichteinhaltung oder Verletzung von Menschenrechten betrafen, mit eigenen Handlungen oder Maßnahmen zu reagieren.253 Mit einfachen Worten: Die Angehörigen hatten sich an das falsche Gremium gewandt. Die Aktion in Genf hatte jedoch noch eine Alternative eröffnet. Unter den Journalisten, die im Pressesaal des UNO-Hauptgebäudes auf die Angehörigen zugekommen waren, hatte sich auch ein hilfsbereiter Mitarbeiter der französischen Zeitung »Libération« befunden. Er wollte die Gruppe mit Michel Veuthey bekanntmachen. Der Schweizer Völkerrechtsexperte hatte 1976 ein Buch über die Bedeutung der Genfer Konventionen für Guerillakämpfer geschrieben und darin auch die RAF erwähnt.254 Veuthey arbeitete damals für das Internationale Rote Kreuz und nahm als Delegierter an der Genfer Konferenz teil. Ein Treffen zwischen ihm und der Angehörigengruppe kam allerdings nicht zustande. Dennoch behielt man im Auge, sich bei nächster Gelegenheit mit ihm in Verbindung zu setzen: „Auf jeden Fall ist auch dieser Veuthey eine Möglichkeit, wo man es versuchen sollte. Aber natürlich bald, vor dem 10. Juni, da ist die Konferenz zuende.“255 Wenige Tage, nachdem die Gruppe in die Bundesrepublik zurückgekehrt war, wurde mit Klaus Croissant und den deutschen Mitgliedern des IKV besprochen, sich noch einmal direkt an das IRK zu wenden. Am 16. Mai 1977 notierte eine Angehörige: „ich fände das schon gut, das bei dem internationalen roten kreuz zu versuchen, die doku mit den drei ordnern beschlüsse etc. denen vorzulegen mit der forderung nach einer internationalen untersuchungskommission für die situation der politischen gefangenen in deutschland.“256 Eine weitere Maßnahme, die die RAF gemeinsam mit ihren Anwälten ergriffen hatte, um die eigenen Haftbedingungen zu skandalisieren, waren die Individualbeschwerden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe bei der Europäischen Menschenrechtskommission (EMK) in Straßburg im Juli 1976. In ihren 253 Möller verwies auf die „Resolution 728 F (XXVIII) of the Economic and Social Council” vom 30. Juli 1959. Hier heißt es: „The Economic and Social Council […] approves the statement that the Commission on Human Rights recognizes that it has no power to take any action in regard to any complaints concerning human rights […].“ Als Anlagen fügte er bei: die „Resolution 1235 (XLII) of the Economic and Social Council“ vom 6. Juni 1967 sowie die „Resolution 1 (XXIV) of the Sub-Commission on Prevention of Discrimintation and Protection of Minorities“ vom 13. August 1971, die die Beschlüsse von 1959 offenbar nicht aufhoben oder abwandelten. Siehe: Ebd. Der vollständige Text der Resolution ist im Internet nachzulesen. Siehe: http://www.pfcmc.com/Depts/german/wiso/er1993-728f-xxviii.pdf (Stand: 06.11.2011). Im Jahre 2006 wurde die UN-Menschenrechtskommission aufgelöst. Sie machte Platz für den UN-Menschenrechtsrat, der im Rahmen von Sonderverfahren „Berichterstatter einsetzen und diese mit der Untersuchung der Menschenrechtssituation in bestimmten Staaten (country mandates) oder menschenrechtlich relevanter Themen (thematic mandates) betrauen“ kann. Siehe: GAREIS, Sven Bernhard: Der UN-Menschenrechtsrat: Neue Kraft für den Menschenrechtsschutz? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (Nr. 46, 2008), S. 15-21, hier: S. 18. 254 Vgl. VEUTHEY, Michel: Guérilla et droit humanitaire. Genf 1976, S. 223. Hier wird die RAF als Beispiel für die oftmalige Ähnlichkeit und Verwechselbarkeit terroristischer Gruppen mit herkömmlichen Gewaltverbrechern erwähnt. In einem Kapitel, das sich ausführlich dem Phänomen des Terrorismus und der Guerillagruppen widmet, erwähnt Veuthey die RAF nicht. Vgl. ebd., S. 134-160. 255 Bericht einer Angehörigen zur Aktion in Genf, S. 3. 256 Vermerk von Beate T. für die Mitglieder des IKV vom 16.05.1977. In: HIS, RA 02/011,010.
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Beschwerdebriefen rügten sie besonders die angebliche Kleingruppenisolation in Stammheim.257 Sie verstieß nach ihrer Auffassung gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), in welchem das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung von Gefangenen verankert ist.258 Die Antwort der EMK ließ lange auf sich warten. Erst nach dem Tod der drei Führungsfiguren der RAF schien Bewegung in die Sache zu kommen, als die Kommission sich mit der Bitte um eine Stellungnahme an die Bundesregierung wandte. Diese antwortete am 17. Januar 1978 und bezeichnete die Beschwerden als „unbegründet“259. Im Sommer 1978 entschied sich die Kommission schließlich, die Beschwerden zurückzuweisen. In ihrer Begründung betonte sie zwar, dass eine verlängerte Einzelhaft wie im Falle von Baader, Ensslin und Raspe „kaum wünschenswert ist, vor allem, wenn sich der Betreffende in Untersuchungshaft befindet“, allerdings lasse nichts darauf schließen, dass sie einer „Sinnesisolation im strengen Sinn“ unterworfen waren, „so wie sie durch eine wesentliche Verminderung der Anregungen der Sinnesorgane hervorgerufen werden kann.“260 Die Beschwerdeführer seien außerdem „keiner ‚geheimen‘ und ständigen Überwachung ausgesetzt“ gewesen und hätten auch lediglich eine „relative soziale Isolierung“ erdulden müssen. Die Kommission zeigte sich überzeugt davon, dass „im vorliegenden Fall zwingende Gründe dafür vorhanden waren […]“261. Die enttäuschenden Reaktionen aus Straßburg und Genf waren das eine, die Ergebnisse der UNO-Konferenz das andere: Am 8. Juni 1977 hatten sich die internationalen Verhandlungspartner auf einen Beschluss zum Kriegsgefangenenstatus geeinigt, der die Grundsätze von 1949 nicht antastete. Gefangenen Guerillakämpfern wurde lediglich ein Rechtsweg eingeräumt. Um den Kriegsgefangenenstatus zu erhalten, konnten sie ab sofort ein „juristisches Tribunal“ einfordern, das über die Vergabe des Status entschied.262 Ohne die Anerkennung als Kriegsgefangene galten für sie die grundlegenden Garantien zur Behandlung von Angehörigen einer Konfliktpartei, die ebenfalls auf der Konferenz definiert wurden.263 Mit diesem Resultat blieb den Angehörigen 1978 nur noch die Option offen, sich an das Internationale Rote Kreuz zu wenden. Die Hoffnung, dass sich das angekündigte 3. Internationale Russell-Tribunal mit den Haftbedingungen der Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen befassen würde, hatten sich bis dahin schon weitgehend zerschlagen – zu den Hintergründen später mehr.264 Einzig Amnesty International hatte begonnen, auf die Gefangeneninitia257 EMPELL, Hans-Michael: Die Menschenrechte der politischen Gefangenen, S. 18. 258 Die Europäische Menschenrechtskonvention trat am 3. September 1953 in Kraft. Sie wurde von allen Europaratsmitgliedern, also auch der Bundesrepublik unterzeichnet. 259 Schreiben des Verfahrensbevollmächtigten der Regierung des Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission für Menschenrechte vom 17.01.1978, S. 49. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019780117/01. 260 Bundesministerium der Justiz (Hg.): Entscheidung der Kommission für Menschenrechte. Juli 1978. Bonn 1978, S. 11. 261 Ebd., S. 24f. 262 Vgl. Art. 45 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I). Im englischsprachigen Originaltext ist von „judicial tribunal“ die Rede, in der deutschsprachigen Übersetzung schlichtweg von „Gericht“. Siehe: http://www.admin.ch/ch/d/sr/i5/0.518.521.de.pdf (Stand: 06.11.2011). 263 Vgl. Art. 75 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I). 264 Siehe Kap. VI.5.3.
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tiven zu reagieren und seinerseits Kontakt mit Verantwortlichen im Bundesjustizministerium aufgenommen. Dies führte zu der kuriosen Situation, dass am 5. Juni 1979, also nur einen Tag vor der Besetzung der Rotkreuzzentrale in Brüssel, ein Treffen zwischen Vertretern des Ministeriums und einer Delegation von AI stattfand. Gegenstand der Gespräche in Bonn-Bad Godesberg waren laut Protokoll „die Haftbedingungen für politisch motivierte Häftlinge in der Bundesrepublik Deutschland.“ Zu dieser Problematik hatte AI der Bundesregierung am 13. Februar 1979 ein Memorandum übersandt. Die Organisation drängte darauf, dass rasch Alternativen für die Haftformen „Isolationshaft und Kleingruppenvollzug“ gefunden würden. Die vier Vertreter des Ministeriums, darunter ein Staatssekretär, erklärten jedoch, „dass die politisch motivierten Häftlinge eine besondere Art von Kriminellen seien […].“265 Sie in größeren Gruppen zusammenzubringen, berge Gefahren, wie die Ereignisse in Stammheim bewiesen hätten. Die Bundesbeamten waren bestrebt, der Problematik die Schärfe zu nehmen. Sie sprachen von Übertreibungen und davon, dass die zuständigen Behörden versuchten, die Haftsituation „auf jede nur mögliche Weise zu erleichtern“. Doch oftmals weigerten sich die Gefangenen, mit ihnen zu kooperieren. Gerade bei dem Vorschlag, dass sie „mehr Kontakt mit nicht-politischen Gefangenen akzeptierten“, sei man auf entschiedene Ablehnung gestoßen. Die Bundesbeamten erklärten, dass die Bundesregierung bereit sei, Vertretern von AI die Gelegenheit zu geben, Haftanstalten zu besichtigen. Auf diese Weise könnten falsche Vorstellungen ausgeräumt werden. Die niederländischen Rechtswissenschaftler Douwe Korff und Alfred Heijder sowie der schwedische Gefängnisarzt Arndt Meyer-Lie, welche AI bei dem Treffen vertraten, nahmen das Angebot zur Kenntnis und kündigten an, es an das Exekutivkomitee von AI weiterzuleiten. Zugleich „drückten sie die Hoffnung aus, dass das Gleichgewicht von Sicherheit und humanitären Zielen im Strafvollzug […] erneut überdacht werde und mehr Möglichkeiten für soziale Kontakte geschaffen würden.“ Sie wiesen besonders auf die medizinischen Aspekte hin: „Isolation […] werde weltweit als medizinisches Problem anerkannt.“266 Dass die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen Kriminelle seien, bedeute nicht, dass ihnen gesundheitlich geschadet werden dürfe. Die AI-Delegierten weiteten ihre Kritik jedoch nicht aus und dankten den Vertretern des Justizministeriums abschließend für die „offene und freundliche Diskussion“267. Man einigte sich darauf, in beiderseitigem Kontakt zu bleiben. Dem Bonner Treffen folgte ein Briefwechsel zwischen Martin Ennals, dem Generalsekretär von Amnesty International, und den Justizministern der Länder. Auch der zuständige Minister im Bund, Hans-Jochen Vogel, schaltete sich in die Korrespondenz ein. Während Ennals geduldig appellierte, „Alternativen zu Isolationshaft und Kleingruppen-Isolation“268 zu schaffen, deuteten die Minister ein Entgegenkommen an, indem sie die „Fragen der Gestaltung der Haftbedingungen ter265 Bericht eines Treffens von Vertretern des Bundesministeriums der Justiz der Bundesrepublik Deutschland und einer Delegation von Amnesty International am 5. Juni 1979, S. 23. In: HIS, RA 02/059,005. 266 Ebd., S. 24. 267 Ebd., S. 25. 268 Brief von Martin Ennals an die Justizminister der Länder vom 02.08.1979. In: HIS, RA 02/059,005.
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roristischer Gewalttäter“ auf die Tagesordnung des Strafvollzugsausschusses der Länder setzten. Das Gremium traf im Oktober 1979 zu einer einwöchigen Sitzungsrunde zusammen. Am 14. Januar 1980 teilte der Staatssekretär im baden-württembergischen Justizministerium das Ergebnis dieser Gespräche mit: „Der Strafvollzugsausschuss hält an seiner Auffassung fest, dass Gefangene des vorgenannten Personenkreises weitestgehend in den Regelvollzug einzugliedern sind, wenn dem nicht unüberwindliche, in der Person des jeweiligen Inhaftierten liegende Hindernisse entgegenstehen.“ Dass die Justizbehörden möglicherweise eigenverantwortlich für gewisse Defizite in der Unterbringung und Behandlung der Gefangenen gewesen sind, wurde deutlich verneint: „Wenn dieses Ziel nicht oder noch nicht vollständig erreicht werden konnte, so haben dies die Gefangenen allein zu vertreten.“ In „sehr vielen Fällen“ seien erweiterte Kontaktmöglichkeiten von ihrer Seite „in eindeutiger Weise missbraucht worden“269. Abschließend unterstrich der Staatssekretär, dass die Haftbedingungen den geltenden Vorschriften „in vollem Umfang“ entsprächen und dass nicht die Ministerien, sondern die jeweils zuständigen Gerichte für die Anordnung der Haftbedingungen verantwortlich seien. Mit Blick auf den Gesundheitszustand der Gefangenen hielt der Staatsbeamte fest, dass die Justizverwaltungen eine „sachgerechte“ ärztliche Betreuung sicherstellten. Auch ihnen stellt er quasi einen Freibrief aus: „Soweit gesundheitliche Beeinträchtigungen aufgetreten sind, liegen die Gründe wiederum in dem Verhalten der Gefangenen. Ich brauche sie nur an die Durchführung von Hunger- und Durststreikmassnahmen erinnern […].“ Eine Notwendigkeit, die Gefangenen einer Untersuchung durch unabhängige Ärzte zu unterziehen, sei „nicht zu erkennen“. Ebenso wenig gebe es Gründe, die für die Zusammenarbeit der Behörden mit unabhängigen Gremien sprächen, „seien sie auch nur beratender Art.“270 In einem letzten Brief konnte Martin Ennals im Namen seiner Organisation nur Bedauern darüber äußern, „dass seine konstruktiven Vorschläge von den Ländern abgelehnt worden sind.“ An der Besorgnis über die Haftbedingungen in der Bundesrepublik hätte sich nichts geändert. Deshalb werde AI „die Frage der Isolation von Gefangenen in Hochsicherheitshaft in der Bundesrepublik Deutschland und anderswo […] in einer Vorlage […] an den Sixth United Nations Congress on the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders“271, der vom 25. August bis 5. September 1980 in Caracas stattfinden sollte, zur Sprache bringen. Für die Angehörigen waren die Bemühungen von Amnesty International eine Art Konkurrenzunternehmen. Die Organisation stellte immer wieder klar, dass sie weder „die spezifischen Forderungen der Gefangenen“, noch „irgendwelche Beteiligten vertritt“272. Sie reagierte damit auf eine prekäre Situation: Einerseits wurde von einer Gefangenenhilfsorganisation, die 1977 mit dem Friedensnobelpreis273 ausgezeichnet 269 Brief von Eugen Volz an Martin Ennals vom 14.01.1980, S. 1. In: HIS, RA 02/059,005. 270 Ebd., S. 2. 271 Brief von Martin Ennals an Eugen Volz vom 22.02.1980, S. 3. In: Amnesty International (Hg.): Amnesty Internationals Arbeit zu den Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 37-39. In dieser Broschüre sind sämtliche Briefe der Korrespondenz zwischen Martin Ennals und den Justizministern abgedruckt. 272 Brief von Martin Ennals an die Justizminister der Länder. 273 In der Begründung der Vergabe des Friedensnobelpreises an AI heißt es: „In den beinahe 30 Jahren, die seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen verstrichen sind, haben positive Kräfte in vielen Ländern dafür gekämpft, diesen Idealen nachzukommen. Aber die Welt war gleichzeitig Zeuge einer wachsenden Brutalität und Internationalisierung von Gewalt, Terrorismus und Folter. In dieser Situation hat
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worden war und dieses Jahr zum „Jahr des politischen Gefangenen“274 erklärt hatte, geradezu erwartet, dass sie auch für Gefangene in der Bundesrepublik eintrat. Andererseits wollte AI kein Risiko eingehen, seinen guten Ruf in Gefahr zu bringen, indem es sich dem Verdacht aussetzte, im Interesse der RAF zu agieren. „Die Sorge war nicht unberechtigt“, erinnert sich das langjährige AI-Mitglied Peter Lange, „denn dem eher konservativen Teil der Öffentlichkeit war die Organisation noch zu suspekt, um als völlig seriöser und glaubwürdiger Partner angesehen zu werden.“ Während des Deutschen Herbstes gab der Generalsekretär der deutschen AI-Sektion, Helmut Frenz, auch deshalb ein sehr resolutes Interview im Norddeutschen Rundfunk. „Es sei ‚absoluter Quatsch‘, von einem Faschismus in der Bundesrepublik zu sprechen. Nur Idioten könnten das Land in einem Atemzug mit Chile oder der Sowjetunion nennen. Man müsse deutlich aussprechen, daß Helmut Schmidt kein Pinochet und kein Breschnjew und die Zustände in der Bundesrepublik völlig andere seien.“ Allerdings schloss Frenzel mit der Bemerkung, „daß es in der Bundesrepublik zur Zeit eine Atmosphäre gebe, die die Grenze dessen erreiche, vielleicht schon überschritten habe, was in einer Demokratie zulässig sein sollte.“275 Die terminliche Überschneidung der Besetzung der Rotkreuzzentrale in Brüssel und des Bonner AI-Treffens ist unter diesen Umständen also kein dummer Zufall, sondern eher eine logische Konsequenz gewesen. Dennoch entstand für die Angehörigengruppe daraus kein unmittelbarer Nachteil. Sie nutzte die günstige Fügung, dass sich die Aufmerksamkeit internationaler Presse- und Rundfunkmedien seinerzeit auf Brüssel richtete: Einen Tag nach der Protestaktion standen nämlich die allerersten Europawahlen an. Vom 7. bis 10. Juni 1979 wurden in allen neun Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) die Vertreter für das Europaparlament direkt gewählt. Auslandskorrespondenten, politische Beobachter, alte Parlamentarier und ihre Nachfolger in spe kamen nach Brüssel. Und neben großen Teilen der außerparlamentarischen Linken in der Bundesrepublik,276 blickten auch Amnesty International ihre Kräfte dafür eingesetzt, den Wert des menschlichen Lebens zu schützen. Amnesty International hat den Menschen, die wegen ihrer Rasse, Religion oder politischen Überzeugung eingekerkert wurden, ihre praktische und unparteiische Unterstützung gegeben.“ Siehe: CLAUDIUS, Thomas/STEPAN, Franz: Amnesty International, S. 290. Zur Bedeutung des Nobelpreises für AI, vgl. ebd. auch S. 290-292. 274 Dirk Börner, damals Präsident es deutschen Exekutivkomitees von AI, erklärte dazu: „Nach vielen Kampagnen für spezielle Problemgebiete wird amnesty international deshalb im sechzehnten Jahr eine groß angelegte Kampagne starten, um für die eigenen Ziele in der ganzen Welt zu werben. Am 10. Dezember 1976, dem Tag der Menschenrechte, wird amnesty international das Jahr 1977 zum ‚Jahr des politischen Gefangenen‘ erklären. Diese neue Kampagne wird und muß amnesty international dem endgültigen Ziel näherbringen, das Peter Benenson vor 15 Jahren so bezeichnete: ‚erfolgreich Regierungen nachgiebig machen zu können‘.“ Siehe: BÖRNER, Dirk: Vorwort. In: Amnesty International (Hg.): Jahresbericht 1975/76. Bonn 1976, S. 1-4, hier: S. 3. Mit Beginn der Kampagne richtete AI eigens ein Büro mit Sitz in Luxemburg ein. Es wurde von Guy Binsfeld geleitet und hatte die Aufgabe, „AI weltweit bekannt zu machen. Im Laufe des Jahres des politischen Gefangenen sollten die AI-Gruppen in aller Welt möglichst viele Unterschriften sammeln, damit diese im Herbst 1977 in einer Petition der Vollversammlung der Vereinten Nationen vorgelegt werden konnten.“ Siehe: CLAUDIUS, Thomas/STEPAN, Franz: Amnesty International, S. 295. 275 LANGE, Peter: 1977 – ein entscheidendes Jahr für die Menschenrechte. In: ai-Journal (November 1997). 276 Unter ihnen vor allem Aktivisten der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung. Grüne Parteien und Listen hatten bundesweit Wahlkandidaten aufgestellt. Die deutschen Grünen stellten ihr Wahlprogramm im April 1978 in Brüssel vor. Außerdem fanden hier Gespräche „mit belgischen und
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viele Sozialisten und Eurokommunisten aus Benelux und Frankreich auf die „Kommissionshauptstadt“ – allerdings eher skeptisch als erfreut, denn es ging die Befürchtung um, dass nun das „Modell Deutschland“, mit seinen Markenzeichen Extremistenbeschluss und GSG9,277 auf die EG übertragen würde.278 „Unser Wort gilt in Europa“ verkündeten Schmidt und Brandt schließlich von den Wahlplakaten; das klang auch wie eine Drohung: „In den Augen der Nachbarn haben sich die Deutschen geradezu der Europa-Idee bemächtigt und zu ihrer eigenen Sache gemacht“, warnte »Der Spiegel« eine Woche vor der Wahl und kannte den Grund: Seitdem der französische Staatspräsident Giscard d‘Estaing und Kanzler Helmut Schmidt 1974 ihren „Europäischen Rat“ erfunden hätten – ein periodisch stattfindendes Gipfeltreffen der EG-Regierungschefs –, machten die beiden „unter sich aus, mit was sich die Brüsseler Eurokraten beschäftigen sollen.“ Vielen Wählern in den EG-Nachbarstaaten sei klar, dass gegen diese „Bevormundung der EG-Kommission […] nicht einmal ein starkes Europa-Parlament“279 ankommen würde. 3.3.2 Die „Kommission zum Schutz der Gefangenen und gegen Isolationshaft“ Die öffentliche Beachtung, die die Besetzung der Rotkreuzzentrale fand, wurde unter den genannten Vorzeichen sicherlich begünstigt. Sie machte sich vor allem darin bemerkbar, dass der Angehörigengruppe vonseiten einer Gruppe französischer Rechtsanwälte, Journalisten und Schriftstellern Unterstützung angeboten wurde.280 Schon am 12. Juni 1979 veranstalteten diese eine Pressekonferenz in Paris, auf der die aktuellen Forderungen der RAF-Gefangenen verlesen wurden. In der Erklärung zu ihrem siebten Hungerstreik hatten Klaus Jünschke, Günter Sonnenberg, Stefan Wisniewski und zwanzig weitere Gefangene unter anderem den Wunsch nach „Überwachung der Haftbedingungen durch internationale humanitäre Gremien/Organisationen“281 geäußert. Doch sie mussten sich ernsthaft fragen, wie dies angesichts der jüngsten Erfahrungen realisiert werden sollte. Für die Angehörigen kam nach dem gescheiterten Protest in Genf, der Absage der Europäischen Menschenrechtskommission und der Nichterteilung des Kriegsgebritischen Grünen sowie der italienischen und niederländischen radikalen Partei“ statt. Man beriet über gemeinsame Wahlkampfstrategien. Siehe: DIETZ, Thomas: Die grenzüberschreitende Interaktion grüner Parteien in Europa. Opladen 1997, S. 37. 277 Werde die Bundesrepublik in Europa um die „berühmte GSG9“ beneidet, so sei sie für den Extremistenbeschluss doch eher „berüchtigt“, stellt der Journalist Michael Haller in einem Vorbericht zur Wahl fest. Siehe: HALLER, Michael: Kommt Europas Einheit nun von selbst? In: Der Spiegel (04.06.1979). 278 Wie in Kap. III.2.3.3 bereits festgestellt werden konnte, nährten selbst Sozialdemokraten aus der Bundesrepublik diese Ängste. In der gemeinsamen Wahlplattform der sozialdemokratischen Parteien taucht der „Modell“-Gedanke aus dem Bundestagswahlkampf 1976 aber tatsächlich wieder auf. Hier heißt es: „Eine europäische Integration muß so erfolgen, daß sich Europa auf ein eigenständiges demokratisch-sozialistisches Modell hin entwickeln kann.“ Siehe: Confederation of Socialist Parties of the European Community: Wahlplattform des Bundes der Sozialdemokratischen Parteien der Europäischen Gemeinschaft. Angenommen vom Büro des Bundes am 6. Juni 1977. In: KARNOFSKY, Eva-Rose: Parteienbünde vor der Europa-Wahl 1979. Integration durch gemeinsame Wahlaussagen? Bonn 1982, S. 277-301, hier: S. 281. 279 HALLER, Michael: Kommt Europas Einheit nun von selbst? 280 Vgl. KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 108. 281 ID-Verlag (Hg.): Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Berlin 1997, S. 282.
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fangenenstatus durch die UNO nur noch infrage, selbst ein internationales Gremium zu initiieren. Wie sich nach der Aktion in Brüssel nämlich herausstellte, war auch das Internationale Rote Kreuz nicht für ein Engagement zur Verbesserung der Haftbedingungen zu gewinnen. Ihre Hoffnungen mussten darauf ruhen, dass die Pariser Pressekonferenz etwas bewirkte. Und sie wurden keineswegs enttäuscht. Mehrere der Konferenzteilnehmer suchten am 26. Juni 1979 die bundesdeutsche Botschaft in Paris auf und verliehen „ihrer Sorge um den Gesundheitszustand von 70 in der Bundesrepublik einsitzenden ‚politischen Gefangenen‘ Ausdruck“282. Der Marsch zur Botschaft hatte mittlerweile Tradition. Sie begann 1966 mit einer Demonstration für ein Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Damals waren 1.500 Pariser auf den Beinen. Zwei Jahre später fanden noch zweibis dreihundert den Weg in die Avenue Franklin D. Roosevelt. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke sorgten sie sich um die politischen Zustände im Nachbarland.283 Diesmal kamen nicht so viele. Dennoch kann der Protest vor der Botschaft als Gründungsakt eines Gremiums betrachtet werden, das sich zunächst „Viererkommission zum Schutz der politischen Gefangenen in Westeuropa“ nannte.284 Ihr gehörten neben französischen Publizisten auch Angehörige der Gefangenen aus der RAF an. An ihrer ersten größeren Tagung am 8. September 1979 nahmen offiziell Claude Bourdet, Mitbegründer des französischen Nachrichtenmagazins »L’Observateur«, Gérard Soulier, Rechtswissenschaftler und Historiker, Lord Anthony Gifford, britischer Rechtsanwalt, Jean Pierre Faye, französischer Philosoph und Schriftsteller, Georges Casalis, französischer Theologe und Pfarrer, und der italienische Psychiater Stefano Mistura teil. Die Angehörigen wurden vertreten durch Christa Cullen und Wienke Zitzlaff. Von ihrer Idee einer „antifaschistisch-demokratischen Front“, die sie noch im Juli zu Papier gebracht hatte, war ein wichtiger Punkt geblieben, den sie gleich zu Beginn der Tagung in Erinnerung brachte: Die Gefangenen erwarteten „nun von den Mitgliedern der Kommission, dass sie von ihnen besucht werden. Wir müssen heute klären, ob wir als Gruppe wirklich mit den Gefangenen zusammen uns gegen diese Haftbedingungen einsetzen wollen und wie wir das tun wollen.“ Zitzlaff schwebte weiterhin vor, die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen patenschaftlich zu betreuen. Anstelle der bundesdeutschen Linken sah sie nun die Chance, europäische Unterstützer für die Gefangenenbetreuung zu gewinnen: „So wie die französische Unterstützergruppe während des Hungerstreiks bei der Deutschen Botschaft vorstellig geworden ist, müssten auch in London, Rom und Amsterdam ähnliche Aktionen möglich sein.“285 Laut Protokoll zeigten sich Gérard Soulier und Lord Gifford aufgeschlossen gegenüber einer „Art Adoption“286 von Gefangenen. Stefano Mistura erinnerte aber daran, dass die Kommission ihre Arbeit aufteilen sollte: Neben den Gefangenenbesuchen müsse sie versuchen, „Gespräche mit Ministerien zu führen, um die Haftbedingungen zu diskutieren.“ Drittens sehe er ein wichtiges Ziel darin, aus den 282 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 108. 283 Vgl. SCHWARZER, Alice: Daniel Cohn-Bendit. In der Vergangenheit liegt die Gegenwart. In: Emma (Nr. 3, 2001). 284 Vgl. KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 108. 285 Protokoll Wienke Zitzlaffs von der Tagung der Internationalen Kommission zum Schutz der Gefangenen und gegen die Isolationshaft am 08.09.1979 in Paris, S. 1f. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019790903. 286 Ebd., S. 2.
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Haftbedingungen „in allen Ländern ein öffentliches Problem zu machen“287. Offensichtlich begriff er die Kommission als europaweit aktives Gremium, während Zitzlaff sich eher ein europaweites Agieren für die Gefangenen in der Bundesrepublik wünschte. Am Ende wurde beschlossen, die Arbeit zunächst auf die Gefangenenbesuche einzugrenzen, da die Kommission noch nicht groß genug sei, um juristische oder politische Wege einzuschlagen.288 Einziger Schritt in diese Richtung war ein Brief Jean Pierre Fayes und Claude Bourdets an den Bundesjustizminister HansJochen Vogel, in dem der Minister um einen Gespräch über die „Haftverhältnisse gewisser Häftlinge“289 gebeten wurde. Das Gremium hieß von nun an „Kommission zum Schutz der Gefangenen in Westeuropa und gegen Isolationshaft“ (KSGI). Seine deutschen Mitglieder hielten bis Jahresende 1979 vor allem Kontakt mit Monika Berberich, Gabriele Rollnik, Angelika G. und Gudrun S., die in der Berliner JVA Moabit in Hungerstreik getreten waren, um gegen den neuen Hochsicherheitstrakt in ihrer Anstalt zu protestieren. Außerdem meldeten sich Ronald Augustin, Angelika Speitel und Lutz Taufer mit Briefen bei der Kommission respektive bei Wienke Zitzlaff.290 Darin nahmen sie mehr oder weniger ausführlich zu den Plänen der Kommission Stellung. Alfred Klaus bestätigt in seinem Bericht, dass „einige ausländische Kommissionsmitglieder […] im Laufe des Jahres 1979 mehrmals die Genehmigung zum Besuch inhaftierter Terroristen“ erhalten hätten. Jedoch wären die zuständigen Behörden auf Grund deren „Voreingenommenheit“ und der „kritiklose[n] Wiederholung der Angriffe gegen die Justizbehörden“291 nicht bereit gewesen, ihnen weitere Genehmigungen zu erteilen. Mit ihren Restriktionen sorgten die Behörden dafür, dass die von der KSGI geplante patenschaftliche Betreuung der Gefangenen unmöglich wurde. Außerdem stärkten sie das Misstrauen, dass die ausländischen Kommissionsmitglieder der deutschen Justiz entgegenbrachten. Es entstand ja nun erst Recht der Eindruck, dass man bemüht war, die Zustände in den Haftanstalten zu verbergen. Am 5. November 1979 traf die KSGI in Rom zusammen. Dabei stand besonders Margrit Schiller im Mittelpunkt, die als ehemaliges RAF-Mitglied selbst eine mehrjährige Freiheitsstrafe verbüßt hatte. Sie trug einen Bericht über die Situation der Gefangenen vor und legte auch deren Auffassungen über die Funktion der KSGI dar: „als reaktion darauf, daß der staat die gefangenen außerhalb seiner eigenen gesetze stellt und ausnahmerecht schafft, entstand für die gefangenen die notwendigkeit, internationale instanzen bzw das völkerrecht in anspruch zu nehmen: also die forderung nach der genfer konvention zu einhaltung der menschenrechte, festgelegt von der uno. die arbeit der kommission verstehen wir in diesem zusammenhang, solange es noch keine internationale instanz gibt, die in den natoländern die einhaltung des völkerrechts untersuchen, fordern oder gar durchsetzen könnte.“
287 Ebd., S. 6. 288 Vgl. ebd., S. 9. 289 Brief Jean Pierre Fayes und Claude Bourdets an Hans-Jochen Vogel vom 17.09.1979. In: Ebd., S. 13f., hier: S. 14. 290 Vgl. Brief Ronald Augustins an die KSGI vom 03.10.1979, Brief Lutz Taufers an Wienke Zitzlaff vom 11.10.1979, Brief Angelika Speitels an Wienke Zitzlaff vom 21.10.1979. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019791003, 0019791011, 0019791021. 291 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 110.
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Anschließend mahnte Schiller die Kommissionsmitglieder dazu an, die Forderungen der Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen mit ihren Mitteln und Möglichkeiten zu unterstützen: die Zusammenlegung in Gruppen, die Abschaffung der „hochsicherheits- und toten trakte“, die Freilassung von Günter Sonnenberg und Irmgard Möller. Schiller schloss mit den Worten: „ich hoffe, ihr könnt den widerstand organisieren gegen die gleichschaltung europas nach dem modell deutschland unter der hegemonie des us-imperialismus.“292 Auf dem Londoner Treffen am 4. und 5. Januar 1980 referierte ein britischer Anwalt über die Haftbedingungen in der Bundesrepublik. Wie Klaus berichtet, habe er dabei behauptet, dass die Zustände auf den „klaren und überlegten Versuch“ hindeuten, dass „diejenigen, die im Gefängnis sind und ihre politische Ideologie beibehalten, […] zerstör[t]“ werden sollten. Die Kommission zog in Erwägung, eine Art Informationszentrum einzurichten, um die Missstände europaweit öffentlich zu machen. Auf der Londoner Pressekonferenz wurde erstmals auch die Lage von Gefangenen aus der Irischen Republikanischen Armee (IRA) erörtert „und der englischen Administration vorgeworfen, die Methoden des deutschen Strafvollzugs, insbesondere die ‚Isolationsfolter‘ nachzuahmen.“293 Am 28. und 29. März fand das nächste Treffen der KSGI statt. Tagungsort war das Transnational Institute in Amsterdam, eine Einrichtung der westeuropäischen Linken, die sich seit 1974 der wissenschaftlich-kritischen Analyse globaler Probleme verschrieben hat. Neben Claude Bourdet, Georges Casalis, Christa Cullen, Margrit Schiller und Wienke Zitzlaff nahmen mehrere neue Kommissionsmitglieder teil, insbesondere aus den Niederlanden. Außerdem waren aus der Bundesrepublik über fünfundzwanzig Angehörige und Unterstützer von Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen angereist. Die zweitägigen Diskussionen kreisten weitgehend um Fragen der Aufgabenverteilung. Aus dem abschließenden Protokoll ist ersichtlich, dass sich die Kommission stark darum bemühte, ihre Arbeit zu professionalisieren und langfristig zu koordinieren.294 Gerade aber die Aussicht, dass das Gremium keine kurzfristigen Ziele verfolgte, muss für die Gefangenen enttäuschend gewesen sein. Sie konnten auch im zweiten Jahr ihres Bestehens keine konkreten Ergebnisse erkennen. An ihren Haftbedingungen änderte sich nichts. Und noch ein weiterer Missstand trat ein: Mit der Professionalisierung der KSGI erhöhte sich in ihren Tagungen auch der Anteil von Programmpunkten, die die Koordinierung der eigenen Arbeit betrafen. Kurzum: Es wurde mehr über das Gremium gesprochen als über die Gefangenen. Dies kann vor allem die ausländischen Kommissionsmitglieder, für die die Problematik um die Haftbedingungen ohnehin kaum erfahrbar war, mehr und mehr davon abgehalten haben, sich zu engagieren. Klaus meint, dass ihr Engagement seit 1980 „nachließ oder sich in eine andere Richtung verlagerte“295. Auf der Tagung in Rom am 11. und 12. Juli 1980 stellte die Kommission dem entsprechend fest, dass „das gespräch mit politisch arbeitenden gruppen in anderen europ. ländern für die kommissionsarbeit vorrangig ist“. Gut möglich, dass sich die ausländischen Mitglieder hierbei bewusst oder unbewusst von der KSGI lösten. Ihre 292 Rede Margrit Schillers auf dem KSGI-Treffen im Rom am 05.11.1979, S. 4. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019791105. 293 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 111. 294 Vgl. Protokoll Willem de Haans zur Tagung der KSGI in Amsterdam vom 28./29.03.1980. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019800329. 295 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 111.
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Fokussierung auf die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen, ihr vorrangiger Bezug auf die Situation in der Bundesrepublik, waren ja von Anfang an umstritten gewesen. Einigkeit herrschte aber auch knapp drei Jahre nach dem Deutschen Herbst immer noch in der Frage nach der Todesursache von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe: So wurde im Tagungsprotokoll ausdrücklich festgehalten, dass man weiterhin „von liquidation oder eliminierung“ sprechen wolle. Der Tod der RAF-Spitze sei „teil des ausgearbeiteten programms zur vernichtung von widerstand/politischer identität“296 gewesen. Erstmals erwähnt wurden in diesem Zusammenhang auch die mehrjährigen Recherchen Christiane Ensslins. Die erfahrene Journalistin hatte nach eigenem Bekunden versucht, die Wahrheit über die Todesumstände ihrer Schwester zu ermitteln. Als unmittelbar Verwandte war es ihr möglich, „an Unterlagen ranzukommen“, in die sonst nur Justizbehörden Einsicht nehmen durften. In einem Interview mit der neomarxistisch-trotzkistisch orientierten »Neuen Arbeiterpresse« erklärte Ensslin im März 1980: „Nach […] zweieinhalb Jahren können wir sagen, daß sich unsere Zweifel nur bestätigt und verstärkt haben, und daß dieser angebliche Selbstmord, wie er von offizieller Seite dargestellt wird, so nicht gewesen ist.“ Der entscheidende Beweis für die Mordthese habe sich jedoch nicht finden lassen. Dennoch ginge es nun darum, der Öffentlichkeit klarzumachen, „dass dieser Mord tatsächlich möglich ist und vorbereitet wurde.“ Um dies zu erreichen, beabsichtigte Ensslin die gesammelten Informationen zu veröffentlichen. Jeder, „der einigermaßen Verstand im Kopf hat“, würde dann einsehen, „daß es so, wie es die Verantwortlichen darstellen, nicht stimmen kann.“297 Trotz dieser resoluten Ankündigung beschloss Ensslin später, die unvollendeten Recherchen samt ihrer Zwischenergebnisse weitgehend für sich zu behalten. In einem Beitrag für den Band »Der blinde Fleck« nahm sie 1987 dazu Stellung: Beide Seiten, Staat und Linke, hätten nur mit Desinteresse auf ihre Arbeit reagiert. Und das, obwohl ein letzter Beweis für ihre Mordthese „bei aller Gewöhnung an staatliche Schweinereien noch immer ein kleiner Sprengsatz“ für die Linke wäre. Ensslin hatte den Eindruck, dass die Bequemlichkeit des Vergessens vorgezogen werde. Bildhaft verglich sie ihre Rolle mit jener Don Quichottes: Er „meint, hier stimmt was nicht und geht mit einer Schleuder gegen Panzer an. Als Gespött.“ Ensslin hatte Indizien für beide Varianten zusammengetragen, konnte die These vom Mord wie die vom Selbstmord begründen. Dennoch: Die „Aussichten, Licht in dieses Dunkel zu bringen“ bezeichnete sie als „hoffnungslos“ und vermutete, dass 296 Protokoll zur Tagung der KSGI in Rom vom 11./12.07.1980, S. 2. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019800712. 297 o. A.: Zweifel an ‚Selbstmord‘ verdichten sich. Interview mit Christiane Ensslin. In: Neue Arbeiterpresse (21.03.1980). Mit „wir“ deutete Ensslin an, dass sie bei den Recherchen von verschiedenen Seiten Unterstützung erfahren hatte, insbesondere von einer Arbeitsgruppe in Köln. Laut Irmgard Möller war „in dieser Gruppe […] unter anderem auch Karl-Heinz Roth aktiv“ – ein Arzt und Historiker, der sich im SDS und später in anarchistischen Kreisen engagiert hatte. „In der Gruppe waren noch Leute aus dem Ruhrgebiet aktiv […]. Sie haben mir alle paar Monate Fragen gestellt, die ich, so gut ich konnte, beantwortet habe. […] Die Leute aus dieser Gruppe hatten auch Kontakt zu den Eltern von Gudrun [Ensslin]. Außerdem hatten die Mutter von Andreas [Baader] und die Verwandten von Jan [Carl-Raspe], die in der DDR lebten, noch jemanden mit der Ermittlung der Todesumstände hier beauftragt.“ Siehe: TOLMEIN, Oliver: RAF – Das war für uns Befreiung, S. 123. Eigenständige Recherchen strengte der Kommunistische Bund (KB) an. Sie mündeten in die Artikelserie „Das Wunder von Stammheim“, vgl. dazu u. a.: o. A.: Das ‚Wunder von Stammheim‘. In: Arbeiterkampf (Nr. 116, Oktober 1977).
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die Wahrheit „irgendwo im Krisenstab, in der kleinen oder großen Lage, in den diversen Beratungskreisen und Frühstücksrunden, kurz in H. Schmidts Führungsbunker liegt […].“ Genau in diesem „verminten Gelände“ haben Georg Bönisch, Klaus Wiegrefe, Stefan Aust und Helmar Büchel in den letzten Jahren wieder angefangen, nach Informationen zu graben. 3.4 Zusammenfassung Stammheim blieb in den Köpfen – mit diesem knappen Satz ließe sich die Entwicklung der Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen nach dem Deutschen Herbst überschreiben. Allerdings wäre damit nur etwas über die grundlegende Befindlichkeit der Aktivisten ausgesagt. Die weiteren behandelten Aspekte sollen jedoch keineswegs außer Acht bleiben: Zur inhaltlichen und politischen Ausrichtung, zur personellen Zusammensetzung und zum praktischen Erfolg der Initiativen lassen sich eine ganze Reihe zusammenfassender Aussagen treffen. Es scheint nahe liegend, mit der personellen Zusammensetzung zu beginnen, denn hier vollzogen sich die deutlichsten und folgenreichsten Veränderungen: Waren die Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen anfangs eng über die zuständigen Anwälte miteinander im Verbund und bis zum Deutschen Herbst stark auf die Forderungen der Stammheimer Gefangenen ausgerichtet, hoben sich danach zwei verschiedene Gruppen von Aktivisten immer deutlicher voneinander ab: Auf der einen Seite die Initiativen der Sympathisanten und der Unterstützer des bewaffneten Kampfs, so genannte „Antifas“. Auf der anderen Seite die Initiativen der Angehörigen. Hatten frühere Gefangeneninitiativen wie die Komitees gegen Isolationshaft noch Mitglieder und Helfer aus weiten Teilen des linken Spektrums gewonnen, begann im Herbst 1974 eine Ausdünnungsprozess, bei dem sich die Mehrheit der bisherigen Aktivisten, sowohl aus politischen wie auch aus persönlichen Gründen, von den Komitees verabschiedete. Inwieweit sie in andere Initiativen für „politische“ Gefangene, etwa die Roten Hilfen, abwanderten, ist im Rückblick schwer zu ermitteln. Fest steht, dass sich in den Nachfolgeinitiativen der Komitees die Wege jener trennten, die sich der RAF und dem bewaffneten Kampf insgesamt verbunden fühlten, und jener, die sich allein für die Gefangenen aus dieser und anderen bewaffneten Gruppierungen einsetzen wollten. Diese Zweiteilung geschah noch vor dem Deutschen Herbst und hing zum einen mit dem persönlichen Verhältnis zwischen den Aktivisten und den Gefangenen zusammen. Zum anderen ging ihr aber auch eine Grundsatzentscheidung voraus, welche die individuelle Lebensplanung jedes Aktivisten betraf: Entweder wollten sie bewusst am Rande der Illegalität agieren und damit früher oder später eine polizeiliche Verfolgung in Kauf nehmen. Oder sie verringerten dieses Risiko und entschieden sich, mit harmlosen Protestaktionen für Hafterleichterungen bei den Gefangenen einzutreten. Für die Angehörigen stellten sich die beiden letzten Fragen in Abhängigkeit von ihrem Alter. Während Geschwister und Ehepartner eher bereit waren, als Unterstüt-
298 ENSSLIN, Christiane: Alle Kreter lügen … In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck. Die Linke, die RAF und der Staat. Frankfurt a. M. 1987, S. 86-97, hier: S. 94-96. 299 Siehe Kap. III.3.1, S. 121f. und III.3.2, S. 129f.
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zer der RAF aktiv zu werden,300 trat der theoretische Fall, dass sich Eltern in die Illegalität begaben, in der Praxis nicht ein. Demzufolge arbeiteten auch in den Antifas keine Angehörigen mit. Umgekehrt aber beteiligten sich an der Arbeit der Angehörigengruppen auch Nicht-Angehörige und RAF-Unterstützer. So war beispielsweise Volker Speitel, zeitweise RAF-Mitglied, eine der acht Personen, die im April 1977 im Genfer Hauptgebäude der Vereinten Nationen protestierten.301 Auch Johannes Thimme, von dessen Mitwirken an der Besetzung der Belgischen Rotkreuzzentrale bereits die Rede war, unterhielt keine verwandtschaftlichen Beziehungen zu einem Mitglied aus der RAF oder einer anderen bewaffneten Gruppierung. Von der Grundsatzentscheidung, sich entweder für die RAF an sich oder gezielt für die Gefangenen aus dieser und anderen bewaffneten Gruppierungen zu engagieren, war auch die inhaltliche und politische Ausrichtung von Antifas und Angehörigen abhängig. Sich beide als geschlossene, einheitlich organisierte Initiativen vorzustellen, ginge jedoch an den Tatsachen vorbei. Im Gegenteil konnte gezeigt werden, dass die Antifas mehr waren als ein Rekrutierungspool für die RAF, sondern eher ein Sammelbecken für Linke bildeten, die am Rande ihres politischen Spektrums das Für und Wider des bewaffneten Kampfes abwogen, in der Problematik unentschieden waren, im Grundsatz aber darin übereinstimmten, die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik überwinden zu wollen. Ähnlich verhielt es sich mit den Angehörigengruppen. Sie vergaben ebenfalls keine Mitgliedsausweise und bildeten ebenso fragile „politische Zusammenhänge“, wie es seinerzeit hieß. Nach dem Wegfall des Büros Croissant waren ihre Verbindungen zu den RAF-Mitgliedern im Untergrund unterbrochen, während die Antifas gezielt von dieser Seite aus kontaktiert wurden. Dies verstärkte die Tendenz, dass sich die Angehörigen in ihrem Engagement einzig an den Bedürfnissen und Forderungen der Gefangenen orientierten, während die Antifas unter Einfluss der RAF gerieten, die das Engagement für die Gefangenen seit jeher als Teil des bewaffneten Kampfes begriff. Wie sich herausstellte, hatten gerade die Besetzer des dpa-Büros diese Denkweise verinnerlicht. Dem gegenüber erwiesen sich die Aktivitäten der Angehörigen in den Jahren 1977 bis 1980 als Versuche, ohne die bundesdeutsche Linke außerhalb der Bundesrepublik um Unterstützung zu werben und über internationale Organisationen Druck auf Politik und Justiz im eigenen Land auszuüben. In dieser Hinsicht vertieften sie die Bemühungen, die das „Internationale Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa“ (IKV) begonnen hatte. Nachdem ihnen auf diesem Weg bis 1979 kein greifbarer Erfolg beschieden war, gelang es einer Angehörigengruppe mittels der Besetzung der Belgischen Rotkreuzzentrale, die Bildung eines neuen Gremiums anzubahnen. Die „Kommission zum Schutz der Gefangenen und gegen Isolationshaft“ erfüllte schließlich zwei Funktionen: Sie gab den Angehörigengruppen einen, wenn auch eher provisorischen, institutionellen Rahmen. Und sie wandelte erstmals die wenig greifbare Solidarität prominenter Köpfe aus dem Ausland in konkrete solidarische Handlungen für die Gefangenen um: Anerkannte Menschenrechtsaktivisten wie Lord Gifford kamen zu Gefängnisbesuchen in
300 Frühestes Beispiel war Astrid Proll, die ihrem Bruder Thorwald Proll 1968 in die Gruppe um Andreas Baader und Gudrun Ensslin folgte. Auch Wolfgang Beer, Karl-Heinz Dellwo und Hanna Krabbe hatten Geschwister, die ihnen in die Illegalität folgten. 301 Nach Angaben von Christiane Ensslin am 05.07.2008 (s).
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die Bundesrepublik und äußerten sich auf Pressekonferenzen zu den Haftbedingungen.302 Wie aus den verschiedenen öffentlichen Verlautbarungen sowie anhand des Schriftverkehrs der Aktivisten aus Antifa- und Angehörigengruppen hervor ging, bestand trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie den Gefangenen geholfen werden kann, eine beachtliche Einigkeit in ihrem Urteil über das Verhalten staatlicher Institutionen und letztlich auch in ihrem eigenen Verhältnis zum Staat. Dass die These vom Mord in Stammheim unter ihnen als Faktum galt, war das eine. Auch Begriffe wie „Isolation“, „Vernichtungshaft“ oder „Vernichtungsstrategie“, mit denen die empfundene Repression in den Gefängnissen etikettiert wurde, gehörten auf beiden Seiten nach wie vor zum schriftlichen Vokabular der Aktivisten303 – obwohl oder gerade weil sie eng mit dem beständigen Foltervorwurf der RAF verknüpft waren. Das andere und zugleich die Vorbedingung für dieses tiefe Misstrauen gegenüber dem Staat war die Auffassung, dass es in der Bundesrepublik „Faschisierungs“-Tendenzen in Politik und Justiz gebe, die als „Modell Deutschland“ auf die Länder der EG übertragen werden könnten. Dass diese Auffassung von Antifas und Angehörigen geteilt wurde, belegen am deutlichsten die Stellungnahmen der dpaBesetzer sowie Wienke Zitzlaffs Papier zur Bildung einer „antifaschistisch-demokratischen Front“. Die späteren Protokolle der KSGI lassen erkennen, dass das antifaschistische Selbstverständnis auf Seiten der Angehörigen insgesamt aber eine untergeordnete Rolle spielte, zu Gunsten der ausgeprägten Betroffenheit mit den „Opfern der Faschisierung“:304 Die Bedürfnisse, der Schutz und die Individualität der Gefangenen standen im Vordergrund. Ausgehend davon setzten Angehörige und Kommissionsmitglieder ihr Engagement mehr oder weniger bewusst mit menschenrechtlichem Engagement gleich. Dieses Selbstverständnis fand Ausdruck in ihrer Suche nach Ansprechpartnern und Verbündeten bei der UN-Menschenrechtskommission, bei der Europäischen Menschenrechtskommission und beim Internationalen Roten Kreuz; und es wurde bestärkt durch den Zuspruch und die Anteilnahme, die die Aktivisten im Ausland erfuhren.305 302 Vgl. Protokoll der Pressekonferenz der Hamburger Anwälte und der KSGI am 15.12.1979 in Hamburg. In: IISG Rote Armee Fraktion Documents 0019791215. 303 Mündliche Quellen von Antifas und Angehörigen aus dem Untersuchungszeitraum liegen nicht vor. 304 Hierin sah Wolfgang Kraushaar in einem Aufsatz von 1978 „die Konstitutionsweise, auf die die einzelnen Folterkomittees […] zustandekamen und schließlich zum willfährigen Instrument der RAF werden konnten. Indem sich die Linke gutmütig, leichtfertig und innerlich schuldbewußt mit den ‚Opfern‘ identifiziert, macht sie sich selber zu potentiellen ‚Opfern‘“, so der Vorwurf des Politologen. Siehe: KRAUSHAAR, Wolfgang: Über die Instrumentalisierbarkeit der linken Moral, S. 43-50, hier: S. 44. 305 Eine gewisse Initialwirkung dürfte von der internationalen Solidarität ausgegangen sein, die die RAF-Gefangenen bei ihrem vierten Hungerstreik vom 29. März bis 30. April 1977 spürten. So erinnert sich Irmgard Möller, damals inhaftiert in der JVA Stammheim: „Es gab in dieser Zeit eine enorme internationale Solidarität: amnesty international hat sich eingeschaltet, hunderte Theologen, amerikanische, belgische, französische und englische Richter, Rechtsanwälte und Juraprofessoren unterstützten die Zusammenlegungsforderungen.“ Siehe: TOLMEIN, Oliver: RAF – Das war für uns Befreiung, S. 95. Abgesehen davon, dass diese Darstellung übertrieben sein könnte, belegt sie doch, dass die Gefangenen einen spürbaren Rückhalt im Ausland empfanden. Sie hatten den Eindruck, „daß sich gerade im europäischen Ausland viele Menschen, vor allem Intellektuelle für uns und gegen die Haftbedingungen und die Verfolgung, der wir
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Unterm Strich überwiegt nach den vorangegangenen Betrachtungen der Eindruck, die Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen seien in den Jahren 1978/79 weitgehend erfolglos geblieben. Gemessen an ihren Ansprüchen ist dies unbestreitbar: Sie hatten weder konkrete Verbesserungen für die Gefangenen erwirken können, noch die alarmierten internationalen Institutionen zu Maßnahmen bewegt. Abgesehen davon ging es den Initiativen jedoch auch um die Schaffung von Öffentlichkeit, um die mediale Präsenz ihrer Anliegen. Und in dieser Hinsicht haben sie mit den Protestaktionen in Frankfurt a. M. und Brüssel durchaus Erfolge verzeichnet. In Verbindung mit den wiederholten Hungerstreiks der RAF-Gefangenen kam so eine Amnestiedebatte innerhalb der undogmatischen Linken in Gang, die auf dem Gedanken fußte, „einen politischen Schlußstrich“306 unter den Deutschen Herbst und die Eskalation der Gewalt zu ziehen. In dem Band »Ein deutscher Herbst« 1978 heißt es dazu: „Eine Politik, die wirklich Zukunft will, muss den Bann lösen, der ganz prosaisch dieses Land geschlagen hat. Gespenster beherrschen die Szene. Tote können nicht ruhen. […] Gebt ihnen ihre letzte Ruhe und lasst die Gefangenen frei…“307 Etwas differenzierter sah es Rolf Bernstein. Als Beiträger für die zweite Nullnummer der »Tageszeitung«, die anlässlich der Frankfurter Buchmesse 1978 gedruckt wurde, plädierte er für „die Freilassung der etwa ein Dutzend politischen Gefangenen, bei denen klar ist, dass sie nach ihrer Freilassung ein Sicherheitsrisiko nicht darstellen‘.“308 Für die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen widersprachen solche Vorschläge und Erwägungen ihren politischen Erfahrungen: Die unterstellten Gemeinsamkeiten mit der außerparlamentarischen Linken, in die sich die Amnestierten hätten integrieren sollen, hat es für sie nicht gegeben.309 Außerdem wäre die Bedingung dafür gewesen, abzuschwören, den Widerstand aufzugeben. Genau das aber war das letzte, was die RAF 1979 wollte.310 Als weiterer Beleg dafür, dass das Engagement und die Anliegen der Gefangeneninitiativen von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, kann die Kampagne
ausgesetzt waren, engagiert haben.“ Dies trug sicherlich dazu bei, dass die Gefangeneninitiativen in der Folgezeit vonseiten der Gefangenen ermutigt wurden, sich verstärkt international für sie zu engagieren. Siehe: Ebd., S. 105. 306 COBLER, Sebastian: Menschenrechte für politische Gefangene. In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck, S. 161-164, hier: S. 164. 307 Verlag Neue Kritik (Hg.): Ein deutscher Herbst. Zustände, Dokumente, Berichte, Kommentare. Frankfurt a. M. 1978, S. 14-16, hier: S. 15. 308 Zit. nach: HARTUNG, Klaus: Die Amnestiedebatte. In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck, S. 160-181, hier: S. 160. In dem Band äußert sich auch der Sozialwissenschaftler Wolfgang Pohrt zum Vorschlag einer Amnestie. Er gab auch bei anderer Gelegenheit unbekümmert zu, dass ihn mit den Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen „eine gemeinsame Vergangenheit und ein gemeinsames Ziel verband […]“. Siehe: BITTERMANN, Klaus: Der intellektuelle Unruhestifter. Zu Wolfgang Pohrts 60. Geburtstag. In: Junge Welt (09.07.2005). Christiane Ensslin sieht Pohrt als einen der wenigen Fürsprecher der Amnestie an, die keine eigenen Interessen damit verfolgten: „Nur [er] hatte ein wirklich politisches Interesse daran […] und wollte, dass die ehemalige APO die Verantwortung übernehmen soll.“ Christiane Ensslin am 20.04.2010 (s). 309 Vgl. TOLMEIN, Oliver: RAF – Das war für uns Befreiung, S. 153; vgl. auch S. 151f. 310 So hoben die RAF-Gefangenen in ihrer Hungerstreikerklärung vom 20.04.1979 ausdrücklich hervor, auf keine „Resozialisierungsdeals“ mit der Bundesregierung eingehen zu wollen. Vgl. ID-Verlag (Hg.): Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, S. 281.
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gegen Hochsicherheitstrakte betrachtet werden, die quer durch das linke Spektrum bis hinein in „liberale Kreise“ reichte. Ausgangspunkt waren die Umbaumaßnahmen in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit, wo seit September 1978 Raum für 27 „Sicherheitshaftplätze“311 geschaffen wurde. Zudem stand der Neubau einer Frauenhaftanstalt in Berlin-Plötzensee an, in der sechzig vergleichbare Zellen entstehen sollten. Der »Pflasterstrand«, Szenezeitschrift der Frankfurter undogmatischen Linken, beschrieb die „H-Blocks“312 folgendermaßen: „Der Hochsicherheitstrakt ist ein total abgeschlossenes Gefängnis innerhalb des Gefängnisses. […] Die Zellen werden etwa 9 qm groß sein – sterile, kahle Betonkäfige. Zum besseren Verständnis stellt Euch vor, Ihr seid über lange Zeit in einem Badezimmer der Neubau-Beton-Silos eingesperrt!“313 Eine Initiativgruppe gegen Hochsicherheitstrakte verwies in einem Informationsblatt auf die konkreten Folgen für den Gefängnisalltag: „Die baulichen Eigenheiten dieses ‚Hochsicherheitstraktes‘ […] verhindern jede Möglichkeit, Gefangene aus dem Normalvollzug am Fenster, auf den Fluren oder beim Hofgang zu sprechen, ja, diese überhaupt zu Gesicht zu bekommen.“314 Ergänzend sei zuletzt noch auf eine Begebenheit hingewiesen, die sich im UNMenschenrechtsausschuss zutrug. Mit der Gründung des Gremiums und der Unterzeichnung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte 1976 hatten sich die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, dem Menschenrechtsausschuss regelmäßig Berichte über die Menschenrechtssituation in ihrem Land zu liefern. Erstmals kam die Bundesrepublik dieser Pflicht im November 1977 nach. Ihr Bericht wurde auf der 92. Sitzung des Menschenrechtsausschusses am 24. Juli 1978 diskutiert. Neben vielen lobenden Worten richteten die Mitglieder des Ausschusses auch einige kritische Fragen an die Vertreter der Bundesregierung. Dabei zeigte sich, dass man in New York und Genf sehr gut über die Situation der „politischen“ Gefangenen in der Bundesrepublik informiert war. Zum Beispiel fragte ein Mitglied des Gremiums, unter Berufung auf Fälle, die der Europäischen Menschenrechtskommission in Straßburg vorgelegen hatten, wie lange die Untersuchungshaft in der Bundesrepublik normalerweise dauere. Wie würden Personen gegen eine unangemessen lange Untersuchungshaft geschützt? Wie oft würde der Maximalzeitraum von sechs Monaten dabei überschritten?315 Auch die „Besonderheiten der Inhaftierung“316, die die Bundesregierung in ihrem Bericht andeutete,317 kamen zur Spra311 KLAUS, Alfred: Aktivitäten und Verhalten inhaftierter Terroristen, S. 120f. 312 So wurden vergleichbare Zellentrakte in nordirischen Haftanstalten genannt, die für Gefangene aus der IRA vorgesehen waren. 313 RAABE, Rudolf: Wie das BKA sich seine Arbeitsplätze sichert. In: Pflasterstrand (Nr. 64, Oktober 1979). 314 Initiativgruppe gegen Hochsicherheitstrakte: Information über die ‚Hochsicherheitstrakte‘ in Celle und Berlin (Informationsschreiben, September 1979). In: HIS, RA 02/060,013; vgl. auch: Initiative gegen die Hochsicherheitstrakte, Rote Hilfe, Westberliner Knastgruppen, Bereich Demokratische Rechte der Alternativen Liste, Öffentlichkeitsausschuß 2. Juni Prozeß (Hg.): Hochsicherheitstrakt. Kein Knast im Knast. Berichte, Materialien, Dokumente. Berlin 1979. Für eine detaillierte Beschreibung zum Innenleben der Trakte, vgl. DELLWO, Karl-Heinz: Kein Ankommen, kein Zurück. In: HOLDERBERG, Angelika (Hg.): Nach dem bewaffneten Kampf, S. 97-130, hier: S. 126f. 315 Vgl. International Covenant on Civil and Political Rights (Hg.): Yearbook of the Human Rights Committee. 1977-1978. Volume I: Summary records of the meetings of the first to the fifth sessions. New York 1986, S. 319. 316 Vgl. ebd., S. 320. Im Originaltext heißt es: „inherent features of imprisonment.“
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che: Wie würden signifikante Beschränkungen wie die Kontaktsperre gerechtfertigt?318 Waren sie mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar? Weil die Vertreter der Bundesregierung nicht auf alle Fragen ausreichend antworten konnten, stellten sie am Ende der Sitzung schriftliche Zusatzinformationen in Aussicht. Laut einer Gruppe von Rechtsanwälten und Europaparlamentariern habe der UN-Menschenrechtsausschuss diese später mehrfach angemahnt, ohne, dass die Bundesregierung darauf reagierte: „Sie hätte spätestens in ihrem zweiten (umfassenden) Bericht auf diese Fragen eingehen müssen. Dieser Bericht war bereits am 3.8.1983 fällig, die Bundesregierung hatte also 5 Jahre Zeit zu seiner Abfassung. Sie versprach später dessen Vorlage für das Frühjahr und dann für den Herbst 1984. Dennoch liegt dieser Bericht bis heute [Sommer 1985, Anm. M. M.] nicht vor.“319 Die Juristen und Politiker wiesen in ihrer Dokumentation außerdem darauf hin, dass die Bundesregierung die im UN-Menschenrechtsausschuss geäußerte Kritik nicht an die Öffentlichkeit gebracht habe. Damit missachtete sie eine entsprechende Empfehlung des UN-Menschenrechtsausschusses an die Vertragsstaaten Auch wenn es keine Belege dafür gibt,320 dass zwischen den unbequemen Fraugen an die Bundesregierung und dem langjährigen Engagement der Gefangeneninitiativen ein direkter Zusammenhang bestand, konnten die Aktivisten den Druck des UN-Menschenrechtausschusses zumindest als moralischen Erfolg für sich verbuchen. Wie der Jurist Hans-Michael Empell berichtet, hätte sich daraufhin eine Arbeitsgruppe321 gegründet, die dem UN-Gremium Anfang der Achtziger Jahre eine zweite Dokumentation über die Haftbedingungen „politischer“ Gefangener in der Bundesrepublik vorlegte. „Auf der Grundlage dieser Informationen formulierte der
317 Vgl. Document CCPR/C/1/Add. 18. Federal Republic of Germany. Initial Report. In: International Covenant on Civil and Political Rights (Hg.): Yearbook of the Human Rights Committee. 1977-1978. Volume II: Documents of the first to fifth sessions including the reports of the Committee to the General Assembly. New York 1986, S. 140-156, hier: S. 145f. 318 Vgl. International Covenant on Civil and Political Rights (Hg.): Yearbook of the Human Rights Committee. 1977-1978, S. 320. 319 Vgl. RAMBERT, Bernard/BINSWANGER, Ralf/BAKKER SCHUT, Pieter u. a. (Hg.): Todesschüsse, Isolationshaft, Eingriffe ins Verteidigungsrecht. Kritische Anmerkungen zu dem Bericht der Bundesrepublik Deutschland an den UN-Menschenrechtsausschuss vom November 1977. 2. erw. Auflage. o. O. 1985, S. 3. 320 Als inoffizielles Mitglied der Internationalen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Todesumstände Ulrike Meinhofs (IUK) gelangte der Ostberliner Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul an Unterlagen zum Stammheim-Prozess sowie zu den Haftbedingungen der RAF-Gefangenen. Für die SED-Führung hatten diese Unterlagen politische Bedeutung. Hätte ihr die Bundesregierung auf internationalem Parkett Vorwürfe wegen ihres Umgangs mit Dissidenten gemacht, hätte sie diese mit möglichen Hinweisen auf Menschenrechtsverstöße der bundesdeutschen Justiz kontern können. Vgl. FÖRSTER, Andreas: Junge, idealistische Kämpfer. In: Berliner Zeitung (01.09.2007). Wie Christiane Ensslin am 10.04.2010 schriftlich mitteilte, habe Kaul, in seiner Tätigkeit für die IUK, den UN-Menschenrechtsausschuss im Auftrag der Stammheimer Gefangenen über deren Haftbedingungen informiert. Die betreffenden Unterlagen müssten sich in den Beständen der BStU befinden. Sie wären der Beleg dafür, dass es doch einen direkten Zusammenhang zwischen den kritischen Fragen an die Bundesregierung und der RAF bzw. den Initiativen für RAF-Gefangene gab. 321 Wer dieser Arbeitsgruppe angehörte, ob auch Angehörige der Gefangenen aus der RAF darunter waren, ist nicht bekannt. Laut einer schriftlichen Auskunft Empells vom 30.04.2010 legen die Beteiligten bis heute Wert darauf, anonym zu bleiben.
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Ausschuss dann im Jahre 1986 erneut Rügen an die Adresse der Bundesregierung, die nun sehr viel deutlicher ausfielen als 1978 […]“322, meint Empell. Entscheidend für die kritische Haltung des UN-Menschenrechtsausschusses dürfte damals aber die Tatsache gewesen sein, dass die Bundesrepublik noch immer nicht die Anti-Folter-Konvention323 der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1984 unterzeichnet hatte. Auch AI beklagte sich über die Verzögerung und warnte die Bundesregierung deshalb eindringlich vor „einer Abkehr von der bisherigen Politik“, schließlich stünde die Konvention „im Einklang mit anderen internationalen Normen“324. Grund für die Zurückhaltung der Bundesregierung war allerdings nicht, wie Empell impliziert, die Situation in den Haftanstalten. Der Regierung Kohl ging es um etwas anderes: Sie hatte Bedenken, dass die Konvention einen zusätzlichen Anreiz für Asylsuchende darstellen könnte.325 Kurz vor der Deutschen Einheit, am 1. Oktober 1990, setzte sie ihre Unterschrift dann doch noch unter das Abkommen. Wenige Monate zuvor war bereits das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe für die Bundesrepublik verbindlich geworden.326
322 EMPELL, Hans-Michael: Die Menschenrechte der politischen Gefangenen, S. 20. 323 Die Konvention ergänzt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die Genfer Konventionen von 1949 und deren Zusatzprotokolle von 1977, indem sie genau definiert, was unter „Folter“ zu verstehen ist. Sie regelt ihre Verhinderung, ihre Verfolgung und ihre Bestrafung. 324 IHLAU, Olaf/HIELSCHER, Hans: Wir sind die Gewerkschaft der Unterdrückten. Gespräch mit Thomas Hammarberg. In: Der Spiegel (29.09.1986). 325 Vgl. ebd. 326 Das Übereinkommen ist eine Erweiterung des Folterverbots, das in der EMRK von 1950 verankert ist. Es regelt und expliziert die Verhinderung von Foltermaßnahmen. Siehe: http://www. humanrights.ch/de/Instrumente/UNO-Abkommen/Folter/index.html (Stand: 06.11.2011).
V. Ausreise aus dem „Modell Deutschland“ Der TUNIX-Kongress „Wenn du mich fragst, diese Heuchelei halt’ ich nicht länger aus./Wir packen uns’re sieben Sachen und zieh'n fort aus diesem ehrenwerten Haus.“ „EIN EHRENWERTES HAUS“ – TEXT: MICHAEL KUNZE – MUSIK: UDO JÜRGENS – JAHR: 1974
1. D IE LINKE H ERBSTDEPRESSION 1977 UND IHR G EGENMITTEL Das erste der drei großen Protestereignisse der Linken nach dem Deutschen Herbst kam buchstäblich beim Fußball spielen ins Rollen: Auf den Wiesen hinter der Berliner Kongresshalle traf sich seit Mitte der Siebziger Jahre jeden Samstag eine Gruppe von Studenten der Freien Universität Berlin (FU) zum Kicken. Die meisten von ihnen verstanden sich als Spontaneisten oder kurz: Spontis. Sie fühlten sich als undogmatische Linke, hielten weder etwas von der strikten Organisationsweise der K-Gruppen, noch von dem Personenkult um die prominenten Köpfe der 68er-Generation. Jemanden wie Rudi Dutschke oder Bernd Rabehl betrachteten sie als Relikte einer anderen Zeit: „Wir waren anders drauf als die […]“, erinnert sich Johannes Eisenberg, der damals auch zu den Fußballern gehörte. Die 68er seien „immer mit Anzug zur Demo gegangen“ und hätten ganz normale bürgerliche Karrieren angestrebt. Als Sponti in Lederjacke hätte man aber weder Lehrer werden wollen, noch sei man in die Betriebe gegangen, „um Gewerkschaftsgruppen zu bilden. Eigentlich wollten wir Spaß, unser Ding machen: Undogmatische Linke, das bedeutete auch hedonistische Linke“1, so Eisenberg.
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REICHERT, Martin: ‚Wir waren anders‘. Interview mit Jony Eisenberg. In: Die Tageszeitung (25.01.2008). Der Rechtsanwalt spricht in dem kurzen Interview viele Dinge an, die Reinhard Mohr einmal als charakteristisch für die so genannte Generation der „78er“ bezeichnet hat. Demnach seien diese „zu spät zur Revolte der sechziger Jahre [gekommen, Anm. M. M.] und standen dann, in den Achtzigern, vor den verschlossenen Türen der reformierten Gesellschaft, die sie gar nicht zu brauchen schien. […] Anders als die ‚Alt-68er‘ und die postmodernen ‚Neokids‘ haben die 78er keine politisch oder kulturell griffige Symbolik entwickelt, die sie auf Anhieb identifizierbar machte. Sie verfügten über kein Label, kein Erkennungszeichen. Sie waren weder Revolutionäre noch Punks, weder Barrierehelden noch Computerfreaks, weder Theoretiker noch Abenteurer. Unter ihnen gab es so wenige Prominente wie Provokateure.“ Siehe: MOHR, Reinhard: Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 1992, S. 9f.
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Auch die RAF gehörte für sie in die Kategorie ’68. Und dennoch standen ihr einige aus der Gruppe nicht emotionslos gegenüber: Harald Pfeffer und Peter Hillebrand hatten sich längere Zeit in Westberliner Gefangeneninitiativen engagiert, vor allem in der Roten Hilfe Westberlin und im Komitee „Freiheit für Katharina Hammerschmidt“, das sich für das in Haft erkrankte RAF-Mitglied einsetzte. Mit dabei seien dort unter anderem Tilman Fichter und Götz Aly gewesen. Fichter hatte bis 1970 dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) angehört und war danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU untergekommen. Später arbeitete er für den SPD-Parteivorstand. Auch Aly gehörte zu den 68ern. Er war nach einer mehrjährigen Tätigkeit als Heimleiter in Berlin-Spandau an die FU gegangen, um im Fach Politikwissenschaft zu promovieren. Aus der Roten Hilfe stiegen alle vier etwa Mitte der Siebziger Jahre aus. Für Harald Pfeffer und Peter Hillebrand ein konsequenter Schritt: Die Gruppe sei zwar „ein undogmatisches Forum“ und „eine gute Schule“ gewesen, aber letztlich gab das Vorgehen der RAF für sie den Ausschlag: Ab 1976 zeichnete sich ab, dass die bewaffnete Gruppierung „keine Politik mehr machte, sondern nur ihre Gefangenen befreien wollte.“2 Pfeffer arbeitete danach noch eine Weile für das »Info Berliner undogmatischer Gruppen« (InfoBUG), einer Wochenzeitschrift, die sich mit den politischen Ideen und dem Lebensstil der radikalen Linken auseinandersetzte und gelegentlich Erklärungen der RAF, der Bewegung 2. Juni und der Revolutionären Zellen abdruckte. 1977 wurde das Info-BUG deshalb verboten.3 Der interessierte Blick auf die RAF hing eng mit der für Spontis nach wie vor ungelösten Gewaltfrage zusammen: Sie glaubten nicht recht daran, dass eine Gesellschaft gewaltfrei verändert werden konnte, sparten jedoch auch nicht mit Kritik am Konzept des bewaffneten Kampfes.4 Vor diesem Hintergrund ist verständlich, weshalb sich der Deutsche Herbst so stark auf ihr Gemüt legte: „[…] irgendwo zwischen Stammheim und Mogadischu hatten sich unsere Träume aufgelöst“, erinnert sich Bruno Gmünder, seinerzeit bei der Roten Hilfe München. „Und jetzt öffneten sich unsere Augen: Die ganze Richtung war falsch gewesen, wir brauchten eine Kurskorrektur.“5 Für Ernüchterung und Enttäuschung sorgten vor allem der 2 3
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So im Gespräch mit dem Autor am 23.04.2009. Das »Info-BUG« wurde seit 1974 von undogmatischen Linken, einer Gruppe so genannter „Agit-Drucker“ hergestellt und verbreitet, bis diese im September/Oktober 1977 verhaftet wurden. In der Anklageschrift wurde ihnen das Werben für und die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nach §129a vorgeworfen. Inoffiziell erschien ihr Blatt noch mit so genannten „Konspi-Nummern“ bis zum Frühsommer 1978. Danach wurde es vom »BUGInfo« abgelöst, welches ebenfalls durch Ermittlungsverfahren und Prozesse zur Aufgabe gezwungen wurde. Beispielhaft die Stellungnahme einer Berliner Sponti-Gruppe zu den Ereignissen des Deutschen Herbstes: „in phasen der revolutionären aktivität des ganzen volkes – kann es tödlich sein, keine gewalt anzuwenden (siehe chile 1973). aber in phasen relativer ruhe und saturiertheit ist es tödlich, gewa1t anzuwenden (siehe brd 1977) […]. daß jetzt ein rentnerflugzeug mit volk, du und wir, aus der deutschen ferienkolonie entführt wurde, das aber ist kriminell. […] wenn der man auf der straße um seinen fernseher, gar um sein leben bangen muß, dann ist euer kampf überhaupt nicht mehr unser kampf! […] wenn ‚ihr‘ mit ‚uns‘ diskutieren wollt, dann kommt als genossen an unseren tisch der kritik und selbstkritik, wenn ihr aber nicht kommen wollt, tretet aus unserem blickfeld, denn die revolution braucht auch im nebel freie bahn.“ Siehe: Gruppe Lebt auf: Hirtenbrief. Kein Nichts, nicht hier und nirgendwo! Kein Terror, nicht ihr und sowieso! In: Info-BUG (Nr. 177, Oktober 1977). o. A.: Wir waren alle Tunix! In: Die Tageszeitung (25.01.2008).
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kaltblütige Mord an Hanns Martin Schleyer und die Flugzeugentführung nach Mogadischu. „Die Spirale hatte sich hochgedreht. Nun war die Sache endgültig aus dem Ruder gelaufen“6, sahen Harald Pfeffer und Peter Hillebrand damals ein. Spätestens jetzt „musste auch dem Letzten klar geworden sein, dass mit Gewalt nichts zu machen war […]“7, unterstreicht auch Mathias Bröckers. Als politisch links orientierter Student empfand er die Konstellation von Ereignissen und Entwicklungen im Herbst 1977 in doppelter Weise bedrückend: Das gesamte linke Spektrum befand sich seiner Ansicht nach in einer Sackgasse. „Die theoretischen Konzepte des SDS und der Achtundsechziger waren so gescheitert wie der marxistische Dogmatismus der K-Gruppen, die Versuche, das Proletariat über Betriebsarbeit zum Klassenkampf zu führen, oder der ‚lange Marsch durch die Institutionen‘.“ Hinzu kam die „Parole ‚Modell Deutschland‘, mit der die regierende SPD 1978 ihre Politik verkaufte.“ Bröckers empfand es als „Hohn“, die deutliche Zunahme von Repression, wie er sie erlebte, anderen Staaten zur Nachahmung zu empfehlen: „Schon ein paar Äußerlichkeiten, die auf Nichtkonformität mit dem ‚Modell Deutschland‘ schließen ließen, reichten damals, um als potenzieller Terrorist zu gelten. Und es langte, zur Demo zum AKW Brokdorf zu fahren, um den martialisch bewaffneten Polizeistaat in Aktion zu erleben: Zehntausend Polizisten und Schützenpanzer der Bundeswehr bewachten einen Bauplatz.“
Harald Pfeffer möchte dieses Bild im Rückblick nicht so einseitig stehen lassen: Zwar sei Brandts Reformprojekt enttäuschend verlaufen und unter Schmidt der regulatorische und entmündigende Staat durchgesetzt worden. „Aber die zehn Jahre Repression [seit 1968, Anm. M. M.] waren ja auch von der Linken provoziert. Eine Art Selbstbehinderung, denn es boten sich bald keine Emanzipationsmöglichkeiten mehr.“ Auch die Eskalation der Gewalt sei nicht allein vom Staat forciert worden, sondern Resultat eines gegenseitigen Hochschaukelns gewesen. „Letztendlich muss man sagen, dass der Staat weniger gemordet hat als die Linke“9, meint Pfeffer. Wer diese Rechnung schon damals aufmachte – und das galt für viele Spontis –, der sehnte sich nach einem Ausweg aus der Gewaltspirale; „weder Staat noch RAF“ hieß die Devise.10 Mit dem Deutschen Herbst und seiner politisch wie massenmedial vermittelten Zuspitzung der Gegensätze, des „Wir oder sie“11, schien dieser Ausweg versperrt. Die Spontis plagte deshalb die große Sorge, „wie es mit der Verfolgung und Unterdrückung von Staatskritik weitergeht.“12 „Wir fragten uns, was nun überhaupt noch möglich ist“13, erinnert sich Renée Zucker, und meint den politischen Spielraum der Linken. Niemand habe gewusst, ob und wie man auf die Situation politisch reagieren sollte.
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Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). BRÖCKERS, Mathias: Gegenmodell Deutschland. 30 Jahre TUNIX-Kongress. In: Die Tageszeitung (25.01.2008). Ebd. Harald Pfeffer am 23.04.2009 (m). Vgl. MOHR, Reinhard: Zaungäste, S. 34f. Vgl. BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren. Frankfurt a. M. 2008, S. 325. Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). Renée Zucker am 03.03.2009 (m).
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Als einfaches „Hippiemädchen aus der Landkommune“ war die heutige Schriftstellerin in den Siebziger Jahren nach Berlin gezogen, um ein neues Kapitel aufzuschlagen: „[…] ich fand die Hippies immer ein bisschen doof, geistig zurückgeblieben. Aber die Politischen fand ich auch doof, weil die so schrecklich rigide waren.“14 Zucker suchte einen Mittelweg und entdeckte die lockeren Zusammenhänge der Spontiszene für sich: „Wir hatten in Westberlin drei Kneipenkollektive. Dort traf man sich.“15 Den Fußballern aus dem Tiergarten begegnete sie allerdings erst 1977, in den zwei politischen Buchhandlungen, die es in Berlin-Charlottenburg gab.16 Eine davon lag am Savignyplatz 5: „Wir saßen dort im Hinterraum und lernten uns kennen. Das heißt, die Männer kannten sich schon.“ Zucker spricht von Johannes Eisenberg, Peter Hillebrand, Stefan König, Diethard Küster und Harald Pfeffer. Sie selbst lebte mit Stefan König in einer Wohngemeinschaft „und der kannte Jony Eisenberg“17. Außerdem sei Monika Döring dabei gewesen, die in einer anderen politischen Buchhandlung arbeitete. Döring habe den Kontakt zu Max Thomas Mehr hergestellt, der damals Buchhändler war. Und Mehr kannte wiederum Hans-Christian Ströbele, den er oft im Büro des Sozialistischen Anwaltskollektivs besuchte.18 Was die Gruppe zusammenbrachte, war die simple Idee, auf den Deutschen Herbst reagieren zu müssen. Die Situation wurde als beklemmend empfunden. Seit der Beerdigung auf dem Dornhaldenfriedhof herrschten Stille und Sprachlosigkeit: „In Berlin waren die Agit-drucker inhaftiert und das »Infobug«, ‚unser Leib- und Magenblatt‘ erst mal zerschlagen. Der ‚deutsche Herbst‘ hatte zu einem vollständigen Verstummen der staatskritischen Medien geführt“19, heißt es in einem autobiografischen Bericht – nicht ohne eine gewisse Dramatisierung. Natürlich gab es weiterhin linke Blätter und sie hörten auch nicht auf, die Verhältnisse zu kritisieren. Doch wenn Organisationen wie die Rote Hilfe in ihrer Zeitung „nur“ zur Verteidigung der demokratischen Rechte aufriefen,20 anstatt gegen die staatliche Reaktion auf die Schleyer- und „Landshut“-Entführungen und das Kontaktsperregesetz anzuschreiben, dann kam diese Zurückhaltung in den Augen vieler Linker einer medialen „Ohnmacht“21 und „Desorientierung“22 gleich. Woran sich die Sponti-Gruppe noch mehr störte, das war die allgegenwärtige Depression: „Alle jammerten, ganz gleich, ob aus privaten Gründen oder wegen des Deutschen Herbstes“23, beschreiben Harald Pfeffer und Peter Hillebrand die damalige Befindlichkeit. Gerade im linken Spektrum sorgten in jenen Tagen verschiedene 14 ZUCKER, Kaspar: ‚Voller Wut und Hoffnung‘. Gespräch mit Renée Zucker. In: Die Tageszeitung (25.01.2008). 15 Renée Zucker am 03.03.2009 (m). 16 Zu den Buchhandlungen rund um den Savignyplatz, vgl. SUNDERMEIER, Jörg: Was nach der Idylle kommt. In: Die Tageszeitung (05.03.2008). 17 Renée Zucker am 03.03.2009 (m). 18 Vgl. MAGENAU, Jörg: Die taz. Eine Zeitung als Lebensform. München 2007, S. 26. 19 LEVY, Gert: Tunix, ein Aufruf zum Nachklapp (unveröff. Manuskript). Köln 2008, S. 4. Zu den Agit-Druckern, siehe Fn. 3. 20 Vgl. o. A.: Verteidigt die demokratischen Rechte. In: Rote Hilfe (Nr. 9, Oktober/November 1977). 21 MEHR, Max Thomas: Ein zähes Gespräch nicht nur über einen Film. In: HARTUNG, Klaus u. a. (Hg.): Der blinde Fleck. Die Linke, die RAF und der Staat. Frankfurt a. M. 1987, S. 40-48, hier: S. 43. 22 BRÖCKERS, Mathias: Gegenmodell Deutschland. 23 Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m).
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Razzien, Wohnungsdurchsuchungen und Festnahmen von Verdächtigen24 für Verunsicherung. Darüber hinaus standen die Aussichten auf einen sicherheitspolitischen Umschwenk schlecht: Am 25. November 1977 verabschiedete die Innenministerkonferenz das von verschiedenen Seiten kritisierte einheitliche Polizeigesetz, das unter anderem eine Todesschuss-Ermächtigung für Polizisten enthielt. Zudem lagen den Bundestagsfraktionen Pläne für ein zweites Paket von Anti-Terror-Gesetzen vor, das die Befugnisse der Polizei bei der Fahndung nach mutmaßlichen Terroristen erleichtern und Verteidiger durch eine Trennscheibe von ihren unter Terrorismusverdacht stehenden Mandanten fern halten sollte.25 Für Betrübnis sorgten innerhalb des linken Spektrums auch zwei weitere Todesfälle:26 In der JVA Stadelheim starb am 12. November 1977 Ingrid Schubert. Das inhaftierte RAF-Mitglied hatte sich offenbar erhängt. Vier Tage später kam Hartmut Gründler ums Leben. Der Umweltschützer hatte sich in Hamburg an ein Kirchentor gekettet und dann selbst angezündet. Er wollte ein Fanal gegen die Atompolitik der sozialliberalen Regierung setzen – ohne Erfolg: Der SPD, die unweit des grausigen Schauplatzes ihren Parteitag abhielt, war der Zwischenfall „keine Debatte wert“. Dagegen wurde über „die Gefahr der Grünen Listen diskutiert“27. Quasi als atmosphärische Untermalung zu diesen Negativereignissen rotierten im Radio Santa Esmaraldas »Don’t let me be misunderstood« und Belle Epoques »Black is black«, Michael Holm sang »Mußt du jetzt gerade gehen Lucille«. Trisesse auch im Kino: Theodor Kotulla hatte mit »Aus einem deutschen Leben« die Biografie eines SS-Offiziers verfilmt und Richard Attenborough mit »Die Brücke von Arnheim« eine der letzten großen Weltkriegsschlachten auf die Leinwand geracht. Unter diesen Umständen befanden Harald Pfeffer, Peter Hillebrand und die übrigen Fußballer, dass sie gemeinsam etwas auf die Beine stellen mussten, um die Depression zu vertreiben: „Geteiltes Leid, ist halbes Leid“28, lautete ihre Devise. Als sie sich nach einem der samstäglichen Fußballspiele wieder einmal zum Bier danach trafen, „kam die Idee zum Kongress“, erinnert sich Diethard Küster. Von Anfang an sei nur eine große Aktion infrage gekommen: „Wir wollten ein Signal setzen.“29 Sie beschlossen, ihren Freunden und Bekannten von der Idee zu erzählen, um weitere Unterstützer zu finden. Wie sich zeigte, waren die meisten davon sehr angetan. Schon nach kurzer Zeit bot es sich an, zu verbindlichen Besprechungen in 24 Im Zusammenhang mit den Entführungsfällen Schleyer und „Landshut“. 25 Das Gesetzespaket wurde am 16. Februar 1978 vom Bundestag verabschiedet und bildete den Abschluss der Anti-Terror-Gesetzgebung der Siebziger Jahre. 26 Diese öffentlichen bzw. öffentlich gemachten Suizide koinzidierten mit einer statistisch nachgewiesenen Häufung von Selbstmordfällen in der bundesdeutschen Bevölkerung. So wiesen „die nach Monaten aufgeschlüsselten Suizidzahlen Ende 1977, Anfang 1978 ein Maximum auf […]“, wie der Historiker Udo Grashoff mit Verweis auf entsprechende Untersuchungen des Wirtschaftssoziologen Gerd Grözinger bemerkt. Demnach schätzte Grözinger, das nach dem Deutschen Herbst bis zu „500 Menschen […] auf das ‚Ende politischer Hoffnung‘ und die ‚Lähmung jeglicher Phantasie künftiger Veränderung‘ mit Selbsttötung reagierten“. Siehe: GRASHOFF, Udo: ‚In einem Anfall von Depression …‘ Selbsttötungen in der DDR. Berlin 2006, S. 230. 27 OTTO, Georg: AKW-Gegner in den Landtag. Grüne Liste Umweltschutz. Ein Rückblick. In: Alternative. Zeitschrift für eine ökologische, solidarische, basisdemokratische, gewaltfreie Gesellschaft (Nr. 62, 2007), S. 7f., hier: S. 8. 28 Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). 29 o. A.: Wir waren alle Tunix! In: Die Tageszeitung (25.01.2008).
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der Gaststätte „Zille-Eck“ in Berlin-Charlottenburg zusammen zu kommen. „Zum äußeren Kreis gehörten bald etwa fünfzehn Leute“30, schätzen Pfeffer und Hillebrand; unter anderem waren die angehende Rechtsanwältin Jutta Schneider und der Politologe und Philosoph Otto Kallscheuer dazu gestoßen. Letzterer deutete später in einem Aufsatz an, woher die Gruppe ihre Inspiration für den geplanten Kongress nahm: Demnach habe sich ihr Blick vor allem nach Italien gerichtet, wo 1977 eine neue Studentenbewegung von sich Reden machte. Ihr Kennzeichen war der „frontale Gegensatz zur organisierten Arbeiterbewegung“31, also der Bruch des Bündnisses zwischen Studenten und Arbeiterschaft, um das sich die alte Studentenbewegung ausgangs der Sechziger Jahre so sehr bemüht hatte. Bezogen auf die politischen Verhältnisse in Italien bedeutete dies, dass die Studenten in Opposition zur Kommunistischen Partei (KPI) gingen, die sich als führende Kraft der Arbeiterbewegung begriff. Hauptsächlicher Grund dafür war, dass die Studenten der KPI nicht verzeihen konnten, dass sie sich 1976 in ein Regierungsbündnis mit der konservativen Democrazia Cristiana (DC) gewagt hatte. Umgekehrt hatte die KPI ihrerseits begonnen, mit verschiedenen Kampagnen gegen „die linksradikale ‚Sympathisantenszene‘ als Nährboden und Kulturbrühe des roten Terrorismus“32 in Italien vorzugehen. Mit der Schließung des Radiosenders „Alice“ in Bologna wurde aus Sicht vieler dieser undogmatischen Linken ein Exempel statuiert.33 Die Universitätsstadt bildete das Zentrum der neuen italienischen Studentenbewegung. Jahrzehntelang hatte sie sich in der Hand der KPI befunden, die sie als ihr Vorzeigemodell betrachtete. Hier sollte der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus vorgelebt und vorgeführt werden. Doch die Studentenschaft lernte in Bologna vor allem „nicht tariflich abgesicherte Schwarzarbeit, instabile, ‚prekäre‘ Beschäftigungsverhältnisse“34, „mangelhafte Infrastruktur, das Fehlen billiger Wohnungen und das kaum genießbare Essen in den Mensen“35 kennen. 1977 begannen viele von ihnen, sich gegen diese Missstände zu wehren, ermutigt durch eine Serie von Universitätsbesetzungen und Demonstrationen im übrigen Land. Die Bewegung hatte zwei Stränge: die Arbeiter- und die kreative Autonomie. Während erstere „weniger die Flucht aus dem System als vielmehr dessen bedingungslose Zerstörung“ praktizierte und sich aus einer Vielzahl von locker koordinierten Komitees, Zirkeln und Kollektiven zusammensetzte, „in denen auch die Reste der verschiedenen 69er-Basiskomitees aus den italienischen Fabriken mitarbeiteten“, stand die kreative Autonomie für zwei neue Protestformen: die Zirkel der proletarischen Jugend (eigentlich: Circoli del proletario giovanile) und die Stadtindianer (Indiani di Città). Letztere negierten die großstädtische und kapitalistische Lebensweise und wandten sich alternativen Wertvorstellungen zu – „Ökologie, 30 Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). 31 KALLSCHEUER, Otto: Systemkrise in Italien und Identitätskrise der Arbeiterbewegung. In: Ders./HOFFMANN-AXTHELM, Dieter u. a. (Hg.): Zwei Kulturen? TUNIX, Mescalero und die Folgen. Berlin 1979, S. 7-36, hier: 9. 32 AGNOLI, Johannes: Jesuiten, Kommunisten und Indianer. In: Ebd., S. 80-93, hier: S. 89. 33 Dem Sender wurde vorgeworfen, antikommunistische Hetze zu betreiben und zur Gewalt aufzurufen. Vgl. dazu: CAPELLI, Luciano: Alice ist der Teufel. Praxis einer subversiven Kommunikation Radio Alice (Bologna). Berlin 1977. 34 KALLSCHEUER, Otto: Systemkrise in Italien, S. 11f. 35 NIKLAUS, Andy: Das ‚rote Bologna‘ wird schwarz. Eine Bilanz von 50 Jahren Kommunalpolitik der KPI. World Socialist-WebSite.org (04.09.1999). Siehe: http://www.wsws.org/de/ 1999/sep1999/bolo-s04.shtml (Stand: 06.11.2011).
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alternative Ernährung, sexuelle Befreiung.“ Damit nahmen sie für viele Spontaneisten in der Bundesrepublik eine Vorbildrolle ein. Besonders die kreativen Protestaktivitäten der Stadtindianer sorgten in Berlin und Frankfurt a. M. – die Zentren der Spontis – für Bewunderung: „Es gab eine Vielfalt von Wandmalereien, Straßentheatern und Massenfestivals. Zentraler politischer Inhalt dieser Strömung ist die Politik der Freiräume, in denen die alltäglichen Bedürfnisse politisiert und in kollektiven und selbstbestimmten Formen ausgelebt werden“36, berichtet ein Insider. Die Gelegenheit, um die Lebensweise und Protestphilosophie der Stadtindianer kennen zu lernen, bot sich für Spontis bei dem „Kongress gegen die Repression in Italien“, der am 22. bis 24. September 1977 in Bologna stattfand und fast einhunderttausend, meist jugendliche Teilnehmer anlockte: „Das von der KPI mit eiserner Faust regierte ‚rote Bologna‘ ist zu einem riesigen Rummelplatz gewachsen“37, schwärmt der Schriftsteller Ronald Glomb in seiner Nachbetrachtung. Während im Sportpalast linke Intellektuelle und Politiker aus ganz West- und Südeuropa über die Zukunft der neuen italienischen Studentenbewegung wie auch über die Möglichkeiten einer länderübergreifenden strategischen Allianz linker Oppositioneller diskutierten,38 herrschte auf den Straßen der Innenstadt Volksfeststimmung. Glomb wurde Zeuge, wie sich der Kongress, der für die Theoretiker mit vielen Fragezeichen enden sollte, zu einem Ausrufezeichen der Kreativen entwickelte: Fünf Stunden habe allein die Abschlussveranstaltung gedauert: „[…] eine Prozession der Vogelfreien durch die Altstadt: Proletarische Kerne, Bewaffnete Zellen, Rote Brigaden, die Manifesto-Gruppe, und die Gruppe des ständigen Kampfes, die Arbeiter-Autonomie, die Neo-Dadaisten, das Komitee der Häuserkämpfer, Rote Hilfe, die Gruppen des bewaffneten Proletariats, die Neuen Philosophen, die Freaks und Großstadtindianer, dazwischen dann die vermummten P38er, die sich nach der berühmten deutschen Pistole nennen; ein kunterbunter Haufen Wilder, vor dem die aufrecht schwankenden Marxisten Reißaus nahmen, wenn auch immer sie den munteren Antimarxismus der Gruppen vernahmen, jener, die aus dem Leben ihren eigenen Zirkus machen, singend, tanzend, brüllend, bumsend, kämpfend.“
Ob an der emotionalen, aber friedlichen Großveranstaltung auch einige der späteren TUNIX-Initiatoren teilnahmen, ist nicht belegt.40 Ohnehin darf der Einfluss der Stadtindianer auf die Berliner Spontis nicht überbewertet werden. Johannes Agnoli, der deutsche Politologe mit italienischen Wurzeln, schätzte die Situation eher so ein, dass es ihnen vorrangig um die Suche nach einem geeigneten „Emblem“ ging: „Sie haben sich den Stadtindianerhut übergestülpt, ohne eigentlich genaue Kenntnis des politischen Sachverhalts, sozusagen mehr auf dem Wege der sympathischen Assoziation.“ Es sei bekannt, so Agnoli weiter, dass die „westdeutsche Linke in 36 GERONIMO: Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen. 4. Auflage. Berlin/Amsterdam 1995, S. 45. 37 GLOMB, Ronald: Auf nach Tunix. Collagierte Notizen zur Legitimationskrise des Staates. In: GEHRET, Jürgen (Hg.): Gegenkultur heute. Die Alternativbewegung von Woodstock bis Tunix. 2. Auflage. Amsterdam 1979, S. 137-144, hier: S. 139. 38 Vgl. o. A.: Cronologia di Bologna dal 1900. 1977: Il Convegno di settembre sulla repressione. bibliotecasalaborsa.it (ohne Datum). Siehe: http://www.bibliotecasalaborsa.it/cronologia/ bologna/1977/595 (Stand: 06.11.2011). 39 GLOMB, Ronald: Auf nach Tunix, S. 139. 40 In einem Teilnehmerbericht für das Info-BUG werden keine Namen genannt. Vgl. Ruth & Ati: Kongress in Bologna. In: Info-BUG (Nr. 176, Oktober 1977).
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ihrer eigentlichen Ohnmacht sich immer an ausländischen Emblemen orientiert hat“41. Was Agnoli ärgerte, war die augenscheinliche und zur Schau getragene Theoriefeindlichkeit der Spontis. Diese kokettierten jedoch nicht nur, sondern fühlten sich zu dieser Haltung mehr als berechtigt, befand sich die gesamte Linke in ihren Augen doch in einer Sackgasse, aus der es nur einen Ausweg gab, wenn man endlich „all den theoretischen Ballast, die untauglichen großen Erzählungen – und heißen sie auch Marxismus – auf den alternativen Misthaufen“ warf. „Wichtig war nur die Tat“42 oder schlicht: das „Machen“, wie es Mathias Bröckers in ihrem Jargon auf den Punkt bringt. Sie seien überzeugt davon gewesen, „dass es keine Organisationen und Parteikader braucht, sondern Individuen, die sich vernetzen.“43 Und genau diese simplen, aber für viele außerparlamentarischen Linken doch sehr brachialen Grundsätze sollten sich in der Vorbereitung ihres großen Kongresses von Beginn an widerspiegeln.
2. V ON DER I DEE ZUM AUFRUF Aus dem Vorsatz, einen Weckruf an alle Linken auszusenden, sie wachzurütteln und vor den Kopf zu stoßen, ergaben sich die Kriterien für den Namen des Kongresses von selbst: Er musste hintergründig und provokant, aber auch typisch Sponti sein. Harald Pfeffer und Peter Hillebrand erinnern sich, dass man in der Gruppe gar nicht lange darüber diskutierte. Mit der Idee für den Kongress sei praktisch auch das Schlüsselwort entstanden: TUNIX. Die Inspiration aus Bologna und die Erfahrungen der letzten Wochen und Monate brachten ein eigenwilliges Veranstaltungskonzept hervor: TUNIX sollte ein linkes Forum werden, ein „Marktplatz zum Austausch. Jeder sollte Stellung nehmen dürfen und die Freiheit der Meinungsäußerung sollte wieder ausgelebt werden“, erklären Pfeffer und Hillebrand. Zugleich sei es darum gegangen, den „Mythos, der um die Illegalen entstanden war“44, zu lüften und somit den Führungsanspruch der RAF ebenso wie jenen der K-Gruppen endgültig für nichtig zu erklären, um die Linke aus sich selbst heraus zum Handeln zu bewegen. Wenn sie sich erst einmal geschlossen vom bewaffneten Kampf distanzierte und eine schließende Klammer hinter die letzten Jahre setzte, so die Hoffnung, würde sie in die Lage kommen, ihr eigenes politisches Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit zu bestimmen, sich von der Repression zu befreien und dazu übergehen, wieder Wort zu ergreifen, wieder Botschaften zu vermitteln. Außerdem habe man mit der Öffnung für alle und nach allen Seiten auch die Intoleranz innerhalb der Linken bekämpfen wollen. Der gegenseitige Dialog sollte wieder in Gang kommen. Mit diesen großen und weit reichenden Vorsätzen hielten sich die Initiatoren treu an die Devise der italienischen Autonomen: „’Vogliamo tutto e lo vogliano subito‘ – wir wollen alles, und wir wollen es gleich!“45 Dass dabei eine Menge Naivität mitschwang, muss nicht betont werden. Renée Zucker beschreibt, wie sich dies 41 42 43 44 45
AGNOLI, Johannes: Jesuiten, Kommunisten und Indianer, S. 88. FEDDERSEN, Jan: War’n klasse Chaos. In: Die Tageszeitung (25.01.2008). BRÖCKERS, Mathias: Gegenmodell Deutschland. Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). Zit. nach: GLOMB, Ronald: Auf nach Tunix, S. 139. Der Ausspruch wird auch auf das Lied „When the music’s over“ von der Band »The Doors« zurückgeführt, in dem es heißt: „We want the world, and we want it now.“
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auch in organisatorischer Hinsicht äußerte: „Wir dachten insgeheim zurück an die Anti-Notstandsbewegung und ihre große Demonstration in Bonn, die sich ja auch unerwartet in großem Ausmaß mobilisierte.“ Deshalb habe man sich ganz unbekümmert ans Werk gemacht und vorgenommen: „Wir laden jetzt mal alle Leute ein, die wir gut finden.“46 Für diesen heiklen Schritt, der bedeutete, mit den Ideen und Wünschen ernst zu machen, überlegte sich die Gruppe etwas Besonderes: ein Einladungsschreiben, dem sich keiner entziehen konnte – zumindest nicht aus ihrer erwünschten Zielgruppe. Stefan König erklärte sich bereit, die Rohfassung zu schreiben. Laut Harald Pfeffer und Peter Hillebrand schaffte er es, den „richtigen Ton zu treffen und damit auch den späteren Ton der Veranstaltung zu setzen“47. Diethard Küster und andere lasen das Werk gegen und machten hier und da Verbesserungen. Als sie merkten, dass dem Ganzen noch das gewisse Etwas fehlte, schlug Hillebrand vor, dem Text ein packendes Zitat voranzusetzen. Weil sich König an die „typische Sprache“ von damals gehalten hatte, „kindlich, verträumt, zärtlich, wütend“48, lag ein passender Zeiler jedoch nicht gerade auf der Straße. Hillebrand musste gedanklich ein wenig ausholen, folgte den Grundsätzen von Bologna, Lebensfreude, Traumwandel und Kreativität miteinander zu vereinen und kam schließlich auf die Idee, einen Satz aus dem Märchen der Bremer Stadtmusikanten zu zitieren: „Komm mit, sprach der Esel, etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden.“49 Harald Pfeffer lieferte dazu eine Illustration, die in ihrem Stil an eine tschechoslowakische Zeichentrickserie angelehnt war.50 Der fertige „Aufruf zur Reise nach TUNIX“51 kam im Dezember 1977 in Umlauf. Seinem Wortlaut nach kündigte er ein „Drei-Tage-Fest“ an, auf dem Vorbereitungen für die gemeinsame „Ausreise aus dem ‚Modell Deutschland‘“ getroffen werden sollten. Welche Gefühle sich mit dem Drang zur Abkehr von der Bundesrepublik verbanden und welche Erfahrungen ihm vorausgingen, beschreiben die Verfasser in drei längeren Textabschnitten. Über dem ersten steht mit dicken Lettern der Ausruf: „Uns langt’s jetzt hier!“ Gemeint sind damit nicht allein das politische Klima nach dem Deutschen Herbst, nicht nur die verfahrene Situation der Linken, sondern nichts Geringeres als die allgemeinen Lebensumstände in der Bundesrepublik. Allem voran geht die Kritik an der zerstörten Umwelt: „[D]er Frühling ist verseucht, im Sommer ersticken wir hier.“ Die Industrie, die Kraftwerke, die Autobahnen verbreiteten stinkenden „Mief“ – die Behörden ebenso. Es wird angespielt auf den „Muff von tausend Jahren“, den die 68er einst vertreiben wollten. Doch „spießige Moral“ und „Maulkörbe“ seien noch immer zu beklagen. Individuelle Freiheitsbedürfnisse kommen zum Vorschein: „Wir woll’n nicht mehr immer dieselbe Arbeit tun, immer die gleichen Gesichter zieh’n.“ Repressionskritik wird laut: „Sie haben uns genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die
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Renée Zucker am 03.03.2009 (m). Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). SCHEUB, Ute: Hoch die Kinderschokolade! In: Die Tageszeitung (25.01.2008). In Grimms Märchen heißt es: „Ei was, du Rothkopf, sagte der Esel, zieh lieber mit uns fort nach Bremen, etwas besseres, als den Tod findest du überall; […].“ Siehe: GRIMM, Jacob/GRIMM, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Kleine Ausgabe. Berlin 1825, S. 125. 50 Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). 51 Siehe: Flugblatt: Treffen in Tunix. In: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen?, S. 92f.
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Wohnung, die Pässe, die Fresse poliert.“ Emanzipation wird angestrebt: „Wir lassen uns nicht mehr einmachen und kleinmachen und gleichmachen.“ In einem zweiten Abschnitt, unter der Zwischenüberschrift „Dann steht hier alles still“, benennen die Verfasser konkrete Gegner: „Da soll doch die Polizei im Filz von Bubble-Gum und Langeweile ersticken, soll der Verfassungsschutz sein Grundgesetz mal endlich vor sich selber schützen.“ Auch nicht-staatliche Institutionen wie „Werkschutz“, „Aufsichtsräte“ und „Kaufhäuser“ werden als Bedrohung der eigenen Freiheitsbedürfnisse ausgemacht. Ebenso wenig zum Drang nach Befreiung passen die Wohnverhältnisse: „Die Mietskasernen sind selbst den Tauben viel zu kalt […].“ Zusammengefasst wird die Kritik an den Lebensumständen dann noch einmal im folgenden kürzeren Abschnitt unter der Zwischenüberschrift „Und das wollen wir doch mal sehen“. Hier bringen die Verfasser mit wenigen, aber viel sagenden Worten ihr Deutschlandbild auf den Punkt: Man habe genug von allem, wiederholen sie, „von den öden Asphalt-Beton-Wüsten der Neubauviertel, von der waffenstrotzenden Präsenz und Gewalt des Polizeiap-parates und davon, daß sie unsere Träume zerstören mit Peter Stuyvesant und Springers Bild und ihren immer gleichen Fernsehshows, von der Coca-Cola-Karajan-Kultur.“52 Neben diesen kritikgeladenen Passagen besteht der Aufruf aus Abschnitten, in denen Gegenmaßnahmen angekündigt und fantasiert werden. Hierbei orientieren sich die Autoren an einer, von der Umweltbewegung her „positiv bewerteten Rückschrittlichkeit“53: Unter der Zwischenüberschrift „Wir hauen alle ab!“ verkünden sie, „Hütten“ bauen, in „Sandalen“ laufen und mit „Sonnenkollektoren“ Strom erzeugen zu wollen. Das Fernsehen lehnen sie nicht ab. Allerdings soll es nur lustige Sendungen für Kinder zeigen. Zum eigenen Zeitvertreib wollen sie mit „Geigen, Gitarren und Celli“ musizieren. Für Ernährung wäre auch ohne „plastikverschnürte Wurst“ und „schales Bier“ gesorgt: Wer Lust hätte, könnte im Wald Pilze sammeln gehen. Die „Männergruppe“ wäre für das Kochen von „Gemüsesuppe“ zuständig und die ehemaligen Anwälte würden am offenen Feuer ihre „alten Juraschinken […] der Schweine von gestern“ räuchern. Professoren „jagen kapitale Hirsche, und Heinrich Böll kocht Tee“. Auch Günter Wallraff und Wolf Biermann wären dabei. In einem weiteren Abschnitt, unter der Zwischenüberschrift „Unter dem Pflaster von diesem Land“, kündigen die Verfasser neue Formen linken Protestes an: Es müsse Schluss sein „mit Aktionen unter dem Motto ‚Weg mit …‘ und ‚Nieder mit …‘“. Der TUNIX-Kongress solle bereits einen ersten Versuch darstellen, diese Kehrtwendung umzusetzen: „Wir wollen wegkommen von der Hilflosigkeit des ewigen Reagierens zu neuen Formen des Agierens.“ Deshalb würde auf dem Kongress nicht über Aktionseinheiten und Minimalkonsense, nicht über „sinnige und unsinnige Parolen“ diskutiert. Stattdessen könne jeder „seine eigenen Parolen und Gedanken formulieren, malen, singen“ und man könne „trotzdem – oder gerade deswegen – gemeinsam kämpfen“. Der Aufruf kam demnach einer Ankündigung des bewussten Bruchs mit linken Traditionen gleich – ohne gängige Formeln der Repressionskritik aus früheren Jahren vermissen zu lassen. Im Unterschied zu den alten Parolen der APO waren 52 Flugblatt: Treffen in Tunix. Oder auch: Koordinationsausschuß TUNIX: Aufruf zur Reise nach Tunix. Broschüre. Berlin 1978. In: APO-Archiv, Ordner: Tunix. 53 TÜRSCHMANN, Jörg: Am Strand von TUNIX. Körperdiskurse, Pazifismus und Natursehnsucht in der Ökobewegung. In: FAULSTICH, Werner (Hg.): Die Kultur der siebziger Jahre. München 2004, S. 37-48, hier: S. 42.
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die Sponti-Formulierungen jedoch aus dem Leben gegriffen, geistreich, unkompliziert und witzig.54 Kurzum: Sie trafen den (linken) Nerv der Zeit: Schon zur Jahreswende 1978 bekamen die Verfasser den Erfolg ihres Aufrufs zu spüren. „Das Telefon stand nicht mehr still, aus allen Ecken Deutschlands kamen Briefe.“ Einzelpersonen und Gruppen meldeten Interesse an, mitzumachen. Die noch immer sehr eng verzahnten Strukturen der linken Szene, die gegenseitigen Kontakte ihrer Initiativen und Projekte hatten zu einer raschen Verbreitung des Aufrufs von Westberlin ins Bundesgebiet geführt. Dort gab es viele kleinere linke Zeitungen, die ihn aufgriffen, zitierten, Kommentare schrieben, bis hin „zur Landkommune im Westerwald, die den Aufruf nachgedruckt und in ihrer Umgebung verteilt hat“55. Abbildung 5: Das Deckblatt des „Aufrufs zur Reise nach Tunix“
Quelle: Koordinationsausschuß TUNIX
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Hintergrund: Mescaleros, Spontis und die Gewaltfrage Die Spontiszene hatte zuletzt im April 1977 mit einem Text für Aufsehen gesorgt. Unter dem Pseudonym „Mescalero“57 hatte der Göttinger Student Klaus Hülbrock in der Zeitung des AStA Stellung zum RAF-Anschlag auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback genommen – mit der Absicht, „zu einer öffentlichen Kontroverse“ beizutragen. Dass ihm dies gelang, lag sowohl an der Schonungslosigkeit, 54 „Ich kann ziemlich gut lesen, was hier in diesem Aufruf zur Reise nach Tunix steht – übrigens besser lesen und rascher verstehen als vieles, was auf Flugblättern in einem eingedroschenen Polit-Deutsch ausgesagt wurde in den letzten Jahren. Ich fühle mich davon ziemlich angesprochen, […] weil das eine Sprache ist, die nicht erst seit heute, sondern ziemlich lange schon immer neben anderen Sprachen da ist, die Sprache freier Bürger“, so der Kommentar eines TUNIX-Besuchers. Siehe: o. A.: Tunix O-Ton. In: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen?, S. 94-109, hier: S. 100-102. 55 MALER, Roland: Treffen in Tunix. Interview mit Diethard und Peter von der Vorbereitungsgruppe zur ‚Reise nach Tunix‘. In: Zitty. Illustrierte Stadtzeitung (Nr. 3, 1978), S. 11f., hier: S. 12. 56 Koordinationsausschuß TUNIX: Aufruf zur Reise nach Tunix. 57 Eigentlich der Name eines Apachenstammes.
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mit er den Mord kommentierte, als auch an dem nicht leicht zu durchschauenden Muster, in dem der Text gestrickt war. Entsteht in den ersten Passagen der Eindruck, als würde der Verfasser Verständnis für die Tat äußern, da er wisse, „was [Buback] bei der Verfolgung, Kriminalisierung und Folterung von Linken für eine herausragende Rolle spielte“, so kippt sein angriffslustiger Ton zur Mitte hin langsam ins Nachdenkliche: „Aber wer und wieviele Leute haben Buback (tödlich) gehaßt. Woher könnte ich, gehörte ich den bewaffneten Kämpfern an, meine Kompetenz beziehen, über Leben und Tod zu entscheiden?“58 „Am Ende eines ebenso provokativen wie unorthodoxen Reflexionsprozesses“, fasst der Historiker Stefan Spiller zusammen, „gelangte der Verfasser […] zu einer deutlichen Ablehnung von terroristischer Gewalt als Mittel der Politik.“59 Sein Hauptargument glich dabei jenem des Sozialistischen Büros (SB), das im Verlauf des Deutschen Herbstes stellvertretend für die undogmatische Linke erklärte, dass „Mord als Mittel der Politik“ nicht geeignet sei, „der sozialistischen Gesellschaft nur einen Fuß breit näher zu kommen.“60 Der Göttinger Mescalero formulierte diesen Gedanken wie folgt: „Unser Zweck, eine Gesellschaft ohne Terror und Gewalt […], eine Gesellschaft ohne Zwangsarbeit […], eine Gesellschaft ohne Justiz, Knast und Anstalten […] dieser Zweck heiligt eben nicht jedes Mittel, sondern nur manches. Unser Weg zum Sozialismus (wegen 61 mir: zur Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden.“
Die Massenmedien verbreiteten diese entscheidenden Passagen des Buback-Nachrufs nicht. Statt ihrer wählten sie Textabschnitte, die als sprechende Belege für die Radikalität der Sympathisantenszene an bundesdeutschen Universitäten dienten.62 Auf diese Weise trugen sie dazu bei, dass der Mescalero in der Öffentlichkeit mit einer „Vehemenz verurteilt [wurde], die selbst für den ‚Sympathisanten‘-Diskurs neu“63 war, wie Hanno Balz feststellt. Die „klammheimliche Freude“, von der der Mescalero im Zusammenhang mit dem Mord an Buback sprach, wurde redensartlich. „Kein Satz wird in der bundesweiten Diskussion um die Sympathisanten des Terrors und der Gewalt so oft zitiert´64heißt es einige Monate später, wenig selbstkritisch, im »Spiegel«.
58 Mescalero: Buback. Ein Nachruf. In: Göttinger Nachrichten (25.04.1977). 59 SPILLER, Stefan: Der Sympathisant als Staatsfeind. Die Mescalero-Affäre. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. Hamburg 2006, S. 12271259, hier: S. 1227. 60 Arbeitsauschuss des Sozialistischen Büros: Sozialismus und Terrorismus. Offener Rundbrief vom 11.09.1977. In: APO-Archiv, Ordner: Russell-Tribunal, Materialsammlung des Sekretariats, Soz. Büro (SB); vgl. auch: BURO, Andreas: Nach Mogadischu. Kommentar. In: Links. Sozialistische Zeitung (Nr. 93, November 1977). 61 Mescalero: Buback. Ein Nachruf. 62 Der Journalist und Bildungshistoriker Uwe Schlicht beklagte 1980: „Wieder einmal wurde die Öffentlichkeit über ein wichtiges Ereignis an den Hochschulen fehlinformiert. Denn es verbirgt sich in dem Buback-‚Nachruf‘ hinter der Sprache des Hasses […] eine Absage an den Terrorismus.“ Siehe: SCHLICHT, Uwe: Vom Burschenschafter bis zum Sponti. Studentische Opposition gestern und heute. Berlin 1980, S. 139. 63 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 101. 64 o. A.: Klammheimliche Freude. In: Der Spiegel (03.10.1977).
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Trotz ihrer medialen Ächtung und des juristischen Nachspiels zum BubackNachruf,65 nahmen die Göttinger Spontis weiterhin kein Blatt vor den Mund. Im Sommer übte ein Mescalero heftige Repressionskritik und beklagte sich über den „herrschende[n], alltägliche[n] Abschreckungsmechanismus“ und das „Ausgebeutet-Sein, Kontrolliert-Sein, Unterdrückt-Sein“66 in der Bundesrepublik. Nach dem Deutschen Herbst erschien der Artikel „Schleyer – Kein Nachruf“, in welchem sich gleich mehrere Mescaleros gemeinsam zur Ermordung Hanns Martin Schleyers äußerten, ohne sich diesmal über ihre „unmittelbaren Reaktionen“67 auszulassen. Stattdessen wandten sie sich gegen „die faktische Nichtexistenz von Meinungs- und Diskussionsfreiheit und die allgemeine und allgegenwärtige Repression des Modells Deutschland“. Unter diesen Bedingungen, so kritisierten sie, sei innerhalb der Linken keine Auseinandersetzung über die Politik des bewaffneten Kampfes möglich. Infolge dessen stünde man als Linker nur noch vor der Wahl, der bürgerlichen Öffentlichkeit das Wort zu reden oder sich der „riesige[n] Kriegsmaschine“, die um die „Apparate“68 des BKA, der Sonderabteilungen, der Bundesanwaltschaft und der Innenministerien entstanden sei, vor die Füße zu werfen: „Und schließlich taucht als düstere Vision am Horizont 1984 auf; eine Gesellschaft der perfekten Überwachung und Kontrolle, die nur einige ritualisierte Bewegungen zwischen Stadtknästen […], als Fabriken bezeichnete Zwangsarbeitslagern und dem Konsum standardisierter Wohlstandswaren erlaubt.“ Obwohl in diesen Texten bereits viele Standpunkte der Verfasser des TUNIXAufrufs enthalten waren, fanden die Göttinger Spontis mit ihnen keinen vergleichbaren Anklang. Selbst der im Buback-Nachruf verankerte Vorschlag, „einen Begriff und eine Praxis zu entfalten von Gewalt/Militanz, die fröhlich sind und die den Segen der beteiligten Massen haben“70, der dem spontaneistischen Bedürfnis nach unkonventionellen Aktionsformen entsprach, blieb ohne nennenswerte Erwiderung. Erst der Deutsche Herbst weckte das Bedürfnis der Szene, ihre Haltung in der Gewaltfrage zu klären. Der Politologe Johannes Schütte hat dies in seiner Studie zum Spontaneismus mit zwei Stellungnahmen dokumentiert: Beide stammen aus dem »Pflasterstrand« vom 3. November 1977. In der ersten kritisierte ein so genannter „Burkhard Blüm“, dass es unter den Frankfurter Spontis noch immer Rückhalt für die RAF gebe. Er bezog sich dabei auf entsprechende Wortmeldungen während des „Sponti-Plenums“, das am 24. Oktober in Frankfurt a. M. stattgefunden hatte. Blüm wörtlich: „Mir ist nicht verständlich, aus welchem Grund die RAF noch als revolutionäre Gruppe angesehen wird. Nicht nur bringt sie es fertig, jeweils das politisch dümmstmögliche zu tun […]. Ich meine auch, daß jede dieser Aktionen ebenso gut von Provokateuren hätte gemacht werden können, um die RAF politisch zu liquidieren.“71 Blüm sprach nicht nur von den Entführungen während des Deutschen Herbstes, sondern von der Gesamtheit ihrer Anschläge. Um zu
65 Vgl. dazu: SPILLER, Stefan: Der Sympathisant als Staatsfeind, S. 1235-1256. 66 o. A.: Staatsschutz = Terror. In: INFO-BUF Mescalero (Nr. 2, 13.06.1977), S. 2. 67 Bewegung Undogmatischer Frühling (BUF): Schleyer. Kein Nachruf. In: Verlag Neue Kritik (Hg.): Ein deutscher Herbst. Zustände, Dokumente, Berichte, Kommentare. Frankfurt a. M. 1978, S. 123-128, hier: S. 123. 68 Ebd., S. 125. 69 Ebd., S. 128. 70 Mescalero: Buback. Ein Nachruf. 71 Zit. nach: SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung. Zur Politik und Sozialpsychologie der Spontibewegung. Gießen 1980, S. XVII.
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unterstreichen, wie zwangsläufig und alternativlos eine Distanzierung von der Gruppierung für die Spontis sei, stellte er RAF und Staat in ihrer Kaltblütigkeit auf eine Ebene: „Die RAF ist der Zwillingsbruder dieses Staates, der niemandem die Möglichkeit gibt, eine falsche Politik aufzugeben, ohne sein Leben dabei zu riskieren.“ Wer sich mit einer Gruppierung solidarisiere, die versuche, „den Staat nach seinen eigenen Gesetzen und mit seinen eigenen Mitteln [zu] bekämpfen“, könne nach Ansicht Blüms nichts gegen den Staat ausrichten. Er fiele nur „auf ihn rein“72. Die zweite Stellungnahme bei Schütte ist eine Gegenrede auf Blüm: Ein so genannter „Jupp Heynkes“ erinnert seinen Spontigenossen zunächst daran, wie lange man gemeinsam Sympathien für die RAF gehegt habe und wie lange man sie schon wegen ihrer „Politik“ kritisierte. Unabhängig davon, welche Fehler die Gruppierung im Laufe der Jahre gemacht habe, sei das Gefühl geblieben, es ihr am liebsten gleich zu tun – zumindest in ihrem ursprünglichen Ansatz: „[…] sich effektiver zu wehren, aggressiveren Widerstand zu leisten, keine Kompromisse mehr einzugehen, die Unterdrückung und das Leid an die zurückzugeben, von denen sie ausgeht.“73 Blüm könne all jene Spontis, die dieses Empfinden teilten, nicht blind verurteilen. Die Szene drohe ganz zu zerfallen, wenn man sie „erstmal gründlich“ nach seinen Vorstellungen „säubert“. Heynkes abschließend: „[…] vielleicht bist du bald froh, wenn Du einige Leute noch hast.“74 Schütte gelingt es, mit diesen Stellungnahmen die Unentschiedenheit der Spontis in der Gewaltfrage, insbesondere im Verhältnis zur RAF, einzufangen: Auf der einen Seite die Überzeugung, dass der bewaffnete Kampf kein geeignetes Mittel in der Auseinandersetzung mit dem Staat sei. Auf der anderen Seite das Bedürfnis, das eigene Repressionsempfinden mit Widerstandshandlungen gegenüber dem Staat auszuleben. Wie Mescalero versuchten auch die TUNIX-Initiatoren sich in dieser Debatte zu positionieren. Im Unterschied zum Buback-Nachruf rieb sich ihr Aufruf jedoch nicht an der Bewertung einzelner RAF-Anschläge auf, sondern klammerte den bewaffneten Kampf als politische Option von vornherein aus. Das Repressionsempfinden sollte stattdessen in einer ausgeprägten Gegenkultur sein Ventil finden. Den Initiatoren schwebte die Schaffung eines „Freistaats“ vor, der außerhalb des „Modells Deutschland“ existieren konnte, ohne „Straßen, […] Bullen, […] Waffen“75. Wie und wo diese Vorstellung umzusetzen sei, darauf konnten die Initiatoren keine konkreten Antworten liefern. Sie maßen sich ohnehin nicht an, die Rollen von Vordenkern einzunehmen und bereits fertige Lösungen parat zu haben. TUNIX war deshalb als eine Art „Reise“ gedacht; Entdeckung und Erholung standen auf dem Plan: Zum einen sollte der Kongress der „große[n] Zahl von alternativen Projekte[n], Zeitungen, Kneipen, Läden usw.“ und dem breiten „Spektrum an autonomen Bewegungen, von den Ökologiegruppen bis zur Frauenbewegung“ 76 Auftrieb geben. Zum anderen erhoffte man sich einen „Innovationsreiz“77 für die neue, gewaltfreie Veränderungsstrategie.
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Ebd., S. XX. Ebd., S. XXIf. Ebd., S. XXIII. o. A.: Tunix O-Ton. In: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen?, S. 94-96. 76 MALER, Roland: Treffen in Tunix, S. 12. 77 o. A.: Tunix O-Ton. In: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen?, S. 100.
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Angesichts all der schwebenden, traumwandlerischen Formulierungen des Aufrufs stellt sich die Frage: Wofür stand TUNIX genau? Als Gert Levy das Einladungsschreiben ins Französische und Italienische übersetzen sollte, stolperte der angehende Sozialpädagoge zuallererst über dieses Kunstwort. Angesichts der verfahrenen Situation, in der sich die Linke befand, war ihm „klar, dass ‚Tunix‘ eben nicht ‚Nichts zu tun‘ hieß, sondern vielmehr bedeutete, aus der ‚Schachmatt-Position des Deutschen Herbstes herauszugehen‘ und ‚selbstbewusst den Volksaufstand durch die Entwicklung einer eigenständigen Lebensrealität auszubauen und vorzubereiten‘.“78 Seine Übersetzung richtete sich vor allem an jenen Kreis französischer Intellektueller, der seit 1968 zuverlässig für linke Protestbewegungen im In- und Ausland das Wort ergriffen hatte: Von den Philosophen Roland Bartes, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Jean Pierre Faye, Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir kannte Levy die meisten persönlich. Im Sommer 1977 war er aus Berlin nach Paris gekommen, um an der psychiatrischen Klinik „La Borde“ sein Staatsexamen vorzubereiten. Er arbeitete mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari zusammen, der ihn im Laufe der Zeit mit dem Intellektuellenkreis bekannt machte. Die Übersetzung des TUNIX-Aufrufs entstand daher nicht ganz zufällig in Dhuizon, der Wochenendzuflucht Guattaris in der Nähe der Klinik:79 „Wir hatten eine ausreichend polyglotte manpower, dachten wir. Doch alles gestaltete sich viel schwieriger als geplant. Der Text nutzte eine interessante Wortwahl. Die einzelnen Wörter und Begriffe waren zwar übersetzbar, aber für FranzösInnen und ItalienerInnen nur nach einer ausführlichen Schilderung der jeweiligen Konnotation verständlich. Um den Text verständlich zu machen und ihn also zu einem zündenden Aufruf für Frankreich, Großbritannien und Italien zu machen, mussten zuerst der Text und dann die jeweiligen Assoziationen, die wir in Deutschland zu einzelnen Wörtern und Redewendungen hatten der Runde übersetzt, erläutert und dann anschließend in die jeweiligen Sprache kompakt übertragen werden. Dies führte sehr schnell zu völlig ausufernden Diskussionen und Debatten über unsere Inhalte. In Frankreich gab es zu diesem Zeitpunkt kaum eine zu Berlin, Frankfurt, Hamburg und Freiburg vergleichbare Alternativbewegung. In Italien hatten die landwirtschaftlichen Kommunen ihren Ursprung in der kommunistisch geprägten Agrarreform. Diese wiederum hat es – zumindest in diesem Ausmaß – aber in Deutschland nicht gegeben. Die Landkommunen, die sich nach 68 in Frankreich entwickelt hatten, waren als unpolitisch abgestempelt und waren es meines Erachtens auch. Das Bewusstsein über die Notwendigkeit der Erschaffung einer kollektivistisch geprägten Binnenökonomie war in der französischen Linken eher schwach ausgeprägt. Es gab ‚les reseaux‘, die Netzwerke. Diese hatten zwar eine gemeinsame Ideologie und Verbundenheit, aber selten eine gemeinsame Binnenökonomie. Die Notwendigkeit der Übersetzungsleistung zwang uns zum Argumentieren und ‚mal drüber zu reden‘.“
Anfang Januar 1978 nahmen Diethard Küster und Peter Hillebrand zu der Frage nach der Bedeutung von TUNIX in einem Interview für die Zeitschrift »Zitty« Stellung: Demnach sei die Idee für TUNIX vor allem dem Bedürfnis entsprungen, ein „Treffen gegen Repression“ zu veranstalten. Als Linker habe sich man nach dem Deutschen Herbst „eigentlich ratlos“ gefühlt, „das Selbstbewusstsein war flöten gegangen.“ Zudem hätten sie die Erfahrung gemacht, dass nur vereinzelte Libe78 LEVY, Gert: Tunix, ein Aufruf zum Nachklapp (unveröff. Aufsatz). Köln 2008, S. 8. 79 Vgl. ebd. 80 LEVY, Gert: Tunix, ein Aufruf zum Nachklapp (unveröff. Manuskript), S. 7.
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rale „den Mund aufmachten. Der Ausspruch von Böll: ‚Uns langt’s! Allmählich langt’s uns ganz dicke hier!‘ drückte das aus, was wir auch empfunden haben“, so Hillebrand. „Das sagte jemand wie Böll, der gar nicht auf die Idee kam, sich erstmal zu distanzieren, weil er sich nicht verdächtig fühlte. Im Gegensatz übrigens zu den meisten linken Organisationen, die mit einem wehleidigen ‚Wir sind’s doch nicht gewesen‘ reagierten.“81 Eben dieses „Gejammer von der staatlichen Repression“ hatten die TUNIXInitiatoren mittlerweile satt. In ihren Augen führte es eher zu „Lähmungserscheinungen“82 als zu konkretem Widerstand. Sofern es überhaupt zu Protestveranstaltungen kam, hätten sie wenig Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft ausgestrahlt: Zwar seien die Aktivisten stets bemüht gewesen, viele Worte zu finden, um die Unterdrückung und Verfolgung zu beschreiben oder sich mit den „politischen“ Gefangenen zu solidarisieren, aber „danach saß man in der Pizzeria beim Bier“, so Küster enttäuscht. Dem entsprechend gering sei die Wirkung solcher Repressionskritik in der Öffentlichkeit gewesen. Von TUNIX erhofften sich Hillebrand und er einen neuen Optimismus der Linken. Die verschiedenen Protestansätze des Spektrums sollten endlich Gelegenheit bekommen, aus der Versenkung zu tauchen, sich auszutauschen, gemeinsame Aktionen zu verabreden – insofern war der Kongress ein Angebot, das nur funktionierte, wenn „andere drauf einsteigen“83. Und sie stiegen ein. Bis auf die dogmatisch-autoritären Parteien und Gruppierungen bekamen die TUNIX-Initiatoren Rückmeldungen aus allen Teilen der außerparlamentarischen Linken. Die zahlreichen Zuschriften gingen hauptsächlich an die Buchhandlung am Savignyplatz, deren Hinterzimmer sich zu einem richtigen Koordinationsbüro mit Telefonzentrale entwickelten. Treffpunkt der Initiatoren war, neben dem „Zille-Eck“, die Wohnung von Monika Döring, heute Musikveranstalterin und „Grand Dame“ der linken Berliner Szene. Trotz des wachsenden Trubels behielt die Vorbereitung des Kongresses ihren zwanglosen Charakter: „Jeder hat gesagt, was er machen will. Jeder hat bei Bedarf Leute aus seinem Umfeld mobilisiert“, erinnern sich Harald Pfeffer und Peter Hillebrand. Obwohl der Kreis der Beteiligten dadurch schwer überschaubar wurde, behielten die Initiatoren die Fäden in der Hand: „Wir wurden nicht hinterfragt, sondern respektiert.“ Ernsthafte Reibungspunkte konnten angesichts ihres offenen Konzeptes kaum entstehen: „Wir haben der Szene ein leeres Buch vorgehalten und gesagt: ‚Füllt es!‘“ erklären Pfeffer und Hillebrand. Sie hätten damals gespürt, dass „jeder etwas zu sagen hatte und sagen wollte. Nach und nach haben alle ihre Vorschläge auf die Tafel im Koordinationsbüro geschrieben und die Initiatoren haben ihnen Räume zugeordnet.“ Als Veranstaltungsort kam nur das Gelände der Technischen Universität Berlin (TU) infrage. Die Studenten unter den Initiatoren hatten deshalb rechtzeitig Kontakt mit dem sozialdemokratischen Wissenschaftssenator Peter Glotz aufgenommen. Im Gegensatz zu ihren Kommilitonen aus den Juso-Gruppen oder Mitgliedern der Berliner ASten hatten sie mit einem entscheidenden Nachteil zu kämpfen: Der Politiker kannte sie nicht. Deshalb kamen sie auf die Idee, sich einen kleinen Vorteil zu verschaffen, indem sie ihn direkt zum Kongress einluden: „Dadurch fühlte er sich ge-
81 MALER, Roland: Treffen in Tunix, S. 11. 82 Autorenkollektiv Quinn, der Eskimo, Frankie Lee und Judas Priest: ‚Zum Tango gehören immer zwei, wenn ich gehe, kommst du mit!‘, S. 133. 83 MALER, Roland: Treffen in Tunix, S. 11.
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schmeichelt, denn so kam er sich modern vor“, meinen Pfeffer und Hillebrand. „Er konnte sagen, er kenne die Jugendkultur.“84 Ihre Rechnung ging auf. TUNIX stand nichts mehr im Wege. Ernsthafte Zweifel an der Freigabe der TU hatte es im Vorfeld allerdings auch nicht gegeben: Vor allem deren Auditorium Maximum hatte den außerparlamentarischen Linken schon seit der APO für Veranstaltungen offen gestanden – wie im Übrigen auch das Gelände der Freien Universität (FU). Deren Präsident, Eberhard Lämmert, sah damit eine öffentliche Aufgabe der Universitäten erfüllt, die sich, entgegen der Vorwürfe, sie seien Tummelplätze für Linksextremisten,85 als „Ort der produktiven Meinungsfreiheit und der geistigen Wachsamkeit“ zu erweisen hätten. Den TUNIXKongress betrachtete er als Gelegenheit, der jungen Generation, die im Begriff war, sich „gegen die praktische Politik unseres Landes, und die, die sie verantworten, […] neu und selbstisolierend zu verhärten“86, ein Signal für eine neue politische Praxis zu geben: die schonungslose, aber offene politische Diskussion. Neben der Raumverteilung verantworteten die Initiatoren den Druck des TUNIX-Plakats87, die musikalische Umrahmung und die Verteilung von Schlafplätzen an die zureisenden Kongressteilnehmer – in umliegenden Kneipen gab es entsprechende Aushänge. Wer einen Schlafplatz anbot, klebte oder pinnte einfach einen Zettel daran. „Einige haben sich gekümmert, die Aushänge rund um die Uhr zu kontrollieren und haben dann im Büro die Anrufer zugeteilt“88, schildern Pfeffer und Hillebrand das einfach Verfahren. Rund um TUNIX habe es viele solcher Beispiele für gelungene Selbstorganisation gegeben, auch der Kongress an sich sei eines gewesen.
3. A BLAUF Die Eröffnungsveranstaltung fand am Freitag, den 27. Januar 1978, um 20.00 Uhr im Auditorium Maximum der TU statt. Etwa dreitausend überwiegend junge Leute zwängten sich in den größten Hörsaal, wiederum dreitausend unterhielten sich in den Vorhallen und Nebenräumen, wo es Informationsstände, Basare, Musik- und Theatergruppen, aber auch viele bunt bemalte und verkleidete Teilnehmer zu bestaunen gab. Positiv überrascht vernahm der Journalist Dieter Hoffmann-Axthelm, dass „diese Dichte, mit all dem vielen Lärm, den widersprüchlichen Absichten, Gesichtern, Bemalungen, Ekstasen all der ständig kommenden, gehenden Leute, überhaupt nicht aggressiv war.“89 Auch auf den Gehwegen rund um die TU gab es ein fast dreitägiges und durchweg friedliches Gedränge, ein Kommen und Gehen von „denjenigen, die ‚Tunix‘ noch zu finden hofften, und denjenigen, die ‚Tunix‘ schon wieder verlassen hatten, weil sie drinnen keinen Sitzplatz, keinen Stehplatz,
84 Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). 85 Vgl. o. A.: Linksradikale Demonstration: Steine, Scherben, Verletzte. In: Bild (30.01.1978). 86 LÄMMERT, Eberhard: Zerreißprobe der Demokraten. In: Zurück zur politischen Diskussion! Info Extra der TU und FU Berlin (25.11.1977), S. 4-6, hier: S. 5. 87 Der Plakatentwurf stammte von Roland Maticzek, der später auch das Tatzenlogo für die »taz« kreierte. 88 Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). 89 HOFFMANN-AXTHELM, Dieter: Zurück aus Tunix. Ein ‚Woodstock in Räumen‘. Eindrücke vom Berliner Treffen der Autonomiebewegungen. In: Frankfurter Rundschau (03.02.1978).
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keinen Fühlplatz mehr gefunden hatten.“90 Kilometerlang zogen sich die Schlangen der abgestellten PKW mit westdeutschen Kennzeichen durch die benachbarten Straßen. An den Grenzkontrollstellen hatte die Polizei insgesamt 5.100 Personen gezählt, die zum TUNIX-Kongress nach Westberlin gereist waren.91 Die Massenveranstaltung entwickelte sich zu einem regelrechten „Woodstock in Räumen“92. Alle denkbaren Interessengruppen der undogmatischen Linken, „Widerstandszusammenhänge“ wie sie sich selbst auch bezeichneten, trafen aufeinander: Umweltaktivisten, Alternative, Homosexuellen- und Frauengruppen, Antipsychiatriegruppen, Initiativen für „politische“ Gefangene, Stadtteilgruppen und die selbst ernannten Stadtindianer mit ihren Bemalungen. Seine eigentümliche Dynamik, eine „Schaukelbewegung von Trotz, Wut, Verzweiflung, angestrengter Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten einerseits und dem Ausbrechen, Spiel, Essen, Musik, Aktionen andererseits“93, bezog TUNIX weniger aus der Anwesenheit prominenter Intellektueller wie Peter Brückner, Gilles Deleuze, Michel Foucault, André Glucksmann, Félix Guattari oder Künstlern wie Erich Fried oder Alexander Kluge, die Beobachter im bunten Trubel eher als Randfiguren empfanden.94 Sondern eher aus den vielfältigen Möglichkeiten seiner Teilnehmer, sich den angestauten Enttäuschungen, dem Druck eines als streng reglementiert empfundenen Lebens einmal Luft machen zu können, „Träume und Phantasien […] offensiv zu formulieren.“95 Darin lag das antirepressive Moment des Kongresses, das sich die Initiatoren erhofft hatten.96 Am zweiten Tag, dem „Samstunix“, erreichte der Kongress in zweierlei Hinsicht seinen Höhepunkt: Während um 14.00 Uhr im Audimax eine Podiumsdiskussion über die Theorie der zwei Kulturen97 begann – mit von der Partie waren unter anderem der Westberliner Wissenschaftssenator Peter Glotz, TU-Präsident Rolf Berger, Peter Brückner, die Göttinger Mescaleros –, verbrannten einige Teilnehmer des TUNIX-Demonstrationszuges am Kranzler-Eck gerade eine schwarz-rotgoldene Fahne mit der Aufschrift: „Modell Deutschland“. Der Aufzug von vier- bis sechstausend Personen hatte sich um 12.05 Uhr vor der Untersuchungshaftanstalt in 90 WEIS, Otto Jörg: Die Reise nach ‚Tunix‘. Vorne links viele Träume. In: Frankfurter Rundschau (31.01.1978). 91 Im Einzelnen ca. 2550 Personen am Übergang Helmstedt, ca. 1200 am Übergang Lauenburg, ca. 800 am Übergang Herleshausen und ca. 550 am Übergang Rudolphstein. Vgl. Bericht der Landespolizeidirektion Westberlin, Dezernat Öffentliche Sicherheit, vom 03.02.1978, S. 6. In: APO-Archiv, Ordner Tunix. 92 Zit. nach: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter: Zurück aus Tunix. Ein ‚Woodstock in Räumen‘. 93 Ebd. 94 Vgl. ebd. oder auch: MENZEL, Claus: Kasperle als Demonstrant. Fünfzehntausend folgten der Aufforderung zur Reise nach Tunix. In: Deutsche Zeitung – Christ + Welt (03.02.1978). Ebenso eine Randnotiz: Die Verweigerung der Besuchserlaubnis für drei prominente Teilnehmer des TUNIX, Jean-Pierre Soyer, Félix Guattary, Gérard Fromanger – Mitglieder der Académie Francaise, die die in Berlin-Moabit inhaftierten Mitglieder der »Bewegung 2. Juni«, Ralf Reinders, Fritz Teufel, Gerald Klöpper, sprechen wollten. Vgl. Rote Hilfe, Landesverband West-Berlin (Hg.): Berliner Prozess-Info (Februar/März 1978). Berlin 1978. 95 MALER, Roland: Treffen in Tunix, S. 12. 96 So beschrieb auch der Westberliner Wissenschaftssenator Peter Glotz seine Eindrücke: „Für viele war es ein Ereignis, für wenige Tage in Massen ein alternatives Denken und Fühlen gegenüber der Gesellschaft zu erleben – darauf liefen die meisten Einschätzungen in der Abschlußdiskussion hinaus.“ Siehe: o. A.: Glotz hält an Diskussionen fest. Stellungnahmen zur Demonstration und zum ‚Tunix‘-Treffen. In: Die Welt (31.01.1978). 97 Siehe S. 232f.
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der Rathenower Straße in Bewegung gesetzt. Etwa eintausend Polizisten sicherten die Demonstration, die bis zum Nachmittag quer durch die Innenstadt zum Joachimstaler Platz führte. Ihre Teilnehmer stammten aus den vielfältigen Gruppen, die auf dem Kongress vertreten waren: „An der Spitze der Frauenblock, danach die Schwulen (wörtliche Lautsprecherdurchsage), dann die westdeutschen Blöcke nach Städten geordnet, danach die restlichen Teilnehmer“, hielten Polizeibeobachter fest. „Die Aufstellung ließ sich allerdings nur mit den ersten beiden Blöcken verwirklichen. Die angereisten Teilnehmer aus der Bundesrepublik waren auf den ganzen Zug verteilt. Der größte Teil der Berliner Spontis (Rote Hilfe Westberlin) konnte dann im letzten Drittel des Aufzuges ausgemacht werden.“98 Mitten in der Menschenmenge rollte ein Pritschenwagen, der mit lila- und rosafarbenen Papierschlangen geschmückt war und die Aufschrift: „Rosa glänzt der Mond von Tunix“ trug. Aufmerksamkeit erregte auch der VW-Bus des Veranstalters, der mit einem Lautsprecher bestückt war und dem während des Zuges eine Deutschlandfahne angebunden wurde, die das Fahrzeug eine Zeit lang über den Asphalt mitschleifte. Doch weder diese, noch weitere Provokationen oder gar Sachbeschädigungen, wurden von der Polizei verhindert.99 Vor der Frauenhaftanstalt in der Lehrter Straße hielt der Zug an, „um […] in Sprechchören die Freilassung der ‚politischen Gefangenen‘ zu fordern.“ Einige Transparente mit Aufschriften wie „Stammheim ist überall“, „Anarchie ist möglich“ oder „Weg mit dem Dreck“ kamen zum Vorschein. Es wurden „vereinzelt Steine, Farbbeutel und Knallkörper auf die Pol[izei]-Kfz und die eingesetzten Beamten vor der Haftanstalt geworfen.“100 An der Ecke Lehrter Straße/Kruppstraße prasselten Pflastersteine und ähnliche Wurfgeschosse auf die passiven Wasserwerfer und Begleitfahrzeuge der Polizei. Der Demonstrationszug driftete auf Grund der Vorfälle auseinander. An seiner Spitze versammelten sich all jene, die die Ausschreitungen nicht billigten – gut zwei Drittel der Teilnehmer. Sie warteten immer wieder bis der Rest aufrückte, griffen aber nicht ein, als es vor dem Bundesverwaltungsgericht und dem Amerikahaus zu weiteren Ausschreitungen kam. Ehe der gesamte Zug am Endplatz in Charlottenburg angekommen war, dürfte es etwa 15.00 Uhr gewesen sein. Die Abschlusskundgebung nahm zuerst einen friedlichen Verlauf. Dann wurde die Polizei jedoch auf die in Streifen geschnittene Bundesfahne aufmerksam. Einige Demonstranten hatten sie wieder ausgerollt, nachdem sie angemahnt worden waren, sie vom VWBus des Veranstalters zu entfernen. Jetzt steckten sie das zerschlissene Stoffstück in Brand. Eine zufällig vorbeifahrende Feuerwehr wurde von Aufzugsteilnehmern am Durchkommen gehindert. Die Polizei sah sich zum Einschreiten genötigt. Um eine Eskalation zu vermeiden, löste der Veranstalter per Lautsprecherdurchsage die Kundgebung auf und veranlasste „die Teilnehmer in größeren Marschblöcken zur TU zu gehen“101. Dort neigte sich gerade die Podiumsdiskussion um Peter Glotz’ „Theorie der zwei Kulturen“ ihrem Ende entgegen, als jemand von der Galerie herunter rief, dass die „Bullen am Ernst-Reuter-Platz Genossen eingekreist und belagert“ hätten. Daraufhin verließ der Wissenschaftssenator in Begleitung eines TUNIX-Initiators die Veranstaltung, um vor Ort nach dem Rechten zu sehen. „Den 98 Bericht der Landespolizeidirektion Westberlin, S. 2. 99 Obwohl auf vier bis sechs Demonstranten ein Polizist kam, sei „eine allgegenwärtige Präsenz […] nicht möglich gewesen“. Siehe: Brief der Staatsanwaltschaft Berlin an den Senator für Justiz, Abteilungsleiter IV, vom 06.02.1978, S. 3. In: APO-Archiv, Ordner: Tunix. 100 Bericht der Landespolizeidirektion Westberlin, S. 2. 101 Ebd., S. 3f.
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Aufruf einer TUNIX-Reisenden, das Audimax zu räumen, um die Eingekesselten herauszuhauen, befolgte niemand.“102 Der nachfolgende „Sonntunix“ – Sonntag, der 29. Januar 1978 – war anfangs noch von der rauschenden Partynacht in der „Taverne“ am Lützowplatz überschattet: Hier stand ein großes Festzelt, in dem szenebekannte Bands wie Mobiles Einsatzkommando, Teller Bunte Knete, Real Ax Band und Ton, Steine, Scherben spielten. Trotz mancher müder Tanzbeine und verkaterter Köpfe blieb TUNIX energiegeladen und wartete am Schlusstag mit über ein Dutzend Einzelveranstaltungen auf. Angefangen von einer Infoaktion zur Anti-AKW- und Ökologiebewegung über die spontane „Stadtteilaktion“ zum Thema Feminismus und Ökologie bis hin zur „Großen Fete im Schwulenzentrum“ am Kleistpark. An der großen Diskussion „Psychiatrie/Anti-Psychiatrie“ im Audimax beteiligten sich mehrere ausländische Experten, darunter Félix Guattari. Zusammen mit Gilles Deleuze, Michel Foucault und Gérard Fromanger gehörte er zu einer Pariser Gruppe, die dem TUNIX-Aufruf gefolgt war. „Ohne sie“, betonen Pfeffer und Hillebrand, „wäre TUNIX nichts geworden.“ Fromanger hatte nämlich auch Jean-Paul Sartre von dem Kongress erzählt, „der schrieb dann die TU an, dass er kommen möchte. Das machte Eindruck. Aber eigentlich war er gesundheitlich gar nicht mehr dazu imstande.“ Monika Döring hatte die Kontakte zu den prominenten Franzosen hergestellt, war im Vorfeld extra nach Paris gereist, um sie zur Teilnahme zu bewegen. In Berlin wurden sie wiederum mit Samthandschuhen angefasst: Die TUNIX-Initiatoren hatten ein ganzes Hotel in der Neuendorfer Straße für sie gebucht. Doch von Starallüren waren Foucault und Co. weit entfernt. Ihre Zimmer blieben fast unberührt, weil sie entdeckten, „wie schön es in den Berliner WGs war und gleich dort schliefen“103, berichten Pfeffer und Hillebrand schmunzelnd.
4. T EILNEHMER Eine genaue Aufschlüsselung über die Teilnehmer des Kongresses und ihre Verortung im linken Spektrum lässt sich nicht bewerkstelligen. Zum einen wurden keine Teilnehmerlisten geführt. Zum anderen sind die vielen positiven Zuschriften, die konkreten Teilnahmezusagen, die im Koordinationsbüro der Initiatoren eingingen, nicht überliefert. Das Problem ist allerdings nicht neu. Schon die Journalisten, die seinerzeit über den Kongress berichteten, standen vor der Frage, wer die TUNIXTeilnehmer waren und woher sie kamen. Das ARD-Magazin »Monitor« leitete seinen Bericht über die Veranstaltung zunächst mit den Worten ein: „Drei Tage lang war die Technische Universität in Berlin Tummelplatz einer Internationalen der Ausgeflippten – der unorganisierten linken Szene. […] Etwa fünfundzwanzigtausend Spontis, Undogmatische, Stadtindianer, Landkommunarden feierten ein Vereinigungs- und Versöhnungsfest.“ Im Laufe des Berichts landen alle vier Gruppen jedoch in einem Topf, werden als Studenten und Jugendliche dargestellt, die sich bundesweit in „kleinen Gemeinschaften Gleichgesinnter“ zu einer „Gegenkultur“ organisieren. In ihr, so erklärt der Moderator Claus Richter ernst, liege „sozialer Sprengstoff“. Nach Schätzungen würden fünfzehn Prozent aller Studenten in der Bundesrepublik zu den „Aussteigern“ gehören, also etwa 150.000 Personen, die sich immer mehr vom demokratischen Grundkonsens verabschiedeten. „Nie 102 TOMAYER, Horst: TUNIX – oder DIE REISE UM DIE OHNMACHT IN 3 TAGEN. Eindrücke vom Kongreß. In: Berliner Extra-Dienst (31.01.1978). 103 Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m).
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zuvor ist die Entfremdung zwischen erheblichen Teilen der Jugend und der etablierten Politik größer gewesen. Was heute noch Staatsverdrossenheit heißt, kann morgen in Ablehnung umschlagen“, warnt Richter deshalb. Diese Dramatisierungen hält der Fernsehbericht in sich nicht aufrecht – im Gegenteil relativieren sich die Zahlenspiele und Verallgemeinerungen, weil die Einspielungen vom Kongress eher Meinungsvielfalt als Uniformität präsentieren. So offenbart sich beispielsweise, dass einzelne Redner die politische Situation in der Bundesrepublik ganz anders auffassten als die Initiatoren. Auch die Initiatoren vertraten untereinander verschiedene Positionen. Harald Pfeffer verteidigte in einem Redebeitrag die Lebensumstände im eigenen Land – ohne auf Widerspruch bei den Zuhörern zu stoßen: „In der DDR herrscht bei weitem weniger geistige Freiheit und mehr Rechtsunsicherheit. In der Sowjetunion gibt es mehr Berufsverbote. Und selbst in Frankreich gibt es einen indirekten Radikalenerlaß. Und dann denkt mal an die Knastsituation in Chile und in Persien. Bei aller Repression, die uns nur wundert, weil sie für uns neu ist, ist doch unsere Existenz gesichert, fahren wir in den Urlaub. Wir drucken und lesen weitgehend, was wir wollen. Haben alle zu Essen und sogar zu Trinken, können uns frei bewegen und tun das mit Selbstverständlichkeit.“
Dem gegenüber bezeichnete es der Mitinitiator Ulrich Fischer in einem Interview als naiv, „an die demokratische Tradition und an die demokratische Institutionen“ der Bundesrepublik zu glauben. Man habe aus der Studentenrevolte gelernt, dass es „in diesem Staat eben nicht darum geht, sich auf den demokratischen, eingelaufenen Fahrwassern vorwärts bewegen zu können und seinen Weg zu gehen und trotzdem als Mensch zu überleben.“ Das müsse man neu lernen, meinte Fischer: „Dazu müssen wir neue Wege entwickeln. Und irgendwie neue Arten der Umgangsweisen miteinander, die sich dann […] für den ein oder anderen […] als Gegenkultur darstellen mag.“105 Diese Gegenüberstellung zeigt, dass es zum besseren Verständnis des TUNIXKongresses und seiner Bedeutung für die Linke notwendig ist, einzelne Teilnehmergruppen herauszugreifen und ihre Denk-, Fühl- und Handlungsweisen näher zu betrachten. In den folgenden Abschnitten werden deshalb die drei größten Teilnehmergruppen in den Blick genommen: die bunte Masse der undogmatischen Linken sowie im Speziellen die Spontis und die Anhänger der Alternativszene. 4.1 Die Vielfalt undogmatischer Linker – tausendundein Projekt: »taz« Von den undogmatischen Linken, die zum Kongress nach Berlin strömten, lebten viele in ländlichen Regionen. Hier gab es gerade für Homosexuelle, Frauengruppen, aber auch für Spontis und Alternative nur geringe politische Spielräume, nur eingeschränkte Aktionsräume. „Zwang zum konformen Denken und das Verbot, sich frei zu äußern, war mit Händen zu greifen gewesen“, erinnert sich Werner Meinert. Er ist einer von sieben Zeitzeugen, die im Film »Die Provinz, die Revolte und das
104 Alternativbewegungen. R: CASDORFF, Claus-Hinrich (Monitor, Sendung vom 28.02.1978, ARD). 105 Ebd.
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Leben danach«106 von ihren Aktivitäten und Erfahrungen in linken Münsteraner Gruppen der Siebziger Jahre erzählen. Der Regisseur Robert Krieg hat versucht, Licht- und Schattenseiten ihres politischen und sozialen Engagements nachzuzeichnen. Gleichwohl der Film auf Grund dieses Zuschnitts keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben kann, gewährt er doch seltene Ein- und Rückblicke auf die Situation undogmatischer Linker außerhalb der großen Protestzusammenhänge in Hamburg, Westberlin oder Frankfurt a. M. Zwei Entwicklungsabschnitte werden offen gelegt: Zwischen 1974 und 1975 durchliefen die sieben Personen mit ihrem gemeinsamen Projekt einer großen Wohngemeinschaft eine politische und soziale Experimentierphase. Im ehemaligen Hotel „Kronenburg“ in Münster probten sie „neue Formen des Zusammenlebens, die sich gegen das stellten, was wir bis dahin kennen gelernt hatten“, berichtet Gisela Brüggemann. Sie war damals in einer sozialistischen Basisgruppe aktiv und machte die anderen auf das leer stehende Hotel aufmerksam. Nach der Gründung der Wohngemeinschaft als Verein, erlebten die Beteiligten erst einmal den öffentlichen Unmut, den ein solches Projekt in der „gut bürgerlichen“ Stadt auf sich zog: „Das war ein Skandal gewesen“, weiß Werner Meinert noch lebhaft. Ihr neues Zuhause galt umgehend als „Pool der Anarchoszene“. Anwohner glaubten gar, dass „das terroristische Umfeld dort auftrat“, erzählt ein damaliger Streifenpolizist. Unter diesen Voraussetzungen war eine Stadtteilarbeit, wie sie Brüggemann, Meinert und die anderen beabsichtigten, schlicht zwecklos: „Wir wollten auch politisch arbeiten […] mit den armen unterdrückten Frauen des Stadtteils und machten eine Frauengruppe, ohne zu fragen, ob die Frauen auch Interesse haben. Wir wollten denen ihre Befreiung bringen“, erklärt Brüggemann rückblickend. Den Anwohnern kam die Sache Spanisch vor. „Es waren zu viele Rabauken und Spitzbuben dabei“, meint einer von ihnen vor der Kamera. Nach dem Scheitern der Stadtteilarbeit wandte sich die Gruppe „der großen Politik zu“, fasst Robert Krieg die Neuausrichtung nach 1975 zusammen. Der zweite politische Entwicklungsabschnitt des Kronenburg-Vereins bestand nun darin, sich dem Anti-AKW-Protest in Niedersachsen anzuschließen. Höhepunkt dieses Engagements war die Beteiligung „etlicher Bewohner“ an den Bauplatzbesetzungen am späteren AKW Brokdorf. Die körperlichen Folgen der Auseinandersetzungen mit der Polizei, die Tränengas und Schlagstöcke einsetzte, brachte Aktivisten wie Uwe Köhler schließlich zum Umdenken: „Das hat in mir selbst auch das Gefühl erzeugt, dass ich eine Grenze erreicht habe, […] wo ich mir selbst gesagt habe, so kannst du nicht weitermachen. Du gefährdest dich selber so stark, dass es das nicht wert ist.“ Für Köhler stand fest, dass die Formen des Protestes überdacht werden mussten. Er sah ein, dass es kein Ziel sein konnte, „dass ich mich selbst dafür opfere, um das AKW zu stoppen. Der Preis ist mir zu hoch.“ Der Erfahrungen im Anti-AKW-Protest hatten die Gruppe an einen Wendepunkt gebracht: Es begann „ein Kurswechsel in die Privatheit und in die Kultur“, erinnert sich Hugo Schroeter und denkt vor allem an das wachsende Interesse an Theatergruppen und Clownworkshops, wie sie in der Spontiszene damals typisch und dann auch auf dem TUNIX-Kongress vertreten waren. Doch zu den Spontis rechneten sich die Leute von der Kronenburg nicht: „Wirklich was zu machen, nur weil man Spaß daran hat, und nicht noch irgendeine politische Rechtfertigung dafür zu finden, das wär‘ uns […] nicht möglich gewesen“, meint Gabi Büscher. „Wir 106 Die Provinz, die Revolte und das Leben danach. R: KRIEG, Robert (Bundesrepublik Deutschland, 2004).
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hatten zwischendurch auch mal so Ansprüche, politisches Theater zu machen. […] Das haben wir dann aber ziemlich schnell gelassen.“ Dennoch hätten zumindest soziale Aspekte weiterhin eine Rolle gespielt: „Ja, doch natürlich. Wir haben diesem armen Zirkus helfen wollen“, fügt Büscher hinzu und liefert damit indirekt die Begründung, warum für sie und ihre Mitstreiter TUNIX kein Thema war. Auch in Schroeters Rückblick spielen die Spontis keine Rolle. Aus seiner Sicht gab es am Ende der Siebziger Jahre im Wesentlichen drei linke Protestzusammenhänge: die Frauenbewegung, die Atomkraftbewegung, die Grünen. „Es wurde Partei, aber es war keine Revolution mehr“, hält er fest. „Es goss sich in neue Formen.“107 In der Folge löste sich auch die Wohngemeinschaft in der Kronenburg Ende der Siebziger Jahre nach und nach auf. Robert Kriegs Film verrät letztlich zwar nichts über konkrete Teilnehmer des TUNIX-Kongresses. Er zeigt aber an einem Beispiel, dass Linke aus der Provinz ihren eigenen Kopf hatten, eigene Projekte verfolgten, eigene Themen für sich entdeckten. Es wäre deshalb falsch, anzunehmen, dass TUNIX nur deshalb so viele Land- und Kleinstadtkommunarden, so viele Homosexuellen-, Männer- und Frauengruppen, so viele Alternative aus der Provinz anlockte, weil diese sich von dem Kongress politische Orientierungs- oder gar Lebenshilfe erwarteten. Stattdessen ging es ihnen eher darum, sich aus den engen politischen Spielräumen zu befreien, ihre eigenen „’insuläre[n]‘ Ansätze zu einer praktischen Veränderung von Lebensbedingungen, Produktions- und Verkehrsformen im Rahmen der bestehenden Gesellschaft“108 auf TUNIX zu präsentieren, zu erweitern und gegenseitig zu vernetzen. Ein Beleg dafür ist der Veranstaltungsplan. Da nicht die Initiatoren, sondern die Teilnehmer den Kongress mit Inhalten füllten, lässt sich an ihm gut ablesen, welchen linken Protestzusammenhängen die TUNIX-Reisenden entstammten. Für den Sonntunix weist der Plan zum Beispiel ein Treffen sozialistischer „Basisgrüppler“ aus Kaiserslautern, Göttingen und Baden-Württemberg aus, die sich „mal wieder über [ihr] Selbstverständnis und [ihre] Perspektiven“ miteinander austauschen wollten. Ähnlich ging es linken Buchhändlern, die am gleichen Tag zusammen kamen, um „aus der Vielfalt [ihrer] Kollektiv- und Konflikterfahrungen Schlüsse zu ziehen“109. Am Samstunix gab es sogar ein Treffen „der Einzelkämpfer“. An Teilnehmer aus der Provinz richteten sich auch die Veranstaltungen „Selbstverwaltete Jugendzentren“ sowie „Probleme-, Widerstands- und Überlebensmöglichkeiten an Erziehungsschulen“110. Umgekehrt gab es Veranstaltungen, deren Besuch sich eher für undogmatische Linke aus größeren Städten lohnte. So wurde am Samstunix bei „Überleben im Stadtteil“ beredet, wie man verhindern könne, dass linke „Zusammenhänge durch Sanierung, Urbanisierung, Technoquadrierung immer weiter kaputt gemacht werden“111. Am Sonntunix wollte eine Gruppe der „Stadtzerstörung“ den Kampf ansagen. Auch das Arbeitsgruppentreffen zur „schwulen autonomen Theorie“ mit dem Titel: „Rosa Lebensformen, rosa Lebensformen?“ richtete sich eher an Linke, die in 107 Ebd. 108 HIRSCH, Joachim: Das ‚Modell Deutschland‘, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1986, S. 136. 109 o. A.: TUNIX. Veranstaltungsplan. In: Zitty. Illustrierte Stadtzeitung (Nr. 3, 1978), S. 13-15, hier: S. 15. 110 o. A.: Treffen in Tunix. Broschüre. In: APO-Archiv, Ordner: Tunix. 111 o. A.: TUNIX. Veranstaltungsplan, S. 14.
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ein städtisches Umfeld integriert waren: „Wir wollen mit Leuten reden und diskutieren, die den Versuch machen […], alternative Lebensformen aufzubauen. Wir werden berichten, welche Schwierigkeiten und Probleme bei ihren Projekten (schwuler Verlag, Druckerei, ‚Alternative Kneipe‘, Buchladen) aufgetaucht sind […].“112 Zu den Themen, die undogmatische Linke aus der Provinz ebenso beschäftigten wie jene aus den Großstädten, gehörte die Meinungsfreiheit: Der Gedanke, sie könnte gefährdet oder längst eingeschränkt sein, förderte den Bedarf nach „unabhängigen“ Medien und Medienprodukten. Von diesem Trend profitierte unter anderem die Off-Kino-Szene113, die bei TUNIX eine wichtige Rolle spielte. Das Lichtspielhaus in der Yorckstraße stellte über die drei Kongresstage hinweg ein richtiges „Filmtunix“-Programm auf die Beine. Neben Klassikern des Neuen Deutschen Films wie »Alice in den Städten«114 oder »Die verlorene Ehre der Katharina Blum«115 liefen viele unabhängige Produktionen, die sonst selten auf einer größeren Leinwand zu sehen waren. Ein gewichtiger Grund dafür lag darin, dass sie sich mit dem Alltag der linken Szene und linkem Protest beschäftigten; zum Beispiel Manfred Bannenbergs »Brokdorf – Im Norden da gibt es ein schönes Land«116, als Beitrag zur Anti-AKW-Bewegung, oder Rolf Schübels »Lebenshilfe reichlich«117, der den Überlebenskampf zweier Jugendzeitschriften verfolgt. Ganz ausgefallene Werke stellten das Medienzentrum Kreuzberg e.V. und eine alternative Medienkooperative am Sonntunix im Hörsaal 104 der TU vor.118 Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Bevormundung durch die „bürgerlichen“ Medien und der Repression gegen linke Szeneblätter waren Veranstaltungen wie „Initiativen für linke ‚Wochenschauen‘“, „Zensur – Selbstzensur“ oder „Gibt es einen neuen Faschismus in der BRD?“, bei der die linken Zeitschriften »Alternative«, »Berliner Hefte« und »Ästhetik und Kommunikation« als Organisatoren in Erscheinung traten. Die zugkräftigste und zugleich wirkungsvollste dieser Veranstaltungen war allerdings die Diskussion zur „Linken Tageszeitung für die BRD“. Sie fand am Samstunix im Audimax der TU statt. Zu Wort kamen unter anderem Hans-Christian Ströbele, Günter Wallraff sowie linke Zeitungsmacher aus Westberlin und dem Bundesgebiet. Aus dem Ausland gastierten Vertreter der beiden Vorbildzeitungen »Lotta Continua« und »Libération«. Mathias Bröckers erinnert sich, „dass alle im Saal die Notwendigkeit sahen, der Gehirnwäsche durch die im Zuge der Terrorhysterie nahezu gleichgeschalteten Großmedien zu entkommen.“119 Weniger verdrossen formuliert es Ute Scheub: „Sie erzählten davon, dass es nun genug sei an Medienzensur […], dass die undogmatische Linke eine undogmatische Tageszeitung brauche, kein Parteiorgan, sondern ein lautes Flüstertütchen für die linke bunte 112 Ebd., S. 15. 113 Das Präfix „Off“ stand in den Siebziger Jahre für Kinos, die nicht den gängigen Mainstream spielten, sondern ihr Programm aus Werken der Filmgeschichte und Filmkunst zusammenstellten. Später hat sich dafür der Begriff „Programmkino“ eingebürgert. 114 Alice in den Städten. R: WENDERS, Wim (Bundesrepublik Deutschland, 1974). 115 Die verlorene Ehre der Katharina Blum. R: SCHLÖNDORFF, Volker (Bundesrepublik Deutschland, 1975). 116 Brokdorf – Im Norden da gibt es ein schönes Land. R: BANNENBERG, Manfred (Bundesrepublik Deutschland, 1977). 117 Lebenshilfe reichlich. Jugendzeitschriften und ihre Macher. R: SCHÜBEL, Rolf (Bundesrepublik Deutschland, 1977). 118 Vgl. o. A.: TUNIX. Veranstaltungsplan, S. 15. 119 BRÖCKERS, Mathias: Gegenmodell Deutschland.
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Sprachvielfalt. Wer das Projekt unterstützen wolle, solle mitmachen, in Berlin oder anderswo.“120 Der TUNIX-Kongress brachte so „entscheidenden Schwung“121 in ein Projekt, das sich seit 1976 in der Schwebe befand und mit der Nullnummer 1 vom 27. September 1978 in die Tat umgesetzt wurde. „Zwei Jahre lang hatten Initiativgruppen von Hamburg bis München, von West-Berlin bis Freiburg, darüber diskutiert, ob so etwas wie eine linke Tageszeitung überhaupt gelingen könnte“122, weiß »taz«Historiker Jörg Magenau. Nach seinen Einschätzungen kristallisierten sich erst 1978 feste Vorstellungen vom Charakter der Zeitung heraus: „Die Zeit der APO lag zehn Jahre zurück. Der Terror der RAF hatte die Linke ihrer moralischen Überlegenheitsgefühle beraubt und zugleich das Unwohlsein gegenüber einem autoritär agierenden Staat gesteigert.“ Wenn die Zeitung funktionieren wollte, wenn sie bei ihrer Zielgruppe ankommen sollte, dann mussten ihre Macher die Linke unbedingt als Spektrum begreifen, „die zersprengten Splitter sammeln und neu zusammensetzen.“123 Magenau legt sich nicht fest, ob der TUNIX-Kongress diese Einsichten beflügelte. Dass der Kongress eine wichtige Bedeutung für die »taz« hatte, steht für Mathias Bröckers außer Frage: Nur mit dem „Dadageist von Tunix – Du hast keine Chance, aber nutze sie!, der Kreativität des Chaos und der Genialität von Dilettanten“124 habe das Projekt die schwierige Anfangszeit überwinden können. 4.2 Spontis – Ende ohne Schrecken Während der Kongress für viele undogmatische Linke eine Initialzündung war, weil sie Mut bekommen hatten, ihre linke Buchhandlung, ihre Druckerei, ihren Verlag, ihr Kulturzentrum oder ihre Frauengruppe zu gründen,125 kam er für die Spontis einer Art Abschlussveranstaltung gleich. „Nach dem TUNIX-Kongress“, meint Harald Pfeffer, „haben die Spontis nie wieder etwas gemacht. Der Kongress war die schließende Klammer, die Ansage, dass dieser Spuk jetzt vorbei ist.“126 Pfeffers Einschätzung findet bei Schütte Bestätigung: Nachdem die Spontigruppen bundesweit „einige semesterlang an vielen Hochschulen die stärksten Gruppen waren, die Studentenparlamente majorisiert und viele ASten gebildet haben“ bescheinigt er ihnen für das Jahr 1979 eine klare Haupttendenz, die „heißt: Niedergang und Zerfall.“127 Von den acht Sponti-Hochburgen128 aus den Jahren 1977/78 seien lediglich noch drei übrig gewesen, und zwar die Uni Kassel, die Uni Frankfurt und die FU Berlin. Allerdings konnte auch hier nicht mehr von einer Dominanz in den studen120 SCHEUB, Ute: Hoch die Kinderschokolade! 121 MAGENAU, Jörg: Die taz, S. 28. 122 Ebd., S. 16. 123 Ebd., S. 21. 124 BRÖCKERS, Mathias: Gegenmodell Deutschland. 125 Vgl. o. A.: Wir waren alle Tunix!; vgl. auch: IHL, Jan Michael: Die gute Hefe. In: Die Tageszeitung (25.01.2008). 126 Harald Pfeffer am 04.03.2009 (m). Mit „Spuk“ ist vor allem die „naive und infantile“ Art und Weise des politischen Engagements der Spontis gemeint: So hätten sie auf eine „gute und richtige Sache“ mit „ohnmächtigen und hilflosen Methoden“ hingearbeitet, ergänzt Pfeffer am 01.06.2010 (s). 127 SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung, S. 141. 128 Schütte zählt dazu die Universitäten Bremen, Göttingen, München, Frankfurt, Marburg, Kassel, Kaiserslautern und die FU Berlin, beansprucht allerdings keine Vollständigkeit. Vgl. ebd., S. 141f.
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tischen Gremien die Rede sein. Im neuen Berliner AStA verfügten die Spontis nur über zwei von sechzig Sitzen. Und die Frankfurter Gruppe „Undogmatische Linke“ hielt in ihrem AStA zwar die Mehrheit, bestand aber weitgehend nicht mehr aus Spontis.129 Ein deutliches Signal für die Auflösungstendenzen dieser Szene setzte das Ende der Göttinger Mescaleros respektive der „Bewegung Undogmatischer Frühling“ im Herbst 1977. Nach dem Medienrummel, den ihr Buback-Nachruf 1977 ausgelöst hatte, und dem weniger Aufsehen erregenden Schleyer-Nachruf entschied sich die Gruppe, „spontan“ von der politischen Bühne zu verschwinden. Auf dem TUNIXKongress ließen sich einige von ihnen dann noch einmal wie linke Prominente feiern, wurden sogar von Peter Glotz in dessen Privatwohnung eingeladen.130 Der Politiker wusste offenbar nicht, dass die Gruppe einige Monate zuvor von RAFMitgliedern besucht und auf ihre potentielle Kooperationsbereitschaft hin abgeklopft worden war.131 Verbindliche politische Aussagen und Richtungsentscheidungen, so lehrt Schüttes Studie, wollten Spontis jedoch nicht treffen. Der Politologe hebt hervor, dass es sich bei ihnen um resignativ-suchende Studentengruppen handelte, die neben ihrer Beteiligung in studentischen Gremien keine Organisationsstrukturen ausprägten.132 Zudem ist unklar, ob die Sponti-Abgeordneten, auch „Sponti-Kader“ genannt, die Mehr- oder Minderheit ihrer Szene repräsentierten. Wie viele „einfache“ Anhänger die Spontiszene hatte und wie viele außerhalb der Universitäten, war nicht einmal seinerzeit zu ermitteln. Ein vager Hinweis darauf, dass sie zahlenmäßig nicht unerheblich gewesen sein können, ist das Lamento anderer linker Hochschulverbände, die wegen der Spontis um ihren Einfluss fürchteten: „Linke Leute, die vor wenigen Jahren zu uns gekommen sind, […] sind jetzt bei den Sponti-Gruppen“133, musste 129 Vgl. ebd., S. 142. 130 Mescalero schreibt dazu: „So schnell wie sie gekommen war, ließ mich die ‚Popularität‘ nicht los. Der Verlust beinahe jeglicher Sympathien in meiner unmittelbaren Umgebung [...] verleitete mich noch einmal dazu, die Höhepunkte einer neuen Reise- und Veranstaltungswelle auszukosten. [...] In Tunix konnte ich es noch einmal voll auskosten. Als anonyme prominente Person des nichtöffentlichen Lebens hatte ich mich (zusammen mit den noch verbliebenen Freunden vom Männerstammtisch) dazu entschlossen, jene prominente Persönlichkeit des öffentlichen Lebens zu treffen, die mit ihrer ‚These von den zwei Kulturen‘ in der Diskussion um die Mescalero-Affäre einige Beachtung gefunden hatte. […] Als wir den Senator dann in seiner anderen Kultur aufsuchten, erhielt er ein Hackebeilchen und die Versicherung zum Geschenk, mit den Stadtindianern jederzeit zu einem Grundkonsens gelangen zu können. Und der vom Senator kredenzte Sherry erwies sich als vorzügliches Mittel, den Indianern die Zunge zu lösen. Danach ging jeder seinen Weg.“ Siehe: Mescalero: Memoiren eines im Amt ergrauten Stadtindianers oder: Versuch, eine Karriere ins Nichts aufzulösen. In: Kursbuch (Nr. 58, Dezember 1979), S. 21-31, hier: S. 29f. 131 Vgl. UHLMANN-STRACK, Gerda u. a.: Diskussionsprotokoll über das Thema ‚Erscheinungsformen des Terrorismus‘. In: Arbeitsstab ‚Öffentlichkeit gegen Terrorismus‘ im Bundesministerium des Innern: Geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus. Protokoll einer Modelltagung. Bonn 1979, S. 30-40, hier: S. 34. 132 Vgl. SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung, S. 81-84. Schütte führt diesen Tatbestand darauf zurück, dass Spontis jede politische Organisation dem Verdacht aussetzten, ihre Mitglieder zu vereinnahmen. Sie trügen zwangsläufig formalisierende Züge, schlössen Eigenes, Menschliches, Ausdrückliches aus, sperrten sich gegen und unterdrückten zum Teil die Sensibilität, die sie eigentlich erhalten sollten, zitiert Schütte einen Sponti. Siehe: Ebd., S. 83f. Zur Organisationsfeindlichkeit, vgl. ebd., S. 71-73. 133 o. A.: ‚Wir sind unregierbar und unkalkulierbar.‘ In: Der Spiegel (26.03.1979).
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etwa der Hochschulreferent der Jusos, Harald Metzger, im März 1979 gegenüber dem »Spiegel« eingestehen. Allein, der wachsende Einfluss der Spontis auf den studentischen Nachwuchs machte sich wenig bemerkbar. Während andere Hochschulverbände weiterhin fleißig Flugblätter, Resolutionen und Programme produzierten, propagierten sie „den Rückzug auf das ‚Ich‘ oder ‚Wir‘, weg von den großen Gesten der Globalveränderung.“ Und anstatt lange Reden zu schwingen und Protestnoten zu formulieren, bevorzugten sie eine alternative Protestform – die „direkte Aktion“: „Als in Frankfurt wieder einmal die Mensa-Preise erhöht wurden, luden sie sich die Tabletts voll und marschierten ohne zu zahlen an der Kassiererin vorbei.“ Und ein „sanfter Konfettiregen statt des erwarteten heftigen Widerspruchs ärgerte Finanzminister Hans Matthöfer in einer Berliner Ökologie-Veranstaltung“135. Weitere solcher Beispiele spontanen Protests finden Erwähnung in der einschlägigen Literatur.136 Es ist allerdings davon auszugehen, dass viele Aktionen auf Grund ihres schriftlosen Charakters nicht überliefert sind. Wenig greifbar ist im Rückblick auch die Teilnahme von Spontis am TUNIXKongress. Der Veranstaltungsplan verrät nicht, bei welchen Einzelveranstaltungen Sponti-Gruppen organisatorische Verantwortung trugen oder Anteil hatten. Während außerdem Umweltaktivisten, sozialistische Basisgruppen, Homosexuellen- und Frauengruppen zu Diskussionsrunden einluden und ihr zukünftiges Vorgehen berieten, gab es keinen Ort, keine Gelegenheit auf TUNIX, bei der Spontis sich selbst, ihre eigenen Probleme, ihre eigenen Protestformen bekannt machten und zur Diskussion stellten. Wenn sie nicht gerade als Initiatoren in die Realisierung des Kongresses eingebunden waren oder als Künstler auftraten, mischten sich Spontis also entweder als Redner bei den Diskussionsrunden ein oder sie ließen sich als passive Kongressbesucher durch das bunte Programm treiben. Ihr bekanntester Vertreter, „Spontifex maximus“137 Daniel Cohn-Bendit, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, zu kommen. „Warum, weiß ich nicht mehr“, schreibt er im Rückblick. „Aber dieser Kongress war einer der vielen Versuche, an die Bewegungs-
134 Warum diese Protestform so beliebt bei den Spontis war, beschreibt der Journalist Reinhard Mohr mit dem Blick und der Sprache eines Zeitzeugen: „Die direkte Aktion […] war politische Notwendigkeit und identitätsstiftendes Ausdrucksmittel zugleich. Die direkte Aktion verhieß die kürzeste Verbindung zur individuellen Authentizität, zu den existentiellen Bedürfnissen, zur Wirklichkeit […]; sie versprach die Freiheit des Handelns, das Abenteuer in einer immer abstrakter werdenden Gesellschaft, kurz: Die spontane, physische Lebensäußerung […].“ Siehe: MOHR, Reinhard: Zaungäste, S. 21. Die Historikerin Ingrid Gilcher Holtey definiert die „direkte Aktion“ als eine Handlung im Grenzbereich von Legalität und Illegalität, welche mit dem Alltag, dem Gewohnten, der normalen Ordnung der Dinge bricht und Normen, Regeln, Gesetze, Erwartungen verletzt, um dadurch Aufmerksamkeit zu erzeugen und Reaktionen herauszufordern. Vgl. GILCHER-HOLTEY, Ingrid: Transformation durch Subversion. Die Neue Linke und die Gewaltfrage. In: Dies./ANDERS, Freia (Hg.): Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols. Recht und politisch motivierte Gewalt am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M./New York 2006, S. 198-220, hier: S. 213. 135 o. A.: ‚Wir sind unregierbar und unkalkulierbar.‘ 136 Vgl. SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung, S. 70f.; SCHLICHT, Uwe: Vom Burschenschafter zum Sponti, S. 136. 137 Diesen Titel macht er sich im Nachhinein mit „Joschka“ Fischer und Gerhard Seyfried streitig, die von Journalisten bisweilen die gleiche Zuschreibung erhalten.
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freiheit der antiautoritären Revolte anzuknüpfen. Und deswegen war das wichtig, und eigentlich wäre ich gern dabei gewesen […].“138 Auf Grund ihrer Haltung und ihres Selbstverständnisses konnte den Spontis nicht ohne weiteres politischer Einfluss und ein dauerhaftes Überleben ihrer Szene in Erwartung gestellt werden, wie es Harald Pfeffers Aussage impliziert. Sein Mitstreiter Johannes Eisenberg hat die Bedeutung des TUNIX-Kongresses für die Spontis deshalb etwas positiver formuliert: Es sei nicht das letzte, was sie auf die Beine gestellt hätten, sondern ihre „größte politische Leistung“139 gewesen. Und bei näherem Hinsehen bestand diese Leistung nicht nur in der Realisierung der Veranstaltung, sondern auch darin, dass die Spontis etwas von ihr mitnahmen, dass sie die TUNIX-Erfahrungen für sich nutzten. 4.3 Alternative – Aufbruch ins Paradies? Alternativprojekte bildeten bereits seit Mitte der Siebziger Jahre wichtige Lebensbereiche für die Spontis.140 Die Hinwendung zu diesen praktischen Versuchen, Politik und Gesellschaft zu verändern oder gar zu revolutionieren, war keineswegs selbstverständlich. Eher markierte sie einen Bruch mit den ursprünglichen spontaneistischen Protestansätzen, die vornehmlich auf Versuche hinausliefen, hochschulpolitisch zu wirken. Laut Schütte hatten die frühen Spontis „ein unorthodoxes, aber gleichwohl im großen und ganzen marxistisches Selbstverständnis.“141 Sie fügten sich in die Landschaft aus reformistischen, maoistischen, trotzkistischen und gewerkschaftlich orientieren Hochschulgruppen ein, nicht ohne gelegentlich ihrem Widerstreben gegen die „’formaldemokratische Wahlscheiße‘“142 Ausdruck zu verleihen. Personelle Erneuerung, hochschulpolitische Erfahrungen und veränderte Rahmenbedingungen143 linken Protests trugen dazu bei, dass die Sponti-Gruppen im Laufe der Zeit „theoriefeindliche Tendenzen“144 ausprägten – und zugleich offener für unkonventionelle Aktionsformen und alternative Lebensgestaltung wurden. Mit Wolfgang Kraushaar lässt sich diese Wende ziemlich genau auf das Jahr 1975 datieren: Damals habe die Frauenbewegung mit ihren Aktionen das Bewusstsein geschaffen, dass die „subjektive Erfahrung des jeweiligen Individuums […] Kriterium politischen Handelns ist“ und nicht die „treffende theoretische“145. Mit anderen Worten: Die Feministinnen lebten vor, dass der Einzelne sich am ehesten für politisches Engagement begeistern und aktivieren lässt, wenn er „gefälligst auch am eigenen Leib“ spüre, wofür er „aktiv werden soll“146. Kraushaar weist darauf hin, dass die Frauenbewegung deshalb auch eine Art Vorreiterrolle für die Alternativbewegung innehatte. Die Feministinnen hätten „die große Wende nach innen, den Rekurs auf den eigenen Körper“ vorgemacht und erst dann sei es „vielen anderen 138 o. A.: Wir waren alle Tunix! 139 REICHERT, Martin: ‚Wir waren anders‘. 140 Vgl. SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung, S. 95. 141 Ebd., S. 25. 142 Zit. nach: Ebd. 143 Siehe Kap. III.1.1 und III.1.2. 144 SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung, S. 26. 145 KRAUSHAAR, Wolfgang: Autonomie oder Ghetto. Thesen zum Verhältnis von Alternativund Fluchtbewegung. In: Ders. (Hg.): Revolte und Reflexion. Politische Aufsätze 1976-1987. Frankfurt a. M., S. 97-150, hier: S. 129. 146 Ebd., S. 130.
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Gruppierungen leichter gefallen, nun ebenfalls politisch lange Zeit unterdrückte Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren.“147 Eingekleidet mit dem modischen Mantel der „Politik der ersten Person“148 starteten selbstbezogene, notwendigerweise „partikulare Rebellionsversuche“, die sich insgesamt als Alternativbewegung verstanden, und jeweils nichts anderes waren als „unterschiedlichste Versuche […], soziale Befreiung im kollektiven Experiment zu testen.“149 Diese Befreiungsversuche gewannen für die Spontis umso mehr ihren Reiz, je deutlicher sie Mitte bis Ende der Siebziger Jahre ihre „antiformativ-rebellischen, regressiv-harmonistischen und eskapistisch-spekulativen Bestrebungen“150 ausprägten. Das bedeutete laut Schütte so viel wie: „Kampf gegen universelle Repression“, „Kommunikation und menschliche Nähe“ und „phantasiebetonte Suche nach dem Anderen, Neuen.“151 Erste Versuche, diese Bedürfnisse und Ansprüche auszuleben, waren Kneipenprojekte. Sie stellten den Einstieg in eine Gegenökonomie dar, in der das Prinzip der Arbeitsteilung aufgehoben wurde: „[…] keine Arbeit sollte wertvoller gelten als eine andere und sie sollte von jedem Mitglied der Gruppe gemacht werden.“152 Mit zunehmendem Gedeihen bildeten die Kneipen dann wichtige Kommunikationsräume der Spontiszene. Sie erleichterten die „Gegenmilieubildung“, das heißt: Über den gegenseitigen Austausch entstanden weitere gemeinsame Projekte wie Werkstätten, Läden, Film- und Theatergruppen usw. Wie eingangs geschildert, war auch die Idee für TUNIX in einer solchen Umgebung aus Kneipen und Buchhandlungen entstanden. Alternative bestritten allerdings, dass die gegenökonomischen und gegenkulturellen Ansätze der Spontis schon ernsthafte Annäherungen an die Alternativbewegung waren – aus zwei Gründen: „Hier handelt es sich um konkrete Projekte, während die ‚Spontis‘ zunächst eine ‚Szene‘ bilden, zu der solche Projekte auch gehören, aber nicht wesentlich“, meinen die Landkommunarden Bernd Leineweber und Karl-Ludwig Schibel. Die Spontis habe es, als Teil der Linken, auch vor diesen Projekten gegeben. Anders die Alternativen, die erst während der Siebziger Jahre, „den Bürgerinitiativen ähnlich, außerhalb der Linken entstanden“ seien. Ein zweiter Unterschied zur Alternativbewegung habe darin bestanden, dass die Projekte der Spontis „von bemerkenswerter Homogenität“ gewesen seien. Die Vielfalt der Alternativen, ob „Produktions-, Dienstleistungs- und Konsumoperativen, freiberufliche Kollektive, (Stadt- und Land-)Kommunen“153, habe sich dagegen kaum überschauen lassen. Der Erfolg des TUNIX-Kongresses bestand darin, genau diese Voreingenommenheiten abzubauen. Alternative und Spontis erkannten, dass sie im Grundsatz übereinstimmten: „Ohne eine individuelle Veränderung ist es müßig, eine gesellschaftliche anzustreben, andersherum: eine gesellschaftliche Veränderung schließt
147 Ebd., S. 132f. 148 Vgl. dazu: LENZ, Ilse: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung. Wiesbaden 2008, S. 497f. 149 KRAUSHAAR, Wolfgang: Autonomie oder Ghetto, S. 147. 150 SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung, S. 92. 151 Ebd., S. 94. 152 LEINEWEBER, Bernd/SCHIBEL, Karl-Ludwig: ‚Die Alternativbewegung‘. Ein Beitrag zu ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und politischen Tragweite, ihren Möglichkeiten und Grenzen. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Autonomie oder Getto? Kontroversen über die Alternativbewegung. Frankfurt a. M. 1978, S. 95-128, hier: S. 98. 153 Ebd., S. 123.
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eine individuelle mit ein.“154 Die Spontis hatten eine Entwicklung vollzogen, von der hochschulpolitischen Orientierung hin zur lebenspraktischen: „Wir wollten uns nicht mehr nur mit Theorien beschäftigen, sondern etwas tun, eine eigene Öffentlichkeit schaffen, eine Tageszeitung gründen zum Beispiel. Betriebe aufbauen, eine alternative Ökonomie“155, erklärt Johannes Eisenberg. Die „Suche nach dem Strand von TUNIX“, wie sie im Aufruf angekündigt worden war, blieb keine hohle Phrase, sondern stand für die ausdrückliche Bereitschaft der Spontis, die Plattform, die der TUNIX-Kongress alternativen Ideen und Projekten bot, tatsächlich für sich zu nutzen. Das Angebot war vielfältig. Am Freitunix fanden, noch vor der offiziellen Eröffnungsveranstaltung, Treffen „alternativer Filmarbeit“ und „alternativer Bildungsmodelle“ statt. Letzteres wurde am Samstunix fortgesetzt. Die Veranstalter äußerten den Anspruch, Initiativen anzuregen, die „zur Verbesserung der Ausbildung aller Menschen einen Beitrag“ leisten wollen. Am Sonntunix präsentierten Medienkooperative ihre „alternative Medienpraxis“ und stellten Filme zur Diskussion. Über die „Verwirklichung von Gegenökonomie“ ging es in der Diskussionsrunde der Berliner Kneipenkollektive, die sich darüber hinaus auch Gedanken über den politischen Zweck ihres Tuns machten: Waren sie Kommunikationsräume einer „Gegenöffentlichkeit“ oder bloße „Abfüllstation[en]“156? Abbildung 6: Tummelplatz: Die TUNIX-Reisenden im Audimax
Quelle: Privatarchiv Harald Pfeffer
Um die großen Zusammenhänge ging es am Samstunix auf der Podiumsdiskussion mit Peter Glotz. Hier wurde stundenlang über die Tragweite der gesamten Gegenkultur philosophiert: Befanden sich Spontis und Alternative auf einem Marsch „ins kulturelle und reale Ghetto“157? Der Berliner Wissenschaftssenator hatte ausgehend 154 SINKWITZ, Wolfgang: Zur Theorie der Therapie innerhalb der Alternativbewegung. In: GEHRET, Jürgen (Hg.): Gegenkultur heute, S. 166-168, hier: S. 166. 155 REICHERT, Martin: ‚Wir waren anders‘. 156 o. A.: TUNIX. Veranstaltungsplan. In: Zitty. Illustrierte Stadtzeitung (Nr. 3, 1978), S. 13-15. 157 Ebd., S. 14.
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vom Buback-Nachruf die These aufgestellt, dass sich radikal-linke Studenten wie die Göttinger Mescaleros soweit vom politischen System und der Gesellschaft der Bundesrepublik entfernt hätten, dass sie mittlerweile „eine ganz andere Sprache“ sprächen und in einer „Subkultur innerhalb der Hochschule“ lebten: Die Unterschiede zwischen ihnen und der „Kultur der vielen Leute, die ihre stinknormale Tageszeitung lesen […], die im Fernsehen Rosenthals ‚Dalli-Dalli‘, Zimmermanns ‚Aktenzeichen XY‘ und Löwenthals ‚ZDF Magazin‘ einschalten“ seien so groß, daß ich von zwei Kulturen spreche“158, meinte Glotz. Seine These fand in der Diskussion sogar weitgehend Zustimmung, was der Beobachter und Mitorganisator Dieter Hoffmann-Axthelm in einer Stellungnahme zum Kongress später als „ein Moment der Stärke“159 der neuen Bewegungen betrachtete. Von einer ernsthaften „organisatorische[n] Einheit“ jener, die auf dem Kongress gemeinsam „Autonomieforderungen“ geäußert hätten, mochte der Journalist allerdings nicht sprechen. Im Gegenteil standen seiner Ansicht nach Landkommunen, Stadtteilprojekte und „innerhalb der Städte dazu wiederum die Frauenbewegung (auch die Schwulen- und Lesbenbewegung, die Männergruppen […]) in spannungsvollem Verhältnis“160. Was die verschiedenen Protestansätze zusammen gebracht habe, sei ihre „Einheit des Ziels“ gewesen: „die Veränderung der Lebensverhältnisse“161 als Reaktion auf individuelles Repressionsempfinden. „Jede einzelne Autonomiebewegung ist Antwort auf eine der vielen Leidenserfahrungen dieser Gesellschaft und bezieht sich in ihrem ganzen Handeln auf die besonderen Formen der Unterdrückung, die sie erfährt.“ Hoffmann-Axthelm sah hierin den Grund dafür, dass sich die Projekte alternativen Zusammenlebens und Wirtschaftens gewissermaßen trotzig nach außen hin abgrenzten. Zugleich unterstrich er, dass sie längst nicht so weit waren, zusammen oder jeweils für sich ein „Modell zukünftiger Verhältnisse“ anzubieten. Im Gegenteil seien sie trotz ihrer Abkapselung doch unvermeidlich im ökonomischen System verankert – wenn auch „in Nischen des Verwertungsapparates“: „Diese Nischen dehnen sich zwar aus, […] so daß die darin eingenisteten, weitgehend auf Teilzeitarbeit, informelle Verteilung und minimalen Reproduktionskosten aufbauenden neuen Lebensformen durchaus begrenzte Verallgemeinerungen zulassen. Aber sie bleiben dabei natürlich Antworten auf die kapitalistische Strukturkrise, […] sind ökonomisch trügerisch“162, urteilt Hoffmann-Axthelm. Im »Spiegel« hieß es später sinngemäß „außen GmbH und innen rot“163. 158 o. A.: Jeder fünfte denkt etwa so wie Mescalero. Interview mit Peter Glotz. In: Der Spiegel (03.10.1977). Glotz weiter: „Es geht darum, Zigtausende junger Leute, die am Grundkonsens unseres Grundgesetzes zweifeln, in diesen Grundkonsens zurückzuholen. […] Die allermeisten sind mit Sicherheit keine Sympathisanten des Terrors. Aber sie sind kritisch gegenüber diesem Staat […].“ Weitere Zitate, vgl.: GLOTZ, Peter: ‚Nicht nur eine Frage von Kommunikationstechniken.‘ In: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen?, S. 110-116; Vgl. auch: GLOTZ, Peter/LANGENBUCHER, Wolfgang L.: Reform als Kommunikationsprozeß. Eine Problemskizze. In: GREIFFENHAGEN, Martin (Hg.): Zur Theorie der Reform. Entwürfe und Strategien. Heidelberg 1978, S. 163-188, hier v. a.: S. 174 u. S. 183. 159 HOFFMANN-AXTHELM, Dieter: Diaspora. Die Wiedervereinigung der Erfahrung. In: Ders./KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen?, S. 149-162, hier: S. 151. 160 Ebd., S. 156. 161 Ebd., S. 158. 162 Ebd., S. 159f. 163 o. A.: Außen GmbH und innen rot. In: Der Spiegel (12.03.1979).
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Selbstkritische Einsichten keimten auch bei Klaus Röder, damals Mitarbeiter der Berliner Selbsthilfe-Organisation „Netzwerk“164: „Die Tendenz, sich erstmal auf sich selbst zu besinnen, Selbsterfahrung und Selbstdarstellung ist sicher grundsätzlich richtig, verkommt ohne Bezug aber auch schnell zum Selbstbetrug. Sind wir nicht pausenlos den Einflüssen der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt?“ Röder machte seine Kritik vor allem an der Beobachtung fest, dass viele Alternativprojekte unter menschlichen Gesichtspunkten versagten: „Hohe Fluktuation der Gruppen und in den Gruppen. Unverbindlichkeiten, Versprechen werden gemacht und nicht eingehalten, auf niemand ist Verlaß, keiner ist zuständig; es wird geborgt und nicht zurückgegeben. […] Dort wo ein Projekt besser läuft: gestresste Leute, Selbstausbeutung bis zum Gehtnichtmehr.“165 Den Grund für diese Missstände und Fehlentwicklungen sieht Röder in der Abneigung der Aktivisten, sich auf Verbindlichkeiten einzulassen: „Alternativ und organisiert erscheint mittlerweile als ein Widerspruch in sich selbst“166, beklagt er. Habe sich trotz aller Vorbehalte einmal ein Kollektiv gefunden, so sei es … „[…] meist ein zusammengewürfelter Haufen; bei unbezahlter Arbeit treffen die unterschiedlichsten Interessen aufeinander. Einer sucht Selbsterfahrung, ein anderer politisches Engagement, der dritte Kontakte, einer ’ne Familie und einer betrachtet es als Praktikum. Langjährige Aktivisten und Grünschnäbel, Fachleute und Neulinge, Geschickte und Ungeschickte, alle bosseln an einer Aufgabe. Aber statt eines ineinandergreifenden Zusammenspiels klappt es hinten und vorne nicht und jeder wundert sich, dass zuguterletzt doch diese Zeitung, das Theaterstück, der Laden, die Veranstaltung – manchmal sogar recht erfolgreich – an die Öffentlichkeit tritt.“
Wäre Röders Stellungnahme eine gezielte Replik auf Peter Glotz gewesen, so hätte sie unterm Strich heißen müssen: „Ein anderes Mediennutzungsverhalten macht noch keine andere Kultur.“ Im Gegenteil waren Alternativprojekte auf Grund ihrer Strategie der offenen Tür eher anfällig dafür, dass ihre Aktivisten Angewohnheiten, Neigungen und Vorlieben in sie hineintrugen, die nicht mit den hochgesteckten, idealistischen Zielen der Kollektive übereinstimmten.168 Das Kommen und Gehen, die Fluktuation der Mitstreiter und Genossen, sorgte zudem dafür, dass die Projekte
164 Der Verein entstand 1978 in Westberlin und sicherte die Finanzierung und Vernetzung alternativer und politischer Projekte. Laut der Politologin Margit Mayer zählte der Verein nach kurzer Zeit über 6.000 Mitglieder. Während der Achtziger Jahre verstärkte er seine Aktivitäten im Bundesgebiet. Vgl. SOSNA, Jürgen: Netzwerk-Selbsthilfe: Eine Idee koordinierender Projektarbeit verändert sich. In: ROTH, Roland/RUCHT, Dieter (Hg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a. M./New York, S. 204-219. 165 RÖDER, Klaus: Thesen zur Alternativbewegung. In: GEHRET, Jürgen (Hg.): Gegenkultur heute, S. 152-159, hier: S. 154. 166 Ebd., S. 159. 167 Ebd., S. 156. 168 Dazu auch das Beispiel des Informationsdienstes zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (ID), vgl. HERDING, Richard: ‚Am Anfang war das Kollektiv …‘. In: HORX, Matthias/ SELLNER, Albrecht/STEPHAN, Cora (Hg.): Infrarot. Wider die Utopie des totalen Lebens. Zur Auseinandersetzung mit Fundamentalopposition und ‚neuem Realismus‘. Berlin 1983, S. 59-72, hier bes.: S. 67-70.
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mit der „umgebenden Gesellschaft durch viele Bande verknüpft“169 blieben. Zeitgenössische Ghettoisierungs- und Isolationsbedenken, zum Beispiel von Wolfgang Kraushaar, Rainer Dorner oder Richard Meng,170 waren tendenziell übertrieben. Zumindest behielten diese Kritiker Recht mit der Einschätzung, dass der Aufbruch nach TUNIX eine Utopie bleiben musste. Mit der weiteren Entwicklung der Alternativbewegung zum Anfang der Achtziger Jahre relativierten sich die umfassenden Ansprüche, die mit dem Kongress verknüpft gewesen waren, ebenso wie die Bedeutung, die ihm nachträglich beigemessen wurde: Ein Teil der Alternativen vollzog den Rückzug vom Rückzug aus der Politik, nachdem sie feststellten, dass sich alternatives Leben nicht völlig isoliert oder insulär gestalten ließ. Ob in der Nachbarschaft, in der Straße oder im Wohnviertel – irgendwo in der Nähe gab es immer Probleme, Sachverhalte oder Veränderungen, die an politische Institutionen oder Entscheidungen gebunden waren.171 „Gerade der Protest gegen die Gefährdung des Lebens durch die Kernkraftwerke“, erklärt der Journalist und Bildungshistoriker Uwe Schlicht, „hatte von Anfang an politischen Charakter.“ Als aus diesem Protest schließlich das politische Engagement in Grünen und Bunten Listen bei Landtagswahlen wurde, seien es die Alternativen und Spontis gewesen, die sie sich „hier besonders engagierten und den Rückzug ins Private damit überwanden“172.
169 REICHARDT, Sven/SIEGFRIED, Detlef: Das Alternative Milieu. Konturen einer Lebensform. In: Dies. (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, S. 9-26, hier: S. 12. 170 Wolfgang Kraushaar lehnte am „Aufbau alternativer Lebenszusammenhänge und gegenökonomischer Projekte“ deren „Verselbständigung zu pseudoautonomen ‚Widerstandsinseln‘, das Ausblenden aller anderen sozioökonomischen Widersprüche“ ab. Er warnte davor, dass diese Protestansätze zum Scheitern verurteilt seien, solange sie „gegenkulturelle Figur bleiben“ und nicht aus ihrem „Getto“ heraustreten, um „in veränderter Form gesellschaftlich [zu] intervenier[en]“. Siehe: KRAUSHAAR, Wolfgang: Autonomie oder Ghetto, S. 104. Der Literaturwissenschaftler Rainer Dorner schrieb wenige Wochen nach dem TUNIX-Kongress: „Die modernen Utopien sind allemal schwungloser als die klassischen und vor allem noch bewußter isolationistisch. Ihre Vertreter haben offensichtlich die Nase voll von jeder Strategie, die die Brücke zu den noch Funktionierenden und deren verschütteten Bedürfnissen zu schlagen versucht.“ Siehe: DORNER, Rainer: Tu was Du willst. In: Kursbuch (Nr. 52, Mai 1978), S. 121-131, hier: S. 129f. Der Sozialwissenschaftler Richard Meng verstand den TUNIX-Kongress als Ausdruck einer „Tendenz, sich um Strukturen, die individuelle Probleme hervorbringen, erst gar nicht mehr zu kümmern“. Jugendliche würden zunehmend den „Rückzug aus all den entfremdeten Gesellschaftsstrukturen (z.B. Uni, politische Gruppen), die das eigene Leben behindern könnten“, antreten. Siehe: MENG, Richard: Den geraden Weg gibt es nicht – Studentenpolitik als Identitätssuche. In: SCHÜLEIN, Johann August (Hg.): Auf der Suche nach Zukunft. Alternativbewegung und Identität. Gießen 1980, S. 63-82, hier: S. 73f. 171 Man habe eingesehen, „daß Machtstrukturen eben doch verändert werden müssen und daß sie […] auch veränderbar sind“, meinen die Politologen Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker. Vgl. FICHTER, Tilman/LÖNNENDONKER, Siegward: Von der APO nach TUNIX. In: RICHTER, Claus (Hg.): Die überflüssige Generation. Jugend zwischen Apathie und Aggression. Königstein/Taunus 1979, S. 132-150, hier: S. 148f. 172 SCHLICHT, Uwe: Vom Burschenschafter bis zum Sponti, S. 144f. Die Gründungsphase der Grünen begann im Frühjahr 1977 mit der Bildung grüner und bunter Listen. Dabei artikulierten die Grünen Listen „den ökologischen, insbesondere den Anti-AKW-Protest aus konservativen, liberalen und radikaldemokratisch-antikapitalistischen Bereichen [...]“. Die bunten Listen standen „für ein breites, links-alternatives, partei- und systemkritisches Oppositionsbündnis [...].“ Siehe: RASCHKE, Joachim (Hg.): Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind. Köln 1993, S.
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Ein anderer Teil der Alternativen suchte nach dem Bruch mit den K-Gruppen auch den Bruch mit den alternativen Protestansätzen und Projekten, um sich in Militanz zu üben. Für ihn waren die Häuserkämpfe in bundesdeutschen Großstädten zum Jahreswechsel 1979/80 prägend.173 Besonders in Westberlin formte sich eine subkulturelle autonome Szene aus, die mit ihren „’unpolitischen‘ Motiven“ und der „Betonung des Subjekts als politische Einheit“ zwar an spontaneistische Ideen anknüpfte, mit dem TUWAT-Kongress aber eine Art Gegenveranstaltung zu TUNIX auf die Beine stellte. Auf der vierwöchigen Veranstaltung in Westberlin warb ihr „Häuserkampfspektrum“174 um Anteilnahme und Unterstützung durch gleich gesinnte Aktivisten aus dem übrigen Bundesgebiet und den westeuropäischen Nachbarländern. Der Erfolg blieb allerdings aus. Mit dem Anspruch, die Praxis der „Gegengewalt“ über den Häuserkampf hinaus wieder hoffähig zu machen und als sinn- wie wirkungsvolle politische Selbsterfahrung zu präsentieren, hatten sich die Initiatoren ein überzogenes Ziel gesetzt. Immerhin keimte innerhalb der Szene neue Solidarität mit den Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen auf. Man entdeckte Gemeinsamkeiten in der antiimperialistischen und antistaatlichen Grundhaltung. Auf dieser Basis begann, quasi im Dunstkreis von TUWAT, der Aufstieg der Autonomen zu einer identifizierbaren, eigenständigen Gruppierung innerhalb des linken Spektrums.175 Der Kern der Alternativbewegung hielt an seinem Grundbedürfnis nach Verbesserung der Lebensumstände fest, nahm aber den Wandel „von einer konflikthaften zu einer stärker kooperativen“176 Beziehung zum Staat in Kauf. Anstelle des sturen Prinzips von Versuch und Irrtum, das die frühen gegenökonomischen Experimente gekennzeichnet hatte, hielt größerer Realismus Einzug. „’Selbstverwaltete Betriebe‘, ‚Selbstverwaltungswirtschaft’ und ‚Selbstverwaltungsbewegung‘ lauteten die neuen Begriffe“177 für die stärker marktwirtschaftlich orientierten Projekte. Mit dem Aufkommen staatlicher Unterstützungsprogramme entstanden zudem Anreize, stabile Organisationsstrukturen zu bilden. Vereine und Verbände wurden gegründet. Die „Projektszene“ professionalisierte und pragmatisierte sich.178 Zugleich geriet der selbstorganisatorische Geist von TUNIX mehr und mehr in Vergessenheit.
894. Zur Beteiligung der Spontis am Prozess der Grünen-Gründung, vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: Die Frankfurter Sponti-Szene. Eine Subkultur als politische Versuchsanordnung. In: Archiv für Sozialgeschichte (Bd. 44, 2004), S. 105-121, hier: S. 115-118. 173 Vgl. dazu: BRAND, Enno: Staatsgewalt. Politische Unterdrückung und Innere Sicherheit in der Bundesrepublik. 2. Auflage. Göttingen 1989, S. 198f. Der frühere APO-Aktivist Dieter Kunzelmann sieht im 22. September 1981 so etwas wie eine Schlusszäsur des Hausbesetzerkonflikts der frühen Achtziger Jahre, v. a. in Westberlin. Vgl. KUNZELMANN, Dieter: Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben. Berlin 1998, S. 150. 174 SCHWARZMEIER, Jan: Die Autonomen zwischen Subkultur und sozialer Bewegung. Göttingen 2001, S. 66 175 Vgl. ANDERS, Freia: Wohnraum, Freiraum, Widerstand. Die Formierung der Autonomen in den Konflikten um Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahre. In: REICHARDT, Sven/ SIEGFRIED, Detlef: Das Alternative Milieu, S. 473-498, hier bes.: S. 481 u. S. 493. 176 MAYER, Margit: Städtische soziale Bewegungen, S. 301. 177 HEIDER, Frank: Selbstverwaltete Betriebe in Deutschland. In: Ebd., S. 513-526, hier: S. 516. 178 Vgl. MAYER, Margit: Städtische soziale Bewegungen, S. 310.
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5. Ö FFENTLICHE R EAKTIONEN UND ERSTE D EUTUNGSVERSUCHE Von allen Programmpunkten des TUNIX-Kongresses weckte vor allem der Demonstrationszug das Interesse der Medien: Die Szenen am Kranzler-Eck sowie die Auseinandersetzungen zwischen den Steinewerfern und der Polizei waren es, die die großen Tageszeitungen zum Aufhänger ihrer Berichterstattung machten. So bezeichnete ein Kommentator der »Welt« die Veranstaltung als „Treffen linksextremistischer Gruppen“, die Teilnehmer als „Vertrete[r] einer extremistischen studentischen Subkultur“ und das Auftreten von Peter Glotz und FU-Präsident Eberhard Lämmert bei der Podiumsdiskussion als naiven Versuch, einen Dialog „mit Chaoten“179 zu führen, der von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Einige Zeitungen berichteten sogar ausschließlich über die Ausschreitungen, tauften das TUNIX- zum „Tue-nichts“180-Treffen um, im Sinne einer Versammlung von Faulenzern und Taugenichtsen, die sich „am Wochenende […] brutale Straßenschlachten“181 mit der Polizei geliefert hätten. Zusätzliche Nahrung gaben diesen einseitigen Darstellungen Aussagen von TU-Professor Koenigs, der sich öffentlich darüber beklagte, dass „die Technische Universität auf Kosten der Steuerzahler verfassungsfeindlichen Linken und dogmatischen und anarchistischen Gruppen für ein dreitägiges internationales Treffen […] überlassen worden sei“182, sowie Vorwürfe des Charlottenburger Bürgermeisters Roman Legien (CDU) gegenüber dem Berliner Senat, er habe „die Räume der TU als Tummelplatz für Linksextremisten“183 freigegeben. Peter Glotz reagierte und nahm am Montag, den 30. Januar 1978, in einer Pressekonferenz Stellung: Die Übergriffe durch militante Minderheiten während der Demonstration – in deren Folge dreißig Polizisten verletzt wurden und ein Sachschaden von rund 50.000 DM entstand –, dürften „nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich bei dem ‚Tunix‘-Treffen auch etwas Neues angekündigt habe, nämlich eine studentische Generation, die das angestrengte gewaltsame wirkungslose Kriegsspielen der maoistischen K-Gruppen satt habe.“184 Diesen Eindruck leitete Glotz nicht nur aus den Diskussionen an den Westberliner Universitäten während des Wintersemesters, sondern auch aus dem Kongress selbst ab, auf dem seinem Vernehmen nach „diejenigen Redner Beifall bekommen hätten, die sich von den Steinwürfen und inhumanen Parolen distanziert[en].“185 Weil Gewalt „als Mittel der Politik von einer immer größeren Zahl junger Leute in Frage gestellt“ werde, stünde 179 o. A.: Steinzeit. Der Kommentar. In: Die Welt (30.01.1978). 180 Vgl. o. A.: Von der Straßenschlacht zum ‚Tunix-Treff‘. Berlin hat wieder ein heißes Wochenende hinter sich – 30 Polizisten verletzt. In: Münchner Merkur (30.01.1978). 181 o. A.: Linksradikale Demonstration. 182 o. A.: TU-Professor Koenigs protestiert. In: Berliner Morgenpost (29.01.1978). 183 o. A.: Linksradikale Demonstration. 184 o. A.: Glotz hält an Diskussionen fest. 185 Ebd. Ein beispielhafter Redebeitrag eines Studenten lautete: „Weil das ist dieses sinnlose: ich stehe vor ‘ner waffenstarrenden Polizeifestung, vor diesem Bullenhauptquartier und werfe dann, ja mit Sand! Wie im Kindergarten! Ich werfe mit Sand und hole mir dann ‘nen blutigen Kopf, und das ist für mich sinnlos, da kann ich nicht mehr mitmachen, das ist irgendwie verrückt! […] ich finde, es ist was dran an der These, an der Behauptung, an der Beobachtung, daß diese Linke, wir, daß es da an einigen Stellen, wo an der Oberfläche gekratzt wird, daß da auch die Barbarei dieses Systems bei uns, unter uns selber hervorscheint; und ich finde es beschämend […].“ Siehe: o. A.: Tunix O-Ton. In: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen?, S. 104f.
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der TUNIX-Kongress für etwas Neues, „auf das man angemessen reagieren sollte.“186 Unterstützung für diese Haltung fand Glotz in seiner Partei, unter anderem beim SPD-Landesvorsitzenden Gerd Löffler, der der CDU vorwarf, sie „beweise abermals ihre Unfähigkeit Zeiterscheinungen richtig einschätzen zu können“187. Aufgeheizt wurde die Kontroverse durch eine Große Anfrage, die die Westberliner CDU-Fraktion beim Innensenator einbrachte. Dieser sollte prüfen, inwieweit absehbar gewesen sei, dass es während des TUNIX-Kongresses zu strafbaren Handlungen kommen würde. Hätte der Senat die Veranstaltung verhindern müssen? Die zwei Seiten von TUNIX, friedliches Miteinander in der TU und gewaltsame Demonstration in der Innenstadt, machten es nicht nur Politikern und Journalisten schwer, die schlussendliche Botschaft oder ein wie auch immer erreichtes Ergebnis der Veranstaltung zu formulieren. Von der „Gleichzeitigkeit des Verschiedenen“, von „überwiegend gestische[n] und affektive[n]“ Vermittlungsformen war schließlich die Rede, es sei weder den Organisatoren, noch den Teilnehmern „auf zu Ende gedachte Gedanken“188 angekommen. Harald Pfeffer wundern solche schwammigen Formulierungen nicht: „Es war eben dieses auf die Schubladen ‚Revolution oder Counter‘ eingeengte Weltbild einerseits und andererseits die mediale Vorherrschaft der RAF-Gewalt und der KPD-‚Weg mit…‘-Demonstrationen, auf die sich alles fokussierte.“ In dieses binäre Schema habe TUNIX nicht gepasst, weil es „den Blick auf alles darunter und daneben öffnete. Diesen Blick hatten gerade die Journalisten nicht – oder nicht mehr“189, meint Pfeffer. Kongressteilnehmer, die sich auf den Perspektivwechsel einließen, zogen hinterher ein positives Fazit. So erklärte ein Redner auf der Schlussveranstaltung am Sonntunix: „Ich habe den Mut gekriegt, weiterzumachen, den Mut gekriegt, Energien darauf zu verwenden, neue Ideen zu kreiieren, um weiterzumachen.“ 190 Jemand aus dem Publikum ergänzte, dass nun keiner behaupten könnte, „er wüsste nicht, was TUNIX ist“, nämlich „dass alles, was man bisher aus linken Zeitungen oder sonst mal so gehört hat, was an Widerstandsformen existiert, […] dass das alles zusammengehört.“191 Ganz anderer Ansicht über das Ergebnis des Kongresses waren die Kommentatoren der Szenezeitschrift »Radikal«192. In Ausgabe Nr. 33 vom 2. Februar 1978 resümierten sie unter anderem: „Der Tunix-Kongreß wurde zu einem Treffen von tausenden freaks, die unter dem Motto: ‚Wir sind ja alle so spontan‘ aus ihrer subjektiven Nabelschau nicht herauskamen oder kommen wollten.“ Die meisten Teilnehmer hätten erwartet, „Antworten auf die Frage nach der Perspektive der Linken nach Stammheim, Kontaktsperregesetz, Berufsverboten usw. zu bekommen oder diese Antworten sich mit anderen auf diesem Treffen zu erarbeiten“193, wie es das Flugblatt „Aufruf zur Reise nach Tunix“ schließlich angekündigt hatte. Stattdessen sei es auf dem Kongress kaum zu politischen Diskussionen gekommen. 186 o. A.: Tausende kamen zur „Reise nach Tunix“. Gewalttaten bei der Demonstration verurteilt. In: Spandauer Volksblatt (31.01.1978). 187 o. A.: Große Anfrage der CDU zu „Tunix“-Veranstaltung. In: Der Tagesspiegel (02.02.1978). 188 HOFFMANN-AXTHELM, Dieter: Zurück aus Tunix. Ein ‚Woodstock in Räumen‘. Eindrücke vom Berliner Treffen der Autonomiebewegungen. In: Frankfurter Rundschau (03.02.1978). 189 Harald Pfeffer am 01.06.2010 (s). 190 o. A.: Tunix O-Ton. In: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen?, S. 109. 191 Ebd., S. 108. 192 Seit 1976/77 eines der einflussreichsten Presseorgane der radikalen Linken. 193 o. A.: Wir sind ja alle so spontan. In: Radikal (Nr. 33, 02.02.-16.02.1978).
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Dieser Vorwurf richtete sich vor allem gegen die Organisatoren, die Veranstaltungen bewusst zu früh beendet oder „jegliche Verbindlichkeit, Ernsthaftigkeit und Disziplin“ unter dem Publikum, das zum Teil auch Kritik äußern wollte, „dogmatisch“194 unterbunden hätten. Anstatt, wie behauptet, nur Räume zu organisieren, Plakate zu drucken und Schlafplätze zu organisieren, hätten die „Tunix-Macher“ als verdeckte „Scene-Politiker“195 auch inhaltliches Management betrieben, um sich auf der Abschlussveranstaltung selbstbeweihräuchernd im Kamerascheinwerferlicht über den Erfolg des Kongresses auslassen zu können.196 Ihre Ankündigung, im Sommer ein „Treffen aller IRREN Europas“ in Frankfurt a. M. ausrichten zu wollen,197 sei in doppelter Hinsicht bezeichnend. „Das Privileg nach TUNIX zu reisen“, habe die Mehrheit der Bevölkerung, „Arbeiter, Angestellte“, jedenfalls nicht. Das alternative Leben, wie es auf dem Kongress vorgestellt und prophezeit wurde, bleibe „ein Traum“198. Und aus diesem Grund sei TUNIX ungefährlich für „diesen Staat und seine Vertreter“199. „Mit dem ‚Modell Tunix‘ wurde dem ‚Modell Deutschland‘ nichts entgegengesetzt, eher haben sich beide einander genähert“200, schlussfolgerte ein anderer Kommentator. Die Herausgeber der Zeitschrift »Radikal« distanzierten sich von diesen Beiträgen und zeigten sich in einer eigenen Stellungnahme deutlich unzufrieden darüber, dass sämtliche Kommentatoren hauptsächlich „die gefährliche, ärgerliche und enttäuschende Seite der ‚Reise‘ ausführen, obwohl sie doch alle betonen, daß sie auch wichtige positive Aspekte hatte.“201 Die Widersprüchlichkeit der Veranstaltung sorgte für Diskussionsstoff. Und sie spiegelte sich auch in den Einschätzungen ihrer Teilnehmer wider: „’Habt ihr den Regenbogen auf der TUNIX-Demo gesehen?‘ hatte einer auf der Schlußveranstaltung gefragt. Die Hälfte hatte ihn gesehen, die andere Hälfte nicht.“202 Gleichmäßig verteilt, so hatte sich Helene Reichts von der linken Frauenzeitschrift »Courage« auch das Verhältnis von männlichen und weiblichen Rednern auf TUNIX vorgestellt. In ihrem Kommentar zum Kongress gesteht sie ein, zwar „nicht alles […], was in den einzelnen Gruppen besprochen wurde“, mitbekommen zu haben. Dennoch hätten ihr mehrere Teilnehmerinnen bestätigt: „[…] so gut wie nirgends geht es um Frauen, Frauen sagen entweder wenig oder wenn sie’s doch tun, fällt mann ihnen ins Wort, mißt ihnen keinerlei bei oder macht sie schlicht lächerlich.“203 Ein Eindruck, der im Rückblick von Ute Scheub geteilt wird. Sie hat TUNIX als „Kinder-“, aber auch als „Männerwelt“ in Erinnerung behalten: „Auf den Podien: nur Männer. Die einzige Frau, an deren Auftritt ich mich vage erinnere, ist Helga Goetze. Nachdem sie in einer Fernsehsendung unter dem Titel ‚Hausfrau sucht Kon194 o. A.: Einige kritische Gedanken zu Tunix. In: Radikal (Nr. 33, 02.02.-16.02.1978). 195 o. A.: Wir sind ja alle so spontan. 196 Vgl. o. A.: Einige kritische Gedanken zu Tunix. 197 Im Gespräch mit dem Autor am 23.04.2009 gaben die Mitinitiatoren Harald Pfeffer und Peter Hillebrand an, weder etwas von der Ankündigung, noch von dem geplanten Treffen mitbekommen zu haben. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich andere Personen aus dem Kreis der Initiatoren dahinter verbargen. 198 o. A.: Reise nach TUNIX – Reise in die Sackgasse. In: Radikal (Nr. 34, 17.02.-02.03.1978). 199 o. A.: Wir sind ja alle so spontan. 200 o. A.: Vernebelter Regenbogen. In: Radikal (Nr. 33, 02.02.-16.02.1978). 201 o. A.: Kommentar. In: Radikal (Nr. 33, 02.02.-16.02.1978). 202 o. A.: Würgen und Glotzen. In: HOFFMANN-AXTHELM, Dieter/KALLSCHEUER, Otto u. a. (Hg.): Zwei Kulturen?, S. 140. 203 REICHTS, Helene: Die phallokratische Linke gab sich die Ehre. In: Courage (Nr. 3, 1978).
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takte‘ ihre sexuellen Wünsche ausgeplaudert hatte, erschien sie überall uneingeladen, auch in Tunix, und rief fröhlich zum ‚Ficken! Ficken’ auf, was ihr seitens der Bild-Zeitung den Titel 204 ‚Supersau der Nation‘ einbrachte.“
Das „Platzhirschgehabe“205 auf dem Kongress sei selbst Peter Glotz aufgefallen, meint »taz«-Redakteur Jan Feddersen und fügt hinzu, dass es damals eben nicht darum gegangen sei, sich an Regeln zu halten – und seien es Umgangsregeln gewesen. Es dürfte also weniger der Inhalt, sondern eher der Charakter der Veranstaltung gewesen sein, der mancher Frauengruppe „einen richtigen Mobilisierungsschub“206 mit auf den Heimweg gab. Der »Pflasterstrand«, die Zeitschrift der Frankfurter Spontis, ließ in seiner ersten Ausgabe nach TUNIX einen Teilnehmer aus Frankreich zu Wort kommen. Der Philosoph Guy Hocquenghem leitete seinen Bericht damit ein, dass ihm zuerst der starke Kontrast aufgefallen sei, mit dem sich „der Mond der Schminke, der Verkleidungen, des Gespötts, das Gedränge vor den Kindergärten bis hin zu den kollektiven Cafés der ‚Irren‘“ von seiner Umgebung abhob: „Ein Berlin mit seinen zusammengepferchten Häusern und seiner Untergrundwelt, hinter vielen Grenzen und Stacheldraht, […] Autobahnen und Maschinenpistolen, Chamkas und Käppis, Polizeikotrollen […] und checkpoints der ‚Alliierten‘.“ Über all dem habe TUNIX „wie eine Fata Morgana“ geschwebt, ohne dass dessen „Fiktion“ offensichtlich gewesen sei. Eher hätten die Teilnehmer sie so gelebt, als wäre sie „völlig verwirklicht“. Diese „kreierte Illusion“ hätte zwar nur einen Augenblick angedauert, eine Art „Kreuzungspunkt“ für die Teilnehmer bedeutet, sie zeige sich aber auch dauerhaft und „viel begehrenswerter außerhalb, in einer Bar von Freunden, einer großen Berliner Wohnung, die es nicht mehr nötig hat, sich WG zu nennen“, so Hocquenghem. Eine auf diese Weise gelebte Gegenkultur hielt er in Frankreich noch für „unvorstellbar“. „Diese anderen Räume“ oder Räume der Andersartigkeit, die offensichtlich „von der militanten Nervosität befreit“ seien, hätten er und seine Landsleute als die „große Entdeckung“ empfunden. TUNIX habe „all den verschiedenen Gruppen etwas Luft [ge]geben, die sich in der BRD nicht zwischen Staat und Terrorismus zermahlen lassen wollen.“ Ihr gemeinsames Kennzeichen sei die praktizierte „Auflösung […] des großen Signifikanten: Politik.“ Dies sei auch auf dem Demonstrationszug sichtbar geworden: „Kein revolutionäres Lied, dafür aber deutscher Rock, der durch die mit Bändern geschmückten Lautsprecherwagen ausgestrahlt wurde. Kein Losungswort, höchstens eines der Abwehr […]: ‚Hoch, hoch, nieder mit, nieder mit, bumm bumm‘“, hätte man in den Straßen gerufen. Hocquenghem zeigte sich angetan von dieser Art des Protestes. Die europäische Linke stünde vor der Frage, wie „sie gegen den schon funktionierenden europäischen Polizeistaat“ vorgehen könne und TUNIX habe ihr eine Lösung vorgegeben – oder wenigstens vorgegeben, dass es eine Lösung gibt: in Form einer „Bewegung des Aufbrechens traditioneller Gleichschaltung in tausend Stücke“, in Form einer Linken, die sich wie eine „Koralle“ tausendfach verästele, in der „man zirkuliert und austauscht“207. Wie viel davon Utopie sei, wie viel davon realistisch, darauf ging der Philosoph nicht ein. Vielleicht wollte er der laufenden Diskussion, die mit 204 SCHEUB, Ute: Hoch die Kinderschokolade! 205 FEDDERSEN, Jan: War’n klasse Chaos. 206 o. A.: Wir waren alle Tunix! 207 HOCQUENGHEM, Guy: Reise zum Mond von TUNIX. In: Pflasterstrand (Nr. 28, Februar 1978).
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Bologna und Frankfurt a. M. zwei absehbare Eckpunkte hatte,208 in ihrer „fein eingestellten Geschwindigkeit“209 nicht vorweg greifen.
6. Z USAMMENFASSUNG Was war TUNIX? Wenn es nach den Einschätzungen seiner Initiatoren geht, dann vor allem eines: die Reaktion der undogmatischen Linken auf den Deutschen Herbst. In ihren Augen löste die Veranstaltung den Anspruch ein, das Zurückweichen und Verstummen der Linken, zu dem es angesichts des eskalierenden Konflikts zwischen RAF und Staat gekommen war, wieder in ein linkes Agieren zu verwandeln. Das Startsignal für den ersehnten Umbruch bildete der „Aufruf zur Reise nach TUNIX“: „Sein Tonfall und die Bilder haben die Zielgruppe gefiltert“210, sind sich die Mitinitiatoren Harald Pfeffer und Peter Hillebrand im Nachhinein sicher. Angesprochen fühlten sich demnach vor allem jene, die ohnehin (längst) für neuen Aktionismus und Pragmatismus und gegen das Theoretisieren und Diskutieren eintraten, wie es nach dem Niedergang der APO unter Linken vorherrschte. Nicht autoritäre Dogmatiker, sondern unorganisierte, undogmatische Linke nahmen die Einladung zum Kongress an – ohne dass während und nach der Veranstaltung deutlich auszumachen war, um wie viele es sich handelte und woher sie alle kamen. Lediglich der Veranstaltungsplan und der Demonstrationszug gaben Hinweise darauf, welche Vertreter der undogmatischen Linken TUNIX als gemeinsames Forum nutzten: Umweltaktivisten, Alternative, Homosexuellen-, Männer- und Frauengruppen, Spontis – letztere wohl am wenigsten von allen als eigene Gruppe erkennbar. Doch genau darum ging es den Initiatoren, die sich selbst der Spontiszene zurechneten: Offenheit, Austausch, Miteinander. Sie wollten „mit gleichermaßen Unzufriedenen zusammenkommen“, um für sich, für die „revolutionäre Linke […] das Verhältnis zum Staat“211 zu klären. Nun stellt sich die Frage, zu welchem Ergebnis sie am Ende gekommen sind: Wurde die angekündigte Ausreise aus dem „Modell Deutschland“ vollzogen? Und wenn nicht, wofür stand TUNIX stattdessen? Dass der Strand von TUNIX, und damit die Verwirklichung der Utopie, letztlich nicht erreicht wurde, hat der Vorausblick auf die weitere Entwicklung von Alternativbewegung und Spontiszene gezeigt. Andererseits stellte sich heraus, dass der Kongress eine Initialwirkung auf die Annäherung von Spontis zur Alternativbewegung ausübte. In seiner Folge wurden Projekte ins Leben gerufen, die sonst nicht zu Stande gekommen wären. Noch heute existieren Biolebensmittelunternehmen, Kulturzentren, Verlage und Druckereien,
208 Zum damaligen Zeitpunkt erwartete man die Fortsetzung von TUNIX mit „Treffen aller IRREN Europas“ in Frankfurt a. M. Siehe Fn. 197. Dann hätte sich, ausgehend vom Kongress in Bologna 1977, eine Veranstaltungskette der Alternativszene und Gegenkultur ergeben. 209 HOCQUENGHEM, Guy: Reise zum Mond von TUNIX. 210 Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). 211 Autorenkollektiv Quinn, der Eskimo, Frankie Lee und Judas Priest: ‚Zum Tango gehören immer zwei‘, S. 128 u. S. 132.
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die ihren Ursprung in TUNIX sehen.212 Und die »Tageszeitung« feierte den dreißigsten Jahrestag des Kongresses beinahe wie ihren eigenen Geburtstag.213 Beispiele für begonnene Ausreisen lassen sich also finden, auch wenn sie statt einer kollektiv-linken nur sporadische Absagen „an die herrschenden Verhältnisse, ihre Lebens- und Arbeitsstrukturen, ihre Denkweisen und Gesinnungen“214 waren und in marktwirtschaftlichen Kompromissen endeten. Dass es nicht zu einem kompletten Ausstieg linker Projektgruppen kam, lag zum einen in der fehlerbehafteten Umsetzung der Gegenökonomie, wie sie Röder schilderte. Zum anderen spielte auch die Lebenseinstellung der Aktivisten eine Rolle, die von „Hedonismus und Pessimismus“ bestimmt war. Ihre Überzeugung, dass die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse über die Erfüllung „langatmige[r] politische[r] Programme“ ging, dass es „kein positives Ziel mehr am Ende eines politischen Kampfes gab“, wurde durch TUNIX weder geschwächt, noch widerlegt. Insofern verband sich mit den Ankündigungen im Aufruf auch kein eiserner Wille zur Umsetzung, sondern „selbstverständlich Ironie“215. Vor diesem Hintergrund ist auch das Verhalten der TUNIX-Initiatoren zu sehen, die nach der Veranstaltung weitgehend den Rückzug aus der Spontiszene antraten, anstatt etwa ihren Bekanntheitsgrad zu nutzen, um neue Leitfiguren der Alternativbewegung zu werden. Für sie hieß TUNIX vor allem Entkrampfung, Entpolitisierung: „Wir suchen uns jetzt einen Platz in diesem Staat, in der Gesellschaft.“ Der Kongress habe ihnen das notwendige Selbstvertrauen verliehen, um endlich befreit „zu sagen: ‚Wir gehören dazu! Aber auf unsere Art‘“, erklären Pfeffer und Hillebrand. Über die Vorwürfe aus dem linken Spektrum, wonach TUNIX zu harmlos geblieben sei, kamen sie hinweg: „Die Kritik gab es zu Recht, aber das war für uns kein Problem.“216 Ohnehin habe sich der Kongress als Treffen der „Alternativbewegungsansätze“ entpuppt, meint Pfeffer und behauptet, „darunter sind nur Linke gewesen, „die nicht mehr die Auseinandersetzung mit dem Staat suchten.“217 Für diese Einschätzung spricht vor allem die versöhnliche Grundstimmung des Kongresses. Das zentrale Motto des TUNIX-Aufrufs hatte in der Tat die Abkehr vom Fatalismus des bewaffneten Kampfes angekündigt: „Etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden.“ Das Zitat aus dem Märchen der Bremer Stadtmusikanten bezog sich für Linke unmissverständlich auf den Ausgang des Deutschen Herbstes und die Stammheimer Todesnacht, und es legte die Sinnlosigkeit des Vorgehens der RAF und aller anderen bewaffneten Gruppierungen offen. Außer212 Vgl. IHL, Jan Michael: Die gute Hefe. Ihl hebt als Beispiele den Terra Naturkosthandel, die Berliner UFA-Fabrik und den Caro-Druck Frankfurt hervor. 213 Die Zeitungsmacher luden die Initiatoren des Kongresses im Januar 2008 zu einem Wiedersehen ins Berliner „taz-Café“. Vgl. REICHERT, Martin: Spuren hinterlassen. Ein Kommentar. In: Die Tageszeitung (28.01.2008). „Das Treffen vor 30 Jahren wurde zur Geburtsstunde der Alternativbewegung – und von Institutionen wie der ‚taz‘ […]“, meinte damals auch der Journalist Michael Sontheimer in seinem »SpiegelOnline«-Beitrag über TUNIX. Vgl. SONTHEIMER, Michael: Auf zum Strand von Tunix! EinesTages.de (25.01.2008). Siehe: http://eines tages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/1287/auf_zum_strand_von_tunix.html (Stand: 06.08.2010). 214 SONTHEIMER, Kurt: Zeitenwende? Die Bundesrepublik Deutschland zwischen alter und alternativer Politik. Hamburg 1983, S. 204. 215 TÜRSCHMANN, Jörg: Am Strand von TUNIX, S. 42. 216 Harald Pfeffer und Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). 217 Harald Pfeffer am 04.03.2009 (m).
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dem implizierte es die Hoffnung, dass es unterhalb dieser absoluten Zuspitzung eine erstrebenswerte Strategie zur Gesellschaftsveränderung geben musste. Es ist dieser versöhnliche Nachgeschmack von TUNIX, der Gerd Koenen zu der Feststellung veranlasst, dass die „romantischen Überspannungen“ dieser letzten Generation der Spontis „schon viel näher an den Wassern der ‚Realpolitik‘ […] siedelten“218 als mancher Beteiligter es wahrhaben wollte. Allerdings darf nicht ausgeblendet werden, dass es auf TUNIX auch Momente der Eskalation und Aggression gab. Zum einen während des Demonstrationszuges, der die Unzufriedenheit mit den Lebensumständen in der Bundesrepublik, wie sie im TUNIX-Aufruf formuliert worden war, noch einmal in ihrer ganzen thematischen Breite auf die Straße brachte. Zum anderen boten mindestens drei Diskussionsveranstaltungen Raum, um alte Feindbilder zu pflegen: Unter der Überschrift „Ihre tausendfache Angst wird tausendfach bewacht“ wurden am Samstunix Fragen nach der Legitimität der staatlichen Reaktion auf die Linke und damit auch Polizeistaatsängste diskutiert. Am Sonntunix folgte die Veranstaltung „Gibt es einen neuen Faschismus in der BRD?“219 Sie bezog sich auf die gleichlautende Theorie André Glucksmanns,220 von der auch die RAF ihre Rechtfertigung für den bewaffneten Kampf ableitete. Außerdem traten unter der Überschrift „Endlösung Stammheim“ Rechtsanwälte von Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen vor die Mikrofone, um zur Todesnacht in Stammheim Stellung zu nehmen.221 Dass solche Diskussionen nicht den Kern von TUNIX ausmachten, dass die versöhnliche Grundstimmung überwog, war nur möglich, weil sich die Spontiszene schon im Vorfeld für die Brutalität und Sinnlosigkeit des bewaffneten Kampfes sensibilisiert hatte. Ausdruck fand dieser (Um-)Denkprozess vor allem im BubackNachruf – nicht ohne Missverständnisse auszulösen. Mit dem Deutschen Herbst nahm die Verunsicherung der Spontis dann noch einmal zu: Das Verhältnis zur RAF wurde intern problematisiert und als Zerreißprobe empfunden, da es der Szene an alternativen Veränderungsstrategien fehlte. Dass sich bis zum TUNIX-Kongress nichts an der verfahrenen Situation änderte, geht aus einer Art Lagebeschreibung hervor, die drei Berliner Spontis zum Abschluss der Veranstaltung gaben: „Die Solidarisierung mit den Gefangenen hat innerhalb der Sponti-Bewegung abgenommen“222, konstatierten sie. Zugleich bekämen sie „aus der Ecke der RAF […] zu 218 KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, S. 357. 219 Vgl. o. A.: TUNIX. Veranstaltungsplan, S. 14f. »Die Welt« schrieb über diese Veranstaltung: „Zu der Frage, ob es in der Bundesrepublik einen neuen Faschismus gebe, äußerten sich in einer weiteren Diskussion unter anderem FU-Professor Flechtheim und der linke Theoretiker aus Frankreich André Glucksmann. Flechtheim unterstützte dabei die These, dass gegenwärtig kein Faschismus herrsche. Es gäbe aber andererseits eine ‚langsame und unscheinbare Entwicklung, die Demokratie scheibchenweise abzubauen‘. Angesichts dieser Entwicklung müsse man differenzierter vorgehen und eine langfristige Strategie entwickeln, um die ‚neueren Entwicklungen zu bekämpfen‘ und nicht das, was gestern war, nämlich Faschismus der Nationalsozialisten. André Glucksmann vertrat ebenfalls die These, dass die gegenwärtige politische Situation nicht mit der des Dritten Reichs zu vergleichen sei, dass aber in den westeuropäischen Staaten Wurzeln für einen neuen Faschismus vorhanden seien.“ Siehe: o. A.: Glotz hält an Diskussionen fest. 220 Siehe Kap. II.2.2, S. 61f. 221 Vgl. o. A.: TUNIX. Veranstaltungsplan, S. 15. 222 Autorenkollektiv Quinn, der Eskimo, Frankie Lee und Judas Priest: ‚Zum Tango gehören immer zwei‘, S. 133.
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hören, dass wir Counter sind, Bullenköpfe haben usw. Und zwar deshalb, weil wir nicht zum Fan-Club der RAF gehören und langweilige und unwichtige Erklärungen zum Weltimperialismus einfach als Gewäsch bezeichnen.“ Hinzu sind eigene Abgrenzungsbedürfnisse der Spontis im linken Spektrum gekommen. Wenn das eine Extrem für sie die RAF war, dann wurde das andere von jenen Linken verkörpert, die „nichts riskieren, mit Bausparvertrag im Schreibtisch und Scheiße im Kopf, die sich ungefragt und unaufgefordert von allem distanzieren, was mit Gewalt auch von links zu tun hat.“ Frustriert von dieser Situation versuchten die Berliner Spontis ihrer Szene zu vermitteln, dass sie zwischen „[…] den Stühlen der Distanzierer und den Anhängern des bewaffneten Kampfes“ in einer Zwickmühle saßen. Dabei wollten sie als Spontis „doch gar nicht sitzen“, sondern sich „bewegen“223. Wie dies überhaupt noch funktionieren sollte, hatte der TUNIX-Kongress vorgemacht: mit offenem Meinungsaustausch und freundlichem Plausch, mit Musik und Theater, mit Selbstironie anstelle von Verbohrtheit. Zugleich mussten sie einsehen, dass es dieses spontane, kathartische Moment nur einmal geben konnte: Das Lachen konnte nur einmal zurückkehren. Die Stille nur einmal gebrochen werden. Die neuen Ideen nur einmal geweckt werden. Damit entsprach die Berliner Veranstaltung im Grunde jenem „Maximum“, nach dem die Spontis immer strebten, und hatte alle offenen Möglichkeiten auf einen Schlag ausgereizt. An eine Wiederauflage zu denken, war unrealistisch. TUNIX als Endpunkt. Ohne die Gewaltfrage für sich zu klären, blieb den Spontis nur die Wahl, sich weiterhin vom „Dualismus von Angepasstheit und Nonkonformität“224 lähmen zu lassen, oder sich der Alternativbewegung anzuschließen. In ihr stellte sich die Gewaltfrage nicht mehr, denn anstelle der „großen Systemveränderung“ bedeutete sie: Suche nach privater Autonomie – also „aussteigen, selbermachen, abkoppeln.“ Die Gesellschaft wurde nicht mehr nur kritisiert, staunte Kurt Sontheimer seinerzeit, die Alternativen gingen noch einen Schritt weiter: Sie „suspendieren sie gewissermaßen für sich“225. Das war die verkürzte Ausreise aus dem „Modell Deutschland“. TUNIX als Startpunkt.
223 Ebd., S. 136f. 224 GLOMB, Ronald: Auf nach Tunix, S. 142. 225 SONTHEIMER, Kurt: Zeitenwende?, S. 203f.
VI. Eine Demokratie auf dem Prüfstand Das 3. Internationale Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland „Ja, Terror und Staat – was da so geschieht …/Fast könnte man glauben, wenn man das so sieht/die essen zusammen von einem Teller,/die haben zusammen Leichen im Keller,/Freunde, Genossen, die haben beschlossen,/der Demokratie den Hahn abzudrehen.“ „FREUNDE, GENOSSEN“ – MUSIK & TEXT: HANNES WADER – JAHR: 1979
1. D ER P FINGSTKONGRESS 1976 ALS ANSTOSS FÜR EINE INTERNATIONALE I NITIATIVE GEGEN R EPRESSION Die mikrohistorische Betrachtung der zweiten großen Protestveranstaltung der Linken nach dem Deutschen Herbst muss bei einem Ereignis ansetzen, dem spätestens seit der Fischer-Debatte im Jahre 2001 auch Bedeutung für die Spontiszene beigemessen wird: der „Pfingstkongress gegen politische Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung“ am 5. Juni 1976 auf dem Frankfurter Römerberg. Hintergrund: „Joschka“ Fischers Römerberg-Rede Das Sozialistische Büro (SB) richtete die Veranstaltung vor allem für die undogmatische Linke aus, um hinter die vierjährige Bewegung gegen Berufsverbote einen vorläufigen Schlusspunkt zu setzen.2 In der Debatte um den ehemaligen Bundesaußenminister Joseph Fischer rückte der Pfingstkongress allerdings aus einem ande1 2
Nicht zu verwechseln mit der „Fischer-Kontroverse“ – den zwischen 1959 bis etwa 1985 andauernden Historikerstreit um die deutsche Verantwortung für den Kriegsausbruch 1914. Der Bewegung wurde in diesen ersten Jahren hauptsächlich von der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), den K-Gruppen (KB, KPD (m), KPD/ML) und unabhängigen Initiativen und Gruppierungen der undogmatischen Linken getragen. Hinzu kamen einige Gewerkschafter und Hochschullehrer. Die DKP fiel jedoch aus Reihe, in dem sie die Linie vertrat, dass das „Großkapital und CDU/CSU“ verantwortlich für den Extremistenbeschluss seien. Die anderen Träger des Protests richteten ihren Unmut dagegen in erster Linie gegen die SPD und den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt. Vgl. HISTOR, Manfred: Willy Brandts vergessene Opfer. Geschichte und Statistik der politisch motivierten Berufsverbote in Westdeutschland 19711998. 2. Auflage. Freiburg i. Br. 1992, S. 146-168.
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ren Grund in den Blick: Fischer gehörte in den Siebziger Jahren der Spontiszene an und trat auf dem Römerberg als Redner auf. Während im Januar 2001 von verschiedenen Seiten Vorwürfe laut wurden, er habe sich im Mai 1976 bei einer Demonstration an einer folgenschweren Molotowcocktailattacke auf einen Polizeiwagen beteiligt oder zumindest zu dieser aufgerufen,3 versuchte Fischer diese zu entkräften, indem er auf die Botschaft seiner Römerberg-Rede4 verwies: Hier sei es „um das genaue Gegenteil eines Aufrufs zur Gewalt“ gegangen, sagte er anlässlich einer Fragestunde im Bundestag am 17. Januar 2001. „Es war der Appell an jene, die in den Untergrund gegangen waren oder abzugleiten drohten, die Waffen niederzulegen, mit dem Bomben aufzuhören und zurückzukehren. Es ging 1976 darum, diese noch zu erreichen und anzusprechen, mit diesem mörderischen Irrsinn Schluss zu machen.“5 Fischer implizierte, dass seine Absage an den bewaffneten Kampf auch ein Umdenken in der Gewaltbereitschaft der Spontis bewirkt hätte. Es gibt allerdings mehrere Gründe, dies zu bezweifeln: Zunächst einmal hatten Äußerungen Frankfurter Spontis, denen zweifellos eine gewisse Vorbildrolle zufiel, für die Spontis im übrigen Bundesgebiet keinerlei Verbindlichkeit. Dafür war ihre Szene allzu sehr von „lokalen Mentalitäten und regionalen Partikularismen“6 geprägt und Fischer nicht bekannt genug.7 Zum anderen ist unklar, wie viel Gewicht Fischers Worte überhaupt noch in der Frankfurter Szene hatten. Die jüngeren Spontis taten sich mit Führungsfiguren schwer und die Auflösung von Fischers Sponti-Gruppe „Revolutionärer Kampf“ stand unmittelbar bevor. Gerd Koenen bezeichnet den Römerbergauftritt nicht umsonst auch als ersten Akt, „mit dem der Kern des Frankfurter Altsponti-Kaders seinen Abschied von der Militanz als ein elegisch-ironisches Adieu von jugendlichen Größenvorstellungen zelebrierte.“8 Koenen bezieht sich dabei nicht nur auf Fischer, sondern auch auf Daniel Cohn-Bendit, der an Fischers Seite ans Rednerpult trat. Von dem Sponti-Idol waren zuletzt unübersehbare Selbstdistanzierungen öffentlich geworden: Er habe sich als „APO-Altstar selbst entzaubert“9 3
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Eine der beiden Töchter Ulrike Meinhofs, Bettina Röhl, trat im Januar 2001 mit Fotos von Fischer als prügelnden Sponti an die Öffentlichkeit. Zugleich drohte sie, ihn wegen des Aufrufs zum Einsatz von Molotowcocktails anzuzeigen. Im ARD-Magazin »Panorama« kam kurze Zeit später eine Zeitzeugin zu Wort, die Röhls Vorwürfe bestätigte. Vgl. o. A.: Presseerklärung: Zeugin widerspricht Außenminister Fischer in Gewaltfrage. Panorama.de (11.01.2001). Siehe: http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2001/erste7748.html (Stand: 06.08.2010). Vgl. außerdem: SCHULT, Christoph: Anzeige gegen Fischer wegen Mordversuchs. In: Der Spiegel (08.01.2001); BERBALK, Ottmar/ZORN, Thomas: Linke Gewalt: Bilder vom blutigen Sonntag. In: Focus (08.01.2001). Der vollständige Wortlaut ist abgedruckt in: Linke Liste (Hg.): Die Mythen knacken. Materialien wider ein Tabu. Neue Linke, RAF, Deutscher Herbst, Amnestie. 2. Auflage. Wiesbaden 1988, S. 95f. Rede Joseph Fischers vor dem Bundestag in einer Fragestunde am 17.01.2001. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 14. Wahlperiode, 142. Sitzung, S. 13891-13902, hier: S. 13894. Siehe: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/14/14142.pdf#P.13902 (Stand: 06.08.2010). KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt, S. 353. Vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: Fischer in Frankfurt. Karriere eines Außenseiters. Hamburg 2001, S. 165. KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, S. 352. o. A.: Ach, wie gut. In: Der Spiegel (24.05.1976); vgl. auch: COHN-BENDIT, Daniel: Der große Basar. Gespräche mit Michel Lévy, Jean-Marc Salmon, Maren Sell. München 1975.
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schrieb wenige Tage vor dem Pfingstkongress »Der Spiegel«, als er die Veröffentlichung von Cohn-Bendits Memoiren ankündigte. Infrage gestellt wird die Wirkung von Fischers Rede auch von zeitgenössischen Beobachtern wie Hans-Jürgen Wirth und Carl-Christian von Braunmühl, die die Äußerungen als „Hin- und Herschwanken zwischen Distanzierungen von der RAF und Solidaritätsbekundungen“10 empfanden. Auch die Politologin Anne SiemenS kommt in ihrer Studie zur politischen Biografie Fischers zu dem Schluss, dass es sich um keine „durch und durch friedliche Rede“11 handelte. In der Fragestunde des Bundestages relativierte Fischer die Eindeutigkeit seiner Rede sogar selbst, als er angab, erst 1977 erkannt zu haben, „dass der Weg der Gewalt, und sei es nur der limitierten Gewalt mit Prügeln gegen Polizeibeamte und mit Steinewerfen, falsch ist.“ Darüber hinaus betonte er: „Ich war damals kein Demokrat, sondern Revolutionär […].“12 Wichtiger als Fischers Römerberg-Rede war die Botschaft, die der Pfingstkongress an alle Betroffenen des Extremistenbeschlusses übermittelte: Seit dessen Inkrafttreten hatten mehrere tausend13 Beamte im öffentlichen Dienst ihre Arbeitsstelle verloren und Bewerber keine Arbeitsstelle im öffentlichen Dienst erhalten, weil Zweifel an ihrem Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik bestanden. Dieser Ausschluss war für viele Betroffene einem Berufsverbot gleichbedeutend, da sie ihren erlernten Beruf meist nur im öffentlichen Dienst ausüben konnten.14 Ihre jeweils individuelle „Einschüchterung“15 ebenso wie die drohende „private Überwinterungsstrategie“16 der gesamten Linken zu überwinden, war daher eines der Hauptanliegen des Frankfurter Pfingstkongresses. Unter dem Motto: „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!“ rief das SB zum Protest gegen eine „alltägliche Repression“ auf, die sich darin zeige, „[…] daß plötzlich bestimmte Begriffe aus dem Sprachgebrauch verschwinden, daß bestimmte Dinge nicht gedacht und öffentlich gesagt werden dürfen, daß man sich im beruflichen Verhalten mehr zusammennehmen muß, daß man acht zu geben hat, daß man sich möglichst arrangiert. Das Geheimnis des unauffälligen Wirkens der Repression besteht dann genau darin, daß man vergißt, 10 WIRTH, Hans-Jürgen/von BRAUNMÜHL, Carl-Christian: Hitlers Enkel – oder Kinder der Demokratie? Die 68er-Generation, die RAF und die Fischer-Debatte. Gießen 2001, S. 21. 11 SIEMENS, Anne: Durch die Institutionen oder in den Terrorismus. Die Wege von Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit, Hans-Joachim Klein und Johannes Weinrich. Frankfurt a. M. 2006, S. 342. 12 Rede Joseph Fischers vor dem Bundestag in einer Fragestunde am 17.01.2001, S. 13892. 13 Auf ein bis zwei Millionen Überprüfungen kamen etwa 1.500 Ablehnungen. Vgl. WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen. München 2002, S. 228. Etwa 11.000 Fälle wurden im Zeitraum 1972 bis 2002 gezählt, wobei bis dahin nur einer der Betroffenen wieder voll rehabilitiert wurde. Siehe: BETHGE, Horst: Berufsverbotepolitik seit 1971 bis jetzt – Erfahrungen und Lehren. Referat auf der Eröffnungsveranstaltung der Konferenz: 30 Jahre Berufsverbot mahnen! am 09./10.02.2002 in Hamburg. Berufsverbote.de (Ohne Datum). Siehe: http://www.berufsverbote.de/docs/hh-bethge.html (Stand: 06.11.2011). 14 Siehe Kap. II.4. 15 Zit. nach: OY, Gottfried: Spurensuche Neue Linke. Das Beispiel des Sozialistischen Büros und seiner Zeitschrift ‚links‘ – Sozialistische Zeitung (1969 bis 1997). Studie im Auftrag der RosaLuxemburg-Stiftung. Frankfurt a. M. 2007, S. 57. Siehe: http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/ rls_uploads/pdfs/Papers_Spurensuche.pdf (Stand: 06.11.2011). 16 VACK, Klaus: Überwintern in repressiver Epoche? Anmerkungen zur Lageeinschätzung für die westdeutsche Linke. In: Links. Sozialistische Zeitung (Nr. 73, Januar 1976).
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daß es noch andere Begriffe gab, daß man bestimmte Bedürfnisse solange unterdrückt und verdrängt, bis man sie gar nicht mehr zu haben, ja nie gehabt zu haben scheint, daß demgemäß die 17 offenkundigen Fälle der Repression abnehmen, weil niemand mehr aufmüpfig ist.“
Mit solchen Erklärungen lief das SB – bewusst oder unbewusst – Gefahr, einen kollektiven Verfolgungswahn auszulösen, denn wer sein Szenario der „alltäglichen Repression“ ernst nahm, musste sich praktisch in allen Bereichen des Lebens vor dem Einfluss staatlicher Institutionen hüten. Hinter jeder Vorschrift oder Verordnung am Arbeitsplatz oder im Verein, aber auch hinter jeder Verhaltensanpassung an Kollegen, Vereinskameraden oder politische Mitstreiter konnte sich eine gezielte Unterdrückungsabsicht des Staates verbergen. Jedes offene Wort gegenüber dem Vorgesetzten, das vielleicht zuviel über eigene politische Ansichten verriet, jeder eigenwillige Vorstoß im Hochschulgremium, der zurückgepfiffen wurde, konnte bei den Betroffenen das Gefühl erzeugen, Opfer „unauffälliger“ Repression geworden zu sein. Diese vom SB betriebene Entgrenzung des Repressionsbegriffs kam nicht von ungefähr. Schon seit Beginn der Proteste gegen die Berufsverbote hieß es, dass von staatlicher Seite „bereits Quellen demokratischer Meinungs- und Willensbildung“ bestraft würden. Wer dieser Panikmache unter dem Schlagwort „Demokratieverbot“18 erlag, den wunderte auch eine „alltägliche Repression“ nicht mehr. Hinzu kam, dass mit dieser Logik auch ein Ermüden der Bewegung gegen Berufsverbote nicht erklärungsbedürftig, sondern geradezu als Bestätigung der These anzusehen war, dass die Repression weiter zunahm. Der Aufruf des SB verdient auch deshalb Erwähnung, weil er nicht etwa ungehört im linken Blätterwald verhallte, sondern in einer Sondernummer des Organs »links« über 80.000 Leser erreichte.19 Damit dürfte er auch manche der 14.000 Teilnehmer des Pfingstkongresses mobilisiert haben – unter ihnen sogar kleine Reisegruppen aus Dänemark, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und Österreich.20 Es war die größte Veranstaltung, die das SB jemals organisierte. Namentlich verantwortlich zeichneten Elmar Altvater, Volkhard Brandes, Andreas Buro, Peter Grohmann, Otto Jacobi, Helmut Korte, Sibylle Laturner, Wolf-Dieter Narr, Willi Scherer, Sonja Tesch und Klaus Vack, die im November 1975 einen vorbereitenden Arbeitsausschuss gebildet hatten.21 Zu den Programmpunkten des Kongresses gehörten Filmvorführungen aus dem Betriebs- und Gewerkschaftsbereich, die Bilanzierung und Diskussion des Extremistenbeschlusses sowie weitere themenbezogene Diskussionen, unter anderem zur 17 Autorenkollektiv: Stellungnahme des Arbeitsausschusses des SB zur Rolle der westdeutschen Sozialdemokratie in der gegenwärtigen Phase der Repression. In: Links. Sozialistische Zeitung (Nr. 73, Januar 1976). Es handelte sich um eine Sonderausgabe anlässlich des Pfingstkongresses. Zu Begriffen, die im Sprachgebrauch bei Behörden, Bildungsstätten o. ä. zeitweise problematisch wurden und deshalb außer Gebrauch kamen, gehörten der „Klassen“-Begriff und die Abkürzung „BRD“. 18 RIDDER, Helmut: Berufsverbot? Nein, Demokratieverbot! In: BETHGE, Horst/BÜNEMANN, Richard/ENDERLEIN, Hinrich u. a. (Hg.): Die Zerstörung der Demokratie in der BRD durch Berufsverbote. Köln 1976, S. 57-66, hier: S. 57f. 19 Vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Das andere Deutschland nach 1945 – als Pazifist, Sozialist und radikaler Demokrat in der Bundesrepublik Deutschland – Klaus Vack. Politisch-biographische Skizzen und Beiträge. Köln 2005, S. 141. 20 Vgl. ebd., S. 143. Zur Teilnehmeranzahl, vgl. OY, Gottfried: Spurensuche Neue Linke, S. 57. 21 Ebd., S. 140.
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„Frauenunterdrückung“, zur „Zensur in Presse und Funk“, zur „Unterdrückung von Jugendzentrumsinitiativen“, zur „Einschränkung der Verteidigung“, zur „Verschärfung der Haftbedingungen der politischen Gefangenen“ und zur „Isolationsfolter“, schreibt das SB in einem Bericht. Als Redner auf dem Römerberg traten, neben den bereits erwähnten Spontis, linke Größen wie Heinz Brandt, Rudi Dutschke, Elmar Altvater und Klaus Vack auf. Altvater, Politologe am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, sah den Hauptadressaten seiner Kritik in der SPD: Sie sei „Trägerin der Repression“. Infolgedessen könne „nur außerhalb der SPD eine sozialistische Strategie entwickelt und in viel mühseliger Kleinarbeit praktisch umgesetzt werden“. Damit umriss Altvater die Aufgabenstellung des SB. Sein Mitstreiter Vack unisono: „Wer als Sozialist politische Arbeit macht, leistet Widerstand gegen die Repression! Wer gegen die Repression angeht, kämpft um Freiräume für sozialistische Politik!“ Für Sozialisten gebe es keinen Unterschied zwischen „Anti-RepressionsKampagne oder sozialistische[r] Arbeit“, „vielmehr sind sozialistische Praxis und Widerstand gegen die Repression ein und dasselbe!“ Damit hob Vack den Repressionsbegriff auf eine Stufe mit den Schlagworten „Befreiung und Emanzipation“, mit denen sich acht Jahre zuvor die Grundanliegen der APO verbunden hatten. Allerdings zielte Vack nicht darauf ab, den Geist von 1968 zu beschwören. Er sprach nicht von Revolte oder Revolution, sondern deutlich solider von „sozialistischer Arbeit“22. Kurzum: Der Pfingstkongress sollte eine mobilisierende Wirkung auf die undogmatische Linke haben, an deren Spitze sich das Sozialistische Büro gerne gesehen hätte. Ungeachtet des großen Zuspruchs, den die Veranstaltung fand, bestanden im SB alsbald Meinungsverschiedenheiten über ihren Erfolg oder Misserfolg. Schon im Herbst 1976 kam es zum internen Disput über die zukünftige Politik der Gruppierung. Während ihre Gründer wie Andreas Buro, Frank Deppe und Klaus Vack in erster Linie den Protest gegen Repression weiterverfolgen wollten, „forciert[e] maßgeblich das SB Hamburg die Orientierung an der Alternativbewegung, den Neuen Sozialen Bewegungen und damit auch an den Diskussionen um die entstehende grüne Partei als neues Betätigungsfeld.“23 Dass der Offenbacher Kern des SB Teil der Bewegung gegen Berufsverbote blieb, hing sicher auch mit deren politischer Anziehungskraft zusammen: Der Protest hatte sich im Laufe der Jahre internationalisiert24 und in der Sozialistischen Partei Frankreichs (PS) stand seit dem Pfingstkongress ein Partner bereit, mit dem 22 Ebd., S. 144. 23 OY, Gottfried: Spurensuche Neue Linke, S. 7 u. S. 43. 24 Und mit ihr ging das Wort „Berufsverbot“ in den englischen, französischen, spanischen und dänischen Wortschatz ein. Vgl. o. A.: Die unendliche Geschichte. In: Der Spiegel (02.12.1991); THORSEN, Jens Jørgen: Friheden er ikke til salg. Synspunkter og essays samlet under et berufsverbot. Kopenhagen 1980. Die Internationalisierung der Bewegung gegen Berufsverbote zeichnete sich spätestens seit 1975 ab. Zu den ohnehin schon etwa 300 Bürgerinitiativen und Bürgerkomitees im Bundesgebiet, die für die Abschaffung des Extremistenbeschlusses einsetzten, kamen in jenem Jahr „mehrere Initiativen […] in Westeuropa“ hinzu. Beispielsweise der Universitätsrat der Universität Amsterdam, das Komitee „Für Meinungsfreiheit, gegen Berufsverbote in der BRD“ in Paris. Vergleichbare Komitees entstanden in Dänemark und Luxemburg. Siehe: HAUSLADEN, Georg/HEß, Hans-Günther: Die Rolle der Bürgerinitiativen und der demokratischen Öffentlichkeit. In: BETHGE, Horst/BÜNEMANN, Richard/ENDERLEIN, Hinrich u. a. (Hg.): Die Zerstörung der Demokratie, S. 211-213, hier: S. 211. Das Interesse der ausländischen Initiativen ermöglichte die Durchführung eines internationalen Hearings gegen Berufsverbote am 7. Juni 1975 in Bonn. Vgl. ebd., S. 310-312.
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der Aufbau eines internationalen Komitees gegen Berufsverbote möglich schien.25 Ein solches Komitee sollte nach den Vorstellungen der PS „allen fortschrittlichen politischen Kräften offen stehen und die internationale Mobilisierung gegen die repressive Strategie der BRD-Regierung verstärken.“26 Ein entsprechender Aufruf ging an zahlreiche linke Organisationen und Komitees gegen Berufsverbote in ganz Westeuropa. Ermutigt von vielen positiven Reaktionen auf die Initiative fand am 16. Oktober 1976 in Paris eine erste Konsultation zwischen Vertretern der PS, des SB Offenbach, des Kommunistischen Bundes (KB), der Gruppe Internationaler Marxisten (GIM), der Evangelischen Studentengemeinde (ESG), des Informationsdienstes zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (ID), der italienischen Zeitschrift »Il manifesto«27, einer französischen Antirepressionsgruppe und einem Vertreter der renommierten Bertrand Russell Peace Foundation28 (RF) statt. Mit Rückendeckung der RF wurde beschlossen, ein „Tribunal über die Repression in der BRD“ zu organisieren, dem eine „öffentliche Diskussion und Mobilisierung ‚in allen westeuropäischen Ländern‘“29 vorausgehen sollte. Sobald möglichst viele Organisationen, Komitees, Initiativen etc. sich bereit erklärten, die Vorbereitung und Durchführung des Tribunals zu unterstützen und die RF eine Chance sah, es auf bewährtem Wege durchzuführen, wollte sie sich zu einem öffentlichen Aufruf entschließen. Die RF verwies auf die Erfahrungen mit den bisherigen Russell-Tribunalen. Das erste hatte 1967 in Stockholm und Roskilde stattgefunden und sich mit den Kriegsverbrechen in Vietnam befasst.30 Auf dem zweiten, 1974 bis 1976 in Rom und Brüssel, wurden Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika untersucht. Jedes 25 Vgl. STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991 (unveröff. Dissertation). Marburg 2002, S. 211. Siehe: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2002/0060/pdf/z2001-0060.pdf (Stand: 06.08. 2010); vgl. auch: o. A.: PSU (Frankreich) ergreift Initiative für ein Russell-Komitee über die Repression in der BRD. In: Arbeiterkampf (Nr. 84, Juli 1976). 26 Flugblatt: Informationen zum geplanten ‚Russel-Tribunal über die Repression in der BRD‘. Herausgegeben vom Kommunistischen Bund (25.10.1976), S. 1. In: HIS, Ordner: Knast 19741977. 27 Eine Tageszeitung, die seit 1971 in Rom erscheint. In ihrer politischen Ausrichtung vergleichbar mit der deutschen »taz« oder der französischen »Libération«. 28 Die Stiftung mit Sitz in Nottingham bestand aus Bertrand Russels Witwe Edith und zwei Direktoren: Christopher Farley, einem Trotzkisten, der als Ansprechpartner zu Verfügung stand. „Der andere Direktor [Ken Coates, Anm. M. M.] war eher zurückhaltend, hatte Bedenken, weil die Stiftung kurz zuvor in Rom über die Verbrechen der Junta in Chile verhandelt hatte. Und nun über die Bundesrepublik aus Fortsetzung?“ schreibt Wesel. Vgl. WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 284. Im Gespräch mit dem Autor, am 04.06.2008, wurde Wesel deutlicher: „Wir haben natürlich mit dem Trotzkisten und nicht mit dem orthodoxen Kommunisten verhandelt.“ 29 Vgl. STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein, S. 212. Über die Pariser Vereinbarungen berichtete auch: o. A. Bilanz eines Jahres. In: Anti-Repressions-Info Hamburg (Nr.2, Juni 1977). Eine Zusammenfassung über die Vorbereitungen des Russell-Tribunals lieferte auch das Bundesinnenministerium, vgl. Deutscher Bundestag (Hg.): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Eyrich, Spranger, Erhard, Schwarz, Wohlrabe, Dr. Müller, Dr. Wittmann, Dr. Jentsch, Gerster und der Fraktion der CDU/CSU. In: Drucksache 8/1205 (21.11.1977), S. 2-4. Siehe: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/08/012/ 0801205.pdf (Stand: 06.08.2010). 30 Vgl. dazu: WERKHEIMER, Frank: Die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg in der Bundesrepublik Deutschland 1965-1973 (unveröff. Dissertation). Marburg 1975, S. 63-67.
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Mal war eine Gruppe international bekannter Wissenschaftler und Persönlichkeiten auf Anfrage der RF als Jury zusammen getreten, die, nach eingehender Beratung über die Rechtsfragen, ein gemeinsames Urteil verkündete. Bei einem Tribunal über die Bundesrepublik sollte sich diese Vorgehensweise nicht ändern. Von dem abschließenden Urteilsspruch erhofften sich die Bewegung gegen Berufsverbote und alle anderen interessierten Antirepressionsinitiativen, dass die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik gelenkt und dadurch Druck auf die Bundesregierung ausgeübt würde,31 ihre als repressiv empfundene Politik zu überdenken.32 Immerhin hatten auch die Ergebnisse und Wertungen der vorangegangenen Tribunale Aufsehen erregt, waren „in der Öffentlichkeit mit größter Sorgfalt geprüft und international als begründet angesehen“33 worden. An einem zweiten Treffen in Paris, am 28. November 1976, nahmen – auf Einladung der RF und der Sozialistischen Partei Frankreichs – wiederum die westdeutsche Delegation (SB, KB, GIM, ESG, ID) sowie Vertreter des Aktionskomitees gegen die Berufsverbote an der FU Berlin (AK/FU), der italienischen »Lotta Continua« und des österreichischen Verbandes Sozialistischer Studenten (VSStÖ, Sektion Salzburg) teil. Aus dem Gastgeberland erschienen Mitglieder der Ligue Communiste Revolutionnaire (kurz: LCR, französische Sektion der IV. Internationale), des Verbandes der evangelischen Studenten in Frankreich – genauer des Pariser „Centre Vaugirard 46“ – und der Pariser „Ecole emancipée“34. Mit den hinzu gewonnenen Gesprächspartnern wurden die Beschlüsse des ersten Treffens besprochen und endgültig verabschiedet.35 Zu einer Art Neuauflage der Pariser Konsultationen kam es am 4./5. Dezember 1976 ausgerechnet in Meckenheim bei Bonn. Unweit der Außenstelle des Bundeskriminalamts hatte die Evangelische Studentengemeinde Deutschlands zusammen mit der Vereinigung der französischen Anwälte (Mouvement d’Action Judificiaire), dem Pariser Komitee gegen die Repression in der Bundesrepublik und zwei evangelischen Organisationen aus Frankreich zu einer internationalen Konferenz geladen. Sie trug den Titel: „Die Bundesrepublik von außen betrachtet“ und hatte laut einem Teilnehmer das Ziel, „die Mechanismen und Absichten der Repression in der BRD zu verstehen, eine globale Analyse dieser Repression zu erstellen und sie in Zusam-
31 „Das war unsere Überlegung: über die ausländische Presse Druck auf die Bundesregierung und die Landesregierung [zu machen]“, so Uwe Wesel am 04.06.2008 (m). 32 Die Berufsverbote wurden dabei nicht als singuläres Problem, sondern in einem Zusammenhang mit „dem Verbot der Propagierung von Gewalt (§ 88a GG), den Unvereinbarkeitsbeschlüssen in den Gewerkschaften, den Haftbedingungen in den Gefängnissen“, der „Aufrüstung des Polizeiapparates, Polizei- und Justiz-Willkür“ und „innerparteilicher[r] Disziplinierung der SPD-Linken“ betrachtet. Siehe Flugblatt: Informationen zum geplanten ‚RusselTribunal über die Repression in der BRD‘, S. 1. 33 3. Internationales Russell-Tribunal: Gründungserklärung des 3. Internationalen Russell-Tribunals. In: DUVE, Freimut/NARR, Wolf-Dieter (Hg.): Russell-Tribunal – pro und contra. Dokumente zu einer gefährlichen Kontroverse. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 21f., hier: S. 20. 34 Eine extrem links gerichteter Flügel der französischen Lehrergewerkschaft „Fédération de l’éducation nationale“ (FEN). 35 Vgl. o. A.: Pariser Treffen beschließt Mobilisierung. In: Arbeiterkampf (Nr. 95, Dezember 1976).
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menhang mit jenem Europa zu bringen, das nach dem ‚Modell Deutschland‘ im Entstehen ist.“36 Um die Pariser Beschlüsse zu bekräftigen, entschied die Konferenz – nun vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit –,37 die Bertrand Russell Peace Foundation um die Einberufung eines Tribunals zu bitten. Dieses sollte sich „mit den zahlreichen Erscheinungsformen politischer Repression in der BRD und dem Modellcharakter, den sie für andere Länder des europäischen Auslands anzunehmen droht“38, befassen. Die Gäste der Konferenz, darunter auch etwa zwanzig ausländische Intellektuelle wie Erich Fried, Georges Casalis, Frank Hirschfeldt oder Günther Nenning,39 wollten sich ein Bild von den verschiedenen Formen der politischen Unterdrückung in der Bundesrepublik machen. Es gab Referate über „Berufsverbote, Gewerkschaftsausschlüsse, unmenschliche Haftbedingungen und Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten von politischen Gefangenen“, über die „Verfolgung und Kriminalisierung oppositioneller Bewegungen“ und schließlich über „das immer mehr geschürte Klima von Verunsicherung und Angst“. Anschließend wurde diskutiert. Anders als es die einschlägigen Themen vermuten lassen, war der politische Hintergrund der in- und ausländischen Gäste vergleichsweise heterogen. Dies spiegelte sich vor allem in der Tatsache wider, dass, trotz der gemeinsamen Auffassung, wonach „die kapitalistisch organisierten Staaten ihre Opposition massiv unter Druck setzen und mundtot zu machen suchen“40, keine Gedankenspiele über den „Aufbau einer politischen Alternative zur Sozialdemokratie“41 aufkamen. Ein Teilnehmer berichtete später, dass die Situation in der Bundesrepublik zwar pessimistisch eingeschätzt wurde, „da die Unterdrückungsmaßnahmen hier am weitesten getrieben werden – in welchem Maß, daß wurde den rund vierzig deutschen Teilnehmern erst recht klar, als die Ausländer Vergleiche zwischen ihren Ländern und der Bundesrepublik zogen […].“ Ungeachtet dessen sei man sich einig gewesen, „daß die Bundesrepublik – trotz Repression – noch kein Polizeistaat ist“, dass es also noch genug Handlungsspielräume gab, um Schlimmeres zu verhindern. Insofern löste das angekündigte Russell-Tribunal in der Bundesrepublik eine kleine Kontroverse aus: Einige Teilnehmer meinten, dass „eher der Iran und eine
36 BÖTTCHER, Ernst T./MICALEFF, André: Die Bundesrepublik von außen betrachtet. ESGTagung in Meckenheim 4./5. Dezember 1976. In: Junge Kirche (Bd. 38, 1977), S. 73-77, hier: S. 75. 37 Vorausgegangen waren der Konferenz Vorbereitungsveranstaltungen der ESG in verschiedenen bundesdeutschen Städten. So berichtet Ernst T. Böttcher: „Die meisten der Gäste waren in den Tagen zuvor in einzelnen Studentengemeinden gewesen und hatten dort mit Studenten über spezielle Gebiete der Repression gearbeitet.“ Siehe: Ebd., S. 74. 38 Evangelische Studentengemeinde: Pressemitteilung vom 05.12.1976. In: Antifa Hamburg (Hg.): Europäische Konvention zur Bekämpfung des Terrorismus. Dokumentation. Hamburg 1977, S. 41f., hier: S. 41. 39 Fried war ein österreichischer Schriftsteller jüdischer Herkunft, u. a. Mitglied der „Gruppe 47“. Casalis war ein ehemaliger französischer Militärpfarrer und Generalsekretär des französischen christlichen Studentenbundes (FFACE). Hirschfeldt war ein schwedischer Journalist. Nenning war ein österreichischer Publizist und Journalist. Näheres zu ihm, vgl. CHOTJEWITZ, Peter Otto: Mein Freund Klaus. Roman. Überarb. Neuausgabe. Berlin 2008, S. 406-411. 40 BÖTTCHER, Ernst T./MICALEFF, André: Die Bundesrepublik von außen betrachtet, S. 74. 41 o. A.: Internationale Konferenz empfiehlt Einberufung eines Russel-Tribunals. In: Arbeiterkampf (Nr. 95, Dezember 1976).
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Reihe anderer Länder an der Reihe“42 sein müssten. Auch die Diskussion über die Chancen einer politischen Opposition in der DDR förderte Unstimmigkeiten zutage: Gab es anfangs Erwägungen, die Repression in der DDR in die Untersuchungen des 3. Russell-Tribunals einzubeziehen, führte die Debatte am Ende zu dem Schluss, dass dies wohl eher ein Abweichen von der maßgeblichen Fragestellung bedeuten würde. Im Pressekommuniqué formulierten die Veranstalter auch deshalb noch einmal, warum ausgerechnet die Situation in der Bundesrepublik untersucht werden musste: „[…] politisch bewusste Kritik und Widerstand werden durch Staatsapparat und Justiz zunehmend aus dem öffentlichen Meinungsbildungsprozeß verdrängt. Diese Entwicklung ist nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen westlichen Staaten zu beobachten. Allerdings ist sie in der Bundesrepublik am weitesten fortgeschritten und wird mehr und mehr 43 gesetzlich abgesichert.“
2. A UFRUF AN DIE W ELTÖFFENTLICHKEIT UND F ORMIERUNG DER U NTERSTÜTZERSZENE Wie erwartet, gingen über die Jahreswende zahlreiche Appelle beim Nottinghamer Büro der Bertrand Russell Peace Foundation ein, in denen eine unabhängige Untersuchung der Repression in der Bundesrepublik gefordert wurde. Diese Schreiben enthielten meist dokumentarisches Material, sie beriefen sich auf Gesetzestexte oder Statistiken und prognostizierten eine Vorbildwirkung der bundesdeutschen Rechtspraxis für andere Staaten der Europäischen Gemeinschaft (EG).44 Am 1. Februar 1977 reagierte die RF auf die Appelle mit der Erklärung, dass sie die Durchführung eines Tribunals über die Repression in der Bundesrepublik für notwendig erachte. Sie rief die Öffentlichkeit „der ganzen Welt“45 zur Bildung nationaler Unterstützungskomitees auf und bat um finanzielle Hilfe, damit das Vorhaben umgesetzt werden könne. Dass die Entscheidung der RF mit den Pariser Initiatoren abgesprochen war, deutete die frühzeitige Gründung eines „Initiativausschusses zur Unterstützung eines Russell-Tribunals“46 in der Bundesrepublik am 8. Januar 1977 an.47 Zu den ersten Maßnahmen dieses Arbeitskreises von Personen des „politi-
42 BÖTTCHER, Ernst T./MICALEFF, André: Die Bundesrepublik von außen betrachtet, S. 74. 43 Evangelische Studentengemeinde: Pressemitteilung vom 05.12.1976, S. 41. 44 Vgl. Bertrand Russell Peace Foundation: Aufruf. In: DUVE, Freimut/NARR, Wolf-Dieter (Hg.): Russell-Tribunal – pro und contra, S. 19f., hier: S. 19. 45 Nach einer Schätzung vom Juni 1977 mussten etwa 200.000 DM für die Reisekosten der Jury und der Foundation, für die Unterbringung der Jury, für die Reisekosten und Spesen der Gutachter und Zeugen, für Saalmieten sowie für Telefon-, Porto- und Bürokosten aufgebracht werden. Vgl. DIECKMANN, Kai Thomas: Spendenaufruf. In: Vorläufiges Sekretariat zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Russell Tribunals (Hg.): Rundbrief (Nr. 4, Juni 1977), S. 1. In: APO-Archiv, Ordner: Russell-Tribunal (Flugblätter, Flugschriften, Plakate, Erklärungen des Sekretariats). 46 Im Folgenden verkürzt als „Initiativausschuss“ bezeichnet. 47 Tatsächlich war bereits auf dem Treffen in Paris, am 28. November 1976, vereinbart worden, dass die Nottinghamer Stiftung auf die erwarteten Appelle mit der Ankündigung eines RussellTribunals reagieren würde und dass zeitgleich nationale Unterstützungskomitees gegründet werden sollten.
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schen, kulturellen, gewerkschaftlichen und kirchlichen Lebens“48 gehörte es, die bundesweite Gründung von Komitees zur Unterstützungsarbeit für das 3. RussellTribunal (kurz: UKs) voranzutreiben und eine nationale Arbeitskonferenz vorzubereiten. Der Aufruf zeigte Wirkung: Nicht nur in Groß- oder Universitätsstädten wie Hamburg, München und Hannover gründeten sich in den folgenden Monaten Komitees zur Unterstützungsarbeit für das 3. Russell-Tribunal. Auch in der Provinz, in Städten wie Emden oder Delmenhorst, gab es bald kleinere „Aktionseinheiten“. Eines der ersten UKs konstituierte sich fast selbstverständlich in Westberlin. Seine Gründungsversammlung fand am 9. März 1977 statt. Die Veranstaltung im Hörsaal des Ostasiatischen Seminars der Freien Universität Berlin (FU) wurde von Vertretern diverser Gruppierungen49, die sich gegen Berufsverbote und Repression engagierten, sowie von „eine[r] größere[n] Zahl von Interessenten, die nicht als Organisationsvertreter“50 galten, besucht. Eingeladen hatte das Aktionskomitee gegen die Berufsverbote an der FU (AK/FU), dem die Pläne für ein 3. Russell-Tribunal seit dem Treffen in Paris bekannt gewesen waren. Damit die vielen Gruppierungen ihre Interessen vertreten sahen, einigte man sich auf insgesamt vierzehn Themenbereiche, die der RF und den Initiatoren vorgeschlagen werden sollten: „1. Berufsverbote, Verfolgungen von Meinungsäußerungen; 2. Zensur und Disziplinierung in Medien und Institutionen; 3. Einschränkung von Rechten von Verteidigern und Angeklagten; 4. Verschärfung von Haftbedingungen; 5. verschärfte Anwendung des Ausländerrechts; 6. Berufsverbote gegen Frauen, die legal abgetrieben haben; 7. Schwarze Listen, Bespitzelung; 8. Druck auf Gewerkschaften, Verbändegesetz; 9. Gewerkschaftsausschlüsse; 10. Repression gegen Frauen; 11. Rechtsradikalismus in der BRD; 12. Militarisierung der Polizei; 13. Notstandsgesetze als Weg zur legalen Diktatur; 14. Westdeutsche Großmachtpläne in Westeuropa.“51 Auch in Heidelberg entstand kurz nach dem Aufruf der RF ein Arbeitskreis. Allerdings waren die Voraussetzungen ganz anders als in Westberlin. In einem Bericht52 für das Sozialistische Büro ist die Rede von „5 - 6 Genossinnen und Genossen vom ISZ [Internationales Studienzentrum, Anm. M. M.]“, die im Februar 1977 zusammentrafen, um zu beraten, „wie man die Unterstützungsarbeit lokal organisie48 Flugblatt: Aufruf des Initiativausschusses. Herausgegeben vom Initiativausschuss zur Unterstützung eines Russell-Tribunals über die Repression in der Bundesrepublik. 26. Februar 1977, S. 1. HIS, Ordner: 1974-1979/Internationale Komitees/Solidarität. 49 In alphabetischer Reihenfolge: AK der Gerichtsreferendare, AK gegen innergewerkschaftliche Repression, AK der TU Berlin, Deutsche Friedensgesellschaft, ESG der Pädagogischen Hochschule (PH), Komitee der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (FHSS) gegen Berufsverbote, Komitee der Humanistischen Union (HU) zur Verteidigung demokratischer Grundrechte, Kommunistischer Bund (KB), Koordinationsrat der FU, LAUS der PH, Rote Hilfe Westberlin, Schutzkomitee für Freiheit und Sozialismus, Sozialdemokratischer Hochschulbund (SHB), SB (Berlin), Spartacusbund, Sozialistischer Schülerbund (SSB), Verband deutscher Studentenschaften (VDS) in der IG Druck und Papier, Verteidigerkomitee sowie Vertreter der Zeitschriften »Langer Marsch« und »Radikal«. Vgl. Protokoll der Gründungsversammlung für ein Unterstützungskomitee in Berlin (West) für ein Russell-Tribunal über politische Unterdrückung in der BRD, S. 1. In: APO-Archiv, Ordner: Russell-Tribunal (Ablage/Sammlung). 50 Ebd. 51 Vgl. ebd., S. 2. Die Reihenfolge entspricht in etwa der Priorität der Themenbereiche. 52 Vgl. SB-Rundschreiben Russell-Tribunal (Nr. 2, Oktober 1977), S. 4-6. In: HIS, Ordner: Russell-Tribunal 1977.
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ren muß.“ Nach Kontaktaufnahme mit der linksliberalen Öffentlichkeit in Heidelberg konnten „vier SPD- und FDP-Stadträte und mehrere SPDler, Jusos und Judos“ für die Beteiligung am UK gewonnen werden. Im Mai vereinbarte der Kreis, sich „monatlich zu treffen und auf einem solchen Treffen z.B. zu diskutieren und zu entscheiden, welche Materialien an das Tribunal geschickt werden.“ Außerdem kamen die Mitglieder überein, Arbeitsgruppen zu bilden, „die sich konkret mit Repression in allen gesellschaftlichen Bereichen beschäftigen sollten […].“ Weitere Ansprechpartner suchte man unter Angestellten des öffentlichen Dienstes, der Justiz, der Medien sowie unter Frauen, ausländischen Mitbürgern und „Schwulen“. Wegen zu geringer Resonanz und zu großem Arbeitsaufwand musste sich das Heidelberger UK auf drei Ziele beschränken: „Organisierung der finanziellen Unterstützung des Tribunals, Organisierung der propagandistischen Unterstützung, Sammlung von Anklagematerial.“ Immerhin konnten „prominente“53 Mitglieder der SPD, FDP sowie Pfarrer, Gewerkschafter, Betriebsräte und Rechtsanwälte als Unterzeichner eines Aufrufs zur Unterstützung des 3. Russell-Tribunals gewonnen werden. Ähnlich zurückhaltend fiel die vorläufige Bilanz des UKs in Münster aus:54 „Zwei Mitglieder der SB-Gruppe haben am Ort eine Initiative zum 3. Russell-Tribunal gemacht. Leider war die Bereitschaft der übrigen Genossinnen und Genossen äußerst gering […].“ Nach einer ersten Kontaktaufnahme mit den Jungdemokraten und dem Liberalen Hochschulverband (LHV) sei zunächst die finanzielle Unterstützung gesichert gewesen. „Daraufhin haben wir einen Brief entworfen, der sich an die Münsteraner Mitbürger wandte. In ihm haben wir erste Informationen zum Russell-Tribunal gegeben […], den Spendenaufruf abgedruckt sowie den Aufruf der Foundation […].“ Zu einem Gespräch über mögliche Unterstützungsaktivitäten erschienen örtliche Vertreter folgender Organisationen: SB, LHV, Initiativkreis gegen Berufsverbote, Bund demokratischer Wissenschaftler, Marxistischer Studentenbund Spartakus (MSB), Deutsche Friedensunion (DFU), Jungdemokraten, Jungsozialisten, Sozialistische Hochschulgruppe und der AStA der Pädagogischen Hochschule – Institutsgruppe Psychologie. Allerdings habe bei den Beteiligten das Informationsbedürfnis überwogen, sodass über konkrete Aktivitäten nicht gesprochen werden konnte: „Die Organisationen […] warten erst die weitere Entwicklung ab, besonders die Wahl der Jury […]“, hieß es zur Begründung. Bis dahin wollte das UK noch eine Veranstaltung in der Universitätsmensa organisieren, auf der Juristen über die negativen Folgen des Extremistenbeschlusses für Wissenschaftler und Lehrer referieren und betroffene Münsteraner zu Wort kommen sollten. In den Rundschreiben des Sozialistischen Büros zum 3. Russell-Tribunal befinden sich weitere solcher UK-Berichte.55 Ein repräsentativer Überblick über den Mobilisierungserfolg der Unterstützerbewegung ergab sich daraus jedoch nicht. Der Initiativausschuss lud aus diesem Grund alle „Gruppen und Initiativen, die gegen Repression kämpfen“ am 26./27. März 1977 zu einer Arbeitskonferenz nach Frankfurt a. M. In dem betreffenden Flugblatt heißt es: „Da nicht abzusehen ist, wie gro[ß] die Beteiligung sein wird, sind alle Gruppen gebeten, Delegierte zu schicken, wenn möglich nicht mehr als 2 bis 3 je Gruppe […].“56 Neben der Gewissheit über 53 REUTLINGER, Heinz: Freiheitliche Demokratie verhöhnt. Brief an die Stadtredaktion. In: Rhein-Neckar-Zeitung (27.09.1977). 54 Vgl. SB-Rundschreiben Russell-Tribunal (Nr. 2, Oktober 1977), S. 8-9. 55 Darunter jene der Unterstützerkomitees in Bonn, Westberlin, Dortmund und Wolfsburg. 56 Flugblatt: Aufruf des Initiativausschusses, S. 2.
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die eigene Stärke sollte das Treffen vor allem einen umfassenden Einblick in die bisherigen Maßnahmen der Unterstützer geben: „[…] bereitet bitte schriftliches Material in ausreichender Zahl vor, in dem über Eure Arbeit berichtet wird“, erinnerten die Veranstalter. Zu den wichtigsten Programmpunkten gehörte die Bildung von Arbeitsgruppen. Die etwa vierhundert57 Delegierten mussten sich entscheiden, in welchen Bereichen sie mit ihren örtlichen Komitees am ehesten Unterstützung für das 3. RussellTribunal leisten wollten und konnten. Zur Auswahl standen die Schwerpunkte: „Berufsverbote, Repression in Betrieben bzw. Gewerkschaften, Haftbedingungen politischer Gefangener, Einschränkung der Verteidigerrechte, Militarisierung bzw. Ausbau des Gewaltapparates, Frauenunterdrückung, Verfolgung von Ausländern, fortschrittliche Sozialarbeit sowie Unterdrückung in Medien bzw. Medienzensur.“58 Wer sich festgelegt hatte, gehörte mit seinem Unterstützerkomitee nun mindestens einer der so entstandenen Arbeitsgruppen an, die sich jeweils verkürzt „AG Berufsverbote“, „AG Haftbedingungen“ usw. nannten und unter diesen Bezeichnungen sämtlichen internen und externen Schriftverkehr, zum Beispiel auch bei Flugblättern oder öffentlichen Aufrufen, führten. So hoben sich die „organisierten“ Unterstützerkomitees von denen ab, die nicht mit dem Initiativausschuss zusammenarbeiteten. Für die vier politischen Gruppierungen, die spätestens seit den Pariser Treffen in die Organisation des 3. Russell-Tribunals eingebunden waren – das Sozialistische Büros, der Kommunistische Bund, die Gruppe Internationaler Marxisten und der Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten –, war die Arbeitskonferenz in Frankfurt wegweisend.59 Alle vier vertraten von Anfang an unterschiedliche Auffassungen über die politische Verankerung des 3. Russell-Tribunals. Dem SB kam es auf eine breite Unterstützung des Tribunals durch so genannte „radikaldemokratische“ Kräfte aus Gewerkschaften, Kirche, Kultur und den regierenden Parteien SPD und FDP an. Die GIM forderte, aus der außerparlamentarischen Linken auch die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) für das Tribunal zu gewinnen. Sie wollte die Dogmatiker in der Frage des Extremistenbeschlusses auf eine gemeinsame Linie zwingen.60 Unter den übrigen Unterstützern gab es nicht wenige, die den Zweck des Tribunals in einer fundamentalen Kritik am „Modell Deutschland“ sahen. „Neben spontaneistischen Gruppen war hier vor allem der KB vertreten, der seine Faschisierungsthese zu exemplifizieren suchte […].“61 Im Zuge dessen befürwortete der KB auch die Einbeziehung von Fällen nicht-staatlicher Repression, besonders die vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) seit 1969
57 Vgl. STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein, S. 213. 58 Nach dem Wortlaut des Initiativausschusses, vgl. Flugblatt: Aufruf des Initiativausschusses. 59 Zum Ablauf der Arbeitskonferenz, vgl. Anonymer Bericht von der Frankfurter Arbeitskonferenz zum Russell-Tribunal am 26./27. März 1977. In: HIS, RA 02/061,009. 60 Die GIM argumentierte stets gegen „alle Berufsverbote“, während die DKP und Mitglieder der SPD, die sich in der Kampagne „Weg mit den Berufsverboten“ engagierten, „Berufsverbote gegen ‚wirkliche‘ Verfassungsfeinde aus dem linksextremen Lager“ durchaus unterstützten. Siehe: GELLRICH, Günter: Die GIM. Zur Politik und Geschichte der Gruppe Internationale Marxisten 1969-1986. Köln 1999, S. 88. Mehr zur Kampagne „Weg mit den Berufsverboten“, siehe Fn. 121. 61 STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein, S. 212f.
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wieder verstärkt erzwungenen Gewerkschaftsausschlüsse62, die viele KB-Mitglieder betrafen. Gemeinsam mit dem ID strebte der KB zudem eine „Aktions-Einheit“63 der außerparlamentarischen Linken an, die bestimmen sollte, welche Inhalte auf dem Tribunal zu verhandeln seien. Ein Interessenkonflikt auch innerhalb der Unterstützerszene, besonders in Westberlin, war unter diesen Vorzeichen programmiert – zumal sich herausstellte, dass die meisten Unterstützerkomitees im KB „ihren Ansprechpartner, ihr Sammelbecken“ sahen. „Unser Part war es, die superlinken und radikalisierten Ränder der linken Szene in die Kampagne zu integrieren“, erinnert sich Kai Ehlers, damals Leiter der Antirepressions-Kommission des KB und Mitarbeiter des Partei-Organs »Arbeiterkampf«. Unter „superlinks“ habe man vor allem solche Gruppierungen verstanden, die sich revolutionärer Politik verschrieben hatten, also nicht selten mit der RAF sympathisierten. Neben diesen schwierigen Mitstreitern, seien auch noch einige Spontis und die meisten der beteiligten ESGen auf ihrer Linie gewesen.64 Der Großteil der KB-nahen Gruppen habe sich jedoch aus der Leserschaft des »Arbeiterkampfes« gespeist – maximal 25.000 Personen, der KB selbst zählte auf seinem Höhepunkt etwa 2.500 Mitglieder.65 In Frankfurt a. M. äußerten sich die Differenzen zwischen SB, GIM, ID und KB schon einmal darin, dass die Wahl eines nationalen Unterstützerkomitees für das 3. Russell-Tribunal am Votum der Mehrheit scheiterte und stattdessen beschlossen wurde, Delegierte aus den Arbeitsgruppen in den Initiativausschuss zu entsenden. Aus Enttäuschung darüber, dass dieser „inzwischen den Charakter einer Delegiertenkonferenz einiger linker Organisationen“66 angenommen habe, zog sich das Sozialistische Büro aus dem Ausschuss zurück. Der Kommunistische Bund sah sich nun im Vorteil und wollte bei der Unterstützung des 3. Russell-Tribunals verstärkt in den Vordergrund treten. Am 7. Mai 1977, vor dem Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung vom Faschismus, lud der KB in Zusammenarbeit mit der Hamburger Unterstützungsgruppe für ein Russell-Tribunal67 zu der Großkundgebung „Deutschland – Modell für Europa?“ in die Hamburger Ernst-Merck-Halle. Als Redner traten frühere Widerstandskämpfer gegen das Naziregime und prominente Antifaschisten aus dem westeuropäischen Ausland auf, darunter Jean Pierre Vigier, Lidia Franceschi, Erich Fried, Henrik Kaufholz,68 und aus der Bundesrepublik die Schriftsteller Wolfgang Biermann und Ingeborg Drewitz. In ihren Vorträgen wurden unterschiedliche Dimensionen der „Repression in der BRD und die Bedrohung, die von ihr für die
62 Der DGB entledigte sich im Laufe der Siebziger Jahre vieler Mitglieder, die K-Gruppen angehörten. Diese betrachteten die DGB-Politik als Versuch der Ausschaltung innergewerkschaftlicher Opposition. 63 o. A.: Unterstützerkomitee: das Ende einer Illusion. In: Radikal (Nr. 26, 30.09.-13.10.77). 64 Kai Ehlers am 19.07.2010 (m). 65 Hans-Hermann Teichler am 17.07.2010 (m); vgl. STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein, S. 322. 66 Zit. nach: STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein, S. 213. 67 Ihr gehörten die ESG, die GIM, die Jungdemokraten, Mitglieder der Hochschullehrerinitiative gegen Berufsverbote, Gruppen zur Betreuung politischer Gefangener, aber auch das SB Hamburg an. 68 Kaufholz war im Unterschied zu Vigier, Franceschi und Fried kein Weltkriegsbeteiligter, sondern Mitglied des dänischen Komitees gegen Berufsverbote in der BRD und Mitglied der Internationalen Untersuchungskommission über die Todesumstände von Ulrike Meinhof (IUK). Siehe Kap. IV.2.3, S. 159f.
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Völker Europas ausgeht“69, thematisiert. Im Sinne des KB stimmten die Teilnehmer mehrheitlich einer von der Hamburger Unterstützungsgruppe vorbereiteten Resolution zu, in der die Bertrand Russell Peace Foundation gebeten wurde, auf dem Tribunal „alle Aspekte der Repression in der BRD zu behandeln“70. Das große Interesse ausländischer Beobachter, die Grußadressen von Jean-Paul Sartre, Jacques Pâris de Bollardière, Han Wielek und Lelio Basso71 und nicht zuletzt die beachtliche Zahl von 6.000 Teilnehmern ließen die Veranstalter auf eine „breite Mobilisierung“ und „internationale Publizität“72 hoffen. Das deutsche Presseecho ließ allerdings umgehend erkennen, „mit welchen Schwierigkeiten die Initiative zu rechnen haben würde – zumal kurz zuvor der Generalbundesanwalt Buback von einem Kommando der RAF erschossen worden war, der Deutsche Herbst seine Schatten vorauswarf.“73 Der Jurist und Publizist Oliver Tolmein verweist exemplarisch auf einen Beitrag der »Zeit«, die die Hamburger Kundgebung kritisch beäugte: „Die zweite Generation der APO formiert sich – Angriffsziel ‚Modell Deutschland‘“ schrieb der Redakteur Karl-Heinz Janßen und sah die Veranstaltung vor allem als Antigipfel gegen das zeitgleich stattfindende G7-Treffen in London: „Dank des Einflusses auf die akademische Jugend und der Publizität, die dem Russell-Tribunal sicher ist, werden sich die ohnehin vorhandenen Ressentiments gegen eine deutsche Wirtschaftshegemonie vervielfachen.“ Mit ihrer gemeinsamen Forderung an die RF, die Repression in der Bundesrepublik zu untersuchen, schürten „diese Systemkritiker […] die Deutschenfurcht“, die den Nachbarvölkern seit dem Zweiten Weltkrieg noch „in den Knochen steckt“. Außerdem würden sie sich nicht eindeutig von den Gewalttaten der RAF und dem bewaffneten Kampf distanzieren. Janßen abschließend: „Es war nur konsequent, als Biermann zur hellen Freude seiner Zuhörer das Lied vom Guerrillero ‚Che‘ Guevara, dem ‚lebendigen Toten‘, anstimmte, in dessen Namen schon die erste Apo im Sturmschritt Staat und Gesellschaft aus den Angeln heben wollte.“74
3. D AS W ESTBERLINER S EKRETARIAT UND DIE V ORBEREITUNGEN AUF DAS T RIBUNAL Obwohl sich der Kommunistische Bund nach dem Erfolg in Hamburg in seinen Vorstellungen vom Ablauf des 3. Russell-Tribunals bestärkt sah, wurde er noch im selben Monat durch die Installation eines vorläufigen Sekretariats in Westberlin „ausgebootet“75, wie der Politologe Michael Steffen zuspitzt. Um der Instrumentali-
69 o. A.: Aktivitäten zum Russell-Tribunal ‚BRD‘. In: Arbeiterkampf (Nr. 97, Januar 1977). 70 Die Resolution wurde allerdings nicht von der GIM getragen. Ebd. 71 Wielek war niederländischer Sozialdemokrat und Abgeordneter der Ersten Kammer. De Bollardière war ein französischer Offizier, der sich seit dem Algerienkrieg für Gewaltlosigkeit einsetzte. Basso war Mitglied der Italienischen Sozialistischen Partei (PSI) und Sekretär des 2. Russell-Tribunals über die Repression in Lateinamerika gewesen. Mehr zu Sartre, siehe Kap. IV.2.3, S. 158f. 72 o. A.: Großkundgebung in Hamburg. In: Anti-Repressions-Info (Nr. 1, Mai 1977). 73 TOLMEIN, Oliver: Wider das ‚Modell Deutschland im Herbst‘. Die Auseinandersetzungen um das Internationale Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der BRD. In: GÖSSNER, Rolf (Hg.): Widerstand gegen die Staatsgewalt. Handbuch zur Verteidigung der Bürgerrechte. Hamburg 1988, S. 128-143, hier: S. 136. 74 JANßEN, Karl-Heinz: Buback, Biermann und Che Guevara. In: Die Zeit (13.05.1977). 75 STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein, S. 214.
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sierung des 3. Russell-Tribunals durch eine (mögliche) Aktionseinheit von Gruppen der dogmatischen Linken vorzubeugen, hatte die RF das „Vorläufige Sekretariat zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Russell Tribunals“ eingerichtet. Ihm gehörten an: der Darmstädter Jurist Sebastian Cobler aus dem SB, der Berliner Detlef Haritz von der Humanistischen Union (HU) und Kai Thomas Dieckmann vom Aktionskomitee gegen die Berufsverbote an der FU Berlin (AK/FU). Hinzu kamen der Studentenpfarrer Ernst Böttcher und die Studentin Ellen Diederich von der ESG Gießen. Ihre und vier weitere ESGen in Marburg, Oldenburg, Düsseldorf und Darmstadt unterstützten das Tribunal „nach besten Kräften und wirkte[n] insbesondere während der einjährigen Vorbereitungszeit in vorderster Front“76, wie der Politologe Christian Stolorz berichtet. Da die RF vom Sozialistischen Büro zur Benennung des neuen Gremiums angeregt worden war,77 verwundert es nicht, dass dem Sekretariat kein KB-Mitglied angehörte. Durch die neu geschaffene Instanz verlor der Initiativausschuss seine ursprüngliche Funktion als Koordinationsgremium aller westdeutschen Unterstützerkomitees. Stattdessen lief die Kommunikation zwischen der RF und den Unterstützern nun über das von ihr autorisierte vorläufige Sekretariat. Aufgabe der UKs blieb es, „die Aktivitäten der Beteiligten zu koordinieren und so weit wie möglich zusammenzufassen, v. a. also eine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit und Geldsammlung zu organisieren.“78 Die Nottinghamer Stiftung konnte aus eigener Tasche keinen finanziellen Beitrag leisten. Die geschätzten 300.000 DM für die Durchführung des Tribunals mussten von deutscher Seite aufgebracht werden. Aus Sitzungsprotokollen des Westberliner UKs geht hervor, dass die (bei ihm) eintreffenden Spenden – bis zum 13. Juli 1977 waren es 11.485,79 DM –,79 zum großen Teil für die Arbeit des Sekretariats sowie für Werbemittel ausgegeben wurden, die wiederum das Spendenaufkommen erhöhen sollten: „Es gilt Büchsen zu sammeln, wo es nur irgend geht. Wir verwenden die genormten 500 g-Büchsen (Kaffee), die mit einheitlichen Beschriftungen versehen werden und dann zusammen mit evtl. monatlich erscheinenden Plakaten in Kneipen und Kinos aufgestellt werden (Seriencharakter). […] Weiterhin ist ein Russel-Aktionstag [sic!] geplant, der in der zweiten Hälfte des Oktobers in der ganzen Stadt mit Flugblättern, Spendenaufrufen, Büchsen usw. durchgeführt werden soll.“80 Die Reaktion des KB, der die weitere Zusammenarbeit mit dem von seinen politischen Gegnern besetzten Sekretariat ablehnte, bestand in der sofortigen Passivität bei allen Vorbereitungen auf das 3. Russell-Tribunal.81 Besonders drastisch bemerk76 STOLORZ, Christian: Die Evangelische Studentengemeinde. Religion oder Revolution? (RCDS-Schriftenreihe, Nr. 32). Bonn 1978, S. 28f. Die an der Vorbereitung des 3. RussellTribunals beteiligten ESGen trafen am 20. bis 22. Mai 1977 zu einer gemeinsamen Konferenz in Bad Nauheim zusammen. 77 Vgl. o. A.: Russell-Tribunal: Rückzieher der Opportunisten. In: Arbeiterkampf (Nr. 103, April 1977). 78 Ebd. 79 Protokoll des Unterstützungskomitees für ein Russell-Tribunal in Berlin (West), Finanzausschuss, vom 19.07.1977. In: APO-Archiv, Russell-Tribunal (Schuber). 80 Protokoll des Unterstützungskomitees für ein Russell-Tribunal Berlin (West), Finanzausschuss, vom 02.08.1977. In: APO-Archiv, Russell-Tribunal (Schuber). 81 Das UK warf dem KB deshalb vor, weder jemals zu Spenden für die Durchführung des Tribunals aufgerufen, noch das Geld von dem von ihm selbst eingerichteten Spendenkontos abgerechnet zu haben, geschweige denn „selbst je einen Pfennig überwiesen“ zu haben. Vgl. o. A.: Russel-news. In: Radikal (Nr. 34, 17.02.-02.03.1978).
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bar machte sich der Bruch in der Unterstützerszene innerhalb des Westberliner UKs. Weil hier auch mehrere Gruppierungen82, die sich zunächst engagiert hatten, im Sommer 1977 die Kooperation mit dem Sekretariat verweigerten, kam es zu mangelnder Konsensfähigkeit und Ineffektivität, Ende September schließlich zur Auflösung des UK. 83 Es blieben vierzehn Initiativen übrig, die ab sofort als „Westberliner Unterstützer des Russell-Tribunals“ für das vorläufige Sekretariat arbeiteten. Die Unruhe innerhalb der Unterstützerszene entging der RF freilich nicht. Sie veranlasste das Sekretariat vor der 2. Arbeitskonferenz am 25./26. Juni 1977 in Göttingen zu einer Stellungnahme, in der es heißt: „Das Sekretariat ist ein von der Russell-Foundation eingesetztes, unabhängiges Gremium. Es arbeitet mit allen an der Unterstützung des Tribunals interessierten Gruppierungen und Individuen zusammen.“ Dem Vorwurf, es vertrete nicht die Interessen von weiten Teilen der Unterstützerszene, begegnete die RF mit der Feststellung, dass es „übrigens bisher Prinzip bei allen Russell-Tribunalen war“, dass das Sekretariat auf einem „unabhängigen Status“ bestehe, „um von vornherein jeden Eindruck abzuwehren, der spätere Spruch des Tribunals wäre vorherbestimmt.“84 Wie notwendig diese unumstößliche Autorisierung des Sekretariats war, wird bei einem Blick auf den Umfang der Unterstützerszene deutlich. Aus einer Teilnehmerliste85 zu den Arbeitskonferenzen am 13. Juni in Westberlin und am 25./26. Juni in Göttingen geht hervor, dass die vierzehn bundesweiten Russell-Unterstützungskomitees mit ihren etwa einhundert assoziierten Initiativen längst nicht alle Unterstützer des Tribunals repräsentierten. Neben ihnen gab es Frauengruppen (16 an der Zahl), Schwulengruppen (9), Betriebs- und Gewerkschaftsgruppen (5), Mediengruppen (10) und einen großen Block sonstiger Gruppen (41) – einschließlich der GIM und mehrerer dänischer, niederländischer und österreichischer Initiativen. Das Sekretariat stand vor dem Problem, dass „einzelne Gruppen immer wieder gemeint haben, das, was sie sich als Punkt der Repression rausgesucht haben, sei das wichtigste auf der Welt, alles andere existiere zwar auch, sei aber nicht so wichtig […]“, erklärt Ellen Diederich rückblickend. Die jeweiligen Aktivisten hätten sich ein Problem herausgegriffen, daran gearbeitet und dabei den Blick für andere Probleme verloren. Dies führte „zu Wut und ungerechtfertigten Angriffen, wenn nicht alle Menschen ebenfalls das Problem als den zentralen Widerspruch begreifen.“86 Da sich alle im Sekretariat der Tatsache bewusst waren, dass das Tribunal nur dann öffentlichkeitswirksam arbeitete, „wenn möglichst breite Unterstützung geleistet wurde“, musste es sich gegenüber allen Unterstützern diplomatisch verhalten. „Die Drohung: wenn ihr das oder jenes macht, dann machen wir nicht mehr
82 Darunter der Spartacusbund und vergleichbare Antifa-Gruppen, die gegen die Sonderbehandlung der „politischen“ Gefangenen in der Bundesrepublik mobilisierten und vergeblich darauf drangen, staatliche Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung (unter dem Stichwort: „Counterinsurgency“) zum Verhandlungsgegenstand des Russell-Tribunals zu machen. 83 Vgl. o. A.: Russell-Unterstützer-Komitee. Die Unterstützung war gar keine mehr. In: Berliner Extra-Dienst (30.09. 1977); vgl. auch: o. A.: Unterstützerkomitee: das Ende einer Illusion. In: Radikal (Nr. 26, 30.09.-13.10.77). 84 BÖTTCHER, Ernst/COBLER, Sebastian u. a.: Erklärung des ‚Sekretariats‘ gegenüber der 2. Arbeitskonferenz. In: Anti-Repressions-Info (Nr. 3, Juli 1977). 85 Vgl. o. A.: Göttinger Teilnehmer-Kreis. In: Anti-Repressions-Info Hamburg (Nr. 3, Juli 1977). 86 DIEDERICH, Ellen: ‚Und eines Tages merkte ich, ich war nicht mehr ich selber, ich war ja mein Mann‘. Offenbach 1981, S. 125.
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mit, schwebte ständig über der ganzen Sache“87, so Diederich, die die ständige Vermittlerrolle als Belastung empfand. Auf dem Göttinger Arbeitstreffen protestierten zunächst alle teilnehmenden Gruppen gegen die Installation des Sekretariats. Das Hamburger UK hatte eine Resolution veröffentlicht, der sich nahezu alle Teilnehmer anschlossen. Die KBnahen Unterstützer befürchteten eine Bevormundung der Unterstützerszene durch das Sozialistische Büro. Sie forderten „demokratische Mitbestimmung“88 bei der Organisation des Tribunals. Den meisten Unterzeichnern ging es aber um einen anderen Punkt in der Stellungnahme: Das Sekretariat hatte sich nicht nur zu seiner Rolle in der Vorbereitung des Tribunals geäußert, sondern auch eine Ankündigung zu dessen Thematik getroffen. Demnach habe die RF mitgeteilt, dass sie ein „Tribunal über Verletzung der Menschenrechte in der BRD“ veranstalten wolle. Anders als bisher geplant und entgegen der Hamburger Resolution, sollte nicht mehr die Repression in der Bundesrepublik verhandelt werden. Stattdessen beabsichtige die Jury, „zu einem umfassenden Urteil über Menschenrechtsverletzungen gelangen.“89 Für die Unterstützerszene kam dies einer harten Abfuhr gleich, war sie doch mehrheitlich von dem Wunsch getragen, das Tribunal für alle Themen offen zu halten, die Linke dem Schlagwort Repression „im Sinne des ‚Modell Deutschlands‘“ zuordneten. In der Resolution wurden erneut vierzehn Schwerpunkte aufgezählt: Von der „politischen Unterdrückung in kulturellen, kirchlichen und anderen Institutionen“ bis zur „Praktizierung eines Radikalenerlasses im DGB […] durch Unvereinbarkeitsbeschlüsse“90. Auf die Forderung der Konferenzteilnehmer, dass das Sekretariat zurücktreten solle, wenn es an seinen Beschlüssen festhielt, reagierten die anwesenden Sekretäre mit dem Hinweis, „dass sie das absolute Vertrauen der Stiftung besitzen, und dass es ohne dieses Sekretariat kein Russell-Tribunal geben wird.“91 Auf dieser Basis war jede Diskussion zwecklos. Am Ende der Göttinger Arbeitskonferenz stellten Beobachter deshalb fest: „Ein u. E. großer Teil der Kritiker scheint doch bereit zu sein, sich letztlich mit den Gegebenheiten abzufinden, d. h. dem ‚Sekretariat‘ schließlich doch noch das ‚Vertrauen‘ auszusprechen. Ob diese Gruppen auch die […] beabsichtigte thematischen Einschränkung […] hinnehmen werden, muß allerdings bezweifelt werden.“92 Wie war es zu dem Umschwenk gekommen? Die grundlegende Entscheidung gegen eine thematische Breite des Tribunals hatte die RF im April 1977 getroffen: Damals teilten die Direktoren Ken Coates und Christopher Farley in einem Brief an die Initiatoren aus dem SB mit, dass sie die verschiedenen Ansätze, „to look into other aspects of repression besides the Berufsverbote“, durchaus überzeugt hätten. Dennoch seien sie mehr und mehr zu der Einsicht gelangt, dass es für das Tribunal von essentieller Bedeutung wäre, „to focus attention on to a sufficiently narrow agenda.“93 Dadurch wäre am ehesten sicherzustellen, dass die bundesdeutschen In-
87 Ebd., S. 71. 88 Flugblatt: Resolution. Herausgegeben von der Hamburger Vorbereitungsgruppe für ein Russell-Tribunal über die Repression in der BRD. Juni 1977. In: Anti-Repressions-Info (Nr. 3, Juli 1977). 89 BÖTTCHER, Ernst/COBLER, Sebastian u. a.: Erklärung des ‚Sekretariats‘, S. 3. 90 Flugblatt: Resolution. 91 Erklärung der Antifa Wiesbaden vom 11.07.1977. In: HIS, RA 02/061,008. 92 o. A.: Göttinger Teilnehmer-Kreis. 93 Brief von Ken Coates und Christopher Farley an einen „Freund“. In: HIS, Ordner: RussellTribunal 1977.
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stitutionen nicht zu Unrecht angeklagt und ihre Maßnahmen von einem internationalen Tribunal mit der höchstmöglichen moralischen Autorität geprüft würden. Auf die Frage nach der Neuausrichtung und Umbenennung des 3. RussellTribunals geht das damalige SB-Mitglied Oskar Negt in einem Brief an den Autor ein: „Das Sozialistische Büro war das Organisationszentrum. Klaus Vack hatte viele Kontakte, auch hin zum Ausland. Insofern haben wir eine ganze Reihe von Persönlichkeiten in Anspruch genommen, um das Russell-Tribunal auf die Beine zu stellen. Ich selbst nahm Kontakt zu Habermas auf. Das Resultat einer fast 10-stündigen Diskussion mit ihm war die Veränderung des Untersuchungsauftrages: Nicht die Berufsverbote sollten im Vordergrund 94 stehen, sondern allgemein die Menschenrechte.“
Im Anschluss an das Gespräch mit Jürgen Habermas, das im Mai oder Juni 1977 stattgefunden haben muss,95 trug Negt einem „kleinen Kreis“ des SB die Idee vor. Sie „wurde dann allgemein akzeptiert. Nicht zuletzt aus Gründen der Anbindung an die allgemeinen Kampagnen für Bürger- und Menschenrechte im internationalen Kontext.“96 Habermas’ Anregung entsprang wohl auch aus den Erfahrungen, die der Philosoph und Soziologe im Zusammenhang mit dem Protest gegen die Behandlung der „Charta ’77“-Unterzeichner97 gesammelt hatte. »Der Spiegel« berichtete am 6. Juni 1977 davon: Habermas gehörte demnach zu einer Gruppe von 147 international renommierten Wissenschaftlern, die sich in einem Brief an die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) gewandt hatte, um gegen „die Methoden, durch die in der Tschechoslowakei die grundlegenden Menschenrechte verletzt“98 würden, zu protestieren. Die Unterzeichner warfen dem
94 Oskar Negt am 07.12.2009 (s). 95 Auf dem Hamburger Kongress „Deutschland – Modell für Europa?“ am 7. Mai 1977 war das 3. Russell-Tribunal noch als Tribunal über die „Repression in der Bundesrepublik“ angekündigt worden. Mit der Stellungnahme des Westberliner Sekretariats zur 2. Arbeitskonferenz in Göttingen am 25./26. Juni 1977 war erstmals von einem Tribunal über die „Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik“ die Rede gewesen. 96 Oskar Negt am 07.12.2009 (s). 97 Die „Charta ’77“ war eine tschechoslowakische Bürgerrechtsbewegung, die im Januar 1977 eine gleichnamige Petition gegen die Menschenrechtsverletzungen des kommunistischen Regimes in ihrem Land veröffentlichte. Laut dem schwedischen Journalisten und Osteuropakorrespondenten Richard Swartz war sie „von Beginn an eine hartnäckige, legalistische Bewegung, die weder einen Umsturz noch eine Revolution anstrebte. Sie pochte vielmehr auf sehr böhmische, sehr tschechische Art und Weise auf das Wort, auf den Wortlaut der Verfassung und stellte so die in der Tschechoslowakei geltenden Gesetze der Realität gegenüber. Die Mitglieder der Charta konnten schließlich – wiederum sehr böhmisch – im Detail nachweisen, dass die in der Verfassung festgeschriebenen Rechte in der Gesellschaft nicht zur Geltung kamen. Ihre Taten und Forderungen waren demnach ‚bürgerliche‘ im Sinne des französischen ‚citoyen‘. Es ging ihnen um mehr als eine bloße Systemreform, es ging um die Einforderung demokratischer Rechte.“ Siehe: SWARTZ, Richard: Tschechoslowakei: Die intellektuelle Formierung der Opposition seit den 1970er Jahren. In: VEEN, Hans-Joachim/MÄHLERT, Ulrich/MÄRZ, Peter (Hg.): Wechselwirkungen Ost-West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975-1989 (Schriftenreihe Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, Bd. 12). Köln u. a. 2007, S. 55-60, hier: S. 58. 98 o. A.: Es gibt weder Sieger noch Besiegte. In: Der Spiegel (06.06.1977).
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Regime in Prag vor, gegen die Beschlüsse von Helsinki99 zu verstoßen. Der Begriff „Repression“ spielte in diesem Kontext keine Rolle, weder für die Oppositionellen in den Ostblockstaaten, die ihre Bürger- und Menschenrechte reklamierten, noch bei der Schaffung der Vertragstexte, bei denen es auf politische und juristische Termini ankam. Vor diesem aktuellen Hintergrund zog die Umbenennung und Neuausrichtung des 3. Russell-Tribunals keine weiteren internen Diskussionen nach sich. Vonseiten des Westberliner Sekretariats wurde sie auch nicht öffentlich erörtert. Gelegenheit dafür wäre sein Rundbrief vom Juni 1977 gewesen. In diesem gab das neue Gremium erstmals ausführlich über seine Arbeitsweise und den Weg bis zur Urteilsfindung des Tribunals Auskunft. Abgesehen davon, dass die Finanzierung der Veranstaltung noch abgesichert werden musste, hielten es die Organisatoren für notwendig, zunächst die Strukturierung des fortwährenden Zustroms von Dokumentationen, Erklärungen und Berichten zur Repression in der Bundesrepublik zu forcieren. Die Jury sollte nicht mit einem unsystematischen Wust von Informationen überschüttet werden.100 Alle Beiträger wurden dazu angehalten, sich an folgende Anregungen zur Aufarbeitung ihrer Materialien zu halten: Erstens sollten nur Belege für Menschenrechtsverstöße gesammelt werden, die „spezifisch für die Bundesrepublik sind“101. Zweitens galt es, bis zum ersten Treffen der Jury Mitte Oktober 1977 zweisprachige Kurzgutachten einzureichen, die begründen konnten, mit welchen Formen politischer Unterdrückung sich die Jury auf dem Tribunal befassen sollte. Drittens wurde den Beiträgen eine Deadline gesetzt: Spätestens bis zum Januar 1978 müssten „selbstverständlich weitere Materialien vorgelegt und die vorhandenen ergänzt werden“102. Das Sekretariat kündigte an, sich auch selbst um Kurzgutachten zu bemühen; Ellen Diederich zur Problematik der Unterdrückung von Frauen und Frauengruppen sowie zur Gewerkschaftsproblematik, Kai Thomas Dieckmann und Detlef Haritz zur Problematik des Extremistenbeschlusses, Sebastian Cobler zur Problematik von Zensurmaßnahmen (sowohl in den Medien als auch im Strafrecht), zur Problematik der Behinderung und Verfolgung von Verteidigern, zur Problematik der Haftbedingungen und der eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten „politischer“ Gefangener, zur Problematik der legalisierten und extra-legalen Prozessstrategien in politischen Großverfahren, zur Problematik der 99 In der finnischen Hauptstadt trafen vom 30. Juli bis 1. August 1975 die Spitzenpolitiker der 35 Teilnehmer-Staaten an der KSZE zur Unterzeichnung ihrer Schlussakte zusammen. Die meisten Teilnehmer verstanden die Konferenz als Startpunkt eines Prozesses der Förderung der Sicherheit in Europa, der Vertiefung der Ost-West-Kooperation und der friedlichen „SystemAuseinandersetzung zwischen politischer Demokratie und Einparteienherrschaft, zwischen Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft“. In der Schlussakte sind zehn Prinzipien verankert, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten untereinander bestimmen sollen, darunter das Prinzip Nr. 7: „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit“. Dieses Prinzip hat später viele Oppositionelle und Dissidenten in den Ostblockstaaten „bestärkt und befördert. Vielleicht wird man sogar so weit gehen können und behaupten, daß es dieses Prinzip […] war, das den Wandlungsprozeß in Ost- und Ostmitteleuropa am nachhaltigsten voranbringen half.“ Siehe: von BREDOW, Wilfried: Der KSZE-Prozeß. Von der Zähmung zur Auflösung des Ost-West-Konfliktes. Darmstadt 1992, hier bes. S. 46, S. 53 u. S. 58. 100 Vgl. Vorläufiges Sekretariat zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Russell Tribunals (Hg.): Rundbrief (Nr. 4, Juni 1977), Abs. I, S. 3. 101 Ebd. 102 Ebd., Abs. I, S. 4.
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Praxis der Polizei und des geplanten einheitlichen „Polizeigesetzes“103, zur Problematik der bundesdeutschen Geheimdienstpraxis und der Zusammenarbeit mit solchen Diensten anderer Staaten.104 Des Weiteren ging aus dem Rundbrief hervor, dass den Rahmen, innerhalb dessen die Materialien für das Tribunal zusammengestellt und die Gutachten erstellt würden, die Kriterien „Menschenrechtsverletzungen“ und „Besonderheit der Bundesrepublik Deutschland“ bilden sollten. Als verbindliche Grundlagen für die Beurteilung der Menschenrechtssituation in der Bundesrepublik nannte das Sekretariat zum einen das Grundgesetz, mit dem sich der Staat „zu den Grund- und Menschenrechten als unmittelbarem Recht, das die Gesetzgebung, die Rechtsprechung und die vollziehende Gewalt bindet“105 bekenne. Zum anderen listete es sämtliche internationalen Abkommen auf, denen die Bundesrepublik verpflichtet war (siehe Tabelle 3).106 Es sei Aufgabe der Gutachter und der Jury des 3. Russell-Tribunals, zu prüfen, ob und in welchen Formen die in diesen Dokumenten formulierten Grundsätze in der Bundesrepublik unterlaufen oder gebrochen würden.107 Um die besondere Situation der Bundesrepublik zu skizzieren, ging das Sekretariat auch auf den Ursprung des Grundgesetzes ein: Es spiegele selbstverständlich die Vorstellungen der Alliierten von der Entwicklung des Nachkriegsdeutschlands wieder. Schon das bewusst gewählte Datum seiner Verkündung – der 8. Mai 1949 war der 5. Jahrestag des Kriegsendes – symbolisiere die von den Alliierten als Voraussetzung eines selbstständigen deutschen Staates betrachteten Grundsätze: „Absage an Krieg und faschistische Barbarei.“108 Das Sekretariat zitierte hierzu auch das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945: „Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet, […] damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann.“109 – Auf diese Grundsätze beriefen sich vor allem jene Unterstützer des Tribunals, die die Praxis der Polizei und das geplante einheitliche „Polizeigesetz“ sowie die bundesdeutsche Geheimdienstpraxis und die Zusammenarbeit mit solchen Diensten anderer Staaten kritisierten. Bewusst zitierten die Verfasser auch die Passage: „Alle nazistischen Gesetze, welche […] eine Diskriminierung auf Grund der Rasse, Religion oder politischen Überzeugung errichten, müssen abgeschafft werden. Keine solche Diskriminierung, weder eine rechtliche, noch eine administrative oder irgendeiner anderen Art wird geduldet werden.“110 – Diese Sätze lieferten all jenen, die sich in der Bundesrepublik ihrer politischen Überzeugung wegen verfolgt fühlten, Argumente an die Hand, um die völkerrechtliche Legitimität des Staates in Zweifel zu ziehen. Die Frage nach dem Ausmaß von Repression wurde für sie zur Frage nach der Existenzberechtigung dieses Nachfolgestaates des Dritten Reichs. Und hieraus 103 Gemeint waren die unverbindlichen Grundsätze für die Polizeigesetzgebung der Bundesländer (nach Art. 30 und 70 GG), die die Innenministerkonferenz zwischen 1972 und 1976 erarbeitet hatte und in den „Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes“ (MEPolG) aufnahm. Das Regelwerk wurde weitgehend umgesetzt. 104 Vorläufiges Sekretariat zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Russell Tribunals (Hg.): Rundbrief (Nr. 4, Juni 1977), Abs. I, S. 4. 105 Ebd., Abs. II, S. 3f. 106 Ebd., Abs. II, S. 4. 107 Vgl. ebd., Abs. II, S. 6. 108 Ebd., Abs. II, S. 4. 109 DEUERLEIN, Ernst (Hg.): Potsdam 1945. Quellen zur Konferenz der ‚Großen Drei’. München 1963, S. 353. 110 Ebd., S. 355.
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wiederum ließ sich für die Russell-Unterstützer unschwer die Notwendigkeit einer unabhängigen internationalen Untersuchung zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik ableiten. Zur Rechtfertigung des Tribunals verwies das Sekretariat aber auch ausdrücklich auf „die Sorge, daß die innenpolitische Entwicklung in der Bundesrepublik aufgrund der politischen und ökonomischen Bedeutung des Staates in Europa zu einer Bedrohung für die eigenständige Entwicklung der anderen europäischen Länder werden könnte.“111 Wie es zu der befürchteten Einflussnahme auf die innenpolitische Situation oder gar Selbstbestimmung dieser Länder von Seiten der Bundesrepublik kommen sollte, führte das Sekretariat in seinem Rundbrief nicht aus. Angespielt wurde auf die mögliche Vorbildwirkung der „Berufsverbotspraxis“ in der Bundesrepublik für ihre Nachbarn aus der EG. Um die internationale Jury nicht dem Verdacht der Voreingenommenheit auszusetzen und die deutschen Unterstützer des Tribunals vor Vorwürfen des Landesverrats oder dergleichen zu bewahren, betonte das Sekretariat abschließend, es ginge „ganz und gar nicht darum, das in einigen europäischen Ländern gemalte Bild vom ‚häßlichen Deutschland‘ zu verfestigen.“112 Vielmehr solle Aufklärung betrieben und ein fundiertes Urteil gesprochen werden. Tabelle 3: Für das 3. Russell-Tribunal maßgebliche Grund- und Menschenrechtsabkommen Abkommen
Allgemeines Inkrafttreten Bundesgesetz Inkrafttreten in der BRD
Charta der Vereinten Nationen
26.11.1945
06.06.1973
BGB1 1973 I, 430
Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK)
04.11.1945
07.08.1952
BGB1 1952 II, 685; 953
16.12.1966 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
15.11.1973, 23.11.1973
BGB1 1973 II, 1533; 1569
Schlussakte der „Konferenz über 01.08.1975 Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE)113
01.08.1975
-
111 Vorläufiges Sekretariat zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Russell Tribunals (Hg.): Rundbrief (Nr. 4, Juni 1977), Abs. II, S. 8. 112 Ebd., Abs. II, S. 10. Es handelt sich um eine Anspielung auf die Beiträge des »Spiegels« in der Ausgabe vom 22.08. 1977 mit dem Titel „Das Bild vom bösen Deutschen“. Mit der Wendung „Der häßliche Deutsche“ hatte »Der Spiegel« bereits in seiner Ausgabe vom 22.07.1964 getitelt – sie stand besonders in den Sechziger und Siebziger Jahren für die Gesamtheit negativer Klischees über die Deutschen im Ausland. 113 Darin relevant die Abschnitte VII: „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ und VIII: „Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker.“
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4. R EAKTIONEN AUS P OLITIK UND Ö FFENTLICHKEIT VOR DER ERSTEN S ITZUNGSPERIODE Vom 14. bis 16. Oktober 1977 kamen die meisten Jurymitglieder zu einem Vorbereitungstreffen in Darmstadt zusammen. Nach Sichtung der eingereichten Kurzgutachten verfassten sie eine „Gründungserklärung des Dritten Internationalen RussellTribunals“, die ursprünglich auf der Pressekonferenz am 17. Oktober in Bonn bekannt gegeben werden sollte.114 Angesichts der Entführung Hanns Martin Schleyers am 5. September und der „Landshut“-Entführung am 13. Oktober gaben die Vertreter der RF und des Sekretariats aber nur kurze Statements ab. Die Jury ließ ausrichten, dass sie mit all jenen fühle, „die unter den gegenwärtigen Ereignissen und ihren Folgen leiden müssen.“115 Wenige Stunden später befreite ein Kommando der GSG 9 die Geiseln aus der Lufthansamaschine „Landshut“. In der Nacht zum 18. Oktober starben Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in der JVA Stuttgart-Stammheim. Irmgard Möller wurde mit Stichverletzungen in der Brust in ein Krankenhaus eingeliefert. Am Abend des 19. Oktobers fanden französische Polizisten die Leiche Schleyers. Im Schatten dieser Ereignisse gab die RF am 28. Oktober auf einer zweiten Pressekonferenz die Namen116 der 26 Jurymitglieder und der fünf deutschen Beiratsmitglieder des 3. Russell-Tribunals bekannt und veröffentlichte nun auch die Gründungserklärung mit den drei wichtigsten Fragestellungen für die bevorstehenden Untersuchungen: (1) Wird Bürgern der Bundesrepublik auf Grund ihrer politischen Überzeugung das Recht verwehrt, ihren Beruf auszuüben? (2) Wird durch straf-, zivilrechtliche Bestimmungen und durch außerrechtliche Maßnahmen Zensur ausgeübt? (3) Werden Grund- und Menschenrechte im Zusammenhang mit Strafverfahren ausgehöhlt oder eliminiert? Die RF räumte ein, dass sich diese Fragen von denen früherer Tribunale sehr unterschieden. Da man jedoch von dem „Wunsch getragen [sei], überall für Menschenrechte einzutreten“117, spreche nichts dagegen, sich auch einmal mit den Problemen einer rechtsstaatlichen Demokratie auseinanderzusetzen. Genau an diesem Argument entzündete sich binnen weniger Tage eine heftige Kontroverse. Das Tribunal wolle die Bundesrepublik „auf eine Stufe stellen mit Krieg und Diktatur“118 schrieb Heinzgünther Klein am Tag der Pressekonferenz im 114 Vgl. Vorläufiges Sekretariat zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Russell Tribunals (Hg.): Rundbrief (Nr. 6, Oktober 1977). In: APO-Archiv, Russell-Tribunal (Schuber). 115 Erklärung auf der Pressekonferenz in Bonn vom 17.10.1977. In: Tribunal. Zeitung zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Russell Tribunals (Nr. 2, Oktober 1977), S. 1. In: APOArchiv, Russell-Tribunal (Flugblätter, Flugschriften, Plakate, Erklärung des Sekretariats). 116 Die Jury: Prof. Eric Bentley, Claude Bourdet, Howard Branton, Dr. Noel Browne, Major Otelo Saraiva de Carvalho, Prof. Georges Casalis, Maria Velho da Costa, Prof. Vladimir Dedijer, Jean Pierre Faye, Prof. Johan Galtung, Lord Anthony Gifford, Prof. Ruth Glass, Trevor Griffiths, Agnes Heller, André Jeanson, Dr. Robert Jungk, Prof. Sven Möller-Kristensen, Ricardo Lombardi, Prof. Luigi Lombardo-Radice, Dr. Steven Lukes, Prof. Otto Nathan, Prof. Lolle W. Nauta, Oskar Niemeyer, Josephine Richardson, David Rousset, Prof. Albert Soboul, Elliot A. Taikeff, Umberto Elia Terracini. Deutscher Beirat: Dr. Ingeborg Drewitz, Prof. Helmut Gollwitzer, Prof. Wolf-Dieter Narr, Pastor Martin Niemöller, Prof. Uwe Wesel. 117 3. Internationales Russell-Tribunal: Gründungserklärung des 3. Internationalen Russell-Tribunals, S. 21. 118 KLEIN, Heinzgünther: Russell-Tribunal gegen die Bundesrepublik. In: Der Tagesspiegel (28.10.1978).
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»Tagesspiegel« und brachte damit die Haltung der Bonner Parteien auf den Punkt. Sowohl FDP, als auch SPD untersagten ihren Jugendorganisationen ab sofort jede Unterstützung des Tribunals und der Russell-Initiativen. Die SPD reagierte dabei nicht auf entsprechende Aufforderungen der Opposition, sondern handelte aus eigener Überzeugung: Auf der Parteivorstandsitzung am 13. Oktober 1977 sprach sich Willy Brandt sehr entschieden gegen die Durchführung eines 3. Russell-Tribunals aus. Der Parteivorsitzende sagte: „Ich lasse es mir nicht gefallen, dass die Bundesrepublik Deutschland in eine Propaganda-Kampagne hineingezogen und dass dabei der Name des verehrungswürdigen Bertrand Russell zu Lasten der Bundesrepublik Deutschland missbraucht wird.“ Im Sitzungsprotokoll heißt es weiter, dass Brandt „in dieser Meinung […] von allen Sprechern unterstützt“119 worden sei. Der SPD-Parteivorstand forderte alle Sozialdemokraten auf, sich nicht an den Aktivitäten des 3. Russell-Tribunals zu beteiligen und es nicht zu unterstützen, keine Unterschriften zu leisten oder geleistete Unterschriften zurückzuziehen und das auch bekannt zu geben. Darüber hinaus ermahnte er die Parteimitglieder, nicht als Zeugen vor dem Tribunal zu erscheinen.120 Jungdemokraten und Jungsozialisten waren über ihre Beteiligung an der Initiative „Weg mit den Berufsverboten“121 auf die Pläne für ein 3. Russell-Tribunal aufmerksam geworden und hatten sich an den bisherigen Vorbereitungen beteiligt. Nun mussten sie sich dem Druck aus Bonn beugen und von der Unterstützung Abstand nehmen. Die Jungdemokraten erklärten, ihr Verband sei anderenfalls wegen der „bestehende[n] politische[n] Repression“122 in seiner Existenz gefährdet. Die Wirkungsmöglichkeit engagierter Liberaler sei auf Grund der jüngsten terroristischen Gewaltakte und des unter diesen Umständen getrübten politischen Klimas enormen Zwängen ausgesetzt, weshalb man sich darauf konzentrieren wolle, umfassende Aufklärungs- und Mobilisierungsaktionen über Form und Hintergründe der „politischen Repression in der Bundesrepublik“ durchzuführen.123 Ähnlich drückten sich die Jungsozialisten aus: „Was grundsätzlich legitim und notwendig ist – nämlich eine vorurteilsfreie Untersuchung der Situation in der Bundesrepublik – erscheint vor dem Hintergrund der durch die terroristischen Gewalttaten geschaffenen Situation zur Zeit nicht möglich.“124 Den SPD-Vorsitzenden ließen solche Bemerkungen kalt. Brandt kündigte sogar an, „erforderlichenfalls zusammen mit namhaften Persönlichkeiten des In- und Auslandes dafür [zu] sorgen, daß die durchsichtigen propagandistischen und verleum119 Protokoll über die Sitzung des Parteivorstandes am 13.10.1977, S. 7f. In: AdsD 1/HSAA006290. 120 Vgl. ebd., S. 9. 121 Seit 1975 die wichtigste organisatorische Kraft gegen den Extremistenbeschluss mit Mitgliedern aus FDP, SPD, Gewerkschaften, Deutscher Friedensunion (DFU), ESG und anderen christlichen Vereinen sowie parteilosen Bürgern. Die DKP kontrollierte die Initiative. 122 Jungdemokraten: Erklärung zum 3. Russell-Tribunal. In: DUVE, Freimut/NARR, Wolf-Dieter (Hg.): Russell-Tribunal – pro und contra, S. 156-158, hier: S. 157. 123 Vgl. ebd., S. 158. 124 Zit. nach: o. A.: Zum Austritt der Jusos und Judos aus der Unterstützerbewegung zum RussellTribunal. In: Tribunal. Zeitung zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Russell Tribunals (Nr. 2, Oktober 1977), S. 3. In: APO-Archiv, Russell-Tribunal (Flugblätter, Flugschriften, Plakate, Erklärung des Sekretariats). Erst am 9. September 1977 hatte der Bundesausschuss der so genannten „Jusos“ einstimmig die Unterstützung des Russell-Tribunals beschlossen. Vgl. GEISSLER, Uli u. a. (Hg.): Anti-Terror-Gesetze, Russell-Tribunal. Sonderheft zum JusoBundeskongress 1978 (Frankfurter Reihe Nr. 3). Frankfurt a. M. 1978, S. 23f.
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derischen Absichten des geplanten ‚Tribunals‘ aufgezeigt und vereitelt werden“125, zitierte ihn die »Berliner Stimme«. Auch in einem späteren Brief an Helmut Gollwitzer, Theologieprofessor an der FU Berlin und Mitglied des Deutschen Beirats, wiederholte Brandt diese Vorwürfe: Es deute einiges darauf hin, dass es sich um „eine gezielt gegen die deutschen Sozialdemokraten und gegen die von ihnen getragene Bundesregierung gerichtete propagandistische Aktion“126 handele. Eine Frage stand bei der Polemik mal mehr, mal weniger deutlich im Raum: Hätte Bertrand Russell ein solches Vorhaben zu Lebzeiten überhaupt unterstützt? Hintergrund: Bertrand Russell Der 1872 im walisischen Chepstow/Trelleck geborene Spross einer Aristokratenfamilie gilt als einer der Begründer der analytischen Philosophie und blieb vielen seiner Wegbegleiter als bisweilen überschwänglicher Enthusiast in Erinnerung. So behauptete er einst, mit seinem Hauptwerk »Principa mathematica«127 „die Mathematik und Logik endgültig auf eine sichere Basis gestellt zu haben“ und prophezeite der Philosophie in »Unser Wissen über die Außenwelt«128 ein neues goldenes Zeitalter, „wenn nur die Philosophen die von ihm inaugurierte Methode der logischen Analyse zur Grundlage ihrer Arbeit machten.“129 Tatsächlich ist Russells Anteil an der Wiedergeburt der Logik und ihrer Weiterentwicklung unbestritten, doch steht der regelrechten Überhöhung130 seiner Person bis in die Zwanziger Jahre hinein seit dem Zweiten Weltkrieg eine „relative Geringschätzung“131 in weiten Teilen der deutschsprachigen Philosophie entgegen. Sowohl der logische Konstruktivismus, als auch Russells weitere Beiträge auf dem Gebiet der Logik fanden bei ihr nur noch wenig Beachtung.132 Die Wirkungskraft seines Denkens erlosch schließlich mit Ludwig Wittgensteins »Philosophischen Untersuchungen« (1953), in denen sich der einstige Schüler Russells gegen die Philosophie der idealen Sprache wandte, für die die »Principia mathematica« wegweisend waren. Dass daneben auch Russells moralisierende Erbauungsphilosophie, der er sich seit den Zwanziger
125 o. A.: Unterstützung versagen. In: Berliner Stimme (22.10.1977). 126 Brief von Willy Brandt an Helmut Gollwitzer vom 08.11.1977. In: DUVE, Freimut/NARR, Wolf-Dieter (Hg.): Russell-Tribunal – pro und contra, S. 28f., hier: S. 28. 127 Gemeinsam mit Alfred North Whitehead hatte Russell in diesem dreibändigen Werk darzulegen versucht, dass die Begriffe der Mathematik und ihre Wahrheiten aus der reinen Logik hergeleitet werden können. Die »Principia mathematica« erschienen erstmals zwischen 1910 und 1913. 128 Bertrand Russells 1914 veröffentlichtes Werk über die Lehre von den logischen Konstruktionen. 129 MORMANN, Thomas: Bertrand Russell. München 2007, S. 28; vgl. auch: HAAK, Werner: Bertrand Russell. In: Gewerkschaftliche Monatshefte (Nr. 4, 1970), S. 193-201, hier: S. 193f. 130 Er wurde sogar auf eine Stufe mit Voltaire gehoben. Vgl. von WRIGHT, Georg Henrik: Analytisk filosofi. En historistik-kritisk betraktelse. In: ANDERSSON, Åke E./HANSSON, Bengt/ SAHLIN, Nils Eric (Hg.): Huvudinnehåll. Tolv filosofiska uppsatser. Nora 1991, S. 207. 131 MORMANN, Thomas: Bertrand Russell, S. 165. 132 Nicht nur in der deutschen Philosophie, wie Mormann skizziert. Vgl. ebd., S. 162-166. Sondern gleichwohl auch international. Vgl. von WRIGHT, Georg Henrik: Logik, filosofi och språk. Strömningar och gestalter i modern filosofi. 2. Auflage. Stockholm 1965, S. 74 u. 126. Der britische Biograf Ray Monk meint: „After the war, Russell was famous, not for his philosophy but for his politics.“ Siehe: MONK, Ray: Bertrand Russell. The Ghost of Madness. 1921-1970. London 2001, S. 7. Zu Russells Bedeutungsverlust, vgl. auch S. 383-386.
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Jahren gewidmet hatte, in wissenschaftlichen Kreisen gering geschätzt wurde und zum Teil auf Ablehnung stieß, blieb eher eine Fußnote. Das Ansehen des „Order of Merit“133-Mitglieds und Literaturnobelpreisträgers von 1950 litt darunter kaum. Russell konnte es sich sogar leisten, hin und wieder durch eigenwillige Stellungnahmen in politischen und ethischen Fragen mit seinem gesellschaftlichen Umfeld zu brechen. Er war eben sein Leben lang von einem unbändigen Willen zur Wahrheit getrieben.134 Dies ließ sein Handeln oft übertrieben kompromisslos erscheinen und äußerte sich verbal in einer fast „apokalyptische[n] Entweder-Oder-Rhetorik“135. Doch seine Leidenschaftlichkeit haftete ihm an wie ein Gütesiegel. Man verzieh ihm die „Aussetzer“. Mit seinem Engagement für den Pazifismus ging Russell dem ein oder anderen jedoch zu weit. Schon während des Ersten Weltkriegs, den er als eine überflüssige Katastrophe und nationalistische Dummheit aller beteiligten Staaten ansah, eckte er an, weil er öffentlich zur Kriegsdienstverweigerung aufrief. Am Trinity College in Cambridge, wo er mit Unterbrechungen seit 1890 studiert und gelehrt hatte, verlor er deshalb 1915 seine Fellowship. Noch größer war die Demütigung, als er 1918 eine sechsmonatige Haftstrafe verbüßen musste. Ihm wurde vorgeworfen, in einem Zeitschriftenartikel die Soldaten der US-Armee und damit Großbritanniens wichtigsten Verbündeten beleidigt zu haben.136 In der Zwischenkriegszeit legte sich die Aufregung um seine Person. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erhielt Russell sogar mehrere Lehraufträge in den Vereinigten Staaten. Von dort aus verfolgte er die Appeasement-Politik des britischen Premiers Neville Chamberlain bis zum Münchener Abkommen mit Zustimmung. Angesichts des Hitler-Stalin-Paktes und der existenziellen Bedrohung, die seiner Auffassung nach sowohl vom Nationalsozialismus, als auch vom Stalinismus ausging, erklärte er sich 1940 zum Kriegsbefürworter: „Ich stelle fest, dass ich in diesem Krieg meine pazifistische Einstellung nicht beibehalten kann.“137 Mit diesem Sinneswandel zeigte Russell, dass er sich nicht als absoluten, sondern als rationalen Pazifist verstand, der die bewaffnete Auseinandersetzung als unumgänglichen Lösungsweg im Kampf gegen die beiden Diktatoren betrachtete. Obwohl sich die Sowjetunion mit den Alliierten verbündete, befürwortete er nach dem Kriegsende in Europa eine offensive Politik gegen Stalin. Nach den ersten Atombombenabwürfen 1945 sprach er sich dafür aus, die Sowjetunion unter Androhung eines Atomschlags seitens der USA dazu zu zwingen, auf eine atomare Aufrüstung zu verzichten.138 Nur so konnte seiner Ansicht nach ein großer Atomkrieg zwischen beiden Blöcken verhindert werden. In der Rigorosität, mit der er seither vor der Selbstvernichtung der Menschheit warnte, liegt auch der Ursprung seiner 1963 gegründeten Bertrand Russell Peace Foundation. In den Nachkriegsjahren machte sich Russell in Verbindung mit ande133 Ein 1902 gegründeter britischer Orden, dem ehrenhalber herausragende Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft, Kunst und Militärwesen angehören. Als Zeichen der Mitgliedschaft wird der gleichnamige Orden verliehen. 134 Vgl. SANDVOSS, Ernst A.: Bertrand Russell. Mit Selbstbildnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1980, S. 140. 135 MORMANN, Thomas: Bertrand Russell, S. 162. 136 Russell erklärte, „die US-Armee könnte in Europa ‚zweifellos recht brauchbar sein, um Streikende einzuschüchtern‘, darin hätte sie schon ‚von zu Hause aus Übung‘“. Siehe: HAAK, Werner: Bertrand Russell, S. 196. 137 Zit. nach: SANDVOSS, Ernst A.: Bertrand Russell, S. 95. 138 Vgl. MORMANN, Thomas: Bertrand Russell, S. 151.
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ren berühmten Wissenschaftlern wie Albert Einstein um die Aufklärung über die Folgen von Kernwaffeneinsätzen verdient. 1958 wurde er Präsident der „Campaign for Nuclear Disarmament“139 (CND) und führte, neben zahlreichen öffentlichen Auftritten, auch Briefkorrespondenzen mit US-Präsident Dwight D. Eisenhower und dem sowjetischen Regierungschef Nikita Chruschtschow. In Großbritannien war er längst die führende Figur im legalen Widerstand gegen die atomare Bewaffnung des Landes, als er Mitte 1960 den jungen amerikanischen Philosophiestudenten Ralph Schoenman kennen lernte. Dieser überzeugte Russell davon, dass die Zeit reif für radikalere Aktionen sei. Fortan beteiligte sich der fast Neunzigjährige an verschiedenen Blockaden von Militärbasen oder Kasernen sowie an verbotenen Kundgebungen, auf Grund derer die britische Regierung laut Schoenman nach und nach ihre Haltung zur Aufrüstungspolitik überdenken würde: „Hunderte prominenter Demonstranten zu verhaften und ins Gefängnis zu werfen […] würde sie auf Dauer nicht durchhalten […]“, so die Vermutung. Nach einem Sit-in landeten Russell, dessen Frau Edith, Schoenman und andere Mitglieder der CND im Gefängnis, weil sie der Aufhetzung der Bevölkerung und Störung der öffentlichen Ordnung beschuldigt wurden. Das Ehepaar Russell durfte die eigentlich zweimonatige Freiheitsstrafe auf Grund seines Alters bei einem einwöchigen Aufenthalt in einem Gefängniskrankenhaus verbüßen. Was viele Mitstreiter aus den Reihen der Gewerkschaften und der Labour Party abschreckte, hielt Russell nicht davon ab, weiterhin an den Erfolg seiner Protestbewegung zu glauben. Vorbereitend auf die Gründung der Bertrand Russell Peace Foundation organisierte Schoenman bald darauf ein „Russell-Sekretariat“, dem junge, mittlerweile gut vertraute Aktivisten angehörten. Sie erhielten den Auftrag, „Verlautbarungen, Aufrufe und Telegramme an die Staatsmänner der Welt, die Vereinten Nationen (UNO) und andere Institutionen“140 zu schicken, in denen sie im Namen Russells – aber nicht immer mit dessen Wissen – Stellung zu aktuellen Problemen der Weltpolitik unter dem Aspekt der Wahrung respektive Verteidigung von Menschenrechten sowie der sozialen Gerechtigkeit bezogen. So wurde das Sekretariat auch während der Kubakrise aktiv, indem es Telegramme an Kennedy, Chruschtschow, Castro und die UNO versandte, „um die Kontrahenten von ihrem Konfrontationskurs abzubringen.“141 Als die Krise überwunden war, glaubte Russell, sein Eingreifen hätte zur Entspannung zwischen den Supermächten beigetragen. Mit dem Schwung solcher „Erfolge“ wuchsen die Aufgaben des Sekretariats und die steigenden Unterhaltskosten fraßen das Vermögen des Philosophen auf: „[I]ts rapid growth and increasing cost made the burden larger than could be carried by one person.“142 Deshalb wurde das Sekretariat 1963 in eine Stiftung, die Bertrand Russell Peace Foundation, umgewandelt. Deren Startkapital stammte aus dem Verkauf der Rechte an Russells
139 Auch bekannt unter der deutschsprachigen Bezeichnung „Kampagne für nukleare Abrüstung“ mit dem markanten Peace-Zeichen als Logo. 140 MORMANN, Thomas: Bertrand Russell, S. 25. 141 Ebd., S. 26. 142 So umschreibt die RF den Anlass ihrer Gründung heutzutage auf ihrer offiziellen Internetpräsenz. Siehe: http://www.russfound.org/about/about.htm (Stand 06.11.2011).
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Autobiografie und der Übernahme seines Privatarchivs143 durch die McMaster University in Hamilton/Ontario. Bis zum 1. Russell-Tribunal war es nun kein weiter Weg mehr. Das in der Satzung verankerte Ziel, „to identify and counter the causes of violence, and to identify and oppose the obstacles to worldwide community“144, lief Mitte der Sechziger Jahre fast zwangsläufig darauf hinaus, den Vietnamkrieg und damit die Außenpolitik der Vereinigten Staaten zu thematisieren. „Warum trug man diesen Krieg nach Vietnam? Und in wessen Interesse?“145 – Diese beiden Fragen bewegten nicht nur Russell, sondern viele prominente Intellektuelle. Jean-Paul Sartre war einer der großen Namen, die die RF 1966 mit ihrer Forderung zur Einberufung eines Kriegsverbrechertribunals verknüpfen konnte. Zu den Mitgliedern der im Mai 1967 in Stockholm und sechs Monate später in Roskilde tagenden Jury gehörten schließlich auch Simone de Beauvoir, Wolfgang Abendroth und die Schriftsteller Günther Anders und Peter Weiss.146 Das 22-köpfige Gremium konnte in seiner Urteilsfindung auf zahlreiche Quellen aller Art zurückgreifen. Das Gros machten schriftliche und mündliche Berichte von Augenzeugen aus. Daneben stellten Dokumentaristen, die eigens für das Tribunal nach Vietnam entsandt worden waren, weitere Berichte zur Verfügung. Bertrand Russell hatte auch eine Einladung an die Regierung der Vereinigten Staaten ausgesprochen, „Beweise für ihre Positionen und Behauptungen vorzulegen oder sich durch Beamte vertreten zu lassen.“147 Nach der Anhörung von über dreißig Zeugen aus allen Konfliktparteien, befand die Jury die Regierungen der Vereinigten Staaten, Südkoreas, Neuseelands und Australiens in allen fünf Anklagepunkten für schuldig: Ihre Streitkräfte in Vietnam hätten sich völkerrechtswidrig verhalten. Gleichwohl dieser „Richterspruch“ eigentlich nicht mehr als eine öffentlichkeitswirksame Anschuldigung war, blieb Russell weiterhin von der Wichtigkeit seines Engagements „für die gesamte Menschheit“ überzeugt.148 Nach seinem Tod 1970 bestand die Stiftung fort. Den gemäßigten Mitgliedern gelang es, Ralph Schoenman als Generalsekretär und Nachlassverwalter abzusetzen. Ken Coates und Christopher Farley übernahmen zwei gleichberechtigte Direktorenposten,149 wobei Coates als Herausgeber des »Spokesman«, das vierteljährlich erscheinende Journal der RF, verantwortlich zeichnete. Die Stiftung blieb ihren Grundsätzen verpflichtet, „to further the cause of peace, and to assist in the pursuit
143 Die umfangreiche Sammlung von Dokumenten und Manuskripten wurde 1968 als „The Bertrand Russell Archives“ in den Bestand der McMaster Library aufgenommen und verblieb dort bis heute. Siehe: http://www.mcmaster.ca/russdocs/russell.htm (Stand 06.11.2011). 144 Vgl. Bertrand Russell Peace Foundation (Hg.): The Bertrand Russell Peace Foundation (Nottingham). Its aims and work. Nottingham 1981, S. 8. 145 RUSSELL, Bertrand: Rede zur ersten Versammlung der Mitglieder des Internationalen Tribunals gegen Kriegsverbrechen. London am 13.11.1966. In: DUVE, Freimut/NARR, WolfDieter (Hg.): Russell-Tribunal – pro und contra, S. 10-12, hier: S. 11. 146 Die weiteren Jurymitglieder waren: Mehmet Ali Aybar, James Baldwin, Lelio Basso, Lazaro Cardenas, Stokeley Carmichael, Lawrence Daly, Vladimir Dedijer, Dave Dellinger, Isaac Deutscher, Amado Hernandez, Melba Hernandez, Mahmud Al Kasuri, Kinju Morikawa, Carl Oglesby, Bertrand Russell, Shoichi Sakata, Jean-Paul Sartre, Laurent Schwartz. Siehe: WERKHEIMER, Frank: Die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg, S. 65, Fn. 4. 147 Ebd., S. 64. 148 Vgl. MORMANN, Thomas: Bertrand Russell, S. 27. 149 Siehe Fn. 28.
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of freedom and justice“150, und veranstaltete 1974 bis 1976 die drei Sitzungen des 2. Russell-Tribunals über die Menschenrechtsverletzungen unter den Militärdiktaturen in Lateinamerika, schwerpunktmäßig Brasilien und Chile. Auf der Abschlussveranstaltung gab die Jury die Gründung dreier Organisationen bekannt, die die Ideen der RF auf ihre Weise weiter verfolgen sollten: die Internationale Stiftung für Menschenrechte und Befreiung der Völker, die Internationale Liga für die Rechte und Befreiung der Völker und das Ständige Tribunal der Völker.151 Alle drei sind noch heute aktiv. Mit der Aufklärung von Kriegsverbrechen und den Verbrechen von Militärdiktaturen sollte das 3. Russell-Tribunal nach den Plänen der RF nicht mehr viel gemein haben. Insofern schienen Kritiker Recht zu behalten, die in dem Vorhaben einen Bruch mit Russells Grundideen sahen. War es angebracht, den zweifelsohne wichtigen und dringenden Kampf für Frieden, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit ausgerechnet in der Bundesrepublik zu führen? Die Witwe des Philosophen, Edith Russell, hielt es für notwendig, sich zu dieser Frage zu äußern. Sie nahm das 3. Russell-Tribunal in einem offenen Brief in Schutz: „[…] da bekannte Personen in der Bundesrepublik, die mit meinem Mann allerdings nie zu tun hatten, behauptet haben, das Bertrand Russell selbst wäre er noch am Leben diese geplante Untersuchung vielleicht nicht gut geheißen hätte, möchte ich folgendes feststellen: Während der letzten Jahre seines Lebens hat er sich bis zur Grenze seiner Kräfte für die Verteidigung der Menschenrechte im Osten, im Westen und in neutralen Ländern eingesetzt. Seine scharfe Kritik am Mc Carthyismus in den USA ist hinreichend bekannt. Seine kritische Haltung hierzu war so ausgeprägt, daß er sie sogar seiner Rede anläßlich der Entgegennahme des Nobel-Preises zum Ausdruck brachte. Die Frage, ob in der Bundesrepublik heute ähnliche Praktiken wie im damaligen Amerika festzustellen sind, ist ein Untersuchungsgegenstand des Tribunals. Daß Bertrand Russell eine solche Untersuchung gewünscht hätte, eine Untersuchung, so fair und gründlich wie irgend möglich, wird von niemandem angezweifelt, der ihn 152 kannte.“
Das grundsätzliche Misstrauen der Bonner Parteien gegenüber einem Tribunal, das die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik hinterfragte, vervielfachte sich auf Grund zweier Faktoren: Einerseits durch die Art und Weise, wie es zwischen der RF und linken Gruppierungen wie dem SB oder dem KB angebahnt worden war – was Politik und Presse zu Mutmaßungen über eine Querverbindung der Initiatoren zur illegalen Linken einlud.153 Andererseits bestätigte die Besetzung der Jury die Befürchtungen, dass „eine internationale Kampagne gegen die Bundesrepublik Deutschland und ihre freiheitlich rechtsstaatliche, demokratisch legitimierte Staats-
150 So formuliert es die RF auf ihrer offiziellen Internetpräsenz. Siehe: http://www.russfound.org/ about/about.htm (Stand 06.11.2011). 151 Bekannter sind die drei Organisationen unter ihren internationalen Bezeichnungen: International Foundation for the Rights and Liberations of People (auch: Lelio Basso Foundation), International League for the Rights and Liberations of People, Permanent People’s Tribunal. 152 Rundbrief des Sekretariats zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Russell Tribunals (Nr. 9, Januar 1978), S. 17. In: APO-Archiv, Ordner: Russell-Tribunal (Flugblätter, Flugschriften, Plakate, Erklärung des Sekretariats). 153 Vgl. EPPLER, Erhard: Unverfrorenheit mit zynischem Beigeschmack. Beitrag für die Berliner Stimme vom 17.10.1977. In: DUVE, Freimut/NARR, Wolf-Dieter (Hg.): Russell-Tribunal – pro und contra, S. 43f.
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ordnung“154 drohe. Während in der Unterstützerszene Zufriedenheit über die eingeladene Prominenz herrschte, weil sie „ganze Arbeit leisten“155 werde, schimpfte die konservative Presse: „[…] man kennt diejenigen, die sich da als Streiter für Menschenrechte aufspielen: Kommunisten aller Schattierungen, in Westeuropa wie im Osten, die vom Archipel ‚Gulag‘, von psychiatrischen Kliniken, von Morden an der Zonengrenze natürlich niemals etwas gehört haben.“ Nicht nur die ausländischen Jurymitglieder, wie Otelo Saraiva de Carvalho, Luigi Lombardo-Radice oder Lelio Basso wurden ins Zwielicht kommunistischer Politik und totalitärer Verbrechen gerückt, auch die Mitglieder des Deutschen Beirats, Ingeborg Drewitz, Martin Niemöller, Wolf-Dieter Narr und Helmut Gollwitzer, wurden mit „dubiosen Machenschaften“ im „linken Halbdunkel“ in Verbindung gebracht, letzterer gar als „Terroristenfreund“156 bezeichnet. Daneben gab es auch solidarische Pressestimmen. Die »Rhein-Neckar-Zeitung« etwa hielt der Streitbarkeit der Jury- und Beiratsmitglieder die Namen bekannter bürgerlicher Unterstützer des 3. Russell-Tribunals entgegen. Sie veröffentlichte am 23. Oktober 1977 eine kleine Liste von Rechtsanwälten, Psychologen und Ärzten, die das Tribunal mit Spenden oder anderweitig förderten, um darauf aufmerksam zu machen, dass nicht nur eine Minderheit von Terroristen oder radikalen Linken, sondern „hunderttausende von Bürgern inzwischen auf ihre Gesinnung überprüft“ würden. Eine Diskussion über die Untersuchungen und Ergebnisse des Tribunals in „breitester Öffentlichkeit“157 sei wünschenswert. Tatsächlich zog das 3. Russell-Tribunal nicht nur hinsichtlich seiner politischen Ziele, sondern auch in seiner finanziellen Situation158 Nutzen aus einer verstärkten öffentlichen Kontroverse. Denn nur wenn größere Tageszeitungen über das Tribunal berichteten, konnten weitere potentielle Unterstützer und Spender erreicht werden. So profitierte die Initiative in doppelter Weise, als im Januar 1978 ein Geheimpapier des Bundesinnenministeriums publik wurde.159 Aus ihm ging hervor, dass
154 Deutscher Bundestag (Hg.): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Eyrich, Spranger, Erhard, Schwarz, Wohlrabe, Dr. Müller, Dr. Wittmann, Dr. Jentsch, Gerster und der Fraktion der CDU/CSU, S. 2. 155 o. A.: Russell Tribunal findet statt! In: Gegenpol-itische Unterdrückung. Info für die Unterstützer des 3. Russell-Tribunal (Extrablatt, November 1977), S. 1-4, hier: S. 2. 156 KLEINERT, Detlef: Wo Verleumder Richter spielen. Und auch hier funktioniert die Volksfront. In: Bayern-Kurier (12.11.1977). 157 o. A.: Unterstützung für ‚Russell-Tribunal‘. In: Rhein-Neckar-Zeitung (23.10.1977). 158 Selbst im Februar 1978 waren die notwendigen 200.000 DM für die Finanzierung der ersten Sitzungsperiode noch nicht gesammelt. Vgl. o. A.: Russel-news. In: Radikal (Nr. 34, 17.02.02.03.1978). Im November 1977 hatte das Westberliner Sekretariat die Idee, die Situation durch Herausgabe einer Broschüre zu verbessern. Das SB regte seine Mitglieder dazu an, die Broschüre in größerer Menge zu kaufen und weiter zu verkaufen: „Der Verkaufspreis […] ist DM 6.--. Unterstützungsgruppen bekommen bei Abnahme von mindestens 10 Stück 10 % Rabatt. […] Soweit an eurem Ort ein linker Buchhandel ist und die Broschüre dort noch nicht verkauft wird, so solltet ihr den Buchhändlern auf den Pelz rücken […].“ Siehe: SB-Rundschreiben Russell-Tribunal (Nr. 5, November 1977), S. 1. In: HIS, Ordner: Russell-Tribunal 1977. 159 Es handelte sich um ein Gutachten des Referats Öffentliche Sicherheit 2 des Bundesinnenministeriums vom 20. September 1977 mit dem Stempel „Verschlußsache, nur für den Dienstgebrauch“, das dem Direktor der RF, Christopher Farley, von unbekannter Seite zugespielt worden ist. Seine Echtheit bestätigte ein Sprecher des Ministeriums. Das Papier stelle eine nur für den Dienstgebrauch bestimmte Ausarbeitung anlässlich einer Referentenbesprechung dar.
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Bundesinnenminister Werner Maihofer (FDP) bereits im Spätsommer 1977 „mögliche Reaktionen auf Aktivitäten des Russell-Tribunals“160 prüfen ließ. Resultat war ein gut sechsseitiges Papier, in dem unter anderem Gegenmaßnahmen wie das Verbot des Tribunals nach dem Versammlungsgesetz, der Entzug von staatlichen Fördergeldern für Organisationen, die das Tribunal unterstützten, oder die Verwirkung von Grundrechten einzelner am Tribunal beteiligter Personen nach Art. 18 GG in Erwägung gezogen wurden. „Bonn plans to frustrate rights hearing“ titelte sogar der britische »The Guardian« und nannte weitere Punkte des Papiers: „[…] instructions to public authorities not to make assembly halls available for events connected with the tribunal, a ban on such events, the breaking up of the tribunal by police, and a ban on foreigners entering West Germany to take part in the tribunal.“161 Auf einer Unterstützungsveranstaltung für das 3. Russell-Tribunal am 15. Januar 1978 in Berlin erklärten Sprecher des Sekretariats vor über fünfhundert Teilnehmern, dass das Papier genau „jene Zensurbestimmungen“162, gegen die sich das Tribunal richten werde, zu dessen Verbot in Erwägung ziehe. In einem Kommentar in der »Frankfurter Rundschau« empörten sich Wolf-Dieter Narr und Uwe Wesel, die sich als die wichtigsten Vorbereiter des Tribunals erwiesen, außerdem über die „Fülle falscher Informationen“, welche das Ministerium zur Grundlage des Papiers gemacht hätte. Ausgehend von diesen Falschinformationen seien Maßnahmen in Betracht gezogen worden, die „Recht als verwaltendes Instrument im Sinne eines Erfolgskalküls“ erscheinen ließen, „das nur auf die Verhinderung des politisch mißliebigen Unternehmens Russell Tribunal zielt.“ Da die „Verwaltung den Apparat in der Hand“163 habe, sei eine Umsetzung des Geheimpapiers zu befürchten. Wie Wesel später gegenüber der Zeitschrift »diese woche« andeutete, habe das Sekretariat mit einem Verbot der Veranstaltung gerechnet. Eine Verlegung in die Niederlande sei erwogen worden. Ein SPD-Landesminister aus Hessen habe ihm jedoch rechtzeitig „inoffiziell zugesichert“164, dass der Veranstaltung keine Steine in den Weg gelegt würden.
5. D IE ERSTE S ITZUNGSPERIODE IN F RANKFURT -H ARHEIM 5.1 Ablauf Die erste Sitzungsperiode des 3. Russell-Tribunals fand vom 28. März bis 4. April 1978 im Bürgerhaus Frankfurt-Harheim statt. Dabei repräsentierten Wolf-Dieter Narr und Uwe Wesel den Deutschen Beirat und der jugoslawische Publizist Vladimir Dedijer die RF, indem er dem Tribunal als Präsident und Sprecher vorstand. Die »Frankfurter Rundschau« druckte es komplett ab. Siehe: o. A.: Wie das Russell-Tribunal kaltgestellt werden könnte. In: Frankfurter Rundschau (28.01.1978). 160 o. A.: Bonn erwägt jetzt Auseinandersetzung mit Russell-Tribunal. Bundesregierung will möglichst keine Zwangsmaßnahmen. Tribunal-Sekretariat veröffentlicht vertrauliches Papier. In: Der Tagesspiegel (15.01.1978) 161 BUSCHSCHLÜTER, Siegfried: Bonn plans to frustrate rights hearing. In: The Guardian (11.01.1978). 162 Zit. nach: o. A.: Bonn erwägt jetzt Auseinandersetzung mit Russell-Tribunal. In: Der Tagesspiegel (15.01.1978). 163 NARR, Wolf-Dieter/WESEL, Uwe: Der jahrhundertealte Übermut der Ämter. Kommentar. In: Frankfurter Rundschau (07.02.1978). 164 HEINE, Werner: Der Lord sagte: Yes. In: Diese Woche (06.04.1978).
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Die Troika reiste gemeinsam aus Berlin an, wo sie sich im Vorfeld getroffen und den Ablauf der Sitzungen miteinander besprochen hatte. Uwe Wesel erinnert sich an einen munteren Austausch: „’I need a hammer.‘ So fing er an. Narr und ich sahen uns an. Verstanden zuerst gar nichts, dachten dann nach und waren beeindruckt. Natürlich. Solch ein Vorsitzender braucht einen Hammer für die Sitzungsleitung. Es fiel ihm auch nicht ein, Deutsch zu reden, obwohl er es konnte. Er war sehr fair, sehr diplomatisch. Aber ein Partisanenoberst, der gegen Hitler gekämpft hat, spricht wohl nicht mehr Deutsch. Wir erklärten ihm, er solle sich darauf einstellen, dass die Presse der Bundesrepublik nicht sehr freundlich reagieren würde […]. Vlado: 165 ‚You know, the worst can happen to us is when they ignore us.‘“
Am 28. März trafen auch die Jurymitglieder und der Deutsche Beirat in Frankfurt a. M. ein:166 „Wir hatten ein kleines Hotel gemietet, in der Innenstadt, in der Fressgasse, da waren die alle untergebracht“167, erklärt Wesel. Die zehn Kilometer nach Harheim sei man immer im gemieteten Bus gefahren. Das Bürgerhaus bot Platz für etwa fünfhundert Personen. Neben dem Tagungssaal gab es einen Raum, der wie ein Sekretariat eingerichtet war, einen Raum für die Presse und einen Raum, in dem die Plakatentwürfe zum Tribunal ausgestellt wurden. Auf dem Büchertisch im Eingangsbereich lagen Ausgaben des KPD (m)-Organs »Rote Fahne«, des KB-Organs »Arbeiterkampf«, des SB-Organs »Links«, kurzum: „alles, was ‚Rang und Namen‘ hat“168, wie ein Besucher feststellte. Abbildung 7: Das Bürgerhaus Frankfurt-Harheim im Sommer 2010
Quelle: Privatarchiv Gunnar Erdmann
165 WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 286f. 166 Elf Jurymitglieder hatten ihre Teilnahme absagen müssen. Vgl. TOLMEIN, Oliver: Wider das ‚Modell Deutschland im Herbst‘, S. 139. 167 Uwe Wesel am 04.06.2008 (m). 168 o. A.: Russell-Tribunal. In: Radikal (Nr. 37, 14.04.-27.04.1978).
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Unweit des Bürgerhauses, auf der Wiese In den Schafgärten, hatten die Organisatoren ein Festzelt aufstellen lassen, in welchem die Pressekonferenzen der Jury und die Kulturveranstaltung des Deutschen Beirats stattfanden. Das umfangreiche Rahmenprogramm mit Filmvorstellungen, Theateraufführungen und Diskussionsrunden verteilte sich auf viele einzelne Veranstaltungsorte im Frankfurter Stadtgebiet. Maßgeblichen Anteil daran hatten das Frankfurter Unterstützerkomitee und der AStA der Universität Frankfurt. Außerdem hatte das Sozialistische Büro im Vorfeld seine bundesweiten Russell-Projektgruppen aufgerufen, „in Zusammenarbeit mit anderen Kräften der Unterstützerbewegung […] ein örtliches Arbeits- und Aktionsprogramm [zu] entwickeln“169, um das Tribunal somit auch fernab Frankfurts öffentlichkeitswirksam zu begleiten. Wie intensiv und enthusiastisch diesem Aufruf Folge geleistet wurde, soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Dass die Mobilisierungsbereitschaft der Unterstützer im Allgemeinen sehr hoch war, lässt sich daran ablesen, dass etwa die Westberliner Unterstützer für die erste Sitzungsperiode tägliche Bulletins und Informationsstände organisierten,170 und dass es sogar im Ausland zu vorbereitenden oder begleitenden Veranstaltungen kam. So organisierte das Schweizer Komitee zur Unterstützung eines 3. Russell-Tribunals zwei Presseinformationsveranstaltungen, die am 16. und 17. März 1978 in Zürich und Basel stattfanden.171 Unter dem Motto „Wer hat Angst vor dem Russell-Tribunal?“ suchten die Aktivisten den Gedankenaustausch mit Medienvertretern, wobei vor allem das Geheimpapier des Bundesinnenministeriums und die Auswirkungen der Sympathisantendebatte172 in der Bundesrepublik für Diskussionsstoff sorgten. Beide Themen fanden in der Eröffnungsrede des 3. Russell-Tribunals durch Vladimir Dedijer keine gesonderte Erwähnung. Allerdings sprach der Präsident des Tribunals ausdrücklich davon, dass „die Bürokratisierung und Verselbstständigung der Geheimdienste und Polizeien“ offenkundige Symptome dafür seien, dass es in der Bundesrepublik eine systematische Gefährdung der Menschenrechte gebe. Das Tribunal ziehe seine Berechtigung zudem aus der Tatsache, dass die Gefährdung der Menschenrechte in einem der führenden Industriestaaten auch die Freiheit in „Staaten der Dritten Welt“ bedrohe, „denn die innere Entwicklung der ökonomisch und politisch führenden Staaten der Welt bedingt die Entwicklungsmöglichkeiten und Freiheiten der unterentwickelten Länder.“173 Insofern liege es nicht im Interesse des Tribunals, „Institutionen, Personen oder [die] Bundesrepublik insgesamt“ zu verurteilen, sondern es wolle mit seiner Tätigkeit in der Bundesrepublik die hiesige wie auch die internationale Öffentlichkeit daran erinnern und dazu aufrufen, „aktiv in den Kampf um die unverkürzte Verwirklichung der Menschenrechte einzutreten.“174 169 SB-Rundschreiben Russell-Tribunal (Nr. 2, Oktober 1977), S. 4. 170 Vgl. Koalitionskreis der Westberliner Unterstützer des 3. Russell-Tribunals: Neue RussellBande. In: Radikal (Nr. 35, 10.03.-30.03.1978). 171 Arbeitsgruppe Information des Demokratischen Manifests (Hg.): DM-Bulletin (Sondernummer, 23.02.1978). In: APO-Archiv, Ordner: Russell-Tribunal (Flugblätter, Flugschriften, Plakate, Erklärungen des Sekretariats). 172 Siehe Kap. III.1.1, S. 79f. 173 DEDIJER, Vladimir: Einleitende Erklärung zur Eröffnung des 3. internationalen RussellTribunals. In: 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente, Verhandlungen, Ergebnisse. Bd. 1. Berlin 1978, S. 9-13, hier: S. 10. 174 Ebd., S. 11.
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Das Jurymitglied Johan Galtung griff diesen Vorsatz im anschließenden Vortrag noch einmal auf, um das Tribunal gegenüber seinen Kritikern zu verteidigen. Die Jury verstehe sich nicht als ein Gericht, das über die „Bundesrepublik als solche im Guten oder im Bösen zu befinden hat“. Stattdessen werde sie lediglich eine Stellungnahme zur Situation der Menschenrechte in dem Land abgeben. „Richter und Exekutor“, so betonte der norwegische Friedensforscher, sei „die Öffentlichkeit; sie kann die Warnungen aufnehmen und im Sinne der Verwirklichung der Menschenrechte umsetzen.“175 Nach Dedijer und Galtung schickte Wolf-Dieter Narr einige Bemerkungen zum Ablauf des Tribunals und zur Vorgehensweise der Jury voraus. Er wies auf drei symptomatische Schwierigkeiten hin, sich mit „Berufsverbotsfällen“ auseinander zu setzen: Erstens die Skepsis vieler Betroffener, die öffentliche Präsentation ihres Falles könnte juristische Konsequenzen haben. Zweitens die Empfehlung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) an seine Mitglieder, sich nicht für das 3. Russell-Tribunal einzusetzen. Dies habe laut Narr „verunsichernd“ auf die Unterstützerszene gewirkt. Viele Gewerkschaftsangehörige hätten sich gescheut, über ihre Erfahrungen mit dem Extremistenbeschluss zu sprechen. Drittens die Gegnerschaft der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Sie habe Mitgliedern, die sich am Russell-Tribunal beteiligen wollten, „mit dem Ausschluß gedroht.“176 Infolge dessen seien viele bereits vom Sekretariat aufgenommene Fälle von den Betroffenen oder vonseiten der Hamburger „Initiative gegen Berufsverbote“, die der DKP nahe stand, zurückgezogen worden. Der Frust über diese Entwicklung saß bei Narr tief. Wie Uwe Wesel berichtet, hätten sie sich beide im Vorfeld des Tribunals vergeblich die Mühe gemacht, persönlich mit der DKP-Spitze zu sprechen: „Die meisten Opfer der Berufsverbote waren Studenten, die der DKP nahe standen. Also sind wir nach Düsseldorf zur Parteizentrale der DKP, haben mit denen verhandelt, damit sie überhaupt bereit waren, ihren Mitgliedern zu erlauben vor dem Russell-Tribunal aufzutreten. Das haben die verboten, weil sie Angst hatten, wir würden auch noch ein Russell-Tribunal über die DDR machen.“ Das Problem dabei: „Die DKP war eine Unterabteilung der SED“, meint Wesel, hebt allerdings hervor, dass Narr und er die Befürchtungen der DKP keineswegs nährten. „Wir hatten mit dieser Partei fürchterliche Schwierigkeiten. Aber wir hätten nie im Traum daran gedacht, ein Tribunal über die DDR zu machen.“177 Wolf-Dieter Narr bestätigt: „Ich erinnere mich vage daran. […] das Russell-Tribunal auf die DDR auszudehnen, hätte ich abgelehnt. Das nicht, weil mir die politisch verordneten Lebensbedingungen in der DDR nicht aus vielen Gründen skandalös erschienen wären. Vielmehr, weil dann die politische Stoßrichtung des Russell-Tribunals blockiert worden wäre.“ Der in der Bundesrepublik „herrschende ideologische Antikommunismus, leicht gemildert durch die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition“ hätte ihr Vorhaben mit „Haut und Haaren aufgefressen. Und umfunktioniert!“178 so Narr. Dedijer erklärte in seiner Eröffnungsrede jedoch, dass das Russell-Tribunal und die Bertrand Russell Peace Foundation immer darauf geachtet hätten, „daß Men175 GALTUNG, Johan: Bemerkungen zur Vorgangsweise und den Kriterien des Tribunals. In: Ebd., S. 13-18, hier: S. 13f. 176 NARR, Wolf-Dieter: Zur Auswahl der Fälle und den dabei begegneten Schwierigkeiten. In: Ebd., S. 18-20, hier: S. 19f. 177 Uwe Wesel am 04.06.2008 (m). 178 Wolf-Dieter Narr am 15.11.2008 (s).
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schenrechtsverletzungen nicht einseitig untersucht werden.“ Dedijer verwies auf die Rüge gegen die DDR nach dem 1. Russell-Tribunal, weil sie als Mitglied des Warschauer Paktes an den Aggressionen gegen die Tschechoslowakei 1968 beteiligt gewesen sei. Außerdem habe Russell jahrelang im Schriftwechsel mit Walter Ulbricht, dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, gestanden, um auf Menschenrechtsverletzungen in seinem Land aufmerksam zu machen. Zuletzt sei die RF im Oktober 1977 mit Willy Stoph, dem Ministerratsvorsitzenden der DDR, in Verbindung getreten, um sich für den SED-Kritiker Rudolf Bahro einzusetzen.179 Vor diesem Hintergrund konnte das Verhältnis der DKP zum 3. Russell-Tribunal nicht ungetrübt sein. Erschwerend kam hinzu, dass die DKP unbeirrt darauf baute, bei der SPD und den Gewerkschaften Verbündete im Kampf gegen den Extremistenbeschluss zu finden. Sie setzte sich „fast nur [für] Fälle von Opfern eigener Couleur ein“, also für ihre eigenen Mitglieder und für Mitglieder der SPD und der FDP. Damit vollzog sie eine „Trennung in gerechte und ungerechte Berufsverbote“180, die für die Initiatoren und Unterstützer des 3. Russell-Tribunals gegen den Grundsatz verstieß, „für die kompromißlose Geltung der Menschenrechte“ einzutreten. Jegliche Einschränkungen, so Galtung, müssten „erneut gemessen am Maßstab der Menschenrechte aus angebbaren zwingenden Gründen belegbar sein“181. Die DKP legte jedoch rein politisch-ideologische Maßstäbe an. Im Anschluss an die drei Eröffnungsreden wurde der erste Sitzungstag des 3. Russell-Tribunals mit einem Referat des Publizisten Erich Kuby abgeschlossen. Als einer der wenigen bekennenden Antimilitaristen und Antifaschisten seiner Branche,182 stimmte Kuby die 26 Jurymitglieder und den fünfköpfigen Deutschen Beirat mit seinem Gutachten vom augenblicklichen „Zustand der Bundesrepublik“ auf die bevorstehenden Verhandlungstage ein. Während die Reden Dedijers und Galtungs manchmal haarscharf an einer Vorwegnahme des Juryurteils vorbei schrammten, bemühte sich Kuby, ein ausgewogenes Bild zu zeichnen. Exemplarisch dafür seien zwei Eckpunkte genannt: Zum einen sein Fingerzeig auf Italien, wo nach der Entführung des christdemokratischen Politikers Aldo Moro,183 am 16. März 1978, das Militär zur Kontrolle der Zivilbevölkerung eingesetzt worden sei. „Überlegen Sie“, meinte Kuby, „wie die Welt aufgeschrieen hätte, wenn die Bundeswehr […] in vergleichbarer Weise nach der Entführung von Schleyer mobilisiert worden wäre?!“184 Zum anderen seine These, wonach „der westdeutsche Terrorismus ein Vehikel ist, dessen sich die gewählten Inhaber der Macht bedienen, um die Staatsmacht zu perfektionieren.“ Gleichwohl Kuby dem Anlass entsprechend viel ausführlicher auf
179 Siehe auch Kap. VII.1.2.1, S. 359 und Kap. VII.2, S. 379. 180 HISTOR, Manfred: Willy Brandts vergessene Opfer, S. 150f. 181 GALTUNG, Johan: Bemerkungen zur Vorgangsweise, S. 14. 182 Vgl. WINKLER, Willi: Erich Kuby (1910-2005). Nachruf. In: Die Weltwoche (14.09.2005); ‚Er war kein Ideologe‘. Der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz über den verstorbenen Publizisten Erich Kuby. R: FISCHER, Karin (Kultur heute, Sendung vom 12.09.2005, DLF). 183 Moro wurde von einem bewaffneten Kommando der illegalen linken Gruppierung „Brigate Rosse“ entführt und nach 55 Tagen ermordet. „In den Wochen der Entführung glich Rom einer belagerten Stadt. Im ganzen Land wurden Millionen Menschen kontrolliert und Hunderte verhaftet“, beschreibt die Publizistin Michaela Wunderle die damalige Situation. Siehe: WUNDERLE, Michaela: Die Roten Brigaden. In: KRAUSHAAR, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2. Hamburg 2006, S. 782-808, hier: S. 799f. 184 KUBY, Erich: Eröffnungsreferat. In: 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal, S. 21-27, hier: S. 22f.
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die Gefahren des „Neuaufbaus eines starken Staates“185 einging, wohnte seiner Rede doch eine deutliche Zurückhaltung inne, die sozialliberale Regierung ganz und gar als „staatsautoritär“186 zu verteufeln. Die Bundesrepublik steuere nicht „auf einen neuen Faschismus“187, betonte er. Angesichts solcher Beschwichtigungen stellt sich allerdings unweigerlich die Frage, was Kuby mit seinem Auftritt auf dem Tribunal bewirken wollte und welchen Zweck diese Veranstaltung aus seiner Sicht verfolgte: Brauchte es eine einjährige Vorbereitungszeit, eine über hundert Gruppen umfassende Unterstützerszene, ein monatelang arbeitendes Sekretariat, eine dreißigköpfige Gruppe von links orientierten Intellektuellen und einen einwöchigen Sitzungsmarathon nur, damit eine „Minderheit“ oder „Mini-Minderheit“188 ihre Warnungen an die bundesdeutsche Öffentlichkeit aussprechen konnte? Offensichtlich ging es den Beteiligten um mehr. Gerade das Rahmenprogramm in Frankfurts Innenstadt verrät viel über die Gemütslage der Unterstützer und Befürworter des Tribunals:189 Die Sitzungsperiode begann am Dienstag, den 28. März 1979, mit einer Abendvorstellung des Films »Ein deutscher Herbst« im Studentenkino „Pupille“. Zeitgleich wurde im Bürgerhaus Nordweststadt über die Frage diskutiert, ob die Gewerkschaftsausschlüsse190 des DGB auch vor das Russell-Tribunal gehörten. Als kulturelle Alternative führte das Mobile Theater Wiesbaden im Staatstheater das Stück »Mamas Marihuana ist das Beste« von Dario Fo auf. Am zweiten Sitzungstag setzte das Studentenkino seine Filmreihe mit Lina Wertmüllers »Tuto a posto e niente in ordine«191 fort. In dem italienischen SatireStreifen stehen mehrere Figuren im Mittelpunkt, die, den Verheißungen des wirtschaftlichen Aufschwungs folgend, aus der beschaulichen Provinz in die Industriestadt Mailand zogen. Nun leben sie zusammen in einer Art Kommune. Wertmüller lässt sie auf verschiedenen Wegen die Erfahrung machen, dass sich ihre Lebenspläne unter den sozialen Umständen, in die sie hineingeraten sind, nicht verwirklichen lassen. Während die männlichen Hauptfiguren zum Teil als Diebe oder Neofaschisten im Gefängnis enden, arbeiten ihre weiblichen Pendants zuletzt als Kellnerinnen oder heimliche Prostituierte. Die Schuld an dieser Entwicklung, so zeigt Wertmüller, tragen nicht die Individuen selbst. Es ist die kapitalistische Gesellschaft Italiens, die sich auf unterschiedliche Weise an ihnen „vergeht“. Vom dritten bis zum achten Sitzungstag folgten weitere solcher Film- und Theaterabende. Zu sehen waren unter anderem Alexander Kluges »Gelegenheitsarbeit einer Sklavin«, Volker Schlöndorffs »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« 185 Ebd., S. 24f. 186 Ebd., S. 27. 187 Ebd., S. 21. 188 Ebd., S. 25. 189 Vgl. Flugblatt: Russell-Tribunal. Veranstaltungskalender. Herausgegeben von der Frankfurter Russell-Initiative. März 1978, S. 1. In: APO-Archiv, Russell-Tribunal (Schuber). 190 Unter „Gewerkschaftsausschlüssen“ versteht man Maßnahmen der bundesdeutschen Gewerkschaften unter dem Dach des DGB, bei denen seit 1973 Mitgliedern ausgeschlossen oder Personen nicht zur Mitgliedschaft zugelassen wurden, die zugleich Mitglieder einer so genannten „gegnerischen Organisationen“ waren. Darunter fielen Organisationen und Gruppierungen aus dem linken und rechten Spektrum, aber auch Wirtschaftsverbände. Vgl. TEUBNER, Gunther: Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung (Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 47). Tübingen 1978, S. 280f. 191 Tuto a posto e niente in ordine. R: WERTMÜLLER, Lina (Italien 1975). Der Film ist in Deutschland unter dem Titel »Operation gelungen – Patient tot« bekannt.
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und Frédéric Rossifs »Mourir à Madrid«;192 im Club Voltaire wurde die Collage »Die Verfolgung Andersdenkender«, im Schauspielhaus Bertold Brechts »Die Tage der Commune« aufgeführt – allesamt Kunstwerke, die negative Seiten und Folgen politischen Engagements thematisieren. Untermalt wurde die Film- und Theaterreihe am Freitag, dem vierten Sitzungstag, durch die musikalischen Einlagen von „Karl Napps Chaos“ und dem „Linksradikalen Blasorchester“ sowie den Auftritten verschiedener alternativer Theatergruppen in den Räumen des Studentenkinos. Diskussionsveranstaltungen blieben eher die Ausnahme: Am dritten Sitzungstag lud der AStA der Uni Frankfurt zu einer Debatte über das „Modell Deutschland“ und seinen „Internationalismus“. Am siebten Tag kamen im Bürgerhaus Nordweststadt Russell-Unterstützer und Interessierte zu einem Meinungsaustausch zum Thema „Polizeigesetze“ zusammen. Und am Schlusstag veranstaltete der AStA ein Plenum im Hörsaal HVI der Frankfurter Uni, bei dem unter der Überschrift „Linke und Russell-Tribunal“ die Erfahrungen der ersten Sitzungsperiode ausgetauscht wurden. Etwas aus dem Rahmen fiel die Solidaritätsveranstaltung für die „Opposition in der DDR“ am vierten Sitzungstag. Sie wurde von einem „Komitee gegen die politische Unterdrückung in beiden Teilen Deutschlands“ initiiert. Als Redner traten unter anderem Heinz Brandt und Rudi Dutschke auf. Letzterer notierte in seinem Tagebuch: „völlig defensiver Beginn“193, und meinte damit die Verhandlungen des Tribunals, denen er offenbar zeitweilig beiwohnte. Insgesamt fällt auf, dass das Rahmenprogramm weder eine eigene thematische Linie besaß, noch eine thematische Begleitung zu den Sitzungen in Frankfurt-Harheim bot. Stattdessen bedienten sich die Organisatoren im Interesse der Unterstützerszene genau der thematischen Breite, die sie ursprünglich vom Tribunal erwartet hatten und nun vermissten. Im Veranstaltungskalender heißt es dazu: Die Frankfurter Russell-Initiative habe „bewußt Themen aufgegriffen, die erst in der zweiten Sitzungsperiode zu behandeln sein werden […] bzw. bisher im offiziellen Programm keine Berücksichtigung gefunden haben.“194 Dabei wurde jedoch verschwiegen, dass die Themen für die Fortsetzung des Tribunals noch gar nicht feststanden. Sollten die Unterstützer mit falschen Ankündigungen auf später vertröstet werden? Fraglich war auch, wie die Jury, die sich vom zweiten bis zum sechsten Sitzungstag nur mit den Folgen des Extremistenbeschlusses befasste, in der zweiten Sitzungsperiode all die übrigen Themengebiete abarbeiten sollte. Für manchen Teilnehmer muss der Eindruck von einer seltsam zweigleisigen Veranstaltung entstanden sein: Jury und Unterstützer agierten eine Woche lang nicht nur räumlich voneinander getrennt, auch ihre Vorstellungen vom Zweck des Tribunals schienen weit auseinander zu liegen. Die zwölf verhandelten Fälle waren vom Westberliner Sekretariat und vom Deutschen Beirat ausgewählt worden. Sie sollten „ein wahres Panoptikum staatlicher Willkür bieten“ und deutlich machen, „was für ein System dahinter steckt und wie sich die Berufsverbotspraxis noch weiter ausweiten wird, wenn sie nicht radikal
192 Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. R: KLUGE, Alexander (Bundesrepublik Deutschland, 1973); Die verlorene Ehre der Katharina Blum. R: SCHLÖNDORFF, Volker (Bundesrepublik Deutschland, 1975); Mourir à Madrid. R: ROSSIF, Frédéric (Frankreich, 1963). 193 DUTSCHKE, Gretchen (Hg.): Rudi Dutschke. Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979. Köln 2003, S. 294. 194 Flugblatt: Russell-Tribunal. Veranstaltungskalender. Herausgegeben von der Frankfurter Russell-Initiative. März 1978, S. 2. In: APO-Archiv, Russell-Tribunal (Schuber).
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unterbunden wird“195, meinten die Redakteure von »Radikal«. Wolf-Dieter Narr drückte es vorsichtiger aus: „Sekretariat und Beirat haben versucht, das gesamte Spektrum der Berufsverbote in einzelnen Fällen konkretisiert vorzuführen.“196 „Vorgeführt“ wurden in der Reihenfolge: Maria Leiterer aus Augsburg, die nach bestandenem Referandariat keine Zulassung für den Schuldienst erhalten hatte; Hans Roth aus Kassel, für den dasselbe galt; Cornelia Stoll aus Tübingen, die als Volksschullehrerin keine Stelle mehr fand; Fritz Güde aus Karlsruhe, dem nach zwölfjährigem Schuldienst die Suspendierung ausgesprochen worden war; Jutta Kolkenbroch-Netz aus Bochum, der eine Privatschule der evangelischen Kirche die Lehrgenehmigung entzogen hatte;197 Hans Wedel aus Frankfurt a. M., der nach zweijähriger Probezeit im Schuldienst nicht als Beamter auf Lebenszeit übernommen worden war; Wolfgang Lefèvre aus Berlin, dem die Freie Universität Berlin (FU) eine Assistentenstelle im Philosophischen Seminar verweigerte; Hans-Michael Empell aus Heidelberg, der sich als ausgebildeter Jurist jahrelang vergeblich um Aufnahme in den juristischen Vorbereitungsdienst beworben hatte; Heinz Düx aus Frankfurt a. M., dem die Rechtsanwaltskammer nach dem zweiten juristischen Staatsexamen keine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erteilt hatte; Norbert Bräutigam aus Stendorf/Holstein, der sich als Kinderarzt in der Gewerkschaft der öffentlichen Dienste (ÖTV) engagiert hatte und 1974 von ihr ausgeschlossen worden war; Franz-Josef Grünen aus Mainz, der 1976 seine Stelle als öffentlich bediensteter Kältetechniker an den Universitätskliniken in Mainz verloren hatte; Martina Wikowski aus Berlin, für die nach neunjährigem Dienst als Krankenschwester im Wenckebach-Klinikum in Berlin-Tempelhof plötzlich das Aus gekommen war.198 Die Betroffenen erschienen persönlich und wurden durch so genannte Berichterstatter unterstützt. Meistens handelte es sich um Rechtsanwälte aus Frankfurt, die sich mit den Fällen vertraut gemacht hatten und sie dann „sehr ironisch vortrugen“, wie Wesel bemerkt. Anschließend standen sie den Mitgliedern der Jury und des Deutschen Beirats Rede und Antwort. Auch die Betroffenen wurden befragt. Die Mitglieder des Deutschen Beirats waren dabei gleichberechtigt, besaßen allerdings bei der abschließenden Urteilsfindung kein Stimmrecht. Für die ausländischen Jurymitglieder hatten die Organisatoren „freiwillige Simultandolmetscher aus Brüssel geholt, das waren Linke, die das kostenlos gemacht haben. Dann haben wir da so Kabinen aufgestellt […] und der Saal war proppevoll“, erzählt Wesel, „[…] nicht nur mit normalem Publikum, auch viele Journalisten mit Mikrofonen, Kameras und Scheinwerfern.“200 Manche Anhörungen hätten bis zu drei Stunden gedau-
195 o. A.: Russell-Tribunal. Die Fälle. In: Radikal (Nr. 36, 01.04-14.04.1978). 196 NARR, Wolf-Dieter: Zur Auswahl der Fälle, S. 20. 197 Kolkenbroch-Netz war das einzige DKP-Mitglied, das Narr und Wesel zur Teilnahme am Tribunal überreden konnten. „Sie hat es gewagt, einen guten Eindruck gemacht, und hinterher soll es ein Parteiausschlussverfahren gegeben haben“, berichtet Wesel rückblickend. Siehe: WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 286; vgl. auch: o. A.: Trotz Drohung der DKP: Teilnahme am Russell-Tribunal. Interview mit Jutta Kolkenbroch-Netz. In: Radikal (Nr. 37, 14.04. -27.04.1978). 198 Vgl. 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal, Bd. 1, S. 28-142. Über die Verhandlungen berichtete auch das eigens zur Sitzungswoche veröffentlichte Blatt »Russell Tribunal aktuell« in seinen Ausgaben Nr. 2 bis 4. 199 Uwe Wesel am 04.06.2008 (m). 200 WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 290. Wie die Zeitung »Langer Marsch« berichtete, seien während der Sitzungstage „77 in- und ausländische Zeitungen, Agenturen, Rundfunk-
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ert. Dennoch können sich weder er noch Narr an Störungen erinnern: „Das Publikum verhielt sich überaus diszipliniert.“201 Abbildung 8: Das offizielle Plakat zur Ankündigung des 3. Russell-Tribunals
Quelle: APO-Archiv
5.2 Ergebnisse und Außenwirkung Am Dienstag, den 4. April 1978, hielt das 3. Russell-Tribunal seine vorläufige Schlusssitzung. Vor der geladenen Presse berichtete Vladimir Dedijer vom Ablauf der ersten Sitzungsperiode. Er wies wiederholt darauf hin, dass „alles getan“ worden sei, „um auch die Befürworter der Berufsverbotspraxis zu Wort kommen zu lassen.“ Alle für die zwölf verhandelten Fälle zuständigen Behörden und Stellen seien aufgefordert gewesen, „ihren Standpunkt darzustellen.“ Auch Bundes- und Landesbehörden hätten die Chance bekommen, „Vertreter bzw. Dokumente zu schicken.“ Das Tribunal habe darauf entweder Absagen oder gar keine Antworten erhalten. In der Beurteilung der einzelnen Fälle konnte die Jury demnach nur auf die „einschlägigen Dokumentationen“203 der Behörden zurückgreifen. Uwe Wesel hatte zudem ein Gutachten vorgelegt, in dem die verschiedenen staatlichen Begründungen für den Extremistenbeschluss und dessen Ausführung zusammengestellt waren. Er kam zu dem Schluss, dass in allen Bundesländern, unabhängig davon, welche Parteien ihre Regierungen bildeten, das Prinzip „’Staatsschutz geht vor Grundrecht‘“ galt. In den Dokumenten der Länder sei immer wieder vom „’vitalen Interesse an der Erhaltung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung‘“ die
und Fernsehanstalten durch Berichterstatter vertreten“. Siehe: o. A.: Russell-Tribunal: Rückblick – Kritik – Ausblick. In: Langer Marsch (Nr. 35, 1978). 201 Wolf-Dieter Narr am 15.11.2008 (s). 202 o. A.: Russell-Tribunal eröffnet. In: Russell Tribunal aktuell (Nr. 1, 29.03.1978). In: APOArchiv, Ordner: Russell-Tribunal (Flugblätter, Flugschriften, Plakate, Erklärungen des Sekretariats). Der Plakatentwurf stammt von dem Maler Johannes Nawrath. 203 Die Jury des 3. Internationalen Russell-Tribunals: Vorläufiger Bericht. In: 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal, Bd. 1, S. 176-182, hier: S. 176.
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Rede, so Wesel, der dies als unbedingte „Konservierung des status quo“ deutete. Abgesehen davon würde Rechtsunsicherheit geschaffen, denn die Entscheidung, ob ein Bewerber tatsächlich die besagte Gewähr bietet, […] jederzeit aktiv für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes“ einzutreten, „ist nicht gebunden an feste Bestimmungen, sondern liegt ausschließlich in der Hand der einstellenden Behörde.“204 Die Jury habe die Menschenrechte zum alleinigen Maßstab genommen, um die Problematik des Extremistenbeschlusses zu bewerten, berichtete Dedijer und wiederholte damit die Ankündigung aus der Eröffnungsrede. Gemäß diesem Maßstab hätte der Beschluss in Einklang mit folgenden „grundlegenden Prinzipien“205 stehen müssen: keine Einschränkung des Rechts auf freien Zugang zum Beruf; die Garantie der Meinungsfreiheit ohne jede Form von Diskriminierung; die Garantie der Versammlungsfreiheit; die Garantie der unsanktionierten Mitgliedschaft in jeder Organisation. Ausgehend davon wurden den Jurymitgliedern bei der Abstimmung über das endgültige Urteil folgende Fragen vorgelegt: „1. Wird Bürgern der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer politischen Überzeugung das Recht verwehrt, einen Beruf im öffentlichen Dienst auszuüben? 2. Stellt die Praxis der Berufsverbote eine ernste Bedrohung der Menschenrechte dar? 3. Wird die Praxis der Berufsverbote gegen Menschen, die eine ganz bestimmte politische Meinung vertreten, in diskriminierender Weise angewandt? 4. Steht die Praxis der Berufsverbote im Zusammenhang mit diskriminierenden Praktiken anderer Institutionen, insbesondere von Gewerkschaften, Berufsorganisationen und Kirchen?“206 Diese vier Fragen konnten bejaht, verneint oder mit Enthaltung beantwortet werden. Letztlich entschieden sich 16 Jurymitglieder, die erste Frage mit „Ja“ zu beantworten. Die zweite Frage beantworteten sie ebenfalls einstimmig mit „Ja“. Ebenso die dritte Frage. Nur bei der vierten Frage zeigte sich die Jury uneins: 7 antworteten mit „Ja“, 8 mit „Nein“; bei einer Enthaltung.207 Mit dieser unspektakulären Abstimmung war die erste Sitzungsperiode des 3. Russell-Tribunals abgeschlossen. Für die Schlussworte traten nacheinander Helmut Gollwitzer vom Deutschen Beirat und Vladimir Dedijer ans Mikrofon. Während der Theologe seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass „von dieser unserer Unternehmung eine Ermutigung aus[gehe], damit immer mehr Bürger unseres Landes die Sache unserer Demokratie selber in die Hand nehmen“208, versuchte Dedijer Parallelen zu seiner Vergangenheit als jugoslawischer Partisan zu ziehen: „[…] gegen eine Übermacht von Feinden“ habe er 1943 an der Seite vieler Landsleute für „eine bessere Zukunft mit Freiheit und ohne Krieg“ gekämpft. Nun wisse er, „daß die junge Generation in Deutschland und der ganzen Welt vielleicht noch dunkleren Zeiten entgegensieht“, aber genauso zeichne sich ab, dass sie sich dagegen zur Wehr setze und „das Unmögliche erreichen wird: daß sie die Menschenrechte vollständig verwirklichen wird, auf eine Art, von der wir, die alte Generation, nicht zu träumen wagten.“209 Im
204 WESEL, Uwe: Die Argumente der anderen Seite. In: Russell Tribunal aktuell (Nr. 5, 03.04.1978). In: Ordner: Russell-Tribunal (Flugblätter, Flugschriften, Plakate, Erklärungen des Sekretariats). 205 Die Jury des 3. Internationalen Russell-Tribunals: Vorläufiger Bericht, S. 180. 206 Ebd., S. 182. 207 Vgl. ebd. 208 GOLLWITZER, Helmut: Schlußwort. In: Ebd., S. 184-186, hier: S. 186. 209 DEDIJER, Vladimir: Schlußwort. In: Ebd., S. 187f., hier: S. 188.
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Anschluss daran stimmte Dedijer »Die Internationale« an. „Mehrere hundert“210 sangen mit. Den schärfsten Kritikern des Tribunals muss diese Schlussszene wie eine Bestätigung für die Vorwürfe erschienen sein, die Jury bestünde weitgehend aus Kommunisten. Gerade die SPD kartete in dieser Hinsicht aber nicht nach, sondern schlug über den stellvertretenden Obmann des Auswärtigen Bundestagsausschusses, Karsten Voigt, versöhnliche Töne an: Zwar hätte das Tribunal eine „überspitzte Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Bundesrepublik“ geliefert. Es habe sich dennoch gezeigt, dass der Verzicht auf „bürokratische Gegenmaßnahmen […] ein differenziertes und grundsätzlich positives Urteil im In- und Ausland über die gesellschaftliche Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland begünstigt“211. Voigt bezog sich offenbar auf die optimistischen Schlussworte Dedijers. Das Urteil der Jury, die eine Bedrohung der Menschenrechte durch den Extremistenbeschluss für erwiesen sah, erwähnte er in seinem Kommentar nicht. Überhaupt hätten die tatsächlichen Ergebnisse des Tribunals „im krassen Gegensatz“ zur Presseberichterstattung gestanden, meint Oliver Tolmein und zitiert in seinem Aufsatz die wichtigsten Tageszeitungen: „’Weder Anklage noch Urteil‘“ habe die »Frankfurter Rundschau« getitelt. Der »Süddeutschen Zeitung« sei aufgefallen: „’Russell-Tribunal wehrt sich gegen seine Kritiker‘.“ Und die »Frankfurter Rundschau« habe sich gefreut: „’Russell-Tribunal weist antideutsche Propaganda zurück‘.“ Die konservative »Frankfurter Neue Presse« sei dagegen aus einem anderen Grund zufrieden gewesen, denn sie beobachtete, dass „das Tribunal […] ‚sich so sehr in die Defensive begeben‘“ hätte, dass sich die Frage aufdrängte: „’wer ist eigentlich angeklagt: die Bundesrepublik oder das Russell-Tribunal‘?“ Tolmein teilt den Eindruck, dass sich die Sprecher des Tribunals zu oft bemüht hätten, jegliche der Veranstaltung entgegen gebrachten Vorwürfe zu entkräften: „Das ‚Erklären‘ der eigenen Positionen“ hätte dazu geführt, „daß das Russell-Tribunal zunehmend in die Defensive geriet, ohne deswegen allerdings das erhoffte Verständnis […] in der staatsloyalen, liberalen Intelligenz zu erhalten.“212 Zum Beleg zitiert Tolmein aus einem offenen Briefwechsel zwischen der »Zeit«-Herausgeberin Marion Gräfin von Dönhoff und Jürgen Habermas. Von Dönhoff hatte das Tribunal in ihrem Kommentar vom 7. April 1978 als „Mummenschanz von Harheim“ bezeichnet, weil die Sorge um Menschenrechtsverletzungen in der DDR viel berechtigter und dringlicher sei, als sich in dieser Frage „ausschließlich mit der Bundesrepublik“ zu beschäftigen. Den Vorwurf der „Absurdität und Peinlichkeit“ des Tribunals entkräftete von Dönhoff jedoch selbst, indem sie darauf hinwies, dass der Extremistenbeschluss „Anlaß zur Sorge“ gebe und von ihrer Zeitung „seit Jahren“ kritisiert werde. Zudem habe man im Deutschen Herbst durchaus befürchten können, dass sich die Bundesrepublik „immer weiter von der liberalen Rechtsstaatlichkeit“ entferne. Von Dönhoff brachte dem Tribunal also durchaus ein leises Verständnis entgegen, wenngleich sie pointierte: „Wachsamkeit tut auch weiterhin not. Nur: Man soll auch sie nicht übertreiben.“213 Gleichfalls sprach aus Jürgen Habermas’ Antwortbrief alles andere als das blanke Unverständnis. Beinahe selbst am Russell-Tribunal beteiligt, habe er nur abge210 WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 290. 211 VOIGT, Karsten: Gegen einseitige und überspitzte Beschreibungen. In: Sozialdemokratischer Pressedienst (05.04.1978). 212 TOLMEIN, Oliver: Wider das ‚Modell Deutschland im Herbst‘, S. 139f. 213 von DÖNHOFF, Maria Gräfin: Der Mummenschanz von Harheim. In: Die Zeit (07.04.1978).
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lehnt, in Harheim aufzutreten, weil „diese Institution […] zu viele Angriffspunkte“ biete: „als selbsternanntes Tribunal; als Gericht über den Teil Deutschlands, in dem es um so vieles liberaler zugeht als in dem anderen Teil […].“ Die Linke hätte eine richtige Sache falsch angepackt, so Habermas. Es sei bedauerlich, aber die bundesdeutsche Gesellschaft habe „eine schiefe Inszenierung wie das Russell-Tribunal nötig“214. Oskar Negt erinnert sich noch gut an diese Worte. Habermas habe sich regelrecht für das Tribunal „eingesetzt“ und Dönhoff „Gleichgültigkeit gegenüber Menschen- und Bürgerrechten vorgehalten“215. Das vorsichtige Auftreten in Harheim konnte somit nicht gänzlich verkehrt gewesen sein. Ein weiterer Hinweis auf die achtbare Wirkung der ersten Sitzungsperiode ist das Verhalten der SPD, die das Tribunal nun stärker über seine Inhalte wahrnahm. So tagte das SPD-Präsidium am 3. April 1978 im Bonner Paulshof, um Konsequenzen aus der Russell-Kampagne zu ziehen.216 Am gleichen Tag erschien im »Sozialdemokratischen Pressedienst« ein Beitrag, der sich als verdeckte Stellungnahme zu den Vorgängen in Harheim entpuppt: Der stellvertretende Generalsekretär des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung, Walter Böhm, fasste die Geschichte des internationalen Schutzes der Menschenrechte zusammen und betonte, dass die Europäische Gemeinschaft „einen wichtigen Beitrag zum Menschenrechtsschutz der Vereinten Nationen“ geleistet habe – in Form der 1949/50 vom Europarat ausgearbeiteten „Konvention zum Schutz der Menschenrechte“. Inzwischen sei aus der Konvention heraus „ein gerichtsförmiges Verfahren“ entstanden, das einem „Staat bzw. einem Verletzten das Recht zur Anrufung eines internationalen Gremiums gibt“. Konkret stünden die Europäische Menschenrechtskommission und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Verfügung. „Auch das Ministerkomitee des Europarates kann eingeschalten werden“, so Böhm. Im Laufe der Zeit habe es mehrere Fälle, sowohl von Staats- als auch von Individualbeschwerden, gegeben. Einige der Fälle hätten „zur Anpassung der nationalen Gesetzgebung an die Vorschriften der Konvention“ geführt. Ebenso sei die „Verwaltungspraxis in den betroffenen Vertragsstaaten“ verändert worden. Zusammenfassend erklärt Böhm, dass die „Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention Wichtiges zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in europäischen Demokratien beigetragen hat“217. Seine Intention, das 3. Russell-Tribunal als fehlgeleitete und überflüssige Menschenrechtsinitiative in den Schatten zu stellen, ist offensichtlich: Der Beitrag liest sich wie eine Erwiderung auf die Vorwürfe der Initiatoren, mit dem Eintreten für Menschenrechte „auf geballte Ablehnung“ bei denen gestoßen zu sein, „die die offizielle Verantwortung für die Demokratie und die Wahrung der Menschen- und Grundrechte in der Bundesrepublik tragen.“218 Im Bundestag gab sich die SPD, einschließlich ihres Koalitionspartners, keine Blöße. Am Mittwoch, den 12. April 1978, antwortete der Parlamentarische Staatssekretär Andreas von Schoeler (FDP) auf die mündliche Nachfrage des Abgeordneten Gerhard Reddemann (CDU), welche Konsequenzen die Bundesregierung aus 214 HABERMAS, Jürgen: Wo bleiben die Liberalen? In: Die Zeit (05.05.1978). 215 Oskar Negt am 07.12.2009 (s). 216 Vgl. Protokoll über die Sitzung des Präsidiums der SPD am 03.04.1978. In: AdsD 1/HSAA006315. 217 BÖHM, Walter: 25 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention. Zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. In: Sozialdemokratischer Pressedienst (04.04.1978). 218 GOLLWITZER, Helmut: Schlußwort, S. 184.
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den Erklärungen des 3. Russell-Tribunals ziehe, wie folgt: „Die Bundesregierung sieht keinen Anlaß, aus den Erklärungen des sogenannten Russell-Tribunals Konsequenzen zu ziehen. Sie wird im Rahmen der politischen Auseinandersetzung in ihrer Öffentlichkeitsarbeit auch weiterhin auf die Fragwürdigkeit dieses Scheinverfahrens durch selbst ernannte Juroren hinweisen.“219 Was mit der angesprochenen Öffentlichkeitsarbeit gemeint war, soll in einem späteren Abschnitt dieses Kapitels skizziert werden. In der außerparlamentarischen Linken wurde jede Reaktion der SPD als sicheres Indiz dafür betrachtet, dass das Tribunal sie „sowohl international als auch national […] unter einen starken Legitimationsdruck in Bezug auf die von ihr durchgeführte Praxis der Berufsverbote“ setzte. Die Gruppe Internationaler Marxisten (GIM) – trotz mancher Querelen weiterhin in der Unterstützerszene aktiv – glaubte auch, dass innerhalb der Partei jene Kräfte gestärkt würden, „die beginnen, dem Abbau der demokratischen Freiheitsrechte Widerstand entgegenzusetzen.“ Dies habe sich bereits im Falle des Kontaktsperregesetzes220 angedeutet. Positiv wertete die GIM das 3. Russell-Tribunal auch, weil es in eine „breite intensive Unterstützungsarbeit eingebunden“ gewesen sei. Das linke Spektrum habe bewiesen, dass es sich auf ein „korrektes Aktionseinheitsverständnis“ einigen könne, ohne, dass einzelne Gruppen dafür mit ihrer „politischen Identität“221 brechen mussten. Dieser Meinung schloss sich der Kommunistische Bund (KB) nicht an. Als Verfechter der These, dass in der Bundesrepublik ein neuer Faschismus entstand, hatte die Themenbegrenzung der ersten Sitzungsperiode für ihn einen politischen Rückschlag bedeutet: Über das Thema Extremistenbeschluss allein konnten die angeblich faschistischen Tendenzen im Lande nicht aufgedeckt und bekämpft werden. Laut Michael Steffen befürchtete der KB, dass die Vorbereitung und Durchführung des Tribunals seit der Einsetzung des Westberliner Sekretariats „allein in die Hände ‚reformistischer‘ Kräfte gelegt“ und „die radikale Linke ‚bestenfalls als Zuschauer und Materiallieferant‘ geduldet“222 sei. Trotz dieser Kritik habe der KB das Tribunal weiterhin, auch über die erste Sitzungsperiode hinaus, „in vielfacher Weise unterstützt, vor allem publizistisch, aber auch materiell und organisatorisch, indem er einen Großteil der sozialen Basis der das Projekt stützenden Kräfte repräsentierte und in seiner Presse umfassend über deren Aktivitäten und Konflikte berichtete […].“ Bekanntestes Resultat dieser Anstrengungen wurden die mit einem Elefanten-Logo versehenen Bände der »Antifaschistischen Russell-Reihe«. In ihnen brachte der KB all jene Themen unter, die ihm im Zusammenhang mit dem 3. Russell-Tribunal auf dem Herzen gelegen hatten: den angeblich sträflichen Umgang 219 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 8. Wahlperiode, Bd. 106. Bonn 1978, S. 6497. 220 Mehr dazu, siehe Kap. III.3.1, S. 124. 221 Anti-Repressionskommission der GIM: Position zum 3. Russell-Tribunal. In: Radikal (Nr. 36, 01.04.-14.04.1978). Die GIM kritisierte die Rolle des SB, dass sich nach außen hin quasi als Alleinveranstalter des Tribunals darstelle: „Davon, daß von den ersten Vorbereitungen 1976 an, über den Aufbau einer breiten Unterstützerbewegung bis hin zur technischen und organisatorischen Durchführung des Tribunals und an der Organisierung der vielen Parallelveranstaltungen […] das SB nicht allein stand, daß diese Arbeit von einer tausenden zählenden Unterstützerbewegung und von mehreren, organisierten Kräften der Linken getragen wurde, kein Wort. […] Das ist vor allem dann bedauerlich, wenn man daran denkt, daß die Unterstützerarbeit für das Tribunal weitergehen muß.“ Siehe: o. A.: Eine Nachlese. In: Was tun? (Nr. 206, April 1978). 222 STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein, S. 214.
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von bundesdeutschen Behörden mit Vorschriften, die sich gegen die Wiederaufnahme nationalsozialistischen Gedankenguts richten; die neonazistischen Aktivitäten der „Schönborn-Roeder-Christophersen-Bande“223 und ihre angebliche Vertuschung vonseiten der Behörden; die angebliche Serie von polizeilichen Todesschüssen in den Siebziger Jahren; der angebliche Wiederaufbau von polizeilichen „Sonderkommandos“ analog zur Geheimpolizei des Dritten Reichs.224 Auf diese Weise forcierte der KB eine Kampagne, die die offizielle Einstimmung auf das 3. Russell-Tribunal ergänzte, also „konstruktiv angelegt war“225, wie Steffen festhält. Die maoistische Kommunistische Partei Deutschlands (KPD (m)) engagierte sich nicht für das Tribunal, sondern beließ es bei Solidaritätsbekundungen für Betroffene des Extremistenbeschlusses.226 Grundsätzlich war sie sich in zwei Standpunkten mit dem KB einig: Sie sah die „faschistische Gefahr“227 in der Bundesrepublik wachsen. Und sie hielt es für notwendig, eine „Aktionseinheit von Demokraten, Sozialisten, Antifaschisten und Kommunisten“228 zu schaffen. Insofern befürwortete sie die „vielfältige Bewegung“, die für das 3. Russell-Tribunal eintrat. Die „SPD/FDP-Regierung fürchtete diese Einheit der demokratischen Bewegung genauso wie die moskauhörige DKP/SEW-Führung“, lautete ihr Befund. Mit Blick auf die zweite Sitzungsperiode drängte die KPD (m) auf die Berücksichtigung weiterer Bereiche der „politischen Unterdrückung“. In diesem Zusammenhang hob sie das Rahmenprogramm in Frankfurt a. M. hervor, innerhalb dessen „wenigstens […] die Verantwortlichen für die Unterdrückung in Ost und West, im Betrieb, auf der Straße, in der Gewerkschaft, in der Schule“ benannt worden seien. Als deutliches Defizit der erste Sitzungsperiode wertete die KPD (m) die Ausklammerung der Repression in der DDR: Hierdurch hätten „Hunderte und Tausende politischer Gefangener […] keine Unterstützung“ erfahren, hierdurch sei „die Rolle der Sow223 Erwin Schönborn hatte im Dritten Reich der Hitlerjugend angehört und seit 1940 in der Wehrmacht gekämpft. 1950 kam er als politischer Flüchtling in die Bundesrepublik. Dort war er fortan in rechtsradikalen Gruppierungen aktiv, unter anderem gründete er die „Arbeitsgemeinschaft Nation-Europa“. Vgl. FREDERIK, Hans: Die Rechtsradikalen. München 1965, S. 74. 1975 gründete Schönborn den Kampfbund Deutscher Soldaten, die vor allem durch öffentliche Leugnung des Holocausts auffiel. Manfred Roeder war nach seiner Ausbildung an einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt des Dritten Reichs in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs Soldat gewesen. Nach dem Krieg behielt er offenbar viele ihm anerzogene politische Standpunkte bei und ging in den Siebziger Jahren dazu über, in der neonazistischen Szene aktiv zu werden. Die von ihm initiierten Deutschen Aktionsgruppen verübten Anschläge auf Asylbewerberheime. Thies Christophersen war während des Zweiten Weltkriegs in der Schutzstaffel (SS). Nach dem Krieg gehörte er unter anderem der NPD an. In seiner Broschüre »Die Auschwitz-Lüge« von 1974 leugnete er die Existenz von Gaskammern in Auschwitz. Schönborn, Roeder und Christophersen arbeiteten nie gemeinsam in einer politischen Gruppierung, sie wurden von der jüngeren Neonaziszene jedoch alle drei als „Lehrmeister“ wahrgenommen. Vgl. BACKES, Uwe/JESSE, Eckehard: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1989, S. 82. 224 Vgl. STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein, S. 215, Fn. 309. 225 Ebd., S. 215. Dies bestätigt auch Hans-Hermann Teichler im Gespräch mit dem Autor am 17.07.2010. 226 Vgl. KÜHN, Andreas: Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre. Frankfurt a. M./New York 2005, S. 235. 227 Flugblatt: Gemeinsam gegen die politische Unterdrückung in beiden Teilen Deutschlands. Herausgegeben von der KPD, Büro Köln. Ohne Datum, S. 1. In: HIS, Ordner: Russell-Tribunal 1977. 228 Ebd., S. 4.
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jetunion als Besatzungsmacht bei der Ausbeutung und Unterdrückung in der DDR unbenannt“229 geblieben. Wie bereits angedeutet, hatte sich die DKP allein von dem Gedanken erschrocken, dass diese Themen auf dem 3. Russell-Tribunal zur Sprache kommen könnten. Sie zog es vor, die von ihr kontrollierte Initiative „Weg mit den Berufsverboten“ parallel fortzuführen und aus ihr heraus eigene Großveranstaltungen zu organisieren: So fand am 12./13. November 1977 in der Oldenburger Weser-EmsHalle eine „‚internationale Manifestation‘ unter dem Motto ‚Für die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte in der BRD – Weg mit den Berufsverboten‘“ statt. Sie repräsentierte „die gewachsene Breite des Widerstandes gegen die Berufsverbote in der BRD“230, nicht nur dank der aktiven Mitarbeit von mehr als 350 Delegierten aus örtlichen Initiativen, „manche […] ‚fast rein sozialdemokratisch‘, manche lediglich aus Jungdemokraten zusammengesetzt“231, sondern auch wegen der eher schmückenden Anwesenheit zahlreicher Persönlichkeiten aus west- und nordeuropäischen Staaten.232 Am 27./28. Januar 1979 fand die Konferenz unter dem Motto „Demokratische Rechte verteidigen – Berufsverbote aufheben“ eine Fortsetzung im Darmstädter Luisenzentrum. Dazu aufgerufen hatten unter anderem die Wissenschaftler Wolfgang Abendroth, Mechthild Jansen und Gerhard Stuby.233 Unorganisierten undogmatischen Linken fiel es nicht leicht, sich gegenüber diesem „Veranstaltungswahn“ der erklärten Berufsverbotsgegner zu positionieren. So reagierten die Spontis laut Johannes Schütte mit differenzierten Stellungnahmen auf das Tribunal.234 Einzelne Personen oder Gruppen unter ihnen engagierten sich in der Unterstützerszene. Die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen widerstrebte jedoch insgesamt ihrer Auffassung, dass es keinen Sinn mache, staatliche Institutionen disziplinieren zu wollen. Außerdem vertrat zum Beispiel der »Pflasterstrand« die Ansicht, dass Menschenrechte Kategorien seien, „die uns nichts bedeuten, zu denen wir allenfalls ein zynisches Verhältnis haben, die eher in der Nähe von Begriffen wie ‚Ordnung‘, ‚Sauberkeit‘ und ‚Verantwortung‘ liegen.“ Über das Tribunal hieß es, es sei „weit weg, abgehoben, große Politik“. Der Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten schrieb: „[…] das ist lahm, legalistisch, die beziehen sich nur auf die Faktizität von Fällen.“ Und in der Frankfurter Studentenzeitung »diskus« klagte ein Beiträger: „Nichts wäre falscher als eine große Kampagne, die sich mit irgendwelchen demokratischen Forderungen an irgendwelche Machthaber wendet.“235 229 KPD (m): Position zum 3. Russell-Tribunal. In: Radikal (Nr. 36, 01.04.-14.04.1978). 230 Interne Vorlage für die Sitzung des SPD-Parteipräsidiums am 24.10.1977. In: AdsD 1/HSAA006314. 231 BECKER, Wolfgang: Genossen, Kollegen, Herren. In: Der Spiegel (21.11.1977). 232 Darunter: Georges Séguy, Dr. Sicco Mansholt, Prof. Lolle W. Nauta, Bert Kreemers, Albert Daum, Prof. Heikki Waris, René Urbany, Prof. Willy Dahl, Bengt Augustssen, Louis van Geyt, Jean Terfve. Vgl. Interne Vorlage für die Sitzung des SPD-Parteipräsidiums am 24.10.1977. 233 o. A.: Russell-Tribunal und 5. Kolonne Moskaus gegen ‚Schnüffelstaat‘. In: Die neue Welt (08.01.1979); DETTMANN, Christian: Gemeinsam gegen die Berufsverbote. In: Was tun? (Nr. 247, Februar 1979). Vgl. auch: Initiative ‚Weg mit den Berufsverboten‘: Demokratische Rechte verteidigen, Berufsverbote aufheben, gemeinsam gegen die Verletzung von Grund- und Menschenrechten in der BRD. Internationale Konferenz, Darmstadt 27./28.01.1979. Hamburg 1978. 234 Vgl. SCHÜTTE, Johannes: Revolte und Verweigerung. Zur Politik und Sozialpsychologie der Spontibewegung. Gießen 1980, S. 69. 235 Zit. nach: Ebd.
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5.3 Begleiterscheinungen: Die Gefangeneninitiativen Während sich die meisten Unterstützer des 3. Russell-Tribunals mit dem thematischen Schwerpunkt in Frankfurt-Harheim abgefunden hatten und ihre Interessen im Rahmenprogramm berücksichtigt sahen, zeigte sich eine Gruppe von Russell-Aktivisten bis zuletzt unversöhnlich: „The family“, wie sie das US-amerikanische Jurymitglied Elliot A. Taikeff nannte.236 Gemeint waren die Angehörigen von Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen. Sie versuchten über die erste Sitzungsperiode hinweg immer wieder, auf ihr zentrales Anliegen aufmerksam zu machen: Die Überprüfung der Haftbedingungen ihrer Ehepartner, Geschwister oder Kinder, die wegen politisch motivierter Verbrechen verdächtigt wurden oder wegen solcher verurteilt waren. Im Vorfeld der ersten Sitzungsperiode veröffentlichten die Angehörigen eine Erklärung, in der es hieß: „Das 3. Russelltribunal gibt vor, die Menschenrechtsverletzungen in der BRD zu untersuchen. Das 3. Russelltribunal beschränkt die Menschenrechtsverletzungen auf die Berufsverbote. Das können wir nicht akzeptieren. Die Isolationshaft, den Geiselstatus der politischen Gefangenen und die acht Toten in 3 ½ Jahren nicht als Menschenrechtsverletzung zu benennen, bedeutet eine Legitimierung der staatlichen Vernichtungspraxis in den Gefängnissen durch das Russelltribunal. Wir, die Angehörigen der politischen Gefangenen, kommen zum 3. Russelltribunal, weil die Menschenrechtsverletzungen an den politischen Gefangenen in der 237 BRD eine Frage ihres unmittelbaren Überlebens ist.“
Die Todesnacht von Stammheim warf ihre verlängerten Schatten auf das Tribunal. Bereits am 5./6. November 1977 war aus dem Umfeld238 der RAF heraus eine „Russell-Notkonferenz“ in Frankfurt a. M. initiiert worden: Die Russell-Initiativgruppen zu Haftbedingungen an politischen Gefangenen aus Berlin, Stuttgart, Wiesbaden, Düsseldorf, Salzgitter, Münster, die Antifa-Gruppen aus Kaiserslautern und Braunschweig, die Russell-Initiativen Dernbach und Karlsruhe, die Österreichische Russell-Initiative Wien, die Russell-Initiativen Århus und Zürich, die italienische »Lotta Continua«, die Antirepressionsgruppe Heilbronn, die Gruppe Haftbedingungen Bochum, die Gruppe Schutz für Leben, Gesundheit und Identität der politischen Gefangenen, das multinationale Zentrum Neu-Isenburg, der Spartacusbund und fünf weitere Gruppierungen hatten zur Diskussion über die angeblichen Morde an Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe aufgerufen. In einem Flugblatt forderten sie die Unterstützung aller Russell-Initiativen bei dem Anliegen, die Fakten über die Vorfälle in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim aufzudecken. Nur so könnten auch der Tod weiterer „politischer“ Gefangener respektive Menschenrechtsverletzungen an diesen Gefangenen verhindert werden.239 Außerdem wurde eine Resolution verabschiedet, die den Positionen des 3. Russell-Tribunals zuwider
236 Vgl. WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 290. 237 Angehörige von politischen Gefangenen: Presseerklärung vom 19.03.1978. In: IISG, Rote Armee Fraktion Documents 0019780319. 238 In diesem Fall ist nicht mehr eindeutig festzustellen, ob Angehörige, Antifas oder Dritte die Initiative übernahmen. 239 Vgl. Flugblatt: Aufruf zu einer Russell-Notkonferenz. Herausgegeben vom Spartacusbund und Russell-Initiativen zu den Haftbedingungen politischer Gefangener. November 1977. In: APOArchiv, Ordner: Russell-Tribunal (Flugblätter, Flugschriften, Plakate, Erklärungen des Sekretariats).
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lief und Untersuchungen ankündigte, die außerhalb der von der RF und dem Westberliner Sekretariat festgelegten Fragestellungen lagen. In einem Rundbrief bezeichnete das Sekretariat diese Notkonferenz daraufhin als „Versuch, die Öffentlichkeit irrezuführen und den Ruf der Russell-Stiftung und des 3. Russell-Tribunals in Misskredit zu bringen.“240 Die Zusammenarbeit mit den genannten Gruppierungen wurde abgebrochen. Dieser Zuspitzung war auf Seiten der Gefangeneninitiativen ein chaotisches Hin und Her vorausgegangen. Erst im September 1977 hatte beispielsweise das Westberliner Unterstützerkomitee eine Russell-Initiativegruppe zu den Haftbedingungen der „politischen“ Gefangenen in seinen Kreis aufgenommen.241 Auch in anderen Städten beteiligten sich solche Gruppen, die sich meist in erster Linie mit Gefangenen aus der RAF solidarisierten, an den Russell-Unterstützerkomitees. Besonders die Antifas legten hierbei ein äußerst taktisches Verhalten an den Tag: Zwar engagierten sich die meisten Gruppen schon früh in der Unterstützerszene, offenbar bedurfte es jedoch eines Schreibens aus der Kanzlei Croissant, damit sie sich alle mit der „russel sache“ befassten und sich bestenfalls „gemeinsam als gruppe (ausschuß)“242 konstituierten. Daraufhin nahmen einige ihrer Mitglieder an der Arbeitskonferenz in Mainz teil.243 Schon im Juni, nach der konfliktgeladenen Arbeitskonferenz in Göttingen, beschloss ein Teil der Antifas ein „Rausgehen aus Russel“244. Die interne Begründung lautete: „Ein Tribunal, das nicht [eine] Untersuchung des sozialdemokratischen ‚Modell Deutschland‘ sowie dessen Export nach Westeuropa“ vornehme, werde „zur Legitimation für die Sozialdemokratie, deren umfassendes Projekt der präventiven Konterrevolution dann nicht deutlich wird.“245 Die Antifas aus der Hamburger Bartelstraße teilten diese Ansicht nicht, sondern beteiligten „sich nach wie vor an der regionalen Initiative“246 – also im Hamburger UK. Auch bei der Stuttgarter Gruppe kamen Zweifel auf: Mit dem Ausstieg nehme man sich die Möglichkeit, „mit den vielen anderen autonomen gruppen, initiativen hier und im ausland […] beziehungen und connections […] herzustellen, strukturen aufzubauen.“247 Die Unschlüssigkeit dauerte mehrere Wochen an. Im August 1977 einigten sich die Antifas schließlich darauf, „die Gruppen in ner Diskussion wieder zusammenzubringen und sie aus dem allgemeinen Abschlaff herauszuholen.“ In einem Rundschreiben wurde daran erinnert, warum sie sich gemeinsam für das 3. RussellTribunal engagieren müssten: „[…] um den Widerstand derer, die aus den alten Folterkomitees kommen, zusammenzubringen, ihm Stärke zu geben“. Dies sei eine
240 Sekretariat zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Russell Tribunals (Hg.): Rundbrief (Nr. 9, Januar 1978), S. 13. 241 Anonymes Protokoll zum Treffen des Westberliner Unterstützerkomitees vom 06.09.1977. In: HIS, RA 02/061,009. 242 Anonymer Brief aus der Kanzlei Klaus Croissant an die „Genossen“ vom 01.03.1977. In: HIS, RA 02/061,009. 243 Vgl. Bericht zur Arbeitskonferenz in Mainz vom 05.03.1977. In: HIS, RA 02/061,009. 244 Brief der Antifa Wiesbaden an „alle Gruppen des Nationalen Plenums“ vom 11.07.1977. In: HIS, RA 02/061,008. 245 Erklärung der Antifa-Gruppen. Ohne Datum. In: Ebd., S. 2. 246 Bericht zum Treffen der Antifa-Gruppen in Wiesbaden vom 17.07.1977, S. 5. In: HIS, RA 02/061,009. 247 Internes Schreiben der Antifa Stuttgart an andere Antifas vom 28.07.77. In: HIS, RA 02/061,008.
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Herausforderung, die „weit über Russell oder gar das Sekretariat rausgeht […].“248 Mit anderen Worten: Die Antifas wollten die Unterstützungsarbeit für das Tribunal nutzen, um miteinander in Kontakt zu kommen, sich auszutauschen und nach dem Zerfall der „Komitees gegen Isolationshaft“ wieder ein solides Netzwerk von Gruppen aufzubauen, die sich für die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen einsetzten. Der Historiker Tobias Wunschik behauptet, dass diese Entwicklung mit der RAF „abgestimmt“ wurde. Die Illegalen hätten erwogen, diejenigen Aktivisten zu kontaktieren, die sich im Rahmen der Russell-Kampagne am stärksten in ihrem Interesse exponierten: „Ergebnisse wurden indes nicht bekannt.“249 Mit dem Wiedereintritt in die verschiedenen Unterstützerkomitees verbanden die Antifas das Ziel, den „Kampf gegen die Vernichtungshaft und Menschenrechtsverletzung“ mit Hilfe des 3. Russell-Tribunals zu führen, es quasi für sich zu instrumentalisieren. Da sie dabei mit Widerstand rechneten, wollten sie sich sicherheitshalber einen Ausweg offen halten: „Wir haben die Idee eines Gegentribunals aufgegriffen und weiterentwickelt. Daß es wichtig ist, dass dieses eine solide Basis bekommt, dass es nicht wir zuletzt allein machen. Daß wir den Zustand erreichen wollen, dass vor einem erneuten Auszug SB-Führung, Judos, Jusos allein zurückbleiben – und möglicherweise sie uns ausschließen.“250 Die Idee des Gegentribunals wurde mit der „Russell-Notkonferenz“ nach dem Deutschen Herbst umgesetzt – allerdings ohne die erhoffte öffentliche Wirkung. Lediglich die Rote Hilfe Deutschlands (RHD) versuchte mit einer Demonstration unter dem Motto: „Schluß mit der Sonderbehandlung der Politischen Gefangenen“ am 24. November 1977 daran anzuknüpfen.251 Von da an existierten die mit Antifas und anderen Unterstützern von „politischen“ Gefangenen besetzten Russell-Initiativen nur noch inoffiziell weiter. An ihrer Stelle versuchten nun verschiedene Angehörige der Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen, auf das 3. Russell-Tribunal Einfluss zu nehmen. Durch ihre Anwesenheit in Frankfurt-Harheim konnten sie die Jurymitglieder und den Deutschen Beirat erstmals direkt mit den Forderungen nach einer Untersuchung der Haftbedingungen der „politischen“ Gefangenen konfrontieren. „Die Belagerung der Jurymitglieder durch Verwandte und Freunde politischer Häftlinge ging zeitweise bis an den Rand der äußersten Belastbarkeit“252, schrieb das Juso-Organ »Rote Rose«. Besonderes Aufsehen erregte die Besetzung der Harheimer Friedenskirche „durch RAF-Sympathisanten und Angehörige der in Stammheim inhaftierten Terroristen.“253 Diese erklärten, so lange in dem Gotteshaus zu bleiben, bis die Jury eine verbindliche Erklärung abgebe, auch die Situation der „politischen“ Gefangenen zu untersuchen.
248 Protokoll zum Treffen der Antifa-Gruppen in Braunschweig vom 05./06.08.1977, S. 1. In: HIS, RA 02/061,009. 249 WUNSCHIK, Tobias: Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF. Opladen 1997, S. 381. 250 Protokoll zum Treffen der Antifa-Gruppen in Braunschweig, S. 3f. 251 Vgl. Flugblatt: Schluß mit der Sonderbehandlung der Politischen Gefangenen. Herausgegeben von der Roten Hilfe Westberlin. Oktober 1977. In: Rote Hilfe (Nr. 9, Oktober/November 1977). 252 o. A.: Russell-Tribunal. Rückblick-Kritik-Ausblick. In: Rote Rose. Zeitung der Juso-Hochschulgruppe TU Berlin (April 1978). 253 o. A.: Besetzer wollen Kirche nicht räumen. In: Die Welt (31.03.1978).
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Harheimer CDU-Mitglieder nahmen die Kirchenbesetzung zum Anlass für eine Demonstration gegen das Tribunal. Sie mobilisierten am Samstag, den 1. April 1978, etwa 150 Personen, darunter auch Vertreter der Marxisten-Leninisten Deutschlands (MLD) – einer nationalistischen Organisation. Prominentester Kopf dieser „Anti-Russell-Demo“ war Günter Wetzel, ehemaliger Staatssekretär im hessischen Innenministerium. Er bezeichnete das Beiratsmitglied Helmut Gollwitzer als „’geistigen Wegbereiter des Terrorismus‘“254 und verurteilte die Vorgänge in der Kirche scharf. Gollwitzer und der übrige Deutsche Beirat reagierten auf die Vorfälle, in dem sie sich „täglich auf Pressekonferenzen und in Presseerklärungen […] von der Besetzung, der Namensgebung der Besetzergruppe und deren Kritik an der Situation politischer Gefangener in der BRD distanzierten.“255 In einem Flugblatt entschuldigte sich das 3. Russell-Tribunal bei den Harheimer Anwohnern: „Bedauerlicherweise haben Gruppen, die mit den Zielen des Tribunals nicht übereinstimmen, den Namen des Tribunals missbraucht und in diesem Namen Ihre evangelische Kirche besetzt.“256 Inhalt und Ablauf der Sitzungen wurden nicht beeinträchtigt. Immerhin beeindruckte das intensive Engagement der Angehörigen einige Jurymitglieder so sehr, dass sie im Anschluss an die erste Sitzungsperiode als Privatpersonen die JVA Stuttgart-Stammheim besuchten.257 Zuvor hatten sich Jury und Beirat dazu entschlossen, dem Druck von außen nicht nachzugeben: „Nächtlings gab es im Rahmen der Jury in Frankfurt eine heftige, die Jury fast sprengende Debatte“, erinnert sich Wolf-Dieter Narr. „Englische Stückeschreiber, auch ‚die‘ Franzosen auf der einen Seite, Robert Jungk und Günther Anders auf der anderen, Vladimir Dedijer und ich als sein Assistent als Weltkinder in der Mitten.“258 „Wir einigten uns auf einen Kompromiss“, berichtet Uwe Wesel, „jetzt die Berufsverbote hier in Harheim und Anfang nächsten Jahres eine zweite Sitzung der Jury zu dem anderen Thema.“259 So begleitete die Frage, ob bundesdeutsche Behörden und Ministerien mit ihren Regelungen zum Strafvollzug der „politischen“ Gefangenen gegen Menschenrechte verstießen, die Vorbereitungen der zweiten Sitzungsperiode. Auf den Arbeitstreffen wurde mehrfach über die Realisierbarkeit einer Untersuchung der Haftbedingungen diskutiert. „Nirgendwo werden Einschränkungen von Menschenrechten so unmittelbar leidend von den Betroffenen erfahren wie von Inhaftierten“260, hielten Jury, Sekretariat und Beirat in einer Protokollnotiz zu ihrer Tagung vom 1./2. Juli 1978 fest.
254 o. A: Hetze von der CDU. In: Russell Tribunal Info (Nr. 3, April 1978). In: APO-Archiv, Ordner: Russell-Tribunal (Flugblätter, Flugschriften, Plakate, Erklärungen des Sekretariats). 255 TOLMEIN, Oliver: Wider das ‚Modell Deutschland im Herbst‘, S. 139. 256 Flugblatt: Liebe Bürger von Harheim! Herausgegeben vom Russell Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. März 1978. In: APO-Archiv, RussellTribunal (Schuber). 257 Vgl. o. A.: Wie geht es weiter mit dem Russell-Tribunal? In: Radikal (Nr. 43, 06.07.13.09.1978); o. A.: Russell-Tribunal. In: Radikal (Nr. 39, 12.05.-26.05.1978). 258 Wolf-Dieter Narr am 15.11.2008 (s). 259 WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 290. 260 3. Internationales Russell-Tribunal: Zur 2. Sitzungsperiode. Protokollnotiz von Jury, Beirat und Sekretariat anlässlich des Frankfurter Arbeitstreffens am 01./02.07.1978. In: Gegenpol-itische Unterdrückung (Nr. 2, 1978), S. 20.
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6. Z WISCHENFAZIT Der Blick auf die erste Halbzeit des 3. Russell-Tribunals hat vor allem eines gezeigt: Die Weichen für den Verlauf der Harheimer Sitzungen wurden bereits im Juni 1977 gestellt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Initiatoren mit der RF übereingekommen, die Menschenrechtssituation in der Bundesrepublik zu untersuchen und das Tribunal dem entsprechend umzubenennen. Damit stand der inhaltliche Rahmen der ersten Sitzungsperiode weitgehend fest. In Konsequenz daraus verstärkten sich die Interessengegensätze zwischen den Initiatoren, die eng mit dem Sozialistischen Büro verbunden waren, und der Mehrheit der Unterstützerszene – all jene Komitees, bei denen der Kommunistische Bund „federführend und anerkannt“261 war. Deutlicher Ausdruck dieser Gegensätze war die Resolution, die die Hamburger Unterstützergruppe auf der Arbeitskonferenz in Göttingen mit großer Zustimmung vorlegte. Die erste Sitzungsperiode trug nicht zur Bereinigung der Differenzen bei. Umgekehrt hat sie diese aus zwei Gründen verstärkt: Zum einen, weil sich herausstellte, dass das Tribunal im Wesentlichen vom Dreigespann Wolf-Dieter Narr, Uwe Wesel und Vladimir Dedijer „gemanagt“ wurde, von denen keiner die Unterstützerszene repräsentierte.262 Zum anderen durch die öffentliche Wirkung, die der Urteilsspruch hinterließ: Zwar entsprach die Jury mit der Feststellung, dass der Extremistenbeschluss eine ernste Bedrohung der Menschenrechte darstellte, den Erwartungen der Unterstützer. Doch die damit verknüpfte Botschaft, dass der Extremistenbeschluss abgeschafft werden müsse, war für sie nichts Neues, sondern schon jahrelang von der Bewegung gegen Berufsverbote vertreten worden. Welche Probleme und Fragen die Mehrheit der Unterstützer wirklich beschäftigten, zeigte sich im Rahmenprogramm der ersten Sitzungsperiode: In den Film-, Theater- und Diskussionsabenden fand sich eben jene thematische Breite wieder, von der in der Vorbereitungszeit des Tribunals oft gesprochen worden war. Hier fiel auch der Begriff „Modell Deutschland“, der für die mobilisierenden Veranstaltungen in Meckenheim und Hamburg eine Art Schlüsselbegriff gewesen war, aber nun in den Reden der Jury- und Beiratsmitglieder ausgespart wurde. Laut Tolmein könnte der Grund dafür darin liegen, dass sich das Tribunal mit Kritik gegenüber der SPD zurückhalten wollte, um bei ihr für Verständnis zu werben.263 Und diese Rechnung ging halbwegs auf: Wie Äußerungen einiger ihrer Mitglieder andeuteten, wurde das Tribunal durchaus über seine Inhalte wahrgenommen. Mit Blick auf die zweite Sitzungsperiode stellt sich die Frage, ob die SPD das Tribunal weiterhin ernst nahm und konkrete Maßnahmen ergriff. Außerdem wird zu klären sein, wie sich die Interessengegensätze zwischen den Initiatoren und der breiten Unterstützerszene auf die zweite Sitzungsperiode auswirkten. Aus den bisherigen Betrachtungen lässt sich der Schluss ziehen, dass das Tribunal für beide Seiten einen unterschiedlichen Zweck zu erfüllen hatte, ohne, dass darüber eine gegenseitige Verständigung stattfand.
261 Hans-Hermann Teichler am 17.07.2010 (m). 262 „Die breite Unterstützerbewegung, die da entstanden war, wurde einfach ausgeschaltet“, erinnert sich Kai Ehlers im Gespräch mit dem Autor am 19.07.2010. 263 Wider das ‚Modell Deutschland im Herbst‘, S. 140. Dieser Eindruck habe sich auch im KB immer mehr verfestigt, so Hans-Hermann Teichler im Gespräch mit dem Autor (17.07.2010).
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7. D IE ZWEITE S ITZUNGSPERIODE IN K ÖLN -M ÜLHEIM 7.1 Vorbereitungen Die erste Sitzungsperiode schloss mit der Bekanntmachung, dass die Jury zur Vorbereitung der nächsten Sitzungen im Januar 1979 drei Kommissionen eingesetzt habe. Diese bekamen den Auftrag, drei Themenbereiche auf ihre Verhandelbarkeit vor dem Tribunal zu prüfen: die „Zensurpraktiken im Zusammenhang mit dem §88a“, die „Frage der politischen Gefangenen“ und die „Problematik von Veränderungen im Strafrecht, insbesondere der Einschränkung von Verteidigerrechten“264. Über die personelle Zusammensetzung der Kommissionen und ihre Arbeitsweise ist zu wenig überliefert, als dass konkrete Aussagen dazu getroffen werden könnten.265 Fest steht, dass sie die Vorarbeit für eine Tagung der Jury, des Deutschen Beirats und des Westberliner Sekretariats am 1./2. Juli 1978 in Berlin leisteten. Bei diesem Zusammentreffen, das gewissermaßen die Sommerpause des 3. Russell-Tribunals beendete, wurde in völliger Abwesenheit von Vertretern der UKs besprochen, welche Themen die zweite Sitzungsperiode zum Gegenstand haben sollte. In einer Erklärung gaben die Beteiligten anschließend Auskunft über die Entscheidungen: Aus den gesammelten Vorschlägen seien zuerst fünf Themen ausgewählt worden, die ernsthaft in Betracht für das Tribunal kamen; und zwar die Problematik der angeblichen Zensur in der Bundesrepublik, die Entwicklung und Methoden des Verfassungsschutzes, die angebliche Verletzung der Menschenrechte von Personen, die in Strafverfahren involviert sind, das „Verhältnis zwischen den Berufsverboten und diskriminierenden Praktiken in Gewerkschaften, Berufsverbänden und im privatwirtschaftlichem Bereich“ sowie die „Haftbedingungen und die Behandlung von Häftlingen“266. Per Abstimmung hätten sich die Versammelten dann auf drei endgültige Themen geeinigt: „Zensur“, „Verfassungsschutz“ und „Einschränkung von Verteidigungsrechten“267. In »Gegenpol«, dem bundesweiten Informationsblatt des 3. Russell-Tribunals, wurde die Reduzierung auf drei Themen folgendermaßen erläutert: Von vornherein hätten die Themen fünf Kriterien entsprechen müssen, die Jury, Beirat und Sekretariat zu Beginn der Tagung untereinander vereinbarten. In einem zweiten Schritt habe man individuelle Faktoren diskutiert, die für oder gegen ein Thema sprachen. Kurz gefasst, stellten sich die Versammelten folgende Fragen: Berührt das Thema 264 o. A.: Was wird in der 2. Sitzungsperiode verhandelt? In: Radikal (Nr. 37, 14.04.-27.04.1978). Mit dem §88a wurde die Befürwortung verfassungsfeindlicher Straftaten unter Strafe gestellt. 1976 ins Strafgesetzbuch eingeführt, schaffte ihn der Gesetzgeber 1980 wieder ab. Bis dahin waren auf Grundlage des Paragraphen 111 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. „In einem einzigen Fall kam es zur Verurteilung“, berichtete »Die Zeit«. Siehe: GREINER, Ulrich: Liberal oder nur labil? In: Die Zeit (27.06.1980). 265 Einige Papiere und Protokolle befinden sich in: APO-Archiv, Russell-Tribunal (Schuber). 266 3. Internationales Russell-Tribunal: Erklärung zur Vorbereitung der 2. Sitzungsperiode. In: Gegenpol-itische Unterdrückung (Nr. 2, 1978), S. 21. 267 Unter diesen Bezeichnungen wurden die Themen in den offiziellen Bänden zur zweiten Sitzungsperiode geführt. Vgl. 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales RussellTribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten, Dokumente, Verhandlungen der 2. Sitzungsperiode, Teil 1: Zensur. Bd. 3. Berlin 1979; Dass. (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten, Dokumente, Verhandlungen der 2. Sitzungsperiode, Teil 2: Einschränkung von Verteidigungsrechten, Verfassungsschutz. Bd. 4. Berlin 1979.
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Gesetze oder Maßnahmen, die „mutmaßlich die Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland am meisten gefährden“? Gehört das Thema in einen Problembereich, der sich „am besten dafür eigne[t], die deutsche Öffentlichkeit von der Gefährdung der Grundrechte zu überzeugen“? Können zu dem Thema „ausreichend dokumentierte Fälle“ vorgebracht werden, die Verletzungen von Menschenrechten „nachweislich“ und „symptomatisch“ aufzeigen? Passt das Thema in die drei Fragekomplexe aus der Gründungserklärung des 3. Russell-Tribunals? Ist das Thema mit dem Zeitplan der zweiten Sitzungsperiode vereinbar? Die individuellen Faktoren, die zur Annahme der drei genannten Themen führten, lassen sich mit den Stichworten Relevanz, Brisanz und Plausibilität zusammenfassen: So schienen, erstens, die „Zensurpraktiken“ nach Ansicht der Versammelten „einschneidend die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik“ zu beeinträchtigen. Sie konnten angeblich fast jeden betreffen und gefährdeten ein Grundrecht, das „zum Kernbestand […] jeder Demokratie gehört […].“ So erschien, zweitens, die Entwicklung und Methodik des Verfassungsschutzes vor allem deshalb von Belang, weil die Versammelten die Meinung vertraten, dass ohne diese Institution der Extremistenbeschluss nicht umgesetzt werden konnte. Außerdem unterstellten sie ihr, häufig „aus irgendwelchen Gründen“ gegen Personen vorzugehen, sodass man sich fragen müsse, ob „der Verfassungsschutz nicht längst zu einem Organ der Verfassungsgefährdung geworden“ sei. Und so erschien, drittens, die Frage nach der Behandlung von Personen, die in ein Strafverfahren involviert sind, vor allem deshalb dringlich, weil das „Recht des Beklagten […] die Wiege des modernen liberalen Rechtsstaates bilde“. Die Versammelten waren überzeugt davon, dass „in der jüngsten bundesrepublikanischen Rechtsentwicklung“ verschiedene Maßnahmen getroffen wurden, um dieses Recht einzuschränken. Als Beispiel nannten sie das Kontaktsperregesetz aus dem Deutschen Herbst. Andere Gesetze hätten die „freie Verteidigerwahl eingeengt oder die Arbeit der Verteidiger mit erheblichen Schranken umstellt“. Die Gewerkschaftsausschlüsse sollten in der zweiten Sitzungsperiode nicht thematisiert werden, weil sie in der „Hierarchie der Menschenrechtsgefährdungen“ nicht obenan stünden. Außerdem könnte der Eindruck entstehen, das Tribunal wolle „Gewerkschaften als solche kritisieren“. Die Haftbedingungen, um die es durch die Kirchenbesetzung in Harheim ein großes Aufsehen gegeben hatte, fielen deshalb durch das Auswahlraster, weil die Versammelten nicht sicher waren, dass sie „im Vergleich zu denen anderer Länder“ schlechter seien. „Im Gegenteil: sie scheinen teilweise durchaus besser zu sein.“ Eine genaue Prüfung könne das Tribunal ohnehin nicht leisten, da „umfassende und strikt gesicherte Informationen vonnöten“268 wären. In dem gesamten Bericht über die Entscheidungsfindung auf der Tagung in Berlin wird mit keinem Wort erwähnt, dass sich die Russell-Unterstützerszene unlängst eigene Gedanken über die Gestaltung der zweiten Sitzungsperiode gemacht hatte. „Über 100 Mitarbeiter dieser Gruppen aus 22 Städten“, waren am 24./25. Juni 1978 auf einer Arbeitskonferenz in Frankfurt a. M. zusammen gekommen. Ellen Diederich und Detlev Haritz vom Westberliner Sekretariat hatten sogar zu dem Treffen angeregt, damit die Unterstützer „ihre Erwartungen gegenüber der Jury artikulieren“ könnten. Im Wesentlichen ging es in Frankfurt jedoch um die Selbstverständigung der Unterstützer untereinander. In einem gemeinsam verabschiedeten Papier definierten sie zunächst ihre Grundsätze: 268 3. Internationales Russell-Tribunal: Zur 2. Sitzungsperiode, S. 19-21.
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„1. Die Unterstützerbewegung schätzt sich selbst als eine allgemeine Antirepressionsbewegung ein, die auch über das Russell-Tribunal hinaus arbeiten wird. 2. Die Unterstützerbewegung ist eine […] autonome gesellschaftliche Bewegung, die sich nicht durch das Sekretariat oder den Beirat vereinheitlichen lassen kann. 3. Die Unterstützerbewegung sieht es als notwendig an, daß der Kampf gegen den Abbau von demokratischen Rechten nicht selektiv geführt wird. Es ist insbesondere wesentlich, den Kampf in allen Bereichen, in denen Repression stattfindet, zu führen […].“
Die Unterzeichner betonten damit ihre Unabhängigkeit von den Initiatoren und erneuerten die Konfliktlinie, die sich seit der Arbeitskonferenz in Göttingen offen abzeichnete. Ihre Haltung rührte vor allem daher, dass sie überwiegend undogmatische Linke waren. Nur wenige von ihnen bekannten sich zu politischen Organisationen oder gaben sich als Mitglieder solcher zu erkennen: „Jusos, GIM, SB, KB, KPD, Spartakus-Bund, Kommunistische Liga.“ Ihrer Ansicht nach bildeten sie einen „nach links verschobenen“ Ausschnitt der Unterstützerszene, der aber „für die Mehrheit der Russell-Tribunal-Unterstützer durchaus repräsentativ“ gewesen sei. Im Hinblick auf die Themenfestlegung für die zweite Sitzungsperiode traf die Frankfurter Arbeitskonferenz eindeutige Beschlüsse: Die Versammelten forderten, dass die Gewerkschaftsausschlüsse und die „Haftbedingungen aller Gefangenen“ vom Tribunal untersucht werden sollten. Zudem hoben sie hervor, dass die Situation der „politischen“ Gefangenen ein gesonderter Gegenstand der Verhandlungen sein müsste. „Die damals schon voraussehbaren Hauptpunkte der 2. Sitzungsperiode, Zensur und Einschränkung von Grund- und Menschenrechten im Strafverfahren […] wurden im Plenum nicht mehr behandelt“, berichtete ein Mitglied des Westberliner UKs später. Zugleich gaben sich die Versammelten keinerlei Illusionen hin, dass ihnen „Kontroversen“269 mit der übrigen Unterstützerszene und dem Westberliner Sekretariat bevorstanden. Dass auf der Tagung in Berlin keiner der drei Vorschläge akzeptiert werden würde, ahnten sie nicht. Ein weiterer Nackenschlag ereilte diese „Frankfurter Fraktion“ im Herbst 1978, als sich die Initiatoren und Unterstützer aus dem Sozialistischen Büro entschlossen, kein gemeinsames Vorbereitungstreffen für die zweite Sitzungsperiode mit ihnen zu veranstalten. Auf ihrer Tagung am 30. September/1. Oktober 1978 im hessischen Sprendlingen zeigte sich, dass besonders die SB-Vorderen Klaus Vack und Volker Schauer eine Spaltung der Unterstützerszene bewusst in Kauf nahmen: Vack verdeutlichte, dass das SB den Hauptadressat seiner Arbeit in der „radikaldemokratischen und liberalen Öffentlichkeit“ sah. Wenn K-Gruppen und Spontis Einfluss auf die Vorbereitungen der zweiten Sitzungsperiode nähmen, käme es zu „HickhackDiskussionen“, von der sich diese Zielgruppe abschrecken ließe. Dieter Esche hielt dagegen, dass an der Frankfurter Arbeitskonferenz außer dem KB und den Spontis „viele Leute vertreten waren“, die dem SB nahe stünden, „z.B. GIM, Pfadfinder.“270 Offenbar war er der einzige, den eine Spaltung der Unterstützerszene Sorgen bereitete. Dabei zeichnete sich die Gefahr der „Demobilisierung“ schon im eigenen Lager ab: Von etwa dreißig Russell-Arbeitsgruppen des SB hatten „lediglich 9“ einen Vertreter nach Sprendlingen entsandt. Obendrein berichteten diese, „daß mit
269 SCHUBART, Alexander: Bericht und Einschätzung der Frankfurter Arbeitskonferenz. In: Gegenpol-itische Unterdrückung (Nr. 2, 1978), S. 30-34. 270 SB-Rundschreiben Russell-Tribunal (Nr. 17, Oktober 1977), S. 3f.
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der Sommerpause die Aktivitäten fast vollständig zum Erliegen gekommen sind. Gewissermaßen muss fast überall neu angefangen werden.“271 Die Sprendlinger Tagung verdeutlichte einmal mehr, wie eng das SB mit den Vertretern des Westberliner Sekretariats und des Deutschen Beirats zusammenarbeitete und von welchem Personenkreis die gesamte Russell-Kampagne gelenkt wurde: Klaus Vack, Wolf-Dieter Narr und Kai Thomas Dieckmann dominierten die Sitzungen. Hinzu kam Michael Schwelien, der Sebastian Coblers Sitz im Sekretariat einnahm. Uwe Wesel, der für das Gelingen der ersten Sitzungsperiode „ein Jahr seines Lebens verwendet“272 hatte, glänzte hingegen durch Abwesenheit. Einerseits, weil er kein Mitglied des SB war, andererseits, weil er sich von Narr und Dedijer zur Seite gedrängt fühlte. Narr wiederum erinnert sich daran, dass Wesel primär aus persönlichen Gründen auf Distanz gegangen sei.273 Die Beschlüsse der Tagung betrafen die lokalen Aktivitäten bis zur zweiten Sitzungsperiode, die Organisation dreier Benefizveranstaltungen und die Generierung von Spenden. Wie im Vorfeld der Harheimer Sitzungen sollte es wieder einen Aufruf in einer großen Tageszeitung geben, unter dem die Namen aller Spender aufgelistet würden. Beim ersten Mal hatte die Annonce in der »Frankfurter Rundschau« mehrere zehntausend DM eingebracht. Den neuen Aufruf wollte »Die Zeit« übernehmen. Im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit sollten ein verbessertes Flugblatt und eine Pressemappe für Journalisten erstellt werden. Außerdem gab es einen fünfzehnminütigen Film von der ersten Sitzungsperiode, der Interessenten kostenlos zur Verfügung stand. Für den 8. November 1978 hatte das Sekretariat eine Pressekonferenz in Bonn angesetzt, an der auch einige Jurymitglieder teilnehmen sollten. Bei dieser Gelegenheit wollte man den Schlussbericht zur ersten Sitzungsperiode öffentlich vorlegen und zugleich das Konzept der zweiten Sitzungsperiode erläutern. Diese sollte vom 3. bis 8. Januar 1979 in Köln-Mülheim stattfinden. Köln war auch der Ort, an dem die breite Unterstützerszene Ende Oktober 1978 letztmalig zu einer Arbeitskonferenz zusammentraf. Obwohl neben dem Sekretariat und einigen Jurymitgliedern etwa 65 Unterstützergruppen274 eingeladen worden waren, „kamen nur 70 Leute“, berichtet Tolmein. Das Interesse an der Basis hätte „rapide abgenommen, […] zahlreiche Gruppen hatten sich gespalten oder hatten die Arbeit gleich eingestellt.“275 Der Verdacht ging um, dass das „Material, das einzelne Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen zur Verfügung gestellt haben, nicht an die Jury weitergeleitet worden ist.“276 Ihr Engagement schien unerwünscht und überflüssig. Kai Ehlers fasst die Sichtweise des KB wie folgt zusammen: „Wir waren ganz klar dafür, dass die Situation der politischen Gefangenen Thema auf dem Russell-Tribunal sein muss. Und dass es ohne das nicht geht, weil alles andere verlogen sei. Wir haben das als Kernpunkt der Sache gefordert. Genau das wollte das SB nicht. Also haben wir gesehen, dass wir mit unseren Themen nicht durchkommen und haben uns dann mit ver277 minderten Kräften beteiligt.“
271 SB-Rundschreiben Russell-Tribunal (Nr. 16, Oktober 1977), S. 1. 272 Uwe Wesel am 04.06.2008 (m). 273 Wolf-Dieter Narr am 15.11.2008 (s). 274 Entsprechend einer Adressliste, in: Gegenpol-itische Unterdrückung (Nr. 2, 1978), S. 38. 275 Wider das ‚Modell Deutschland im Herbst‘, S. 141. 276 Protokoll vom Vorbereitungstreffen für die 2. Bundeskonferenz der Russell-Unterstützungsgruppen in Marburg am 10. 09.1978. In: Gegenpol-itische Unterdrückung (Nr. 2, 1978), S. 35. 277 Kai Ehlers am 19.07.2010 (m).
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7.2 Ablauf und Ergebnisse Die negativen Vorzeichen der zweiten Sitzungsperiode blieben Außenstehenden verborgen. Beleg dafür ist der ungebremste Zuspruch, den die Russell-Kampagne bei Gewerkschaftern, Wissenschaftlern, Lehrern, Geistlichen, Künstlern278 und in vielen weiteren Berufsgruppen erfuhr. Für den „Aufruf zur Unterstützung des Russell-Tribunals“ in Köln-Mülheim leisteten 6.000 Personen ihre Unterschrift und eine Spende von 25 DM. Das Resultat war eine vierseitige Anzeige in der »Zeit« vom 29. Dezember 1978.279 Schauplatz der zweiten Sitzungsperiode war die Stadthalle Köln-Mülheim mit einem Festsaal für über fünfhundert Gäste, einem großen Foyer und einem integrierten Restaurant. Als Vladimir Dedijer am 3. Januar die Eröffnungsrede hielt, hatten die örtlichen Karnevalsvereine bereits für die bevorstehenden Prunksitzungen eingeschmückt. Dies lud den Berichterstatter des »Rheinischen Merkurs« geradezu ein, die ganze Veranstaltung als „närrisches Treiben“280 abzukanzeln. Dedijer gab jedoch wieder ganz den selbstsicheren, enthusiastischen Präsidenten und erläuterte die Arbeitsweise des Tribunals für all jene, die nicht in Harheim teilgenommen oder sich bislang nicht mit solchen Details befasst hatten. Bemerkenswert sachlich verteilte Dedijer den ein oder anderen Seitenhieb gegen die Kritiker, gegen die „offiziellen und halboffiziellen bundesdeutschen Stellen“, die weiterhin nicht mit dem Tribunal kooperieren wollten, und gegen die internationale Staatengemeinschaft, in der Menschenrechte „als ein Instrument der Machtpolitik“ benutzt würden, besonders von den „beiden Supermächten“. Dedijer erlaubte sich sogar die Behauptung, dass „Menschenrechte durch alle Staaten verletzt“281 würden. Insofern seien gerade unabhängige Initiativen wie die RF geeignet, um den Menschenrechtsschutz in aller Welt voranzutreiben. Im Anschluss an die Eröffnungsrede fasste das niederländische Jurymitglied Lolle W. Nauta die jüngsten Entwicklungen in der Debatte um den Extremistenbeschluss zusammen. Der Philosoph erinnerte daran, dass im Herbst 1978 drei politische Richtungserklärungen verabschiedet wurden, die die bisherige Situation verändert hätten: Erstens die Bestimmung des verfassungsrechtlichen Rahmens, auf die sich das Bundeskabinett am 8. November einigte. Zweitens der Beschluss der FDP auf ihrem Parteitag in Mainz am 12./13. November. Drittens die Grundsätze zur Feststellung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, die die SPD auf ihrem Parteitag am 10. Dezember festlegte.282 278 Zu erwähnen sind hierbei vor allem die im Verband Deutscher Schriftsteller (VdS) organisierten Autoren. So plante der VdS-Vorstand, eine eigene Begleitveranstaltung zum 3. Russell-Tribunal zu organisieren. Ihr Motto: „Verteidigung der demokratischen Rechte“. Weil die eingeladenen Vertreter von SPD, FDP und CDU ihre Teilnahme allerdings absagten, erübrigte sich die Veranstaltung. Vgl. o. A.: VDS-Veranstaltung geplatzt. In: Rote Fahne (Nr. 2, Januar 1979). 279 Vgl. 3. Internationales Russell-Tribunal: Aufruf zur Unterstützung des Russell-Tribunals. Zweite Sitzungsperiode in Köln-Mülheim am 3.-8. Januar 1979. Anzeige. In: Die Zeit (29.12.1978). Die Namen der Unterzeichner sind verschiedenen Berufsgruppen zugeordnet. 280 RÜCKERT, Peter: Bemühte Posse. Russell-Tribunal sucht nach dunklen Flecken. In: Rheinischer Merkur (12.01. 1979); vgl. auch: BÖNISCH, Georg: Das Urteil steht bereits fest. In: Kölnische Rundschau (04.01.1979). 281 DEDIJER, Vladimir: Eröffnungsrede. In: 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal, Bd. 3, S. 10-16, hier: S. 10f. 282 NAUTA, Lolle W.: Zur gegenwärtigen Diskussion der Berufsverbote. In: 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal, Bd. 4, S. 165-174, hier: S. 167.
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Was Nauta nicht erwähnte: Der SPD-Parteivorsitzende Willy Brandt hatte bereits im Frühjahr 1978 Vorschläge für die Neugestaltung des Verfahrens zur Prüfung der Verfassungstreue angeregt und seinen Stellvertreter Hans Koschnick damit betraut, einen entsprechenden Bericht zu erstellen. Der so genannte „Koschnick-Bericht“284 diente dann als Vorlage für die auf dem SPD-Parteitag verabschiedeten Grundsätze, die in Abstimmung mit den Beschlüssen der FDP seit 1. April 1979 umgesetzt wurden: Die wichtigste Neuerung bestand darin, dass die so genannte Regelanfrage beim Verfassungsschutz nicht mehr bei allen Bewerbern um eine Stelle im öffentlichen Dienst griff, sondern nur, wenn besondere Aktivitäten für eine verfassungsfeindliche Partei oder Organisation Zweifel an der Verfassungstreue eines Bewerbers begründeten. Die sozialliberal regierten Bundesländer setzten die Novelle zügig um. In den unionsregierten Ländern gingen die zuständigen Behörden dagegen weiterhin davon aus, dass jeder Bewerber, der in einer entsprechenden Partei oder Organisation Mitglied war, mit Hilfe der Regelanfrage auf seine Verfassungstreue geprüft werden musste. Kritiker sprachen von der „Regelvermutung“285. Die uneinheitliche Umsetzung führte dazu, dass das Saarland den Extremistenbeschluss 1985 völlig aussetzte, während Bayern erst 1992 von der Regelanfrage Abstand nahm.286 Nauta jedenfalls wertete die Entwicklung des Jahres 1978 als positives Signal und hielt fest, dass die Parteitagsbeschlüsse deutliche Anzeichen gäben, dass die regierenden Parteien über „die antidemokratische Wirkung“ des Extremistenbeschlusses beunruhigt seien. Dies hätten die Betroffenen nicht in dem 3. Russell-Tribunal, sondern „vielen, außerhalb des Parlaments stehenden Parteien und Gruppen“287 wie der Hamburger und Berliner „Initiative gegen die Berufsverbote“ sowie auch den Jugendorganisationen der Regierungsparteien zu verdanken. Im Anschluss an Nautas Rede beschlossen drei Gutachter mit ihren Stellungnahmen zur angeblichen Zensur in der Literatur- und Theaterszene der Bundesrepublik den ersten Sitzungstag. Als Zeuge trat Hermann Treusch vor die dreizehnköpfige Jury288, seinerzeit künstlerischer Leiter des Frankfurter „Theaters am Turm“. Am zweiten Sitzungstag wurde die Mescalero-Affäre wieder aufgerollt. Als Zeugen nahmen unter anderem Peter Brückner289 und der Herausgeber der GöttinHelmut Schmidt erklärte im Vorfeld des SPD-Parteitags, dass er den Extremistenbeschluss von Anfang an als Fehlentscheidung empfunden hatte. Vgl. Rede Helmut Schmidts auf dem Landesparteitag der SPD Hamburg am 24. November 1978, S. 14. In: AdsD 1/HSAA009421. 283 Brandt nannte den Extremistenbeschluss im Mai 1978 eine „Belastung für das geistige Klima in der Bundesrepublik“. Siehe: BRANDT, Willy: Ein notwendiges Wort zum ‚ExtremistenErlaß‘. In: Sozialdemokratischer Pressedienst (10. 05.1978). 284 Vgl. KOSCHNICK, Hans (Hg.): Der Abschied vom Extremistenbeschluß. Bonn 1979. Die ursprüngliche Fassung kann eingesehen werden unter: AdsD 1/HSAA006299. 285 Arbeitsgruppe Berufsverbote des Komitees für Grundrechte und Demokratie: Berufsverbote 1979/80. Die ‚Liberalisierung‘ hat nicht stattgefunden. In: Freiheit + Gleichheit (Nr. 2, Oktober 1980), S. 95-102, hier: S. 101. 286 Vgl. THURN, John Philipp: Angst vor kommunistischen Briefträgerinnen. Zur Geschichte und Gegenwart der Berufsverbote. In: Forum Recht (Nr. 3, 2007), S. 89-93, hier: S. 90. 287 NAUTA, Lolle W.: Zur gegenwärtigen Diskussion der Berufsverbote, S. 166. 288 Die Jury der zweiten Sitzungsperiode: Claude Bourdet, Prof. Georges Casalis, Prof. Vladimir Dedijer, Jean Pierre Faye, Anthony Gifford, Prof. Ruth Glass, Agnes Heller, Dr. Robert Jungk, Prof. Lolle W. Nauta, Prof. Jørgen Pauli-Jensen, Josephine Richardson, Gérard Soulier, Elliot A. Taikeff. 289 Brückner war als einem der Mitherausgeber einer Dokumentation zum „Buback-Nachruf“ vom
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ger AStA-Zeitung Stellung. Am Nachmittag rückte der Prozess gegen die so genannten Agit-Drucker in den Mittelpunkt.290 Der Historiker und spätere Verleger Ernst Piper berichtete über die Hintergründe der Anklage, über den Verlauf des Verfahrens, über die Rolle der Verteidiger, über verschiedene Prozessgutachten und kam letztlich zu dem Schluss, dass das Ganze ein „Präzedenzfall für die Ausweitung der 1976 neugeschaffenen Vorschriften des Strafgesetzbuches“ sei. Zum ersten Mal werde gegen Personen, deren Handeln keinen direkten Bezug zu bewaffneten Gruppierungen aufweise, „im Stile eines ‚Terroristenprozesses‘“ verhandelt. Hinzu kämen Prozesskosten von mehr als 100.000 DM. Insgesamt handele es sich um eine „neue Stufe der […] Einschränkung von Meinungsfreiheit“291. Am Abend veranstaltete die Russell-Unterstützerszene ein Teach-In zu den Haftbedingungen „politischer“ Gefangener. Bekannteste Redner vor über dreihundert Zuhörern waren Helmut Ensslin und Uwe Folkerts, Bruder eines RAF-Mitglieds. Die Veranstaltung wurde von der Jury und dem Deutschen Beirat toleriert. Ingeborg Drewitz gehörte zu einer dreiköpfigen Beobachtergruppe, die im Namen des Tribunals über den Ablauf wachte. Sie sah sich erneuten Vorwürfen ausgesetzt, dass die Haftbedingungen nicht von der Jury behandelt würden. Der KB merkte in einer Pressenotiz an, dass Drewitz „am wenigsten“ dafür könne, schließlich hätten „wie schon auf der ersten Sitzungsperiode […] Narr und Wesel“292 Druck auf die Jury ausgeübt. Die offiziellen Begleitveranstaltungen zur zweiten Sitzungsperiode richteten SB-Gruppen in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt a. M., Hamburg, Karlsruhe, Kiel, München und Tübingen aus. Es handelte sich um gemischte Diskussions- und Kulturveranstaltungen mit vielen namhaften Teilnehmern. Die katalanischen Liedermacher Pi de la Serra und Marina Rossell gastierten in allen acht Städten. Sie wurden entweder von der Kabarettgruppe „Drei Tornados“ oder von Christian Kunert und Gerulf Pannach, zwei aus der DDR ausgebürgerten Musikern, begleitet. Zu jeder Veranstaltung entsandte das 3. Russell-Tribunal einen Vertreter, der nach den Sitzungen aus Köln anreiste. Mal war es Helmut Gollwitzer, mal Sebastian Cobler, mal Wolf-Dieter Narr.293 Am dritten Sitzungstag legten Hannes Heer und Klaus Horn ihre Gutachten vor. Der Historiker Heer sprach über die angebliche Zensur in den öffentlich-rechtlichen Medien, der Sozialpsychologe Horn über die psychologischen Folgen informeller Zensur und Selbstzensur. Mit Hilfe zweier Gastreferenten wurden anschließend internationale Vergleiche gezogen: Der Journalist Joannis Capsis berichtete von seinen Erfahrungen in Griechenland. Der Jurist Peter Germer über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Dänemark. Damit war der Themenbereich Zensur abgeschlossen. In der konservativen Presse stießen die Sitzungen durchweg auf Unverständnis: niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst vorgeworfen wurden, sich nicht entschieden genug von den Äußerungen des Mescaleros distanziert zu haben. Daraufhin leitete die Behörde Disziplinarverfahren gegen ihn und die anderen Herausgeber ein. Im Oktober 1977 trieb das Ministerium das Disziplinarverfahren soweit voran, dass es zur Entlassung Brückners aus seinem Amt an der Technische Universität Hannover führte. Zugleich erhielt der Sozialpsychologe Hausverbot an der Einrichtung. Erst 1981 wurden die Maßnahmen aufgehoben. 290 Mehr dazu, siehe Kap. V, S. 204, Fn. 3. 291 PIPER, Ernst: Die Anklage gegen die Agit-Drucker in Berlin. In: 3. Internationales RussellTribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal, Bd. 3, S. 120-128, hier: S. 126f. 292 o. A.: Zur Behandlung der Haftbedingungen. In: Arbeiterkampf (Nr. 145, Januar 1979). 293 Vgl. o. A.: Veranstaltungsreihe zur 2. Sitzungsperiode des Russell-Tribunals. In: Links. Sozialistische Zeitung (Nr. 105, Dezember 1978).
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Als schlagender Beweis dafür, dass es in der Bundesrepublik keine Zensur gab, wurde das Stattfinden des Tribunals und das ungehinderte Vorsprechen der Gutachter und Zeugen betrachtet.294 In der liberalen Presse fand vor allem der Auftritt von Hannes Heer Beachtung, der 51 Fälle dokumentierte, die er als Eingriffe in die Rundfunkfreiheit wertete. Sein Musterbeispiel waren die Schwierigkeiten bei der Berichterstattung des Norddeutschen Rundfunks (NDR) über den Bau des Kernkraftwerks Brokdorf. Die CDU-Verwaltungsratsmitglieder des NDR hätten beantragt, „alle Ende 1976 gesendeten Beiträge auf Ausgewogenheit zu überprüfen“295, berichtete die »Frankfurter Rundschau«. Es sei auch zu Absetzungen von Sendungen gekommen. »Die Welt« brachte die Namen zweier NDR-Mitarbeiter an die Öffentlichkeit, die den Aufruf für ein 3. Russell-Tribunal unterzeichnet hatten. Der Sender wiegelte jedoch jeden Ärger ab und gab bekannt, dass beide als Privatleute schließlich das Recht dazu hätten.296 Dass auf dem Tribunal mehrere Rundfunkund Fernsehjournalisten als Zeugen aussagten und sich „über Eingriffe übergeordneter Instanzen, Parteien und Behörden in ihre Arbeit“297 beklagten, war selbst der konservativen »Frankfurter Neuen Presse« einen Einspalter wert. Am vierten Sitzungstag wurde der Themenbereich Strafverfahren/Verteidigungsrechte in der Bundesrepublik angeschnitten. Die Rechtsanwälte Heinrich Hannover und Sebastian Cobler legten ihre Gutachten vor. Cobler hatte sich stets für die Thematisierung der Haftbedingungen auf dem Tribunal eingesetzt und im Vorfeld bei den Antifas als einer der wenigen Beteiligten gegolten, die ihre „inhalte in’s tribunal reinbringen“298 konnten. Da der entsprechende Themenbereich nicht für die zweite Sitzungsperiode zugelassen worden war, wich Cobler auf den Komplex „Strafprozeß und Staatsraison“ aus. Dabei ging er unter anderem auf das Kontaktsperregesetz und die strafprozessualen Rahmenbedingungen des Stammheim-Prozesses ein. In einem Abschnitt sprach er auch den §231a der Strafprozessordnung (StPO) an, der bei einer vom Angeklagten vorsätzlich herbei geführten Verhandlungsunfähigkeit, zum Beispiel durch Hungerstreik, die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten ermöglichte. Cobler stellte infrage, dass eine absichtliche gesundheitliche Beeinträchtigung immer einwandfrei von einer durch die Haftbedingungen verursachten unterschieden werden konnte. Resümierend hielt er fest, dass „aus Schutzrechten der Bürger gegen und gegenüber dem Staat […] zunehmend Staatsschutzrechte“299 geworden seien. In einem anschließenden Hearing gab das Tribunal Anwälten von RAF-Mitgliedern, wie Kurt Groenewold, Heinz Heldmann, Rupert von Plottnitz, Otto Schily, Hans-Christian Ströbele und den Rechtswissenschaftlern Ingo Müller und Ulrich K. Preuß, die Gelegenheit, zu Fragen der Jury Stellung zu nehmen. Diese interessierte sich vor allem dafür, „inwieweit die Verteidiger in ihrer Arbeit für den Angeklagten systematisch behindert werden durch neuere Verfahren und Begrenzungen ihrer 294 Vgl. MERSCHMEIER, Jürgen: Russell-Schauprozeß. In: Kölnische Rundschau (11.01.1978); RÜCKERT, Peter: Bemühte Posse. 295 CORNELSEN, Dirk: ‚Journalisten sollen eingeschüchtert und verunsichert werden‘. In: Frankfurter Rundschau (06. 01.1979). 296 o. A.: NDR-Moderator für Russell-Tribunal. In: Die Welt (05.01.1979). 297 o. A.: Funk-Journalisten beklagen Eingriffe. In: Frankfurter Neue Presse (06.01.1979). 298 Bericht zum Treffen der Antifa-Gruppen vom 21.05.1977. In: HIS, RA 02/061,009. Diese Angaben bestätigte Christian Sigrist gegenüber dem Autor am 21.08.2008 (m). 299 COBLER, Sebastian: Strafprozeß und Staatsraison. Untersuchungen am Beispiel der §§ 231a StPO, 129, 129a StGB und des Kontaktsperregesetzes. In: 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal, Bd. 4, S. 32-52, hier: S. 48.
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Tätigkeit […].“ In einem zweiten Teil ging es ihr darum, „herauszufinden, welche konkrete Bedeutung beispielsweise das Kontaktsperregesetz im Hinblick auf die Rechte des Angeklagten hat“ und „in welcher Weise die Rechte der Angeklagten durch spezifische Haftbedingungen eingeschränkt werden“300. Zwischendurch wurden wiederum zwei ausländische Gutachter gehört. Der ehemalige schwedische Justizminister Lennart Geijer verglich die Rechtslage der Strafverteidiger in der Bundesrepublik und Skandinavien an den Beispielen des Stammheim-Prozesses und des Kontaktsperregesetzes. Der Italiener Salvatore Senese, Arbeitsrichter in Pisa, sprach über das Recht der Strafverteidigung in seiner Heimat am Beispiel des so genannten „Turiner Prozesses“301 gegen Mitglieder der Roten Brigaden. Der Auftritt der RAF-Anwälte fand in der Presse eher kritischen Widerhall. Die »Frankfurter Rundschau« legte Wert darauf, dass sich das Tribunal von den zahlreichen Vorwürfen gegenüber der bundesdeutschen Justiz nicht blenden ließ. So habe Jury-Mitglied Robert Jungk gemahnt: „Versucht nicht, das Recht durch Unrecht durchzusetzen.“ Und Vladimir Dedijer sei Cobler ins Wort gefallen, als dieser seinen Auftritt dazu nutze, um die Entlassung inhaftierter RAF-Mitglieder zu fordern. Dedijer erinnerte ihn daran, dass „vor dem Tribunal nur Fakten vorgetragen werden dürfen“302. Die konservative »Rheinpfalz« schoss wiederum gegen die Jury, die durch „dumme Sachfragen“ geglänzt habe und „die primitivsten Kenntnisse über das Strafrechtsverfahren der Bundesrepublik“ vermissen ließ. Zudem sei das junge Publikum in der Mülheimer Stadthalle trotz „widersinniger Argumentationsketten“ und „haarsträubenden Vergleichen mit Prozessen der Nazizeit“303 auf bedrückende Weise passiv geblieben. Am Sonntag, den 7. Januar 1979, tagten anstelle des 3. Russell-Tribunals die Kölner Jecken in der Mülheimer Stadthalle. Erst am Montag wurde das Tribunal fortgesetzt. Der fünfte Sitzungstag sollte zugleich der letzte dieser zweiten Sitzungsperiode sein. Er war dem Themenbereich Verfassungsschutz gewidmet. Der Rechtsanwalt Jens Brückner berichtete vom Ausbau der Behörde während der Siebziger Jahre und erklärte, welche technischen Raffinessen ihr zur Verfügung stünden und wie sie eingesetzt würden. Eine Reihe von Zeugen trat vor die Jury. Im Anschluss sprach der US-Amerikaner John H. F. Shattuck, seinerzeit Direktor der American Civil Liberties Union – einer Nichtregierungsorganisation, die sich für Bürgerrechte einsetzt. Shattuck analysierte anhand der neueren Gesetzgebung in den USA, welche Gefahren angeblich von den Geheimdiensten FBI und CIA ausgingen. Leitgedanke seiner Ausführungen war, dass die Ermittlungen der beiden Behörden keinen belegbaren Wert für die Antizipation und Prävention politisch motivierter Gewalt in den USA hatten.304 Rudi Dutschke notierte in seinem Tagebuch: „Die CIA-Analyse des amerikanischen Zeitgenossen war aufregend und ein exemplarisches Beispiel für den Weg, den 300 3. Internationales Russell-Tribunal: 2. Sitzungsperiode des Russell-Tribunals. Stadthalle KölnMülheim. 3.1.-8.1. 79. Broschüre. Köln 1979, S. 8f. In: IISG, Norbert Cobabus Archives, XII, 35. 301 Hierbei handelte es sich um den ersten großen Prozess gegen den Kern der bewaffneten Gruppierung. Er begann im Mai 1976 und endete im Juni des folgenden Jahres mit 29 Verurteilungen. 302 CORNELSEN, Dirk: Rechtsanwälte zählten vor dem ‚Russell-Tribunal‘ ein Sündenregister auf. In: Frankfurter Rundschau (08.01.1979); vgl. auch: o. A.: Anwälte attackieren Gesetzgeber. In: Stuttgarter Zeitung (08.01.1979). 303 BRANDES, Ada: An der Sache vorbei. Kommentar. In: Die Rheinpfalz (08.01.1979). 304 Vgl. SHATTUCK, John H. F.: Geheimdienste in den USA. In: 3. Internationales RussellTribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal, Bd. 4, S. 154-164, hier: S. 158f.
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die BRD gegangen ist. Gewisse Abläufe waren (und sind) genauer vorstellbar.“305 Anderer Meinung zeigte sich der links gerichtete »Berliner Extra-Dienst«, dem die Ausführungen von Shattuck und Brückner zu weit ins Verschwörungstheoretische gingen. Das Tribunal sei überfordert gewesen, die vorgestellten „Fälle rechtswidriger, gar Menschenrechte verletzender Praktiken“ einzuschätzen. Auch die Wahl eines Zeugen, der die Gelegenheit nutzte, um nach seiner Heldengeschichte „preiswerte Finanzanlagen und Pässe auf einer Karibik-Insel feilzubieten“306, sei ein peinlicher Fehlgriff gewesen. Das konservative »Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt« aus Hamburg fand die vorgetragenen Fälle zu harmlos, um sie als Anzeichen für das angebliche „Abgleiten des liberalen Staates in einen autoritären“ ernst zu nehmen. Wenn Datenschützer nichts Schlimmeres zu berichten hätten, als dass „’ungenaue oder fehlende gesetzliche Aufgabenbestimmungen […] zur Ausweitung der Datenspeicherung und Datenübermittlung“307 führten, müsse sie Frage erlaubt sein, „für wen in der Bundesrepublik“ das Tribunal eigentlich sprechen wolle. Am Mittwoch, den 10. Januar 1979, hatten Jury und Beirat zur abschließenden Pressekonferenz ins Bonner „Hotel am Tulpenfelde“ geladen. Diesmal verkündete Vladimir Dedijer insgesamt acht Urteile: Die Endabstimmung des Tribunals war entsprechend der drei Themenbereiche untergliedert gewesen. Zur Zensur hatte es drei, zu den Verteidigungsrechten vier und zum Verfassungsschutz eine Frage gegeben. Bei keiner Frage herrschte in der Jury Einigkeit. Bei sechs Fragen enthielt sich jeweils immer ein Jurymitglied seiner Stimme. Die anderen stimmten mit „Ja“: 1. Existieren in der Bundesrepublik Deutschland Gesetze, die die Freiheit politischer Meinungsäußerung in verfassungswidriger Weise einschränken? 2. Hat die praktische Anwendung von Formen der Zensur direkt und indirekt das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Bundesrepublik beschnitten? 3. Wird durch das Kontaktsperregesetz das Recht auf Verteidigung verletzt? 4. Gibt es andere Eingriffe in die Beziehung zwischen Anwalt und Mandant, die das Recht des Angeklagten auf eine umfassende und ausreichende Verteidigung durch den Anwalt seines Vertrauens verletzen? 5. Ist in einzelnen Fällen mit dem Ausschluss der Angeklagten von der Verhandlung ihr verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht auf rechtliches Gehör verletzt worden? 6. Gibt es in einzelnen Fällen Haftbedingungen in der Bundesrepublik, zum Beispiel soziale und sensorische Deprivation, die geeignet sind, zu einer physischen oder psychischen Beeinträchtigung oder Zerstörung der Persönlichkeit des Angeklagten zu führen? Relativ einmütig reagierte die Jury auch auf die Frage, ob sich die Praxis des Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik in Übereinstimmung mit der Rolle befindet, die die Regierung gesetzmäßig in einer freien Demokratie spielen darf? Dies verneinten elf Juroren. Einer stimmte für „Ja“, ein anderer enthielt sich. Gänzlich uneins war sich die Jury in der Frage, ob es Beweise dafür gebe, dass in der Bundesrepublik ein allgemeiner Trend zur Verschärfung der Zensur besteht, der das Recht freier Äußerung jeder Art gefährdet. Die Unschlüssigkeit drückte sich in sieben „Ja“, fünf „Nein“ und einer Enthaltung aus. Es kann darüber spekuliert werden, ob sich die Jury schwer damit tat, die Zensur derart zu verallgemeinern.308 305 DUTSCHKE, Gretchen (Hg.): Rudi Dutschke, S. 304. 306 o. A.: Russell-Tribunal: Verfassungsschutz kein James-Bond-Amusement. In: Berliner ExtraDienst (16.01.1979). 307 KIEßLER, Richard: Die Richter als Verteidiger. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt (21.01.1979). 308 Vgl. 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal, Bd. 4, S. 180.
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Im Anschluss an die Auswertung kündigte Dedijer die Bildung zweier Komitees an. Das eine sollte sich in Zukunft mit „Einflußsphären und Geheimdiplomatie“ befassen, um damit der Sorge der RF und weiterer internationaler Persönlichkeiten309 Rechnung zu tragen, dass die Erdteile bei veränderten weltweiten Machtgleichgewichten in neue „Einflußsphären der Mächte“310 aufgeteilt werden könnten. Das andere Komitee sollte die Arbeit des 3. Russell-Tribunals fortführen, indem es „die Entwicklung der Menschenrechte in der Bundesrepublik“ beobachtet und seine Schlussfolgerungen in Jahresberichten veröffentlicht. Damit es nicht direkt in Konkurrenz zu bestehenden Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International trat, bekam es den Auftrag, besonders „auf Regierungsmaßnahmen“ zu achten, „die sich gegen Personen richten, die als Gutachter oder Zeugen“311 vor dem 3. RussellTribunal erschienen sind. Als Gründungsmitglieder des Komitees wurden Günter Anders, der US-amerikanische Linguist Noam Chomsky, Vladimir Dedijer, Christopher Farley, Johan Galtung, die französische Rechtsanwältin Gisèle Halimi, Robert Jungk, Lolle W. Nauta, Lucio Lombardo-Radice und Elliot A. Taikeff bekannt gegeben. Die ungarische Philosophin Agnes Heller begrüßte diese Initiative in ihrer Schlusserklärung, allerdings drängte sie die RF dazu, „das nächste Russell-Tribunal zu Menschenrechtsverletzungen in der DDR oder in Osteuropa insgesamt durchzuführen.“312 Sie verwies auf entsprechende Forderungen, die im Zusammenhang mit dem Fall Bahro aufkamen – dazu mehr im nächsten Kapitel.313 7.3 Begleiterscheinungen: Sozialdemokratische Gegeninitiativen Die Juryurteile der zweiten Sitzungsperiode gingen medial unter. Uwe Wesel führt dies darauf zurück, dass die untersuchten Themenbereiche zu „abstrakt“314 geblieben seien. Ellen Diederich meint sogar, dass „nur Fachleute, oder Laien, die sich mit dem gesamten Komplex schon längere Zeit auseinandergesetzt hatten, überhaupt noch in der Lage waren, den enormen Schwierigkeiten der einzelnen Expertisen […] zu verstehen.“315 Dies spiegelte sich auch in den Fragen wieder, über die die Jury abgestimmt hatte. Sie waren zu verklausuliert. Konnte nach der ersten Sitzungsperiode noch unschwer behauptet werden, dass das Tribunal im Extremistenbeschluss eine ernste Bedrohung der Menschenrechte in der Bundesrepublik sah, fanden die Berichterstatter in den neuen Urteilen keine pointierte Aussage. Für den »Spiegel« lautete das Fazit: „Nichts Neues“. Wie beim Vorwurf der Berufsverbote sei auch beim „Zensur-Verdacht […] viel alter Schnee zusammengekehrt“ worden. Zudem hätten sich die Juroren oftmals „Nachhilfeunterricht“ erteilen lassen müssen, weil sie als Außenstehende von vielen Fragen und Problemen noch nichts ge309 Als Unterzeichner eines Aufrufs zur Bildung eines solchen Komitees wurden unter anderem genannt: Günter Anders, Otelo de Carvalho, Christopher Farley, Jean Pierre Faye, Johan Galtung, Helmut Gollwitzer, Agnes Heller, Robert Jungk, Wolf-Dieter Narr, Lolle W. Nauta, Josephine Richardson, Elliot A. Taikeff, Uwe Wesel. Vgl. DEDIJER, Vladimir: Erklärung zur Bildung einer Internationalen Kommission über Einflußsphären und Geheimdiplomatie. In: Ebd., S. 184f., hier: S. 185. 310 Ebd. 311 DEDIJER, Vladimir: Erklärung zur Bildung eines Internationalen Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. In: Ebd., S. 183. 312 HELLER, Agnes: Erklärung. In: Ebd., S. 182f., hier: S. 183. 313 Siehe Kap. VII.5, S. 359-361 u. S. 367f. 314 WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution, S. 290. 315 DIEDERICH, Ellen: ‚Und eines Tages merkte ich‘, S. 71.
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hört oder gelesen hatten. Den Zuhörern und Beobachtern sei deshalb „Aufwasch längst gehabter Diskussionen“316 präsentiert worden, was nicht gerade zur spannenden Aufladung der Sitzungen beigetragen habe. Wenig begeistert zeigte sich auch die »Kommunistische Volkszeitung« aus Frankfurt: Zwar hätte das Tribunal Bedrohungen der Menschenrechte festgestellt, „eine allgemeine Tendenz zur Verschärfung könne jedoch nicht bewiesen werden.“ Folglich sei auch nicht „zum Kampf gegen diesen Staatsapparat mit dem Ziel seiner Zerschlagung“ aufgerufen, sondern nur ein Komitee zur Überwachung und Verteidigung der Menschenrechte in der Bundesrepublik eingerichtet worden. Dies, so das KB-Organ, hätte man auch einfacher haben können: Die „Bourgeois“ selbst hätten „schon früher einen solchen Einfall“ gehabt, „als sie Ombudsmänner vorschlugen.“317 Nicht nur die Berichterstattung der Presse, auch die Haltung der Bundesregierung unterstrich die Harmlosigkeit der zweiten Sitzungsperiode: Als das Bundestagsmitglied Gerd Langguth (CDU) im Februar 1979 schriftlich bei der Bundesregierung anfragte, ob sie es nach der „Abhaltung des sogenannten Russell-Tribunals […] in Köln“ für notwendig erachte, „ihre bisherige Einschätzung zu der Veranstaltung zu ändern“, verlas Andreas von Schoeler (FDP) im Bundestag die knappe Antwort: „Die Bundesregierung sieht dazu keinen Anlass.“318 Zum Vergleich: Nach der ersten Sitzungsperiode hatte der Parlamentarische Staatssekretär angekündigt, dass sich die Bundesregierung in ihrer Öffentlichkeitsarbeit mit dem Tribunal auseinandersetzen werde. Auf diese Ankündigung waren Taten gefolgt. Die SPD hatte 1978 zwei Initiativen auf den Weg gebracht: den Kongress zur Verteidigung der Republik und die Gustav-Heinemann-Initiative. Beide hatten die Funktion, die Sozialdemokraten „an der Spitze derer [zu halten, Anm. M. M.], die in der Verteidigung der liberalen Grundlagen unserer Verfassung nicht locker lassen“319, wie es Willy Brandt forderte. Beide dienten der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Russell-Kampagne: Der Kongress zur Verteidigung der Republik war als „Antwort auf das RussellTribunal“ gedacht. Die Gustav-Heinemann-Initiative sollte sich der Frage annehmen: „Bekommen wir eine andere Republik?“320 Während ersterer sich als Schlag ins Wasser entpuppte, bescherte letztere der SPD ein Erfolgserlebnis und trug so zu der Gelassenheit bei, mit der sie und die Bundesregierung der zweiten Sitzungsperiode des Tribunals begegneten. Der Erfolg der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI) bestand darin, dass sie nach ihrer Gründung am 23. Mai 1978 umgehend zahlreiche Mitglieder und Mitarbeiter anzog.321 Diese reagierten auf den landesweit verbreiteten Gründungsaufruf, in dem folgende Grundideen der Initiative verankert waren: „[…] in nüchterner Diskussion zu prüfen, wo die Gefährdungen und die Chancen unserer Zukunft liegen“, „die Re316 BECKER, Wolfgang: Aufwasch bei den ‚Davidchen‘. In: Der Spiegel (08.01.1979). 317 o. A.: 3. Russell-Tribunal. In: Kommunistische Volkszeitung (22.01.1979). Ombudsmänner sind unabhängige Schiedspersonen, die auf die Wahrung von Bürgerrechten achten. Sie traten zuerst im skandinavischen Raum auf, seit den Siebziger Jahren auch in anderen europäischen Ländern. 318 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 8. Wahlperiode, Bd. 106. Bonn 1978, S. 10820. 319 Vgl. Brief von Willy Brandt an Helmut Schmidt vom 17.02.1978, S. 5. In: AdsD 1/HSAA009405. 320 Protokoll über die Sitzung des Präsidiums der SPD am 03.04.1978, S. 4. 321 Pro Tag sollen bis „ca. 30 Zustimmungserklärungen“ bei der Initiative eingegangen sein, berichtet Mitbegründer Erhard Eppler 1978. Siehe: Interner Tätigkeitsbericht über die GustavHeinemann-Initiative, S. 1. In: AdsD 1/HSAA 009867.
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signierten auf[zu]rütteln, die unserem Rechtsstaat, unserer freiheitlichen Verfassung keine Zukunft mehr geben“ und „denen unsere Solidarität [zu] beweisen, die mutlos, eingeschüchtert oder einsam, sich von der Teilnahme am öffentlichen Leben abwenden.“ Der Gründerkreis322 um die SPD-Politiker Erhard Eppler, Johannes Rau und Carola Stern sah mit der Person des früheren Bundespräsidenten Heinemann die „Ermutigung und Verpflichtung“ verknüpft, für die „Wahrung der Bürger- und Menschenrechte“ und für einen Rechtsstaat einzutreten, „der die im Grundsatz gewährleisteten Rechte und Freiheiten schützt.“ Der Aufruf enthielt darüber hinaus eine kritische Situationsbeschreibung, in der die GHI-Gründer die Behauptung aufstellten, dass zehn Jahre nach 1968 „das Gespräch zwischen den Generationen […] an vielen Stellen abgebrochen“ sei: „Wo vor Jahren noch gestritten wurde, herrscht heute Sprachlosigkeit. Der Entwurf einer Zukunft, der die Jugend fordern könnte, ist nicht zu erkennen.“ „Was damals eine zukunftsgewisse Bewegung rund um die Erde war“, so heißt es weiter, „hat sich heute, vor allem in unserem Land, aufgesplittert oder verlaufen. Viele haben sich angepasst, einzelne sind den Weg der Zerstörung und Selbstzerstörung gegangen, zu wenige haben sich an das glanzlose Geschäft gemacht, das Angebot eines Grundgesetzes in täglicher Kleinarbeit aufzugreifen.“ Ebenso wie die Unterstützer des 3. Russell-Tribunals beklagten die GHI-Gründer, dass die Freiheit in der Bundesrepublik „durch Angst, Trägheit und Resignation bedroht“ sei. Konkret schränkten „Einschüchterung und Selbstzensur […] den Raum freier Diskussion ein“ und würden „vor allem junge Menschen an den Rand einer Gesellschaft“323 drängen. „Solche Kritik war die Bundesrepublik bisher aus der liberalen Mitte des politischen Spektrums nicht gewohnt“, urteilten die Politologen Martin und Sylvia Greiffenhagen seinerzeit bestürzt. Es werde „ja nicht mangelnde Radikalität im Veränderungswillen beklagt, sondern die Bedrohung der freiheitlichen Fundamente selbst.“324 Mit der Situationsbeschreibung gingen die GHI-Gründer auf kritische Distanz zur Bundesregierung, die sie zwar nicht offen für die beschriebene Bedrohungslage verantwortlich machten, aber doch indirekt dazu aufforderten, die sich abzeichnende Entwicklung zu stoppen und umzukehren. Dies weckte das Interesse von Bürgern, die mit der sozialliberalen Koalition unzufrieden waren: „parteipolitisch ungebundene Juristen, Professoren, Pfarrer, Journalisten, Schriftsteller, Ärzte, Ingenieure.“325 Vor allem aber richtete sich die GHI an „junge Menschen“, die sich „entweder resigniert von der Politik abwenden oder aber – enttäuscht von der Demokratie – ins politische Abseits geraten, in neonazistische Gruppen oder auch in K-Parteien“, erklärte Mitbegründerin Carola Stern in einem Interview vom April 1978. Sie sprach auch das Problem des Extremistenbeschlusses an: „Gesellschaftspolitisches Engagement“ sei „teurer geworden“ als 1968, denn Nichtangepasste
322 Zu den Gründern gehörten außerdem: Gerhard Dürr, Marianne Dirks, Helmut Frenz, Helmut Gollwitzer, Walter Hähnle, Werner Georg Haverbeck, Eberhard Jäckel, Walter Jens, Luc Jochimsen, Peter Kreyssig, Diether Koch, Robert Leicht, Siegfried Lenz, Helmut Lindemann, Gerhard Mauz, Kurt Scharf, Helmut Simon, Eberhard Stammler, Heinz Oskar Vetter, Christoph Müller-Wirth. 323 o. A.: Wider die Angst und die Resignation. Aufruf der neu gegründeten ‚Gustav-HeinemannInitiative‘. In: Vorwärts (30.03.1978). 324 GREIFFENHAGEN, Martin/GREIFFENHAGEN, Sylvia: Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur Deutschlands. München 1979, S. 14. 325 Interner Tätigkeitsbericht über die Gustav-Heinemann-Initiative, S. 1.
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könnten stärker „beruflich benachteiligt […] werden“326 als damals. Die Initiative wolle dafür sorgen, dass die Bürger das Vertrauen in das Grundgesetz zurückgewinnen und wieder Mut bekommen, sich politisch einzubringen. Wie diese Ziele außerparlamentarisch verwirklicht werden sollten, darüber schwieg sich Stern aus. Sie legte jedoch Wert darauf, dass die Initiative parteiunabhängig agiere und sich über Spenden finanziere. Erhard Eppler, der der SPD-Spitze regelmäßig über den Fortgang der Initiative berichtete, machte keinen Hehl daraus, dass es Kritiker gab, „die in der HeinemannInitiative eine Art innerparteiliche Gruppierung in der SPD sehen wollten.“ Er wehrte diese Vorwürfe mit Verweis auf ihre Mitgliederstruktur ab. Dennoch räumte er ein, dass die Zukunft der Initiative „steht und fällt mit der Fähigkeit von Sozialdemokraten, die selbstverständliche Loyalität gegenüber ihrer Partei zu verbinden mit der Bereitschaft, jedermann als gleichberechtigten Partner anzuerkennen […].“ Immerhin gelte es, „eine Epoche der Restauration [zu] verhindern, eine Atmosphäre freier Diskussion [zu] erhalten – oder an einigen Stellen wieder [zu] schaffen – und gemeinsam mit der jungen Generation einen zumutbaren Weg in die Zukunft [zu] suchen.“327 Wie die weitere Entwicklung der GHI zeigte, nahmen ihre Mitglieder diese Herausforderungen ernst. Die Initiative, die sich bald als gemeinnütziger Verein organisierte, litt zu keinem Zeitpunkt unter einem Glaubwürdigkeitsproblem. Anfang der Achtziger Jahre löste sie sich endgültig von ihrer „Patenpartei“, als sie gegen die NATO-Doppelbeschluss in Stellung ging und sich auf die Seite der Friedensbewegung schlug.328 Ähnlich wie in den Jahren 1978/79 fungierte sie dabei als Auffangbecken für SPD-Mitglieder und -Wähler, die nicht einverstanden mit der Politik der sozialliberalen Regierung waren. Hatte nach dem Deutschen Herbst die Innen- und Sicherheitspolitik für Missstimmung gesorgt, weil sie als Gefahr für die Bürger- und Menschenrechte empfunden wurde, regte sich nun Unmut über die Haltung Helmut Schmidts, der die Stationierung neuer Raketen und Marschflugkörper auf dem Gebiet der Bundesrepublik befürwortete. Die GHI schwang sich bei beiden Gelegenheiten zu einem Konkurrenten für andere Gruppierungen oder Initiativen im linken Spektrum auf, besonders für jene, die ebenso auf den Zuspruch enttäuschter SPD-Mitglieder oder -Wähler setzten – wie die Russell-Kampagne.329 Denn genau hierin lag der Erfolg, den sich der SPD-Parteivorstand von der Initiative erhofft hatte: Anstatt Kritiker aus dem eigenen Lager weiterhin an „dubiose Gruppen“330 zu verlieren, gab es nun eine bürgerlich-protestantisch verankerte Protestplattform, die sie auffing und dabei gänzlich frei von „Sektierern oder Spinnern“331 blieb, wie es Eppler ausdrückte. 326 PLÜCK, Hans: Viele Bürger warten auf einen neuen Anstoß. Interview mit Carola Stern. In: Welt der Arbeit (06.04.1978). 327 Interner Tätigkeitsbericht über die Gustav-Heinemann-Initiative, S. 5. 328 Vgl. HÄUSSERMANN, Titus/KRAUTTER, Horst (Hg.): Frieden – Aufgabe der Deutschen. 5. Jahrestagung der Gustav-Heinemann-Initiative in Rastatt 1982. Stuttgart 1982. 329 Über die Achtziger Jahre hinaus beschäftigte sich die Gustav-Heinemann-Initiative Jahr für Jahr mit Themen oder Problemstellungen, die im linken Spektrum in der Diskussion standen, darunter das „Recht zum Widerstand“ (1983), „Arbeit und Bürgerrechte“ (1986) und der technokratische „Griff nach dem Menschen“ (1988). In den Neunziger Jahren rückten Fragen der aktiven und vorausschauenden Friedenspolitik, die Integration von Migranten und die Problematik der Bekämpfung des Terrorismus in ihren Fokus. 330 Brief von Willy Brandt an Helmut Schmidt vom 17.02.1978, S. 5. 331 Interner Tätigkeitsbericht über die Gustav-Heinemann-Initiative, S. 4.
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Die zweite Initiative, die die SPD-Spitze 1978 angeregt hatte, erwies sich dagegen als Fehlschlag. Zwar hatten die Organisatoren den Kongress zur Verteidigung der Republik von Anfang an als „ein einmaliges Ereignis“332 angelegt, doch der SPD-Parteivorstand nahm ihn genauso ernst wie die Gustav-Heinemann-Initiative. Er legte Wert darauf, dass sich diese Projekte in ihrer Arbeit nicht überschnitten.333 Deshalb ging die Ankündigung des Kongresses, der am 15. und 16. April 1978 in Hannover stattfand, dem Gründungsaufruf der Gustav-Heinemann-Initiative mehrere Wochen voraus. Ebenso achteten die Organisatoren darauf, dass die Veranstaltung dicht genug auf die erste Sitzungsperiode des 3. Russell-Tribunals folgte. Bereits das Einladungsschreiben ließ erkennen, dass der Kongress als Gegenveranstaltung zum Tribunal dienen sollte. In ihm wurden exakt jene Befürchtungen aufgegriffen, die die Initiatoren und Unterstützer der Russell-Kampagne zur Grundlage ihrer Repressionskritik respektive ihrer Kritik am „Modell Deutschland“ machten: „Wo vor Jahren unter der Mitwirkung vieler Bürger um eine Ausgestaltung des sozialen Rechtsstaates gerungen wurde, wo früher der Ruf ‚Das Grundgesetz verwirklichen!‘ die Richtung des Fortschritts anzeigte“, heißt es einleitend, „herrschen heute vielfach Rückschritt, Illiberalität und Einschüchterung.“ Unter diesen Vorzeichen laufe der „demokratische Staat […] Gefahr, den besten Teil seiner Errungenschaften preiszugeben. Freiheitsdrang wird von rechts in die Nähe des Terrorismus gerückt. Kritik gilt als Anschlag auf Recht und Ordnung. Verlangen nach mehr Gerechtigkeit erstickt in einem Klima, in dem Veränderungswille als staatsfeindlich erscheint.“ Gegen diese „Misstände“, gegen „Gesinnungsschnüffelei“, gegen „Disziplinierungsversuche in Betrieben und Hochschulen“ und gegen „die Diffamierung selbstbewusster Arbeitnehmer und kritischer Intellektueller“ müsse vorgegangen werden. Nur so sei die „Freiheitlichkeit der Republik“ und die „Weiterentwicklung der zweiten deutschen Demokratie“ weiterhin zu gewährleisten. Die Einladung richtete sich an alle „freiheitlich bewussten, […] demokratisch gesinnten, […] fortschrittlich orientierten Bürger“334 – oder wie es einer der Initiatoren ausdrückte: an den „vorparteilichen Raum (‚kritischer-linker‘ und ‚liberaler‘ Bereich)“335. Sie trug die Unterschriften mehrerer bekannter SPD-Mitglieder und Unterstützer wie Freimut Duve, Max Frisch, Bernt Engelmann, Günter Grass, Eugen Kogon und Carola Stern. Weitere Träger der Veranstaltung kamen aus dem Bereich der Sozialdemokratischen Wählerinitiative – eine Gruppe von Künstlern, Intellektuellen und politisch interessierten Bürgern, die die Partei seit Ende der Sechziger Jahre bei Wahlkämpfen und in Sachfragen unterstützte. Der Kongress begann am Samstag, den 15. April 1978, mit einer Begrüßungsrede Carola Sterns. Das Thema des Tages hieß: „Grundrechte in Gefahr?“ Der Publizist Bernt Engelmann referierte über den „Extremistenbeschluß und seine Folgen“, der Journalist Klaus Bresser über „Terrorismus: Ursachen, Motive und Auswirkungen“ und das SPD-Parteivorstandsmitglied Wolfgang Roth über „Ökonomische Zwänge“ wie „Arbeitslosigkeit und Repression in Betrieben“. Der zweite Kongresstag stand im Zeichen des Themas „Die Neue Reaktion“. Der Journalist Reinhart Hoffmeister gewährte Einblicke in das internationale Zusammenspiel 332 Protokoll über die Sitzung des Präsidiums der SPD am 03.04.1978, S. 6. 333 Vgl. Notiz von Klaus-Henning Rosen vom 10.03.1978, S. 1. In: AdsD WBA, A19, 147. 334 Flugblatt: Einladung zum Kongress zur Verteidigung der Republik. Herausgegeben von der SPD. März 1978. In: AdsD WBA, A19, 147. 335 Interner Vermerk von Henning Borstell für Willy Brandt und Egon Bahr vom 19.04.1978, S. 1. In: AdsD WBA, A19, 147.
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rechtskonservativer Parteien und Gruppen und schloss einige Ausführungen zur „neonazistischen Bewegung und ihrer Duldung“336 an. Auf die Referate folgten jeweils Podiumsdiskussionen, die laut Mitorganisator Henning von Bostell (SPD) wie „eine Mammutvorlesung“ daher kamen. In der Folge sei „die Mitwirkungsbereitschaft der Mehrheit der teilnehmenden Sozialdemokraten (Ausnahme: die Podiumsteilnehmer) […] mäßig“ gewesen. Zu viele hätten „nur für ein Pflichtstatement“ zur Verfügung gestanden und dabei übersehen, „dass dies vom Publikum sehr wohl registriert wurde.“ Von Bostell bescheinigte dem Kongress in seinem Nachbericht nur „mäßige[n] Besuch“. Die Bekanntheit der Veranstaltung sei zu gering gewesen. „Grund dafür ist vermutlich die Übervorsichtigkeit der örtlichen Parteigliederungen. Fast keine nennenswerte Plakatierung, obwohl genügend Material angeboten worden war“, meint der Mitorganisator. Für künftige Veranstaltungen, bei denen die SPD in ähnlicher Weise an Bürger herantreten wolle, „die sich selbst kritisch bzw. lustlos zur Sozialdemokratie einordnen“, empfahl er, Parteimitglieder einzuladen, die „in der Selbstdarstellung ‚attraktives Stehvermögen‘“ an den Tag legten. Auch sollte die organisatorische Unterstützung vonseiten der jeweils zuständigen regionalen Parteiverbänden „durch entsprechend vorbereitete kommerzielle Maßnahmen wie Informationsanzeigen oder auch kommerzielle Plakatierung“ im Vorfeld abgesichert sein. Um ein breiteres Teilnehmerfeld anzusprechen, schlug von Bostell vor, deutlicher als bisher zu vermitteln, dass „jeder überzeugte Demokrat“ eingeladen sei. Es könne kein „Ausschließungsgrund sein, wenn Bürger sich […] als Kommunisten bekennen. Sie genießen die gleichen Bürgerrechte wie jedermann.“ Gerade der letzte Hinweis verdeutlicht noch einmal, dass der SPD-Parteivorstand bestrebt war, einen Dialog zwischen Sozialdemokraten und dogmatischen Linken in die Wege zu leiten – und die bekennenden Kommunisten aus dem KB zählten zu den Hauptträgern der Russell-Kampagne. Ziel einer gegenseitigen Annäherung konnte aus Sicht der SPD nur sein, die Antipathie, die ihr diese Aktivisten entgegen brachten, nach und nach abzumildern. Der Kongress zur Verteidigung der Republik diente als „Probelauf zur organisatorischen Klärung“, ob weitere Veranstaltungen mit einem „Ansatz ähnlich des Kongresses“ initiiert werden konnten. Von Borstell befürwortete dies, weil die „neurotisch erstarrte Kontaktbereitschaft zu Kommunisten dadurch öffentlich entspannt werden könnte“337. Hintergedanke war, dem 3. Russell-Tribunal und möglichen weiteren Protestinitiativen Unterstützer abzuwerben. Gleichwohl der Kongress zur Verteidigung der Republik darauf wenig Hoffnung machte, konnte die SPD-Spitze zumindest auf einen erfolgreichen Start der Gustav-Heinemann-Initiative blicken. Wie anhand der Aktenlage im Archiv der sozialen Demokratie zu erkennen ist, sah sie der zweiten Sitzungsperiode des 3. Russell-Tribunals ab April 1978 gelassen entgegen: In den Vorstands- und Präsidiumsprotokollen, die Kanzler Schmidt seitdem zugingen, fand es keine besondere Berücksichtigung mehr.338
336 Flugblatt: Einladung zum Kongress zur Verteidigung der Republik. 337 Interner Vermerk von Henning Borstell für Willy Brandt und Egon Bahr vom 19.04.1978, S. 2-4. 338 Für den Bestand des SPD-Parteivorstandes lässt sich diese Aussage nicht treffen, da nicht alle Vorstands- und Präsidiumsprotokolle aus dem Zeitraum inhaltlich erschlossen sind und somit eine genaue Durchsicht erforderten.
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8. Z USAMMENFASSUNG In jüngster Vergangenheit wurde das 3. Russell-Tribunal gleich zweifach in Erinnerung gerufen: Zum einen, als das globalisierungskritische Netzwerk Attac am 9. bis 11. April 2010 in der Berliner Volksbühne ein so genanntes Bankentribunal veranstaltete, „das die Ursachen des Finanzcrashs, die Beugung der Demokratie durch fragwürdige Rettungsmaßnahmen und die fahrlässige Vorbereitung neuer Krisen öffentlichkeitswirksam beleuchten“339 sollte. Zum anderen, als im Winter 2010 ein Missbrauchsskandal an Reformschulen ans Tageslicht kam und zu dessen Aufklärung ein so genanntes Odenwaldtribunal gefordert wurde: „Die bohrenden Fragen, die viele (Ex-)Schüler, Lehrer und nicht zuletzt Eltern bedrücken und die halbe Republik alarmiert haben: Sie müssen erörtert werden. Es braucht dazu, wenn es schon keine Gerichtsverhandlung geben wird, ein öffentliches Tribunal“340, begründete der Politologe Christian Füller in einer öffentlichen Stellungnahme. Während Attac darauf hoffte, mit seinem Tribunal nicht etwa „individuelle Schuldige dingfest zu machen oder gar Sündenböcke ins Rampenlicht zu stellen, sondern […] die systemischen Ursachen der Krise einem breiten Publikum in spannender Form anschaulich zu machen und zu weitergehenden Fragen und Einmischungen anzuregen“341, sah Füller den Zweck eines Tribunals darin, dass „man Taten erörtert“. Dabei könnten sowohl Beschuldigte verteidigt, als auch das Gewirr von Fakten und „Hirngespinsten“342 entzerrt werden. Das 3. Russell-Tribunal hatte beides versucht: Die Menschenrechtssituation in der Bundesrepublik in der Öffentlichkeit zu einem, wenn auch kontrovers, diskutierten Thema zu machen und nur über Tatsachen zu urteilen – deshalb verzichtete es darauf, die Haftbedingungen „politischer“ Gefangener zu untersuchen. Und es entschied sich auch dagegen, die Todesnacht in Stammheim zu thematisieren, obwohl dies von einigen seiner Teilnehmer, Unterstützer, Beobachter und Kritiker gewünscht wurde.343 Anders als bei seinen realisierten und nichtrealisierten „Nachfolgern“ aus dem Jahr 2010 nahm das 3. Russell-Tribunal hauptsächlich die Rolle des Staates und seiner Institutionen in den Blick. Sein Ansatz war es, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, die hauptsächlich durch gesetzgeberische Maßnahmen hervorgerufen worden sein sollten. Dieser Ansatz deckt sich weitgehend mit jenem der Wahrheitskommissionen, die unter der Aufsicht der Vereinten Nationen seit 1974 in zahlreichen Ländern gearbeitet haben und zum Teil nach wie vor aktiv sind. Bekannte Beispiele sind die „Truth and Reconciliation Commission“ in Südafrika, die „Commission on the Truth“ in El Salvador, die „Commissions of Inquiry into the Involuntary Removal or Disappearance of Persons“ in Sri Lanka und mit der „Enquete Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der 339 o. A.: Was ist das Bankentribunal? Attac.de (ohne Datum). Siehe: http://www.attac.de/aktuell/ krisen/bankentribunal/kurzkonzept (Stand: 06.11.2011). 340 FÜLLER, Christian: Warum wir ein Odenwald-Tribunal brauchen. Kommentar. SpiegelOnline (14.04.2010). Siehe: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,688726,00.html (Stand: 06.11.2011). 341 o. A.: Was ist das Bankentribunal? 342 FÜLLER, Christian: Warum wir ein Odenwald-Tribunal brauchen. 343 Der Jurist und Publizist Oliver Tolmein schließt sich diesen Stimmen in seinem Aufsatz über das 3. Russell-Tribunal an. Es sei „ein offensichtlicher Mangel des Tribunals“ gewesen, die „ungeklärten Todesfälle in Stuttgart-Stammheim nicht zu einem Thema gemacht zu haben“. Siehe: TOLMEIN, Oliver: Wider das ‚Modell Deutschland im Herbst‘, S. 142.
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SED-Diktatur“ gab es sogar eine deutsche Variante.344 Worin unterscheiden sich das 3. Russell-Tribunal und seine beiden Vorläufer von diesen Gremien, die jeweils eingerichtet wurden, „to investigate a past period of human rights abuses or violations of international law?“345 Hatten die Russell-Tribunale etwa keine vergleichbare Zielsetzung? Die Politologin Priscilla B. Hayner hat sich, als Mitbegründerin des „International Center for Transitional Justice“ und ehemalige Beraterin im Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, auf die Erforschung von Wahrheitskommissionen spezialisiert. Sie definiert diese Gremien anhand von drei Kriterien: (1) Sie befassen sich mit der Vergangenheit. (2) Sie untersuchen eher Fallbeispiele von Menschenrechtsverstößen denn spezifische Ereignisse. (3) Sie sind zeitlich begrenzt, arbeiten normalerweise zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. (4) Sie sind entweder von einer internationalen Organisation beauftragt oder von staatlicher Seite autorisiert und unterstützt – im Falle eines Friedensprozesses auch vom bewaffneten Gegner.346 Da die Russell-Tribunale ohne Mandat, von Regierungen unabhängig und nur auf Initiative der Bertrand Russell Peace Foundation und ihrer Unterstützer stattfanden, würde sie Hayner nicht als Wahrheitskommissionen im engeren Sinne bezeichnen. Doch das 3. Russell-Tribunal erfüllte immerhin die ersten drei Kriterien: Es bezog sich zwar auf die gegenwärtige Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik, arbeitete jedoch mit Beispielfällen aus der jüngeren Vergangenheit. Es untersuchte die Auswirkungen des Extremistenbeschlusses, die angebliche Einschränkung der Meinungsfreiheit mit dem Mittel der Zensur, die angebliche Einschränkung der Verteidigerrechte mit legalen und paralegalen Mitteln sowie die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes. Es fokussierte sich nicht auf Einzelereignisse, wie etwa die Todesnacht von Stammheim, und es arbeitete zeitlich begrenzt, nämlich zwischen Sommer 1977 bis Winter 1979. Als eine monatelang tätige Instanz, wie es die Wahrheitskommissionen sind, verstand es sich jedoch nicht.347 Über ihre Kriterien hinaus räumt Hayner ein, dass sich nicht alle 21 Wahrheitskommissionen selbst als solche begriffen und schon gar nicht von außen als solche wahrgenommen wurden.348 Besonders die ersten dieser Ausschüsse, 1974 in Uganda und 1982 in Bolivien,349 sind erst rückblickend als „Wahrheitskommissionen“ bezeichnet worden. Der Begriff kam erst Anfang der Neunziger Jahre im Zusam344 Der deutschen Enquetekommission wurde der Charakter einer Wahrheitskommission jedoch eher zugeschrieben, als dass sie sich selbst als solche bezeichnet hätte. Vgl. JANDER, Martin/ KIONTKE, Werner: Unsagbare Wahrheiten. Interview mit Priscilla Hayner. In: Die Tageszeitung (14.07.2001). Aus der Enquetekommission ging 1998 die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ mit Sitz in Berlin hervor. 345 HAYNER, Priscilla B.: Fifteen truth commissions – 1974 to 1994: A comparative study. In: Human Rights Quarterly (Nr. 16/4, 1994), S. 597-655, hier: S. 598. 346 HAYNER, Priscilla B.: Unspeakable truths. Facing the challenge of truth commissions. New York 2002, S. 14. 347 Das Jurymitglied Johan Galtung erinnerte bei der Eröffnung der ersten Sitzungsperiode an einen Grundsatz, der seit dem 1. Russell-Tribunal galt und damals von Jean-Paul Sartre auf den Punkt gebracht worden war: „Wir sind keine Anklagebehörde.“ Siehe: GALTUNG, Johan: Bemerkungen zur Vorgangsweise, S. 14; vgl. DEDIJER, Vladimir: Einleitende Erklärung, S. 12. 348 HAYNER, Priscilla B.: Unspeakable truths, S. 15. 349 Bezeichnet als „Commission of Inquiry into the Disappearance of People in Uganda since the 25th January, 1971“ und „Comisión Nacional de Investigación de Desaparecidos“ (zu Deutsch: Nationale Kommission zur Ermittlung von Verschollenen).
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menhang mit der »Comisión Nacional para la Verdad y Reconciliación« (zu Deutsch: Kommission für die Wahrheit und Versöhnung) in Chile auf. Könnte das 3. Russell-Tribunal also zumindest eine Art Vorläufer späterer Wahrheitskommissionen gewesen sein? Neben den Kriterien (1) bis (3) spricht auch seine Arbeitsweise dafür: Wie bei den Wahrheitskommissionen üblich, ging es dem 3. Russell-Tribunal um die Sammlung von handfestem Beweismaterial, um die Einbeziehung von Opfern und um die Veröffentlichung der Verhandlungsergebnisse.350 Ähnlich wie sich Wahrheitskommissionen laut Hayner mit Ereignissen befassen, die Gegenstand einer Gerichtsverhandlung sein könnten, aber es (noch) nicht sind,351 verstand sich auch das 3. Russell-Tribunal nicht als justizielle Instanz: „Die Jury ist mit einem Gericht nicht zu verwechseln“352, betonte Johan Galtung in seiner Vorrede zur ersten Sitzungsperiode. Die Wirkungsabsicht lag nicht in der Verurteilung eines Unrechtsregimes, sondern darin, auf die Menschenrechtssituation in der Bundesrepublik aufmerksam zu machen. Mit dieser gegenwartsbezogenen Perspektive unterschied sich das Tribunal von den Wahrheitskommissionen, die ihrerseits Lehren aus zurückliegendem Unrecht ziehen wollen, sich aber kein Urteil über die aktuelle Situation im jeweiligen Land bilden. Dass sie von internationaler oder staatlicher Seite unterstützt werden, gibt ihnen zwar einerseits größeren Handlungsspielraum als den Russell-Tribunalen, da sie ihre Fälle an ordentliche Gerichte weiterleiten können, andererseits auch stärkeren gesellschaftlichen Einfluss, weil ihre Abschlussberichte einen offiziellen353 Charakter erhalten und – von Regierungsseite beachtet – zu Entschädigungsleistungen, zur Aussöhnung von Konfliktparteien und schließlich zu einer korrigierten nationalen Geschichtsschreibung führen können. Doch bei weitem nicht allen Wahrheitskommissionen sind solche Erfolge beschieden: „Some have been significantly limited from a full and fair accounting of the past – limited by mandate, political constraints or restricted access to information, or by a basic lack of resources, for example – and have reported only a narrow slice of the ‘truth‘.“354
350 Hayner fasst die Arbeitsweise der Wahrheitskommissionen wie folgt zusammen: „Truth commissions‘ victim-centered approach of collecting thousands of testimonies and publishing the results of their findings in a public and officially sanctioned report represents for many victims the first sign of acknowledgement by any state body that their claims are credible and that the atrocities were wrong.“ Siehe: HAYNER, Priscilla B.: Unspeakable truths, S. 16. Vladimir Dedijer äußerte sich mit folgenden Worten zur Arbeitsweise der Russell-Tribunale: „Alle drei Russell-Tribunale bewerteten die dokumentierten Tatsachen und zogen die entsprechenden Konsequenzen aus ihnen, aufgrund einer nachvollziehbaren wissenschaftlichen Analyse und an Hand expliziter moralischer Urteilskriterien. Wir versuchen Dokumente von allen Seiten zu erhalten. […] Unsere Ergebnisse basierten immer auf einer verlässlichen Dokumentation der Fakten, einer Kenntnisnahme der spezifischen Bedingungen der Gesellschaft und einem expliziten Bezug auf die Menschenrechte.“ Bei allen Tribunalen werde abschließend ein „schriftlicher Schlußbericht“ vorgelegt. Siehe: DEDIJER, Vladimir: Eröffnungsrede, S. 12. 351 HAYNER, Priscilla B.: Unspeakable truths, S. 16. 352 GALTUNG, Johan: Bemerkungen zur Vorgangsweise und den Kriterien des Tribunals, S. 14. 353 Besonders in Fällen, in denen die Wahrheitskommissionen von internationalen Organisationen, wie den Vereinten Nationen oder Nichtregierungsorganisationen, unterstützt werden. 354 HAYNER, Priscilla B.: Fifteen truth commissions, S. 600.
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Ganz gleich, ob die Russell-Tribunale nun als Wahrheitskommissionen gelten können oder nicht,355 was sie mit diesen Untersuchungsausschüssen eint, ist der konsequente Bezug auf die Menschenrechte als grundlegende juristische Normen, ihre Geltendmachung und Verteidigung sowohl gegen Unrechtsregime als auch im Rahmen demokratischer Gesellschaftsordnungen – wobei dieser letztgenannte Anspruch hauptsächlich auf das 3. Russell-Tribunal zutraf. Indem es sich auf die Menschenrechtssituation in der Bundesrepublik fokussierte, wurde es zu einem streitbaren Sonderfall. Es sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, das viel größere Unrecht in anderen Ländern auszublenden. Die Kritik verhinderte jedoch nicht, dass das Tribunal stattfand. Im Gegenteil: Die Ankündigung der Initiatoren, in zwei Sitzungsperioden zu tagen und unterschiedliche Themen zu behandeln, wurde konsequent eingehalten. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Veranstaltung aus dem linken Spektrum heraus initiiert und realisiert wurde, dessen tief verwurzelte Interessengegensätze sich während der über zweijährigen Russell-Kampagne nicht aufhoben, sondern jederzeit deutlich unter den Beteiligten abzeichneten. Seit den Vorbereitungen für die erste Sitzungsperiode standen sich, vereinfacht gesagt, zwei Lager gegenüber: Einerseits die Initiatoren und die Offenbacher Führung des SB. Andererseits die Mehrheit der Unterstützer unter Führung des Hamburger KB. Beide Seiten trennte ein heterogenes Verhältnis zum Staat, das im Streit um die Themenbeschränkung des Tribunals seinen Ausdruck fand. Um die Gegensätze zu veranschaulichen, genügt es, zwei Vertreter beider Seiten herauszugreifen: Unter den Initiatoren trat mit Helmut Gollwitzer eine „große Autorität“356 dafür ein, dass sämtliche Gegner des Extremistenbeschlusses ihre sektiererischen Haltungen aufgaben. Im Ergebnis wünschte sich der Theologe „ein Bündnis aller Bürgerlichen, Liberalen und anständigen Konservativen“357. Für außerparlamentarische Linke sah er darin keinen Platz. Gollwitzer hielt ihnen vor, dass sie „die bürgerliche, ‚freiheitlich-demokratische Grundordnung‘ als […] Staatsverfassung“ nicht hoch genug schätzten. Dabei könne erst auf ihrer Basis „eine sozialistische Demokratie“ verwirklicht werden. Noch weniger tolerant zeigte er sich gegenüber den dogmatischen K-Gruppen, einschließlich des KB. An sie gerichtet betonte Gollwitzer stets, dass der Sozialismus „nicht durch die Vergewaltigung der Mehrheit durch eine elitäre Minderheit aufgebaut werden“358 könne. In der Tat trat der KB „für die Beseitigung des kapitalistischen Ausbeutersystems und die Zerschlagung seines Staatsapparates“ ein, sah er seine politische Perspektive im Aufbau des „Sozialismus unter der Klassenherrschaft des Proletariats“359. Allerdings seien diese Ziele sehr im Nebulösen geblieben, meint Kai Ehlers. Auf der konkreten Ebene habe sich die Organisation für die Verhinderung eines neuen Faschismus in der Bundesrepublik und für die Verteidigung demokrati355 Hayner räumt im Übrigen ein, dass Nicht-Regierungsprojekte, die die Verbrechen vergangener Regime aufarbeiteten, oder Untersuchungen im Auftrag nationaler Menschenrechtsorganisationen teilweise auch zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen seien. Siehe: HAYNER, Priscilla B.: Unspeakable truths, S. 21. 356 Uwe Wesel am 04.06.2008 (m). Seit den Hochzeiten der APO war Gollwitzer als Mittler zwischen Kirche, Politik und Linken in Erscheinung getreten. Vgl. LEPP, Claudia: Helmut Gollwitzer als Dialogpartner der sozialen Bewegungen. In: Dies./HERMLE, Siegfried/OELKE, Harry (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren. Göttingen 2007, S. 226-246. 357 Zit. nach: Ebd., S. 231. 358 Ebd., S. 232. 359 Zit. nach: STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein, S. 75.
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scher Rechte engagiert: „Wir haben den Staat einfach nicht für richtig gehalten, aber wir haben nicht gesagt: ‚Morgen schaffen wir den Staat ab‘. So konkret hat da bei uns keiner argumentiert.“ Vonseiten der Initiatoren wurden solche Differenzierungen nicht wahrgenommen. Für sie blieb entscheidend, dass zum Lager des KB auch Komitees vom äußersten Rand des linken Spektrums gehörten, die „mit der Verteidigung der demokratischen Rechte nur teilweise etwas am Hut hatten“ 360, wie Ehlers einräumt. Die Gegensätze, zwischen staatskritischen demokratischen Linken auf der einen und antistaatlichen radikalen Gruppierungen auf der anderen Seite, spiegelten sich auch in den unterschiedlichen Vorstellungen vom Zweck des Tribunals wider: Für die Initiatoren und das SB ging es in erster Linie darum, der Bewegung gegen Berufsverbote einen würdigen Abschluss zu verleihen, Narr spricht von „einem letzten Gipfel“361. Darüber hinaus betrachteten sie die Russell-Kampagne als wichtigen Abschnitt eines „menschenrechtlichen Lernprozess[es]“ für die außerparlamentarische Linke: Sie sollte verinnerlichen, dass Menschenrechte als Kriterien, Basis und Zielbezug „unabdingbar“ für jedes „radikaldemokratisch sozialistisch[e]“362 politische Engagement seien, und sensibler für „weitere Versuche des Abbaus der Freiheitsrechte“363 werden. Für die Mehrheit der Unterstützer stand nicht die Botschaft des Tribunals im Vordergrund, sondern seine „Untersuchungstätigkeit“364. Sie nahmen es als neutrale Instanz ernst und erwarteten, dass es sich mit derselben Ernsthaftigkeit ihrer Repressionskritik annehmen würde. Am Ende seiner Tätigkeit sollte es ein objektives Urteil über die sozialliberal regierte Bundesrepublik fällen,365 denn im „Modell Deutschland“ sahen sie den Ursprung der als unrechtmäßig empfundenen Repression. Damit sich die Jury ein umfassendes Bild verschaffen konnte, drängten der 360 Kai Ehlers am 19.07.2010 (m). 361 Wolf-Dieter Narr am 15.11.2008. Narr ist der Meinung, dass das Tribunal „im Zusammenhang vieler Kampagnen nach dem Motto ‚Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!‘“ stand und für diese so etwas wie einen letzten Höhepunkt darstellte, bevor die Neuen Sozialen Bewegungen, „insbesondere die Friedensbewegung“, an ihre Stelle traten. Karol Kubicki und Siegward Lönnendonker, Zeitzeugen und Historiker in eigener Sache, ordnen das Motto „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“ der so genannten „Antirepressionskampagne“ des SB zu, in der die Aktionskomitees gegen Berufsverbote mit inbegriffen gewesen seien. Siehe: KUBICKI, Karol/LÖNNENDONKER, Siegward: Die Freie Universität Berlin 1948-2007. Von der Gründung bis zum Exzellenzwettbewerb. Göttingen 2008, S. 189. 362 Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Das andere Deutschland nach 1945, S. 146; Vgl. auch: VACK, Klaus/ROTH, Roland: Die Anforderungen an das Russell-Tribunal deuten auf reale Nöte und Bedürfnisse. In: Links. Sozialistische Zeitung (Nr. 99, Mai 1978). 363 NARR, Wolf-Dieter/VACK, Klaus: Hat es sich gelohnt? Anmerkungen zum Russell-Tribunal. In: Links. Sozialistische Zeitung (Nr. 107, Februar 1979). 364 „Untersuchungstätigkeit war unser Hauptstichwort“, erklärt Kai Ehlers im Gespräch mit dem Autor am 19.07.2010. Der KB habe sich „als untersuchend arbeitende Gruppe“ verstanden, um die angebliche Faschisierung und den Abbau demokratischer Rechte in der Bundesrepublik aufzudecken. Für sein Organ »Arbeiterkampf« hätten ein Korrespondentenkreis und mehrere wissenschaftlich geführte Untersuchungskommissionen gearbeitet, im Kern zehn bis fünfzehn Personen. Hinzu seien „zuarbeitende Kommissionsgruppen“ aus den bundesweit verteilten KBGruppierungen gekommen. Dem entsprechend erwartete der KB auch vom 3. Russell-Tribunal, dass es durch seine Untersuchungen zu Urteilen käme, mit denen „wir etwas in der Hand haben“ zur „Stärkung des radikaldemokratischen Lagers“, so Ehlers. 365 Vgl. Marburger Russell-Initiative (Hg.): Informationen, Gutachten & Dokumente zum III. Russell-Tribunal über die BRD. Marburg 1978, S. 4.
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KB und andere Unterstützer wiederholt darauf, die Themenwahl des Tribunals nicht einzuschränken, sondern möglichst „all[e] Bereiche, in denen Repression stattfindet“366, zu berücksichtigen – besonders die Situation der „politischen“ Gefangenen.367 Die Urteile hatten für sie eine große Bedeutung. Sie kamen einer politischen wie inneren Selbstbestätigung gleich: Mit den „Schuldsprüchen“ nach beiden Sitzungsperioden war auf einen Schlag nicht nur die jahrelange Repressionskritik vieler außerparlamentarischer Linker, sondern auch ihre radikale Haltung gegenüber dem Staat gerechtfertigt. Ob bei der Urteilsfindung der Maßstab der Menschenrechte angelegt wurde, hatte für sie nur nachrangige Bedeutung. Eher lief die Untersuchung der Menschenrechtssituation dem Wunsch nach einer Schuldzuweisung gegenüber dem Staat sogar zuwider, denn mit dem Menschenrechtsbegriff ließen sich nicht verschiedene, zum Teil diffuse Empfindungen auf einen Nenner bringen. Dazu eignete sich vorwiegend der Repressionsbegriff. Der Menschenrechtsbegriff war dagegen in einen festen juristischen Rahmen und einen internationalen Kontext eingebettet. Dies stellte besonders dogmatische Linke vor das Problem, dass die Juryurteile propagandistisch kaum von Nutzen waren: Wer etwa als dogmatischer Linker Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik anprangerte, musste sich im Zweifelsfall die Frage gefallen lassen, wie er zur Menschenrechtssituation in der DDR stand. Diese aber lag für Linke gewöhnlich außerhalb des politischen Blickfelds.368 Bei all diesen politisch-taktischen Überlegungen in der Unterstützerszene spielte der Deutsche Herbst keine vordergründige Rolle. Der KB hatte sich ebenso wie das SB von den Entführungsfällen distanziert und stand auch dem bewaffneten Kampf kritisch gegenüber.369 Dennoch holten die Ereignisse das 3. Russell-Tribunal in viererlei Hinsicht ein: Erstens, als Antifa-Gruppen und Angehörige darauf drängten, die Haftbedingungen von Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen zu thematisieren. Zweitens, indem sich die Unterstützerszene im Vorfeld der zweiten Sitzungsperiode dafür aussprach, die Problematik der „politischen“ Gefangenen in die Untersuchung des Tribunals einzubeziehen. Drittens, indem Jury und Initiatoren beschlossen, die RAF-Verteidiger für die zweite Sitzungsperiode einzuladen. Viertens, indem sich die Jury im Untersuchungsbereich „Zensur“ mit besonderer Aufmerksamkeit dem Kontaktsperregesetz widmete. Letzteres fand, neben den Haftbedingungen, sogar gesonderte Berücksichtigung in den Urteilssprüchen der zweiten Sitzungsperiode. Der Deutsche Herbst fand also einen erkennbaren Widerhall in der RussellKampagne. Es wäre allerdings ein Trugschluss, zu behaupten, er hätte sie in irgendeiner Weise beflügelt. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Mobilisierung für das 3. Russell-Tribunal bereits im Sommer 1977 ihren Höhepunkt erreichte und danach beständig zurückging. Die zeitliche Überschneidung der Ankündigung des Tribunals mit der „Landshut-Entführung“ sorgte zudem dafür, dass das Tribunal im Kontext der Sympathisantendebatte diskutiert wurde. Dies verschaffte ihm zwar zusätzliche Aufmerksamkeit, brachte aber auch Nachteile mit sich. So waren die Initiatoren nicht nur gezwungen, bei der liberalen Öffentlichkeit dauerhaft um Ver366 SCHUBART, Alexander: Bericht und Einschätzung der Frankfurter Arbeitskonferenz, S. 31. 367 Kai Ehlers am 19.07.2010 (m). 368 Mehr dazu, siehe Kap. VII.2, S. 344f. und VII.4, S. 357-360. 369 Wenngleich mit „,solidarischem‘ Unterton“, wie Michael Steffen festhält. Vgl. Leitendes Gremium des KB: Rechts-Staat und Terrorismus. Erklärung. In: Arbeiterkampf (Nr. 113, September 1977).
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ständnis zu werben, sie mussten sich auch von Teilen der Unterstützerszene distanzieren, um die Neutralität des Tribunals nicht von vornherein unglaubwürdig zu machen. Dies verstärkte wiederum die vorhandenen Spannungen zwischen Initiatoren und Unterstützern, zumal diese zum Teil hohe Erwartungen an die Arbeit des Tribunals und seiner Jury richteten. Einmal in die Defensive geraten, schaffte es das 3. Russell-Tribunal jedoch nicht, mit seinem Auftreten und seinen Urteilen politische Wirkungen zu erzielen. Dass sich weder die Initiatoren, noch die Unterstützer mit dem Erreichten zufrieden gaben, lassen ihre Aktivitäten nach der zweiten Sitzungsperiode erkennen: So gründeten die Initiatoren mit Rückendeckung der RF zunächst ein Komitee, das die Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik auch in Zukunft überwachen sollte. Dieses Gremium war aber kaum arbeitsfähig, weshalb Andreas Buro, Helmut Gollwitzer, Arno Klönne, Wolf-Dieter Narr, Oskar Negt, Klaus Vack und Uwe Wesel es im Juni 1979 durch das „Kuratorium für Demokratie und Menschenrechte“ ersetzten, das 1980 schließlich im „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ aufging.370 Dieses richtete sich an „Wissenschaftler, Hochschullehrer, Schriftsteller, Gewerkschafter, Christen, Sozialisten, Liberale, linke Sozialdemokraten“371, die bereit waren, „aktuelle Verletzungen von Menschenrechten kundzutun und sich für diejenigen einzusetzen, deren Rechte verletzt worden sind (z.B. sogenannte Demonstrationsdelikte, Justizwillkür, Diskriminierung, Berufsverbot), andererseits aber auch Verletzungen aufzuspüren, die nicht unmittelbar zutage treten und in den gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen angelegt sind (struktureller Begriff der Menschenrechte).“372 Dem gegenüber versuchten die Unterstützerkomitees, aus ihren eigenen Reihen heraus Initiativen zu starten, die „kontinuierliche Anti-Repressions-Arbeit“373 leisten sollten. Damit traten sie an die Seite des Komitees für Grundrechte und Demokratie und der Gustav-Heinemann-Initiative sowie bereits etablierter Bürger- und Menschenrechtsorganisationen wie der Humanistischen Union und der Liga für Menschenrechte. Der KB hielt seinerseits mehrere „Antifa- und AntirepressionsKommissionen“374 aufrecht, die bis in die Achtziger Jahre hinein Bücher und Broschüren zur Problematik der Inneren Sicherheit erarbeiteten. Außerdem versuchte er mit der „Initiative Rock gegen Rechts“375, seine theoretisch fundierte, antifaschistische Ausrichtung wieder in Protestpraxis umzusetzen, nachdem ihn das Tribunal in dieser Hinsicht schwer enttäuscht hatte: „[…] eine vorwärtstreibende Diskussion über die Einschätzung des ‚Modell Deutschland‘ und seiner Entwicklungstenden-
370 Wolf-Dieter Narr dazu in seiner schriftlichen Mitteilung an den Autor vom 15.11.2008: „Eine Kerntruppe aus und um das Sozialistische Büro hat seinerzeit erkannt, wie wichtig es ist, sich politisch umfangreich für eine materialistische Konzeption der Menschenrechte einzusetzen. Das Komitee, ursprünglich gedacht im Kontext einer Reihe ähnlicher Gruppen quer über Europa, ist seinerzeit ‚empfangen‘ worden.“ 371 BURO, Andreas/GOLLWITZER, Helmut u. a.: Notwendigkeit und Aufgaben für ein Kuratorium für Demokratie und Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. In: Freiheit + Gleichheit (Nr. 1, Dezember 1979), S. 107-110, hier: S. 107. 372 Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Das andere Deutschland nach 1945, S. 491. 373 TOLMEIN, Oliver: Wider das ‚Modell Deutschland im Herbst‘, S. 142. 374 GÖSSNER, Rolf: Bürgerrechts- und Anti-Repressionsgruppen. In: Ders. (Hg.): Widerstand gegen die Staatsgewalt, S. 220-230, hier: S. 225. 375 Vgl. o. A.: Ein schöner Sieg. Rock gegen Rechts vertreibt Nazis. In: Arbeiterkampf (Nr. 156, Juni 1979).
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zen“376 sei weder auf dem Tribunal, noch innerhalb der Unterstützerszene möglich gewesen, heißt es in einem abschließenden Bericht. Die GIM, die nach der anfänglichen Unterstützungsarbeit mehr und mehr in den Hintergrund getreten war, sah das etwas anders: Die breite Unterstützerszene habe sich zu sehr auf die Untersuchungen der Jury fokussiert. Dabei sei in Vergessenheit geraten, dass das Tribunal eigentlich ein praktisches „Instrument“ gewesen wäre, um eine „eigenständige Mobilisierung“ voranzutreiben.377 Für die GIM selbst rückte 1979 erst einmal „die Notwendigkeit von Massenmobilisierungen gegen die faschistische Gefahr“378 in den Mittelpunkt. Sie beteiligte sich an Demonstrationen gegen neonazistische Aufmärsche und agitierte für antifaschistische Aktivitäten. Auch die Idee des Russell-Tribunals wurde bewahrt und weiter getragen. Eine Arbeitsgruppe der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ (GfbV) aus Göttingen half mit, ein 4. Russell-Tribunal zu organisieren.379 Es fand vom 24. bis 30. November 1980 in Rotterdam statt und befasste sich mit der Unterdrückung der Indianer. Das Tribunal diente als Forum für alle indigenen „Bürger- und Landrechtsbewegungen […], die in den sechziger und siebziger Jahren in Nord-, Mittel- und Südamerika entstand[en]“380 waren. Erstmals konnten sie vor einem europäischen Publikum die bis dahin gepflegten Stereotype des Hollywood- oder Karl-May-Indianers aufbrechen und gezielt um Unterstützung für ihre Initiativen werben.
376 Schuld daran sei „ein Teil der Träger (SB, GIM)“ gewesen, die „zeitweise den KB als Hauptgegner betrachtet“ hätten, „während die umworbene SPD und DKP weitgehend geschont“ wurden. Vor diesem Hintergrund habe „über unterschiedliche Vorstellungen nicht mehr präzise und vor allem sachlich diskutiert werden“ können. Die Enttäuschung darüber habe „bei manchen Russell-Unterstützern, teilweise auch im KB, dazu geführt […] dem Tribunal wieder den Rücken“ zu kehren. Siehe: o. A.: 2 ½ Jahre Russell-Kampagne. Es hat sich gelohnt! In: Arbeiterkampf (Nr. 148, Februar 1979). 377 DETTMANN, Christian: Zwei Schritte vor – einer zurück? In: Was tun? (Nr. 244, Januar 1979). 378 GELLRICH, Günther: Die GIM, S. 86. 379 So hatte die GfbV bereits 1977 und 1978 zwei große Pan-Indianische-Delegationen mit Repräsentanten indianischer Völker von Alaska bis Feuerland zu Rundreisen durch die Bundesrepublik Deutschland eingeladen, wo sie vor Tausenden von Zuhörern über ihre reale Lebenssituation und die Verletzung ihrer Menschenrechte durch die Staaten, in denen sie jeweils lebten, berichten konnten. Aus Initiativen wie diesen und dem 4. Russell-Tribunal entstand schließlich eine breit gefächerte Unterstützerbewegung für die indigenen Völker des amerikanischen Doppelkontinents 380 DUVE, Freimut (Hg.): Der Völkermord geht weiter. Indianer vor dem IV. Russell-Tribunal. Reinbek b. Hamburg 1982, S. 7; vgl. auch: Gesellschaft für bedrohte Völker: Indianer 1980 in Süd- und Mittelamerika. Berichte aus Mexiko, Guatemala, Nicaragua, Kolumbien, Ecuador, Peru, Chile und Brasilien. In: Pogrom. Zeitschrift für bedrohte Völker (Nr. 74/75, 1980); DAVIDSON, Steef/van VREE, Frank/de HAAS, Susan: Fourth Russell Tribunal. The rights of the Indians in the America’s. Aims and background. Amsterdam 1980.
VII. Repressionskritik in gesamtdeutscher Perspektive Der Internationale Kongress für und über Rudolf Bahro „Dies Deutschland ist mein Vaterland/Und mir ist kalt trotz alledem/Zerrissen wie ich keines fand/Und doch mein Land, trotz alledem/Trotz alledem und alledem/Wer sich wehrt, lebt unbequem/Die Wahrheit tut im Osten weh/Im Westen auch, trotz alledem“ „TROTZ ALLEDEM!“ – MUSIK & TEXT: WOLF BIERMANN – JAHR: 1978
1. H INTERGRÜNDE Bei dem vierten Protestphänomen, das in die Untersuchung einbezogen wird, handelt es sich im Kern um eine Initiative für einen politischen Gefangenen in der DDR: die Solidaritätskampagne für Rudolf Bahro. Sie stand im Vergleich zu den Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen unter vermeintlich besseren Vorzeichen. Ihr Engagement richtete sich nach außen, auf einen „Linken im Osten“1. Auf den ersten Blick hielt sie sich damit aus den inneren Debatten und Querelen der bundesdeutschen Linken heraus. Aber nur auf den ersten Blick, denn einseitige, womöglich antikommunistische Züge, entwickelte sie keinesfalls. Mit welchen Grundüberzeugungen dies zusammenhing, machte TU-Präsident Rolf Berger auf dem „Internationalen Kongress für und über Rudolf Bahro“ deutlich: „Nur wer für das Recht des Andersdenkenden eintritt, hat das Recht, die andere Meinung abzulehnen oder gar zu bekämpfen. Jede Verbotspolitik trägt das Schwächezeichen der eigenen Inhaltslosigkeit auf der Stirn. Insoweit ist Bahro […] eine Herausforderung: er wirft eine gesamtdeutsche Frage nicht im Sinne der deutschen Frage, sondern der in beiden deutschen
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Nach dem Titel der Studie: FEHÉR, Ferenc/HELLER, Agnes: Die Linke im Osten – die Linke im Westen. Ein Beitrag zur Morphologie einer problematischen Beziehung. Köln 1986. Das Soziologenehepaar Agnes Heller und Ferenc Fehér wies in seiner kritischen Bestandsaufnahme des Verhältnisses westlicher und östlicher Linker auf lediglich eine „echte Möglichkeit“ nach dem Zweiten Weltkrieg hin, bei der es zu einer „Zusammenarbeit zwischen Linken in Ost und West“ kommen konnte: 1968, als Rudi Dutschke während des Prager Frühlings mit tschechoslowakischen Studenten zusammentraf. Ansonsten habe die westliche Linke der östlichen mit einer „fast völligen Gleichgültigkeit“ gegenüber gestanden. Siehe: Ebd., S. 25 u. S. 29.
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Staaten gleichermaßen bestehenden Frage nach der Glaubwürdigkeit und Alternative auf. […] Unglaubwürdigkeit als politisches Handlungsergebnis kann durch Verbotspolitik gegenüber allem, was sich nicht mehr innerhalb des in Sonthofen definierten Konsens aller Demokraten befindet, erreicht werden; sie entsteht aber genauso auch durch die grau getönte politische Einheitsmeinung, die alternative gesellschaftliche Konzeptionen rigide ablehnt und sich damit 2 vom Geist von Sonthofen im Ergebnis nicht mehr unterscheidet.“
Auf der Großveranstaltung vom 16. bis 19. November 1978 in der TU Berlin, die den Höhepunkt der Initiative zur Freilassung von Rudolf Bahro bildete, ging es also nicht nur um die Solidarität mit einem politischen Gefangenen in der DDR. Der Bahro-Kongress erweiterte die linke Repressionskritik der Jahre 1978/79 um eine neue Perspektive: die gesamtdeutsche. 1.1 Rudolf Bahros Verhaftung Den Anstoß zur Solidaritätskampagne gab Rudolf Bahros Verhaftung am 23. August 1977. Zwei Tage zuvor hatten bundesdeutsche Medien die Meldung verbreitet, dass sein Buch »Die Alternative« erscheinen würde.3 Noch am 22. August war Bahro bei einem Interview mit Dirk Sager im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) zu sehen, hatte »Der Spiegel« ein Interview mit ihm veröffentlicht.4 Die Reaktion der DDR-Justiz kam für alle Beteiligten kaum überraschend, am allerwenigsten für Bahro selbst. Seit gut einem Jahr kursierte seine „Kritik des real existierenden Sozialismus“ schon im östlichen Teil Berlins, „bei bestimmten kleineren Freundesgruppen, nicht den bekanntesten“5 wie Rudi Dutschke wusste. Der frühere DDRDissident war bei den Oppositionellen auf der anderen Seite der Mauer noch immer ein geschätzter Mann. Wie zur Bestätigung war er Ende 1976 darum gebeten worden, die Einleitung für »Die Alternative« zu schreiben. Der Haken an der Sache: Er durfte den Namen des Autors nicht erfahren. Auftraggeber war die Europäische Verlagsanstalt, die Bahros Manuskript angenommen hatte. Aus Bedenken, es könn2
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BERGER, Rolf: Rede zur Eröffnung des Bahro-Kongresses. In: MÄNICKE-GYÖNGYÖSI, Kristina/STEINKE, Rudolf u. a. (Hg.): Der Bahro-Kongreß. Aufzeichnungen, Berichte und Referate. Dokumentation des Bahro-Kongresses vom 16.-19. November 1978 in der Technischen Universität Berlin. Berlin 1979, S. 7-10, hier: S. 8. Stichwort „Sonthofen“: Auf einer Tagung der CSU-Landesgruppe in Sonthofen am 18./19.11.1974 äußerte Franz Josef Strauß zu politisch Andersdenkenden: „[…] ich [möchte] wissen, wie viele Sympathisanten der BaaderMeinhof-Verbrecher in der SPD- und FDP-Fraktion in Bonn drinsitzen. Es ist ein ganzer Haufen. […] Und zwischen kriminellen und politischen Gangstern ist nicht der geringste Unterschied, sie sind alle miteinander Verbrecher. Und wenn wir hinkommen und räumen so auf, daß bis zum Rest dieses Jahrhunderts von diesen Banditen keiner es mehr wagt, in Deutschland das Maul aufzumachen. Selbst wenn wir es nicht ganz halten können. Aber den Eindruck müssen wir verkörpern.“ Zit. nach: ENGELMANN, Bernt: Das neue Schwarzbuch: Franz Josef Strauß. 5. Auflage. Köln 1980, S. 182f. BAHRO, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Köln 1977. o. A.: ‚Das trifft den Parteiapparat ins Herz‘. In: Der Spiegel (Nr. 35, 22.08.1977). DUTSCHKE, Rudi: ‚… und geistig Dir nicht den Rücken brechen läßt‘. An Nico Hübner. In: SCHWENGER, Hannes (Hg.): Solidarität mit Rudolf Bahro. Briefe in die DDR. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 86-99, hier: S. 89. Die Ostberliner Fassung des Buches soll laut Bahro den Tarntitel »Berlin, Hauptstadt der DDR, 1976« getragen haben. Vgl. SAGER, Dirk: Interview in ‚Kennzeichen D‘ am 23. August 1977. In: BAHRO, Rudolf (Hg.): ‚Ich werde meinen Weg fortsetzen‘. Eine Dokumentation. 2. erweiterte Auflage. Köln/Frankfurt a. M. 1979, S. 90-94, hier: S. 90.
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te sich um eine „Stasi-Sauerei“6 handeln, lehnte Dutschke ab. Also erschien das Buch ohne Einleitung und nur in Bahros Namen, was den Nebeneffekt hatte, dass in der DDR niemand behaupten konnte, es handele sich bei der Abrechnung mit dem SED-Regime um eine vom Westen aus gelenkte Propagandaaktion. Tatsächlich entsprang die Abrechnung geradezu aus der Mitte des SED-Staats: Rudolf Bahro, damals 41-jährig, war seit 23 Jahren Parteimitglied, „aus tiefster Überzeugung Marxist und Kommunist“7, einst Philosophiestudent, später Redakteur verschiedener Zeitschriften, schließlich Abteilungsleiter für wissenschaftliche Arbeitsorganisation beim Volkseigenen Betrieb (VEB) Gummikombinat Berlin, wo er die Funktion eines Parteiorganisators bekleidete. Kurzum: „[E]in Mann, der aus dem System heraus über das System urteilt.“8 Einen Tag nach dem »Spiegel«-Interview wurde Rudolf Bahro verhaftet.9 Drei Beamte des MfS klingelten an der Tür seiner Wohnung in Berlin-Weißensee. Sie sagten, es liege eine Beschuldigung gegen ihn vor, er solle sie begleiten. Mit einem dezenten Dienstwagen fuhren sie zur Haftanstalt I Berlin-Hohenschönhausen. Dort übernahmen andere Beamte und führten Bahro an den Gefängniszellen vorbei zu einem Verhörraum. Noch am selben Abend begann eine Serie von insgesamt neunzig Befragungen, die mehrere Monate andauerte. Weniger Zeit ließ man sich bei der SED: Noch am 24. August erfolgte Bahros Parteiausschluss. In der DDR-Presse war am nächsten Tag von der Verhaftung eines „Spions des Geheimdienstes der BRD“10 zu lesen. Mit der Ausbürgerung des Schriftstellers Wolf Biermann, den Zwangsmaßnahmen gegen den Chemiker Robert Havemann und der langjährigen Haftstrafe für den Schriftsteller Siegmar Faust hatte die DDR-Justiz längst klargestellt, dass sie ihr Vorgehen gegen Oppositionelle verschärfte. Vom „kontrollierte[n] Frühling“11, der sich Anfang der Siebziger Jahre in einer großzügigen Amnestie politischer Gefangener geäußert hatte, konnte seit 1976 keine Rede mehr sein. Allein im Zusammenhang mit Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung waren unter anderem die Pädagogin Heike Waterkotte, die Musiker Gerulf Pannach und Christian Kunert sowie der Schriftsteller Jürgen Fuchs vom Staatssicherheitsdienst der DDR verhaftet worden. Was diesen politischen Gefangenen zum Teil zugute kam, war ein „Freikauf“-Abkommen zwischen beiden deutschen Staaten, das es in vielen Fällen ermöglichte, die Haftzeit zu verkürzen beziehungsweise „wenigstens an ihrem Ende legal ‚in den Westen‘ […] abgeschoben zu werden.“12 Jörg Drieselmann, heute Geschäftsführer der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße, profitierte 1976 davon. Wegen einer Flugblattaktion zu über vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, durfte der gebürtige Erfurter nach halber Haftzeit aus der DDR ausreisen: „Dass sich bundesdeutsche Institutionen an dieser Art von Menschenhandel betei-
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DUTSCHKE, Rudi: ‚… und geistig Dir nicht den Rücken brechen läßt‘, S. 90. BAHRO, Rudolf (Hg.): ‚Ich werde meinen Weg fortsetzen‘, S. 91. o. A.: ‚Das trifft den Parteiapparat ins Herz‘. Eine genauere Schilderung der Verhaftung liefern: HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro. Glaube an das Veränderbare. Berlin 2002, S. 190-192. 10 o. A.: Weiterer Spion des Geheimdienstes der BRD verhaftet. In: Neues Deutschland (25.08.1977). 11 LOLLAND, Jörg/RÖDIGER, Frank S. (Hg.): Gesicht zur Wand! Berichte und Protokolle politischer Häftlinge der DDR. Stuttgart 1977, S. 10. 12 Ebd., S. 21.
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ligt haben, ist dankenswert“13, bekundete Drieselmann unlängst in einem Fernsehinterview. Freigekommene wie er erlebten Ende der Siebziger Jahre immer wieder Momente bescheidenen öffentlichen Interesses. So führten etwa die linken Blätter »Was tun?« und »Der Lange Marsch« eine Reihe von Interviews, unter anderem mit Marian Kirstein, Bernd Markowsky und Michael Sallmann.14 Diese eher unbekannten DDR-Oppositionellen setzten ihr politisches oder kulturelles Engagement zwar nicht in jedem Falle fort. Mit ihren Stellungnahmen zum Alltag in der DDR trugen sie jedoch dazu bei, dass sich in der Bundesrepublik immer mehr Menschen für Oppositionelle und Dissidenten jenseits der Mauer interessierten. Erst auf Basis dieses wachsenden Interesses konnten wirksame Solidaritätskampagnen für politische Gefangene in der DDR entstehen, die es erleichterten, nach und nach weitere Gefangene freizubekommen. 1.2 Das Engagement bundesdeutscher Linker gegen Repression in der DDR anhand früherer Beispiele Weshalb sich dieses grenzübergreifende Engagement nicht zu einem größeren Protestphänomen entwickelte oder gar zu einer sozialen Bewegung aufschwang, ist eine Frage, die sich mit Blick auf eine gesamtdeutsche Geschichtsschreibung unbedingt stellt. Im Idealfall kann die Beschäftigung mit dem Fall Bahro zum besseren Verständnis der Situation beitragen, in der sich bundesdeutsche Aktivisten und Initiativen befanden. Wie der folgende Abschnitt zeigen soll, stand und fiel ihr Engagement von Anfang an mit Einzelschicksalen, denen in den Medien der Bundesrepublik eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Eine Verbreiterung des Engagements hin zu einem dauerhaften Protest gegen Repression in der DDR blieb dagegen eine Sache für Einzelkämpfer. 1.2.1 Der Fall Brandt Doch der Reihe nach: Wenige Wochen vor dem Bau der Berliner Mauer erregte ein Entführungsfall großes Aufsehen. Der Gewerkschaftsjournalist Heinz Brandt war am 16. Juni 1961 nach Westberlin geflogen, wo er am Abend seinen guten Freund, den Politologen Ossip K. Flechtheim treffen wollte. Zuvor kam er einer Verabredung mit einer Bekannten nach, mit der er aus beruflichen Gründen in Kontakt stand. Er suchte sie in ihrer Wohnung auf, wurde freundlich empfangen und ließ sich ein Glas Whiskey einschenken.15 Später, auf dem Weg zu Flechtheim, verlor Brandt plötzlich sein Bewusstsein. Zunächst ahnungslos darüber, was mit ihm vorgegangen war, wachte er in der Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen auf, als „persönlicher Gefangener“ von Walter Ulbricht.16
13 Meine Geschichte – Häftling der Stasi. 6-teilige Sendereihe. R: ENGERT, Jürgen (Erstausstrahlung: 11.07.2008, Phoenix). 14 Eine Sammlung solcher Interviews enthält: ISP-Verlag (Hg.): DDR: Diktatur der Bürokratie oder ‚die Alternative‘? Berlin 1978, S. 51-72. 15 Es ist auch von einem Rendezvous die Rede, vgl. o. A.: Brandt-Entführung: Asts abgesägt. In: Der Spiegel (10.06. 1964). 16 Vgl. MIHR, Anja: Die internationalen Bemühungen von Amnesty International im Fall Heinz Brandt. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung (Bd. 37, 2001), S. 449-464, hier: S. 462.
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Was war geschehen? Brandts Bekannte arbeitete für den Staatssicherheitsdienst der DDR. Wie viele andere Inoffizielle Mitarbeiter im „speziellen Westeinsatz“, so die offizielle Bezeichnung, war sie zur Spionagebekämpfung angeworben worden. Das MfS verfolgte speziell in den Fünfziger und Sechziger Jahren über die Grenzen der DDR hinaus Personen, die sich entweder durch ihre Flucht aus der DDR, durch ihr Engagement in einer antikommunistischen Organisation oder durch die Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten als politische Gegner des SED-Regimes hervor taten.17 Um sie auszuschalten, ließ das MfS so genannte „Verschleppungen“ durchführen. Wie die Zeithistorikerin Susanne Muhle herausfand, benötigte das MfS dazu meist „eine Kontaktperson im Umfeld des Entführungsopfers, die dessen Vertrauen besaß, um eine Gelegenheit für das Verabreichen des Betäubungsmittels zu schaffen.“18 Heinz Brandt war ins Visier des MfS geraten, als er 1958 aus der DDR nach Westberlin floh. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits alle denkbaren Höhen und Tiefen des Lebens hinter sich gebracht: Geboren 1909 in Posen, hatte sich Brandt, nach dem sozialen Abstieg seiner jüdischen Intellektuellenfamilie, 1926 in Berlin der kommunistischen Bewegung angeschlossen. Mittellos und nach dem abgebrochenen Studium ohne feste Erwerbstätigkeit, war er 1931 in die Kommunistische Partei eingetreten, auf deren unterer Organisationsebene er drei Jahre lang arbeitete. 1934 wurde Brandt wegen seiner illegalen Mitarbeit bei der parteieigenen Betriebszeitung verhaftet. Kurze Zeit danach kam er frei, um schließlich wegen Hochverrats beschuldigt und verurteilt zu werden. Nach sechs Jahren im Zuchthaus verbrachte man ihn in das Konzentrationslager Sachsenhausen, später nach Auschwitz, schließlich nach Buchenwald. Brandt überlebte. Nach Kriegsende fand er rasch zurück zur Kommunistischen Partei, weil er „den welthistorischen Fortschritt des Sozialismus als prinzipielle Alternative zum Kapitalismus sah“19. In ihrer Nachfolgepartei SED gelang ihm ein ansehnlicher Aufstieg vom Abteilungsleiter für Propaganda und Werbung bis zum Sekretär der Berliner Partei-Landesleitung. Doch seine Karriere endete abrupt. Brandt gehörte zu jenen Genossen, die nach dem 17. Juni 1953 als „unsichere Kantonisten“ galten.20 Er verlor sein Amt und wurde im Jahr darauf auf Grund einer Parteistrafe aller Funktionen entbunden. Der neue Posten als kommissarischer Chefredakteur für die Metaller-Zeitungen im Verlag Die Wirtschaft tröstete ihn wenig. Brandt fühlte sich vom MfS verfolgt. Schon bald hegte er Fluchtgedanken und frischte alte Kontakte zu Personen auf, die mittlerweile in der Bundesrepublik lebten. Daraus entstand schließlich seine opposi-
17 Vgl. MUHLE, Susanne: Auftrag: Menschenraub. Das MfS und seine inoffiziellen Mitarbeiter im ‚speziellen Westeinsatz‘. Projektvorstellung im Rahmen des Stipendienprogramms der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Ohne Datum. Siehe: http://www.stiftungaufarbeitung.de/downloads/pdf/stip2007/Muhle.pdf (Stand: 06.11.2011). Zum Thema liegt als Veröffentlichung vor: MUHLE, Susanne: Mit ‚Blitz‘ und ‚Donner‘ gegen den Klassenfeind. Kriminelle im speziellen Westeinsatz des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Dies./RICHTER, Hedwig/SCHÜTTERLE, Juliane (Hg.): Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch. Berlin 2008, S. 159-168. 18 MUHLE, Susanne: Auftrag: Menschenraub, S. 2. 19 ANDRESEN, Knud: ‚Verräter an der Partei?‘ Heinz Brandt und das Ostbüro der SPD 1956 bis 1958. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung (Bd. 39, 2004), S. 505-524, hier: S. 507. 20 FLECHTHEIM, Ossip K.: Ein Leben für den Dritten Weg. In: Gewerkschaftliche Monatshefte (Nr. 7, 1967), S. 426-428, hier: S. 428.
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tionelle Tätigkeit für das in der DDR als „Agentenzentrale“21 verfemte Ostbüro der SPD. Hier wirkte Brandt vor allem bei Versuchen mit, in der DDR eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Mit seiner baldigen Verhaftung rechnend, setzte er sich 1958 nach Westberlin ab. In Frankfurt gewährte ihm Kuno Brandel, damals Chefredakteur bei der Gewerkschaftszeitung »Metall«, eine Stelle als Redakteur. Während Brandt diese Chance nutzte und sich so leidenschaftlich mit den gewerkschaftlichen Themen auseinandersetzte, dass er sich nach einiger Zeit mit Brandel und IG-Metall-Historiker Siggi Neumann zerstritt, arbeitete das MfS weiter an seinem Fall. Nach seiner Entführung und Inhaftierung behaupteten die offiziellen Stellen in der DDR, dass Brandt als Spion des westlichen Geheimdienstes in Potsdam verhaftet worden sei. Nun stünde ihm, „als Bürger der DDR“22, ein Prozess bevor. Die IG Metall reagierte auf diese Nachricht, indem sie die Industriegewerkschaft Metall, den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) sowie internationale Gewerkschaftsverbände informierte, um gegen das Vorgehen der DDR-Justizbehörden einen breiten Protest zu mobilisieren. Außerdem schaltete sie in Verbindung mit Brandts Familie den Essener Anwalt Diether Posser und die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) in London ein. Wie die Politologin Anja Mihr berichtet, habe Posser als einer der wenigen bundesdeutschen Anwälte noch eine Zulassung für die DDR besessen.23 Auf dieser relativ breiten Basis entstand innerhalb weniger Tage ein spürbarer internationaler Proteststurm mit dem namentlich der Kirchenpräsident der Bundesrepublik, Martin Niemöller, der Schriftsteller Eugen Kogon, die Vorsitzende der britischen Labour Party, Barbara Castle sowie Erich Fromm, als Freund der Familie Brandt, verbunden waren. „Die Stärke der Kampagne“, so der Historiker Knud Andresen, „erwuchs aus der linkssozialistischen Orientierung Brandts“ und dem „Netzwerk von persönlichen und politischen Freunden, das durch die Emigration der dreißiger Jahre in die ganze Welt gespannt war.“24 Zudem habe die IG Metall in ihrer Rolle als Urheber der Kampagne ein für alle Mal die diffus im öffentlichen Raum schwebende Unterstellung widerlegen wollen, sie sei ein Kommunistenhort. Ungeachtet dessen wurde Brandt im Mai 1962 vor dem Obersten Gericht der DDR wegen Spionage zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilt und in die Strafvollzugsanstalt Bautzen II verbracht.25 Neben dem Strafmaß sorgte auch die Nichtzulassung Diether Possers zur Verteidigung seines Mandanten für Empörung. In der Folge schlossen sich die britische „Kampagne für nukleare Abrüstung“ (CND) einschließlich der Bertrand Russell Peace Foundation (RF) der Freilassungskampagne an. Bertrand Russell selbst setzte sich für Brandt ein, indem er Walter Ulbricht in Briefen zur Freilassung des Gefangenen aufforderte.26 Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, gab er die Carl-von-Ossietzky-Friedensmedaille zurück, mit der
21 Ebd., S. 523. 22 Vgl. o. A.: Zu spät. In: Der Spiegel (24.06.1964). 23 MIHR, Anja: Die internationalen Bemühungen von Amnesty International im Fall Heinz Brandt, S. 450. 24 ANDRESEN, Knud: Heinz Brandt – ein streitbarer Intellektueller und die IG Metall. In: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen (Nr. 35, 2006), S. 121-135, hier: S. 126. 25 Zur Geschichte der Anstalt, vgl. HATTIG, Susanne/KLEWIN, Silke u. a. (Hg.): Gefängnis Bautzen II 1956-1989. Katalog zur Ausstellung der Gedenkstätte Bautzen. Dresden 2008. 26 Vier davon sind abgedruckt in: SCHWENGER, Hannes (Hg.): Solidarität mit Rudolf Bahro, S. 78-81.
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er von der DDR-Regierung für seine Bemühungen um die friedliche Koexistenz zwischen Ost und West ausgezeichnet worden war. Der internationale Druck auf die DDR wuchs noch einmal im Herbst 1963, nachdem AI beschlossen hatte, Heinz Brandt zum Gefangenen des Jahres zu ernennen. Dieser Vorschlag war vor allem von den deutschen Mitbegründern der Organisation, den Journalisten Carola Stern und Gerd Ruge, unterstützt worden. Die Maßnahme der AI trug dem Fall Brandt noch einmal große öffentliche Aufmerksamkeit ein. Vor allem aus Ländern West- und Nordeuropas erreichte die Regierung der DDR nun ein Schwall von Protestbriefen. Dass es im Mai 1964 schließlich zur Freilassung Brandts kam, hätten laut Mihr „die vielseitigen Bemühungen im Westen, den Fall Brandt nicht aus der internationalen Öffentlichkeit verschwinden zu lassen“27 […], wie auch die drohende Entlarvung des Agenten bewirkt, den das MfS im Bundesgebiet auf Brandt angesetzt hatte. Durch die bundesdeutsche Presse geisterte das Gerücht, es habe sich dabei um den IG Metall-Funktionär Hans Beyerlein gehandelt. Der frühere Wegbegleiter Brandts in der Kommunistischen Partei hatte kurz vor dessen Freilassung seinen Posten gekündigt und war nach Österreich abgetaucht. 1.2.2 Der Fall Biermann Das klassische Beispiel für das bundesdeutsche Engagement gegen Repression in der DDR ist zweifelsohne der Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Sein Aufstieg „zum wichtigen Mittler und Scharnier zwischen jungen Intellektuellen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs“28, die Jahre seiner Unterdrückung durch Auftritts- und Publikationsverbot in der DDR wie auch die Folgen seiner Ausbürgerung wurden vielmals reflektiert und kommentiert.29 Ebenso haben sich bereits mehrere Autoren mit der Biermann-Solidarität in der Bundesrepublik befasst.30 Meist liegt der Fokus dabei auf der Rolle bundesdeutscher Intellektueller, insbesondere Heinrich Böll und Günter Wallraff, die sich Biermann in den ersten Tagen seiner „erzwungenen Ankunft im Westen“31 annahmen. Im Folgenden soll 27 MIHR, Anja: Die internationalen Bemühungen von Amnesty International im Fall Heinz Brandt, S. 463. 28 HÜRTER, Johannes: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Künstler und Intellektuelle zwischen den Stühlen. In: WENGST, Udo/WENTKER, Hermann (Hg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz. Berlin 2008, S. 283-306, hier: S. 284. 29 Als Überblicksdarstellung seien genannt: GRÜNBAUM, Robert: Wolf Biermann 1976: Die Ausbürgerung und ihre Folgen. Erfurt 2006; ROSELLINI, Jay: Wolf Biermann. München 1992. 30 BOULBOULLÉ, Carla: Solidaritätsbewegung mit Wolf Biermann in Ost- und West-Deutschland. In: ROOS, Peter (Hg.): Exil. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR. Eine Dokumentation. Köln 1977, S. 81-146. Boulboullé sammelte Protestnoten der SPD, Jusos, DGB-Gewerkschaften, der undogmatischen Linken, Künstlergruppen und unabhängiger westdeutscher Organisationen. Über konservative Stimmen zum Fall Biermann schrieb: ROOS, Peter: Über die Reaktion der Reaktion. Die Konservativen zum Fall Biermann. In: Ders. (Hg.): Exil. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns, S. 182-208. Nennenswert sind auch: BIERMANN, Wolf/PLEITGEN, Fritz F. (Hg.): Die Ausbürgerung. Anfang vom Ende der DDR. Berlin 2001; CHOTJEWITZ-HÄFNER, Renate (Hg.): Die Biermann-Ausbürgerung und die Schriftsteller. Ein deutsch-deutscher Fall. Protokoll der ersten Tagung der Geschichtskommission des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) in Berlin am 28.02. bis 01.03.1992. Köln 1994. 31 GRÜNBAUM, Robert: Wolf Biermann 1976, S. 25.
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daran angeknüpft, aber speziell auf eine Initiative eingegangen werden, die bisher im Hintergrund der verschiedenen Darstellungen blieb, obwohl sie maßgeblich zur Organisation des bundesdeutschen Protests gegen die Ausbürgerung beitrug: das „Komitee zur Verteidigung und Verwirklichung der demokratischen Rechte in Ost und West – in ganz Deutschland“. Schon den berühmten Auftritt des Dichters und Liedermachers am 13. November 1976, vor sechstausend Zuschauern in Köln und vor Millionen Zuschauern an den Fernsehbildschirmen, hatte das Komitee mit in die Wege geleitet. Getragen von Professoren der Bochumer Ruhr-Universität, unter anderem dem christlichen Sozialethiker Günter Brakelmann, dem Naturwissenschaftler und Philosophen Günter Ewald, dem Germanisten Uwe-K. Ketelsen und der Geisteswissenschaftlerin Carla Boulboullé, war die Initiative zum ersten Mal im Mai 1976 in Erscheinung getreten, als sie einen Aufruf veröffentlichte. Seine Botschaft lautete: „Meinungsfreiheit – Freiheit der Reise für Wolf Biermann.“32 Antrieb war die Idee, den Künstler zu einem Auftritt in die Bundesrepublik einzuladen, obwohl er in der DDR unter einem strengen Auftrittsverbot stand. Im Juni 1976 griff die IG Metall die Bochumer Initiative auf und verfasste ihrerseits eine Einladung an Biermann. Sie bot ihm an, im Rahmen ihres traditionellen Jugendmonats einige Konzerte zu geben. Doch die Aussichten standen schlecht: Schon 1974 hätte Biermann in Köln den Jacques-Offenbach-Preis entgegen nehmen sollen, aber die Reise war ihm nicht genehmigt worden. Ein Jahr darauf erhielt er eine Einladung zu einem Auftritt während des Anti-Franco-Kongresses in Offenbach. Diesmal hatten ihm die DDR-Behörden zunächst eine Reisegenehmigung erteilt – mit der Absicht, den unliebsamen Liedermacher auszubürgern –,33 doch nach kurzer Zeit einen Rückzieher gemacht. 2001 schrieb Biermann dazu: „Die Oberen hatten gehofft, dass ich mit meinen normalen DDR-Liedern in den Westen fahre und ausgerechnet auf dem antifaschistischen Spanien-Kongress anti-stalinistische Spottgesänge gegen den roten Drachen in Ost-Berlin grölen werde. Das wäre dann ein idealer Anlass gewesen, mich – wie auch immer – zu ächten. Alle Linken im Westen, auch die Freunde im Osten hätten beschämt zugeben müssen, dass es nicht grade taktvoll und tapfer ist, ja sogar eine Infamie, den westdeutschen Friedensfreunden und Kämpfern gegen den spanischen Faschismus in den Rücken zu fallen mit meinem familiären DDR-Streit.“
Über die Abhörgeräte in seiner Wohnung hatte das MfS aber erfahren, dass Biermann in Offenbach gar keine DDR-kritischen Lieder singen wollte, sondern ein „lupenreines Anti-Franco-Liederprogramm auf der Pfanne“ hatte: „Für solch einen sauberen Antifa-Auftritt hätten sie mich“, so Biermann, „schon aus ideologischen Zweckmäßigkeitsgründen, nicht […] maßregeln können, sondern im Gegenteil: Ich
32 Komitee zur Verteidigung und Verwirklichung der demokratischen Rechte in Ost und West – in ganz Deutschland (Hg.): Wolf Biermann – ein deutscher Fall. Eine Dokumentation des Kampfes für die Freiheit der Meinung, Freiheit der Reise für Wolf Biermann. Bochum 1977, S. 18-22. Vgl. auch: Dass.: Aufruf. Meinungsfreiheit – Freiheit der Reise für Wolf Biermann. In: Europäische Ideen (Sonderheft, 1977), S. 1-4. 33 Vgl. GRÜNBAUM, Robert: Wolf Biermann 1976, S. 17. Grünbaum schreibt, mit Rücksicht auf Aktenfunde der BStU, dass erstmals 1971 „von Mielkes Geheimdienst der konkrete Plan entwickelt [wurde], Biermann bei einer beabsichtigten Reise nach Göteborg ‚nach erfolgter Ausreise die Staatsbürgerschaft der DDR abzuerkennen und eine Rückkehr in die DDR zu unterbinden‘.“
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wäre frech und frisch, mit antifranquistischem Ritterschlag geadelt, zurückgekommen nach Ost-Berlin […].“34 Die Einladungen des Bochumer Komitees und der IG Metall boten der SEDFührung eine neue Gelegenheit, Biermann loszuwerden. Während in seinem persönlichen Umfeld die möglichen Gefahren einer Reise diskutiert wurden,35 ahnten seine Anhänger und Unterstützer jenseits der Mauer nichts. Der Aufruf „Meinungsfreiheit – Freiheit der Reise für Wolf Biermann“ brachte eine wahre Solidaritätskampagne ins Rollen, die von ihren Initiatoren auch als Beitrag zur „Verteidigung der demokratischen Rechte in Ost- und Westdeutschland, für die Verwirklichung der Freizügigkeit, die Freiheit der politischen Meinung und des Berufs in ganz Deutschland“36 charakterisiert wurde. Sie betrachteten Biermann nicht nur als Symbolfigur für die Repression in der DDR, sondern auch als prominentes Opfer eines Berufsverbots, dem sich der Künstler, „Kämpfer […] gegen politische Unterdrückung in ganz Deutschland“, seit zwölf Jahren unermüdlich widersetze. Insofern wurde Biermann auch für all jene zum Vorbild stilisiert, die sich gegen die „Praxis der Berufsverbote und […] die Beschneidung der Meinungsfreiheit und der politischen und gewerkschaftlichen Tätigkeit in der BRD“37 einsetzten. Diese Sichtweise zog ihre Berechtigung aus einer Aussage Biermanns in einem Interview mit dem »Spiegel« 1974. Auf die Frage, ob er es für gerechtfertigt halte, „gegen die Berufsverbote im Westen zu kämpfen“, hatte der Künstler geantwortet: „Das ist nicht nur gerechtfertigt, das ist notwendig.“ Im gleichen Atemzug hatte er jedoch zu verstehen gegeben, dass die Berufsverbote in der DDR und anderen sozialistischen Staaten „nicht so harmlos wie im Westen“38 seien. Ungeachtet dieses Seitenhiebs, der sich vor allem gegen DDR-unkritische Linke in der Bundesrepublik richtete, erzielte der Aufruf „Meinungsfreiheit – Freiheit der Reise für Wolf Biermann“ große Wirkung. Bis zum September 1976 fand er mehr als zehntausend Unterzeichner, darunter viele SPD-Bundespolitiker wie Egon Bahr, Peter Conradi, Horst Ehmke, Helmut Esters, Dieter Lattmann, Karl Liedtke, Dietrich Sperling, Karl-Heinz Walkhoff und Werner Zeitler, Führungskräfte der Jusos, Vertreter von Studentenvereinigungen, Wissenschaftler, Gewerkschafter wie auch einstige Unterstützer der Freilassungskampagne für Heinz Brandt, in Form der Organisation Amnesty International und namentlich Heinrich Bölls und Carola Sterns – nicht zu vergessen: Heinz Brandt selbst. Unterstützt wurde das Bochumer Komitee bei der Unterschriftensammlung von Initiativen aus Westberlin, Duisburg und Münster, denen viele SPD-Mitglieder angehörten. Während jedoch eine Gruppe von Westberliner Sozialdemokraten generell gegen die „Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Freiheit des Berufs und der Reise“39 eintrat, blendete die Duisburger SPD die gesamtdeutsche Orientierung der Bochumer Kampagne dezent aus und
34 BIERMANN, Wolf: Die Ausbürgerung. In: Der Spiegel (12.11.2001). 35 Vgl. SCHEER, Udo: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. Berlin 1999, S. 139. 36 Komitee zur Verteidigung und Verwirklichung der demokratischen Rechte in Ost und West – in ganz Deutschland (Hg.): Wolf Biermann – ein deutscher Fall, S. 22. 37 Ebd., S. 7. 38 o. A.: ‚Berufsverbote auch in der DDR‘. In: Der Spiegel (15.04.1974). 39 Komitee zur Verteidigung und Verwirklichung der demokratischen Rechte in Ost und West – in ganz Deutschland (Hg.): Wolf Biermann – ein deutscher Fall, S. 36.
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erklärte sich nur mit den Forderungen, die an die Regierung der DDR gerichtet waren, einverstanden.40 Wie der Schriftstellerverband der DDR mit der Kampagne umging, lässt ein Kommentar von Gerhard Bengsch auf einer internen Versammlung der SEDSchriftsteller erahnen: „In diesem Bochumer Aufruf erklären sich die Unterzeichner für das wörtlich – ‚grundlegende Recht aller Menschen auf die Freiheit der politischen Meinung‘. Das ist für mich eine ganz einfache kleinbürgerliche Position […], eine völlig klassenindifferente Position zu sagen: ‚Alle Menschen können alles sagen!‘“41 Bengsch redete damit der von der DDR-Führung vertretenen Linie das Wort, wonach der westliche respektive „bürgerliche“ Menschenrechtsbegriff abzulehnen sei. Dieser betone einseitig individuelle politische Rechte, während im Sozialismus und Kommunismus soziale, kulturelle und wirtschaftliche Menschenrechte entfaltet und gewährleistet seien. Wie der frühere DDR-Oppositionelle Reinhard Weißhuhn in einem Beitrag für das »Jahrbuch Menschenrechte« ausführt,42 habe die DDR-Führung ihr marxistisch-leninistisches Gesellschaftssystem als frei von Armut und Arbeitslosigkeit und zugleich als Garant für soziale Sicherheit betrachtet. Das Recht eines jeden auf Arbeit und Wohnung war in der Verfassung verankert und galt wie viele andere soziale Menschenrechte als verwirklicht. Daraus habe die DDR-Führung die Auffassung abgeleitet, dass der Schutz dieser Errungenschaften eine „gesellschaftliche Notwendigkeit“ sei und damit wichtiger als die Achtung politischer Rechte Einzelner. Zur Wahrung der Inneren Sicherheit und Abwehr von Verfassungsfeinden fühlte sich die DDR-Führung deshalb auch legitimiert, jedes geeignete Mittel einzusetzen. Diese Art der Selbstverteidigung billigte sie nicht nur sich selbst zu, sondern sah sie als „Recht jedes Staates“43 an. Wer das Vorgehen kritisierte, mischte sich aus Sicht der SED in die inneren Angelegenheiten der DDR ein und griff widerrechtlich ihre staatliche Souveränität an. Am 29. Oktober 1976 stand fest, dass der Bochumer Kampagne Erfolg beschieden war: Die DDR-Behörden hatten Biermann genehmigt, zwischen dem 10. und 30. November die Bundesrepublik zu besuchen und dort öffentlich aufzutreten. In ihrer Dankeserklärung an alle Unterzeichner betonten die Mitinitiatoren Ewald und Brakelmann, dass ihre Initiative „Bestandteil des Kampfes gegen alle Fälle und Formen politischer Unterdrückung wie auch der Verteidigung demokratischer Rechte und Freiheiten in ganz Deutschland“44 sei. In diesem Sinne wurde Biermann auch als „Propagandist eines anderen Weges zum Kommunismus“ und „Idealtyp eines gesellschaftskritischen Schriftstellers“45 für alle Deutschen begrüßt. Am 16. November 1976, drei Tage nach der Sternstunde in Köln und mitten in den Vorbereitungen seines Konzertes in Bochum, musste Biermann erfahren, mit welchen Folgen die Reise für ihn verbunden war: Die DDR-Behörden hatten ihm seine Staatsbürgerschaft entzogen. Er durfte nicht mehr in seine Heimat zurück. Die
40 Ebd., S. 37. 41 Protokoll der Fortsetzung der Parteiversammlung des Berliner Schriftstellerverbandes vom 26.11.1976. In: BERBIG, Roland u. a. (Hg.): In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Berlin 1994, S. 95-198, hier: S. 99. 42 WEIßHUHN, Reinhard: Menschenrechte in der DDR. In: Jahrbuch der Menschenrechte (Nr. 1, 1999), S. 247-260. 43 WEIßHUHN, Reinhard: Menschenrechte in der DDR. In: AI-Journal (Nr. 6, 1997). 44 o. A.: Erfolg der Initiative: Biermann erhält Visum zum Besuch in Bochum. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (29.10.1976). 45 HÜRTER, Johannes: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns, S. 302 u. 305.
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Meldung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Biermann reagierte sichtlich geschockt und sagte das Konzert ab. Das Bochumer Komitee nahm unmittelbar eine neue Kampagne auf: den „Kampf für die freie Rückreise für Wolf Biermann“46. Schon am 22. November hatte man gemeinsam mit bundesdeutschen Intellektuellen eine Erklärung formuliert, in der man die Regierung der DDR aufforderte, ihren Beschluss zu überdenken. Vorbild dieser Solidaritätsaktion war der Offene Protestbrief von dreizehn namhaften Schriftstellern der DDR, dem sich einhundert weitere Künstler aller Sparten anschlossen.47 Auch wenn sich rasch abzeichnete, dass der neuerlichen Kampagne kein Erfolg beschieden sein konnte, und Biermann seinen „Kinderglauben“48 aufgeben musste, in die DDR zurückkehren zu dürfen, blieb das Bochumer Komitee über das Jahr 1976 hinaus bestehen. Das MfS überwachte seine Tätigkeiten genau und registrierte, dass einzelne Komiteemitglieder versuchten, Kontakte zu DDR-Bürgern zu knüpfen, „mit der Zielstellung, diese gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR aufzuwiegeln.“ Das Komitee werfe der SED-Führung „Missachtung der Menschenrechte sowie Unterdrückung der Freiheit im sozialistischen Lager und der Rechte der Arbeiterklasse“49 vor. Es gehörte zu einer Reihe von „feindlichen Organisationen und Gruppierungen“50, die das MfS als Gefahr für das internationale Ansehen der DDR, aber auch als Initiatoren „konterrevolutionärer Bestrebungen“ – so die häufig gebrauchte Formel – in der Bevölkerung der DDR ausgemacht hatte. Wie perfide die Repression in der DDR zu diesem Zeitpunkt war, lässt sich sehr gut an dem Umstand erkennen, dass die Kampagne „Meinungsfreiheit – Freiheit der Reise für Wolf Biermann“ durch ihr wirksames Auftreten praktisch eine neue Kampagne notwendig gemacht hatte: „Aufhebung aller Repressionsmaßnahmen gegen die Familie und Freunde von Wolf Biermann und Robert Havemann und alle, die sich mit ihnen solidarisieren!“51 lautete nun die Forderung des Bochumer Komitees. Am 2. Januar 1977 setzte es sich auf einem Treffen mit weiteren Initiativen zum Ziel, in Zukunft „die ständige Information über die Situation Robert Havemanns und aller anderen Bürger der DDR, die von politischen Repressionen betroffen sind“52 sicherzustellen.
46 Komitee zur Verteidigung und Verwirklichung der demokratischen Rechte in Ost und West – in ganz Deutschland (Hg.): Wolf Biermann – ein deutscher Fall, S. 87. 47 Vgl. Protesterklärung mit der Liste der Unterzeichner vom 17.11.1976. In: BERBIG, Roland u. a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 70f. 48 So Biermann in seiner Erklärung auf einer Pressekonferenz am 10.12.1976 in Westberlin. Zum genauen Wortlaut, vgl. BStU MfS-HA XX/AKG Nr. 5522, S. 19. 49 BStU MfS-HA XX Nr. 223, S. 272. 50 Ebd., S. 260. 51 BOULBOULLÉ, Carla: Solidaritätsbewegung mit Wolf Biermann in Ost- und West-Deutschland, S. 144. 52 Ebd. 1978 führte das Vorhaben zur Gründung der Initiative „Es gilt das Leben Robert Havemanns zu retten“, die vor allem von SPD- und Gewerkschaftsmitgliedern getragen wurde. Diese planten: Delegierte zur ständigen Vertretung der DDR in Bonn zu entsenden; Appelle an SPD, DGB und Prominente zu richten, die sich für Havemann einsetzten; im Kampf gegen die Haftbedingungen von politischen Gefangenen in der DDR Briefe und Protesttelegramme zu versenden; die Kooperation mit anderen Gruppierungen zu suchen. Die Initiative forderte: Aufhebung der Repressalien gegen Havemann; Freilassung aller politischen Gefangenen in der DDR; Freiheit der Meinung, Freiheit der Reise und des Berufs in Deutschland. Vgl. BStU MfS-HA IX Nr. 1267, S. 28f.
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1.2.3 Das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ Als es nach den Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung in der DDR zu umfangreichen Verhaftungen von Regimekritikern kam – insbesondere in Jena, wo sich vorübergehend vierzig Personen in Haft befanden –, nahm ein weiteres bundesdeutsches Komitee seine Arbeit gegen die Repression in der DDR auf: Das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“. Wie der Schriftsteller Udo Scheer herausarbeitete,53 wurde es auf Initiative des Historikers Manfred Wilke, der Journalistin Margret Frosch und des Verbandes deutscher Schriftsteller (VdS) am 10. Dezember 1976 in Westberlin gegründet. Die „Schutzabsicht“, so der Wortlaut im ersten Informationsbrief, beziehe sich auf „Staatsbürgerschaftsrechte, freie Wahl des Aufenthalts, ungehinderte Publikation von Literatur“54. Das Komitee berief sich in diesem Anliegen auf die Beschlüsse von Helsinki 1975 und die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen. Außerdem sicherte es Betroffenen von Berufsverboten und ihren Angehörigen Unterstützung zu. Wie die beiden früheren Initiativen für Heinz Brandt und Wolf Biermann, ging das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ auf engagierte Gewerkschafter, Künstler, Intellektuelle mit vergleichbaren politischen Orientierungen zurück, verstand es sich als „ein Komitee der Linken“55. Was die Initiatoren bewegte und empörte, war „die Verfolgung von Sozialisten durch den real existierenden Sozialismus“, so der Mitbegründer Hannes Schwenger. „Erst dadurch gerieten wir in den Diskurs über Menschenrechte und Bürgerrechtsbewegung, den Bewegungen wie Charta ’77 und der Helsinki-Prozeß inspiriert hatten.“56 In seiner Funktion als Vorsitzender des VdS hatte Schwenger auf der ersten Pressekonferenz von Wolf Biermann, nach dessen Ausbürgerung am 10. Dezember 1976, die Gründung des Schutzkomitees bekannt gegeben. Presse und Öffentlichkeit sollten erfahren, dass sich das Komitee als direkte Reaktion auf die Verhaftungswelle in der DDR verstand. Jürgen Fuchs, einer der Schriftsteller, die den Offenen Protestbrief unterzeichnet hatten, wurde zum ersten Betreuungsfall des Komitees erklärt. Der Vertraute Biermanns saß seit 19. November in der MfS-Haftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen ein. Über den Fall Fuchs hinaus wollte sich das Komitee für „die vermeintlich nicht prominenten Fälle“, welche „mit aller Härte behandelt werden“, engagieren. Doch auch die Situation in der Bundesrepublik wurde nicht ausgeklammert. Schwenger erklärte dazu: „Mit dem, worum es hier geht, haben West-Berliner Schriftsteller ihre eigenen Erfahrungen: Mit Berufsverboten (Peter Schneider), mit politischer Zensur für inhaftierte Autoren (Peter Paul Zahl), mit der Unterdrückung politischer Literatur in Öffentlichen Institutionen (Yaak Karsunke).“ Das Komitee
53 Vgl. SCHEER, Udo: Vision und Wirklichkeit, S. 177f. Scheer liefert auf S. 177-191 einen ausführlichen, mit Zeitzeugeninterviews unterfütterten Beitrag zur Geschichte des Komitees. Wilke selbst nennt als Mitbegründer außerdem den Publizisten Jörg R. Mettke. Vgl. WILKE, Manfred: Freiheit und Sozialismus. In: Netzeitung.de (19./20.04.2002). Siehe: http://www. netzeitung.de/kultur/186648.html (Stand: 06.11.2011). 54 SCHWENGER, Hannes (Hg.): Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, Dokumenten, Briefen und im Zerrspiegel der MfS-Akten. Berlin 1995, S. 3. 55 Ebd., S. 1. 56 Ebd. Aus der Arbeit des Komitees ging unter anderem als Veröffentlichung hervor: PELIKAN, JiĜí/WILKE, Manfred (Hg.): Menschenrechte. Ein Jahrbuch zu Osteuropa. Reinbek b. Hamburg 1977. Mehr zur Charta ’77, siehe Kap. VI.3, S. 262, Fn. 97. Zum Helsinki-Prozess, siehe Kap. VI.3, S. 263, Fn. 99.
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wünsche sich deshalb, „eine gleiche Öffentlichkeit […] auch für die Gefährdung westdeutscher Bürger durch Berufsverbote und andere Repressalien“57 herzustellen. Schwenger und seinen Mitstreitern gelang es zwar umgehend, namhafte Unterstützer wie die Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und Heinrich Böll, den Rechtsanwalt Otto Schily, die Schauspielerinnen Marianne Koch und Romy Schneider sowie die Theologen Helmut Gollwitzer und Heinrich Albertz zu gewinnen.58 Das bedeutete aber nicht automatisch, dass ihnen in der bundesdeutschen Linken alle Türen offen standen. In Schwengers Quellensammlung sind einige ablehnende Stimmen zum Schutzkomitee dokumentiert. So der Brief des Vorsitzenden der IG Druck und Papier – jener Gewerkschaft, in der der VdS organisiert war – Leonhard Mahlein, der kritisierte, dass sich die Mitglieder des Schutzkomitees „nicht mit der gleichen Intensität“ gegen Vorgänge im eigenen Land zur Wehr gesetzt hätten, wie „die Berufsverbote bzw. den Radikalenerlaß, wo anscheinend kein Mensch zur Kenntnis nehmen will, welche negativen Auswirkungen diese Handhabung im Ausland über die demokratische Entwicklung in der Bundesrepublik zur Folge hat.“59 Auch die Reaktion des Schriftstellers Peter O. Chotjewitz ist erwähnenswert: Selbst lange Zeit ein Unterstützer der Initiativen für die Gefangenen aus der RAF, lehnte Chotjewitz ein Mitwirkung beim Schutzkomitee ab. Seine Begründung lautete, dass ihm „in letzter Zeit ein bißchen zuviel auf die DDR geschossen“ werde und das „ausgerechnet auch von Intellektuellen, die sich links nennen“. Nach Ansicht Chotjewitz‘ handelte das Schutzkomitee antisozialistisch und ginge einer rechten, DDR-feindlichen Propaganda „auf den Leim“. Der frühere Anwalt Andreas Baaders sprach sich dagegen für mehr Engagement im eigenen Land aus: „Wo ist das Komitee, das die Folter an politischen Gefangenen in der BRD untersucht und verurteilt, die Morde an Ulrike Meinhof, Holger Meins, Katharina Hammerschmidt, Siegfried Hausner, Tommy Weisbecker, Petra Schelm, Georg von Rauch etc.?“60 Dass das Schutzkomitee solche Rückschläge gut überstand, lässt sich in den betreffenden Akten des MfS nachverfolgen:61 Während das Komitee zunächst durch Veröffentlichung „wahrheitswidriger Angaben“, die „die Tätigkeit der Sicherheitsorgane der DDR diffamiert[en]“62, in Erscheinung getreten sei, hätten sich Komiteemitglieder im Laufe der Zeit erfolgreich darum bemüht, Verbindung zu „potentiellen Trägern der PiD [politisch-ideologischen Diversion, Anm. M. M.]“63 aufzunehmen. So bezeichnete das MfS all jene Personen, die es verdächtigte oder bezichtigte, den Sozialismus mit Hilfe westlicher Unterstützung von innen aufweichen und beseitigen zu wollen. „Die PiD-Theorie bot die Begründung, nahezu alle bundesdeutschen Gruppen oder Institutionen, die sich intensiver mit der DDR be57 SCHWENGER, Hannes: Warum ein Schutzkomitee? Stellungnahme auf der Pressekonferenz in Berlin am 10.12. 1976. In: Ders. (Hg.): Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, S. 7. 58 Vgl. o. A.: Biermann: Hoffnung auf Rückkehr in die DDR war sehr kindlich. In: Frankfurter Rundschau (08.12. 1976). 59 Brief von Leonhard Mahlein an Hannes Schwenger vom 23.12.1976. In: SCHWENGER, Hannes (Hg.): Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, S. 13. 60 Brief von Peter Otto Chotjewitz an Hannes Schwenger vom 19.12.1976. In: Ebd., S. 15. 61 Vgl. SCHWENGER, Hannes (Hg.): Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, S. 68-85. Auf diesen Seiten hat Schwenger Kopien von MfS-Akten veröffentlicht, darunter einen „Auskunftsbericht über das ‚Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus‘“. 62 BStU MfS-HA IX Nr. 943, S. 40. 63 BStU MfS-HA XX Nr. 223, S. 260; vgl. auch S. 192.
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schäftigten, aber auch zahlreiche Einzelpersonen nachrichtendienstlich auszuforschen“, verdeutlicht der Historiker Hubertus Knabe. Vielfach seien dabei auch solche Einrichtungen „als ‚feindlich‘ eingestuft worden, die sich für die DDR kaum interessierten oder ihr – wie eine Reihe von linksradikalen Organisationen – eher wohlwollend gegenüberstanden.“64 PiD lag im Falle des Schutzkomitees vor, weil seine Mitglieder die Angehörigen der Inhaftierten in der DDR aufsuchten und sie teilweise materiell und ideell betreuten. Dabei entstanden weitere Kontakte zu Künstlern, Intellektuellen und Mitgliedern kirchlicher Kreise. „Meine Haltung war immer: Wir tun nichts Illegales, wir tauschen kein Geld schwarz oder schmuggeln Flugschriften“65, so Schwenger 1996 in einem Interview. Das MfS ging jedoch davon aus, dass das Komitee speziell durch die Einschleusung verbotener Literatur zum Aufbau einer „politischen Plattform“ beitragen wollte, von der aus dann eine „innere Opposition“66 koordiniert werden konnte. Mitglieder des Komitees hätten zu diesem Zweck auch Kurierdienste übernommen, die den Informationsaustausch mit oppositionellen Gruppen in der Tschechoslowakei respektive der Volksrepublik Polen ermöglichten.67 „In der Frühphase gab es immer auch Überlegungen, soll man in der DDR so was wie Charta ’77 gründen. Ich habe mich damals sehr zurückgehalten und gesagt, ich möchte nicht unsere westlichen Positionen […] zu euch hereintragen“68, so Schwenger an anderer Stelle des Interviews. Für ihn sei der „Schutz für politische Gefangene“69 vorgegangen. Auch deshalb habe das Komitee um seine Aktivitäten „keine Geheimnis- oder gar Geheimdienstkrämerei“70 betrieben. In der Tat wurde einerseits offen darüber kommuniziert, mit welchen Vorhaben Informanten des Komitees in die DDR gingen und wann sie zurückkehrten – so enthält ein Sitzungsprotokoll des Komitees zur Jahreswende 1976/77 den Vermerk, dass Gedichte des inhaftierten Schriftstellers Wolfgang Hinkeldey aus Jena zur Veröffentlichung in die Bundesrepublik gebracht worden seien. Andererseits lag mit dem Buch »Gedächtnisprotokolle«71, das vor allem wegen der memorierten Gespräche Jürgen Fuchs’ mit der SED-Parteileitung und Vertretern des DDR-Staatsapparates Aufsehen erregte, schon im Februar 1977 ein gültiger Beleg für die Geschäftigkeit des Komitees vor. 64 KNABE, Hubertus: Die DDR-Opposition und ihre westdeutschen Unterstützer. In: VEEN, Hans-Joachim/MÄHLERT, Ulrich/MÄRZ, Peter (Hg.): Wechselwirkungen Ost-West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975-1989 (Schriftenreihe Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, Bd. 12). Köln u. a. 2007, S. 111-128, hier: S. 118. 65 SCHEER, Udo: Vision und Wirklichkeit, S. 183. 66 BStU MfS-HA XX/AKG Nr. 552, S. 258. 67 Vgl. BStU MfS-HA XX Nr. 223, S. 260 und BStU MfS-HA XX/AKG Nr. 552, S. 258. 68 SCHEER, Udo: Vision und Wirklichkeit, S. 181. Andere Mitglieder des Komitees erwarteten von den Schützlingen in der DDR mehr, sie sollten „von innen heraus das System verändern“. Im Gegenzug warfen die Komiteemitglieder mit ostdeutschen Wurzeln ihren Mitstreitern vor, sich nicht gut genug mit der Situation in der DDR auszukennen. In diesem Sinne habe im „Hintergrund des Komitees […] ein ordentlicher Schlagabtausch“ stattgefunden, erinnert sich Manfred Wilke. Vgl. SCHWENGER, Hannes/WILKE, Manfred: Die Arbeit des ‚Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus‘. In: Geschichtswerkstatt Jena (Hg.): Linke Opposition in der DDR und undogmatische Linke in der BRD. Tagungsdokumentation. Jena 1996, S. 91. 69 Ebd. 70 SCHWENGER, Hannes (Hg.): Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, S. 2. 71 FUCHS, Jürgen: Gedächtnisprotokolle. Mit Liedern von Gerulf Pannach und einem Vorwort von Wolf Biermann. Reinbek b. Hamburg 1977.
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Nach und nach erweiterte es auch seine internationalen Kontakte. Mitte 1977, nach halbjährigem Bestehen, verwies das Schutzkomitee in einer Pressemitteilung dankbar auf die Beteiligung weltweiter Organisationen wie der Schriftstellervereinigung PEN oder Amnesty International an dem Protest gegen die fortgesetzte Inhaftierung von „wenigstens 15 Personen“72, die nach der Biermann-Ausbürgerung festgenommen worden waren. Zugleich kündigte es an, die Unterstützerkomitees des 3. Russell-Tribunals über ihm bekannt gewordene Berufsverbotsfälle in der DDR zu informieren. In diesem Zusammenhang begrüßte das Komitee sein neues Mitglied Günther Anders, den österreichischen Schriftsteller, der bereits am 2. Russell-Tribunal teilgenommen hatte und damit ein Kandidat für die Jury des neuen Tribunals war. Obwohl die Bemühungen, eine „’größere Veranstaltung gegen Berufsverbote und politische Unterdrückung in beiden deutschen Staaten‘ zu organisieren“73 letztlich scheiterten, konnten Hannes Schwenger und seine Mitstreiter 1977 insgesamt als Erfolgsjahr verbuchen: „Nach Freilassung von 21 unserer ursprünglich 27 ‚Schützlinge‘“ sei das Komitee „fast schon am Ziel seiner Arbeit“ gewesen, hieß es in einer Zwischenbilanz vom Januar 1978. Doch auch neue Fälle waren hinzugekommen, etwa die Verhaftungen des Lektors und Journalisten Rolf Mainz, der in der »Zeit« einen Artikel über Berufsverbote in der DDR veröffentlicht hatte,74 und dessen Bruders Klaus Mainz, der einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Auch im Fall Bahro wurde das Schutzkomitee aktiv: Zum einen organisierte es internationale Pressekonferenzen unter dem Motto „Solidarität mit Bahro“. Zum anderen unterstützte es die Unterschriftensammlung für den Appell „Freiheit für Rudolf Bahro“. Hierbei konnten die Komiteemitglieder jeweils auf ihre internationalen Kontakte zu Amnesty International, zur Gesellschaft für Menschenrechte (GfM), zum PEN-Club London, zum französischen Biermann-Komitee, wie auch auf Kontakte zum Sozialistischen Büro, zur Europäischen Verlagsanstalt, zum Rowohlt-Verlag und zu den Gewerkschaftsredakteuren Jakob Moneta und Heinz Brandt zählen.75 1.3 »Die Alternative« Nur auf Grund des dauerhaften Tätigseins der beschriebenen Initiativen ist es zu erklären, dass nach Bahros Verhaftung umgehend eine bundesdeutsche Solidaritätskampagne startete. Innerhalb der linken Öffentlichkeit hatten sich Mechanismen ausgeprägt, die sich quasi reflexartig in Gang setzen konnten. Was zunächst wie ein Routinefall schien, sollte sich jedoch rasch von vorangegangenen Kampagnen unterscheiden. Der Fall Bahro entwickelte eine Eigendynamik bis hin zu einer unglaublich breiten internationalen Anteilnahme, deren Basis die Diskussion über »Die Alternative« war. Mit Blick auf die prekären Lebensumstände von Oppositionellen in der DDR stellt sich eine entscheidende Frage: Wie hatte das Buch unter den wachsamen Augen des MfS überhaupt entstehen können?
72 SCHWENGER, Hannes (Hg.): Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, S. 36. 73 Mitteilung der Presseagentur Associated Press (AP) vom 18.02.1977. In: BStU MfS-HA XX/AKG Nr. 552, S. 56. 74 o. A.: Genossen, kommt doch zu uns. In: Die Zeit (01.10.1976). Mainz veröffentlichte anonym. 75 Vgl. In: BStU MfS-HA VIII Nr. 10017, S. 56.
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Als Bahro mit dem Schreiben begann, war er zwar noch SED-Mitglied, aber wegen seiner politischen Überzeugungen bereits die Karriereleiter hinunter gefallen: Vom Posten des stellvertretenden Chefredakteurs der FDJ-Zeitschrift »Forum« wurde er auf Beschluss des Zentralrats der FDJ im Oktober 1966 abgelöst, weil er zum Erscheinen „unwidersprochen falsche[r] und schädlich[er] Ansichten von Lyrikern in der DDR“76 beigetragen hätte. Das ZK der SED veranlasste seine Versetzung in die Industrie: Bahro bekam die Stelle eines Wissenschaftlichen Mitarbeiters für soziologische Fragen in dem Ingenieurbüro der späteren Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Plast- und Elastverarbeitung in Berlin-Weißensee. Hier fiel er wiederum während des Prager Frühlings auf, als er „recht aggressiv […] die Maßnahmen der sozialistischen Staaten“77 diskutierte. Die Niederschlagung der Reformbemühungen in der Tschechoslowakei waren nach Bahros eigenen Angaben auch der Anlass, einen „Frontalangriff“78 gegen den vom SED-Parteiapparat geführten „real existierenden Sozialismus“ zu formulieren. Vor dem Schreiben hatte er allerdings noch ein immenses Literaturstudium zu bewältigen. Die marxistisch-leninistischen Klassiker waren dabei nur der Prolog. Bahro kannte sie aus seinem Philosophiestudium. Sein eigentlicher Kraftakt bestand darin, innerhalb von vier Jahren die einschlägigen Werke zur russischen Geschichte und zur russischen Revolution, der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts, der Politischen Ökonomie und der Zivilisationengeschichte zu lesen. Darüber hinaus bewältigte er einen großen Berg politischer Literatur, von der Sorte, zu der man als DDRBürger eigentlich keinen Zugang haben durfte.79 Erst 1972 ging Bahro zur Niederschrift seiner Erkenntnisse über. Zugleich nahm er ein Dissertationsvorhaben an der Technischen Hochschule Merseburg in Angriff, das ihm in gewisser Weise zur Tarnung seines eigentlichen Vorhabens diente. Doch die fertige Dissertationsschrift mit dem Titel: „Voraussetzungen und Maßstäbe der Arbeitgestaltung für wissenschaftlich ausgebildete Kader im industriellen Reproduktionsprozeß der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“80 weckte die Aufmerksamkeit des MfS. 1975 wurde der Informant Joachim L., IM „Rolf Anderson“, auf ihn angesetzt.81 L. war ein studierter Musikwissenschaftler und arbeitete als Musikredakteur. Aus Sicht seines Auftraggebers handelte es sich bei ihm „um einen ehrlichen, überprüften und in der operativen Arbeit erfahrenen Genossen […]“, der von Bahro „auf Grund seiner Persönlichkeit und der fundierten Kenntnisse“82 als ebenbürtiger Diskussionspartner anerkannt worden sei. Der Kontakt vertiefte sich so weit, dass es zu regelrechten „ideologischen Streitgesprächen“ zwischen ihnen kommen konnte, die sich bisweilen „über 6 bis 8 Stunden, teilweise die ganze Nacht hindurch erstreckten.“83 Wie die Biografen Guntolf Herzberg und Kurt Seifert schildern, sei Bahro gegenüber dem IM bald unvorsichtig geworden, habe er manchmal die Selbstkontrolle verloren und seine eigene
76 77 78 79 80
Zit. nach: HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 86. Zit. nach: Ebd., S. 100. Zit. nach: Ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 137. Nach dem späteren Abschluss seines Dissertationsverfahrens an der Universität Hannover veröffentlicht als: BAHRO, Rudolf: Plädoyer für schöpferische Initiative. Zur Kritik von Arbeitsbedingungen im real existierenden Sozialismus. Köln 1980. 81 Vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 206. 82 BStU MfS-HA XX/9 Nr. 2125, S. 32. 83 Ebd., S. 34.
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Bedeutung übertrieben.84 Zugleich setzte der IM alles daran, „glaubhaft zu erscheinen bzw. zu bleiben und das Vertrauen weiter zu festigen, teilweise [musste] er der äußerst raffinierten und gefährlichen antikommunistischen Auslassungen […] zustimmen und gleichzeitig versuchen, mit ‚Gegenargumenten‘ aufzuwarten.“85 Bei einem Gespräch im Juni 1976 entlockte IM „Rolf Anderson“ seinem Gegenüber einige Details zu dessen „Sozialismus-Kritik“, wie Bahro seine Schrift nannte: „Unter den Begriff ‚Kritik‘ habe er keinen Verriss verstanden, sondern sich bemüht, ihn so anzuwenden, wie er in der Wissenschaft verstanden wird. Heute allerdings habe er beim nochmaligen durchblättern seiner ‚Sozialismus-Kritik‘ entdeckt, daß er immer wieder ins Schimpfen verfallen sei und tatsächlich wiederholt dem Verriss näher kommt. Insofern sei dieses Werk, das er nochmals als ein Instrumentarium bezeichnete heute nicht der Knoten86 punkt von dem man aus zu neuen Erkenntnissen kommen könne.“
Im Nachhinein äußerte Bahro, dass er den Informanten in Bezug auf seine Arbeit mehr und mehr im Unklaren gelassen oder gar fehlinformiert hätte.87 Seiner Darstellung, dass er das falsche Spiel durchschaut habe, widersprechen allerdings Angaben des IM, wonach Bahro ohne Umschweife von konspirativen Gesprächsrunden in seiner Wohnung berichtete, bei denen er mit Freunden einige vorläufige Exemplare seines Werkes „durchdiskutiert“88 habe. Außerdem soll Bahro erwähnt haben, dass sich Freunde aus „Angst vor den Konsequenzen“89 vor ihm zurückzogen. Ob er dem IM wirklich nur aus Berechnung einige persönliche Einblicke gab, damit ihn das MfS nicht gegen einen „weniger offensichtlichen Informanten“90 austauschte, bleibt offen. Um seinem Anspruch gerecht zu werden, die »Kritik am real existierenden Sozialismus« „lückenlos und praktisch unangreifbar“91 zu machen, sie dahin zu bringen, dass selbst „Parteibüromitglieder bei ihrer Lektüre „still vor sich hinsprechen: Verdammt, so ist es“92, musste sich Bahro dem Risiko aussetzen, dass das Manuskript in die Hände des MfS gelangte. Bei der Verteilung einiger Exemplare an enge Freunde, die das Werk auf seine argumentativen Schwächen prüfen oder es lektorieren sollten,93 war spätestens im November 1976 ein Exemplar „verloren“ gegangen und tatsächlich in der Hauptabteilung XX für Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund gelandet.94 Dabei handelte es sich nicht bloß um ein rohes Grundgerüst, sondern um eine weit gediehene, mehrfach korrigierte Fassung. Bahro hatte bereits Ende 1975 mit der „tieferen Umarbeitung“95 begonnen. Dem MfS kam das 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93
Vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 115 und S. 166. BStU MfS-HA XX/9 Nr. 2125, S. 34. Ebd., S. 48. Vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 165. BStU MfS-HA XX/9 Nr. 2125, S. 49. Ebd., S. 50. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 116. BStU MfS-HA XX/9 Nr. 2125, S. 51. BAHRO, Rudolf (Hg.): ‚Ich werde meinen Weg fortsetzen‘, S. 94. Der Theologe Ehrhart Neubert nennt, neben Guntolf Herzberg, sechs weitere Eingeweihte. Diese hätten „die ersten 70 Exemplare des Buches“ heimlich lektoriert, vervielfältigt und an weitere Bekannte oder Freunde Bahros verteilt. Siehe: NEUBERT, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989. 2. erw. Auflage. Berlin 1998, S. 232. 94 HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 140. 95 Zit. nach: Ebd.
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Manuskript wie gerufen, war doch soeben der Operative Vorgang „Konzeption“ gegen den Systemkritiker wegen des Verdachts auf staatsfeindliche Tätigkeit gemäß §106 StGB eingeleitet worden. Nun konnte man eine eingehende Analyse der »Kritik am real existierenden Sozialismus« vornehmen und nachweisen, dass sie ihrem Inhalt nach eine „staatsfeindliche Hetze im Sinne des §106 Abs. 1 Ziff. 1 StGB darstellt“96. Zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mussten die Zuständigen nur noch auf eine Gelegenheit warten, um sich das Werk „offiziell zu beschaffen und die Verbreitung desselben durch den Verdächtigen nachzuweisen […]“. Was sich wie ein kurzer letzter Schritt bis zur Verhaftung Bahros liest, wird von den zuständigen Mitarbeitern des MfS viel komplizierter, als eine Art Vorgang im Vorgang eingeschätzt, für den die Hauptabteilung XX erst einen „entsprechenden Plan zu erarbeiten und mit der Hauptabteilung IX/2 abzustimmen“97 hatte. Diese Hauptabteilung war das Disziplinar- und Untersuchungsorgan des MfS. Es bearbeitete diverse Ermittlungsverfahren in der Zuständigkeit des MfS, die, wie im Falle Bahros, allein auf Grund ihrer politischen Bedeutung auf einer Stufe standen mit Verbrechen, die gegen die DDR und deren Souveränität gerichtet waren. Warum der letzte Schritt zur Verhaftung mit Komplikationen verbunden war, führen Herzberg und Seifert darauf zurück, dass einige Exemplare des Manuskripts auch zu Personen durchgedrungen waren, die das MfS ungern in das Ermittlungsverfahren verwickeln wollte; unter ihnen wohl Stefan Heym, Volker Braun, Christa Wolf als Vorzeigefiguren des kulturellen Lebens in der DDR.98 So hielt das MfS still, als Bahro Mitte 1976 über eine Kontaktperson aus der Bundesrepublik der Vorschlag gemacht wurde, das Manuskript bei der Europäischen Verlagsanstalt (EVA) zu veröffentlichen, da dieser DGB-nahe Verlag „von der DDR nicht direkt als feindlich seitige Einrichtung deklariert werden könne“99. Und das MfS hielt auch still, als Bahro „klärende Gespräche“100 führte und diese Person bevollmächtigte, den Vertrag mit der EVA abzuschließen. Ebenso müssen die zuständigen Informanten gewusst haben, dass Bahro im Januar 1977 nach Harzgerode fuhr, um sein Werk letztmalig zu überarbeiten, und ihnen dürfte auch nicht entgangen sein, wann die Druckfahnen entstanden und wann diese von Freunden Bahros versandfertig gemacht wurden. Warum das MfS dennoch nicht eingriff,101 ist eine Frage, die weder die Biografen, noch die dem Autor vorliegenden BStU-Akten zum Fall Bahro beantworten können. Erst am 23. August 1977, als in der Bundesrepublik alle wichtigen Medien über das Erscheinen der »Kritik am real existierenden Sozialismus« unter dem Titel »Die 96 97 98 99
BStU MfS-HA XX/9 Nr. 2125, S. 59. Ebd., S. 60. Vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 167f. Einschätzung der Bearbeitungsergebnisse zum OV ‚Konzeption‘ im Zeitraum Dezember 1977, S. 2. In: BStU MfS-HA XX /9 Nr. 2125, S. 78. 100 Einschätzung der Bearbeitungsergebnisse zum OV ‚Konzeption‘, S. 4. In: Ebd., S. 80. 101 Vgl. JANDER, Martin: Rezension zu: Herzberg, Guntolf; Seifert, Kurt: Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie. Berlin 2002. In: H-Soz-u-Kult (29.11.2002). Eine Antwort hatte sich auch der Rezensent erhofft. Immerhin bewiesen ist der Eingriff des MfS, als Bahro Kopien seines Werkes innerhalb der DDR verteilte. Die entsprechenden Exemplare sollen vom MfS „mit einer radioaktiven Substanz versetzt“ worden sein, „um ihren Weg durch die DDR nachvollziehen zu können. Die ‚radioaktive Markierung der Exemplare‘, heißt es in einem Stasi-Dossier, erfolgte ‚mit Hilfe der technischen Untersuchungsstelle‘. Dadurch hätten die Pakete bei der Abteilung M, der Postkontrolle durch das MfS, ‚erkannt und sichergestellt‘ werden können.“ Siehe: BERG, Stefan: Die Spur der Strahlen. In: Der Spiegel (20.03.2000).
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Alternative« berichtet hatten, erst als Bahro am Ziel seiner jahrelangen Arbeit war, suchten ihn Mitarbeiter des MfS zur Festnahme auf. Musste die DDR-Führung nicht einsehen, wie wenig sie mit dieser Maßnahme gewonnen hatte? Im Handumdrehen waren in der Bundesrepublik die frischen Erinnerungen an die BiermannAusbürgerung geweckt. Mit Schlagzeilen wie „Pfeffer in offene Wunden“, „Bahro tut weh“, „Bahro’s Bombe“ und „Sprengsatz in Köln“102 hätte das mediale Echo auf die Buchveröffentlichung kaum emphatischer sein können. Hubertus Knabe studierte damals Geschichte und Germanistik an der Universität Bremen. Weil seine Eltern 1959 aus der DDR geflohen waren, hatte er von Haus aus eine gewisse Sensibilität für die Entwicklungen jenseits der Mauer. Die »Alternative« weckte sofort sein Interesse. In seinem Aufsatz zum Bahro-Kongress erinnert er sich: „Das Buch, das den real existierenden Sozialismus aus marxistischer Perspektive analysierte, fand nicht nur an den Universitäten der Bundesrepublik, sondern auch in vielen westeuropäischen Staaten großen Widerhall, da es die ideologische und politische Konfrontation zwischen den Blöcken unterlief. Es stand für eine scharfe Kritik am sowjetischen Sozialismusmodell, die vom westlichen System nicht vereinnahmt werden konnte und dadurch in Ost und 103 West neue politische Handlungsspielräume eröffnete.“
„Diese Analyse war wichtig gewesen“, bestätigen Siegfried Reiprich und Welf Schröter in ihrem Arbeitsbericht zur Tagung „Linke Opposition in der DDR und undogmatische Linke in der BRD“, die 1996 in Jena stattfand. Reiprich hatte als systemkritischer Schriftsteller 1977 die DDR verlassen müssen. Aus seiner Sicht war »Die Alternative« für die Oppositionellen in der DDR vor allem deshalb wichtig, weil sie klarstellte, dass die realsozialistischen Gesellschaften deformiert waren. Für die bundesdeutschen Linken, so der Ökonom Schröter, sei Bahros Analyse der theoretische Schlüssel gewesen, „der die notwendige Solidarität mit allen, nicht nur den nachweislich linken Dissidenten in Osteuropa begründete.“ Der Fall Bahro habe unmissverständlich gezeigt, „daß selbst ein aus westlichem Blickwinkel rein kultureller Protest im Realsozialismus immer schon das ganze System in Frage stellte.“104 Damit seien westliche Vorbehalte weggefallen und der Weg frei für eine unteilbare Solidarität mit den osteuropäischen Oppositionellen geworden. Ähnlich wie die Biermann-Ausbürgerung durchbrach der Skandal um Bahros Verhaftung eine Phase der Siebziger Jahre, in der die DDR in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit kaum eine Rolle spielte.105 Prominente Linke wie Rudi
102 So die Titel einschlägiger Presseartikel, vgl. o. A.: Pfeffer in offene Wunden. Ein hoher SEDFunktionär über das Buch des verhafteten Regime-Kritikers Rudolf Bahro. In: Der Spiegel (19.09.1977); o. A.: Bemerkungen: Bahro tut weh. In: Stuttgarter Zeitung (25.08.1977); MANDEL, Ernest: Bahro’s Bombe. Ernest Mandel bespricht: Bahro's ’Alternative‘. In: Was Tun Extra (22.09.1977); WÜLLENWEBER, Hans: Bahros Thesen lagen als Sprengsatz in Köln. In: Kölnische Rundschau (26.08.1977). 103 KNABE, Hubertus: Die DDR-Opposition und ihre westdeutschen Unterstützer, S. 111f. 104 REIPRICH, Siegfried/SCHRÖTER, Welf: Die Bedeutung Rudolf Bahros und Robert Havemanns in beiden linken Bewegungen. In: Geschichtswerkstatt Jena (Hg.): Linke Opposition in der DDR und undogmatische Linke in der BRD, S. 97. 105 Vgl. HOFFMANN, Dierk: Ölpreisschock und Utopieverlust. Getrennte Krisenwahrnehmung und -bewältigung. In: WENGST, Udo/WENTKER, Hermann (Hg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz (Schriftenreihe des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 720).
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Dutschke und Heinz Brandt betonten in ihren Kommentaren zur »Alternative« wiederholt, warum das Buch auch die Menschen in der Bundesrepublik anging. So schrieb Brandt 1977: „Ganz im Gegensatz zu so manchen Ostemigranten, die sich nun an der ‚Marktwirtschaft‘ berauschen, macht Bahro beiden Varianten heutiger Gesellschaftsunordnung den Prozeß.“ Und weiter: „Was Bahro erstrebt, ist der Anfang vom Ende der deutschen Misere […]. Was er anbietet, ist kein neues geschlossenes System, […] sondern eine Anleitung zum Handeln. […] Sozialismus – der erst kommen soll, den es noch nirgends gibt.“106 Rudi Dutschke argumentierte dagegen aus historischer Perspektive. Ausgehend von Bahro stellt er fest, wie ähnlich die Erfahrungen „der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Beleidigten“ in Ost und West mit dem Bruch von 1968 waren, und fragte: „Ist der Pariser Mai überhaupt vom Prager Frühling zu trennen?“107 Welch großen Leserkreis »Die Alternative« fand, zeigte sich rasch. Bis Jahresende erschienen allein in der Bundesrepublik über dreißig Buchbesprechungen.108 Rudolf Bahro, der Industriefunktionär aus der DDR, war den linken Intellektuellen jenseits des Eisernen Vorhangs binnen weniger Wochen ein Begriff. Ob Eurokommunisten, Gewerkschafter, Reformisten oder undogmatische Linke, viele suchten seit dem Prager Frühling nach einer Antwort auf die Frage, welchen Sozialismus sie verwirklichen wollten: den der DDR und des Ostblocks, oder einen demokratischen. Für sie bildete »Die Alternative« die lang ersehnte Grundlage zur Diskussion um die Neubestimmung des Sozialismusbegriffs.109 Umso größer war ihr Unverständnis über die Verhaftung Bahros. Auf einer Tagung der »L 76«, eine Zeitschrift für Politik und Literatur, die auch Autoren aus Osteuropa offen stand,110 protestierten neben Heinrich Böll, Rudi Dutschke und Freimut Duve unter anderem der italienische Kommunist Lucio Lombardo-Radice sowie der Mitinitiator der tschechoslowakischen Charta ’77 ZdenČk MlynáĜ in einem offenen Brief an den DDRStaatsrat gegen die Verhaftung Bahros. Im Dezember würdigte »L’Humanité«, das Zentralorgan der französischen Kommunistischen Partei, »Die Alternative« als „bemerkenswerte Arbeit, die die Aufmerksamkeit verdient, weil sie uns entscheidende Fragen stellt, denen man nicht ausweichen sollte.“111 In dieser Empfehlung spiegelte sich auch der damalige Trend innerhalb der verschiedenen Strömungen der westeuropäischen Linken wider, den Erfahrungsaustausch mit Intellektuellen aus Osteuropa zu suchen, die dem Sozialismus sowjetischer Prägung kritisch gegenüberstanden.
Bonn 2008, S. 213-234, hier: S. 215. Vgl. auch: SCHWARTZ, Michael: ‚Liberaler als bei uns‘? Zwei Fristenregelungen und die Folgen. In: Ebd., S. 183-212, hier: S. 211. 106 BRANDT, Heinz: Die Alternative, die aus dem Kerker kam. In: Frankfurter Rundschau (18.02.1978). Unter anderem auch abgedruckt in: WOLTER, Ulf (Hg.): Antworten auf Bahros Herausforderung des ‚realen Sozialismus‘. Berlin 1978, S. 165-179, hier: S. 166 und 170f. 107 DUTSCHKE, Rudi: Wider die Päpste. Über die Schwierigkeiten, das Buch von Rudolf Bahro zu diskutieren. In: WOLTER, Ulf (Hg.): Antworten auf Bahros Herausforderung, S. 197-230, hier: 202f. 108 Eine Übersicht hat das Rudolf-Bahro-Archiv zusammengestellt. Siehe: http://www2.hu-berlin. de/agrar/rudolf-bahro-archiv/Ueber_Bahro/1977.htm (Stand 06.08.2010). 109 Vgl. WOLTER, Ulf (Hg.): Antworten auf Bahros Herausforderung, S. 9. 110 Vgl. o. A.: Neue Zeitschrift : L 76. In: Die Zeit (26.09.1975). 111 Zit. nach: STEINKE, Rudolf: Chronik der Solidarität. In: Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Freiheit für Rudolf Bahro. Beteiligt euch an der Marburger Solidaritätsaktion. Berlin 1979, S. 10.
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Die inhaltliche Debatte über das Buch brach sich parallel zu den Solidaritätsbekundungen mit leichter Verzögerung ihren Weg. Das über fünfhundert Seiten starke Werk verlangte schon ein genaueres Studium, wenn man mitreden wollte. Außerdem fehlte es anfangs noch an Übersetzungen. Die Zeitschrift »Neuer Langer Marsch«112 organisierte ihre offene Diskussion am 12. Januar 1978 deshalb auch offiziell als Solidaritätsveranstaltung für Rudolf Bahro. Dem verbalen Schlagabtausch zwischen Bernd Rabehl, Soziologe und langjähriger Wegbegleiter Rudi Dutschkes, Hannes Schwenger, Schriftsteller und ehemals APO-Aktivist, ZdenČk Hejzlar, in den Fünfziger Jahren Mitglied des Zentralkomitees der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei, Renate Damus, Politologin mit den Schwerpunkten DDR und Ostblock, und Karl Heinz Häusler, der über die Russischen Revolutionen promovierte, wohnten völlig unerwartet fast eintausend Teilnehmer bei; überwiegend Studenten der FU Berlin.113 Dieser Erfolg ermutigte zur Durchführung ähnlicher Veranstaltungen oder zumindest zum Start von Unterschriftensammlungen. Ein Appell Heinrich Bölls, Arthur Millers, Günter Grass’, Graham Greenes, Carola Sterns, Mikis Theodorakis’ in der Londoner »Times« vom 1. Februar 1978 förderte die internationale Ausbreitung der Solidaritätskampagne zusätzlich. Bis April entstanden so in verschiedenen Ländern West- und Südeuropas unzählige Resolutionen, fanden Lesekreise zur »Alternative« zusammen, gründeten sich BahroKomitees114, die politische und moralische Unterstützung für den Inhaftierten leisten wollten.
2. B ETEILIGTE O RGANISATIONEN UND G RUPPIERUNGEN Anfang März 1978 rief in Westberlin ein kleiner Kreis von Personen, die sich seit geraumer Zeit für die Opposition in der DDR einsetzten, das „Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros“ ins Leben; unter ihnen Rudolf und Annerose Steinke, Mario Bauer, Hans-Christoph Buchholz, Hajo Cornel, Jürgen Graalfs, Agnete Kutar, Rainer Thiem und anfangs Detlef Lehnert von der TU Berlin.115 „Rudolf Steinke ist Kern des Ganzen gewesen“, erinnert sich Jürgen Graalfs. „Wir haben uns dann sehr bald gefunden und mit anderen zusammengetan. Und ich konnte dann ein bisschen mithelfen.“ Graalfs war als Justitiar für den Schering-Konzern überall in der Welt unterwegs, bereiste die Sowjetunion, die Volksrepublik China und die DDR. Dort konnte er nebenbei auch Bürgerrechtler miteinander vernetzen. Obwohl die DDRBehörden Mitte der Siebziger Jahre ein Einreiseverbot gegen ihn verhängt hatten, gelang es ihm, seine Kontakte nach „drüben“ wach zu halten. So seien sie auch für das Bahro-Komitee „immer ganz hilfreich“116 gewesen.
112 Diese Zeitschrift trat 1978 die direkte Nachfolge des »Langen Marsches« an. 113 Vgl. ebd. Kritische Stimmen zur Veranstaltung blieben natürlich nicht aus. Vgl. o. A.: Bahro lesen! In: Radikal (Nr. 32, 19.01.-03.02.1978). Auch das MfS ließ die Veranstaltung beobachten. Es entstand ein ausführlicher Bericht. Vgl. BStU MfS-HA XX Nr. 5521, S. 30-34. 114 Allen voran das französische „Comité pour la Dèfense de Rudolf Bahro“ in Paris und das britische „Bahro Defense Committee“ in Portsmouth. 115 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). In den Gesprächen Jürgen Graalfs am 16.10.2008 (m) und mit Hajo Cornel am 27.08.2009 (m) konnte diese Angabe leider nicht völlig gesichert werden. Es zeigte sich in allen drei Gesprächen, dass die Erinnerungen an einzelne Namen und Personen verblasst waren. 116 Jürgen Graalfs am 16.10.2008 (m).
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Dass sich der politische Hintergrund dieser Gefangeneninitiative völlig von jenem der Roten Hilfen und RAF-nahen Komitees unterschied, verdeutlicht ein Blick auf die Einrichtungen, denen seine Mitglieder angehörten oder mit denen sie in Kontakt standen: das Sozialistische Büro (SB), die „Osteuropa-Arbeitsgruppe“ Westberlin, die Zeitung »Neuer Langer Marsch« und das selbst verwaltete Jugendzentrum „Drugstore“. Der Kreis um Steinke fühlte sich der undogmatischen Linken zugehörig, das heißt, er sympathisierte weder mit den K-Gruppen, noch mit der RAF: „Einmal hatten wir ein Plenum, da wurden wir im Auftrag von denen aufgerollt, von einigen Gruppen aus Kreuzberg“117, erinnert sich Steinke an die gegenseitige Antipathie. Aus seiner Sicht habe die RAF „irgendwie alles gewollt, nur keine Kritik an der DDR.“ Die Ablehnung des bewaffneten Kampfes hinderte Mitglieder des Bahro-Komitees jedoch nicht daran, sich für die Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppen einzusetzen. So war zum Beispiel Jürgen Graalfs seinerzeit auch als Anstaltsbeirat in der Untersuchungshaftanstalt Moabit aktiv, wo er gewissermaßen als „Vertreter der Öffentlichkeit, als kontrollierendes Organ“ auftrat. Dabei traf er auch auf inhaftierte Mitglieder der Bewegung 2. Juni, mit denen er sich über die Haftbedingungen austauschte. Seine Sorge galt deren eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten: „Ich habe mich dort schon stark gemacht dafür, dass das […] nicht ausartet in eine totale Isolation, sondern dass auch diese Menschen Möglichkeiten erhalten, entsprechend zu kommunizieren, dass dort ein gewisses Leben möglich ist.“118 Graalfs und Steinke engagierten sich damals auch parteipolitisch. Graalfs, früherer Vorsitzender des liberalen Studentenbundes119 (LSD) in Schleswig-Holstein, gehörte der FDP an. Steinke war als persönlicher Referent des Westberliner Bildungssenators Peter Glotz für die SPD tätig. Wie andere Mitglieder des Komitees hatte Steinke bis Mitte der Siebziger Jahre noch in trotzkistischen Gruppierungen mitgewirkt, sich nach deren Auflösung jedoch neu orientiert und Kontakte zu politisch Andersdenkenden in der DDR geknüpft. Gemeinsam mit anderen Westberlinern, meist Studenten, unterstützte er zwei bis drei Jahre lang eine oppositionelle Gruppe in der SED. „Dann sind wir bei einem Büchertransport aufgeflogen“, blickt Steinke zurück. Es folgte eine dreizehntägige Haft in der DDR wegen Verdachts auf Spionage und Devisenvergehen. Aufgrund des persönlichen Engagements von Willy Brandt wurde Steinke rasch freigekauft: „Immer, wenn einer ’rüberging, sagten wir Kontaktpersonen zum Büro Brandt Bescheid. Und wenn man sich dann eine Weile nicht zurückgemeldet hat, wurden sie aktiv.“120 Nach diesem Zwischenfall durfte Steinke nicht mehr in die DDR einreisen. Seine Kontakte liefen nun über andere Personen. Er selbst sah eine Chance darin, den Oppositionellen, Dissidenten und politischen Gefangenen hinter der Mauer weiterhin aktiv zu helfen, indem er ihnen in der Bundesrepublik mehr Öffentlichkeit verschaffte. Die Verhaftung Rudolf Bahros nahm er als günstige Gelegenheit dafür wahr. Demzufolge heißt es in der ersten Arbeitserklärung des Komitees vom 23. Februar 1978: „Unser Ziel ist es, eine politische Bewegung gegen die Inhaftierung Rudolf Bahros zu fördern. […] 117 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). 118 Jürgen Graalfs am 16.10.2008 (m). 119 Der LSD war bis 1969 der offizielle Hochschulverband der FDP. Im Zuge der Studentenbewegung brach er jedoch die Verbindungen zu der Partei ab. Seine Nachfolgeorganisation war der Liberale Hochschulverband. 120 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m).
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Das heißt konkret: intensive Öffentlichkeitsarbeit zu leisten wie etwa Sammlung von Unterschriften, Organisierung von Veranstaltungen und kontinuierliche Informierung der Öffentlichkeit durch Presse und Flugblätter.“121 Zum Schwerpunkt seiner Arbeit erklärte das Komitee von vornherein die „Organisierung eines internationalen Kongresses“122. Ansprechpartner für neue Mitglieder, Förderer und Spender war neben Rudolf Steinke auch Hajo Cornel, damals Politikwissenschaftsstudent und Mitglied des Sozialistischen Büros. Da die Kontaktadresse und das Konto des Komitees auf seinen Namen liefen, übernahm er praktisch die Funktion der Geschäftsstelle. Die Kommunikation mit den Partner-Komitees im Bundesgebiet wurde dagegen individuell von den Mitgliedern geführt. Nach und nach hatten sich in Aachen, Bielefeld, Braunschweig, Bremen, Frankfurt, Freiburg, Kassel, Köln, Mainz, Mannheim/Heidelberg, Oberhausen, Oldenburg, München, Sarstedt und Waiblingen Unterstützerkomitees für das Westberliner Bahro-Komitee gegründet.123 Dies mag den Anschein erwecken, als habe es sich um eine regelrechte Bewegung gehandelt. Tatsächlich entsprachen diese Komitees in ihrer Größe etwa den Unterstützerkomitees für das 3. Russell-Tribunal, verfügten also im Durchschnitt über etwa fünf bis sechs Mitglieder. „Der Kontakt zu ihnen war eher locker, nicht so intensiv“, weiß Cornel. Auch von einer festen Mitgliedschaft konnte bei den damaligen Strukturen keine Rede sein: „Da gab es keine Mitgliedsausweise wie bei richtigen Vereinen. Das Westberliner Bahro-Komitee bildete eher ein halb formelles, halb informelles Netzwerk von Aktivisten verschiedener Gruppierungen.“124 Eine Unterscheidung von Kernmitgliedern und eher sporadisch mitwirkenden Unterstützern zu treffen, wäre daher müßig.125 Ein großer Teil der etwa dreißig bis vierzig Personen aus dieser Ebene 121 Flugblatt: Arbeitserklärung des Komitees für die Freilassung Rudolf Bahros (23.02.1978). In: APO-Archiv, Ordner: Bahro (Nr. 1268). 122 Ebd. Mit dem internationalen Osteuropa-Kongress am 20./21. Januar 1978 in Brüssel gab es eine Vorbildveranstaltung: Zehn Jahre nach dem Prager Frühling hatten sich im Exil lebende Mitglieder der osteuropäischen Opposition und Vertreter westeuropäischer linker Gruppen getroffen, um die „Lehren und Erfahrungen von Prag ’68, der Charta ’77, des polnischen Arbeiterkomitees“ zu diskutieren und Solidarität zu demonstrieren. „Im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung ist zum ersten Mal der Versuch gemacht worden, Osteuropa-Komitees aus verschiedenen Ländern zusammenzubringen und zu koordinieren“, lobte das GIM-Organ »Was tun?« den Kongress. Siehe: GROß, Julia: Osteuropa-Kongress in Brüssel erfolgreich. In: Was tun? (Nr. 195, Februar 1978). 123 Die Adress- und Mitgliederliste dieser „kleinen“ Bahro-Komitees ist enthalten in: APOArchiv, Ordner: Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). Die Ortsangaben in der Aufzählung richten sich nach der Adresse des jeweiligen Koordinators. 124 Hajo Cornel am 27.08.2009 (m). So sind auch die unterschiedlichen Angaben zu Mitgliedschaften zu erklären. In den Beständen des APO-Archivs befinden sich zwei Mitgliederlisten, in denen einige der von Rudolf Steinke genannten Gründungsmitglieder nicht erscheinen. Die Liste vom 22.03.1978 weist insgesamt zwanzig Mitglieder aus, darunter der Hörspielautor Wolf D., die Osteuropahistorikerin Marianne Hausleitner, der Philosoph Fred Klinger und der Politologe Volker v. P. Auf der späteren Liste aus dem Zeitraum September/Oktober 1978 stehen etwa 25 Namen, wobei nicht daraus hervorgeht, ob auch lose Mitglieder aufgeführt wurden. Beide Listen sind enthalten in: APO-Archiv, Ordner: Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). 125 Auf einer Liste der Unterstützer wurden vermerkt: Rolf Berger, Peter Brandt, Hans-Jürgen B., Jörg B., Helmut Gollwitzer, Gertrud G., Ingeborg Drewitz, Ruth K., Rolf K., Horst Mahler, Norbert M., Wolfgang S., Bernd Rabehl, Dietrich Staritz, Uwe Wesel. Die Liste befindet sich in: APO-Archiv, Ordner: Bahro-Komitee, Korrespondenz 1 (Nr. 1274).
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gehörte dem „Sozialistischen Osteuropakomitee“ in Hamburg an. Dieses verfügte über Kontakte zu Dissidenten aus der Tschechoslowakei, der Volksrepublik Polen und der DDR, die der Kampagne für Rudolf Bahro zugute kamen. Eine weitere Organisation, die die Arbeit des Bahro-Komitees unterstützte, war das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“126 um seine Gründer Margret Frosch, Hannes Schwenger, Manfred Wilke sowie Otto Schily. Dieses Komitee hielt weiterhin Kontakt zu Jürgen Fuchs, der 1977 aus der Haft entlassen worden und in die Bundesrepublik ausgereist war. Fuchs vermutete hinter dem Bahro-Komitee zunächst eine Initiative des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA, um die DDR zu diskreditieren. Dann aber ließ er sich doch von der Unabhängigkeit des Bahro-Komitees überzeugen und brachte seine Kontakte zur tschechoslowakischen „Charta ’77“ und zur polnischen „SolidarnoĞü“ ein.127 Der angestrebte internationale Kongress wäre – ebenso wie das 3. Russell-Tribunal – nicht ohne die Unterstützung prominenter Linker aus dem In- und Ausland realisierbar gewesen. Kontakte zu Elmar Altvater, Politologe an der FU Berlin, den Schriftstellern Wolf Biermann und Reiner Kunze, Jean Elleinstein, französischer Kommunist, Ossip K. Flechtheim, Politologe und Mitbegründer der „Internationalen Liga für Menschenrechte“, Jakob Moneta, Chefredakteur der IG Metall-Zeitschrift, Peter von Oertzen, Landesvorsitzender der SPD Niedersachsen, JiĜí Pelikan, exiltschechischer Journalist aus Rom, Gerhard Schröder, damals Bundesvorsitzender der Jusos, und vielen weiteren hatte das Bahro-Komitee bereits im März 1978 geknüpft.128 Das Komitee wollte eine internationale Beobachterdelegation für den Prozess gegen Rudolf Bahro zusammenführen, deren Mitglieder möglichst „in Ost und West als unvoreingenommene Persönlichkeiten der demokratischen und sozialistischen Bewegung“129 gelten sollten. Beabsichtigt war es, über offizielle und inoffizielle Gespräche mit Behörden der DDR einerseits auf die zuverlässige Verteidigung Rudolf Bahros hinzuwirken, andererseits die Erlaubnis für die Entsendung von Prozessbeobachtern auszuhandeln. Einige bekannte Persönlichkeiten, die diesem Vorhaben ihre Unterstützung zusagten, waren auch am 3. Russell-Tribunal beteiligt: unter anderem die beiden französischen Jurymitglieder Georges Casalis und Jean Pierre Faye, Uwe Wesel vom Deutschen Beirat sowie Ken Coates, Direktor der Bertrand Russell Peace Foundation (RF). Dass die Beobachterdelegation am Ende nicht aktiv wurde, lag daran, dass der Prozess gegen Rudolf Bahro früher als gedacht begann. Das Bahro-Komitee ließ sich davon nicht entmutigen und pflegte 126 Siehe Kap. IV.1.2.3. 127 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). Vom Schutzkomitee war Fuchs auch dazu ermuntert worden, andere aus der DDR ausgereiste bzw. abgeschobene Personen für die Arbeit des Komitees zu werben. Fuchs meinte jedoch, dass es „für eine ‚Institutionalisierung‘ der so genannten DDR-Emigranten der Zeitpunkt angesichts mangelnder Erfahrungen“ noch verfrüht sei. Er äußerte auch ideologische Bedenken. Vgl. MfS-HA XX Nr. 5521, S. 170f. 128 Viele dieser Namen führten die offizielle Einladung zum Bahro-Kongress vom 10.10.1978 an, des Weiteren auch: Rolf Berger, Heinz Brandt, Renate Damus, Rudi Dutschke, Jürgen Fuchs, ZdenČk Hejzlar, Tomas Kosta, Ernest Mandel, Klaus Matthiesen, ZdenČk MlynáĜ, Oskar Negt. Vgl. Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Internationaler Kongreß für und über Rudolf Bahro. Umbruch in Osteuropa – die sozialistische Alternative. Programm. Berlin 1978, S. 1. In: APO-Archiv, Ordner: Osteuropa, Bahro (Nr. 1269). Weitere, vor allem französische und britische Fürsprecher des Komitees sind aufgeführt im: Rundschreiben des Komitees für die Freilassung Rudolf Bahros (30.03.1978). In: APO-Archiv, Ordner: Osteuropa, Bahro (Nr. 1268). 129 Ebd.
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die Kontakte weiterhin, nun mit Blick auf die geplante Großveranstaltung in Westberlin. Am 30. Juni 1978 wurde Rudolf Bahro am Berliner Stadtgericht wegen „Geheimnisverrats“ und „landesverräterischer Sammlung von Nachrichten“ für eine angebliche Anti-DDR-Kampagne zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt.130 Der Prozess hatte nur vier Verhandlungstage gedauert. Das Gericht sah sich nicht veranlasst, die vom Staatsanwalt beantragte Freiheitsstrafe von neun Jahren deutlich abzumildern. Bahros Rechtsanwalt Gregor Gysi hatte es lediglich davon überzeugen können, dass der Vorwurf des Sammelns von Nachrichten als Tatbestand erst für die Zeit ab 1976 nachweisbar war. Auf den Urteilsspruch reagierte das Bahro-Komitee umgehend mit einer Protestkundgebung vor der Berliner Gedächtniskirche, die auch von der Gruppe Internationaler Marxisten (GIM) mitgetragen wurde.131 Es sprachen Renate Damus, Heinz Brandt, Helmut Gollwitzer, Jakob Moneta, Gerhard Schröder und Uwe Wesel. Musikalisch wurde die Veranstaltung von Gerulf Pannach und Christian Kunert begleitet. In einem Flugblatt warf das Komitee der DDR-Führung vor, die Opposition mundtot machen zu wollen: „Die Drahtzieher dieses Prozesses versuchen […] mit zunehmender Härte ihre Isolation innerhalb der fortschrittlichen Weltöffentlichkeit wie im eigenen Land zu überspielen.“ Im Umkehrschluss fühlte sich das Komitee angespornt, den Protest „in noch breiterem Ausmaß und noch entschiedener zu organisieren und vorzutragen“132. Die Gruppe um Rudolf Steinke ging gerade daran, das Konzept des geplanten Kongresses zu erarbeiten. Um seine Ankündigung einzulösen, die Mobilisierung im Rahmen der Bahro-Solidaritätskampagne zu steigern, war das Komitee auf ein stärkeres Medieninteresse angewiesen. Man kam deshalb auf die Idee, die bestehenden internationalen Kontakte zu nutzen und auf dem Kongress Vertreter aller Strömungen der west- und südeuropäischen Linken sowie namhafte Emigranten aus osteuropäischen Ländern zu versammeln. Um den Kongress für diese Leute interessant zu machen, musste ihnen ausreichend Redezeit eingeräumt werden. Das Komitee entschloss sich daher, die Veranstaltung für die „ernsthafte Debatte und kritische Auseinandersetzung“133 mit Bahros Thesen zu öffnen. In der offiziellen Vorankündigung begründete man diese Entscheidung damit, dass »Die Alternative« einen „neuen Ansatz in der linken Opposition aller osteuropäischen Länder“ darstelle. Erstmals seit 1968 gebe es damit wieder eine Chance, „sozialistische Opposition für die westliche Strategiediskussion fruchtbar zu machen […]“ und dies ausgerechnet „zu einem Zeitpunkt, da die meisten westeuropäischen sozialistischen und kommunistischen Parteien ihr Verhältnis zum real existierenden Sozialismus neu zu bestimmen suchen.“ Ziel des Kongresses sollte es vor diesem Hintergrund sein, „den Dialog und die Zusammenarbeit der Linken in Ost und West zu verstärken.“134 Um
130 Zu Prozess und Urteilsverkündung vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 244-268. 131 Vgl. Flugblatt: Freiheit für Bahro! Herausgegeben von der GIM (Juli 1978). In: APO-Archiv, Osteuropa, Bahro (Schuber) (Nr. 1270). 132 Flugblatt: Die DDR-Behörden haben den Marxisten Rudolf Bahro in einem Geheimprozeß zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt. Herausgegeben vom Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (02.07.78). In: APO-Archiv, Ordner: Bahro (Nr. 1268). 133 Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Internationaler Kongress für und über Rudolf Bahro, S. 1. 134 Ebd., S. 2.
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den Versuch einer konkreten Einflussnahme auf die DDR-Justiz ging es also nicht mehr. Ohnehin hatte sich im Komitee längst die Zuversicht verbreitet, dass Bahros Freilassung nur eine Frage der Zeit war – ungeachtet des harten Urteilsspruchs.135 Im Gegenteil: Damit der Kongress im Falle einer frühzeitigen Abschiebung Bahros in die Bundesrepublik nicht überflüssig wäre, hielt man es sogar für klüger, ihn nur indirekt als Solidaritätsveranstaltung anzulegen. Die frühe Festlegung, mehr über als für Rudolf Bahro zu sprechen, wird auch in einem der wenigen überlieferten Konzeptpapiere anschaulich: „Die inhaltliche Aufgliederung muß m. E. in Rechnung stellen, daß bestimmte Fragestellungen sofort in engem Zusammenhang mit anderen stehen“, schrieb hier ein Komiteemitglied. Und weiter: „Die inhaltliche Struktur sollte daher auf komplexeren Themenkreisen oder ‚Globalthemen‘ aufbauen, um möglichst viel Raum für eine vielschichtige Diskussion zu lassen.“ Derart breit ausformulierte Überlegungen zu der Frage, wie die Diskussionen strukturiert und kontrolliert geführt werden konnten, deuten an, dass sich das Komitee an dem Ablauf wissenschaftlicher Tagungen orientierte. Die Gefahr, den Bahro-Kongress in ein zu steifes Korsett zu kleiden, wurde im Planungseifer übersehen. Zumindest gestand man sich selbstkritisch ein: „Es ist natürlich Quark auf Biegen oder Brechen ein bestimmtes Grundkonzept des Kongresses […] mechanistisch auf alle Veranstaltungen des Kongresses übertragen zu wollen. Verschiedene Themen erfordern […] auch entsprechende Diskussionsformen.“136 Unter diesen Voraussetzungen trat das ursprüngliche Anliegen des Bahro-Komitees, den Oppositionellen im Ostblock und ihrer Unterdrückung mehr Öffentlichkeit zu verschaffen, eher in den Hintergrund. Die Komiteemitglieder trugen damit ihrer Erfahrung Rechnung, jahrelang auf „interessierte Abneigung“137 gestoßen zu sein, wenn sie bei anderen Linken um Unterstützung baten: Wer sich gegen die Unterdrückung politisch Andersdenkender in der DDR engagieren wollte, kämpfte lange Zeit gegen Windmühlen. Bis auf Ausnahmen wie Rudi Dutschke oder Erich Fried, waren selbst prominente Linke in der Bundesrepublik in den Siebziger Jahren kaum bereit, DDR-kritische Initiativen zu unterstützen. Die sozialliberale Ostpolitik hatte das Bild der Koexistenz von zwei deutschen Staaten verfestigt und insgeheim glaubten oder wünschten nicht wenige der bundesdeutschen Linken, dass der sozialistische Staat der bessere Teil Deutschlands sei.138 „Was wirklich dort vor sich ging“, schrieb Gerd Koenen einmal stellvertretend für viele ehemalige APO-Aktivisten, „wollten wir möglichst nicht so genau wissen.“139 „Vorherrschend war es ein Tabu, die DDR zu kritisieren. Insbesondere in Westberlin“, bestätigt auch Jürgen Graalfs. Zu seiner Enttäuschung habe vor allem die parlamentarische und demokratische Linke nicht gewagt, die Missstände im Sozialismus sowjetischer Prägung 135 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). 136 o. A.: Vorschlag für den Bahro-Kongreß, S. 2. In: APO-Archiv, Ordner Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). 137 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). 138 Der Historiker Johannes Hürter erinnert an den Irrtum der „politisch-moralischen Überlegenheit der DDR gegenüber der Bundesrepublik, an [den] manche westliche Linksintellektuelle trotz aller offenkundigen Mängel grundsätzlich glaubten.“ Siehe: HÜRTER, Johannes: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns, S. 298; vgl. auch: NOLL, Chaim: Treue um Treue. Linke Gefühlslagen und die literarische Beschwörung der besseren DDR. In: STEPHAN, Cora (Hg.): Wir Kollaborateure. Der Westen und die deutschen Vergangenheiten. Reinbek b. Hamburg 1992, S. 90-106. 139 KOENEN, Gerd: Die APO, ihre Erben und die DDR. In: VEEN, Hans-Joachim/MÄHLERT, Ulrich/MÄRZ, Peter (Hg.): Wechselwirkungen Ost-West, S. 129-138, hier: S. 137.
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anzuprangern. Erst mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 änderte sich das Stimmungsbild allmählich. Für die einen blieb der Liedermacher zwar ein „Renegat“ oder „jemand, den man nicht ernst nahm“140, andere aber sahen ein, „dass man Repression nicht mehr einseitig diskutieren konnte“. Wer sich gegen die vermeintlichen Berufsverbote in der Bundesrepublik engagierte, habe die Repression in der DDR nicht mehr ausblenden können. „Das war vorbei und nicht mehr glaubwürdig“141, so Steinke. Insofern richtete sich der Bahro-Kongress auch an all jene, die das 3. RussellTribunal über die Menschenrechtssituation in der Bundesrepublik für einseitig hielten. Seine beiden wichtigsten Zielgruppen waren jedoch osteuropainteressierte Linke aus West- und Südeuropa und Linke aus Osteuropa, die sich von der Idee begeistern ließen, dass über die kritische Diskussion von Bahros „fundamentalen theoretischen wie programmatischen Angriff auf die Gesellschaften des ‚real existierenden Sozialismus‘“142 Reformdruck auf die Nachbarstaaten im Osten ausgeübt könne. Außerdem stand der Kongress allen Nicht-Dogmatikern offen, die eine Neubestimmung der sozialistischen Strategien innerhalb der west- und südeuropäischen Linken für notwendig und machbar hielten und die dafür eine feste, „nichtutopische“143 Basis suchten. Diese Ost-West-Ausrichtung entsprang nicht etwa dem Veranstaltungskonzept des Bahro-Komitees, sondern sie war der »Alternative« immanent. Ein kleiner Teil der bundesdeutschen Linken mag sie obendrein wie Jakob Moneta gelesen haben, der die Hoffnung äußerte, dass das „Modell einer sozialistischen klassenlosen Gesellschaft, für das Bahro die ‚Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit‘ mobilisieren will, […] nicht nur für die Herrschenden in der DDR gefährlich“ sein, sondern „gar die Grundlage für den Kampf um die Wiedervereinigung Deutschlands“144 bilden könnte.
3. I NHALTE UND ABLAUF Die Zielgruppe des Bahro-Kongresses war also weit gesteckt und ließ auf einen regen Teilnehmerzuspruch hoffen.145 Dass sich die viertägige Veranstaltung als Medienerfolg entpuppen würde, kam aber selbst für die Optimisten im Komitee überraschend. Mit einem derartigen Ansturm von Journalisten hatten sie nicht gerechnet: Unter den 1.500 Besuchern sollen gut 160 Korrespondenten gewesen sein.146 Rudolf Steinke schätzt sogar, dass nur etwa 400 Personen ohne journalistischen Hintergrund an den Einzelveranstaltungen beteiligt gewesen sind.147 Die Kontakte 140 Jürgen Graalfs am 16.10.2008 (m). 141 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). 142 Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Internationaler Kongreß für und über Rudolf Bahro, S. 1. 143 Vgl. MÄNICKE-GYÖNGYÖSI, Kristina/STEINKE, Rudolf u. a. (Hg.): Der Bahro-Kongreß, S. 251. 144 MONETA, Jakob: Eine ‚Alternative‘ – nicht nur für die DDR. In: WOLTER, Ulf (Hg.): Antworten auf Bahro, S. 19. 145 Die Zahl der Anmeldungen für den Kongress war im November auf 1.000 gestiegen. Nach eigenen Schätzungen gingen die Veranstalter aber von 1.500 bis 1.800 Teilnehmern aus. Vgl. Gesprächsnotizen für Sitzung Komitee/EVA/TU-Präsidialamt vom 09.11.1978. 146 Vgl. BRANDT, Peter: Der Berliner ‚Bahro-Kongreß‘. In: Gewerkschaftliche Monatshefte (Nr. 4, 1979), S. 242-245, hier: S. 244. 147 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). Dies deckt sich auch mit den Angaben in: KNABE, Hubertus: Die DDR-Opposition und ihre westdeutschen Unterstützer, S. 112.
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zu Arbo von Roeder von der »heute«-Redaktion des ZDF, Manfred Rexin und Friedrich Voß vom Sender Freies Berlin (SFB), Wilfried Schultz vom Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS), Karl Heinz Baum von der »Frankfurter Rundschau«, Hans Ulrich Knies vom Berliner »Tagesspiegel« sowie Jürgen Miermeister und Marianne Regensburger von der ZDF-Sendung »Kennzeichen D« erwiesen sich als förderlich.148 Das Werben um prominente Teilnehmer und Redner hatte den gewünschten Effekt gebracht. Das MfS führte sprichwörtlich Buch über den Kongress. Laut einem Bericht für die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) seien weite Teile des linken Spektrums, konkret: der „Sozialdemokratismus“, der „Linksradikalismus“, der Trotzkismus, der Eurokommunismus, die ‚Opposition gegen den real existierenden Sozialismus“ sowie linke Gruppierungen „ohne feste Organisationsform“149 präsent gewesen. Die Liste der „nachweislich am Bahro-Kongreß teilgenommenen Personen“ zählt allerdings nur 77 Einträge, inbegriffen die Namen mehrerer aus der DDR ausgewiesener Oppositioneller.150 Auf Grund der gesammelten Informationen und der Beobachtungen vor Ort schätzte das MfS den Kongress als „organisatorisches Feld der Zusammenführung linker Kräftegruppierungen“ ein, aus dem möglicherweise weitere „subversive Aktivitäten gegen die DDR“151 hervorgehen konnten. Entgegen gehalten wurde dieser Prognose, dass keine offiziellen Delegationen der Kommunistischen Parteien Italiens, Frankreichs und Spaniens sowie von Gewerkschaftsverbänden auf dem Kongress erschienen seien.152 Immerhin haben die Veranstalter jedoch zahlreiche Grußadressen153, unter anderem von der französischen Sozialistischen Partei (PS), den Vorsitzenden der Belgischen und Finnischen Kommunistischen Partei, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der DGBJugend und vom Internationalen Sacharow-Komitee154 zur Durchsetzung der Menschenrechte erhalten, die auszugsweise auf dem Kongress verlesen wurden.
148 Die Angaben beruhen auf einer Kontakt- und Adressliste in: APO-Archiv, Ordner: Bahro-Komitee, Korrespondenz 1 (Nr. 1274). 149 BStU MfS-ZAIG Nr. 5552, S. 48f. 150 Vgl. ebd., S. 62-71. 151 Ebd., S. 59. 152 Ebd., S. 51. 153 Eine Sammlung dieser Grußadressen und Telegramme befindet sich in: APO-Archiv, Ordner Osteuropa, Bahro 2 (Nr. 1267). 154 Das Sacharow-Komitee ging zurück auf den gleichnamigen sowjetischen Physiker Andrei Dmitrijewitsch Sacharow. Dieser war in den Fünfziger und Sechziger Jahren entscheidend an der Entwicklung des sowjetischen Atomwaffenprogramms beteiligt gewesen, hatte aber früh die Konsequenzen seiner Tätigkeit eingesehen. Er wandte sich bald nicht nur gegen Atomwaffentests, sondern engagierte sich auch politisch, indem er beispielsweise die militärische Unterdrückung des Prager Frühlings verurteilte. Mit dem 1970 von ihm gegründeten Komitee setzte er sich für die Demokratisierung der Sowjetunion ein. Das machte ihn in seiner Heimat zum Opfer von Repression. 1975 wurde Sacharow der Friedensnobelpreis verliehen, womit ihn die Sowjetkommunisten endgültig als Gegner wahrnahmen, der früher oder später mundtot gemacht werden musste. Erst in der Ära Gorbatschow erfolgte Sacharows Rehabilitierung.
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Abbildung 9: Die Technische Universität Berlin im Sommer 2010
Quelle: Privatarchiv Michael März
Für die Kongressleitung zeichnete allein das Bahro-Komitee verantwortlich. Es stellte ein sechsköpfiges Gremium, das sämtliche Aufgaben im Zusammenhang mit dem Kongress wahrnahm und für die Dauer der Veranstaltung ein Büro im Raum H 21 35 der TU Berlin einrichtete. Dem Gremium gehörten bis auf Rudolf Steinke und Hajo Cornel keine Kernmitglieder an. Mit Marianne Hausleitner, Marian Kirstein, Fred Klinger und Rosi Wittenhagen hatte man Personen ins Boot geholt, die über ausgeprägte Kontakte zu verschiedenen politischen Zusammenhängen verfügten: Hausleitner kam aus dem Osteuropa-Komitee. Kirstein stammte aus der Jenaer Gruppe, die gegen die Biermann-Ausbürgerung protestiert hatte und war 1977 aus der DDR ausgewiesen worden. Klinger hatte einer trotzkistischen Gruppierung angehört. Gemeinsam trugen sie dazu bei, dass der Kongress eine breite und vielfältige politische Basis im linken Spektrum fand. Das Gremium selbst war eher locker organisiert: „Genaue Aufgabendefinitionen hat es wahrscheinlich nicht gegeben“, erinnert sich Cornel, der das Koordinationsbüro offiziell leitete. „Vielmehr war es typisch für die Zeit, dass alle alles gemacht haben. Mit allen Vor- und Nachteilen.“ Zumindest auf dem Papier für das Präsidialamt der TU waren den genannten Personen bestimmte Ressorts zugeordnet: Klinger und Hausleitner übernahmen die Koordination der Einzelveranstaltungen. Kirstein sollte Cornel im Koordinationsbüro unterstützen und sich um die technische Ausrüstung kümmern. Steinke leitete die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. In dieser Besetzung dürfte das Koordinationsbüro für Linke außerhalb Berlins ein Gremium der Namenlosen gewesen sein. Um seine mangelnde „politische Autorität“157 auszugleichen, beschloss das Bahro-Komitee, ihm eine „Politische Kommission“ an die Seite zu stellen. Diese sollte sich repräsentativ aus der Trägerschaft des Kongresses, sprich: einem Mitglied des Komitees, und der offiziellen Teilnehmerschaft zusammensetzen. Am Eröffnungstag stand seine Besetzung fest: Rudi 155 Hajo Cornel am 27.08.2009 (m). 156 Vgl. Gesprächsnotizen für Sitzung Komitee/EVA/TU-Präsidialamt vom 09.11.1978. 157 Vgl. ebd.
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Dutschke, JiĜí Pelikan, Gerhard Schröder und Rudolf Steinke. Zu deren Aufgaben gehörte es, die Abschlussresolution zu erarbeiten, die Abschlussdiskussion vorzubereiten und, wenn nötig, weitere politische Stellungnahmen abzugeben. Die Einzelveranstaltungen des Kongresses erstreckten sich über vier Tage: Am Donnerstag, den 16. November 1978, fand die Eröffnungsveranstaltung im Auditorium Maximum der Technischen Universität Berlin (TU) statt. Am Sonntag, den 19. November, wurde der Kongress mit einer Großkundgebung an der Gedächtniskirche abgeschlossen. Dazwischen lagen die beiden Kerntage, die entsprechend des ausgearbeiteten Konzeptes als Theoriediskussion angelegt waren. Nach der Erkenntnis, dass verschiedene Themen nach verschiedenen Diskussionsformen verlangen, bot das Komitee den Teilnehmern zwei Veranstaltungstypen an: zum einen Podiumsdiskussionen, zum anderen Arbeitsgruppen (AGs). Die drei Podiumsdiskussionen waren so angelegt, dass „ein für die Breite des politischen Spektrums der auf dem Kongress versammelten Kräfte repräsentativer Kreis bekannter Persönlichkeiten“158 zusammentraf. Dies garantierte den Veranstaltern ein großes Publikum und starke Medienpräsenz. Bereits die erste Podiumsdiskussion lockte über eintausend Zuhörer in die TU. Zum Thema „Die Oktoberrevolution und ihre Bedeutung für die heutige Linke“ diskutierten Elmar Altvater, Peter von Oertzen, Bernd Rabehl, die renommierten Marxisten Ernest Mandel und Hillel Ticktin, Boris Weil, ein Sowjetdissident, und die Eurokommunisten Felice Besostri und Angelo Bolaffi. Am Freitag folgte die Podiumsdiskussion über den Prager Frühling und die Systemkrise in Osteuropa, an der sich unter anderem Rudi Dutschke, JiĜí Pelikan, Jean Pierre Faye und Rossana Rossanda von der linken italienischen Tageszeitung »Il Manifesto« beteiligten. Am Samstag sprachen weniger prominente Psychologen und Gewerkschafter unter Diskussionsleitung von Rudi Dutschke über „das Produktionsziel: reich entwickelte Persönlichkeit“. Die duale Ausrichtung des Kongresses mit der Kritik am Sozialismus sowjetischer Prägung einerseits und der Denkbarmachung einer sozialistischen Alternative außerhalb des Ostblocks, bot derart große Diskussionsspielräume, dass die Debatten oft überladen wirkten und sich selbst blockierten.159 Waren die drei Podiumsdiskussionen thematisch zu breit angelegt,160 als dass sie zu Ergebnissen führen konnten, so entwickelten die neun Arbeitsgruppen schon eher eine Eigendynamik, aus der heraus zielgerichtete Diskussionen entstanden und in einigen Fällen gegenseitige Missverständnisse über die Auslegung der marxistischen Theorie überwunden werden konnten. Die AGs tagten am Freitag und Samstag und zwar zeitgleich in verschiedenen Räumen der TU. Es war für die Teilnehmer also nicht möglich, mehrere AGs komplett zu besuchen. Dem entsprechend hielt sich ihre Teilnehmerzahl in Grenzen, lag in etwa im Bereich von universitären Vorlesungen. Die angemeldeten Experten hielten einführende Referate, anschließend gab es Gelegenheit zur freien Diskussion, wobei es vorkam, dass sich Vertreter verschiedener politischer Auffassungen um die Mikrofone rangelten.161 Eine wichtige Voraussetzung für den geordneten Ablauf dieser Veranstaltungen hatte das Bahro-Komitee mit der rechtzeitigen
158 MÄNICKE-GYÖNGYÖSI, Kristina/STEINKE, Rudolf u. a. (Hg.): Der Bahro-Kongreß, S. 249. 159 Vgl. ebd. 160 So die Selbstkritik des Bahro-Komitees, vgl. ebd. 161 Vgl. ebd., S. 154.
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Herausgabe eines Materialienbandes162 geschaffen, welcher Thesenpapiere und Diskussionsbeiträge zu den jeweiligen Themenschwerpunkten enthielt. Diese orientierten sich im Vergleich zu den Podiumsveranstaltungen wesentlich stärker an Fragen, die Bahro in seinem Werk aufwarf. So ging es in AG 6 beispielsweise um „Sozialismus und psychosoziale Emanzipation“, in Anlehnung an das Kapitel 10 der »Alternative« mit dem Titel: „Bedingungen und Perspektiven der allgemeinen Emanzipation heute.“163 Auch die AGs 3, 4, 8 und 9 bezogen sich sehr konkret auf einzelne Abschnitte des Buches.164 Ein größerer thematischer Bogen wurde dagegen in AG 1 geschlagen, in der die Teilnehmer ausgehend von Bahros Inhaftierung über die generelle Lage der Opposition in Osteuropa diskutierten.165 Mihály Vajda, ein ungarischer Philosoph, der in den Siebziger Jahren verschiedene Gastprofessuren in Europa und Nordamerika wahrnahm, schilderte die Benachteiligungen kritischer Studenten und Intellektueller in seiner Heimat. Gabriel Berger, ein polnischer Physiker, der erst 1977 aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt war, berichtete von der demokratischen Oppositionsbewegung in der Volksrepublik Polen. Der tschechoslowakische Theaterregisseur Ludvik Kavin legte in knapper Form seine Eindrücke von der Charta ’77 dar. Boris Weil knüpfte mit einem Blick auf die Aktivitäten der Menschenrechts- beziehungsweise „Helsinki-Gruppen“ in der Sowjetunion an. Und Günter Erbe, damals Soziologiedozent an der FU Berlin, sprach über die Geschichte der Opposition in der DDR. Schwerpunkt der anschließenden Diskussion war unter anderem die Frage, ob es den Helsinki-Gruppen in Osteuropa nur um die Erlangung „bürgerlicher“ Menschenrechte ging. Konnte dies ein berechtigtes politisches Ziel ernsthafter Sozialisten sein? Aus den Reihen der osteuropäischen Teilnehmer wurde darauf erwidert, dass es nicht um diese Frage ginge, sondern dass Presse- und Versammlungsfreiheit „wesentliche Voraussetzungen seien, um überhaupt eine sozialistische Strategie öffentlich diskutieren zu können.“166 Vajda verdeutlichte, dass die Gruppen nicht um die Rechte des Bürgertums kämpften, sondern um „individuelle Freiheitsrechte“167, die Bestandteil einer jeden sozialistischen Gesellschaft sein müssten. Zu den Arbeitsgruppen, in denen Osteuropa nicht das vorherrschende Gesprächsthema war, sondern verstärkt über die Situation in West- und Südeuropa ge162 Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Internationaler Kongreß für und über Rudolf Bahro. Umbruch in Osteuropa – die sozialistische Alternative. Materialien. Köln 1978. 163 BAHRO, Rudolf: Die Alternative, S. 299-360. 164 Die Themen der AGs 1 bis 9 in ihrer Reihenfolge: „Arbeiter und Intelligenz im Prozeß krisenhafter Aufbrüche in Osteuropa“, „Die Rolle des Staatsapparates und der osteuropäischen KPen unter den Bedingungen von Revolution und Reform“, „Ökonomie als ‚organisierte Verantwortungslosigkeit‘? Alternative einer sozialistischen Wirtschaft“, „Sozialistische Strategie und ihre Bedeutung für vorindustrielle Gesellschaften“, „Stalinismus und westeuropäische Parteien“, „Sozialismus und psycho-soziale Emanzipation“, „Patriarchat in den nichtkapitalistischen Gesellschaften. Frauen in der DDR“, „Wachstums-, Technik- und Konsumkritik bei Bahro“, „Die Aufhebung der Arbeitsteilung und die Rolle des Staates auf dem Weg der sozialistischen Veränderung.“ 165 Dass der Bezug zu Bahros Thesen hier nicht klar hergestellt werden konnte, wurde von den Veranstaltern damit entschuldigt, dass für die Teilnehmer aus Osteuropa noch keine geeigneten Übersetzungen der »Alternative« vorlagen. Vgl. MÄNICKE-GYÖNGYÖSI, Kristina/STEINKE, Rudolf u. a. (Hg.): Der Bahro-Kongreß, S. 92. 166 Ebd., S. 105. 167 Ebd., S. 106.
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sprochen wurde, gehörten die AG 5, 8 und 9. In der AG 5 zum Thema „Stalinismus und westeuropäische Parteien“ gingen unter anderem Detlev Claussen, Soziologe in der Tradition der Frankfurter Schule, der Politologe Michael T. Greven und Peter Brandt den Wurzeln und der Ausprägung des Eurokommunismus nach. Alexandre Adler, ein Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, erklärte das politische Phänomen zum Versuch, „in Westeuropa eine sozialistische Massenbewegung aufzubauen, die weder stalinistisch noch sozialdemokratisch sein könne.“ Deshalb wollte er die bundesdeutschen Linken dazu aufrufen, „ihren Beitrag zu leisten.“ Wie sie dabei gegenüber dem Staat und der Bevölkerung auftreten sollten, wurde weder von Adler, noch von anderen Teilnehmern konkretisiert. Man hielt lediglich fest, dass für die Perspektive des Sozialismus in Westeuropa die „Demokratisierung staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen“168 entscheidend sei. Auch in der AG 9 zur „Aufhebung der Arbeitsteilung und der Rolle des Staates auf dem Weg der sozialistischen Veränderung“ beschäftigten sich die Teilnehmer eher mit Fragen zum Verhältnis Staat und Arbeitsteilung sowie zum Verhältnis Arbeitsteilung und Herrschaft, anstatt sich mit der Rolle des Staates bei der Veränderung der Herrschaftsverhältnisse in kapitalistischen Staaten auseinanderzusetzen: „Lediglich einige Diskussionsbeiträge bezogen sich auf diese Problematik, aber über Statements sind wir nicht hinausgekommen“169, resümierten die Protokollanten. Die AG 8 zum Thema „Wachstums-, Technik- und Konsumkritik bei Bahro“ ist deshalb erwähnenswert, weil hier Denkansätze für die Entwicklung einer „alternative[n], sozialistische[n] Technologie“ in kapitalistischen Gesellschaften besprochen wurden. So heißt es in der Zusammenfassung: „Alternative Technologie muß überschaubare Technologie sein, d. h. eine relativ schnell erlernbare und leicht kontrollierbare. Sie setzt die Dezentralisierung oder gar Auflösung vorhandener Menschenkonzentration voraus.“170 Versuche zur Konkretisierung dieser Ansätze seien nur selten unternommen worden, so beispielsweise bei den Kämpfen gegen das Fließbandsystem in Italien 1969 oder in der zeitweiligen Gewerkschaftsdiskussion um die „Humanisierung der Arbeit“. Grundsätzlich müsse „ein humanistisch sozialistischer Produktivitätsbegriff […] von der Interessenartikulation der betroffenen Produzenten ausgehen“171. Zwei Problemfelder wurden ausgemacht: Die alternative Technologie würde einen Effektivitätsverlust bedeuten und das Problem der Massenarbeitslosigkeit womöglich nicht beseitigen. Die menschenrechtlichen Dimensionen dieser Probleme wurden nicht ausgelotet. Denkbar wäre ja eine Diskussion über das Recht auf Arbeit nach Art. 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen gewesen, gerade, weil in der AG auch die Situation in der DDR angesprochen wurde, in der das Recht in der Verfassung verankert war.
4. E RGEBNISSE UND AUSSENWIRKUNG Wie am Beispiel der drei genannten AGs deutlich wird, führte das Reden über Bahro an Themen wie Repression und Menschenrechtsverletzungen weitgehend vorbei. Es verwundert deshalb nicht, dass aus diesen Kernveranstaltungen nichts Greifbares in die offizielle Abschlussresolution des Kongresses einfloss. Rudolf Steinke liefert 168 Ebd., S. 160. 169 Ebd., S. 237. 170 Ebd., S. 231. 171 Vgl. ebd., S. 230.
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für diesen Umstand noch zwei weitere Begründungen: Zum einen habe man Bahros Haftsituation in Bautzen weitgehend ausgeklammert. Vereinzelte Anspielungen wie von Heinz Brandt, der gesagt haben soll: „Lebte Bahro bei uns, so hätte er Berufsverbot, dürftige Auflagen, kümmerlichen Unterhalt“172, konnten aus Unkenntnis heraus sogar als Verharmlosung verstanden werden. Zum anderen weist Steinke auf den wohl entscheidenden Umstand hin, dass das relativ knappe Papier bereits zum Eröffnungstag von Rudi Dutschke, JiĜí Pelikan, Gerhard Schröder und ihm verfasst worden sei.173 Alle vier waren eher Kritiker als Verteidiger der »Alternative«. Das ist auch der Grund, weshalb sich die Resolution eher wie eine der unzähligen Solidaritätsbekundungen liest, die nach Bahros Verhaftung veröffentlicht wurden, und kein entschlossener Aufruf war, mit dem in irgendeiner Weise politischer Druck ausgeübt werden sollte. Das vorweggenommene Ergebnis des Kongresses formulierten seine Verfasser wie folgt: „Unabhängig von den tagespolitischen Fronten haben wir versucht, durch diesen Kongress ein Beispiel zu geben. Wir bekräftigen unseren Willen, daß wir weiterhin in unseren Ländern und durch den Erfahrungsaustausch untereinander diese Diskussion weiterführen und die 174 Solidaritätsarbeit verstärken werden.“
Damit wurde noch einmal unterstrichen, dass die Veranstaltung nicht als singuläre Solidaritätsaktion gedacht war, sondern als Startpunkt eines neuen Dialogs zwischen Linken in Ost und West, möglichst sogar als „Kettenglied […] einer bereits seit längerer Zeit intensiv laufenden Diskussion über die Einschätzung der Länder des ‚real existierenden Sozialismus‘“175, auf deren Fortsetzung man hoffte. Was dem Bahro-Kongress, über den bloßen Erfahrungsaustausch der europäischen Linken hinaus, den Charakter einer Antirepressionsveranstaltung verlieh, war zum einen sein Erfolg, den Fall Bahro endgültig international bekannt gemacht zu haben. Dadurch geriet die DDR-Führung unter Druck, eine schnelle Lösung herbei zu führen.176 Zum anderen wurde der Kongress von Teilnehmern geprägt, die in ihren Reden und Diskussionsbeiträgen ausdrücklich auf ihr Repressionsempfinden in der Bundesrepublik und folglich auf die Gefährdung von Menschenrechten in Ost und West aufmerksam machten. Zu ihnen gehörten der oben erwähnte TU-Präsident Rolf Berger, Ossip K. Flechtheim, der im Namen der „Liga für Menschenrechte“ die Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille für Rudolf Bahro ankündigte, Wolf-Dieter Narr, der auf dem Kongress den Sinn des 3. Russell-Tribunals erläuterte,177 Ernest Mandel, der das Eintreten für Bahro als Teil der internationalen „Bewegung für uneingeschränkte Freiheit der Meinung, der Gesinnung, der Presse, der Kritik“178 beschrieb, Heinz Brandt, der sich selbst als Teil eines „Menschenbergs“ verstanden wissen wollte, der in der bundesdeutschen Gesellschaft gleich-
172 Zit. nach: GREMLIZA, Hermann L.: Der politische Denker Bahro hatte auf seinem Kongreß nicht viel Glück. In: Konkret (Nr. 1, 1979). 173 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). 174 MÄNICKE-GYÖNGYÖSI, Kristina/STEINKE, Rudolf u. a. (Hg.): Der Bahro-Kongreß, S. 248. 175 Ebd., S. 5. 176 Vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 281. 177 MÄNICKE-GYÖNGYÖSI, Kristina/STEINKE, Rudolf u. a. (Hg.): Der Bahro-Kongreß, S. 1315. 178 Ebd., S. 15.
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sam überflüssig und ohne Zukunft sei,179 und Gerhard Schröder, der seine Hoffnung äußerte, der Kongress könne auch zu verbesserten Haftbedingungen seines Mandanten Horst Mahler führen.180 Von ihren Botschaften ausgehend, mahnte der österreichische Eurokommunist Franz Marek auf der Abschlusskundgebung eindringlich, Menschenrechtsverletzungen als weltweites Problem wahrzunehmen. Dabei erinnerte er auch an die Maxime der Universalität, der Unveräußerlichkeit und der Unteilbarkeit der Menschenrechte: „Wir halten es für unglaubwürdig, gegen die Berufsverbote in der Bundesrepublik zu kämpfen und dazu zu schweigen, daß in der benachbarten ýSSR tausende Kommunisten seit 10 Jahren ihren Beruf nicht ausüben können, und manche davon überhaupt keine Arbeit haben. Wir halten es aber auch für eine widerwärtige Heuchelei, wenn die Problematik der Menschenrechte nur auf Osteuropa reduziert, die Massaker in Nicaragua bagatellisiert und dem 181 Schah von Persien die Referenz bewiesen wird. […] Für uns ist Solidarität unteilbar.“
Obgleich manche dieser Stellungnahmen weit über die Thematik des Kongresses hinausgriffen, knüpften sie doch im Kern immer an dessen Ausgangspunkten an: die Solidarität mit Rudolf Bahro – der quasi alle politischen Gefangenen in der DDR und im Ostblock repräsentierte –, und das grenzübergreifende Engagement gegen die Unterdrückung politisch Andersdenkender. Diese gesamtdeutsche wie internationale Perspektive auf Repression, fand auch in der Abschlussresolution ihren Ausdruck: „[…] wie die vielen Fälle von Berufsverboten und andere Formen der Einschränkung demokratischer Rechte in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) zeigen, haben Gleichgesinnte Bahros in diesem Lande Schwierigkeiten, ihre Ideen und Vorstellungen über eine alternative gesellschaftliche Entwicklung zu verbreiten und ungehindert zu vertreten. Darum ist es für uns selbstverständlich, gegen jede politische Repression und für die Verwirklichung der sozialen und Menschenrechte und für eine allgemeine Amnestie für alle politischen Gefangenen überall in der Welt zu kämpfen.“
Mit diesen Schlussworten vermittelten die Veranstalter den Anschein, als sei ihnen tatsächlich gelungen, den Kongress von der reinen Diskussionsveranstaltung zur Plattform für Protest- und Denkansätze aus verschiedenen Teilen der Linken auszubauen. „Plattform“ nicht nur im Sinne einer öffentlichen Bühne, auf der prominente Linke aus Ost und West auftraten, sondern auch funktionell, nämlich als Basis für ein mögliches Engagement in anderen politischen Fragen. In der Presse gingen die Einschätzungen darüber freilich auseinander. Herzberg und Seifert bemerken richtig, dass der Tonfall der Artikel jedoch tendenziell positiv ausfiel, alles in allem in einem Bereich von moderat-kritisch bis freundlich-zustimmend schwankte.183 Die Vielzahl der Veröffentlichungen spricht für das rege Inter179 Ebd., S. 17. 180 Ebd., S. 10f. 181 Ebd., S. 246. 182 Ebd., S. 248. 183 Vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 281. Sie beziehen sich vermutlich auf: BRANDT, Peter: Der Berliner ‚Bahro-Kongreß‘, S. 244f. Brandt gibt einen Überblick über das „politische Urteil“ der Presse, das „von positivem Engagement linker Blätter (»das da«/»avanti«, »Langer Marsch«, »links«, »was tun?«) über die freundliche Aufnahme durch
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esse, mit dem die Korrespondenten den Kongress verfolgten. Ihr erster Blick richtete sich meist auf die Teilnehmer: Wer kam und wer kam nicht zum Kongress? Während die einen von einem „großen Teil der westeuropäischen Linken“184 sprachen, der in Westberlin zusammengekommen sei, meinten aufmerksamere Beobachter, das mit dem Fernbleiben von SPD und DGB wichtige Unterstützer der Solidaritätskampagne für Rudolf Bahro gefehlt hätten.185 Zudem seien die Kommunistischen Parteien Italiens und Spaniens nur jeweils mit einem unbedeutenden Funktionär vertreten gewesen. Auch die Nichtbeteiligung der dogmatischen, an der SED orientierten DKP und SEW aus dem linken Spektrum der Bundesrepublik fiel auf – Mitglieder der Parteien verteilten auf dem Campus der TU Handzettel, auf denen die Inhaftierung des Regimekritikers verteidigt wurde. Darüber hinaus seien auch K-Gruppen wie die maoistische KPD (m), der KB und speziell der Kommunistische Bund Westberlins (KBW) ferngehalten worden, „weil man deren Standpunkt für ‚noch nicht geklärt‘ hält“186, zitiert der Journalist Hans-Joachim Noack einen der Organisatoren. Aufhänger der Kongressberichte war durchweg die Frage, ob die Veranstaltung Einigkeit oder Uneinigkeit ausgestrahlt habe. Dabei muss unterschieden werden zwischen der generellen Zerstrittenheit der bundesdeutschen Linken und den Meinungsverschiedenheiten während des Kongresses. Letztere offenbarten sich allein durch den Ablauf der Podiumsdiskussionen und das Auftreten ihrer prominenten Teilnehmer. Von „ermüdenden Selbstdarstellungen der Schreibtischmarxisten“ sprach beispielsweise der Journalist Günther Maschke: „Zu viele Diskussionsbeiträge, die dann aber in äußerster Kürze durchgebracht werden mussten, ermöglichtem es jedem, zu sprechen und niemandem etwas zu sagen.“187 Sein Kollege HansWerner Franz beobachtete, dass „zu viele Diskutanten gar nicht daran dachten, ernsthafte Debatten zu führen.“ Lieber gefielen sie sich darin, „mit teils billiger, teils unbilliger Polemik und Schlagworteakrobatik das große Auditorium maximal aufzuregen oder zu langweilen […].“188 Besonders am Umgang mit Peter von Oertzen, einer der wenigen Sozialdemokraten, die am Kongress teilnahmen (und sich zu erkennen gaben), wurde der Diskussionsstil gemessen.189 Als der Landesvorsitzende der SPD Niedersachsen erklärte, dass es zum Charakter einer sozialistischen Demokratie gehöre, dass die einen Teil der liberalen Presse (»Frankfurter Rundschau«, »Süddeutsche Zeitung«, »Stern«, verschiedene Regionalzeitungen) und die sachlich-distanzierte Haltung konservativer (»Frankfurter Allgemeine Zeitung«), liberaler (»Die Zeit«) und sozialdemokratischer (»Vorwärts«, »Berliner Stimme«) Zeitungen bis zu der von offensichtlichen Verdrehungen und Unterschlagungen gekennzeichneten Artikel der DKP/SEW-Organe (»Unsere Zeit«, »Die Wahrheit«)“ reichte. Die Zeitungen des Axel Springer-Verlags hätten sich „fast völlig abstinent“ gezeigt. 184 FRANK, Michael: Bahro-Kongreß vereint Westeuropas Linke. In: Süddeutsche Zeitung (18./ 19.11.1978). 185 Vgl. MÜLLER, Liselotte: Bahros Alternative ist nicht die einzige. In: Augsburger Allgemeine (18.11.1978). 186 NOACK, Hans-Joachim: Über Rudolf Bahro, Schicksal und Chance. In: Frankfurter Rundschau (20.11.1978). 187 MASCHKE, Günther: Die radikale Linke entdeckt die Meinungsfreiheit. Konfusionen beim Bahro-Kongreß in Berlin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (20.11.1978). 188 FRANZ, Hans-Werner: Nur einig in der Forderung nach Freilassung. In: Berliner Extra-Dienst (21.11.1978). 189 Von Oertzens Teilnahme war innerparteilich umstritten. Vgl. FICHTER, Tilman: Die SPD und die nationale Frage. In: STEPHAN, Cora (Hg.): Wir Kollaborateure, S. 107-124, hier: S. 120.
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Institutionen des demokratischen Staates ausgebaut und gekräftigt werden und dass die Bekämpfung abweichender Ideen nicht Sache der Polizei sei, sondern in einer offenen politischen Auseinandersetzung stattfinden müsse,190 wurde er mit scharfen Zurufen belegt: „Du Schwätzer, es sollte dir eigentlich klar sein, was deine Partei mit uns treibt!“191 zitierte Noack eine Stimme aus dem Publikum. Maschke erwähnte in diesem Zusammenhang, dass von Oertzen „wieder einmal an Ebert und Noske erinnert“ worden sei „und daran, daß seine Partei heute ‚eine ganze Generation von anarchistisch-blanquistischen Revolutionären in den Zuchthäusern der Republik ermorden‘ lasse.“192 Dieser Einwurf sei vor versammelter Masse nicht auf Widerspruch gestoßen. Aber auch von Oertzens Reaktion blieb nicht unkommentiert: Dass man seine Partei für „alle Repression in diesem Staat verantwortlich machen wollte“, habe der SPD-Politiker mit einem „perfekten Wutausbruch“ gekontert. Frank zitierte ihn mit den Worten: „Ihr solltet Eure Neurosen besser kontrollieren, Genossen!“193 Von Oertzen und die beiden anderen anwesenden SPD-Funktionäre Klaus Matthiessen und Gerhard Schröder gerieten wegen der doppelten Ausrichtung des Kongresses gegen Repression in Ost und West immer wieder zwischen die Fronten. Nicht nur bei der viel geäußerten „Kritik am Kapitalismus allgemein und an den Zuständen in der Bundesrepublik im besonderen“, sondern auch, weil ihre eigene Partei dem Kongress insgesamt distanziert gegenüber stand. Dies sorgte wiederum für Unmut bei einigen Teilnehmern, die ihrerseits ausblendeten, dass den Kongress „zahlreiche Solidaritätsadressen und Spenden sozialdemokratischer Organisationsgliederungen“194 erreicht hatten. Über dieses Kleinklein hinaus war die generelle Zerstrittenheit der bundesdeutschen Linken das zentrale Thema in den Berichten zum Kongress. War es den Veranstaltern wirklich gelungen, einen Dialog in Ost und West in Gang zu bringen, wenn sich nicht einmal die Linken aus der Bundesrepublik zuhörten? Im Rückblick blieben lediglich zwei Punkte, an denen man eine „irritierende Einigkeit beinahe aller“ Teilnehmer ausmachte: Die Würdigung Rudolf Bahros und die Botschaft, „daß es im Sozialismus wirkliche Meinungsfreiheit geben müsse, und daß der Sozialismus die bürgerlichen Freiheiten nicht nur nicht beseitigen, sondern ernstlich wahr zu machen habe.“195 Auf dieser Basis mochte der Ost-West-Dialog in Gang gekommen sein, doch schon die Bedeutung dieses schmalen Konsenses für die bundesdeutsche Linke war umstritten: Während Frank bilanzierte, dass die linke Theoriediskussion dank ihm „einen neuen Schub bekommen habe“, weil sie sich endlich „vom direkten Vergleich mit dem real existierenden Sozialismus“196 befreien konnte, zeigte sich der Journalist Joachim Nawrocki ganz und gar nicht von einem solchen Fortschritt überzeugt. Die bundesdeutschen Linken seien nicht ins Gespräch gekommen, „nicht einmal über das, was Sozialismus ist und was er nicht
190 Vgl. FRANK, Michael: Bahro-Kongreß vereint Westeuropas Linke. 191 NOACK, Hans-Joachim: Über Rudolf Bahro, Schicksal und Chance. 192 MASCHKE, Günther: Die radikale Linke entdeckt die Meinungsfreiheit. 193 FRANK, Michael: Rückkehr zur Utopie. In: Süddeutsche Zeitung (20.11.1978). 194 BRANDT, Peter: Der Berliner ‚Bahro-Kongreß‘, S. 245. 195 MASCHKE, Günther: Die radikale Linke entdeckt die Meinungsfreiheit. 196 FRANK, Michael: Prüfsteine für Eurokommunisten. In: Süddeutsche Zeitung (24.11.1978).
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ist, waren [sie] sich einig, und über sozialistische Strategien und Koalitionen waren sie es schon gar nicht.“197 Ein Hauptgrund, weshalb die Selbstverständigung der bundesdeutschen Linken weit mehr in den Mittelpunkt des Kongresses rückte als Rudolf Bahro, war die Haltung der undogmatischen Linken. Vor allem sie hätten den Kongress als Chance betrachtet, eine seit Mitte der Siebziger Jahre laufende Diskussion um die Zersplitterung ihres Spektrums zu einem Ende zu bringen, meint Hajo Cornel und verdeutlicht: „Es ging um die Frage, ob man sich, nach der für viele unerträglichen Zeit der sektenhaften K-Gruppen, außerhalb der SPD stärker formieren kann.“ Bahro, »Die Alternative« und der Kongress seien „ein willkommener Anlass gewesen, um Selbstverständigungsgespräche in der undogmatischen Linken zu führen.“198 Die sozialistischen Kräfte zu vereinheitlichen, diesem Ziel hatte sich vor allem das Sozialistische Büro verschrieben, das den Kongress in persona Elmar Altvaters und Wolf-Dieter Narrs begleitete. Aber auch die Mitglieder ehemaliger trotzkistischer Gruppierungen suchten nach Orientierung, nach Gemeinsamkeiten mit anderen Linken. Cornel verweist zudem auf die Mithilfe der Zeitschrift »Neuer Langer Marsch«, deren Redaktionsräume dem Bahro-Komitee anfangs als Treffpunkt gedient hätten und deren prominente Beiträger Bernd Rabehl, Rudi Dutschke, Ossip K. Flechtheim, Helmut Gollwitzer auf dem Kongress im Rampenlicht standen. Wie viel Eigeninteresse spielte bei ihnen und allen anderen Unterstützern aus der undogmatischen Linken mit? War das Engagement für die Opposition in der DDR gar nur vorgeschoben, ein Vorwand, um Probleme im eigenen politischen Umfeld zu lösen? Tatsächlich legte der Bahro-Kongress unbequeme Altlasten der bundesdeutschen Linken offen, deren Abarbeitung die Voraussetzung für einen fortgesetzten Verständigungsprozess war: Zum einen hatten sie sich im Zuge der Verwestlichung der Bundesrepublik vom traditionellen linken Projekt des Kommunismus abgewendet. „Dies war mit der Sowjetunion diskreditiert“, erinnert sich der Soziologe Detlev Claussen. Zum anderen hatten sie ebenso konsequent jene Probleme ausgeblendet, „die mit der nationalen Frage zu tun hatten.“ Hier blieb unbeantwortet, „inwiefern die Nation und die nationale Einheit mit dem nationalsozialistischen Erbe identisch und inwiefern nicht identisch sind.“199 Claussen vertritt die Ansicht, dass die bundesdeutsche Linke bewusst der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus dem Wege ging, um sich nicht in die Schuldfrage zu verstricken. „Es ist ja immer leichter, wenn die Schuld gut verteilt ist. Am besten, die anderen haben Schuld, und man selber ist in der Position des moralischen Anklägers.“200 Mit der Verdrängung der nationalen Frage war auch die DDR aus dem Blick geraten. Dies brachte den Vorteil mit sich, dass sich die Linken im Westen auch nicht mit dem real existierenden Sozialismus befassen mussten. „Dieser war viel zu kompliziert, viel zu schwierig […], weil links und rechts als Koordinaten nicht mehr aus-
197 NAWROCKI, Joachim: Bahro-Kongreß: Die Linke bleibt in sich zerstritten. In: Die Zeit (24. 11.1978). 198 Hajo Cornel am 27.08.2009 (m). 199 Ebd. 200 CLAUSSEN, Detlev: Die undogmatische Linke im Westen und ihr schwieriger Blick auf die osteuropäischen Dissidenten. In: Geschichtswerkstatt Jena (Hg.): Linke Opposition in der DDR und undogmatische Linke in der BRD, S. 57.
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reichten“201 – mit anderen Worten: „[E]in langfristiges Problem […], das auch grundsätzlich die eigenen Konzeptionen in Frage stellte […].“202 Vor diesem Hintergrund erwarteten einige Beobachter des Kongresses sicherlich, dass es zu einer Aussprache innerhalb der bundesdeutschen Linken käme. Ob Bahro dafür als Vorwand diente oder nicht, erschien dabei wenig relevant. Man studierte die Linken lieber dabei, wie sie sich ihren Altlasten näherten und wie sie dabei miteinander umgingen. Die Urteile darüber fielen mal moderat aus, wie bei Michael Frank: „Die Annahme, die ‚Linke‘ hätte sich phönixgleich aus ihrer Zersplitterung erhoben, wäre genauso falsch wie die Feststellung, auch diese Versammlung sei in der Heillosigkeit der Richtungsstreitigkeiten versunken“203; mal provokant, wie bei Wolfgang Kraushaar, für den der Kongress nicht mehr als ein „entschlossener Schritt nach hinten“ war: „Anstatt die Mythen der Linken dieses Landes in Frage zu stellen und ihre Nebelbildungen aufzulösen, hat man einmal mehr auf das ideologische Rüstgepäck der Vergangenheit zurückgegriffen.“204 Kraushaar, damals angehender Chronist der APO, fragte sich, was mit einer linken Einigkeit überhaupt gewonnen wäre: „Kaum eines der wesentlichen Probleme unserer Gegenwart […], weder die globale Krise des Ökosystems, noch der rasante Zerfall von Sozial- und Charakterstrukturen lassen sich im Ernst noch auf der Folie einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Abschaffung der Lohnarbeit diskutieren.“205 Bei den Themen „Oktoberrevolution“ und „Prager Frühling“ habe ein Dogmenstreit mit „immer weiter ausufernden Konfusionen“ stattgefunden. Was hier gesagt wurde, sei schon „Hunderte von Malen gesagt worden“, wobei Redner wie Ernest Mandel und Elmar Altvater geradezu Paradebeispiele dafür abgegeben hätten, „wie wirklichkeitsfremd und versponnen“206 die bundesdeutsche Linke sei. Neben Kraushaar gab es auch linke Kongressbeobachter, die die Frage der Altlasten außen vor ließen. So lag das Hauptaugenmerk von »Radikal« allein auf der Gegenwart, indem gefragt wurde, welchen Ertrag die Veranstaltung zur laufenden theoretischen Debatte der undogmatischen Linken geliefert habe: „Gerade die Charakterisierung der menschlichen Unterordnung unter erzwungene und verinnerlichte Zwänge als wesentlichen Grund staatlichen Funktionierens, dieser Begriff der Subalternität, hätte für uns Anlaß sein können, unsere momentane Ratlosigkeit wenigstens zu formulieren.“207 Mit Bedauern stellte man fest, dass diese „erfrischenden Ansätze“ in den Podiumsdiskussionen und Arbeitsgruppen nicht aufgegriffen worden seien. Auch der »Berliner Extra-Dienst« suchte in seinem Fazit nach dem Nutzen, den die Diskussionsbeiträge des Kongresses für die linke Theoriebildung brachten. In den Arbeitsgruppen sei „einigermaßen erfolgreich der Versuch unternommen worden […], eine ernsthafte Debatte zu führen.“ Die im Rahmen der Podiumsdiskussionen zumindest ansatzweise Auseinandersetzung mit der Sowjetunion, dem Stalinismus und dem Faschismus schilderte Franz als kurioses Aufeinandertreffen von Gestrigen: Mandel und Dutschke hätten sich in der Kritik an der Sowjetunion als „Weichspüler“ erwiesen, wie „auf einem Teach-in von vor zehn 201 Ebd., S. 58. 202 Ebd., S. 60. 203 FRANK, Michael: Prüfsteine für Eurokommunisten. 204 KRAUSHAAR, Wolfgang: Linke Geisterfahrer. Zum Solidaritätskongreß für Rudolf Bahro. In: Ders.: Revolte und Reflexion. Politische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1990, S. 151-162, hier: S. 158. 205 Ebd., S. 153. 206 Ebd., S. 154f. 207 o. A.: Bahro-Kongreß. In: Radikal (Nr. 49, 24.11.-07.12.1978).
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Jahren“208. Andere, wie Boris Weil und Angelo Bolaffi, hätten weitgehend durch pseudowissenschaftliche Hetze gegen die Sowjetunion auf sich aufmerksam gemacht. Peter Brandt setzte in seinem Bericht ganz andere Akzente, reihte sich jedoch in die gegenwartsbezogenen Kongressbeobachter ein. Im Gegensatz zu Franz räumte er ein, dass die Redner auf den Podiumsdiskussionen „durchaus etwas zu sagen hatten“209. Was sie zu sagen hatten, darauf ging Brandt allerdings nicht ein. Seine vorrangige Botschaft lautete, dass die Linke „eine eigenständige Position“ gegenüber den osteuropäischen Oppositionellen zu entwickeln habe, bevor sich diese den „reaktionären und arbeiterfeindlichen Kräften Westeuropas zuwenden“210. Selbst als Unterstützer der Bahro-Solidaritätskampagne bekannt, resümierte der Historiker und linke Publizist, dass der Kongress zwei Aufgaben zu erfüllen gehabt hatte, die „mit Einschränkungen erreicht worden“ seien: „[E]rstens breite Solidarität mit einem […] ostdeutschen Marxisten […]; zweitens eine politische Debatte zwischen den verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung und der Linken West- und Osteuropas über die Gesellschaften sowjetischen Typs […].“211 Damit lag er auf gleicher Linie mit den Initiatoren, die den Kongress als erfolgreiche Solidaritäts- und Diskussionsveranstaltung charakterisierten. War das alles? Oder war der Bahro-Kongress noch mehr? Berücksichtigt man die Motivation vieler seiner Teilnehmer, dann erinnert er auch an den TUNIXKongress, und zwar in der Hinsicht, dass er eine Reaktion der bundesdeutschen, speziell der undogmatischen Linken auf die eigene politische Schwäche war. So erklärt Hajo Cornel: „Die deutliche Mehrheit hat den Fall Bahro als Chance für den eigenen Selbstverständigungsprozess gesehen. Und denen war die DDR auch relativ egal.“ Im selben Atemzug weist Cornel allerdings darauf hin, dass es „ein paar Leute gab, die durchaus ein persönliches Interesse an der DDR hatten.“212 Dies sei auch eine Frage der Herkunft gewesen. Abgesehen von den ehemaligen DDR-Oppositionellen, die sich für Bahro engagierten, hatten Cornel und weitere Mitglieder des Bahro-Komitees Angehörige jenseits der Mauer. In anderen Solidaritätsgruppen wie dem Schutzkomitee für Freiheit und Sozialismus war der Anteil der ehemaligen DDR-Oppositionellen höher, machte annähernd die Hälfte der Mitglieder aus. Hier wurde die Haltung der bundesdeutschen Linken auch gezielt hinterfragt, wie Manfred Wilke berichtet. So sei der Gedanke geäußert worden, „ob die kleine Opposition in der DDR nicht für manche Westlinke nur die Folie war, auf die das eigene Wunschdenken projiziert wurde und die leisten sollte, was man selber nicht schaffte.“213 Gemeint war zum einen die westliche Vorstellung, dass sich Dissidenten wie Robert Havemann an die Spitze einer oppositionellen Bewegung setzen könnten, die den Sozialismus in der DDR grundlegend reformieren und damit auch in der Bundesrepublik wieder attraktiv machen könnte. Zum anderen bezogen sich solche Nachfragen sicher auch auf die Funktion von Solidaritätsveranstaltungen. Den so genannten „Zweifrontenkrieg“214, welchen die linke Prominenz der Bundesrepublik
208 FRANZ, Hans-Werner: Nur einig in der Forderung nach Freilassung. 209 BRANDT, Peter: Der Berliner ‚Bahro-Kongreß‘, S. 243. 210 Ebd., S. 245. 211 Ebd., S. 242. 212 Hajo Cornel am 27.08.2009 (m). 213 SCHWENGER, Hannes/WILKE, Manfred: Die Arbeit des ‚Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus‘, S. 90. 214 Mit diesem Schlagwort umschrieb Rudi Dutschke auf dem Bahro-Kongress die Absicht, auf jede Kritik an der DDR „sogleich die Schelte der ‚hierzulande herrschenden Verhältnisse‘“
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auf diesen austrug, indem sie die Kritik an der Repression in der DDR immer mit Kritik an der Repression in der Bundesrepublik doppelte, konnte aus ostdeutscher Sicht auch als gefährliche Verharmlosung der Situation in der DDR verstanden werden. Schon Wolf Biermann hatte für die bundesdeutsche Linke die Rolle eines Vorkämpfers gegen Berufsverbote in Ost und West erfüllen sollen, obwohl er selbst auf das ungleiche Ausmaß in beiden deutschen Staaten hinwies. Wie verhielten sich die ostdeutschen Mitglieder des Bahro-Komitees in dieser Frage? Hatten Sie den Eindruck gewonnen, dass der Fall Bahro von bundesdeutschen Linken instrumentalisiert wurde? Die Recherchen liefern dazu keine Hinweise. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass mit Bernd Markowsky im Herbst 1978 ein früherer DDR-Oppositioneller das Bahro-Komitee verließ. In einem Brief begründete er seine Entscheidung mit politischen und persönlichen Differenzen: Es habe im Komitee kaum noch inhaltliche Diskussion, sondern „zuviel Administration“ gegeben, die mit „taktischem Verhalten“ der Mitglieder einhergegangen sei, insbesondere in Bezug auf den Kongress. Hier seien diejenigen, die der Veranstaltung ihr Gesicht verliehen hätten, verächtlich als „Promis“ abgetan und von den Vorbereitungen „völlig ausgeschlossen“ worden. Seine Vorstellung, den Kongress als Seminarreihe zu gestalten, mit „tiefergehender Diskussion, menschlichen Beziehungen unter den Genossen (nicht Vereinsmeierei)“215 sei enttäuscht worden. Kritik an einer Zweckentfremdung des Kongress für Belange der bundesdeutschen Linken, äußerte Markowsky bei dieser Gelegenheit jedoch nicht. Der Gedanke, die Linke in der Bundesrepublik über die Auseinandersetzung mit der Repression in der DDR ins Gespräch zu bringen und eventuell eine neue Einigkeit unter ihnen herzustellen, mag bei den ein oder anderen Initiatoren einen Motivationsschub ausgelöst und der generellen Resonanz der Veranstaltung Vorschub geleistet haben. Dass linker Eigennutz aber nicht im Vordergrund stand, besonders nicht im Bahro-Komitee, bestätigt die ungebrochene Weiterführung der Solidaritätskampagne für Rudolf Bahro bis ins Jahr 1979.
5. D IE B AHRO -S OLIDARITÄTSKAMPAGNE 1979 Aller Diskussionsmüdigkeit und Uneinigkeit zum Trotz folgten dem Kongress gleich mehrere internationale Anschlussveranstaltungen, unter anderem Konferenzen in Venedig und Mailand sowie Vortragsreihen in Kopenhagen, Amsterdam, Paris, London und einigen US-amerikanischen Städten. In der Bundesrepublik fand die Bahro-Solidaritätskampagne weitere Höhepunkte mit dem Appell „Freiheit für Rudolf Bahro“216 im Mai 1979 und der Großveranstaltung in Marburg vom 30. Juni bis 1. Juli 1979, die auch als „2. Bahro-Kongress“217 bekannt wurde. folgen zu lassen. Zit. nach: NOACK, Hans-Joachim: Über Rudolf Bahro, Schicksal und Chance. 215 Brief von Bernd Markowsky an das Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros. Ohne Datum. In: APO-Archiv, Ordner Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). 216 Vgl. Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros: Freiheit für Rudolf Bahro. Appell an den Staatsrat der DDR zur Generalamnestie der politischen Häftlinge aus Anlass des 30. Jahrestages der Staatsgründung. In: Dass. (Hg.): Sein Lied geht um die Welt. Berlin 1979, S. 28. Ursprünglich erschien der Appell am 11.05.1978 in der Frankfurter Rundschau. 217 Vgl. Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros: Bahro als einigendes Band für Antikommunisten aller Art. Einige Anmerkungen zum ‚zweiten nationalen Bahro-Kongress‘ in Marburg. In: ebd., S. 92.
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Die Planungen für beide Aktivitäten begannen mit dem Arbeitstreffen des Bahro-Komitees und seiner Unterstützer am 17./18. März 1979 in Hannover. Auf der Tagesordnung standen: (1) die Auswertung des Bahro-Kongress; (2) der Vorschlag, ein 4. Russell-Tribunal über die DDR zu veranstalten; (3) Überlegungen zur verbesserten Zusammenarbeit mit Gewerkschaften sowie zu Aktivitäten anlässlich des ersten Jahrestages von Bahros Verurteilung oder des 30. Jahrestages der Gründung der DDR. Letztere gingen auf den Westberliner Kern des Bahro-Komitees zurück. Dieser hatte sich im Februar neu konstituiert und seine Kompetenzen auf zwei Arbeitsgruppen verteilt: Hinter der Arbeitsgruppe „Amnestie“ stand die Idee, am 7. Oktober 1979 einen Appell an den Staatsrat der DDR zu richten, alle politischen Gefangenen zu amnestieren. Mit der Arbeitsgruppe „DGB“ verband sich das Vorhaben, die Gewerkschaften für die Bahro-Solidaritätskampagne zu gewinnen.218 Der Vorschlag, ein Russell-Tribunal mit dem Schwerpunkt DDR zu veranstalten, stammte von Mitgliedern des „Kölner Bahro Lese- und Solidaritätskreises“.219 Dieser hatte sich am Begleitprogramm des 3. Russell-Tribunals in Köln beteiligt und am 5. Januar 1979 eine Solidaritätsveranstaltung für Rudolf Bahro ausgerichtet, an der auch Vertreter der Bertrand Russell Peace Foundation (RF) teilnahmen. Neben Ingeborg Drewitz traten Rudi Dutschke, der DKP-Gründer Karl Ludwig und die drei abgeschobenen DDR-Oppositionellen Thomas Evler, Rudi Molt und Michael Sallmann ans Rednerpult. Gemeinsam verabschiedeten sie im Beisein von etwa 500 Zuhörern eine Resolution, in der sie die DDR-Führung zur Freilassung von Rudolf Bahro, zur „Herstellung der freien Meinungsäußerung in der DDR“ und zur Freilassung „aller politischen Gefangenen in der DDR“ aufforderten. Außerdem einigte man sich darauf, der RF zu empfehlen, „das nächste Russell-Tribunal zu Menschenrechtsverletzungen in der DDR oder in Osteuropa insgesamt durchzuführen.“220 Die Resolution wurde nicht nur an das Ministerium des Inneren der DDR und an die Ständige Vertretung der DDR in Bonn, sondern auch an das Sekretariat der RF in Nottingham sowie an die Jurymitglieder des 3. Russell-Tribunals versendet. Am 29. Januar 1979 antwortete der RF-Direktor Ken Coates mit einem Brief, in dem er bestätigte, dass seine Stiftung ernsthaft erwog, „ein Tribunal über die Lage in der Deutschen Demokratischen Republik durchzuführen.“ Den Vorschlag, die Entwicklung Osteuropas in ein solches Tribunal einzubeziehen, wies Coates jedoch zurück. Eine Untersuchung solchen Ausmaßes könne nur von Historikern vorgenommen werden, „nicht von Leuten, die sich als Richter verstehen.“ Ohnehin sei, „was die Menschenrechte in der UdSSR angeht, […] bereits eine sehr entwickelte Diskussion“221 im Gange. Die RF sah offenbar die Gefahr, einem entsprechenden Tribunal könnte zu wenig Aufmerksamkeit zuteil werden.
218 Über die Bildung dieser Arbeitsgruppen war auch das MfS informiert. Vgl. BStU MfS-HA XX Nr. 223, S. 260f. 219 Anzunehmen ist, dass die Idee schon auf dem Bahro-Kongress inoffiziell angesprochen worden war. Das MfS nahm diesbezüglich von Vorstößen der Jungsozialisten und von Westberliner Universitätsprofessoren Notiz. Namentlich wurde die Idee eines Russell-Tribunals über die DDR mit Gerhard Schröder, Rainer Thiem, Dieter Staritz und Wolf-Dieter Narr in Verbindung gebracht. Vgl. BStU MfS-HA IX Nr. 1267, S. 21. 220 Resolution der Veranstaltung ‚Solidarität mit Rudolf Bahro‘. In: APO-Archiv, Ordner: BahroKomitee, Korrespondenz 2 (Nr. 1275). 221 Brief von Ken Coates an den Kölner Bahro Lese- und Solidaritätskreis vom 29.01.1979. In: Rundschreiben des Komitees für die Freilassung von Rudolf Bahro (20.04.1979). In: APOArchiv, Ordner: Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272).
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In Hannover berieten das Bahro-Komitee und seine Unterstützer, welche Vorund Nachteile ein Russell-Tribunal über die DDR hätte. Schnell war man sich einig, dass eine definitive Entscheidung noch zu früh käme. Im Protokoll vermerkten Rainer Thiem und seine Mitstreiter sechs Pro- und dreizehn Contra-Argumente, von denen viele um die Frage nach der öffentlichen Wirkung einer solchen Veranstaltung kreisten:222 Würde ein Urteil über die Menschenrechtsverletzungen in der DDR den Antikommunismus in der Bundesrepublik verstärken? Oder könnte es, im Gegenteil, sogar zu einem besseren Image der bundesdeutschen Linken beitragen? Hubertus Knabe, der ein Bremer Bahro-Komitee mitbegründet hatte, gehörte zu den Kritikern des Vorschlags. In einem Papier mit dem Titel „Wider die politische Blauäugigkeit“ fasste er die wichtigsten Gründe zusammen: Die Funktion eines Russell-Tribunals über die DDR „wäre die Verkehrung der ursprünglichen Intention“ des Bahro-Kongresses: Anstatt die „Wirkungsbedingungen der Opposition im Osten wie im Westen“ zu verbessern, würden sich diese nach einem Tribunal nur „verschlechtern“. Zum einen konnte es die deutsch-deutschen Beziehungen belasten, wenn sich „eine nicht mehr differenzierbare Front“223 von außen gegen die DDR engagierte. Zum anderen würde es zu einer Verschärfung der Repression in der DDR führen, wo sich, im Unterschied zum 3. Russell-Tribunal, ohnehin keine Unterstützerbewegung formieren konnte. Direkt damit verbunden war das Problem, dass die Jury gar keine Möglichkeit hätte, DDR-Bürger vorzuladen. Welche Fälle wollte sie dann verhandeln? Wie würde sie sich ein glaubwürdiges Urteil bilden können? Knabe deckte aber noch ein weiteres Dilemma auf: „Seit die russische Revolution den Zarismus hinwegfegte, beißt sich die westliche Linke die Zähne daran aus, ihr Verhältnis zum ‚real existierenden Sozialismus‘ zu klären.“224 Nun habe Bahro die Voraussetzung geschaffen, den Sozialismus sowjetischer Prägung mit Marxschem Theoriefundament zu kritisieren. Auf dieser Basis konnte die Linke eine Sozialismuskritik entfalten, die sich nicht mehr dem Vorwurf aussetzte, „’objektiv antikommunistisch‘“ zu sein. Vielleicht war es sinnvoller, sich auf diesem Wege mit den Staaten des Ostblocks auseinanderzusetzen, anstatt sich im Engagement für ein Russell-Tribunal über die DDR aufzureiben? Vielleicht sollte man sich die Kräfte sparen und sie lieber in die Entwicklung theoretischer wie praktischer Ansätze zur Verwirklichung eines demokratischen Sozialismus in der Bundesrepublik investieren? Nach Ansicht Knabes war der Bahro-Kongress bereits ein solcher Ansatz. An ihm sei klar die „sozialistische Qualität der Osteuropa-Solidarität“ erkennbar gewesen: Bundesdeutsche Linke hätten hier erstmals eine Antwort auf den „alten Zuruf ‚Geh doch in die DDR‘“225 gegeben, mit der sie nicht ihre eigenen Anschauungen infrage stellten. Dennoch, und das gibt Knabe zwischen den Zeilen zu verstehen, waren Linke, die sich gegen Repression in der DDR einsetzten, längst nicht soweit, dass sie für eine realistische sozialistische Alternative werben und eintreten konnten. Ohne eine solche musste die einseitige Verurteilung der DDR jedoch den Anschein erwecken, als wolle man sich für die Bundesrepublik als einzig denkbares 222 Vgl. Aufzeichnungen vom Hannoveraner Bahro-Treffen am 17./18.03.1979. In: Ordner: Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). 223 KNABE, Hubertus: Wider die politische Blauäugigkeit, S. 3. In: APO-Archiv, Osteuropa, Bahro (Schuber) (Nr. 1270). 224 Ebd., S. 1. 225 Ebd., S. 2f.
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Gesellschaftsmodell aussprechen. Dies lag den Initiatoren von DDR-kritischen Kampagnen allerdings fern: „Es gab keine Aussöhnung mit den deutsch-deutschen Verhältnissen, nicht mit der Unterdrückung durch die SED-Bürokratie, […] nicht mit Maßnahmen von Angriffen auf demokratische Rechte und Freiheiten in Westdeutschland“226, betont Carla Boulboullé im Rückblick. Inwieweit sich Linke überhaupt über das Dilemma bewusst waren, dass ihr Engagement gegen Repression in der DDR auch als stilles Einverständnis mit der Situation in der Bundesrepublik gedeutet werden konnte, bleibt unklar. Boulboullé bestätigt zumindest, dass es damals eine Selbstverständlichkeit war, „die bestehenden demokratischen Rechte in Westdeutschland zu nutzen für den Kampf gegen Repression und Unterdrückung, wo immer sie stattfand.“227 Der Bahro-Kongress zeigte, dass es unter den Aktivisten der Solidaritätskampagne für Rudolf Bahro keine offene Diskussion über die individuellen politischen Motive der Beteiligten gab. Ein Teil der Initiatoren und Mitstreiter ging davon aus, dass das gemeinsame Engagement auch im Sinne eines alternativen Sozialismus war – wie ihm Bahros »Alternative« ein Beispiel gab. Ein anderer Teil, speziell SPD-Linke, ließen sich auf das Thema Bahro ein, ohne seine Analysen und Entwürfe auf die Bundesrepublik oder Westeuropa zu beziehen. Dies hätte bedeutet, sich nicht nur gegen das „Modell Deutschland“, sondern auch gegen die Grundprinzipien der eigenen Partei zu stellen. Weil diese unterschiedlichen Motive nicht zur Sprache kamen, trafen Vertreter der SPD mit ihrer (einseitigen) Repressionskritik an der DDR bei den anderen Aktivisten mitunter auf schieres Unverständnis und harsche Kritik.228 Ohne eine linke Selbstreflexion über diese Problematik nahm die Diskussion über ein 4. Russell-Tribunal nach dem Hannoveraner Treffen noch einmal Fahrt auf und verselbstständigte sich quer durch das linke Spektrum. Organisationen wie die Jusos, die Judos, die KPD, die GIM, das SB und der KB brachten Stellungnahmen in Umlauf. Prominente Linke wie Ernest Mandel, Ossip K. Flechtheim, Rolf Berger, Helmut Gollwitzer und Heinz Brandt gaben persönliche Einschätzungen ab. Aus der DDR meldete sich Robert Havemann zu Wort, der davor warnte, dass das Tribunal weder in der Öffentlichkeit, noch bei der Regierung seines Landes eine nachhaltige Wirkung erzielen könnte.229 Unberührt von der Diskussion beschloss das Bahro-Komitee mit seinen Unterstützern, zum 1. Jahrestag der Verurteilung Rudolf Bahros eine Diskussionsveranstaltung in Marburg durchzuführen. Diese Idee war zunächst umstritten, da der Westberliner Kern des Komitees eigentlich regionale Aktivitäten in Köln, Marburg und Berlin ins Auge gefasst hatte. Letztlich setzte sich die Marburger Fraktion aber durch, die ein Ermüden der Solidaritätskampagne befürchtete und sich von einer einzigen Großveranstaltung eine stärkere Mobilisierungswirkung erhoffte.230 226 Carla Boulboullé am 30.06.2009 (s). Hajo Cornel schließt sich dieser Aussage im Gespräch mit dem Autor am 27.08.09 an: „So eine Haltung mag es gegeben haben. Auf mich selber würde es gar nicht zutreffen.“ 227 Carla Boulboullé am 30.06.2009 (s). 228 Wie Peter von Oertzen und Klaus Matthiessen auf dem Bahro-Kongress, siehe S. 353f. 229 Vgl. Flugblatt: Solidarität mit Rudolf Bahro! – Das IV. Russell-Tribunal über die DDR? Herausgegeben vom Komitee für die Freilassung von Rudolf Bahro (Juni 1979). In: APO-Archiv, Ordner Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). 230 Vgl. Aufzeichnungen vom Hannoveraner Bahro-Treffen am 17./18.03.1979. In: Rundschreiben des Komitees für die Freilassung von Rudolf Bahro (20.04.1979). In: APO-Archiv, Ordner: Osteuropa, Bahro (Nr. 1269).
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Die Arbeitsgruppe „Amnestie“ organisierte am 10. Mai 1979 eine Pressekonferenz im Bonner „Hotel am Tulpenfelde“, auf der sie das Papier „Freiheit für Rudolf Bahro“231 vorstellte. Für Fragen und Interviews standen Heinz Brandt, Zdenek Mlýnàr, Peter von Oertzen, JiĜi Pelikan, Otto Schily, Gerhard Schröder sowie Gustav Korlén, schwedisches Mitglied des „Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus“, bereit.232 Bei dem genannten Papier handelte es sich um einen Appell an den Staatsrat der DDR, der zu einer Generalamnestie aller politischen Gefangenen anlässlich des 30. Jahrestages der DDR aufgefordert wurde. Zur Begründung verwiesen die Initiatoren darauf, dass die DDR den Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) am 8. November 1973 ratifiziert hatte.233 Darin werden insbesondere Gedanken- und Religionsfreiheit (Art. 18), Redefreiheit (Art. 19), das Recht auf friedliche Versammlung (Art. 21), Vereinigungsfreiheit (Art. 22) und das Recht, das eigene Land verlassen zu können (Art. 12), garantiert. Die Verfasser des Appells warfen der DDR-Führung vor, dass sie diesen Verpflichtungen weder in der „Gesetzgebung noch in der Praxis der Justiz und Sicherheitsorgane“234 nachkomme. Im Übrigen seien einige der genannten Rechte nicht einmal in der Verfassung der DDR gewährleistet. Gemeint war damit vor allem die Reisefreiheit: Im jüngsten Verfassungstext235 vom 7. Oktober 1974 wurde den Bürgern der DDR nur das Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Staatsgebietes eingeräumt (Kap. 1, Art. 32). Der Appell erinnerte daran, dass „Organisationen der Arbeiterbewegung, Sozialisten, Demokraten, Christen und Kommunisten für die Freiheit der Meinungsäußerung, für das Recht auf uneingeschränkte Information, für Versammlungs-, Streikund Koalitionsrecht und gegen politische Verfolgungen gekämpft“236 hatten. Wenn sich die Repräsentanten der DDR ausdrücklich in die Tradition dieser Kämpfe stellten, dann müssten sie auch die Forderungen des Appells anerkennen. Diese lauteten im Einzelnen: Gewährleistung der im ICCPR verankerten Rechte, Aufhebung der Willkürmaßnahmen gegen Robert Havemann und andere Personen, Annullierung des Urteils gegen Rudolf Bahro, sofortige Generalamnestie für alle politischen Gefangenen.237 Zum Abschluss des Appells unterstrichen die Initiatoren, dass sie keine einseitige Kampagne gegen die DDR verfolgten, sondern „in allen Ländern“ gegen „politische Repression und Berufsverbote (wie z.B. in der BRD) und für die Verwirklichung der sozialen- und Menschenrechte […] eintreten“. Im Rahmen der Pressekonferenz riefen sie zur Unterzeichnung dieses Appells auf. Er wurde in deutscher, dänischer, 231 Flugblatt: Freiheit für Rudolf Bahro. Appell an den Staatsrat der DDR zur Generalamnestie der politischen Häftlinge aus Anlaß des 30. Jahrestages der Staatsgründung. Herausgegeben vom Komitee für die Freilassung von Rudolf Bahro (10.05.1979). In: APO-Archiv, Ordner Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). 232 Einladung zur Pressekonferenz. Rundschreiben des Komitees für die Freilassung von Rudolf Bahro (Mai 1979). In: APO-Archiv, Ordner Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). 233 Der ICCPR wurde am 19.12.1966 von den Vereinten Nationen verabschiedet und trat mit Wirkung für beide deutschen Staaten am 23. März 1976 in Kraft. Siehe: http://www2.ohchr.org /english/law/ccpr.htm (Stand: 06.08. 2010). 234 Flugblatt: Freiheit für Rudolf Bahro. 235 Zum 25. Jahrestag der DDR war die Verfassung noch einmal in zahlreichen Punkten überarbeitet worden. In dieser Fassung blieb sie bis zum 03.10.1990 gültig. Siehe: http://www. documentarchiv.de/ddr/verfddr.html (Stand: 06.11.2011). 236 Flugblatt: Freiheit für Rudolf Bahro. 237 Vgl. ebd.
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englischer, französischer, niederländischer, norwegischer und schwedischer Fassung gedruckt, damit die Unterschriftensammlung in diesen Ländern, möglichst sogar europaweit, erfolgen konnte. Als Ziel der Aktion gab das Bahro-Komitee die Veröffentlichung des Appells einschließlich der Unterschriften in „mehreren bedeutenden Zeitungen Westeuropas“238 aus. Diese Idee war nicht ganz neu: Schon die Unterstützer des 3. Russell-Tribunals hatten zum Beweis für den breiten Rückhalt ihrer Veranstaltung Unterschriften gesammelt und in der »Zeit« vom 29. Dezember 1978 abdrucken lassen.239 Die Arbeitsgruppe „Amnestie“ stand nun vor der Herausforderung, nicht nur viele Unterschriften zu sammeln, sondern auch genug Spenden aufzutreiben, um die Anzeigenschaltung zu finanzieren. Abbildung 10: Ausschnitt aus dem Appell „Freiheit für Rudolf Bahro“
Quelle: APO-Archiv
Die Hoffnung auf eine Amnestie sahen die Initiatoren durchaus als begründet an. Zum einen hatte die DDR schon 1972 einmal eine beschränkte Amnestie für etwa 30.000 kriminelle und politische Gefangene erlassen, von denen etwa zehn Prozent per Abschiebung in die Bundesrepublik gelangten.241 Zum anderen wurden Mitte 238 Ebd. 239 Siehe Kap. VI.7.1, S. 297. 240 Flugblatt: Freiheit für Rudolf Bahro. 241 Mit dem „Beschluss einer Amnestie aus Anlass des 23. Jahrestages der Gründung der DDR“ waren ab November 1972 25.060 Strafgefangene und 6.261 Untersuchungsgefangene freigekommen. Etwa 3.500 von ihnen ließ die DDR in die Bundesrepublik ausreisen, darunter auch Personen in die Bundesrepublik, „die aus mal mehr, mal weniger politischen Motiven hatten flüchten wollen: angewidert vom System, angeeckt in Betrieb oder Familie, angelockt vom Glitzer-Westen. Ein weiteres Kontingent stellten Pendler, die es mal hüben, mal drüben nicht aushielten, zum Teil auch mal hier, mal da vorbestraft waren.“ Siehe: o. A.: Schlechte Optik. In: Der Spiegel (15.01.1973). Die angegebenen Zahlen stammen aus einer Aufzeichnung des Ministerialrats Jan Hoesch im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen vom 07. 06.1973, aufgeführt in: HOFMANN, Daniel/KAISER, Monika u. a. (Hg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. Reihe VI, Bd. 3: Januar 1973 bis 31. Dezember 1974. München 2006, S. 171-177.
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der Siebziger Jahre jährlich konstant etwa 1.400 politische Gefangene über das Freikauf-Abkommen mit der Bundesrepublik vorzeitig entlassen.242 Mit der Veröffentlichung des Appells samt aller Unterschriften pünktlich zum 30. Jahrestag der DDR plante das Bahro-Komitee, die DDR-Führung unter enormen öffentlichen Druck zu setzen. Bis dahin waren Privatpersonen gebeten, den Appell zu kopieren und per Post an den Staatsrat der DDR zu senden. So sollte die DDR-Führung im Laufe des Jahres 1979 mit einer „Welle von Aufforderungen zur Gewährung einer Amnestie konfrontiert“243 werden. Nach den Schilderungen der Bahro-Biografen Herzberg und Seifert können Informationen über die Aktivitäten des Komitees sogar bis in die Strafvollzugsanstalt Bautzen II gedrungen sein, wo Bahro seit 11. August 1978 seine Haftstrafe verbüßte: Von einem Westberliner Häftling erfuhr er zunächst, dass in Marburg eine Kundgebung zu seiner Freilassung stattgefunden hatte. Außerdem berichtete ein Mitinsasse dem MfS, dass Bahro ihn gefragt habe, „ob zum 30. Jahrestag der DDR eine Amnestie komme.“244 Um zu verdeutlichen, dass das Bahro-Komitee nicht nur öffentlichkeitswirksam agierte, sondern im Verborgenen auch direkt mit Oppositionellen in der DDR zusammenarbeitete, ein kurzer Blick in die Akten des MfS: Erwähnung fand hier, dass das Komitee „bestehende Rückverbindungen“ von ehemaligen DDR-Bürgern, die „nach Strafverbüßung wegen Staatsverbrechen in die BRD ausgewiesen wurden“245, nutzte, um Informationen über die Situation politischer Gefangener in der DDR zu sammeln. Außerdem habe das Komitee auf dem Gebiet der DDR die „Popularisierung“ Bahros betrieben und „zur konterrevolutionären ideologischen Aufrüstung“ möglicher „Zielpersonen“ seiner »Alternative« beigetragen. Als konkretes Beispiel wurde die „Ablage von gedruckten Karten, die auf die Existenz des ‚Bahro-Komitees‘ und dessen DDR-feindliche Zielstellung aufmerksam machen, in der Autobahn-Raststätte Michendorf“ bei Berlin genannt. Den Appell „Freiheit für Rudolf Bahro“ wertete das MfS als „operativ bedeutsam und in [seiner] DDR-feindlichen Wirksamkeit wesentlich“246. Zwei Wochen nach der Pressekonferenz in Bonn traf sich das Bahro-Komitee mit seinen Unterstützern zu einer Sitzung in Marburg. Hier wurden der Terminplan des 2. Bahro-Kongresses besprochen und sein Themenschwerpunkt festgelegt. Wie schon bei der Kontroverse um die Aktivitäten zum ersten Jahrestag von Bahros Verurteilung, zeichnete sich ein Bruch zwischen dem Westberliner Kern des Komitees und den Unterstützern aus Marburg und Köln ab. In diesem Fall herrschte Uneinigkeit darüber, ob man die Veranstaltung mit der Frage „Wozu braucht die DDR Gewalt?“ betitelt, obwohl inhaltliche Positionen Bahros diskutiert werden sollten.247 Da die Anwesenden nach vierstündiger Debatte zu keiner einvernehmlichen Lösung fanden, musste eine Schlichtungskommission ans Werk. Sie handelte einen Kom-
242 Nach Angaben des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen Egon Franke betrafen die vorzeitigen Haftentlassungen 1976 1.439 Personen, 1977 1.471 Personen, 1978 1.485 Personen. Vgl. Interne Vorlage von Egon Franke an Helmut Schmidt vom 06.05.1980. In: AdsD, 1/HSAA009072. 243 Flugblatt: Freiheit für Rudolf Bahro. 244 HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 308f. 245 BStU MfS-HA XX Nr. 223, S. 262. 246 Ebd., S. 268f. 247 Vgl. Protokoll der Sitzung der Bahro-Komitees/Gruppen am 26.05.1979 in Marburg, S. 1. In: APO-Archiv, Ordner Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272).
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promiss aus und die Veranstaltung hieß nun: „Sozialistische Opposition im realen Sozialismus – systembedingt?“ Verantwortung für die Öffentlichkeitsarbeit übernahmen die Marburger, Frankfurter und Tübinger Unterstützer, der KB, die KPD (m) und Grüne Liste Hessen (GLH).248 Auch das Bahro-Komitee selbst versuchte auf bewährte Weise für die Teilnahme an der Marburger „Solidaritätsaktion“ zu werben, hielt Thema und Ort der Veranstaltung aber offensichtlich für erklärungsbedürftig. So gab es eine spezielle Broschüre249 heraus, um die Zusammenhänge zwischen dem Bahro-Kongress in Berlin und dem Treffen in der hessischen Provinz zu verdeutlichen. Hier, wie auch in einem Presserundbrief250 vom 20. Juni 1979, ist die Rede davon, die lebhaften Diskussionen um den Fall Bahro über die unterschiedlichen Strömungen der bundesdeutschen Linken hinweg fortzuführen. Insbesondere wolle man die Diskussion mit der „Marburger Schule“ suchen und die Blockadehaltung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) aufweichen, so die Herausgeber.251 Bei der „Marburger Schule“ handelte es sich um eine durch Wolfgang Abendroth und Kurt Lenk geprägte Gruppe von Politologen, die Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger Jahre ein eigenwilliges Verhältnis zu ihrer Wissenschaft entwickelten und dieses programmatisch vertraten.252 Im Geiste einer „linkspluralistischen Öffnung hin zu marxistisch orientierter Demokratie- und Kapitalismuskritik“253 räumten sie kritisch-historischen, institutionenbezogenen und verfassungsrechtlichen Analysen eine größere Bedeutung ein als Theoriemodellen. Nach dem Erscheinen der »Alternative« hatten sich Vertreter dieser Schule missbilligend geäußert und Bahro einen prokapitalistischen Standpunkt unterstellt.254 Auch Bahros Verurteilung änderte nichts. Wolfgang Abendroth ging unbeirrt von der Legalität und Legitimität der DDR aus, hielt lediglich die Freiheitsstrafe für überzogen.255 Er sprach sich dafür aus, die Solidarität mit Oppositionellen in der DDR stärker von Kampagnen zu trennen, die die Menschenrechtsverletzungen in Osteuropa anprangerten: „Man darf sich nicht als Bundesgenosse solcher Kräfte mißbrauchen lassen, die […, einen] angeblich groben Rückfall in den vollen Stalinismus (die sie unzweifelhaft nicht sind) anprangern wollen, um den Sturz der politischen Herrschaftssysteme in den Ländern des realen Sozialismus vorzubereiten.“256 248 Vgl. ebd., S. 2. 249 Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Beteiligt Euch an der Marburger Solidaritätsaktion. Berlin 1979. 250 Einladung nach Marburg. Presserundbrief des Komitees für die Freilassung Rudolf Bahros (20.06.1979). In: APO-Archiv, Ordner Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). 251 Vgl. Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Beteiligt Euch an der Marburger Solidaritätsaktion, S. 2. 252 Grundlegend dazu: ABENDROTH, Wolfgang/LENK, Kurt (Hg.): Einführung in die politische Wissenschaft. Bern u. a. 1968. 253 KAMMLER, Jörg: Abendroth, Abendroth-Schule und die Marburger ‚Einführung in die Politische Wissenschaft‘. In: HECKER, Wolfgang/KLEIN, Joachim/RUPP, Hans Karl (Hg.): Politik und Wissenschaft. 50 Jahre Politikwissenschaft in Marburg. Münster 2001, S. 143-153, hier: S. 150. 254 Vgl. Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Beteiligt Euch an der Marburger Solidaritätsaktion, S. 3. 255 Vgl. Ohne Zorn würden wir schweigen. Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Abendroth. Hörfunkdokumentation. R: LIEßMANN, Heike (Erstausstrahlung: 02.05.2006, HR2). 256 Zit. nach: Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Beteiligt Euch an der Marburger Solidaritätsaktion, S. 24.
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Die DKP ging noch einen Schritt weiter. Jahrelang aus Ostberlin mitfinanziert, vertrat die Partei die Ansicht, dass die Solidaritätskampagne für Rudolf Bahro ein reiner Propagandafeldzug gegen die DDR sei.257 Sie warf dem Bahro-Komitee von Beginn an vor, linkem Antikommunismus Vortrieb zu leisten und auf diese Weise konservativen bis rechten politischen Kräften in der Bundesrepublik in die Karten zu spielen.258 Mit derselben Begründung lehnte die DKP auch ein 4. Russell-Tribunal über die DDR ab. In Marburg, wo die Partei bei den Kommunalwahlen von 1977 einen Stimmenanteil von über zehn Prozent erreichte,259 hoffte das BahroKomitee mit ihren Vertretern endlich in eine offene Diskussion zu treten. Immerhin zeigte man sich mit der DKP ja auch im Kampf „gegen die ‚Berufsverbote‘ und gegen jegliche staatliche Repression und Überwachung“260 in der Bundesrepublik solidarisch, wies man alle Verbotsanstrengungen gegen diese Partei zurück. Hoffnungen und Ankündigungen waren das eine, vollendete Tatsachen und Absagen das andere. Die Marburger Veranstaltung am 30. Juni und 1. Juli 1979 stand letztlich weder im Zeichen einer Annäherung zur „Marburger Schule“, noch im Schatten einer Konfrontation mit der DKP. „Auf die verschiedenen Versuche, doch noch ihre Teilnahme zu erreichen, haben wir leider nur negative Antworten erhalten“261, teilte Rudolf Steinke in einem Rundschreiben mit. Zum Schwerpunkt der Veranstaltung geriet deshalb das Aufeinandertreffen von Vertretern unterschiedlicher eurokommunistischer Strömungen aus West- und Südeuropa. An der Podiumsdiskussion des ersten Tages nahmen Bernd Rabehl, der Reichstagsabgeordnete der finnischen Kommunisten Ilkka-Christian Björklund, der österreichische Schriftsteller Ernst Alexander Rauter, der Vorsitzende der linkssozialistischen Volkspartei Dänemarks Gerd Petersen, der französische Historiker und Kommunist Jean Elleinstein sowie die jugoslawische Soziologin und Anthropologin Zagorka Goluboviü teil. Neben der Wirkung der »Alternative« in den verschiedenen Ländern standen vor allem die Entwicklungspotentiale oppositioneller Strömungen in Osteuropa im Blickpunkt. Rauter, der der DKP nahe stand, unterbreitete Vorschläge für ein gewinnbringendes Gegenübertreten von Bahro-Unterstützern und Mitgliedern der Partei. Eingebettet war die gut vierstündige Podiumsdiskussion in ein gemischtes Programm. Am Samstagmittag führte ein Protestzug vom Hörsaalgebäude der Philipps257 Vgl. o. A.: Bahro – neuer ‚Fall‘ mit alter Masche. In: Unsere Zeit (26.08.1977). Die DKP trat hierbei jedoch nicht als „monolithischer Block“ auf. Im Winter 1978 gaben mehrere ihrer Mitglieder ihr Parteibuch ab, weil sie nicht einverstanden damit waren, wie innerhalb der Partei jegliche Diskussion über Bahro unterbunden wurde. Zudem gab es „Unstimmigkeiten in der Bewertung des Eurokommunismus und der Frage des zentralen Führungsanspruchs der Sowjetunion“. Siehe: WENZ, Dieter: Die DKP hat Schwierigkeiten mit eurokommunistischen Tendenzen. Betroffene sprechen von einer ‚Säuberungswelle‘. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (31.03.1978). 258 Vgl. Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Hg.): Beteiligt Euch an der Marburger Solidaritätsaktion, S. 2f. 259 Vgl. HOFMANN, Gunter: Marburger Kleinkrieg und Kabalen. Die linken Bürger an der Lahn. In: Die Zeit (15.04. 1977). 260 Flugblatt: Beteiligt Euch an den Solidaritätsaktionen zum 1. Jahrestag der Verurteilung Rudolf Bahros in Marburg! Herausgegeben vom Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Juni 1979). In: APO-Archiv, Ordner: Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). 261 An die Teilnehmer der Podiumsdiskussion in Marburg. Rundschreiben des Komitees für die Freilassung Rudolf Bahros (17.06.1979). In: APO-Archiv, Ordner: Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272).
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Universität in der Biegenstraße durch die Marburger Innenstadt und endete mit einer Abschlusskundgebung, auf der Jacob Moneta und Ilkka-Christian Björklund referierten. Am Sonntag, den 1. Juli, starteten vormittags verschiedene Diskussionsforen. Sie boten Gelegenheit, sich über „Formen und Inhalte der Solidarität mit der osteuropäischen Opposition“, über die „(Nicht-)Verarbeitung des realen Sozialismus in der westdeutschen Linken“262 sowie zum Thema Sozialismus und Kulturrevolution auszutauschen. Zum Abschluss der Marburger Veranstaltung gab es am Sonntagmittag noch ein Kulturprogramm, an dem sich verschiedene Künstler beteiligten, die jüngst die DDR verlassen hatten; unter anderem Jürgen Fuchs, Christian Kunert, Gerulf Pannach und Michael Sallmann. Jürgen Graalfs blieb dieser 2. Bahro-Kongress als eher kleine Veranstaltung in Erinnerung, allein schon, weil er unter ganz anderen Umständen als in Westberlin stattfand: am Rande Marburgs in einer Art Zeltlager, mit überschaubarer Medienbeteiligung. Dennoch sei das Treffen nicht unbedeutend gewesen: „Das Ganze war eine Provokation gegenüber den DKP-isten und der dogmatischen Linken.“ Ausgerechnet in Marburg, einer ihrer Hochburgen, hätten bekannte Eurokommunisten zu Bahro Stellung bezogen und dabei ihre Solidarität mit ihm und den Oppositionellen in der DDR unterstrichen. „Das hatte Sprengkraft“263, meint Graalfs. Rudolf Steinke traf seinerzeit eine verhaltenere Einschätzung: Die Veranstaltung sei „noch ein gewisser Erfolg“ gewesen, schrieb er im Juli 1979 an seine Mitstreiter. Mit Blick auf zukünftige Aktivitäten müsse man jedoch berücksichtigen, „daß in der BRD nicht mehr mit dem Mittel von Großveranstaltungen gearbeitet werden kann. Es bedarf schon außergewöhnlicher Anlässe um eventuell entsprechende Veranstaltungen/Kundgebungen etc. zu entwickeln. Es ist ganz selbstverständlich, daß nach 1 ¾ Jahren Bahro-Diskussion das Interesse abnimmt und die Mobilisierungsmöglichkeit ebenfalls.“264 Das Komitee müsse sich nun einerseits auf die Durchführung von kleineren Konferenzen und Seminaren konzentrieren und andererseits verstärkt auf die Kooperation mit Unterstützern aus dem Ausland setzen. Begleitend zur Marburger Veranstaltung hatte an der TU Berlin eine Podiumsdiskussion zum Thema „4. Russell-Tribunal über die DDR?“ stattgefunden. Neben den Auftritten der skandinavischen Sozialisten Irene Iversen und Peter Madsen kam es zur Begegnung zwischen Vertretern des 3. Russell-Tribunals mit Unterstützern von Solidaritätskampagnen für DDR-Oppositionelle: Mit Ken Coates und WolfDieter Narr auf der einen, Otto Schily und Heinz Brandt auf der anderen Seite, trafen Charakterköpfe aus völlig heterogenen linken Zusammenhängen aufeinander. Coates als Mitbegründer der britischen Friedensbewegung, Narr als Hochschulprofessor und Menschenrechtsaktivist, Schily als früherer RAF-Anwalt, kurz vor seinem Engagement für die Alternative Liste Berlin, Brandt als DDR-Dissident und engagierter Gewerkschaftsjournalist. Im Protest gegen die andauernde Inhaftierung Rudolf Bahros, aber auch unter dem Eindruck des jüngsten Ausschlusses von neun DDR-Schriftstellern aus ihrem Schriftstellerverband – der in der Praxis mit einer Publikationssperre einherging –,265 schien eine solide linke Rückendeckung für ein 262 Flugblatt: Beteiligt Euch an den Solidaritätsaktionen zum 1. Jahrestag der Verurteilung Rudolf Bahros in Marburg! 263 Jürgen Graalfs am 16.10.2008 (m). 264 Interne Mitteilung von Rudolf Steinke (ohne Datum). In: Ordner: Osteuropa, Bahro (Nr. 1269). 265 Betroffen waren: Kurt Bartsch, Adolf Endler, Stefan Heym, Karl-Heinz Jakobs, Klaus Poche, Klaus Schlesinger, Dieter Schubert, Rolf Schneider und Joachim Seyppel. Vgl. o. A.: Wald von Händen. In: Der Spiegel (18.06.1979).
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Tribunal über die DDR möglich. Weil die Veranstaltung jedoch als offener Meinungsaustausch angelegt war und nicht zu einem endgültigen Beschluss führte, bat die RF im Anschluss den Hauptinitiator des Bahro-Komitees Rudolf Steinke um eine Stellungnahme. Ließ sich ein 4. Russell-Tribunal realisieren? Würde es genügend Unterstützer finden? Steinke antwortete nach einiger Zeit mit einem Brief: „Ich halte es für außerordentlich wichtig, daß die Russell Peace Foundation in den nächsten 3 Jahren sich auch intensiv der Auseinandersetzung und Solidarität mit den osteuropäischen Gesellschaften zuwendet. Dies muß nicht in Form von Tribunalen geschehen“, lautete seine Botschaft. Er warnte davor, dass man Gefahr laufe, mit dem Überlegenheitsanspruch der eigenen Gesellschaftsordnung in Osteuropa ungehört zu bleiben: „Diese Gesellschaften gehen von einem Menschenrechtsverständnis aus, welches zumindest verbal und den Buchstaben ihrer Verfassungen nach (zumindest größtenteils) weitergeht, auch die soziale Dimension der Menschenrechte einbezieht.“266 In dem Beharren auf die Achtung der Menschenrechte, wie sie in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften definiert seien, drohe man, hinter die Ansprüche der sozialistischen Staaten, wie sie formal bestünden, zurückzufallen. Steinke sprach sich dafür aus, diese Staaten stattdessen ernsthaft beim Wort zu nehmen und mit den Realitäten innerhalb ihrer Gesellschaftsordnungen zu konfrontieren. Das ließe sich am ehesten mit weiteren internationalen Kongressen erreichen, „die die gesamte Problematik der Länder des ‚realen Sozialismus‘ diskutieren und die enge, ständige Kooperation mit den Strömungen der osteuropäischen Opposition direkt und unmittelbar und vor allem kontinuierlich“ fördern. Der RF schlug er vor, Untersuchungen und Memoranden über die Entwicklung der Menschenrechte in einzelnen Ländern zu erstellen – beispielsweise zum Strafrecht der DDR – und sie der internationalen Öffentlichkeit vorzulegen. „Sie müssten so lanciert sein, dass auch die osteuropäischen Staaten an der internationalen Bedeutung dieser Memoranden nicht vorbeigehen könnten.“ Darüber hinaus sollte die RF künftig versuchen, in Zusammenarbeit mit Institutionen zu treten, die Bindeglieder zwischen ost- und westeuropäischen Staaten darstellten. Steinke dachte an „Zeitschriften, Gesellschaften, Freundschaftsgesellschaften“, zog den „Friedensrat“267 der DDR als Beispiel in Erwägung. Auf diese Institutionen müsste die RF insofern einwirken, dass Räume für öffentliche Diskussionen entstünden, die dann zum Anlass genommen werden könnten, um über die Menschenrechtsfrage zu disputieren. Inwieweit diese Vorschläge tatsächlich Gehör fanden, könnte nur eine genauere Studie zum Engagement der RF in Osteuropa ermitteln. Tatsache ist, dass die Diskussion um ein 4. Russell-Tribunal bald zum Erliegen kam.268 Dies hing sicherlich 266 Brief von Rudolf Steinke an Ken Fleet und Ken Coates (ohne Datum), S. 1. In: APO-Archiv, Ordner: Bahro-Komitee, Korrespondenz 2 (Nr. 1275). 267 Ebd., S. 2. Dieses Gremium, dem ranghohe Vertreter aller Parteien, Gewerkschaften und anderer öffentlicher Institutionen – wie der evangelischen Kirche – angehörten, trat für den Weltfrieden, für internationale Entspannung und Sicherheit, für friedliche Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen, für Abrüstung, Nationale Unabhängigkeit, die Beseitigung von Neokolonialismus und Rassismus und für die internationale Solidarität ein. Es gehörte dem Weltfriedensrat an. 268 Ohnehin wurde dieses Thema nur von Einzelpersonen ernst genommen: In den Organen des SB, KB und GIM – den Organisationen, die das 3. Russell-Tribunal unterstützten –, fand es 1978/79 keinen Niederschlag. Beiträge über die Opposition in der DDR hatten Seltenheitswert. Das SB-Organ »links« brachte nur im Vorfeld des Bahro-Kongresses und anlässlich des 30. Jahrestages der DDR zwei längere Artikel, vgl. DAMUS, Renate: Opposition in der DDR. In:
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auch mit dem weiteren Verlauf des Jahres 1979 zusammen: Am 28. Juni verschärfte die DDR-Führung per Volkskammerbeschluss ihr politisches Strafrecht, was einen Einschnitt für die Arbeitsbedingungen der Oppositionellen bedeutete.269 Im August gelangte die „Charta der Arbeiterrechte“ der polnischen Streikbewegung an die Öffentlichkeit. Ab November, spätestens seit dem Besuch des sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko in Bonn, machte der NATO-Doppelbeschluss von sich reden. Kurz vor Jahresende marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Diese Entwicklungen warfen neue Fragen für die Linken in Ost und West auf. Wie gerufen kam dem Bahro-Komitee und seinen Unterstützern in dieser schwierigen Zeit die Nachricht, dass die DDR eine Amnestie plane. Die zweijährige Solidaritätskampagne für Rudolf Bahro sollte erfolgreich enden.
6. B AHROS F REILASSUNG So viel Aufmerksamkeit der Appell „Freiheit für Rudolf Bahro“ nach der Pressekonferenz am 10. Mai 1979 bekommen hatte, so schwach war seine Resonanz in den Sommermonaten. In der Arbeitsgruppe „Amnestie“ verbreitete sich die Sorge, die angekündigten Anzeigen in den großen Tageszeitungen der Bundesrepublik nicht bezahlen zu können. Einem Überschuss von 5.500 DM standen Ausgaben von etwa 20.000 DM gegenüber, die allein für die Veröffentlichung in der »Frankfurter
Links. Sozialistische Zeitung (Nr. 102, August/September 1978); EBANK, Stefan: Ein rotes Ehrenbanner der Partei. 30 Jahre DDR. In: Links. Sozialistische Zeitung (Nr. 111, Juni 1979). Dem Artikel Ebanks beigefügt war eine Einladung zu einer „Offenen Arbeitsgruppentagung des SB über den realen Sozialismus“. Sie sollte am 16./17. Juni 1979 stattfinden und einen Informationsaustausch über die Länder im Ostblock ermöglichen. Man beabsichtigte, das politische Verhältnis des SB „zu diesen Gesellschaften genauer zu bestimmen und damit unsere Selbstverständigungsdiskussion weiterzuführen“. Die GIM druckte zum Jahresbeginn 1978 sieben Interviews mit Oppositionellen aus der DDR ab, „die über Ansätze einer sozialistischen Opposition in […] Leipzig, Erfurt und Jena“ berichteten. Siehe: o. A.: Sozialistische Opposition in der DDR. In: Was tun? (Nr. 198, Februar 1978). Die fünfteilige Serie erschien in den Ausgaben Nr. 192 bis 198 der Zeitung. Nach Bahros Ankunft führte »Was tun?« ein langes Interview, vgl. MINNERUP, Günter: ‚Ideologisch sind die Apparatinteressen bereits verloren‘. Interview mit Rudolf Bahro. In: Was tun? (Nr. 277, Oktober 1979). 269 Es handelte sich um den 3. Änderungsantrag zum Strafgesetzbuch der DDR von 1968. Die Haftstrafen für „staatsfeindliche Hetze“ und „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ wurden angehoben. Unter den strafbaren Tatbestand der „ungesetzlichen Verbindungsaufnahme“ fielen ab sofort auch Fälle, bei denen Personen Nachrichten oder Schriften, die den Interessen der DDR-Führung zuwider liefen, an westliche Stellen übermittelten. Die Illegalisierung von Petitionen, kritischen Schriften bis hin zu einfachen Mitteilungen über die Situation in der DDR schnitt die Oppositionellen von ihren Unterstützern in der Bundesrepublik ab. „Im Vordergrund standen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die Bekämpfung massenhafter Ausreisebegehren, die Ahndung von Flucht- und Fluchthilfedelikten und die Repression von Menschen- und Bürgerrechtsinitiativen“, bilanzierte 1992 der Publizist Karl Wilhelm Fricke die Strafrechtsänderungen in der DDR der Siebziger Jahre. Siehe: FRICKE, Karl Wilhelm: Strafjustiz im Parteiauftrag. In: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Die kriminelle Herrschaftssicherung des kommunistischen Regimes der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumentation. Leipzig 1992, S. 41-53, hier: S. 53. Vgl. auch: RASCHKA, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers. Köln u. a. 2000, S. 164-180.
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Rundschau« veranschlagt waren.270 Zudem hatte die Bekanntmachung und Vorbereitung des Appells bis Juli bereits über 21.000 DM verschlungen.271 Rudolf Steinke startete einen Weckruf an seine Mitstreiter: „Dies bedeutet, daß wir versuchen müssen, noch etwa 700 Unterschriften im Durchschnitt von 25 DM zu organisieren. Dies ist nicht leicht. Wir haben bisher etwa 1.000 Unterschriften. Es bedürfte also sehr konzentrierter Anstrengungen, um dies innerhalb der Zeit vom 1. September zum 24. September zu leisten.“ Steinke verwies darauf, dass in letzter Zeit zu wenige Komiteemitglieder bei der Realisierung des Appells mitgeholfen hätten und dass er selbst seinen Verpflichtungen als Student nachkommen müsse: „Mir persönlich ist diese Angelegenheit inzwischen relativ egal, zumindest werde ich 100% nicht aus Pflichtbewusstsein entsprechende Arbeiten übernehmen. Mein Prüfungstermin steht fest und damit auch mein Arbeitsschwerpunkt.“ Zugleich erinnerte er daran, dass dem Komitee Schaden entstünde, wenn es seine öffentlichen Ankündigungen nicht einhielt: „Eine Nichtveröffentlichung des Appells in Zeitungen oder zumindest in einer Zeitung in der BRD würde uns natürlich völlig berechtigten Ärger mit denjenigen einbringen, die diese Beiträge gezahlt haben. Außerdem würde ein entsprechendes Licht auf unser Komitee fallen […].“272 Der Druck, der auf den Beteiligten lag, wurde mit jedem Unterzeichner und Spender größer. Diese erwarteten nicht nur, dass es zu einer Veröffentlichung kam, sondern spekulierten mitunter auch darauf, dass ihr Beitrag zu einem politischen Ergebnis führte. Mancher stellte sein Geld schon von vornherein mit zur Schau getragener Skepsis zur Verfügung. In einem entsprechenden Brief an Rudolf Steinke heißt es zum Beispiel: „Ich habe wie gebeten am 12.5.79 DM 25 auf das angegebene Kto. eingezahlt und hoffe mit Euch, dass die Aktion wenigstens einen Teilerfolg haben wird.“ Auf dieser Basis sieht sich der Verfasser zu einer umfassenden Kritik berechtigt, die darauf beruhte, dass sich das Bahro-Komitee nur für die Situation in der DDR interessiere, aber nicht „die gleiche[n] Anstrengungen mache, dass die politischen Häftlinge […], die in seinem eigenen Land infolge Menschenrechtsverletzungen von Staatsorganen ebenfalls inhaftiert oder verurteilt worden sind, durch eine Amnestie der eigenen Regierung freigelassen werden.“ Der Brief gipfelt mit der Frage: „Was hat der Kreis der internationalen, insbesondere der bundesdeutschen Mitunterzeichner getan, um eine Amnestie in der Bundesrepublik zu erreichen? Oder gibt es keine politischen Häftlinge in unserem Staat?“273 Solche Äußerungen verdeutlichen, dass sich das Bahro-Komitee im linken Spektrum wieterhin für seine Aktivitäten rechtfertigen musste. Mit welchen (polemischen) Angriffen wäre es erst konfrontiert worden, wenn diese auch noch durch eigene Nachlässigkeiten gescheitert wären? Dass es nicht so weit kam, verhinderten zwei Faktoren: Zum einen die gute Arbeit der ausländischen Bahro-Komitees, die zu den 1.000 bis 1.500 Unterschrif-
270 Vgl. Interne Mitteilung von Rudolf Steinke vom 13.08.1979. In: APO-Archiv, Ordner: Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272). 271 Vgl. Übersicht über die bisherige Kostenentwicklung des Appells vom 12.07.1979. In: APOArchiv, Ordner: Osteuropa, Bahro (Nr. 1269). 272 Interne Mitteilung von Rudolf Steinke vom 13.08.1979. 273 Brief eines Unterzeichners und Spenders an Rudolf Steinke vom 05.06.1979. In: APO-Archiv, Ordner: Bahro-Komitee, Korrespondenz 1 (Nr. 1274).
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ten aus der Bundesrepublik noch einmal etwa 14.500 Unterschriften beisteuerten.274 Zum anderen die Bereitschaft der »Frankfurter Rundschau«, für die Schaltung der Anzeige einen Rabatt zu gewähren.275 Damit stand einer Veröffentlichung des Appells zum 30. Jahrestag der DDR nichts mehr im Wege. Zwei Wochen vor dem Jubiläum, am 24. September 1979, fasste der Staatsrat der DDR den „Beschluß über eine Amnestie aus Anlaß des 30. Jahrestages der DDR“. Von der Maßnahme betroffen waren 17.128 von insgesamt 35.448 Strafgefangenen.276 Sie durften die Haftanstalten vorzeitig verlassen. Bei 130 Strafgefangenen reduzierte sich die lebenslängliche Haftstrafe auf eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren. Der Beschluss fiel ziemlich genau mit der letzten Phase der Unterschriftensammlung für den Appell „Freiheit für Rudolf Bahro“ zusammen. Ein Zufall? Hatte die DDR-Führung die Solidaritätsaktion ernst genommen? Fest steht, dass sie dank der IM, die sich im Bahro-Komitee und seinem Umfeld tummelten, genauestens über das Gelingen des Appells informiert war. Außerdem hatte das MfS längst eine „offensive Bearbeitung“ des Komitees in die Wege geleitet, deren Funktion darin bestand, die „Feindtätigkeiten gegen die DDR“ aus Anlass ihres 30. Jahrestages aufzuklären und ihnen mit Zersetzungsmaßnahmen gegen das Komitee vorzubeugen.277 Gregor Gysi, damals Rechtsanwalt Bahros, behauptete gegenüber den Biografen Herzberg und Seifert, die Amnestie sei eine Kompromisslösung der DDR-Führung gewesen: In erster Linie habe sie dazu gedient, die politischen Gefangenen Rudolf Bahro und Nico Hübner, dessen Fall in der Bundesrepublik ebenso Bekanntheit erlangt hatte, auf bequeme Art loszuwerden.278 Bequem bedeutete in diesem Zusammenhang, dass die Amnestie die öffentliche Aufmerksamkeit von den brisanten Einzelfällen ablenkte und zugleich wie eine großzügige Geste zum 30. Jahrestag der DDR wirkte: „Sie kann sich als humaner Staat darstellen und, gleichsam unter der Hand, die problematischsten Fälle lösen“279, schrieb Rudolf Steinke in einer Stellungnahme des Bahro-Komitees. Bekräftigt wird Gysis Behauptung durch die Tatsache, dass es sich um die beschränkteste aller Amnestien der DDR handelte:280 Von dem Straferlass ausgenommen waren Kriegs- und NS-Verbrecher, Personen, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder wegen Verbrechen zum Schaden internationaler Abkommen und völkerrechtlicher Verpflichtungen der DDR verurteilt waren, sowie Personen, die Haftstrafen wegen schwerer Gewaltver274 Das Westberliner Bahro-Komitee gab in einer Pressemitteilung an, dass „16.000 Personen aus ganz Europa“ den Appell unterzeichnet hätten. Vgl. Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros: Freilassung Rudolf Bahros? In: Die Zeit (05.10.1979). 275 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). In den Akten des MfS ist jedoch von einer möglichen Veröffentlichung bei der »Zeit« die Rede. Vgl. BStU MfS-HA XX/AKG Nr. 203, S. 168. 276 Vgl. RASCHKA, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat, S. 183. 277 Vgl. BStU MfS-HA XX Nr. 7888, S. 12-22. 278 Vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 314. 279 Rundschreiben des Komitees für die Freilassung Rudolf Bahros (08.10.1979). In: APO-Archiv, Ordner: Bahro-Komitee, Korrespondenz 1 (Nr. 1274). 280 Vgl. RASCHKA, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat, S. 181-187. Raschka hält fest, dass der Straferlass „wesentlich unauffälliger“ ausfiel als bei der Amnestie von 1972. Damals waren 25.321 Strafgefangene vorzeitig entlassen worden. Siehe: Ebd., S. 59. Damit schwächt der Historiker sein eigenes Argument, die DDR-Führung habe zum 30. Jahrestag noch einmal die Gefängnisse leeren wollen und zu diesem Zweck eine Amnestie erlassen. Als weiteren Beweggrund führt er schlichtweg den Jahrestag per se an. Dass der Fall Bahro eine Rolle gespielt haben könnte, bleibt unerwähnt.
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brechen oder Militärspionage verbüßten. Auch das Delikt „schwerer Geheimnisrat“ unterlag nicht der Amnestie, während Bahro nur wegen „Geheimnisverrats“ verurteilt war. Aus diesem Blickwinkel erscheint die Amnestie tatsächlich wie auf ihn zugeschnitten, eine „Lex Bahro“281, wie es Gysi nannte. Für diese Behauptung spricht zudem eine Information des »Spiegel«. In einem Artikel vom 15. Oktober 1979 heißt es, dass „Ost-Berlin schon Wochen vor Verkündung der Amnestie die italienische KP wissen lassen [hat], Bahro werde zum 30. Jahrestag der DDR freikommen.“282 Mit dieser Mitteilung habe die DDR-Führung die Eurokommunisten in Südeuropa besänftigen wollen, die zunehmend Kritik an der Inhaftierung des Regimekritikers übten und sich mit ihm solidarisierten. Die Bedeutung des Appells „Freiheit für Rudolf Bahro“ für den Amnestiebeschluss der DDR unterstreicht ein weiterer Fakt: Als die Bundesregierung über die Amnestie informiert war,283 nahm die SPD-Spitze mit den Initiatoren des Appells Kontakt auf.284 Daraufhin fand am 4. Oktober 1979 in Bonn ein Gespräch zwischen einem Vertreter der SPD und Mitgliedern des Bahro-Komitees sowie einigen seiner Unterstützer aus dem Bundesgebiet statt. Willy Brandt nutzte die Gelegenheit, um eine dringende Forderung an die Gäste zu übermitteln: Bis zum Abschluss der Amnestie im Dezember 1979 sollten sie alle ihre öffentlichen Aktivitäten ruhen lassen. Offenbar befürchtete der SPD-Vorsitzende, dass der Appell die deutsch-deutschen Beziehungen gefährden könnte. Es handelte sich schließlich nicht um eine kleine, unabhängige linke Protestaktion. Im Gegenteil: Hochrangige SPD-Mitglieder zählten zu den Erstunterzeichnern und hatten den Appell nicht nur pauschal als „Offensive gegen den Stalinismus“, sondern dezidiert auch als „kritische Auseinandersetzung mit jenen Regimen, die den Namen des Sozialismus […] missbrauchen“285 begrüßt. Wäre der Appell trotz der Amnestie in der DDR erschienen, hätte er wie eine überzogene Provokation gewirkt, die den Dialog der Bundesregierung mit der DDR-Führung gefährden musste. In dieser Hinsicht wollte Brandt nichts anbrennen lassen. Er versprach den Initiatoren jedoch, den Appell in siebzehn Zeitungen der Bundesrepublik abdrucken zu lassen, sobald fest stünde, dass Bahro nicht freikommt.286 Über diese Vereinbarung wurde „strengstes Stillschweigen“287 vereinbart. Umgehend veröffentliche das Bahro-Komitee eine Pressemitteilung, in der es den Stopp des Appells und seiner geplanten Veröffentlichung verlautbarte. Entsprechende Gespräche mit den Komitees in ganz Europa seien bereits geführt worden. Nach der angekündigten Amnestie in der DDR erwarte man „in Kürze die Freilassung Rudolf Bahros“288, ohne zu verkennen, dass „sich die Spirale der politischen Repression, Inhaftierung und Ausbürgerung“ wahrscheinlich fortsetzen würde. Das 281 HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 314. 282 o. A.: Rätsel um Bahro. In: Der Spiegel (15.10.1979). 283 Auch wenn es frühere Hinweise auf die Amnestie gegeben hat, für Gewissheit konnte erst der offizielle Beschluss des Staatsrates der DDR am 24. September 1979 sorgen. 284 Vgl. BStU MfS-HA XX/AKG Nr. 203, S. 168. An anderer Stelle, in einem weiteren Bericht des MfS, heißt es, dass sich „Funktionäre der Westberliner SPD“ an das Komitee gewandt hätten, um sicherzustellen, dass der Appell gestoppt wird. Ebd., S. 171. 285 von OERTZEN, Peter: Linke Offensive gegen den Stalinismus. Glaubwürdig für eine bessere Gesellschaftsordnung kämpfen. In: Sozialdemokratischer Pressedienst (10.05.1979). 286 Vgl. BStU MfS-HA XX/AKG Nr. 203, S. 168. 287 Ebd., S. 169. 288 Freilassung Rudolf Bahros. Pressemitteilung des Komitees für die Freilassung von Rudolf Bahro (ohne Datum), S. 1. In: Ordner: Bahro-Komitee, Korrespondenz 1 (Nr. 1274).
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gespendete Geld sollte vorerst zurückgehalten und später für die Unterstützung entlassener DDR-Dissidenten verwendet werden. Die Mitteilung schließt mit der erklärten Erwartung, „daß die angekündigte Amnestie auch dafür benutzt wird, die Haftbedingungen in den Gefängnissen der DDR zu verbessern […].“289 Bahros Freilassung ließ auf sich warten. Erst am 11. Oktober 1979 öffneten sich für ihn die Tore von Bautzen II. Unter Beobachtung mehrerer MfS-Mitarbeiter gelangte er per Bahn über Dresden nach Berlin, wo er ein kurzes Gespräch mit Gregor Gysi führte und anschließend nach Hause fuhr. Noch am selben Tag stellte er sich den Fragen zweier Korrespondenten aus der Bundesrepublik.290 Hier erwarteten die offiziellen Stellen seine Ausreise erst in zwei Monaten: „Die Entlassungen auf Grund der Amnestie erfolgen zwischen dem 10. Oktober und 14. Dezember ausschließlich in die DDR. Ausgenommen hiervon sind lediglich von der Amnestie betroffene Bewohner der Bundesrepublik Deutschland. Erst nach dem 14. Dezember ist die DDR bereit, über eine mögliche Übersiedlung von Amnestierten in die Bundesrepublik zu sprechen“291, teilte der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen Egon Franke dem Bundeskanzler in einem Brief mit. Ein Freikauf von Bahro kam nicht in Betracht: „Zusätzliche Entlassungen im Zusammenhang mit unseren besonderen Bemühungen um die vorzeitige Entlassung von politischen Häftlingen wird es während des Zeitraums der Amnestie nicht geben, um die Vermischung beider Kriterien zu vermeiden.“292 Am 12. Oktober gab Bahro seinen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und auf Übersiedlung in die Bundesrepublik beim Rat des Stadtbezirkes Berlin-Weißensee ab. Zur Begründung schrieb er: „Unter der gegebenen Voraussetzung, dass ich beabsichtige, meine politische Grundposition weiterhin öffentlich zu artikulieren […], würde mein weiteres Verbleiben in der DDR gegen meinen Willen ständig Anknüpfungspunkte für Aktivitäten bieten, die den so notwendigen Prozeß der Entspannung in Europa und speziell zwischen den beiden deutschen Staaten ungünstig beeinflussen könnten.“
Damit bezog sich Bahro deutlich auf die Solidaritätskampagne und die Reaktionen, die die »Alternative« außerhalb der DDR hervorgerufen hatte. Für den Fall seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik kündigte er an, „das demagogistische Spiel der Reaktion zur Ausbeutung und Verfälschung meiner tatsächlichen Anliegen effektiv zu durchkreuzen.“293 Was er damit meinte, ließ seine Stellungnahme am 18. Oktober, einen Tag nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik, erkennen: „Ich scheide ohne Feindschaft von dem Staat, dem ich meine gesamte persönliche und politische Entwicklung verdanke“, lautete Bahros erster Satz. Allen, die sein Buch als grundlegende Kritik an der DDR verstanden hatten, erteilte er eine Absage: „Infolge meiner Herkunft und Sprache habe ich meine Kritik des real existierenden Sozialismus – und keineswegs speziell der DDR – dennoch vor allem der DDR zugemutet, die es angesichts historischer Umstände am allerschwersten hat, ihre Stabilität im ideo289 Ebd., S. 2. 290 Vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 316f. 291 Brief von Egon Franke an Helmut Schmidt vom 28.09.1979, S. 1. In: AdsD, 1/HSAA009072. 292 Ebd., S. 1f. Der offizielle Terminus für den Häftlingsfreikauf lautete „besondere Bemühungen der Bundesregierung im humanitären Bereich“. Alternativ war auch von „humanitären Bemühungen“, „Häftlingsentlassungen“ oder „H-Aktionen“ die Rede. 293 BStU MfS-HA XX/9 Nr. 2125, S. 115.
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logischen Kampf zu sichern.“294 Mit Blick auf seine Zukunft in der Bundesrepublik blieb Bahro noch vage: „Ich habe ziemlich bestimmte Hoffnungen. Aber davon werde ich später sprechen.“295 Die versöhnlichen Töne gegenüber der DDR mögen Bahro vor allem deshalb leicht gefallen sein, weil er nach seiner Freilassung praktisch eine Sonderbehandlung durch die Behörden erfahren hatte: Nicht nur sein eigener Ausreiseantrag bekam in einem Eilverfahren grünes Licht erteilt, auch den Anträgen seiner Frau, seiner beiden Kinder und seiner Geliebten wurden keine Steine in den Weg gelegt. Außerdem räumte man Bahro die Gelegenheiten ein, sich von seiner Mutter, seinem Elternhaus und vielen seiner Wegbegleiter zu verabschieden. Dabei erlebte er noch einmal die skurrilen Auswüchse des Überwachungsstaates. Von Bautzen bis Berlin, von Berlin bis zum Grenzübergang Marienborn waren ihm Beamte des MfS sechs Tage lang auf Schritt und Tritt gefolgt. Wie Herzberg und Seifert schildern, sei Bahro aber zu keiner Zeit von ihnen unter Druck gesetzt worden.296 Stattdessen mutete die grau bemäntelte Menschentraube um ihn herum eher wie ein Personenschutzkommando an, das störende Einflüsse von ihm fern hielt. Unter diesen Umständen musste sich Bahro, nach jahrelanger politischer Unterdrückung und monatelanger Haft, fast wie ein persönlicher Klient Erich Mielkes vorgekommen sein. Die Solidarität des Bahro-Komitees hatte der neue Bundesbürger nun nicht mehr nötig. Am 8. Oktober 1979 verschickte Rudolf Steinke seinen letzten Rundbrief: „Der jetzige Erfolg ist, auch wenn die DDR aus starkem eigenem Interesse handelt, ein Ergebnis der weltweiten Solidaritätsarbeit in den vergangenen zwei Jahren.“ Vor allem die Solidarität mit Wolf Biermann, Robert Havemann und nicht zuletzt mit Rudolf Bahro hätte die Aufmerksamkeit auf die Situation der sozialistischen Opposition in der DDR und in Osteuropa gelenkt. Steinke sah gute Gründe, die Arbeit des Komitees als Erfolgsgeschichte zu beschreiben: „Die vielfältige und differenzierte Form der Solidaritätsarbeit ist u. E. die Grundlage des jetzigen Erfolges. Es ist gelungen, eine um den Fall Bahro konzentrierte Diskussion und Solidarität zu entfalten. Wir haben versucht […] immer unter dem Gesichtspunkt der größtmöglichen Wirkung alle Kräfte zusammenzufassen. So haben wir den Bahro-Kongress organisiert und versucht, ihn so öffentlichkeitswirksam wie möglich zu gestalten, wir haben gezielt in Organisationen der westdeutschen Linken versucht, Diskussionen in Gang zu setzen, wir haben Einfluß auf Persönlichkeiten und Institutionen genommen (so z.B. unsere Initiativen bei den DDR-Besuchen von Bundeskanzler Kreisky, dem niederländischen Außenminister und UN-Präsident Waldheim). Wir haben versucht, mit der KP Italiens und anderen eurokommunistischen Parteien Kontakt aufzunehmen und mit den westeuropäischen sozialistischen Parteien ins Gespräch zu kommen. Dies ist uns mit dem Appell gelungen.“
294 Ebd., S. 116. Bahro kam in der Sendung »heute journal« des ZDF zu Wort. Bei seinem späteren Auftritt an der Universität Tübingen, am 22.11.1979, äußerte sich Bahro in ähnlicher Weise: „[…] die DDR […] deckt uns alle in einem bestimmten Sinne. Bei allem, was ich an Kritischem zum real existierenden Sozialismus in Osteuropa gesagt habe, es ist gut, daß diese Ordnung existiert. Sie war nämlich ein welthistorischer Fortschritt.“ Zit. nach: HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 332f. 295 BStU MfS-HA XX/9 Nr. 2125, S. 116. 296 Vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 316 u. S. 319. 297 Rundschreiben des Komitees für die Freilassung Rudolf Bahros (08.10.1979). In: APO-Archiv, Ordner: Bahro-Komitee, Korrespondenz 1 (Nr. 1274).
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Am 25. November 1979, Bahro hatte sich mittlerweile schon mehrfach in der bundesdeutschen Öffentlichkeit gezeigt, verschickte Rudolf Steinke die letzte Pressemitteilung: „Das Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros hat seinen Zweck erfüllt. Darüber sind wir sehr froh.“298 Auf dieses knappe Schlusswort folgte die Ankündigung einer Podiumsveranstaltung, die als Kontrastprogramm zum bevorstehenden SPD-Parteitag am 3. bis 12. Dezember 1979 gedacht war. Bahro hätte bereits seine Zusage gegeben. Unter der Überschrift „Lebensqualität im Atomstaat?“ wollte man den Dialog zwischen „der linken Sozialdemokratie, den grünen und bunten Strömungen und der sozialistischen Linken fördern.“ Steinke äußerte die Hoffnung, dass von dieser Veranstaltung Impulse zur Verständigung und Vereinheitlichung der bundesdeutschen Linken ausgehen könnten. Die Alternative Liste, das Sozialistische Büro, der Bundesvorstand der Jusos, verschiedene Redaktionen und Gewerkschaftskreise seien angesprochen und eingeladen worden. „Indem wir mit dieser Veranstaltung die Arbeit des Komitees einstellen“, so Steinke abschließend, „hoffen wir, den politischen Intentionen des Bahro-Kongresses, einen Beitrag zur Einheit der westeuropäischen Linken zu leisten, nochmals Ausdruck zu verleihen.“299
7. A USBLICK : AUFRUF FÜR EIN ATOMW AFFENFREIES E UROPA UND R USSELL -A PPELL Wie die letzte Pressemitteilung bereits ankündigte, hatte das Bahro-Komitee nicht die Absicht, die einmal gebündelten Kräfte nach Bahros Freilassung aus der Hand zu geben. Im Anschluss an die Podiumsdiskussion in Berlin gelang es ihm und Bahro recht problemlos „ein Treffen von Organisatoren und Individuen zu organisieren, das ‚in einem umfassenderen und durch seine Repräsentanz verbindlicheren Rahmen … den Prozeß der Selbstverständigung über die Probleme und über die Haltung, die wir in Hinblick auf die bevorstehenden politischen Entscheidungen einnehmen wollen‘“ vorantreibt. Im Glauben, die bundesdeutsche Linke würde über kurz oder lang zu innerer Einigkeit finden, drängte Bahro darauf, dass „an einer solchen Konferenz, sowohl die undogmatischen Linken, als auch die marxistischleninistischen Gruppen, als auch interessierte Kräfte aus der SPD teilnehmen.‘“300 Sein Wunsch fand Gehör. Als sich verschiedene Vorbereitungsgruppen für die Konferenz bildeten, kamen sie einem Querschnitt der damaligen Linken schon sehr nahe: Neben Mitgliedern des SB, der in Auflösung begriffenen KPD (m) und der Alternativen Liste wirkten Mitarbeiter der Zeitschriften »prokla«, »Beiträge zum wissenschaftlichen Sozialismus«, »Kritik« und »Neuer Langer Marsch« mit.301 Der Anspruch der bald unter dem Titel „Sozialistische Konferenz“ laufenden Veranstaltung bestand darin, den „Prozeß der politisch-organisatorischen und ideologischen Erosion vieler linker Positionen“302 aufzufangen und zur Klärung des Verhältnisses zwischen Sozialisten und Umweltbewegung beizutragen. Offensichtlich trafen die 298 Letzte Pressemitteilung des Komitees für die Freilassung Rudolf Bahros (25.11.1979). In: Ordner: Bahro-Komitee, Korrespondenz 1 (Nr. 1274). 299 Letzte Pressemitteilung des Komitees für die Freilassung Rudolf Bahros (25.11.1979). 300 o. A.: Kommt ein Stein ins Rollen? Erste Vorbereitungen für ‚Sozialistische Konferenz‘. In: Rote Fahne (Nr. 4, Februar 1980). 301 o. A.: Sammlungsversuche der ‚Neuen Linken‘. ‚Sozialistische Konferenz‘ in Kassel. In: Innere Sicherheit (Nr. 54, 1980). 302 Ebd.; vgl. o. A.: ‚Die grüne Partei als positive Herausforderung‘. In: Die Neue (03.01.1980).
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Organisatoren damit ins Schwarze, denn die Beteiligung an der vom 2. bis 4. Mai 1980 in Kassel stattfindenden Konferenz konnte sich sehen lassen: Mit etwa 800 Teilnehmern knüpfte man annähernd an den Bahro-Kongress an, und legte zugleich einen festen Grundstein für zwei Folgeveranstaltungen in den Jahren 1980 und 1981.303 Über die Vorbereitung und Organisation solcher grün-roten Annäherungsbemühungen hinaus, suchte der Kern des früheren Bahro-Komitees neue politische Betätigungsfelder, die sich Ende 1979 praktisch von selbst ergaben: Der NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember, Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles in fünf westeuropäischen Ländern aufzustellen, bot Anlass für eine neue Friedensbewegung, der sich einige Mitglieder des ehemaligen Bahro-Komitees direkt anschlossen. Auch hier versuchten sie wiederum, über die Unterstützung von Wehrdienstgegnern und Pazifisten in der DDR eine gesamtdeutsche Perspektive zu vertreten und zu vermitteln.304 Aus den losen Kontakten zur RF, die aus der Diskussion um ein 4. RussellTribunal entstanden waren, entwickelte sich 1980 eine Kooperation: Die Nottinghamer Stiftung arbeitete mit der „Britischen Kampagne für nukleare Abrüstung“ und der „Internationalen Föderation für Abrüstung und Frieden“ an der Kampagne für ein atomwaffenfreies Europa,305 deren wichtigstes Signal der Russell-Appell von 1981 war: „Wir fordern die beiden Supermächte auf, sämtliche Atomwaffen vom europäischen Territorium abzuziehen“, „wir müssen damit anfangen, so zu handeln, als ob ein vereintes, neutrales und friedliches Europa bereits existiere“306, lauteten die Grundsätze des Aufrufs. Nachdem er im Januar 1982 seine Erwiderung mit dem Berliner Appell „Frieden schaffen ohne Waffen“ der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR fand, schien eine blockübergreifende Friedensbewegung möglich. Rudolf Steinke, Jürgen Graalfs, Manfred Wilke, Rainer Thiem und ihre Mitstreiter wollten diese Chance ergreifen. Sie versprachen sich von einem Ost-WestDialog zur Abrüstung eine neue gesamteuropäische Friedensordnung, die auch eine Lösung der deutschen Frage beinhalten konnte.307 Um diesen Prozess zu befördern,
303 Näheres zur 1. und 2. Sozialistischen Konferenz bei: HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 340-345. 304 Vgl. KNABE, Hubertus: Die DDR-Opposition und ihre westdeutschen Unterstützer, S. 112; PLOETZ, Michael/MÜLLER, Hans-Peter: Ferngelenkte Friedensbewegung? DDR und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluß. Münster 2004, S. 322-339, hier bes. S. 328f. u. S. 337. 305 Vgl. Bertrand Russell Peace Foundation (Hg.): The Bertrand Russell Peace Foundation (Nottingham). Its aims and work. Nottingham 1981, S. 13. 306 Bertrand Russell Peace Foundation: Aufruf für ein atomwaffenfreies Europa. In: Dies. (Hg.): Für ein atomwaffenfreies Europa. Berlin 1981, S. 3-5. Der Aufruf ist auch unter der Bezeichnung „END-Appell“ bekannt geworden. END stand für: „European Nuclear Disarmament“, was in Deutschland der „Kampagne für ein atomwaffenfreies Europa“ gleichbedeutend war. Siehe: http://www.friedenspaedagogik.de/themen/friedensbewegung/aufruf_fuer_ein_atomwaffenfrei es_europa_1981 (Stand: 06.11.2011). 307 Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). Steinke im Wortlaut: „Wir haben selber auch nicht daran geglaubt, dass es klappt. Aber wir haben zumindest allen erzählt, dass wir das so sehen.“ Die Personen werden genannt bei: AUERBACH, Thomas: Der Frieden ist unteilbar. Die blockübergreifende Friedensbewegung im Visier der Stasi-Hauptabteilung XX/5 1981 bis 1987. In:
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riefen sie den „Arbeitskreis atomwaffenfreies Europa“ ins Leben, dem sich in kurzer Zeit bis zu fünfhundert Mitglieder aus der Friedensbewegung in der Bundesrepublik anschlossen.308 Die Organisation veranstaltete Anfang der Achtziger Jahre mehrere Kongresse, unter anderem die „Europäische Konferenz für ein atomwaffenfreies Europa“, zu der 1983 zahlreiche Friedensaktivisten aus der DDR und Osteuropa eingeladen wurden. Das MfS und die anderen Geheimdienste im Ostblock konnten deren Teilnahme jedoch verhindern.309 Die Initiatoren mussten sich mit dem Umstand arrangieren, dass sie mit ihrer blockübergreifenden Orientierung immer wieder ins Visier von Spitzeln gerieten. Im Herbst 1983 gelang es ihnen, den Aufruf „Bürger beider deutscher Staaten appellieren an den Bundestag: Sagen Sie nein!“ in die DDR zu schmuggeln und die Unterschriften von mehr als siebzig Friedensaktivisten zu sammeln.310 Obgleich der Arbeitskreis innerhalb der bundesdeutschen Friedensbewegung mit diesen Aktivitäten eher eine belächelte oder gescholtene Minderheit blieb, fand er zunehmend Sympathien bei prominenten Grünen-Politikern wie Petra Kelly, Lukas Beckmann oder Elisabeth Weber. Rudolf Bahro gehörte von vornherein zu den treibenden Kräften. Nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik genoss er einen privaten und politischen Handlungsspielraum, von dem er in der DDR kaum zu träumen gewagt hatte. Angesichts der Einnahmen von mehr als 120.000 verkauften Exemplaren der »Alternative« verwundert es kaum, dass Bahro sein eigentliches Vorhaben verwarf, einen „Bund der Kommunisten“ zu gründen. Dieser hätte nach seinen Vorstellungen die Aufhebung der den Menschen in seiner Substanz zerstörenden Reduktion auf Ware, Wert und Konsum verwirklichen sollen – einer der wesentlichen utopischen Denkansätze seines Werkes.311 „Und sehr schnell entscheidet er sich [auch] für eine andere, umfassendere Mission als die Reform des ‚real existierenden Sozialismus‘“,312 obwohl sie ihm jahrelang zum Schreiben seines Werkes angetrieben hatte. Stattdessen suchte Bahro engen Kontakt mit Rudi Dutschke und Lukas Beckmann, damals Mitarbeiter des Vereins „Freie Internationale Universität“ um Joseph Beuys. Beide überzeugten ihn davon, dass die Bildung einer neuen politischen Kraft bevorstand und dass er genau zum richtigen Zeitpunkt in die Bundesrepublik gekommen war.313 Wenige Wochen später, am 12./13. Januar 1980 nahm Bahro am Gründungsparteitag der Grünen teil.
8. Z USAMMENFASSUNG Mit dem Internationalen Kongress für und über Rudolf Bahro rückte zum Abschluss der Untersuchung eine Gruppe von Linken in den Blick, deren AufmerkGeschichtswerkstatt Jena (Hg.): Linke Opposition in der DDR und undogmatische Linke in der BRD, S. 72-87, hier: S. 74 und 76. 308 Vgl. Arbeitskreis für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa: Zur Geschichte des Arbeitskreises. Friedenspolitik.com (Ohne Datum). Siehe: http://www.friedenspolitik.com/der-arbeits kreis-fuer-friedenspolitik.php (Stand: 06.11.2011); PLOETZ, Michael/MÜLLER, Hans-Peter: Ferngelenkte Friedensbewegung?, S. 316, S. 322, S. 326-329, S. 335-337. 309 Vgl. AUERBACH, Thomas: Der Frieden ist unteilbar, S. 78. 310 Vgl. o. A.: Keine Verbrüderung. In: Der Spiegel (17.10.1983). 311 Vgl. SCHWARZ, Martin A.: Rudolf Bahro – Vom Bund der Kommunisten zur Unsichtbaren Kirche. Zur Aktualität des grünen Vordenkers (Unveröff. Manuskript). Berlin 2002. 312 ‚Ist die Welt nicht mehr zu retten? – Der Fall Rudolf Bahro‘. Ein Hörfunkfeature. R: CLAS, Detlef/SENNEWALD, Immo (Erstausstrahlung: 05.07.2007, SWR2). 313 Vgl. HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro, S. 329.
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samkeit sich spätestens seit August 1977 auf die Situation der Oppositionellen in der DDR richtete. Sie gehörten zu den wenigen in ihrem politischen Spektrum, die der Festnahme des SED-Kritikers mehr politische Tragweite beimaßen als den Entführungsfällen Schleyer und „Landshut“ oder dem Tod der RAF-Spitze in Stammheim. Sensibilisiert durch die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und motiviert vom Engagement anderer Linker, wie dem „Solidaritätskomitee Freiheit und Sozialismus“, hatten sie beschlossen, politisch-solidarisch in die DDR hinein aktiv zu werden. Zu diesem Zweck gründeten sie im März 1978 das Bahro-Komitee. Die Solidaritätskampagne für Rudolf Bahro war eine defensive und doch mutige Form des Protestes gegen die Repression in der DDR. Dies lassen die verschiedenen Überwachungs- und Gegenmaßnahmen des MfS erahnen, auf die nur im Ansatz eingegangen werden konnte. Der Protest lebte zum einen von Kontakten und Netzwerken, die durch frühere Initiativen entstanden waren. Zum anderen verlangte er nach öffentlicher Aufmerksamkeit und Unterstützung in der Bundesrepublik. Das Bahro-Komitee versuchte, diese vorrangig im eigenen politischen Umfeld, also in der außerparlamentarisch-undogmatischen wie auch in der parlamentarischen Linken, zu wecken. Dabei trat es nicht nur in Konkurrenz zu anderen laufenden Kampagnen, wie jener des 3. Russell-Tribunals, sondern es musste sich auch dialogbereit gegenüber jenen zeigen, die sich nicht mit der Situation in der DDR befassten oder befassen wollten. Eine „Brücke“ für die Verständigung bildete Bahros »Alternative«, die sich an Leser in Ost und West richtete. Ohne das Buch als Diskussionsgrundlage hätte es keinen Bahro-Kongress gegeben. Die Veranstaltung war aber in zweifacher Hinsicht auch das Resultat der Anstrengungen des Bahro-Komitees und seiner Mitstreiter: Einmal verstanden sie es, die internationale Resonanz auf das Buch für ihre Kampagne nutzen, indem sie Kontakt mit tschechoslowakischen Dissidenten aufnahmen, sie zu Diskussionsveranstaltungen einluden und als Unterstützer gewannen, womit der Fall Bahro in den Kontext Prager Frühling/Charta ’77 rückte. Dies erleichterte es bundesdeutschen Linken, sich öffentlich zu Bahro zu bekennen, ohne sofort als Antikommunisten oder Antimarxisten zu gelten. Zum anderen achtete das Komitee stets darauf, keine Aktivitäten zu starten oder zu unterstützen, die sich gegen die DDR an sich richteten. Das hätte womöglich die DDR-Dissidenten in der Bundesrepublik, auf jeden Fall aber SPD-Politiker und -Mitglieder als Unterstützer abgeschreckt, weil sie im Allgemeinen die Verständigungs- und Annäherungspolitik Willy Brandts und Helmut Schmidts befürworteten und nicht an der Verschlechterung der deutschdeutschen Beziehungen interessiert waren. Insgesamt gelang es dem Komitee mit seinem geschickten Taktieren, sich genügend Rückhalt zu verschaffen und für ein reges Spendenaufkommen zu sorgen. Ein weiteres Verdienst seiner ausgewogenen Öffentlichkeitsarbeit war der Medienerfolg des Bahro-Kongresses. Hier spielten die Komiteemitglieder ihre Kontakte zu Rundfunk und Presse aus. Allerdings mussten sie bei der Konzeption der Veranstaltung deutliche Kompromisse eingehen, um das Medieninteresse anzustacheln: Die geplante Diskussionsveranstaltung über die »Alternative« wurde thematisch so weit geöffnet, dass ihr namhafte Teilnehmer garantiert waren. Die Initiatoren erkannten, dass es keine linke Großveranstaltung geben konnte, die ausschließlich auf die Situation in der DDR und in Osteuropa ausgerichtet war. Deshalb legten sie den Kongress als eine Art Ost-West-Forum an, für das Bahro mit seiner Schrift vor allem als Stichwortgeber diente. Wie das Teilnehmerinteresse zeigte, hatten sie sich richtig entschieden: Der Bahro-Kongress fand regen Zuspruch, vor allem bei intellektuellen Linken – die
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meisten aus der Bundesrepublik, viele jedoch aus Staaten Süd- und Osteuropas. Gemeinsam füllten sie die Diskussionsrunden und Arbeitsgruppensitzungen entlang der Themenvorgaben nach ihren eigenen Vorstellungen aus. So spiegelte der Kongress wider, was diesen Linken seinerzeit auf den Nägeln brannte: die Neubestimmung des Weges zum Sozialismus in Ost und West. Auch an den Stellungnahmen der bundesdeutschen Teilnehmer war der überwiegende Wunsch nach dem Abschied von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung abzulesen: Man strebte nach einer grundlegenden Veränderung des „Systems“, also auch nach einem grundlegend anderen Staat. Die Kongressbeobachter notierten, dass sich nicht alle Teilnehmer der Hindernisse bewusst waren, die der Linken dabei im Weg standen – in erster Linie die eigene politische Schwäche. Und selbst wenn dieses Problem erkannt wurde, seien die Ursachen dafür nur zum Teil im eigenen Versagen, in der inneren Zerstrittenheit des linken Spektrums gesucht wurden. Stattdessen überwog der Verweis auf die äußeren Umstände, allen vor an die Repression, die ausdrücklich als Problem von linken Oppositionellen in Ost und West betrachtet wurde. Im Umkehrschluss verkündeten die Teilnehmer in der Abschlussresolution, die begonnene Selbstverständigung der Linken fortzusetzen und weiterhin gegen Repression vorzugehen. Wie ungern bundesdeutsche Linke von ihrer Repressionskritik abrückten und auf ihrem Repressionsempfinden beharrten, zeigte nach dem Bahro-Kongress die Diskussion um ein 4. Russell-Tribunal über die DDR. Trotz prominenter Befürworter stieß es unter undogmatischen wie dogmatischen Linken, gerade bei den Initiatoren und Unterstützern des 3. Russell-Tribunals, auf wenig Interesse.314 Das Bahro-Komitee hatte zwar seinen Anteil daran, weil es sich ebenfalls gegen eine solche Veranstaltung aussprach. Immerhin beruhte diese Haltung aber nicht auf pauschaler Skepsis, sondern auf sorgfältigen Überlegungen. So führte man drei außenpolitische Argumente gegen ein 4. Russell-Tribunal ins Feld: Die wahrscheinliche Gefährdung der deutsch-deutschen Beziehungen, die absehbare Kontroverse über das Menschenrechtsverständnis in Ost und West und – vor allem – die Aussicht, mit einer kritischen Diskussion über den real existierenden Sozialismus quasi vom Westen her auf die DDR und den Ostblock einwirken zu können. In diesem Punkt nahm das Bahro-Komitee seinen Kongress ernst und vertraute weiterhin auf das Potential von Bahros »Alternative«, die bundesdeutsche Linke zur Selbstverständigung über gemeinsame Linien ihrer Politik anzuregen. Folglich richtete es seine Aktivitäten Anfang 1979 darauf, den Dialog mit der dogmatischen Linken zu suchen, die dem Berliner Kongress fern geblieben und gegenüber Bahro kritisch eingestellt waren. Der 2. Bahro-Kongress in Marburg erwies sich für diese Bemühungen jedoch als Rückschlag. Zur Enttäuschung des Komitees demonstrierte das Verhalten der DKP, dass die Überwindung ideologischer Gräben innerhalb der Linken noch nicht möglich war. Bahro quittierte die Blockadehaltung der dogmatischen Parteien und K-Gruppen nach seiner Freilassung im Herbst 1979 auf seine Weise: Im Grunde hätten sie Recht damit, sich „als Opfer der bundesdeutschen Gesellschaft“ zu begreifen, schrieb er in einem offenen Brief, „aber aus dieser Situation heraus“ könnten sie sich nicht „als Ärzte empfehlen“, die mit autoritärem Gestus von oben herab die Gesellschaft kurieren wollen.315 314 Siehe Fn. 268. 315 BAHRO, Rudolf: Offener Brief an die Bunten und Alternativen, an den KB und die KPD. In: Rote Fahne (Nr. 2, Januar 1980); vgl. auch: PLISCHKE, Wolfgang: Bahro: Wie Jesuiten, die von ihrem Orden ausgesandt wurden. In: Frankfurter Rundschau (28.01.1980).
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Bahro forderte sie deshalb auf, ihre Splittergruppen aufzugeben und die Grünen zu unterstützen. Umgekehrt hallte es Bahro entgegen: „Wir werden den Teufel tun […]!“316 und „Auflösung ist keine Perspektive!“317 Letztendlich ist die linke Kontroverse um ihn nur ein Beispiel für die vielen Widerstände, welche die Grünen bis zur Etablierung ihrer Partei zu bewältigen hatten. Und dass Bahro mitten in diesem Prozess ausstieg und die Partei verließ, ist im Rückblick ebenfalls nur eine von vielen ironischen Wendungen in ihrer Geschichte.
316 Leitendes Gremium des KB: Offene Antwort an Rudolf Bahro. In: Arbeiterkampf (Nr. 170, Januar 1980). 317 Zentralkomitee der KPD (m): ‚Auflösung ist keine Perspektive‘. Parteitagsvorschläge und Gedanken zur Diskussion. In: Rote Fahne (Nr. 3, Februar 1980).
VIII. Schlussbetrachtung
1. U NTERSUCHUNGSVERLAUF Die vorliegende Untersuchung nahm ihren Ausgang in der Beobachtung, dass sich die Linke am Ende des Deutschen Herbstes in einer politischen wie moralischen Defensive befand. Die Ereigniskette entlang der Entführungsfälle Schleyer und „Landshut“ bis hin zum Tode Schleyers und der RAF-Spitze hatten im linken Spektrum weitgehend zu der Erkenntnis geführt, „daß Bürgerkriegsszenarien zum Sturz des Kapitalismus bloß die Gegenseite stärken und keinerlei gesellschaftlichen Fortschritt bringen.“1 Wie die Beerdigung auf dem Dornhaldenfriedhof veranschaulichte, gab es Linke, die für dieses Dilemma nicht nur die Terroristen, sondern im gleichen Maße auch den Staat verantwortlich machten. Sie forderten, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung vor beiden Seiten geschützt werden müsse. Manche Linke zogen andere Schlüsse und sahen allein im Staat den Schuldigen. Gegen ihn müsse sich linkes Engagement, linker Protest, linke Politik richten. Mit der Untersuchung von vier linken Protestphänomenen nach dem Deutschen Herbst sollte geprüft werden, wie sich diese staatskritischen bis antistaatlichen und zugleich demokratischen bis radikalen Deutungsmuster im linken Spektrum äußerten und ob sie zu einer gegenseitigen Annäherung seiner verschiedenen Parteien, Organisationen oder Gruppierungen führten. Zunächst ging es darum, das Verhältnis Linker zum Staat im Herbst 1977 in seinen zeithistorischen Kontext zu setzen. Deshalb wurde in Kap. III ein Rückblick auf die Siebziger Jahre bis zum Regierungsantritt Willy Brandts geworfen. Dabei konnte festgestellt werden, dass sich die Kritik am Staat über die Jahre konsequent auf die sozialliberale Regierung fixiert hatte. Symptomatisch dafür war der SPD-Wahlslogan „Modell Deutschland“ ab 1976 zu einer Projektionsfläche für alle negativen Erfahrungen und Empfindungen geworden, die Linke mit staatlichen Institutionen verknüpften oder auf sie zurückführten.2 In erster Linie ging es ihnen um die Unterdrückung politisch Andersdenkender, um den „Abbau demokratischer Rechte“, wie es seit der APO hieß: Besonders außerparlamentarische Linke warfen der Bundesregierung eine autoritäre Innen- und Sicherheitspolitik vor. Repression, als grundlegende Funktion jedes 1 2
HERZBERG, Guntolf/SEIFERT, Kurt: Rudolf Bahro. Glaube an das Veränderbare. Berlin 2002, S. 341. Der SPD-Wahlslogan bei der Bundestagswahl 1980 hieß im Übrigen: „Sicherheit für Deutschland“. Das „Modell Deutschland“ fand in der Wahlkampfplattform keinen Platz mehr, nicht einmal in der einleitenden Leistungsbilanz der Sozialdemokraten, für die der Slogan 1976 als Überbegriff geschaffen worden war. Vgl. SPD-Bundesvorstand: Sicherheit für Deutschland. Wahlprogramm 1980. Beschlossen auf dem Wahlparteitag in Essen, 9./10. Juni 1980. Bonn 1980.
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Staates, hielten sie für ungerechtfertigt, beängstigend, nicht selten sogar für illegitim. Von den in Kap. IV bis VII untersuchten Protestphänomenen haben zwei ihren Ursprung in dieser jahrelangen Repressionskritik: Auf das polizeiliche und juristische Vorgehen gegen APO-Aktivisten reagierten Linke mit der Gründung von Initiativen für „politische“ Gefangene. Und als Antwort auf den Extremistenbeschluss von 1972 entstand eine Bewegung gegen Berufsverbote, aus der heraus die Initiative für ein 3. Russell-Tribunal ergriffen wurde. Die anderen beiden Protestphänomene hatten einen kürzeren Vorlauf: Der Bahro-Kongress verdankte sein Zustandekommen einem kleinen Komitee, das sich Anfang 1978 zusammenfand. Und der TUNIX-Kongress stellte eine direkte Reaktion Linker auf den Deutschen Herbst dar. Die jeweiligen Mikrogeschichten dieser Protestphänomene eröffneten tiefe Einblicke in den inneren Zustand des linken Spektrums nach dem Deutschen Herbst. Im Folgenden soll zusammengefasst werden, welche Schlussfolgerungen sie zulassen.
2. E RGEBNISSE 2.1 Linker Protest und linkes Spektrum 1978/79 Dem Bild einer gemeinsamen Protesthaltung demokratischer und radikaler Linker gegen die staatlichen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung, wie es die Beerdigung auf dem Dornhaldenfriedhof implizierte – verstärkt durch die Verfilmung in »Deutschland im Herbst« –, scheint das Auftreten von vier eigenständigen Protestphänomenen auf Anhieb zu widersprechen. Ihre unterschiedlichen Ursprünge tragen ihr Übriges zu der Vermutung bei, dass es sich in Stuttgart nur um eine Momentaufnahme handelte: Eine mehr oder weniger zufällige Schar von Linken versammelte sich, um drei bewaffneten Nachzüglern der APO die letzte Ehre zu erweisen, während die Zerstrittenheit ihrer Parteien, Organisationen und sonstigen Gruppierungen die Erinnerungen an 1968 immer weiter verblassen ließ. So könnte zumindest ein voreiliges und etwas zynisches Resümee des 27. Oktober 1977 lauten. Wie die Untersuchung zeigte, waren die Zusammenhänge komplexer. Mit ihren Teilnehmern, ihrem Verlauf und den nachträglichen Reflexionen bildete die Beerdigung ein deutliches Anzeichen dafür, dass sich Linke bundesweit und spektrumsübergreifend gegen „staatliche Härte“3 mobilisierten. Westberlin erwies sich als Zentrum solcher Aktivitäten. Hier trieben einerseits Spontis, andererseits diverse undogmatische, zum Teil auch dogmatische linke Organisationen und Gruppierungen die Vorbereitung zweier Protestveranstaltungen voran, deren Kernidee es war, Anklage gegen den Staat zu erheben. Die Berliner Spontis taten dies auf ihre eigentümliche Weise. Eine kleine Gruppe setzte sich zusammen und verfasste eine Klageschrift, in der sie alles zusammentrug, was ihr im Augenblick nicht passte: vom Thema Umwelt bis zum Thema Arbeit. Überall hatte in ihren Augen der Staat seine Finger im Spiel, überall fühlten 3
Mit dem Titel „Der Staat zeigt Härte“ brachte der »Der Spiegel« in seiner Ausgabe vom 28. 04.1975 die unnachgiebige Haltung der Bundesregierung bei der Botschaftsbesetzung in Stockholm auf den Punkt. Seitdem hat sich der Ausdruck „staatliche Härte“ zu einer Umschreibung für Repression entwickelt, im Kontext der Terrorismusbekämpfung ebenso wie im Kontext der Kriminalitätsbekämpfung.
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sie sich von ihm und seinen Institutionen bedrängt, eingeschränkt und unterdrückt. Dabei hatten sie so viele Vorstellungen davon, wie es anders und besser sein könnte. Ihr Unmut mündete am Ende des Textes in den Aufruf: „[D]as ‚Modell Deutschland zerstören und durch TUNIX ersetzen‘.“4 Die Reaktionen aus allen Ecken der Bundesrepublik bestätigten, dass die Spontigruppe etwas zum Ausdruck gebracht hatte, das vor allem Umweltaktivisten, Alternativen, Homosexuellen-, Frauengruppen und anderen Spontis in vergleichbarer Weise auf dem Herzen lag. Ohne genau zu wissen, was mit TUNIX gemeint war, folgten sie dem Aufruf zum gleichnamigen Kongress im Januar 1978 nach Berlin. Dort funktionierte TUNIX wie ein spontanes Forum für sie und viele weitere undogmatische Linke. Das Ergebnis ihres Gedankenaustauschs bestand darin, dass sie sich gemeinsam in ein neues Verhältnis zum Staat setzten. Die Rede war von einer „Ausreise aus dem ‚Modell Deutschland‘“. Konkret bedeutete dies für viele: alternatives Leben. Spontis entdeckten die Parallelgesellschaft aus kollektiven Kneipen und Läden, Betrieben und Bauernhöfen für sich. Alternative fühlten sich in ihrer Lebensgestaltung bestärkt. Im Endeffekt war TUNIX Anlass für einen großen Teil der undogmatischen Linken, ihren Protest in (Lebens-)Praxis umzusetzen und Konflikten mit dem Staat fortan aus dem Weg zu gehen. Man „grub sich ein“, wie »Der Spiegel« es 1979 formulierte.5 Zeitgleich mit der Vorbereitung des TUNIX-Kongresses warben in Berlin ein Unterstützerkomitee und das offizielle Sekretariat des 3. Russell-Tribunals um Spenden und namhafte Befürworter für eine Veranstaltung, die als Gerichtsverfahren gegen die Bundesrepublik angelegt war. Eine Jury, bestehend aus ausländischen Intellektuellen und Politikern mit durchweg linker Orientierung, sollte auf Anregung der Bertrand Russell Peace Foundation (RF) für Klarheit in der Frage sorgen, ob in der Bundesrepublik Menschenrechte verletzt würden oder gefährdet seien. Die Idee für dieses Tribunal hatte unter anderem das Sozialistische Büro (SB) aus der undogmatischen Linken. Es wollte die Mobilisierung der Bewegung gegen Berufsverbote nutzen, um eine große Abschlussveranstaltung zu initiieren. Vielleicht würde sich mit Fürsprache der liberalen Öffentlichkeit eine Abschaffung des Extremistenbeschlusses herbeiführen lassen? Vielleicht ließe sich die sozialliberale Regierung von einem Schuldspruch durch die Jury beeindrucken? Bis zum Sommer 1977 hatte sich eine in weiten Teilen des linken Spektrums verankerte Unterstützerszene für das Tribunal formiert. Sie brachte undogmatische wie dogmatische Linke in kleinen Komitees zusammen, die auf das gesamte Bundesgebiet verteilten waren und dem Sekretariat in Berlin zuarbeiteten. Vereinzelt beteiligten sich auch parlamentarische Linke, also SPD-Mitglieder oder Mitglieder ihrer Jugendorganisation, bei Unterschriftensammlungen der Komitees. Es war jedoch unmöglich, die dogmatische DKP einzubeziehen, obwohl sie die Bewegung gegen Berufsverbote entscheidend mitgeprägt hatte. Ihre Zurückhaltung lag darin begründet, dass sich das 3. Russell-Tribunal mit vielen weiteren Themen befassen wollte, die die Initiatoren und Unterstützer als exemplarisch für die empfundene Repression in der Bundesrepublik erachteten: darunter die angebliche Zensur in den Medien, die Einschränkungen von Verteidigerrechten bei Verfahren gegen politisch motivierte Straftäter und die Aktivitäten des Verfassungsschutzes. In all diesen Be-
4 5
Koordinationsausschuß TUNIX: Aufruf zur Reise nach Tunix. Broschüre. Berlin 1978. In: APO-Archiv, Ordner: Tunix. Vgl. o. A.: Außen GmbH und innen rot. In: Der Spiegel (12.03.1979).
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reichen, so der Vorwurf, würden staatliche Institutionen die Unterdrückung politisch Andersdenkender forcieren und damit die Menschenrechte im Land gefährden. Das Sekretariat gab den Unterstützern Richtlinien vor, auf deren Grundlage Berichte über konkrete Fälle von repressiven Maßnahmen oder Auswüchsen dokumentiert werden sollten. Maßgeblich für die Beurteilung waren sämtliche Grundund Menschenrechtsabkommen, denen sich die Bundesrepublik verpflichtet hatte. Auch die Jury sollte die Menschenrechte zum Maßstab ihrer Urteile nehmen. Die Initiatoren befürworteten diese Vorgaben, da sie sich davon nicht nur ein seriöses Tribunal, sondern auch einen „menschenrechtlichen Lernprozess“6 für die außerparlamentarische Linke versprachen: Die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik sollte mehr Fürsprecher als bislang unter ihnen finden. Dies wiederum war aber gerade für dogmatische Linke ein Grund, sich vom Tribunal zu distanzieren. Auf ein „echtes“ juristisches Vorgehen gegen den Staat setzten, parallel zu den genannten Protestphänomenen, die Initiativen für Gefangene aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen. Sie versuchten unter anderem 1979 mit der Besetzung der Zentrale des Belgischen Roten Kreuzes, das Internationale Rote Kreuz (IRK) auf die Haftbedingungen ihrer Schützlinge aufmerksam zu machen. Angeblich verstießen diese gegen die internationalen Menschenrechtsabkommen. Die Problematik war nicht neu, sondern bereits seit Gründung der ersten Initiativen für „politische“ Gefangene Anfang der Siebziger Jahre stetig angesprochen wurden. Vor allem in Verbindung mit den Hungerstreiks der RAF. Seit Mitte der Siebziger Jahre strebte die bewaffnete Gruppierung danach, mit Hilfe ihrer Anwälte Verfahren gegen die zuständigen Behörden in der Bundesrepublik einzuleiten. Im Falle der Stammheimer Gefangenen nahm sich sogar die Europäische Kommission für Menschenrechte diesem Anliegen an. Menschenrechtsverstöße gegenüber den Inhaftierten konnte sie allerdings nicht feststellen. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schaltete sich Mitte der Siebziger Jahre in die Problematik ein. Einen greifbaren juristischen Erfolg feierten die Gefangeneninitiativen allerdings nie. Die Initiatoren des vierten untersuchten Protestphänomens hatten sich im Laufe der Siebziger Jahre ebenfalls an linker Repressionskritik beteiligt, waren aber spätestens durch die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 darauf aufmerksam geworden, dass es praktisch vor ihrer Westberliner Haustür einen Staat gab, in dem strukturelle Repression zum Alltag gehörte.7 In der Festnahme des SED-Kritikers Rudolf Bahro sahen sie einen dringenden Anlass, sich gegen die Repression in der DDR zu engagieren. Ihre Solidaritätskampagne für den politischen Gefangenen sollte fest im linken Spektrum der Bundesrepublik verankert werden, deshalb beabsichtigten sie, einen internationalen Kongress für und über Rudolf Bahro zu veranstalten.
6 7
Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Das andere Deutschland nach 1945, S. 146. Vgl. SCHULLER, Wolfgang: Repression und Alltag in der DDR. In: Deutschland-Archiv (Nr. 7, 1994), S. 272-276, hier: S. 273f.
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Tabelle 4: Die vier Protestphänomene und ihre Beteiligten aus dem linken Spektrum Protestphänomen
Beteiligte Schattierungen des linken Spektrums
Beteiligte linke Parteien, Organisationen oder Gruppierungen
Gefangeneninitiativen (Kap. IV)
undogmatische Linke
Antifas, Unorganisierte
illegale Linke
RAF-Mitglieder9
TUNIX-Kongress (Kap. V)
undogmatische Linke
Spontaneisten, Männer- und Frauengruppen, weitere Unorganisierte
parlamentarische Linke
SPD-Linke, Jungsozialisten, Jungdemokraten10
undogmatische Linke
Sozialistisches Büro, Evangelische Studentengemeinden, Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, Spontaneisten
dogmatische Linke
Kommunistischer Bund, Gruppe Internationaler Marxisten
parlamentarische Linke
SPD-Linke, Jungsozialisten
undogmatische Linke
Unorganisierte
dogmatische Linke
Einzelpersonen
3. Russell-Tribunal (Kap. VI)
Bahro-Kongress (Kap. VII)
Bei den Vorbereitungen stellte sich heraus, dass es kein Leichtes war, in einer Linken, die sich hauptsächlich mit der Situation in der Bundesrepublik auseinandersetzte, Unterstützer für eine Initiative zu werben, die über den Tellerrand hinaus in den Osten blickte. Folglich musste sich das Komitee der Interessenlage der gewünschten „Zielgruppe“ anpassen: Diskussion über Bahro – ja, einseitige Repressionskritik an der DDR – nein. Der Kompromiss gestaltete sich so, dass der Kongress ein Ost-West-Dialog über Meinungsfreiheit und Sozialismuskonzepte wurde. In der Abschlussresolution erklärten sich die Teilnehmer solidarisch mit Rudolf
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Mit „Beteiligten“ sind in dem Fall sowohl Initiatoren als auch Unterstützer, bei den Veranstaltungen auch Teilnehmer, gemeint, die dem linken Spektrum der Bundesrepublik zugeordnet werden können. 9 Nachweisbar ist nur die Beteiligung des damaligen RAF-Mitglieds Wolfgang Beer an der Besetzung des dpa-Büros in Frankfurt a. M. Einzelne Mitglieder der Antifa-Gruppen schlossen sich zu einem späteren Zeitpunkt der RAF an. Siehe Kap. IV.3.2.1, S. 168. 10 Eine aktive Beteiligung lag allerdings nur in der Anfangsphase der Russell-Kampagne vor. Später engagierten sich, wenn überhaupt, nur noch einzelne Mitglieder, weil es ihnen von SPD und FDP offiziell untersagt war.
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Bahro und allen Opfern und Benachteiligten von Repression weltweit. Sie erinnerten daran, dass „Sozialismus und Demokratie […] untrennbar“11 seien. Wie der TUNIX-Kongress und das 3. Russell-Tribunal brachte auch der BahroKongress Linke aus verschiedenen Teilen des linken Spektrums zusammen. Zwischen der eigentlichen Veranstaltung und der Solidaritätskampagne für Bahro bestand jedoch ein kleiner Unterschied: Während am Kongress weitgehend Intellektuelle, Politiker und Funktionäre aus der parlamentarischen, undogmatischen und dogmatischen Linken teilnahmen – zu denen sich eine große Zahl von ausländischen Gästen hinzugesellte –, bestand das Bahro-Komitee und sein Unterstützerkreis überwiegend aus undogmatischen Linken. Der Versuch, dogmatische Linke, vor allem die DKP, in die Kampagne einzubinden, scheiterte. Generell hat die Untersuchung der vier Protestphänomene eine Reihe von Konflikten zutage treten lassen, die bei der Zusammenarbeit zwischen Linken aus unterschiedlichen Parteien, Organisationen oder Gruppierungen entstanden. Gerade der Bahro-Kongress legte offen, welche Differenzen es in ideologisch-theoretischen Positionen gab. Dennoch war er zugleich ein Beispiel dafür, dass Linke mitunter bereit sein konnten, eigene Interessen und Ziele zurückzustellen und sich auf ein Problemfeld einzulassen, dass ihnen bislang fremd und fern war: die Situation linker Oppositioneller in der DDR. Ebenso bewies die Russell-Kampagne, dass Linke aus unterschiedlichen Teilen ihres Spektrums in der Lage waren, sich einem gemeinsamen Ziel unterzuordnen. Dies galt in diesem Fall für die große Zahl von Unterstützerkomitees, deren Themenvorschläge nicht vom Tribunal berücksichtigt wurden – unter ihnen der Kommunistischen Bund (KB), die von ihm angeregten und beeinflussten Initiativen sowie die Gruppe Internationaler Marxisten (GIM). Diese Kompromissbereitschaft der Dogmatiker war seinerzeit selten, aber keine Ausnahmeerscheinung. Sie muss, ebenso wie die Aufgeschlossenheit der undogmatischen Linken im Falle des TUNIX- und des Bahro-Kongresses, unbedingt vor dem Hintergrund der damals einsetzenden Gründung Grüner und Bunter Listen gesehen werden; ein Prozess, bei dem es praktisch ständig Beispiele für die Überwindung gegenseitiger politischer Vorbehalte zwischen Linken gab. Gerade in den Bunten Listen „sammelte sich […] ein Gemisch aus linkspolitisch orientierten Initiativen auf den unterschiedlichsten Gebieten“. Die erste dieser Art war die Bunte Liste Hamburg. Sie gründete sich im März 1978 „unter maßgeblicher Beteiligung des KB“12. Die vergleichbare Alternative Liste Berlin entstand im Juni desselben Jahres unter Einfluss der maoistischen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD (m)). Die im Oktober 1978 bei den Landtagswahlen in Hessen angetretene Grüne Liste Hessen stellte dann eine Art Ausgleich zwischen Grünen und Bunten Listen dar und galt als radikal großstädtisch-linksalternativ.13
11 MÄNICKE-GYÖNGYÖSI, Kristina/STEINKE, Rudolf u. a. (Hg.): Der Bahro-Kongreß. Aufzeichnungen, Berichte und Referate. Dokumentation des Bahro-Kongresses vom 16.-19. November 1978 in der Technischen Universität Berlin. Berlin 1979, S. 248. 12 KLEINERT, Hubert: Vom Protest zur Regierungspartei. Die Geschichte der Grünen. Frankfurt a. M. 1992, S. 18; vgl. STEFFEN, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991 (unveröff. Dissertation). Marburg 2002, S. 229. 13 Vgl. RASCHKE, Joachim (Hg.): Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind. Köln 1993, S. 894.
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2.2 Linker Protest und Staat 1978/79 Die vier untersuchten Protestphänomene können mit dem Gründungsprozess der Grünen allerdings nicht in einen Topf geworfen werden: Sie stellten vielmehr eine zeitliche wie inhaltliche Parallelerscheinung dar. Während die Mitglieder der Listen begannen, sich in ein konstruktives Verhältnis zum Staat zu setzen und ihre Abneigung gegen das etablierte politische System abzulegen, erinnerten die Gefangeneninitiativen und die Unterstützer des 3. Russell-Tribunals an offene Rechnungen: Sie rückten noch einmal den staatlichen Umgang mit linkem Protest in den Siebziger Jahren in den Fokus. Mit den Haftbedingungen für „politische“ Gefangene auf der einen Seite und dem Extremistenbeschluss auf der anderen erfuhren zwei Schwerpunktthemen der linken Repressionskritik ein letztes Mal verstärkte Aufmerksamkeit – „alter Schnee“14, wie »Der Spiegel« salopp formulierte. In diesen Zusammenhang passte auch der TUNIX-Aufruf mit seinen universellen Vorwürfen gegenüber dem Staat, die nicht nur als Reaktion auf den Deutschen Herbst, sondern auf die gesamte sozialliberale Ära zu verstehen waren. Die Ereignisse im Herbst hatten der Spontiszene einen letzten, derben Anstoß gegeben, ihre (protest-)politischen Ambitionen zu reflektieren und sich letztlich neu zu orientieren. Insofern war der TUNIX-Kongress, im Unterschied zum 3. Russell-Tribunal, eine zukunftsorientierte Protestveranstaltung. Der Auftrieb, den er der Alternativbewegung verlieh, konnte der SPD nicht entgangen sein: Neben den Bürgerinitiativen der Neuen Sozialen Bewegungen und den Grünen und Bunten Listen musste sie eine dritte „soziale Strömung“ erkennen, „die dem herrschenden Politikmodell“ ebenso wie dem „Modell eines megalomanen und anonymisierenden Industrialismus“ eine „noch vage Gesamtalternative entgegenzusetzen versucht“15. Führende Köpfe der Partei warnten bereits 1978, dass die SPD „ohne eine konkretisierbare Zukunftskonzeption für die 80iger Jahre, die auf der Basis der vorhandenen Probleme, wie Währungsverschiebungen, Produktionsverlagerungen, Rohstoffverteuerungen, Nord-Süd-Konflikt, Sättigungserscheinungen sowie Bevölkerungsentwicklung arbeitet, […] die Potentiale der Jugend, der kritischen Linken, der kritischen Bürgerlichen verlieren“16 könnte. Eine erste Gegenmaßnahme ergriff der Berliner Senat 1982/83 mit dem Programm zur Förderung von Selbsthilfegruppen, das sich an Alternativprojekte im Bereich Gesundheit und Soziales richtete. Hamburg und Bremen starteten kurz darauf vergleichbare Programme. Schon 1984 existierten 60 Prozent der sozialen Dienstleistungs- und Selbsthilfeprojekte der Alternativszene mit Hilfe von staatlichen Zuschüssen. Ein Prozess der „Befriedung“, „Integration“ und „Umarmung“ der Alternativszene war in Gang gekommen.17 Neben dem TUNIX-Kongress besaß auch der Bahro-Kongress eine klare Zukunftsorientierung: Zum einen begünstigte er mit seiner gesamtdeutschen Perspekti-
14 BECKER, Wolfgang: Aufwasch bei den ‚Davidchen‘. In: Der Spiegel (08.01.1979). 15 Internes Papier von Johanno Strasser zum Verhältnis SPD/Bürgerinitiativbewegung vom 16.02.1978, S. 2. In: AdsD 1/HSAA010099. 16 Entwurf von Volker Hauff und Reinhard Störmer zu einem internen Papier: ‚Grüne Parteien und die Antwort der SPD‘. Ohne Datum [1978], S. 10. In: AdsD 1/HSAA010099. 17 Vgl. BRAND, Karl-Werner/BÜSSER, Detlef/RUCHT, Dieter: Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M./New York 1984, S. 187 u. S. 189; von CHAMIER, Astrid: Frauen geben sich die Ehre. Der AK ‚Staatsknete‘. In: ZWAKA, Petra u. a. (Hg.): ‚Ich bin meine eigene Frauenbewegung‘. Frauen-Ansichten aus der Geschichte einer Großstadt. Berlin 1991, S. 144-146, hier: S. 144.
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ve die spätere Verständigung der ost- und westdeutschen Friedensbewegung. Zum anderen bildete er gewissermaßen den Gründungsanlass für ein kleines Netzwerk von Personen, das sich bemühte, den Selbstverständigungsprozess der bundesdeutschen Linken über das Jahr 1979 hinaus am Laufen zu halten, und damit die Idee der Vereinheitlichung linker Politik lebte – besonders, was die Annäherung „an das ökologische Thema“18 und die Grünen betraf. Dass die vier Protestphänomene jeweils unterschiedliche Stoßrichtungen hatten und von den Beteiligten nicht als Ausgangspunkte für eine gemeinsame Initiative genutzt wurden, spricht nicht per se gegen ein Zusammenrücken des linken Spektrums nach dem Deutschen Herbst. Weder der TUNIX-Kongress, noch das 3. Russel-Tribunal oder der Bahro-Kongress wurden als Konkurrenz- oder Gegenveranstaltungen wahrgenommen. Dies unterstreichen auch die Mehrfachteilnahmen einiger prominenter Linker: So besuchte Peter Brückner den TUNIX-Kongress und sprach als Zeuge beim 3. Russell-Tribunal vor. Rudi Dutschke nahm an Sitzungen des 3. Russell-Tribunals teil und gehörte der Politischen Kommission des BahroKongresses an. Heinz Brandt hielt Redebeiträge im Rahmenprogramm des 3. Russell-Tribunals und auf dem Bahro-Kongress. Und Hans-Christian Ströbele sprach auf dem TUNIX-Kongress über „Linke Tageszeitungen in der BRD“ und trat als Zeuge beim 3. Russell-Tribunal auf. Auffällig ist das Fernbleiben der linken Prominenz bei den Protestaktivitäten der Gefangeneninitiativen. Keiner wollte mit den staatsfeindlich eingestellten Antifas oder mit den auf der Stammheimer Mordthese beharrenden Angehörigengruppen in Verbindung gebracht werden. Helmut Gollwitzer, der dem Deutschen Beirat des 3. Russell-Tribunals angehörte und sich auch an der Solidaritätskampagne für Rudolf Bahro beteiligte, hatte sich bereits im Sommer 1977 von all jenen distanziert, die sich über Rechtswidrigkeiten des Stammheimer Verfahrens sowie über die Haftbedingungen der Gefangenen aus der RAF und anderen bewaffneten Gruppierungen beklagten: Sie würden „alles verwechseln“, meinte der Theologe, „ihre abscheulichen Kindereien mit revolutionären Aktionen, die Reaktionen des Staatsapparates mit revolutionären Siegen und die durch ihre ‚Hinrichtungen‘ vorausgenommene Wiedereinführung der Todesstrafe mit einem Kampf ‚gegen die Verletzung der Menschenrechte‘ [Hervorhebung, M. M.]“19 – mit diesen Worten hatten die Stammheimer Gefangenen in ihrer Hungerstreikerklärung vom 29. März 1977 den bewaffneten Kampf der RAF und anderer Gruppierungen in West- und Südeuropa umschrieben.20 Und Angehörige wie Antifas knüpften in ihren Erklärungen daran an. Wie zwangsläufig und alternativlos jene Außenseiterrolle der Gefangeneninitiativen war, verdeutlichte der Themenstreit während der Russell-Kampagne: Auch hier hatten all jene Unterstützerkomitees, die sich für die Untersuchung der Haftbedingungen einsetzten, keine Chance. Die Initiatoren gaben dem Druck von Politik und liberaler Öffentlichkeit nach und ließen das Thema außen vor.21 Auf diese Weise hofften sie, die Veranstaltung öffentlichkeitswirksam zu gestalten. Im Ergebnis 18 KLEINERT, Hubert: Vom Protest zur Regierungspartei, S. 54. 19 Brief von Helmut Gollwitzer an Klaus Croissant vom 17.07.1977. In: HIS, RA 02/055,004. 20 ID-Verlag (Hg.): Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Bearbeitet von Martin Hoffmann und Gudrun Grundmann. Berlin 1997, S. 267. 21 Die einzige Gelegenheit, bei der auf dem Tribunal über die Haftbedingungen „politischer“ Gefangener gesprochen wurde, war der Auftritt der RAF-Anwälte am vierten Sitzungstag der zweiten Sitzungsperiode. Siehe Kap. VI.7.2, S. 301f.
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verloren die Urteilssprüche der Jury ihre Bedeutung, ebenso wie die Chance vertan war, eine spektrumsübergreifende Antirepressionskampagne zu Ende zu führen und linke Kräfte zu bündeln. Vielmehr veranschaulichten die Vorgänge, dass die Verunsicherung demokratischer und radikaler Linker gegenüber dem Staat zwar eine Basis für gemeinsame Aktivitäten bilden konnte, aber deshalb noch lange nicht verbindlich genug für eine einheitliche Protestpolitik war. Bei der Untersuchung des TUNIX-Kongresses zeigte sich, dass die Spontiszene diese Problematik aus ihren eigenen Reihen kannte: Ging es bei der Russell-Kampagne um die thematische Breite des Tribunals, zeichnete sich hier ein Konflikt um die Gewaltfrage ab. Die Initiatoren erkannten darin die Gefahr, dass ihre Szene zwischen demokratischen und radikalen Linken zerrieben würde. Auf der Suche nach einem Ausweg erschien ihnen die Öffnung zur Alternativbewegung als der gangbarste Weg: Im Rückzug in die eigene, abgeschottete Szene konnten staatskritische wie antistaatliche Haltungen ohne endgültige Festlegung konfliktfrei nebeneinander ausgelebt werden. Außerdem versprach die Besinnung auf praktische Formen der Gesellschaftsveränderung neue Spielräume für eine selbstbestimmte Lebensführung. Wenn Hanno Balz der Linken nach dem Deutschen Herbst eine „Absetzbewegung vom Staat“ und eine „neu[e] Ausrichtung zu mehr Autonomie“22 bescheinigt, dann findet sich beides vor allem im TUNIX-Kongress, genauer: im Verhalten der Spontis, der Alternativen und weiterer unorganisierter undogmatischer Linker wieder. Schwieriger wird es beim Blick auf das 3. Russell-Tribunal, den BahroKongress und die Gefangeneninitiativen. Letztere hatten sich mit ihrem Engagement von vornherein auf äußerste Distanz zum Staat begeben. Wenn hier von einer „Absetzbewegung“ gesprochen werden kann, dann in Form einer räumlichen Umorientierung: Speziell die Angehörigengruppen sahen die Bundesrepublik nicht mehr als zweckmäßigen Ort für ihre Protestaktivitäten an, sondern verlagerten diese in die west- und südeuropäischen Nachbarländer. Dabei spielten ihnen die dortigen Vorbehalte gegenüber der Bundesrepublik in die Karten, von denen auch die Initiatoren des 3. Russell-Tribunals beim Werben um internationale Juroren und Unterstützer profitierten. Das „Bild vom bösen Deutschen“23 irrlichterte durch halb Europa und war dem »Spiegel« wenige Wochen vor der dem Deutschen Herbst eine Titelgeschichte wert. Unter diesen Umständen wurde das Tribunal von Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik als der propagandistische Angriff wahrgenommen, den sich die Mehrheit seiner Unterstützer von ihm erhoffte. Allein dem Kreis der Initiatoren kann, mit Nicolas Büchse, der Wille bescheinigt werden, sich „mit dem Staat zu versöhnen“, in dem sie „dessen Liberalität zu verteidigen suchten“24. Das Sozialistische Büro fand sich in einer vermittelnden Rolle zwischen der außerparlamentarischen und parlamentarischen Linken wieder. Es versuchte, mit dem Tribunal Fürsprecher und Verteidiger der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu gewinnen und zugleich die Politik der Bundesregierung in der Frage des Extremistenbeschlusses zu beeinflussen. In der Fokussierung auf Menschenrechtsfragen ist durchaus ein bürgerlich-konservativer Impuls zu sehen. Auf dieser Basis kann der Linken jedoch nicht pauschal eine stärkere Verbundenheit mit dem Staat nachgesagt werden, wie es Büchse nahe legt. 22 BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, S. 322. 23 So der Titel der »Spiegel«-Ausgabe vom 22.08.1977. 24 BÜCHSE, Nicolas: Von Staatsbürgern und Protestbürgern, S. 330.
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Überdies ließ der Bahro-Kongress erkennen, dass die Linke weitgehend auf dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaftsordnung beharrte. Die gesamtdeutsche Perspektive rückte den Teilnehmern noch einmal ins Bewusstsein, dass die notwendige Basis dafür nur eine demokratische Ordnung sein konnte. Ihre Schlussfolgerung lautete aber nicht, Repression in Ost und West differenziert zu bewerten. Stattdessen bekräftigten sie, sich mit gleichem Nachdruck auf beiden Seiten gegen Repression und Menschenrechtsverletzungen einzusetzen – wenn möglich, mit vereinten Kräften und im Dialog mit der Opposition im Ostblock. Der Beginn einer Versöhnung mit Politik und Staat in der Bundesrepublik ist darin ebenso wenig zu erkennen wie eine weitere Distanzierung.
3. F AZIT Die Mikrogeschichten der vier untersuchten Protestphänomene zeichnen das Bild einer Linken, die zehn Jahre nach der 68er-Revolte und am Ende des „sozialdemokratischen Jahrzehnts“25 den gegenseitigen Dialog und die Zusammenarbeit gesucht hat. Der Deutsche Herbst war dabei weniger konkreter Anlass als zuspitzendes Moment: Das linke Spektrum fand sich an einem Punkt wieder, an dem es endlich aktiv werden musste, wenn es aus seiner längst absehbaren politischen und moralischen Defensive herausfinden wollte. Fast selbstverständlich, dass die Protestaktivitäten 1978/79 überwiegend gewaltfrei verliefen: Die Linken zog es kaum mehr auf die Straßen. Sie füllten lieber Kongresshallen. Rekapituliert und problematisiert wurden nicht nur die Politik der Bundesregierung und die Maßnahmen staatlicher Institutionen im zurückliegenden Jahrzehnt; auch das eigene Verhalten und das eigene Verhältnis zum Staat standen zur Debatte. Über diese Mischung aus heftiger Repressionskritik und zaghafter Selbstkritik fanden viele Aktivisten spektrumsübergreifend zueinander. Wie Russell-Kampagne und Bahro-Kongress zeigten, handelte es sich dabei um staatskritische parlamentarische und außerparlamentarisch-undogmatische Linke, die erkannten, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht nur die Basis der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch ihres eigenen politischen Spielraums und gesellschaftlichen Veränderungspotentials ist. Die TUNIX-Reisenden teilten diese Ansicht nicht, sondern zogen sich auf eine gemäßigte antistaatliche Grundhaltung zurück. Zu ihnen gehörten Spontis, Alternative und weitere unorganisierte undogmatische Linke. Ihr Drang zu sichtbaren, praktischen Veränderungen überwog jedoch alle politischen und ideologischen Vorbehalte, sodass sie sich der staatskritischen demokratischen Linken und ihren „Projekten“ fortan nicht verschlossen: Bei der Gründung der Grünen standen sie ebenso als Mitstreiter und Wähler zur Verfügung wie als Aktivisten im Rahmen der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss. Dies galt ferner auch für dogmatische Linke aus dem 25 Nach dem Titel eines Aufsatzes von Bernd Faulenbach. Der Historiker vertritt die Ansicht, dass die Siebziger Jahre „mit einem breiten, im weiteren Sinne linken, in erheblichem Maße sozialdemokratisch akzentuierten Aufbruch begann[en], der Politik, Gesellschaft und Kultur in der Bundesrepublik veränderte und zur entscheidenden Wende der Nachkriegsepoche führte“. „Zusammen mit auf Veränderung drängenden Kräften der öffentlichen Meinung“ hätten die Sozialdemokraten das Jahrzehnt über „Politik und Gesellschaft in beträchtlichem Maße“ geprägt, wobei diese „partielle Hegemonie“ seit Mitte des Jahrzehnts zugunsten einer erstarkten Opposition aufweichte. Siehe: FAULENBACH, Bernd: Die Siebziger Jahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt? In: Archiv für Sozialgeschichte (Bd. 44, 2004), S. 1-37, hier: S. 35-37.
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KB und dessen Umfeld.26 Sie hoben sich deutlich von den übrigen dogmatischen Linken ab, die nicht einmal an den untersuchten Protestphänomenen beteiligt waren. Mit ihrer Blockadehaltung rückten jene an den äußersten Rand des linken Spektrums – ähnlich isoliert wie die antistaatlich-revolutionär eingestellten Antifas aus den Gefangeneninitiativen. Auf dieser Position waren jegliche linke Organisationsformen einem Stagnations- und Zerfallsprozess ausgeliefert. Für die meisten K-Gruppen endete er Anfang der Achtziger Jahre mit der Selbstauflösung.27
4. W EITERFÜHRENDE Ü BERLEGUNGEN So kennzeichnend Repressionskritik für den linken Protest nach dem Deutschen Herbst war, so deutlich fiel daneben auf, dass sich Initiatoren und Unterstützer aus allen Teilen des linken Spektrums auf „Menschenrechte“ beriefen.28 Der Untersuchung mangelte es leider an Raum, ihrem Menschenrechtsverständnis auf den Grund zu gehen. Immerhin kann festgehalten werden, dass der Menschenrechtsbegriff weder von den Gefangeneninitiativen, noch auf dem Bahro-Kongress und nicht einmal im Rahmen der Russell-Kampagne einer gezielten Reflexion unterzogen wurde. Im Gegenteil diente er hier fast selbstverständlich zur Untermauerung der Repressionskritik gegenüber dem Staat. Wie es zu diesem Umgang mit dem Menschenrechtsbegriff kam, ist es wert, in zukünftigen Forschungsvorhaben hinterfragt zu werden. Denn weder ist klar, auf welche Traditionen sich die jeweiligen Linken dabei beriefen, noch an welchen Menschenrechtsvorstellungen sie sich orientierten. Vieles deutet darauf hin, dass der Begriff eng mit der internationalen Ausrichtung der Protestinitiativen verknüpft war und bundesdeutschen Linken als Instrument diente, um sich mit der west- und südeuropäischen Linken über die innenpolitische Entwicklung in der Bundesrepublik, wie auch in umgekehrter Richtung über die Kritik am Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten im übrigen Europa, zu verständigen. Ein weiteres Forschungsdefizit ergibt sich aus der Asymmetrie, die bei der Untersuchung des Bahro-Kongresses ins Auge fiel: Während die Repression gegen Bahro und gegen die Aktivitäten des Bahro-Komitees vonseiten der staatlichen Institutionen der DDR durch die zugänglichen Akten des MfS offen gelegt werden kann, also annähernd objektiv nachvollziehbar ist, muss die geschilderte Repressionskritik der bundesdeutschen Linken immer auf ein subjektives Repressionsempfinden zurückgeführt werden. Inwieweit die Aktivisten aber tatsächlich Repression ausgesetzt waren, lässt sich kaum nachvollziehen. Im Einzelfall müsste aufwändig geprüft werden, ob repressive Maßnahmen von staatlichen Institutionen gegen sie
26 Hinzu kam Anfang der Achtziger Jahre die DKP, der es gelang, sich in der Friedensbewegung zu verankern. Vgl. ROIK, Michael: Die DKP und die demokratischen Parteien 1968-1984. Paderborn 2006, S. 357. 27 Besonders KPD/ML und KBW hätten ausgangs der Siebziger Jahre „den Grad ihres Autismus“ potenziert, behauptet der Historiker Andreas Kühn in seiner Untersuchung zur Geschichte der K-Gruppen. Siehe: KÜHN, Andreas: Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre. Frankfurt a. M./New York 2005, S. 282. 28 Wobei der TUNIX-Kongress insofern auszuklammern ist, als dass auf ihm zwar die Meinungsfreiheit, jedoch nicht der Menschenrechtsbegriff an sich von Bedeutung war, weder auf den Einzelveranstaltungen, noch auf der Demonstration. Dies hing offenbar mit der Skepsis zusammen, die die Spontis diesem Begriff entgegenbrachten. Mehr dazu, siehe Kap. VI.5.2, S. 288.
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in die Wege geleitet wurden und wenn ja, ob sie die geschilderten Ausmaße annahmen. Um die Forschung zur Repression in der Bundesrepublik zu erleichtern, wäre es notwendig, das Archivgut der für die „Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit“29 und den „Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“30 zuständigen Institutionen zugänglich zu machen – und zwar in vergleichbarer Weise wie im Falle der entsprechenden Institutionen der ehemaligen DDR. Dies steht bislang nicht in Aussicht. Zwar verfügt das Bundesarchiv über Aktenbestände aus dem Bundeskriminalamt und dem Bundesamt für Verfassungsschutz, doch die Aktenabgaben sind gering.31 Eine Ausweitung ist nicht zu erwarten: Die entsprechenden Institutionen verweisen auf die Gefahr, mit der Herausgabe oder Zugänglichmachung von Archivalien laufende Ermittlungen zu gefährden. Oder sie berufen sich auf die Strafprozessordnung, die es ihnen erlaubt, Akten oder Schriftgut zurückzuhalten, dessen Bekanntwerden „dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde“32. Auch das Parlamentarische Kontrollgremium, das die Tätigkeit der bundesdeutschen Nachrichtendienste regelmäßig prüft, ist zur Verschwiegenheit verpflichtet und erstattet lediglich dem Bundestag Bericht.33 Hinzu kommt, dass es in der Politik an Fürsprechern für eine bessere Zugänglichmachung von polizei- und nachrichtendienstlichem Archivgut mangelt. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Geschichte des linken Spektrums noch heute ein Politikum ist. Es kommt vor, dass gegenwärtige politische Akteure nicht zu ihren früheren Aktivitäten in linken Parteien, Organisationen oder Gruppierungen stehen und daher nicht an einer Aufarbeitung „ihrer“ Geschichte interessiert sind. Und es kommt ebenso vor, dass die linke, vielleicht radikal-linke, Vergangenheit von politischen Akteuren in deren gegnerischem Lager wahlkampftaktisch aufbereitet und 29 So im Falle des BKA, das diese Aufgabe „zusammen mit den anderen Polizeien des Bundes und der Länder sowie in Kooperation mit ausländischen Sicherheitsbehörden“ erfüllt. Vgl. Bundeskriminalamt: Profil. BKA.de (Ohne Datum). Siehe: http://www.bka.de/profil/profil1. html (Stand: 06.08.2010). 30 So im Falle des Verfassungsschutzes, nach dem Wortlaut des §1 Abs. 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes (BVerf SchG). 31 So hat das BKA aus dem Zeitraum 1970 bis 1980 bisher nur eine geringe Zahl von Akten aus Ermittlungsverfahren gegen die RAF abgegeben. Der Verfassungsschutz hat erst 2007 begonnen, Akten an das Bundesarchiv abzugeben. 32 Die Formulierung entspricht den gesetzlichen Bestimmungen zur Verschwiegenheitspflicht. Beide Begründungen wurden unlängst im Fall Verena Becker angeführt: Die Bundesanwaltschaft wartete jahrelang auf Verfassungsschutzakten, die bei den Ermittlungen zum RAFAnschlag auf Siegfried Buback von Interesse gewesen wären. Erst 2010 konnte sie, nach Aushändigung der Akten, Anklage gegen Verena Becker wegen Tatbeteiligung erheben. Das Hauptverfahren wurde am 28.07.2010 eröffnet. Wegen Tatbeteiligung verurteilt sind bereits: Christian Klar, Knut Folkerts und Günter Sonnenberg. 33 Vgl. HANSALEK, Erich: Die parlamentarische Kontrolle der Bundesregierung im Bereich der Nachrichtendienste. Frankfurt a. M. 2006, S. 136-141. Aus der Studie des Politologen Erich Hansalek geht leider nicht hervor, ob daran gedacht ist, das interne Schriftgut des Gremiums und seiner beiden Vorgänger – das Parlamentarische Vertrauensmännergremium (1956-1978) und die Parlamentarischen Kontrollkommission (1978-1999) – eines Tages für die historische Forschung zugänglich zu machen. Der Politologin Stefanie Waske wurde jüngst jedenfalls kein Zugriff gewährt. Sie musste bei ihrer Studie zum Vertrauensmännergremium auf Protokolle zurückgreifen, die ein Mitglied des Gremiums bei den Sitzungen anfertigte. Vgl. WASKE, Stefanie: Mehr Liaison als Kontrolle. Die Kontrolle des BND durch Parlament und Regierung 1955-1978. Wiesbaden 2009.
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ausgeschlachtet wird. Unter diesen Umständen wird sich an den asymmetrischen Forschungsbedingungen für die Zeitgeschichtsschreibung mit gesamtdeutscher Perspektive vorläufig nichts ändern, gerade, was die Geschichte von linken Protestzusammenhängen und außerparlamentarischen Parteien, Organisationen und Gruppierungen betrifft. Ein unbefriedigender Zustand, auf den am Ende dieser Arbeit mit sanftem Nachdruck hingewiesen werden muss.
IX. Anhang
1. K URZPORTRÄTS EINIGER P ARTEIEN UND O RGANISATIONEN DES LINKEN S PEKTRUMS Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Die Partei knüpfte mit ihrer Gründung im September 1968 an die Tradition der KPD aus der Weimarer Zeit an, gegen die 1956 in der Bundesrepublik ein Verbot ergangen war. Von Anfang an bestimmte die führende Partei der DDR, die SED, über die Geschicke der DKP – ebenso wie sie die 1962 gegründete Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) und den 1971 gegründeten Marxistischen Studentenbund Spartakus (MSB) kontrollierte. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der demokratische Zentralismus und die prosowjetische Haltung der DKP: Sie betrachtete die sozialistischen Staaten des Ostblocks als Vorbilder, die Bundesrepublik und den kapitalistischen Westen dagegen als „vom Monopolkapital beherrschte“ Staaten des Klassenfeinds, in denen die Arbeiterklasse eine Revolution anstreben müsste. Das wichtigste Presseorgan der DKP war die Zeitung »Unsere Zeit«. Gruppe Internationaler Marxisten (GIM) Die Partei gründete sich Pfingsten 1969. Ihr Presseorgan war die Zeitung »Was tun?«. Die GIM berief sich auf den Trotzkismus als Weiterentwicklung des frühen Leninismus. Sie verfolgte einen strikten Internationalismus. Ab 1976 formierten sich mehrere Fraktionen. Die Hauptlinie der GIM strebte den Aufbau einer „sozialistischen Alternative“ an. Schwerpunkt wurde die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. 1986 ging die GIM eine Fusion mit der KPD/ML ein. Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (ID) Das undogmatische Zeitungskollektiv gab seit 1973 in Frankfurt a. M. eine Wochenzeitung heraus. Idee war es, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen, indem man Informationen verbreitete, die in den etablierten Nachrichtenmedien keine Berücksichtigung fanden. Außerdem sollte die Trennung zwischen Zeitungsmachern und -lesern praktisch aufgehoben werden, indem das Kollektiv jedem zur Mitarbeit offen stand. 1981 stellte die Zeitung ihr Erscheinen ein. Seit 1988 besteht ID als Archiv im IISG Amsterdam sowie als Verlag, der seinen Programmschwerpunkt in der linken (Protest-)Geschichte sieht. Jungdemokraten (Judos) Bei ihrer Gründung 1947 ein Jugendverband der FDP, machten die Jusos auf dem Hannoveraner Parteitag 1967 klar, dass sie eigene politische Ansprüche verfolgten und andere Maßstäbe anlegten als ihre „Mutterpartei“. Seit der Hochzeit der APO
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verstanden sie sich schließlich als außerparlamentarische Gruppe. Links von der FDP forderten die Judos fortan an die Demokratisierung der Unternehmen, von Schulen und Hochschulen, eine konsequente Vermögensumverteilung und die Anerkennung der DDR. Gegenüber der FDP wahrten sie eine kritische Distanz. Mit dem Regierungswechsel 1982 beschlossen die Judos die Trennung von der FDP. 1993 fusionierten sie mit der Marxistischen Jugendvereinigung Junge Linke zum neuen Verband Jungdemokratinnen/Junge Linke. Jungsozialisten (Jusos) Die Jugendorganisation der SPD gründete sich 1914 in München. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wieder gegründet. 1969 vollzogen die Jusos einen entschiedenen Schritt zu mehr Selbstständigkeit. Sie positionierten sich links von der SPD, indem sie die Demokratisierung aller Lebensbereiche forderten – was eine Vergesellschaftung Struktur bestimmender Bereiche der Wirtschaft einschloss. In den Siebziger Jahren prägten politische Grabenkämpfe zwischen reformistischen und marxistischen Strömungen ihre Entwicklung. Kommunistischer Bund (KB) Der Zusammenschluss von kleineren, örtlichen kommunistischen Gruppierungen entstand 1971 in Hamburg. Sein Presseorgan war die Wochenzeitung »Arbeiterkampf«. Über die politische Linie des KB entschieden Delegiertenkonferenzen. Das theoretische Fundament bildete der Marxismus-Leninismus und seine „Weiterentwicklung“ durch Mao Tsetung. Der KB war gegenüber der Volksrepublik China jedoch eher kritisch eingestellt und billigte der Sowjetunion eine fortschrittliche Rolle zu. In Bezug auf die Bundesrepublik vertrat er die These einer fortschreitenden Faschisierung, die sich in einem Abbau demokratischer Rechte äußere und zwangsläufig zu einer revolutionären Zuspitzung führen müsse. An der Schwelle der Achtziger Jahre verlor der KB viele Mitglieder an die Grünen. 1991 löste er sich auf. Maoistische Kommunistische Partei Deutschlands (KPD (m)) Die Partei wurde im Februar 1970 gegründet. Ihr Presseorgan war die Wochenzeitung »Rote Fahne«. Die Partei berief sich in ihrer politischen Theorie auf die Weiterentwicklung der Klassiker Marx und Lenin durch Mao Tsetung und wendete sich programmatisch vom Sowjetkommunismus ab. Für die Bundesrepublik erwartete sie, dass sich der Widerspruch zwischen „Bourgeoisie und Arbeiterklasse“ bis zur revolutionären Krise verschärfen würde. Zunächst strebte die KPD (m) eine Unterwanderung der Gewerkschaften an. 1979 öffnete sie sich mit ideologischer Fundierung gegenüber der Umwelt- und Alternativbewegung. Ein Jahr später löste sie sich auf. Marxistisch-leninistische Kommunistische Partei Deutschlands (KPD/ML) Die Partei entstand Ende 1968 auf Initiative des früheren KPD-Funktionärs Ernst Aust. Ihr Presseorgan war die Wochenzeitung »Roter Morgen«. Wie alle K-Gruppen organisierte sie sich nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus. Ihre theoretische Fundierung suchte die KPD/ML bei den Klassikern Marx und Lenin und in den Lehren Mao Tsetungs. Nach einer programmatischen Revision im Dezember 1978 wendete sich die KPD/ML verstärkt den „Massen“ in den Betrieben und Gewerkschaften zu. Nach Auflösung der KPD (m) bestand sie als einzige kom-
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munistische Partei der Bundesrepublik weiter und ging 1986 in der neuen Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) auf. Sozialistisches Büro (SB) Das Sozialistische Büro entstand nach dem Zerfall der APO 1969. Seine Mitglieder, unter anderem der Politologe Wolf-Dieter Narr, der Sozialphilosoph Oskar Negt und der Bürgerrechtsaktivist Klaus Vack, strebten nach einer neuen Vereinheitlichung der linken sozialistischen Kräfte in der Bundesrepublik – abseits der SPD. Presseorgan des SB war »Links. Sozialistische Zeitung«. Das SB löste sich 1997 auf.
2. Q UELLEN a. Archivalien Archiv APO und soziale Bewegungen der Freien Universität Berlin (APO-Archiv): Ordner: Bahro (Nr. 1268); Ordner: Bahro-Komitee, Korrespondenz 1 (Nr. 1274); Ordner: Bahro-Komitee, Korrespondenz 2 (Nr. 1275); Ordner: Osteuropa, Bahro (Nr. 1268); Ordner: Osteuropa, Bahro (Nr. 1269); Ordner: Osteuropa, Bahro, Materialien (Nr. 1272); Ordner: Russell-Tribunal (Ablage/Sammlung); Ordner: Russell-Tribunal (Flugblätter, Flugschriften, Plakate, Erklärungen des Sekretariats); Ordner. Russell-Tribunal (Materialsammlung des Sekretariats, Soz. Büro (SB)); Ordner: Tunix; Osteuropa, Bahro (Schuber) (Nr. 1270); Russell-Tribunal (Schuber). Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn (AdsD): 1/HSAA006219; 1/HSAA006223; 1/HSAA006220; 1/HSAA006232; 1/HSAA 006233; 1/HSAA006290; 1/HSAA006314; 1/HSAA006315; 1/HSAA006454; 1/HSAA006891; 1/HSAA009072; 1/HSAA009405; 1/HSAA009436; 1/HSAA 009867; 1/HSAA009900; 1/HSAA009901; 1/HSAA 009922; 1/HSAA009984; 1/HSAA009985; 1/HSAA009987; 1/HSAA010099; WBA, A19, 147. Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU): MfS-HA IX Nr. 943; MfS-HA IX Nr. 1267; MfS-HA VIII Nr. 10017; MfS-HA XX Nr. 223; MfS-HA XX Nr. 5521; MfS-HA XX Nr. 7888; MfS-HA XX/9 Nr. 2125; MfS-HA XX/AKG Nr. 203; MfS-HA XX/AKG Nr. 552; MfS-HA XX/AKG Nr. 5522; MfS-ZAIG Nr. 5552. Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS): Jü,K/021,003; Ordner: Haftbedingungen allgemein (nach Kontaktsperre) 19751979; Ordner: Knast 1974-1977; Ordner: Russell-Tribunal 1977; Ordner: RussellTribunal-material; Ordner: 1974-1979/Internationale Komitees/Solidarität; RA 01/014,005; RA 02/011,010; RA 02/044, 002; RA 02/055,004; RA 02/055,007; RA 02/056,005; RA 02/057,004; RA 02/059,005; RA 02/060,013; RA 02/061,008; RA 02/061,009; TE 009,005. International Institute for Social History Amstersdam (IISG): Anarchiv Collection, Knastarchiv Bochum (KA) Systematik 65212 = Mappe 23, Umschlag 58; Norbert Cobabus Archives, XII, 35; Rote Armee Fraktion Collection,
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Mappe: RAF 1968-1973; Rote Armee Fraktion Documents 0019771114; 00197 80117/01; 0019780319; 0019781021/1; 0019781021/2; 0019781107; 0019790903; 0019791003; 0019791011; 0019791021; 0019791105; 0019791215; 0019800329; 0019800712. b. Veröffentlichte und editierte Quellen, Primärliteratur 3. Internationales Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente, Verhandlungen, Ergebnisse. Bd. 1-4. Berlin 1978/79. 3. Internationales Russell-Tribunal: Aufruf zur Unterstützung des Russell-Tribunals. Zweite Sitzungsperiode in Köln-Mülheim am 3.-8. Januar 1979. Anzeige. In: Die Zeit (29.12.1978). Amnesty International (Hg.): Amnesty Internationals Arbeit zu den Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland für Personen, die politisch motivierter Verbrechen verdächtigt werden oder wegen solcher Verbrechen verurteilt sind: Isolation und Isolationshaft. Bonn 1980. Amnesty International (Hg.): Jahresbericht 1975/76. Bonn 1976. Angehörige von politischen Gefangenen (Hg.): Familienangehörige fordern: Zusammenlegung der politischen Gefangenen der BRD sofort. Es geht ums Siegen über die organisierte Unmenschlichkeit. Karlsruhe 1981. Angela Davis Solidaritätskomitee (Hg.): Am Beispiel Angela Davis. Der Kongreß in Frankfurt. Reden, Referate, Diskussionsprotokolle. Frankfurt a. M. 1972. Antifa Hamburg (Hg.): Entweder bist Du ein Teil des Problems oder ein Teil seiner Lösung. Dazwischen gibt es nichts. Dokumentation. Hamburg 1979. BAHRO, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Köln 1977. BAIER, Horst u. a. (Hg.): Max Weber. Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden. Bd. 22. Tübingen 2005. BERBIG, Roland u. a. (Hg.): In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Berlin 1994. Bertrand Russell Peace Foundation (Hg.): Für ein atomwaffenfreies Europa. Berlin 1981. Bertrand Russell Peace Foundation (Hg.): The Bertrand Russell Peace Foundation (Nottingham). Its aims and work. Nottingham 1981. BÖRNER, Holger/KOSCHNICK, Hans: Der Bundestagswahlkampf 1976. Analyse und Folgerungen für die Arbeit der SPD. Bonn 1976. BRANDT, Willy: Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 28. Oktober 1969. In: von BEYME, Klaus (Hg.): Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt. München/Wien 1979, S. 251-281. BREDTHAUER, Karl Dietrich: Modell Deutschland? Aus Liebe zu Deutschland? Scheinalternativen und Alternativen im Wahljahr 1976. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (Bd. 21/II, 1976), S. 975-997. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.): Verfassungsschutz – Was wir für sie tun. Köln 2008. Bundesministerium des Innern (Hg.): Betrifft: Verfassungsschutz ’72. Bonn 1973. Bundesministerium des Innern (Hg.): Verfassungsschutzbericht 2007. Berlin 2008. Bundesministerium der Justiz (Hg.): Entscheidung der Kommission für Menschenrechte. Juli 1978. Bonn 1978.
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Bundesvorstand der SPD (Hg.): Weiterarbeiten am Modell Deutschland. Reden von Willy Brandt und Helmut Schmidt. SPD-Parteitag Dortmund, 18./19. Juni 1976. Bonn 1976. Bundesvorstand der SPD (Hg.): Weiterarbeiten am Modell Deutschland. Regierungsprogramm 1976-80. Beschluß des Außerordentlichen Parteitages in Dortmund, 18./19. Juni 1976. Bonn 1976. DANS, Max/BECK, Lothar: Beerdigung. Ein Bildband. Hannover [1978]. DEUERLEIN, Ernst (Hg.): Potsdam 1945. Quellen zur Konferenz der ‚Großen Drei’. München 1963. DUVE, Freimut/BÖLL, Heinrich/STAECK, Klaus (Hg.): Briefe zur Verteidigung der Republik. Reinbek b. Hamburg 1977. ENSSLIN, Christiane/ENSSLIN, Gottfried (Hg.): Gudrun Ensslin. ‚Zieht den Trennungsstrich, jede Minute‘. Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973. Hamburg 2005. Evangelische Studentengemeinde: Pressemitteilung vom 05.12.1976. In: Antifa Hamburg (Hg.): Europäische Konvention zur Bekämpfung des Terrorismus. Dokumentation. Hamburg 1977, S. 41f. FARIN, Klaus/ZWINGMANN, Hans-Jürgen (Hg.): Modell Deutschland? Berufsverbote. 2. neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Ettlingen 1979. GEISSLER, Uli u. a. (Hg.): Anti-Terror-Gesetze, Russell-Tribunal. Sonderheft zum Juso-Bundeskongress 1978 (Frankfurter Reihe Nr. 3). Frankfurt a. M. 1978. Gesellschaft für Nachrichtenerfassung und Nachrichtenverbreitung (Hg.): Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte. Unveränderte Neuauflage. Schkeuditz 2005. GLUCKSMANN, André: Der alte und der neue Faschismus. In: Ders./GEISMAR, Alain/FOUCAULT, Michel u. a.: Neuer Faschismus, neue Demokratie. Über die Legalität des Faschismus im Rechtsstaat (Rotbuch Nr. 43). Berlin 1972, S. 7-68. GREMLIZA, Hermann L./HANNOVER, Heinrich (Hg.): Die Linke. Bilanz und Perspektiven für die 80er. Hamburg 1980. GREVEN, Michael Th.: Reform und Repression. Über den Zusammenhang von Sozialpolitik und ‚Innerer Sicherheit‘. In: Politikfeld-Analysen (Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, 1.10.5.10.1979). Opladen 1980, S. 331-347. HAENSCHKE, Frank: Modell Deutschland? Die Bundesrepublik in der technologischen Krise. Reinbek b. Hamburg 1977. HILLMANN, Karl-Heinz: Art. Repression. In: Ders. (Hg.): Wörterbuch der Soziologie. 4. überarb. Auflage. Stuttgart 1994. HIRSCH, Joachim: Das ‚Modell Deutschland‘, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1986. HOFMANN, Daniel/KAISER, Monika u. a. (Hg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. Reihe VI, Bd. 3: Januar 1973 bis 31. Dezember 1974. München 2006. HOPPE, Wolfgang: Zeugenaussage im Prozeß gegen Monika Haas. In: Angehörigen Info (Nr. 185, 1996). HORN, Klaus/LAUTMANN, Rüdiger: Art. Unterdrückung. In: FUCHS-HEINRITZ, Werner/LAUTMANN, Rüdiger u. a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie. 4. überarb. Auflage. Wiesbaden 2007. HOROWITZ, Gad: Repression. Basic and surplus repression in psycho-analytic theory: Freud, Reich, and Marcuse. Toronto 1977. ID-Verlag (Hg.): Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Bearbeitet von Martin Hoffmann und Gudrun Grundmann. Berlin 1997.
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Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 14. Wahlperiode, 142. Sitzung, S. 13891-13902. Verlag Neue Kritik (Hg.): Der blinde Fleck. Die Linke, die RAF und der Staat. Frankfurt a. M. 1987. Verlag Neue Kritik (Hg.): Ein deutscher Herbst. Zustände 1977. Frankfurt a. M. 1997. Verlag Neue Kritik (Hg.): Ein deutscher Herbst. Zustände, Dokumente, Berichte, Kommentare. Frankfurt a. M. 1978. VINKE, Hermann/VITT, Gabriele (Hg.): Die Anti-Terror-Debatten im Parlament. Protokolle 1974-1978. Reinbek b. Hamburg 1978. WOLTER, Ulf (Hg.): Antworten auf Bahros Herausforderung des ‚realen Sozialismus‘. Berlin 1978. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I). Zurück zur politischen Diskussion! Info Extra der TU und FU Berlin (25.11.1977). c. Presseartikel Periodika: Anti-Repressions-Info Hamburg, Arbeiterkampf, Berliner Extra-Dienst, Freiheit + Gleichheit, Gegenpol-itische Unterdrückung (Gegenpol), Gewerkschaftliche Monatshefte, Info Berliner Undogmatischer Gruppen (Info-BUG), Info – Hamburger Undogmatischer Gruppen (HUG), Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (ID), Konkret. Zeitschrift für Politik und Kultur, Kursbuch, Links. Sozialistische Zeitung, Pflasterstrand, Radikal, Rote Fahne, Rote Hilfe, Rote Hilfe Zeitung, Sozialdemokratischer Pressedienst, Was tun? u. a. Tageszeitungen: Bild, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Frankfurter Rundschau (FR), Der Spiegel, Stuttgarter Zeitung, Süddeutsche Zeitung (SZ), Der Tagesspiegel, Die Tageszeitung (taz), Die Welt, Zeit u.a. d. Zeitzeugenbefragungen und -auskünfte Befragungen, mündlich (m) oder schriftlich (s): - Hajo Cornel am 27.08.2009 (m). - Max Dans am 11.11.2009 (m). - Kai Ehlers am 19.07.2010 (m). - Jürgen Graalfs am 16.10.2008 (m). - Wolf-Dieter Narr am 15.11.2008 (s). - Harald Pfeffer am 01.06.2010 (s) und mit Peter Hillebrand am 23.04.2009 (m). - Christian Sigrist am 25.06. (m), 13.08.2008 (m). - Rudolf Steinke am 12.09.2008 (m). - Uwe Wesel am 04.06.2008 (m). Auskünfte, mündlich (m) oder schriftlich (s): - Carla Boulboullé am 30.06.2009 (s). - Hans-Michael Empell am 30.04.2010 (s). - Christiane Ensslin am 03.04. (m), 08.05. (s), 16.06. (s), 05.07. (s), 6.07. (s), 11.10. 2008 (s), 20.04.2010 (s).
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- Robert Krieg am 10.11.2008 (m). - Albrecht Müller am 04.06.2009 (m). - Oskar Negt am 07.12.2009 (s). - Hans-Hermann Teichler am 17.07.2010 (m). - Renée Zucker am 03.03.2009 (m). e. Selbstzeugnisse CHOTJEWITZ, Peter Otto: Mein Freund Klaus. 2. Auflage. Berlin 2008. DELLWO, Karl-Heinz: Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel. Hamburg 2007. DIEDERICH, Ellen: ‚Und eines Tages merkte ich, ich war nicht mehr ich selber, ich war ja mein Mann‘. Offenbach 1981. DUTSCHKE, Gretchen (Hg.): Rudi Dutschke. Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979. Köln 2003. GERONIMO: Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen. 4. Auflage. Berlin/Amsterdam 1995. HOGEFELD, Birgit: Ein ganz normales Verfahren … Prozeßerklärungen, Briefe und Texte zur Geschichte der RAF. Berlin 1996. HOLDERBERG, Angelika (Hg.): Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit. Gießen 2007. HORX, Matthias: Aufstand im Schlaraffenland. Selbsterkenntnisse einer rebellischen Generation. München/Wien 1989. JÜNSCHKE, Klaus: Spätlese. Texte zu Knast und RAF. Frankfurt a. M. 1988. KLAUS, Alfred/DROSTE, Gabriele: Sie nannten mich Familienbulle. Meine Jahre als Sonderermittler gegen die RAF. Hamburg 2008. KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 19671977. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002. KUNZELMANN, Dieter: Leisten Sie keinen Widerstand. Bilder aus meinem Leben. Berlin 1998. MOHR, Reinhard: Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern. Berlin 2008. MOHR, Reinhard: Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 1992. LEVY, Gert: Tunix, ein Aufruf zum Nachklapp (unveröff. Aufsatz). Köln 2008. LEVY, Gert: Tunix, ein Aufruf zum Nachklapp (unveröff. Manuskript). Köln 2008. NEGT, Oskar: Unbotmäßige Zeitgenossen. Annäherungen und Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1994. SCHLÖNDORFF, Volker: Licht, Schatten und Bewegung. Mein Leben und meine Filme. München 2008. SCHREIBER, Manfred/BIRKL, Rudolf (Hg.): Zwischen Sicherheit und Freiheit (Geschichte und Staat, Bd. 206/207). München/Wien 1977. TOLMEIN, Oliver: RAF – Das war für uns Befreiung. Ein Gespräch mit Irmgard Möller über bewaffneten Kampf, Knast und die Linke. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. 4. Auflage. Hamburg 2005. WESEL, Uwe: Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen. München 2002.
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f. Filme, Rundfunkbeiträge und -sendungen Alternativbewegungen. R: CASDORFF, Claus-Hinrich (Monitor, Sendung vom 28.02. 1978, ARD). Die Anwälte. Eine deutsche Geschichte. R: SCHULZ, Birgit (Bundesrepublik Deutschland, 2009). Die Provinz, die Revolte und das Leben danach. R: KRIEG, Robert (Bundesrepublik Deutschland, 2004). ‚Ist die Welt nicht mehr zu retten? – Der Fall Rudolf Bahro‘. Ein Hörfunkfeature. R: CLAS, Detlef/SENNEWALD, Immo (Erstausstrahlung: 05.07.2007, SWR2). Meine Geschichte – Häftling der Stasi. 6-teilige Sendereihe. R: ENGERT, Jürgen (Erstausstrahlung: 11.07.2008, Phoenix). Ohne Zorn würden wir schweigen. Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Abendroth. Hörfunkdokumentation. R: LIESSMANN, Heike (Erstausstrahlung: 02.05.2006, HR2). Tagesschau (Hauptausgabe vom 07.11.1978, ARD).
3. S EKUNDÄRLITERATUR a. Monografien ALBER, Jens: Der Sozialstaat in der Bundesrepublik 1950-1983. Frankfurt a. M. 1989. ANDERSEN, Uwe/GROSSER, Dieter/WOYKE, Wichard: Bundestagswahl 1976: Parteien und Wähler, politische Entwicklung, Probleme nach der Wahl. Opladen 1976. AUST, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. München 1989, S. 581. BAKKER SCHUT, Pieter: Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion. Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung. Sonderausgabe 20 Jahre Stammheim. Bonn 1997. BALZ, Hanno: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren. Frankfurt a. M. 2008. BARON, Udo: Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei ‚Die Grünen‘. Münster u. a. 2003. BAUER, Babett: Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971-1989). Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History. Göttingen 2006. BAUM, Ottokar: Bürgerinitiativen und Strafvollzug. Zur Typologie von außerinstitutionellen Gruppen und ihrer Bedeutung für Strafgefangene und Strafvollzug (unveröff. Diplomarbeit). Göttingen 1977. BLATH, Richard/HOBE, Konrad: Strafverfahren gegen linksterroristische Straftäter und ihre Unterstützer. Schriftenreihe ‚Recht‘ des Bundesministeriums der Justiz. Bonn 1982. BRAND, Enno: Staatsgewalt. Politische Unterdrückung und Innere Sicherheit in der Bundesrepublik. 2. Auflage. Göttingen 1989.
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BRAND, Karl-Werner/BÜSSER, Detlef/RUCHT, Dieter: Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M./New York 1984. von BREDOW, Wilfried: Der KSZE-Prozeß. Von der Zähmung zur Auflösung des Ost-West-Konfliktes. Darmstadt 1992. BRUNN, Hellmut/KIRN, Thomas: Rechtsanwälte – Linksanwälte. Frankfurt a. M. 2004. BURGHARD, Waldemar/HEROLD, Horst u. a. (Hg.): Kriminalistik Lexikon. Grundlagen der Kriminalistik (Schriftenreihe der Kriminalistik, Bd. 20). Heidelberg 1984. CLAUDIUS, Thomas/STEPAN, Franz: Amnesty International. Portrait einer Organisation. 3. Erweiterte Auflage. München/Wien 1978. CONZE, Eckart: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis zur Gegenwart. München 2009. CZITRICH, Holger: Konservativismus und nationale Identität in der Bundesrepublik Deutschland. Der Konservativismus, seine Theorie und Entwicklung im Spiegel der Diskussionen über das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland seit Mitte der siebziger Jahre (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Bd. 393). Frankfurt a. M. u. a. 1989. DAHLKE, Matthias: Der Anschlag auf Olympia ’72. München 2006. DAVENPORT, Christian: State Repression and the Domestic Democratic Peace. New York 2007. DIETL, Wilhelm: Die BKA-Story. München 2000. DIETZ, Thomas: Die grenzüberschreitende Interaktion grüner Parteien in Europa. Opladen 1997. DITFURTH, Jutta: Ulrike Meinhof. Die Biografie. Berlin 2007. DITTBERNER, Jürgen: FDP – Partei der zweiten Wahl. Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Partei und ihrer Funktionen im Parteiensystem der Bundesrepublik. Opladen 1987. EMMERICH, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Berlin 2000. EMPELL, Hans-Michael: Die Menschenrechte der politischen Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland. Völkerrechtliche Beiträge zum Kampf gegen die Isolationshaft. Köln 1995. ENGELMANN, Bernt: Das neue Schwarzbuch: Franz Josef Strauß. 5. Auflage. Köln 1980. FEHÉR, Ferenc/HELLER, Agnes: Die Linke im Osten – die Linke im Westen. Ein Beitrag zur Morphologie einer problematischen Beziehung. Köln 1986. FELS, Gerhard: Der Aufruhr der 68er. Zu den geistigen Grundlagen der Studentenbewegung und der RAF. Bonn 1998. GEERTZ, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 1994. GELLRICH, Günter: Die GIM. Zur Politik und Geschichte der Gruppe Internationale Marxisten 1969-1986. Köln 1999. GÖRTEMAKER, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999.
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4. A BKÜRZUNGS - UND ABBILDUNGSVERZEICHNIS Nachfolgend eine Auflistung der häufigsten Abkürzungen (selten verwendete Abkürzungen werden im laufenden Text erläutert): AI AKW
… Amnesty International … Atomkraftwerk
A NHANG | 415
APO AStA BKA BRD BfV CDU/CSU DDR DGB DKP EG EMK ESG FDP FU GG GIM ICCPR ID IKV IRK JVA KB KBW KPD (m) KPD/ML KSGI KSZE LSD MfS NATO PDS PS RAF RF SB SDS SPD StPO TU UK UNO VdS
… Außerparlamentarische Opposition … Allgemeine Studierendenausschüsse … Bundeskriminalamt … Bundesrepublik Deutschland … Bundesamt für Verfassungsschutz … Christlich-Demokratische Union/Christlich-Soziale Union … Deutsche Demokratische Republik … Deutscher Gewerkschaftsbund … Deutsche Kommunistische Partei … Europäische Gemeinschaft … Europäische Menschenrechtskommission … Evangelische Studentengemeinde(n) … Freiheitlich-Demokratische Partei … Freie Universität Berlin … Grundgesetz … Gruppe Internationaler Marxisten … Internationaler Pakt der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte … Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten … Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa … Internationales Rotes Kreuz … Justizvollzugsanstalt … Kommunistischer Bund … Kommunistischer Bund Westdeutschlands … (maoistische) Kommunistische Partei/Aufbauorganisation … Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten … Komitee zum Schutz der Gefangenen in Westeuropa und gegen Isolationshaft … Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa … Liberaler Studentenbund Deutschlands … Ministerium für Staatssicherheit der DDR … Nordatlantikvertrag-Organisation … Partei des Demokratischen Sozialismus … Partie Socialiste Unifié/französische Sozialistische Partei … Rote Armee Fraktion … Bertrand Russell Peace Foundation/ Bertrand Russell Friedensstiftung … Sozialistisches Büro … Sozialistischer Deutscher Studentenbund … Sozialdemokratische Partei Deutschlands … Strafprozessordnung … Technische Universität Berlin … Unterstützerkomitee für das 3. Russell-Tribunal … Vereinte Nationen … Verband deutscher Schriftsteller
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| LINKER PROTEST NACH DEM DEUTSCHEN HERBST
Folgende Abkürzungen werden darüber hinaus im Fußnotenapparat verwendet: Bd. bes. ders./dies. ebd. Fn. Hg. Kap. o. A. o. J. o. O. o. S. vgl. zit.
… Band … besonders … derselbe/dieselbe Autor(in) oder Herausgeber(in) … ebenda … Fußnote … Herausgeber … Kapitel … ohne Autorennennung … ohne Jahresangabe … ohne Nennung des Veröffentlichungsortes … ohne Seitenangabe … vergleiche … zitiert
Folgende Abbildungen sind im Buch enthalten: Abb. 1, S. 12 Abb. 2, S. 95 Abb. 3, S. 141 Abb. 4, S. 167 Abb. 5, S. 213 Abb. 6, S. 232 Abb. 7, S. 275 Abb. 8, S. 282 Abb. 9, S. 347 Abb. 10, S. 363
… Privatarchiv Michael März mit bestem Dank an André Hupfer … mit bestem Dank - Parteiarchive ACDP, AdsD … mit bestem Dank - Archiv Rote Flora … mit bestem Dank - Privatarchiv Gunnar Erdmann … mit bestem Dank - APO-Archiv … mit bestem Dank - Privatarchiv Harald Pfeffer … mit bestem Dank - Privatarchiv Gunnar Erdmann … mit bestem Dank - APO-Archiv … Privatarchiv Michael März … mit bestem Dank - APO-Archiv
A BSCHLIESSENDE D ANKSAGUNG Im Dezember 2007 begann ich als Kollegiat am Max-Weber-Kolleg Erfurt mit der Arbeit am Dissertationsprojekt „Linker Protest nach dem Deutschen Herbst“. Vier Jahre später konnte ich die fertige Dissertationsschrift zum Druck beim Transcript Verlag einreichen. In der Zwischenzeit haben viele Menschen dazu beigetragen, dass aus einem überschaubaren Konzeptpapier ein hoffentlich gutes Buch geworden ist. Namentlich hervorheben möchte ich vor allem meine beiden Gutachter, Frau Prof. Dr. Birgit Emich und Herr Prof. Dr. Dirk van Laak, und meinen anfänglichen Betreuer am Kolleg, Prof. Dr. Wolfgang Reinhard. Für die weitere Unterstützung am Kolleg danke ich Frau Dr. Bettina Hollstein und Doreen Hochberg sowie meinen Kommilitonen Dr. Ismail Ermagan und Andreas Kewes. Für ihren beträchtlichen Anteil am Projekt danke ich den Zeitzeugen und Interviewpartnern, darunter v. a. Uwe Wesel, Rudolf Steinke, Harald Pfeffer sowie den Archivmitarbeitern. Ein besonders herzliches Dankeschön geht an meine Eltern, an meine Schwester Jeannette und nicht zuletzt an meine Freundin und Lebensgefährtin Christiane Backhaus – ein großes Glück, dass ich immer auf Euch zählen kann!
Histoire Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden 2010, 502 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1270-7
Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hg.) Die Bielefelder Sozialgeschichte Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen 2010, 464 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1521-0
Michael Hochgeschwender, Bernhard Löffler (Hg.) Religion, Moral und liberaler Markt Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2011, 312 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1840-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Histoire Oliver Kühschelm, Franz X. Eder, Hannes Siegrist (Hg.) Konsum und Nation Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation März 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1954-6
Anne Kwaschik, Mario Wimmer (Hg.) Von der Arbeit des Historikers Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft 2010, 244 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1547-0
Sarah Zalfen, Sven Oliver Müller (Hg.) Besatzungsmacht Musik Zur Musik- und Emotionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914-1949) Juli 2012, ca. 230 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1912-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Histoire Lars Bluma, Karsten Uhl (Hg.) Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert Februar 2012, 434 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1834-1
Thomas M. Bohn, Victor Shadurski (Hg.) Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West 2011, 270 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1897-6
Claudia Dittmar Feindliches Fernsehen Das DDR-Fernsehen und seine Strategien im Umgang mit dem westdeutschen Fernsehen 2010, 494 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1434-3
Marina Hilber Institutionalisierte Geburt Eine Mikrogeschichte des Gebärhauses April 2012, ca. 380 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2035-1
Petra Hoffmann Weibliche Arbeitswelten in der Wissenschaft Frauen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1890-1945 2011, 408 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1306-3
Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.) Die Transformation der Lager Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen 2011, 318 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1179-3
David Kuchenbuch Geordnete Gemeinschaft Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert 2010, 410 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN 978-3-8376-1426-8
Timo Luks Der Betrieb als Ort der Moderne Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert 2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1428-2
Carola S. Rudnick Die andere Hälfte der Erinnerung Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989 2011, 770 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1773-3
Stefanie Samida (Hg.) Inszenierte Wissenschaft Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1637-8
Anette Schlimm Ordnungen des Verkehrs Arbeit an der Moderne – deutsche und britische Verkehrsexpertise im 20. Jahrhundert 2011, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1828-0
Matthias Zaft Der erzählte Zögling Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung 2011, 404 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1737-5
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