Liebesgeschichte Gott: Systematische Theologie im Konzept 9783666564062, 9783525564066, 9783647564067

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Liebesgeschichte Gott: Systematische Theologie im Konzept
 9783666564062, 9783525564066, 9783647564067

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564066 — ISBN E-Book: 9783647564067

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie

Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz Band 141

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564066 — ISBN E-Book: 9783647564067

Markus Mühling

Liebesgeschichte Gott Systematische Theologie im Konzept

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Mit 2 Tabellen und 9 Graphiken Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56406-6 ISBN 978-3-647-56406-7 (E-Book) Ó 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Vertrauende Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Biblische und außerbiblische Geschichten und Geschichte . . . 1.3 Eine „ethische“ Theorie der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Welche Metapherntheorien ermöglichen einen kognitiven Zugang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Die Theorie der kontextuellen Bedeutungszuschreibung . 1.3.3 Metaphorische Sprache ist begriffliche Sprache und umgekehrt! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Die „ethische Theorie der Wahrheit“ in christlicher Perspektive als Bedingung der Möglichkeit des Realitätsbezugs von Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Relationale Selbst-Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Liefert Schleiermacher einen Gottesbeweis? . . . . . . . 1.4.2 Die konkrete Gestalt des Selbst und ihre relationale Konstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Auch die Konstitution des Selbst ist nur extern relational denkbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Verabschiedung des „Subjekts“ als quasineutraler Grundkategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.5 Das Selbst des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.6 Die Konstitution des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Theologischer Schriftgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Reduktion semantischer Mehrfachcodierungen von Gen 18 in der Tradition am Beispiel Augustins . . . . . . . . 1.5.2 Semantische Mehrfachcodierungen anhand von Gen 18 am Beispiel der historischen Forschung . . . . . . . . . 1.5.3 Mehrfachcodierungen anhand des Beispiels der auf Gen 18 Bezug nehmenden Trinitätsikone aus der (ost) kirchlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Ist Wahrheit totalitär und wer für alles offen ist, nicht ganz dicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5 Implikationen für die kirchliche Praxis mit der Schrift .

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Inhalt

2. Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Gottes Selbstpräsentation und Dreiheit . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Individuationsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.1 Individuation durch die Verbindung von Substanz und Akzidens . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.2 Individuation durch die Verbindung von forma und materia . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.3 Individuation durch haecceitas . . . . . . . . . 2.1.1.4 Die Sistenz des Problems durch die individualistische Inversion . . . . . . . . . . . 2.1.1.5 Raumzeitliche Lokation . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Schöpfungstheologische Argumentation . . . . . . . . . 2.1.4 Der Beitrag der Trinitätslehre zur Entwicklung einer relationalen Ontologie und zur Lösung des Individuationsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Gottes perichoretische Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Ist die Einheit Gottes verstehbar? . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die christologische Herkunft des trinitarischen Perichoresebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Die Perichorese in der Theologiegeschichte . . . . . . . 2.2.3.1 Perichorese bei Johannes Damaszenus . . . . . 2.2.3.2 Perichorese in der Neuscholastik bei Matthias Joseph Scheeben . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.3 Perichorese in der Trinitätslehre Karl Barths . 2.2.3.4 Perichorese in der Trinitätstheologie Wolfhart Pannenbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.5 Perichorese in der Trinitätstheologie Jürgen Moltmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.6 Perichorese in der Trinitätstheologie Gisbert Greshakes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Begriffliche Reformulierungsmöglichkeiten . . . . . . . 2.2.4.1 Perichorese als extensionale Symmetrie . . . . 2.2.4.2 Perichorese als extensionale Reziprozität . . . 2.2.4.3 Perichorese als intensionale Symmetrie . . . . 2.2.5 Bewertung der theologiegeschichtlich vorliegenden Konzepte von Perichorese . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Das Sachproblem: Einheit und Besonderheit, Symmetrie und Asymmetrie, Offenbarsein und Verborgensein . . . 2.2.6.1 Ein einheitliches Prinzip bleibender Entzogenheit in Gott . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6.2 Ein doppeltes Prinzip bleibender Entzogenheit in Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.2.6.3

Reziproke Asymmetrie als Prinzip wechselseitiger Entzogenheit in Gott . . . . . . 2.2.7 Perichorese unter der Bedingung der Unendlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Gottes Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Geschichte des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Lösungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2 Voraussetzungen der Zuschreibung welthafter Sachverhalte zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Problembearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Der Glaube Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Gottes Zufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Zufall als Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.1 Der Schluss von der kontingenten Welt auf ein notwendiges Sein . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.2 Zweifel am semantischen Gehalt eines absolut notwendigen Seins . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Zufall als ontische Ursachenlosigkeit . . . . . . . . . . . 2.4.3 Von der Evolutionsbiologie zur Systemtheorie . . . . . . 2.4.3.1 Zufall als Ziellosigkeit, nichtberechenbarer Theoriefaktor und emergente Überraschung . 2.4.3.2 Zufall im Rahmen der Systemtheorie . . . . . . 2.4.4 Der theologische Umgang mit dem Zufall . . . . . . . . 2.4.4.1 Gottes Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4.2 Beinhaltet Gottes Kontingenz auch Ursachenlosigkeit und emergente Überraschung? . . . . . . . . . 2.4.5 Folgen für das menschliche Selbstverständnis . . . . . . 3. Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Naturwissenschaft und Theologie . . . . . . . . . . 3.1.1 Geschichte der Verhältnisbestimmung . . . 3.1.2 Analyse der vorgeblichen Bereichstrennung 3.1.3 Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Methodiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Die Notwendigkeit des Dialogs für die Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gabe oder Gegebenheit? . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Grundzüge der Schöpfungslehre . . . . . . 3.2.2 Grundzüge gegenwärtiger Kosmologie . . . 3.2.2.1 Voraussetzungen . . . . . . . . . .

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Inhalt

Das gegenwärtig favorisierte kosmologische Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Die Gottesfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interdisziplinarität als Interreligiosität: Einstein . . . . . . . . 3.3.1 Ein Vorurteil über Einsteins Religiosität . . . . . . . . 3.3.2 Die inhaltlichen Hauptkennzeichen von Einsteins Wirklichkeitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Der Charakter von Einsteins Religiosität . . . . . . . . 3.3.4 Einstein als Anwalt religiöser Toleranz? . . . . . . . . Quantentheorie, Gott und Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Ist Gott keine Entität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Gegenständlichkeit jenseits raumzeitlicher Individuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.1 Erstes Beispiel: Unbestimmtheitsrelation und Gegenständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.2 Zweites Beispiel: Das EPR-Experiment . . . . 3.4.2.3 Drittes Beispiel: Die Grenze der Planck-Größen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Ontologische Bedeutung der drei Beispiele . . . . . . . 3.4.4 Und Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Ewigkeit als Zeitlosigkeit: Das Paradigma Augustins . 3.5.2 Ewigkeit als vollständige Simultaneität: Das Beispiel Boethii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Das Modell der partiellen Simultaneität: Das scotistische Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Ewigkeit als anfangsloser und endloser Fluß der Zeit: Das Beispiel Richard Swinburnes . . . . . . . . . . . . 3.5.5 Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . 3.5.5.1 Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.5.2 Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.5.3 Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Zeitfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Das Junktim Zeit/Ewigkeit im Zusammenhang theologischer Sachthemen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Das Junktim von Zeit und Ewigkeit als prägendes Merkmal theologischer Positionalität . . . . . . . . . . 3.6.3 Das Beispiel Albrecht Ritschls . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3.1 Ewigkeit und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3.2 Trinität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3.3 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3.4 Erwählung und Schöpfung . . . . . . . . . . 3.6.3.5 Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2

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Inhalt

3.6.4 3.6.5 3.6.6

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3.6.3.6 Zurechtrückung . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3.7 Vermeindlicher Kollektivismus . . . . . . 3.6.3.8 Auferstehung und ewiges Leben . . . . . 3.6.3.9 Das Gebetsverständnis . . . . . . . . . . 3.6.3.10 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vielfalt der Ausdeutung erfahrener Zeit . . . . Die Vielfalt der Zeitphänomene . . . . . . . . . . . Sachaspekte der Zeit als strukturierende Elemente 3.6.6.1 Die Metrik der Zeit . . . . . . . . . . . . 3.6.6.2 Die B/C-Reihe der Zeit . . . . . . . . . . 3.6.6.3 Die A-Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.6.4 Die Erfahrung der Erfahrungen von Zeit . 3.6.6.5 Der Umgang mit der Zeit . . . . . . . . . Ewigkeit und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Der Mensch als Geschöpf endlicher Freiheit . . . . . . . . . . 4.1.1 Die weltanschaulichen Ansprüche der Hirnforschung der 2000er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.1 Die experimentelle Basis: Die Haynes-Experimente . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.2 Notwendige weltanschauliche Voraussetzungen der Hirnforschung . . . . . 4.1.1.3 Ein Gedankenexperiment zum Determinismusproblem . . . . . . . . . . . . 4.1.1.4 Kausalität als belief . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Willensfreiheit auf dem philosophischen Prüfstand . . 4.1.2.1 Naturalistischer Reduktionismus/Impossibilismus . . . . . . 4.1.2.2 Libertarianismus . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.3 Kompatibilismus . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Der theologische Umgang mit dem Problem . . . . . . 4.1.3.1 Theologische Reaktionen auf die Infragestellung der Willensfreiheit von Seiten der Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . 4.1.3.2 Der Mensch als Person und imago Dei . . . . 4.1.3.3 Die Frage nach der externen und internen Willensfreiheit in Heilsdingen . . . . . . . . 4.1.3.4 Die Frage nach der externen und internen Willensfreiheit an sich . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.5 Ist die Rede von der Willensfreiheit als figmentum bei Luther notwendigerweise mit einem Determinismus verbunden? . . . . . .

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Inhalt

4.1.3.6

Gebundener Wille und das Determinismusproblem . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.7 Entkontingentisierung als Sünde . . . . . . . . 4.1.3.8 Freiheitserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.8 Und die Verantwortlichkeit? . . . . . . . . . . 4.1.3.9 Das theologische Verständnis von Mensch und Wille und die Neurowissenschaften . . . . . . 4.2 Liebesregel und Liebesbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die antithetische Verhältnisbestimmung von Nächstenliebe und Geschwister- bzw. Bruderliebe oder Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1 Beispiele der antithetischen Verhältnisbestimmung . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.2 Analyse der antithetischen Verhältnisbestimmung . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.3 Problematik und Ursprung der antithetischen Verhältnisbestimmung . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Eine positive Verhältnisbestimmung zwischen Nächstenliebe und Geschwisterliebe . . . . . . . . . . . 4.2.2.1 Intentionale Haltungen und reale Beziehungen 4.2.2.2 Die realen Beziehungen von Gottes Liebe als Ursprung der realen Beziehungen zwischen den Geschöpfen als existierende und zurechtgebrachte Geschöpfe . . . . . . . . 4.2.2.3 Geschwisterliebe und Nächstenliebe . . . . . . 4.2.3 „Gott ist Liebe“ als Voraussetzung der voraussetzungslosen Liebe Gottes . . . . . . . . . . . . . 4.3 Gelegenheit zur Liebe: Diakonisches Handeln . . . . . . . . . . 4.3.1 Begründungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 persona est rationa(bi)lis naturae individua substantia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Eine Person ist ein durch eine die Würde betreffende Proprietät unterschiedenes Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.3 Eine Person ist eine inkommunikable Existenz, d. h., eine Person ist ein nichtmitteilbares Voneinander-und-Füreinandersein . . . . . . . 4.3.3 Personale Beziehungen sind Liebesbeziehungen! . . . . 4.3.3.1 Liebe ist nie nur ein Gefühl oder ein Affekt! . . 4.3.3.2 Liebeshaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.3 Liebe als reale Relation . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Gott ist trinitarische Liebe zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.3.5 Imago . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.7 Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.8 Kirchliches Handeln ist immer diakonisches Handeln! 4.3.9 Diakonisches Handeln ist immer kirchliches Handeln! 4.4 Macht und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Verwendungsweisen des Gewaltbegriffs . . . . . . . . . 4.4.3 Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Mitarbeit an der Überwindung von Gewalt . . . . . . . 4.4.4.1 Mitarbeit an der Überwindung aller sündhaften Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.2 Mitarbeit an den Bedingungen der Mitarbeit der Überwindung aller sündhaften Gewalt . .

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. 339 . 341

5. Der Sohn und der Heilige Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das Heilsereignis Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Die altkirchliche Erlösungslehre . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Das mittelalterliche Handelsmodell . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Die Lehre von der Strafgenugtuung der Reformationszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Die Umbildung der Versöhnungslehre zu Beginn der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Der nur scheinbare Verzicht auf Lösungsmöglichkeiten . 5.1.6 Narrative Lösungen durch Kombinationen von Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.7 Zurechtbringung im Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.7.1 Was sind Feinde Gottes? . . . . . . . . . . . . 5.1.7.2 Warum bewirkt Feindschaft den Zorn Gottes? . 5.1.7.3 Warum können Menschen nicht selbst die Versöhnung erwirken? . . . . . . . . . . . . . 5.1.7.4 Warum kann Gott die Versöhnung nur durch das Blut Christi erwirken? . . . . . . . . . . . 5.1.7.5 Warum ist das Ergebnis wirklich Friede und Hoffnung ohne Fixierung von Gewaltstrukturen? . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Heiliger Geist und Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die Auseinandersetzung zwischen Basilius und Eustathius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Differenzen und Gemeinsamkeiten von Basilius und Eustathius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Mögliche Hintergründe des Streites . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Motivation und Hintergrund der pneumatomachischen Auseinandersetzung zwischen Basilius und Eustathius .

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324 324 325 326 326 327 327 329 337 339

343 343 344 345 347 348 350 350 351 353 355 355 356 359 360 363 364 366 368

12

Inhalt

5.3 Konkarnation und Inkarnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Der ewige Sohn und der ewige Geist . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die Inkarnation des Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Das Doppelopfer von Sohn und Geist . . . . . . . . . . . 5.3.4 Das Handeln des Geistes nach Erskine . . . . . . . . . . 5.3.4.1 Das Handeln des Geistes mit den Glaubenden . 5.3.4.1.1 Die Art und Weise des Geisteshandelns mit den Glaubenden . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.1.2 Die Effekte des Handelns des Geistes mit den Glaubenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.2 Das Handeln des Geistes in den Glaubenden . 5.3.5 Die Inkarnation des Sohnes und die Konkarnation des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.6 Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Medien und Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Ein theologisch geschärfter Medienbegriff . . . . . . . . 5.4.1.1 Medien als Heilsmittel . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1.2 Die Medien des Wortes und des Sakraments . . 5.4.1.3 Der Leib als Medium . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1.4 Der Leib als Medium menschlicher Personalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1.5 Die Medien des kulturellen Vokabulars . . . . 5.4.1.6 Primäre und sekundäre Medien, alte und neue Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Grundsätzliche Probleme einer medialen Identitätskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.1 Leugnung der Beschränkung medialer Kommunikation auf Notwendigkeit . . . . . . 5.4.2.2 Diversifizierung der Inhalte des kulturellen Vokabulars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.3 Die Vertauschung von Medium und Zweck . . 5.4.2.4 Die Vertauschung des primären Mediums mit sekundären Medien . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.5 Die Parallelität unterschiedlicher Regelsysteme medialer Kommunikation . . . . . . . . . . . . 5.4.2.6 Die Privatisierung der Regelungsgewalt medialer Kommunikation durch Inflation sekundärer Medien . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Kriterien für eine theologische Betrachtung neuer Medien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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372 373 374 376 378 379 379 383 385 387 389 391 392 392 393 393 394 395 396 398 398 398 399 400 400 401 402

Inhalt

6. Gemeinschaft und Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kirchliche Einheit ohne Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Hinweise auf den Begriff des Konsenses als notwendiger Bedingung für die empirische Kirche und die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Zweifel an einem überzeugenden Verständnis des Konsenses als notwendiger Bedingung einer funktionierenden Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Einheitskonzepte in ökumenischen Debatten . . . . . . 6.1.3.1 Sichtbare Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.2 Versöhnte Verschiedenheit . . . . . . . . . . . 6.1.3.3 Sein als communio . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Die Kirche als Geschöpf des Logos und des Geistes . . . 6.1.5 Konsens und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6 In via und in patria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Umgang mit anderen Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Vorschnelle Unterscheidungen vermeiden! . . . . . . . . 6.2.2 Objektivitätsansprüche meiden! . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Radikale Klassifikationen von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus vermeiden! . . . . . . . 6.2.4 Sinnvolle Theoriebereiche (Soteriologie, Wahrheitsfrage, Toleranzfrage) klar unterscheiden! . . . 6.2.5 Inanspruchnahme von Konsens ist nicht immer edel, hilfreich und gut! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Christliche Religionskritik darf nicht vergessen werden!. 6.2.7 Historische Genese bedeutet nicht Geltung! . . . . . . . 6.2.8 Toleranz! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Toleranzfähigkeit von Christentum und Islam . . . . . . . . . . 6.3.1 Ist der christliche Glaube toleranzfähig? . . . . . . . . . 6.3.2 Ist der Islam toleranzfähig? . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.1 Mu’tazilitische Religionsphilosophie: Al Ma’mun (gest. 833) . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.2 Die Vorstellung Ibn Hanbals (gest. 855) . . . . 6.3.2.3 Die Vorstellung Al Taftazanis (gest. 1389) . . . 6.3.4 Haltungen des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Religionstheorien und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Modelle der Verhältnisbestimmung der Religionen untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1.1 Einige nicht-konsensualistische Modelle . . . . 6.4.1.2 Konsensualistische Modelle . . . . . . . . . . . 6.4.2 Wahrheitsanspruch und Toleranz der Religionen aus reformatorischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . 6.4.2.1 Glaube und seine Konstitution . . . . . . . . . 6.4.2.2 Das Dulden oder Zulassen Gottes . . . . . . .

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14

Inhalt

6.4.2.3

6.4.3

Christliche Sozialethik in conformitas tolerantiae dei . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2.4 Konsens und Duldung als Distinktion zwischen Eschatischem und Präeschatischem 6.4.2.5 Der kategorische Imperativ des Duldens und ihn stützende Handlungen . . . . . . . . . . Toleranzfördernde, pluralistische Modelle der Verhältnisbestimmungen der Religionen . . . . . . . .

. 453 . 454 . 455 . 456

7. Vollendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Eschatische Erwartungshorizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Erzählungsverschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Eschatische Erwartungshorizonte . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Die Konstitution christlich eschatischer Erwartungshorizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Christlich-eschatische Erwartungshorizonte und nicht christlich-eschatische Erwartungshorizonte in der Logik der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5 Christlich-eschatische, hoffnungsvolle Erwartungshorizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.6 Von der Notwendigkeit christlich-eschatischer, hoffnungsvoller Erwartungshorizonte . . . . . . . . . . 7.2 Die Auferstehung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Auferstehung und eschatische Hoffnung . . . . . . . . . 7.2.2 Das Relativ-retrospektiv-Überraschende . . . . . . . . . 7.2.3 Auferstehung als indirekte Hoffnung . . . . . . . . . . . 7.2.4 Ewigkeitsmodelle und anthropologische Modelle . . . . 7.2.5 Gottes dreieinige Liebe als Individuationsrelation . . . . 7.2.6 Auferstehung als christologischer Selbstzweck . . . . . . 7.2.7 Auferstehung, Kontinuität und Leiblichkeit . . . . . . . 7.2.7.1 Die Individuationsfrage . . . . . . . . . . . . . 7.2.7.2 Die Frage nach der Personalität . . . . . . . . . 7.2.7.3 Die Frage nach personaler Identität . . . . . . 7.2.7.4 Die Frage nach der Leiblichkeit des Menschen . 7.2.8 Natürlicher Tod und Tod als Sündenfolge . . . . . . . . 7.2.9 Tod als Konfirmation des Rechtfertigungsvertrauens . . 7.2.10 Der geistliche Leib im unmittelbaren Lieben Gottes . . . 7.2.11 Konsequenzen für die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . 7.3 Vollendung in Gottesgegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Die Tradition der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1.1 Die Tradition der Zukunft der Welt . . . . . . . 7.3.1.1.1 Restauration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1.1.2 Annihilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1.1.3 Die Idee der Zeichen des Endes . . . . . . . . .

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Inhalt

7.3.2

7.3.3

7.3.1.1.4 Die Zurückweisung christlicher Rede von der Zukunft der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1.2 Vorstellungen der Zukunft der Geschichtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . Ontologische Voraussetzungen und Interessen . . . . . . 7.3.2.1 Die Dimension der Zukunft im Begriff menschlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . 7.3.2.2 Eschatische Erwartungshorizonte . . . . . . . 7.3.2.3 Offenbarung und ihre Struktur . . . . . . . . . Die letztgültige Zukunft der Welt . . . . . . . . . . . . . 7.3.3.1 Die eschatische Vollendung der Welt in Gott . 7.3.3.2 Die syntaktische Bestimmung als Regulativ für semantische Bestimmungen . . . . . . . . . . . 7.3.3.3 Noch einmal: Erneuerung oder Zerstörung? . .

15 493 494 495 495 497 498 501 501 506 508

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536

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Vorwort Dieses Konzept systematischer Theologie trägt den Titel „Liebesgeschichte Gott“. Damit stellt es sich keineswegs in die große und in sich divergierende Tradition narrativer Theologie im Unterschied zu nicht-narrativen Theologien, sondern es versucht aufzuzeigen, dass die narrative Dimension eine unhintergehbare Dimension jeglicher Wirklichkeitserfassung ist, die gerade der Wirklichkeitserkenntnis sowohl theologischer Rationalität als auch der Alltagserfahrung verpflichtet ist. Kein fideistisch-geschlossenes System, sondern allgemeiner Anspruch in unhintergehbarer partikularer Perspektivität ist damit intendiert.1 Von daher erklärt sich auch das besondere Berücksichtigen des Dialogs mit anderen Wissenschaften, insbesondere mit den Naturwissenschaften. Narrativität versteht sich hier auch nicht als Gegensatz zu Historizität, sondern beides ist aufeinander angewiesen, allerdings so, dass erstere den Verstehensrahmen für letztere bildet, keineswegs umgekehrt. Vorgelegt werden hier systematische Überlegungen auf Basis relationalen Denkens, das vielleicht in die „dritte Welle der trinitarischen Renaissance“2 eingeordnet werden mag, wären solche Typisierungen, zumal der eigenen Zeitgeschichte, nicht äußerst schwierig zu diagnostizieren und daher auch irreführend. Gemeint ist damit nicht einfach, dass nur auf Basis relationalen Denkens ein zufriedenstellendes Nachdenken des christlichen Glaubens und eine Explikation der Wirklichkeit Gottes erfolgen könnte, sondern dass es darauf ankommt, welche bestimmte Gestalt diese Relationalität besitzt. Diese Relationalität wird auf alle Fälle nicht nur die gleichursprünglichen Begriffe von Relation und Relat und damit den Gedanken intern konstitutiver Relationen verwenden müssen, sondern es ist auch darauf hinzuweisen, dass einerseits die Distinktion von Relation und Relat nur eine relative sein kann, dass aber andererseits diese Relationalität aufgrund ihres Gegenstand auf alle Fälle prozessual und kommunikativ zu verstehen ist, was sich m. E. am besten mit Hilfe des Begriffs der grundlegenden narrativen Struktur ausdrücken lässt, die nicht als Gegensatz, sondern als Basis von begrifflicher Rede verstanden werden muss. Ferner ist im Sinne der engeren Theologie diese kommunikative Relationalität immer schon inhaltlich bestimmt. Daraus er1 Von daher erweisen sich kritische Zugänge, die Narrativität und Realismus gegeneinander ausspielen wollen, wie es beispielsweise bei Murphy, F., God is not a Story, geschieht, als irreführend. 2 Eine Unterscheidung dreier Wellen der trinitarischen Renaissance seit Beginn des 20. Jh. hat jüngst Coakley, S., „Relational Ontology“, Trinity and Science, geboten. Wenn man auch wahrscheinlich der extensionalen Klassifikation dreier Wellen zustimmen kann, so doch kaum den dort gebotenen identifizierten inhaltlichen Merkmalen dieser drei Wellen.

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Vorwort

gibt sich, dass Gott, um es ein wenig plakativ zu sagen, eine Alterität inkludierende, selbsterzählende Narration ist, die als Liebe zu bestimmen ist. Dies ist die „Liebesgeschichte Gott“. Dabei handelt es sich mitnichten um eine Analogie; wohl aber um eine Modellierung im Konzept, an deren Ende erst die Bedeutung von „Narration“ und „Liebesgeschichte“ verstehbar sein mag: unter Gottes Selbstvergegenwärtigung. Der vorliegende Band entfaltet grundlegende Themen im Zusammenhang des größeren Ganzen der Systematischen Theologie. Er hat nicht den Anspruch, eine „Systematische Theologie“ im üblichen Sinne systematischer Geschlossenheit vorzulegen, indem von basaleren Bestimmungen auf weniger basale geschlossen werden würde, sondern er bietet Überlegungen im Konzept im Sinne eines programmatischen Verfolgens von Einzelthemen vor dem Hintergrund eines Ganzen. Denn Einzelthemen der Systematischen Theologie können nicht isoliert betrachtet werden, sondern stehen in unreduzierbarer Interdependenz. Es handelt sich daher um Überlegungen auf dem Wege, die für diesen Band entweder neu entstanden sind, oder dort, wo auf Überlegungen der letzten Jahre zurückgegriffen wurde,3 in einen neuen Kontext gesetzt wurden, der zu umfangreicheren Umarbeiten dieser Gedanken selbst geführt hat, mitunter auch zu neuen und geradezu konträren Schlussfolgerungen. Als Orientierung für den Gesamtzusammenhang dient der Aufriss einer klassischen Systematischen Theologie. Aufgrund der holistischen Geschlossenheit wurde auf ein prinzipientheoretisches Kapitel verzichtet und die entsprechenden Themen in Kapitel 1 unter dem Titel der „Zugänge“ behandelt. Diese Themen haben keine basale Bedeutung, sondern setzen das Ganze voraus, werden aber als Zugänge aus pragmatischen Gründen an den Anfang gesetzt. Erkenntnistheoretisch-formale Fragen haben gegenüber materialen Fragen keinen logischen Vorrang, sondern beides bedingt sich gegenseitig. Verhandelt werden in diesem ersten Kapitel die Fragen nach theologischer und allgemeiner Rationalität, die Frage nach der Rolle von Narrativität, die Frage nach dem Wahrheitsbegriff und schließlich nach dem Schriftbezug. Kapitel 2 enthält wesentliche Gedanken zur Gotteslehre, u. a. zu deren relationaler Grundlegung und damit zur erschlossenen Dreiheit Gottes, die vorgängig vor Gottes Einheit zu behandeln ist. Mit den Fragen, ob und in3 Zu nennen sind hier Mìhling, M., Mut zur Weite der Vernunft; Theologie und Literatur im Zusammenspiel; Metapher, Schlüssel des Verstehens?; Schleiermachers Gottesbeweis; Und der Herr erschien ihm; Abschied von der Perichorese?; Bewußtsein und Glaube des trinitarischen Gottes; „… und er würfelt doch!“; Modelle theologischer und naturwissenschaftlicher Rationaltität; Dialog zwischen Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft; Einsteins Religion; Gegenständlichkeit Gottes und Quantentheorie; Zeitfaktoren; Ewigkeitsauffassungen; Geschwisterliebe, Nächstenliebe; Was ist Gewalt?; The Work of the Holy Spirit; Medien als kulturelles Vokabular ; Narnia, dt.; „Vor Gott und Menschen angenehm …“; Vorsicht bei der Suche nach Theologien der Religionen; Eschatical Perfection.

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Vorwort

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wiefern auch Vertrauen, Kontingenz und Überraschung zu Gottes Wesen gehören, endet dieses Kapitel. Die Schöpfungslehre in Kapitel 3 befasst sich zunächst mit dem Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und Theologie, mit dem Gabecharakter, der Welt, in der wir leben, um dann am Beispiel Einsteins die Bedeutung religiösweltanschaulicher Gewissheiten an einem historischen Beispiel darzustellen und material aufzuzeigen, inwiefern umgekehrt Ergebnisse der Naturwissenschaft zur theologischen Begriffsbildung verwandt werden können. Da die Schöpfungslehre die Welt nur sub ratione dei verstehen kann, werden mit den Teilabschnitten zum Verhältnis des Junktims zwischen Zeit und Ewigkeit weitere elementare Konzeptteile bestimmt. Kapitel 4 fragt nach anthropologischen Sachverhalten, indem zunächst in Auseinandersetzung mit der Frage nach der Willensfreiheit der Mensch als imago der göttlichen Personalität bestimmt wird, um dann zu zeigen, dass der Mensch ebenso imago dilectionis, Bild der göttlichen Liebe ist. Veranschaulicht wird anhand der Fragen nach diakonischem Handeln und dem Gewaltbegriff, inwiefern sich diese Liebe in der faktischen Lebenswelt äußert und wo sie Grenzen hat. Kapitel 5 behandelt von der Soteriologie als dem Zentrum des christlichen Glaubens ausgehend christologische und pneumatologische Sachverhalte. Der Besprechung der Grundfrage, inwiefern das Geschick Christi um Leben, Kreuz und Auferstehung als Heilsereignis verstanden werden kann und muss, schließen sich Fragen nach der Personhaftigkeit des Heiligen Geistes als Ausdruck der Unterscheidung von opus dei und opus hominum an, sowie die Unterscheidung zwischen der Inkarnation des Sohnes und der ihr zugeordneten „Konkarnation“ des Heiligen Geistes. Die Frage nach den Heilsmitteln als theologischer Kontext für medienethische Bestimmungen bildet hier den Abschluss. Kapitel 6 enthält Gedanken zur Ekklesiologie, d. h. zum notwendigen Leben des Glaubens in Gemeinschaft, der intern in ökumenischer Mannigfaltigkeit und extern in einer pluralistischen Welt gelebt wird. Die Rolle des Konsenses in der Kirche sowie zwischen der Kirche und anderen Religionsgemeinschaften wird hier genauso besprochen wie die Frage nach der Toleranzfähigkeit von Religionen angesichts der pluralistischen Situation. Neben Grundfragen nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Zusammenlebens der Religionen werden hier am Beispiel der Toleranzfähigkeit von Christentum und Islam auch exemplarische Beispiele für die vertretenen Thesen geboten. Das abschließende Kapitel 7 ist der Eschatologie gewidmet. Mit den behandelten Fragen nach alltäglichen und eschatischen Erwartungshorizonten, nach der Auferstehung des Menschen und nach der Vollendung der Welt in Gottesgegenwart behandelt es keine letzten Grenzthemen systematischtheologischen Nachdenkens, sondern Grundelemente des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, so dass sich hier der Kreis zu den Zugängen aus den ersten beiden Kapiteln schließt.

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Vorwort

Dank zu sagen ist hier all jenen, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht hätte erscheinen können: Jessica Fleischer, Simon Köhler und Katharina-Maria Wanckel für Korrekturarbeiten, letzterer auch für die mühevolle Arbeit der Registererstellung; den Reihenherausgebern für die Aufnahme in die Reihe, Jörg Persch und Christoph Spill für die Unterstützung von Seiten des Verlags; David Gilland, Wolfgang Drechsel, Christoph Schwöbel, Verena Schlarb sowie vielen Kolleginnen und Kollegen für anregende Diskussionen; der DFG für einen namhaften Druckkostenzuschuss. Dank gebührt auch meiner Frau Anke Mühling für die gehaltvolle und liebevolle Begleitung bei der Geschichte der Verfassung und Erstellung. Princeton, im Januar 2013

Markus Mühling

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1. Zugänge 1.1 Vertrauende Vernunft Theologie ist eine Tätigkeit des Menschen, die in unterschiedliche Praxisbezüge eingebunden ist. Zu allererst mag man hier an die Wissenschaftspraxis der Universität denken, sodann sofort an die Praxis der Getauften der Kirche. Theologie ist als Wissenschaft vernunftorientiert. Und Theologie ist als kirchliche Praxis glaubensorientiert. Die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube ist daher selbst eine wichtige theologische Aufgabe, weil auf diese Weise die Theologie Auskunft über ihren eigenen Vernunftgebrauch gibt. Diese Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft und die Frage nach ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit ist dabei keine Frage, die ein für alle Mal lösbar wäre. Die zahlreichen innertheologischen Diskussionen über dieses Thema, wie beispielsweise die berühmte Diskussion zwischen Heinrich Scholz anfang des 20. Jh., der der Ansicht war, der theologische Vernunftgebrauch habe sich nach allgemeingültigen, mit neopositivistischem Theoriehintergrund zu explizierenden Anforderungen zu richten, und zwischen Karl Barth, der der Auffassung war, schon die spezifische Gestalt ihres Vernunftgebrauchs im Wissenschaftsbegriff habe sich zuallererst nach ihrem Gegenstand – Gott – zu richten,1 veranschaulichen diese Notwendigkeit der fortwährenden Explikation des eigentheologischen Anspruchs auf Rationalität. Eben eine solche Explikation soll daher am Anfang dieses Buches stehen. Diese Explikation hat dabei schlicht den Anspruch, der Auskunftspflicht von Theologinnen und Theologen wie auch allen anderen Wissenschaftlern über ihre Rationalität nachzukommen. Dabei lautet die Grundthese: Vernunft ist immer an außervernünftigen Sachverhalten orientierungsbedürftige Vernunft und als solche vertrauende Vernunft, die unter der Alternative von Aufklärung und Obskurantismus steht. Diese Grundthese soll nun ihrerseits in zehn erläuternden Thesen expliziert werden: 1. Gegenwärtig gibt es keinen einheitlichen wissenschaftlichen Vernunftbegriff, sondern verschiedene Vernunftbegriffe – mehr oder weniger optimistisch – konkurrieren miteinander. Als Beispiel eines optimistischen Vernunftbegriffs kann Lessings Beschreibung der Allgemeingültigkeit der Vernunft aus seiner „Erziehung des Menschengeschlechts“ dienen, in der dem Vernunftbegriff 1 Vgl. Barth, K., Apagogische Thesen über den Begriff der Theologie als Wissenschaft.

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Zugänge

höchste Allgemeingültigkeit zugesprochen wird, dergestalt, dass die Vernunft auch menschliches Handeln und menschliche Ethik zu steuern vermag und die Menschheit insgesamt als perfektibel betrachtet werden kann. Als gegenteiliges Beispiel eines skeptischen Vernunftbegriffs können verschiedene Auffassungen der Postmodernediskussion dienen, nach denen die Vernunft selbst wählbar wird. Seit dem Zeitalter der Aufklärung entwickelte sich die Geschichte der Vernunft zunehmend als eine Geschichte der Krise. Während im 18. Jh. die Vernunft Allgemeingültigkeit beanspruchen konnte, ist in der gegenwärtigen Nachmoderne der Allgemeingültigkeitsanspruch der Vernunft stark aufgeweicht. Dies lässt sich sowohl anhand eines strengen Vernunftbegriffs in der Geschichte der Logik exemplifizieren als auch hinsichtlich der Entwicklung wissenschaftlicher Rationalität. Hinsichtlich eines strengen Vernunftbegriffs erweisen sich Versuche, eine allgemeingültige Logik zu entdecken, als zunehmend gescheitert. Heyting konzipierte im Anschluss an Brouwer eine Logik, in der das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten keine Gültigkeit hat und daher die doppelte Verneinung, wichtiges Prinzip wissenschaftlicher Argumentation, nicht in Anschlag gebracht werden kann.2 Auch der Versuch, die Prädikatenlogik als Fundament der Mathematik zu benutzen, wie er von Russell vorgelegt wurde, erwies sich mit Kurt Gödels Unvollständigkeitsbeweis als gescheitert.3 Seitdem kann nicht mehr von der Logik gesprochen werden, sondern nur noch von verschiedenen Logiken im Plural, deren Gestalt von verschiedenen Prämissen, die wählbar erscheinen, abhängt. Hinsichtlich der Struktur wissenschaftlicher Rationalität lässt sich diagnostizieren: Anfang des 20. Jh. war mit dem Gedanken der Zweiteilung der Wissenschaften in Naturwissenschaften, die die Aufgabe des Erklärens besitzen, und in Geisteswissenschaften, die die Aufgabe des Verstehens besitzen,4 ein Konsens über das Arrangement der universitas erreicht, der verloren gegangen ist. Nachdem sich der strenge Verifikationismus des Neopositivismus gemessen an seinen eigenen Kriterien weltanschauungsfreier Wissenschaft als nicht genügend erwiesen hat,5 und ähnlich der Falsifikationismus des kritischen Rationalismus nicht vollständig dem Vollzug der Praxis der Forschung gerecht wird, weil – wie Kuhn zeigen konnte – auch die naturwissenschaftliche Rationalität immer historische Strukturen besitzt und in ihrer Methode von kontingenten Faktoren abhängig ist,6 ist der Gedanke einer Universalität vernünftiger wissenschaftlicher Forschung weitgehend verloren gegangen, mit der Folge, dass im Zeitalter der Nachmoderne oft merkantile 2 3 4 5 6

Vgl. Menne, A., Einführung in die formale Logik, 67 – 70. Vgl. Gçdel, K., Unentscheidbare Sätze. Vgl. Pannenberg, W., Wissenschaftstheorie und Theologie, 136 – 156. Vgl. Wçlfel, E., Der Positivismus als Frage an die Theologie. Vgl. Kuhn, T.S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.

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Zweckrationalitäten an Bedeutung gewinnen. Nach N. Cartwright sind auch naturwissenschaftliche und mathematische Theorien nur Modelle und können sich nur metaphorischer Sprache bedienen.7 Vernunft erscheint hier als nicht mehr allgemeingültig, sondern verschiedene Vernunftbegriffe erscheinen als wählbar. 2. Beide polare Auffassungen der Vernunft – der optimistische Gedanke der Allgemeingültigkeit von Vernunft, wie auch der Gedanke einer von inhaltlichen Prämissen wählbar abhängigen Vernunft – können als säkulare Varianten eines theologischen Vernunftgebrauchs gedeutet werden. Unmittelbar evident ist dies im Falle des optimistischen Vernunftgebrauchs: Lessing lässt die Allgemeingültigkeit der Vernunft in einem geschichtlich erreichbaren dritten Zeitalter des Geistes kulminieren, das dem traditionellen Gedanken eines dritten Zeitalters des Heiligen Geistes bei Joachim von Fiore8 entstammt: „Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese höchste Stufe der Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? Nie? Nie? – Laß mich diese Lästerung nicht denken, Allgütiger! – Die Erziehung hat ihr Ziel; bey dem Geschlechte nicht weniger als bey dem Einzeln. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen […] Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nöthig haben wird; da er das Gute thun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkührliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem blos heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen.“9

Der skeptische Vernunftbegriff der Wählbarkeit von Prämissen zur Instandsetzung der Vernunft hingegen steht in der Tradition des spätmittelalterlichen Voluntarismus, der Gottes Willen als dessen höchstes Prädikat betrachtet, mit dessen Hilfe Gott setzen kann, was vernünftig und gut ist: Das Gute ist gut, weil Gott es so will, das Vernünftige vernünftig, weil Gott es so will. Der postmoderne Vernunftbegriff substituiert hier lediglich das Subjekt, das nicht mehr in der Freiheit Gottes, sondern in der des Menschen besteht. 3. Beide extreme Deutungen der Vernunft sind problematisch. Der optimistische Vernunftbegriff höchster Allgemeingültigkeit führt zum Totalitarismus, der voluntaristische Vernunftbegriff zum Relativismus. Unmittelbar einsichtig ist, dass der voluntaristische Vernunftbegriff zum Relativismus führt, weil nun der Gebrauch der Vernunft selbst abhängig von der Wahl des Subjekts, von kulturellen Traditionen oder merkantilen Zwängen 7 Vgl. Cartwright, N., How the Laws of Physics Lie, 129.158. 8 Vgl. Fiore, J.v., Concordia Novi ac Veteris Testamenti, 314 f. 9 Lessing, G.E./Kiermeier-Debre, J., Erziehung des Menschengeschlechts, §81 f.85.

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wird, die allesamt nicht mehr vor dem Forum der Vernunft ausweisbar sind, sondern entweder subjektivistisch privatisiert erscheinen oder von der Norm der Faktizität abhängig sind. Aber auch der Gedanke der höchsten Allgemeinheit der Vernunft, die auch das ethisch perfektible Handeln des Menschen umspannt, ist problematisch, weil sich früher oder später die Frage stellt, wie mit Menschen und Meinungen umzugehen ist, die sich uneinsichtig oder nicht überzeugbar zeigen. Eine Reihe der Totalitarismen der Neuzeit kann daher auf den Gedanken zurückgeführt werden, dass das Vernünftige und Gute jederzeit allgemein einsehbar, und die abweichende Meinung daher im Modus einer zu überwindenden oder auszurottenden Krankheit darzustellen ist. 4. Um beide Extreme zu vermeiden, gilt es, nach Begründungen von Vernunft zu suchen, die den particula veri der beiden Extreme – Allgemeingültigkeit der Vernunft bei gleichzeitiger Abhängigkeit von die Vernunft motivierenden Faktoren – gerecht werden und so die Weite der Vernunft zum Tragen kommen lassen können. Das christliche Wirklichkeitsverständnis ist geeignet, eine solche Begründung des Vernunftbegriffs zu liefern, die beide particula veri aufnehmen kann, ohne an den genannten Defiziten zu leiden. Das Christentum geht davon aus, dass die vernünftige Wahrheit der ganzen Schöpfung und damit die Intelligibilität der Welt nicht nur durch Gott als Schöpfer geschaffen ist, sondern dass diese göttliche Vernunft auch der Schöpfung selbst inhärent ist. Dabei ist die Vernunft nicht einfach rationalistisch eruierbar, sondern im Gegenteil empirisch erfahrbar, weil mit der Behauptung, dass in dem Menschen Jesus von Nazareth dieser göttliche Schöpfungslogos erschienen ist (Joh 1), prinzipiell die Erfahrung als Königsweg der Erkenntnis propagiert wurde, während die platonische Tradition die Erfahrung der Welt zugunsten des Denkens als Königsweg eher ausschloss, wie es das berühmte Sonnen- oder Höhlengleichnis exemplarisch veranschaulicht.10 5. Darüber hinausgehend behauptet das Christentum aber auch, dass diese Vernunft erfahrbar, mit dem Glauben vereinbar und im Sein Gottes selbst grundgelegt ist. Christlicher Glaube verdankt sich der Kommunikation von Menschen, die einander vom Glauben erzählen. Diese Glaubenskommunikation ist aber nur hinreichende, keine notwendige Bedingung des Zum-Glauben-Kommens. Damit das, was menschlicherseits durch verschiedene Sozialisationswege vom Glauben weitergegeben werden kann (verbum externum), tatsächlich einem menschlichen Subjekt evident werden kann, bedarf es des gewissheitsschaffenden Handelns des Heiligen Geistes selbst (testimonium internum). Diese in 10 Vgl. Platon, Politeia, 7, 106a–b.

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reformatorischer Tradition stehende Theorie der Glaubenskonstitution hat verschiedene Implikationen: Zunächst hinsichtlich des Gottesverständnisses: Wenn sich der Gottesglaube menschlicher Kommunikation verdankt und gleichzeitig als Selbsterschließung Gottes verstanden werden muss, bedeutet dies, dass die vernünftige menschliche Kommunikation selbst nichts Gott Fremdes sein kann. Die in menschlicher Kommunikation vorausgesetzten Minimalbedingungen der Vernunft – das Gesetz des auszuschließenden Widerspruchs und der Identitätssatz – gehören damit zum Sein Gottes selbst, wie er auch etsi mundus non daretur in seinem ewigen trinitarischen Sein der Gemeinschaft zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist ist. Diese Einsicht in die Verlässlichkeit der Kommunikation und Vernunft wurde besonders von Luther betont, wenn er hinsichtlich des göttlichen Seins sagt: „Gleich wie der Vater ein ewiger Sprecher ist, der Sohn in Ewigkeit gesprochen wird, ist also der Heilige Geist in Ewigkeit der Zuhörer“.11

Damit aber gehören Kommunikation, Logik und letztlich Liebe in Gemeinschaft zum Wesen Gottes wie auch zum Wesen der Schöpfung der Welt, die sich somit als verstehbar erweist durch die beiden Mittel der Rationalität und der Erfahrung. Damit ist die Auffassung, dass Wissenschaftlichkeit durch ein Zusammenspiel von Rationalismus und Empirismus geprägt ist, christlicherseits nicht nur nachvollziehbar, sondern selbst im Gottesgedanken begründet. Man wird daher nicht nur sagen müssen, dass sich dies einer Synthese von Christentum und Hellenismus verdankt, sondern dass erst das Christentum mit dem Gedanken der Inkarnation des Logos diesen empirischrationalistischen Ansatz ermöglicht hat. Man wird auch darauf hinweisen müssen, dass die These der Liberalen Theologie von einer Hellenisierung des Christentums, die das ursprünglich einfache Wesen des Christentums verfälsche, wie sie bei Adolf von Harnack vorliegt, insofern falsch ist, als auch ausbalancierend von einer Christianisierung des Hellenismus gesprochen werden muss, wie dies etwa der lutherische Theologe Werner Elert formuliert hat.12 6. Die Begründung der Vernunft im christlichen Gottesgedanken selbst erlaubt es, das Changieren des Vernunftgebrauchs zwischen Optimismus und Skeptizismus zu erklären. Wenn die Vernunft dem trinitarischen Wesen Gottes selbst inhärent ist und sich Gott entschlossen hat, eine Welt in Entsprechung zu seinem Wesen zu schaffen, ist die Welt selbst prinzipiell vernünftig und verstehbar. Es gibt eine vernünftige Schöpfungsordnung, die auch den Menschen, der in die natürli11 Luther, M., WA 46, 60,4. 12 Vgl. Harnack, A.v., Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, 20; Elert, W., Ausgang der altkirchlichen Christologie, 313 ff.

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che Welt eingebettet ist, umfassen muss. Damit lässt sich auch erwarten, dass selbst das Gebiet menschlichen Handelns – die Ethik – letztlich von einer Schöpfungsordnung abhängig ist. Dennoch hält das Christentum entschieden daran fest, dass diese Schöpfungsordnung oder diese der Welt inhärente Vernunft Gottes für den Menschen nicht unfehlbar einsichtig ist. Im Gegensatz zu den Hauptströmungen des Islam, die jeden Menschen von Geburt an als Muslim verstehen und nur Sozialisationsfaktoren dafür verantwortlich machen, dass es de facto Menschen gibt, die keine Muslime sind, und im Gegensatz zum Menschenbild der Hauptströmungen der Aufklärung, nach denen der Mensch von Geburt an prinzipiell gut und perfektibel ist, betont das Christentum, dass der Mensch in seinem faktischen Zustand durch den Gedanken des Falles prinzipiell seiner eigenen Natur, der Welt und Gott entfremdet ist. Der Gedanke des peccatum originale ist umfassend so gedacht, dass die Sünde zwar nicht das Wesen des Menschen zerstören kann, aber doch den totus homo – den ganzen Menschen einschließlich dessen Vernunftgebrauchs – betrifft. Da der Mensch auch nach der Versöhnung nach reformatorischer Auffassung stets simul iustus et peccator bleibt, entspricht die tatsächlich operationable Vernunft des Menschen nicht der tatsächlich in der Welt vorhandenen Vernunft. Der Vernunftgebrauch des Menschen wird orientierungsbedürftig und abhängig von anderen Faktoren und bleibt von diesen anderen Faktoren abhängig, da die Sünde unter nicht eschatischen Bedingungen prinzipiell nicht vollends überwindbar ist. Historisch zeigt sich diese Unterscheidung zwischen der tatsächlich durch den Schöpfer angelegten Vernunft und der orientierungsbedürftigen Vernunft etwa in der differenzierten Stellung Luthers zum Vernunftbegriff. Die Tatsache, dass Luther die Vernunft eine Hure nennt, bedeutet nicht, dass Luther die Vernunft nicht mag.13 Angedeutet ist damit vielmehr, dass die Vernunft von verschiedenen Prämissen abhängig ist. Luther selbst sah in der aristotelisch geprägten Logik seiner Zeit einen Vernunftgebrauch, der sich an anderen, eben nicht theologischen aber auch nicht allgemeingültigen, willkürlichen Prämissen orientiert. Er trat nicht für eine Enthellenisierung des Christentums in dem Sinne ein, dass das Christentum seine ihm inhärente Vernünftigkeit aufzugeben habe, sondern plädierte dafür, dass die alten aristotelischen Lehrbücher der Logik beispielsweise durchaus beibehalten werden könnten oder durch neuere, bessere zu ersetzen seien.14 7. Indem das Christentum zwischen der allgemeingültigen Vernunft von Gott und Schöpfung einerseits und gefallener Vernunft andererseits unterscheidet, hält es gleichzeitig an der Allgemeinheit der Vernunft und an der Orientie-

13 Vgl. Luther, M., WA 51, 126,7. 14 Vgl. Luther, M., WA 6, 458,26 – 40.

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rungsbedürftigkeit der Vernunft fest, ohne in Totalitarismus oder Relativismus zu verfallen. Die Vernunft ist selbst als Gabe des Schöpfers allgemeingültig, aber aufgrund des Falles orientierungsbedürftig an inhaltlichen Prämissen. Aus der Binnenperspektive des Christentums geschieht eine Instandsetzung der gefallenen Vernunft in der Versöhnung und deren Aneignung durch den Heiligen Geist in den Herzen der Menschen. Damit wird der Vernunft Orientierung geschenkt, derer sie bedarf und auf die sie unter nicht eschatischen Bedingungen stets angewiesen bleibt. Die Vernunft kann sich nicht selbst orientieren, sondern ihre Orientierung bleibt ihr selbst und dem Menschen unverfügbar. Dieser Unverfügbarkeitsgedanke schützt einerseits vor inhumanen Totalitarismen, weil die Instandsetzung der Vernunft nicht menschliches Werk sein kann. Andererseits schützt der christliche Vernunftgedanke aber auch vor Relativismus, weil es nicht der Beliebigkeit unterliegt, durch welche Prämissen die Vernunft orientiert wird. Die Prämissen, die hier in Frage kommen, stehen selbst unter der Alternative, der Realität angemessen oder nicht angemessen zu sein. Diese Alternative ist aber selbst nicht durch die Vernunft zu entscheiden. 8. Wenn die christliche Auffassung des doppelten Vernunftbegriffs, der intelligentia Gottes und der Schöpfung einerseits und der gefallenen menschlichen ratio andererseits, richtig ist,15 gibt es keine weltanschaulich neutrale Vernunft und keine weltanschaulich neutrale Wissenschaft. Diese These mag hinsichtlich der historischen Wissenschaften auf schnelle Akzeptanz stoßen, gilt aber auch für die Mathematik als Krone der Geisteswissenschaften und lässt sich exemplarisch an dem Streit eines realistischen oder konstruktivistischen Mathematikverständnisses verdeutlichen oder an der Frage nach einem nominalistischen oder realistischen Verständnis der Zahlen.16 Ist es aber richtig, dass auch die empirischen Wissenschaften ihre Wissenschaftlichkeit nicht ohne mathematische Mittel als zumindest notwendige Bedingungen entfalten können, gilt diese weltanschauliche Gebundenheit letztlich universal. 9. Da die Theologie sich ihrer eigenen weltanschaulichen Gebundenheit immer bewusst ist und diese in ihrer Forschung immer explizit mitthematisieren muss, leistet die Theologie in ihren konfessionellen Ausprägungen eine wichtige stellvertretende Aufgabe im Konzert der Wissenschaften innerhalb deren universitas. Die wissenschaftliche Theologie gerade in ihrer konfessionellen Ausprägung hat die Aufgabe, die weltanschauliche Gebundenheit aller Vernunft exemplarisch an ihrem eigenen Beispiel aufzuweisen und leistet damit einen 15 Zu dieser Unterscheidung vgl. schon Boethius, A.M.S., Trost V, 5.p, 258. 16 Vgl. Stegmìller, W., Universalienproblem.

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Beitrag zu einem kritischen, weil tatsächlich vernünftigen Vernunftgebrauch. Indem die Theologie aber gleichzeitig nicht nur eine universitäre Aufgabe, sondern an die Kirchen als soziale Kulturgestalt des gelebten christlichen Glaubens gebunden ist, kann sie zu einem Dialog der Kulturen auf Basis der Vernunft über die Vernunft einladen in dem Wissen, dass eine Entscheidung über die Realitätsgerechtheit der Vernunft dem Dialog selbst entzogen bleiben muss. Diese Entzogenheit der Entscheidung über die Realitätsgerechtheit der Vernunft, die in christlicher Binnenperspektive an das Handeln des Heiligen Geistes gebunden ist, ist eine notwendige Bedingung von Toleranz17 in diesem Dialog der Kulturen. Im Dialog der Kulturen wie im Dialog der Wissenschaften kann die Theologie damit ihre Dialogpartner motivieren, eigene Argumentationsformen zu finden, die es ebenfalls ermöglichen, eine Distinktion zwischen tatsächlich der Welt inhärenter Vernunft und dem Menschen verfügbarer Vernunft zu entdecken, und damit kann sie zur Toleranzfähigkeit der Dialogpartner beitragen. 10. Eine solche Weite der dialogfähigen Vernunft, die sich ihrer eigenen Grenzen bewusst ist, erfordert Mut und Vertrauen. Dieser Mut und dieses Vertrauen zur Vernunft ist aus christlicher Sicht als Geschenk des Schöpfers, Versöhners und Vollenders zu verstehen. Die richtig vertrauende Vernunft ist wahrhaft aufgeklärte Vernunft; die falsch aufgeklärte Vernunft Obskurantismus. Die Weite der Vernunft im Dialog erfordert Mut, weil der Dialog über die Vernunft auf Basis der Vernunft nur dann ein echter Dialog ist, wenn sein Ergebnis selbst nicht vorgängig feststeht. Mut zur Weite der Vernunft ist damit selbst schon eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung zur Orientierung der Vernunft. Mut ist aber immer auch ein personaler, Affektivität beinhaltender Sachverhalt, der klassisch in der Tugendlehre verhandelt wird. Auch dieser Mut zur Weite der Vernunft ist von den Dialogpartnern nicht selbst herstellbar. Wenn er sich aber einstellt, wird der christliche Dialogpartner darin das die Affektivität der Menschen wandelnde Handeln des Geistes erkennen – auch dann, wenn sich dieser Mut bei nicht christlichen Dialogpartnern einstellt. Wo aber, aus der christlichen Binnenperspektive gesprochen, das Handeln des Geistes erfahrbar ist, stellt sich stets auch eine notwendige Bedingung für die Realitätsgerechtheit des Vernunftgebrauchs ein. Der Mut des Vernunftgebrauchs bezieht sich dabei darauf, die Vernunft tatsächlich durch das orientieren zu lassen, was außerhalb ihrer selbst liegt und sie bestimmt: die Ausprägung der menschlichen Affektivität. Wie Luther im Großen Katechismus davon ausgehen kann, dass beide, Glaube und Gott, „zuhaufe“ gehören und unter der Distinktion von Glaube und Aberglaube 17 Zum Toleranzbegriff aus evangelischer Sicht vgl. Schwçbel, C., Toleranz aus Glauben, und H•rle, W., Wahrheitsgewißheit als Bedingung von Toleranz.

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Biblische und außerbiblische Geschichten und Geschichte

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einerseits sowie Gott und Abgott andererseits stehen,18 so steht auch die menschliche geschöpfliche Vernunft unter der Distinktion, von höchst unterschiedlichen, Affektivität beinhaltenden Selbsterschlossenheitslagen des Menschen abzuhängen, die zur wahren Verfassung des Menschen als endliche Person passen können oder nicht passen können. Die orientierungsbedürftige Vernunft ist also in ihrem Gebrauch de facto immer schon orientiert und gesteuert – auch beispielsweise im Falle ihres skeptischen Gebrauchs. Indem sie immer schon gesteuert und orientiert ist, ist die Vernunft prinzipiell immer vertrauende Vernunft: Sie hängt an zwar nicht widervernüftigen, aber auf alle Fälle auch außervernünftigen, Affektivitätsaspekte beinhaltenden Sachverhalten, die wiederum von der Erschlossenheitslage des Menschen gesteuert werden. Als solche vertrauende Vernunft ist sie auch in ihrer formalen Gestaltung von den Inhalten, worauf sie vertraut, abhängig. Aus christlicher Perspektive bedeutet dies: Diejenige vertrauende Vernunft, die innerhalb des denkbaren Relationsgefüges richtig ausgerichtet ist, ist wahrhaft vertrauende, d. h. auch aufgeklärte Vernunft. Diejenige, die falsch ausgerichtet ist, ist obskurantistische Vernunft. So wie aber auch der zurechtgebrachte Mensch immer zugleich iustus et peccator ist, so auch die Vernunft: Auch sie bleibt simul iusta et peccatrix. Auch sie bleibt zugleich aufgeklärt und obskurantistisch. Die Selbstaufklärung der Vernunft einschließlich bleibenden Zweifels, ob sie jeweils von der tatsächlichen Verfassung von Gott, Mensch und Welt orientiert ist, gehört also zur Gewissheit der vertrauenden Vernunft selbst. Eben angesichts dieser an ihr selbst immer auch zweifelnden Gewissheit hinsichtlich ihrer Orientiertheit verlangt ihr Gebrauch Mut und besitzt damit immer schon eine ethische Komponente, die sich auf den Charakter der sie gebrauchenden Person bezieht. Ihr Gebrauch ist daher abenteuerlich, d. h. ergebnisoffen und zugleich vielversprechend.

1.2 Biblische und außerbiblische Geschichten und Geschichte Ist die vertrauende Vernunft ein wichtiges Instrument theologischen Arbeitens, so stellt sich die Frage, worauf diese Vernunft gerichtet ist, was ihr Material darstellt und wie dieses im Verhältnis zum Gegenstand der Theologie zu bestimmen ist. Eine einfache Antwort lautet: Geschichten, stories, könnten, wenn nicht als eigentlicher Gegenstand, so doch als das Rohmaterial der Theologie bezeichnet werden.19 Diese Antwort ist zunächst einleuchtend, wenn man an die biblischen Schriften denkt: Erzählungen und Geschichten erscheinen hier 18 Vgl. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, BSLK, 560. 19 Vgl. Ritschl, D./Jones, H.O., „Story“ als Rohmaterial der Theologie, 36 – 41.

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durchaus, und wenn andere Textgattungen, wie Gesetzeskorpora, erscheinen, sind sie in Erzählzusammenhänge verwoben. Und auch die Briefliteratur des Neuen Testaments ist nur erhellbar, wenn sie in einem Erzählzusammenhang wahrgenommen wird. Dieser Erzählzusammenhang ist freilich ein impliziter : Es geht um die Geschichte, in der diese Briefe eine kommunikative Funktion besaßen. Diese Geschichte ist nun weit mehr als nur Rohmaterial, denn sie ist selbst Resultat theologisch rekonstruktiver Arbeit. Eine erste Präzisierung wird daher lauten müssen: „Geschichte“ wird theologisch immer im Doppelsinn von story und history gebraucht werden müssen: Geschichten in Geschichte können als das Rohmaterial der Theologie bezeichnet werden. Ergibt sich dies schon aus der Betrachtung des biblischen Materials heraus, so wird man sofort zu einer weiteren Präzision fortschreiten müssen: Die biblischen Schriften sind nicht primär als Texte und Dokumente von Bedeutung, sondern als Heilige Schrift, die aktualisiert wird zur viva vox evangelii und damit nicht nur Norm und Richtschnur theologischer Arbeit wird, sondern vor allem die Kommunikation der Kirche bestimmt. Diese Kommunikation der Kirche hat aber insgesamt den Charakter des wie auch immer gebrochenen medium salutis: Sie beansprucht, Menschen mit ihrem eigentlichen Ursprung, Geschick und Heil in Verbindung zu bringen und so zu ihrer Identitätsbildung beizutragen. Diese Identitätsbildung mittels der Kommunikation der Kirche durch die Auslegung und Aktualisierung biblischen Materials geschieht aber immer in, mit und unter der Identitätsbildung durch andere Geschichten: Durch die Geschichten und stories, die durch zahlreiche Kulturgüter wie Literatur, Film, Musik und bildende Kunst an den Menschen herangetragen werden, wie auch durch die Geschichten und stories der Geschichte und history der Lebenswelt von Menschen: Durch den familiären Zusammenhang, die eigene Lebensgeschichte, die kulturelle, politische und auch technische Tradition der Gemeinschaften und Gesellschaften, in denen Menschen leben. Geschichten können nur dann als Rohmaterial der Theologie bezeichnet werden, so lautet daher die These, wenn sie nicht beschränkt sind auf die Geschichten der Heiligen Schrift, sondern wenn auch diese Geschichten und Geschichte im weiteren Sinne – unter Einschluss dieser anderen nicht-biblischen Kulturgüter – zu diesem Rohmaterial der Theologie gezählt werden. Eine dritte Präzision der Rede von Geschichten als Rohmaterial der Theologie ist noch zu ergänzen: Die Geschichten und Geschichte der Heiligen Schrift wie auch die Geschichten und Geschichte der weiteren Kulturgüter spielt ja nur überhaupt deswegen eine entscheidende Rolle, weil sie konstitutiv zur Bildung von menschlichen Personen gehören. Und auch menschliche Personen haben eine Geschichte – wenn sie nicht gar Geschichte sein mögen –, die sich nur mithilfe von narrativen Geschichten bestimmen lässt. Man hat daher vorgeschlagen, auch Menschen als living human documents20 zu be20 Zu diesem auf A.T. Boisen zurückgehenden Begriff vgl. Nouwen, H., Anton T. Boisen and

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Biblische und außerbiblische Geschichten und Geschichte

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zeichnen. Der unübersehbare Vorteil dieser Redeweise besteht darin, dass die Arbeit des theologischen Exegeten mit der theologischen Praxis – etwa in der Seelsorge – in ein engeres Verhältnis gesetzt werden kann. Der Nachteil dieser Redeweise besteht darin, dass hier letztlich wieder die Schriftlichkeit oder zumindest das Aufgezeichnetsein zum Paradigma erhoben wird und der dynamische und prozessuale Aspekt von story und history herabgesetzt zu werden droht. Die dritte Präzision lautet daher, dass Geschichten und Geschichte nur dann sinnvollerweise als „Rohmaterial“ der Theologie bezeichnet werden können, wenn menschliche Personen in Gemeinschaften selbst als story und history betrachtet werden. Die Rede von narrativen Geschichten als Rohmaterial theologischer Arbeit ist also dann sinnvoll, wenn erstens immer der Doppelsinn von story und history berücksichtigt wird, wenn zweitens diese Geschichten und Geschichte immer auch auf die Heilige Schrift im Zusammenhang anderer kultureller Geschichten und Geschichte bezogen werden, und wenn drittens Menschen in Gemeinschaften selbst als Geschichten in Geschichte betrachtet werden. Vor einem solchen Hintergrund stellt sich die dringende Aufgabe einer Theologie der Kultur, einer theologischen Arbeit, die sich auch den zahlreichen nicht-biblischen Kulturgütern in theologischer Betrachtung zuwendet, und zwar auch dort, wo diese Kulturgüter keinen expliziten oder impliziten genetischen Bezug zu den biblischen Schriften und ihrer Wirkungsgeschichte besitzen. Das Verhältnis von Theologie und Kultur hat eine fundamentaltheologische Basis, und zwar derart, dass die Beschäftigung mit Literatur in Geschichte und Gegenwart für die Theologie eine notwendige Aufgabe darstellt, und zwar auch dort, wo im kulturellen Gegenwartsgut gerade keine biblischen Motive explizit erscheinen. Diese fundamentaltheologische Basis von Theologie und Kultur ist aber begründungsbedürftig. Eine solche Begründung soll mithilfe von sechs Thesen erfolgen: 1. Die Welt ist ein semiotisch geschlossenes Universum. Nach Augustin gab es bekanntermaßen noch eine strikte Trennung zwischen res und signa, zwischen Sachen und Zeichen. Auch signa sind res, nämlich res significantes, die auf res significatae verweisen. Die Unterscheidung ist relativ, denn auch res significatae können in einer anderen Relation res significantes sein.21 Damit stellt sich die Frage: Gibt es auch res, die nicht wiederum signa sein können? Falls ja, entstünde das Problem, was eine solche res eigentlich sein soll. Denn beschrieben, erfasst und wahrgenommen werden kann jede res nur mittels der signa. Eine solche res gliche daher dem Kant’schen Ding an sich; sie ist nicht fassbar. Daher erscheint es sinnvoller, sich anderen Zeichentheorien zuzuwenden. Besonders sinnvoll erscheint mir eine Theology Through Living Human Documents und Drechsel, W., Das Lesen von „heiligen Texten“?. 21 Vgl. Augustinus, A., De doctrina christiana, ChChr.SL 32, 7 f.

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Mischform der semiotischen Theorien von Peirce und Morris, die jeweils deren Schwächen vermeidet. Ein Zeichen wäre demnach durch eine dreistellige Relation konstituiert: zu anderen Zeichen (Syntaktik), zu den Zeichenbenutzern (Pragmatik) und zu dem Bezeichneten (Semantik). Dieses Bezeichnete ist aber immer schon für sich selbst ein Zeichen und daher ein Interpretierendes (Interpretant), das daher selbst wiederum in einer solchen Zeichenrelation steht. Die Peirce’sche Theorie des Interpretanten verstehe ich hier also anders als Peirce selbst als eine Theorie der Semantik.22 Dieser semiotische Prozess ist offen, sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive. Der Gesamtzusammenhang bildet das semiotische Universum, oder kurz die Welt, in der wir leben. Als solches ist die Semiose eine Realität und daher sind Deutungen offen, aber nicht beliebig. Kein Konstruktivismus, sondern ein realistischer Rekonstruktivismus ist die geeignete Haltung, an die Welt, in der wir leben, heranzutreten. 2. Ein vorzüglicher Teilbereich der Semiose sind dramatische Narrationen. Erzählungen, gleichgültig ob fiktive oder historische, bilden einen Teilbereich des semiotischen Universums. Narrationen sind dabei analytisch dramatisch, d. h. sie gehorchen einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, die schon Aristoteles einfach und klar bestimmte: Aus keinem Ereignis innerhalb des Gesamtzusammenhangs der Erzählung ist das folgende Ereignis ablesbar und ist insofern spannungsvoll und überraschend, aber nach dem Ereigniseintritt doch als folgerichtig wahrnehmbar.23 Dieses Gesetz konstituiert eine gute Geschichte. Dieses Gesetz ist es, was uns beim Lesen hält, wenn wir uns einem Buch zuwenden. Diese dramatische Regel einer guten Geschichte bedeutet letztlich nichts anderes als die Entdeckung des Begriffs der Emergenz, wie er auf den fiktiven und nicht-fiktiven Bereich anzuwenden ist. 3. Personale Identität wird durch Narrationen im Wechselspiel von Identitätsansprüchen und -erwartungen gebildet. Personen sind nach Richard von St.Victor unmitteilbare Voneinander-undFüreinander-Seiende (incommunicabilis existentia).24 Personen sind keine Individuen. Eine Person ist keine Person. Sie kommen nur in Beziehung vor. Und in diesen Beziehungen ist ihre Eigentümlichkeit, ihre Besonderheit konstituiert, das, was sie wirklich sind. Im Bezogensein auf und in der Mitteilung zu und von anderen entsteht dabei das Besondere. Als lebend in einer ereignishaften prozedierenden Welt sind Personen in ihrer Identität daher immer unabgeschlossen. Die Identität der Person ist ihre Geschichte, wie fragmentarisch diese auch sein mag. Und da geschöpfliche Narrationen nie abgeschlossene sind, ist die Identität einer geschaffenen Person ein eschati22 Vgl. Morris, C.W., Zeichentheorie und zu Peirce Vetter, M., Zeichen. 23 Vgl. Aristoteles, Peri Poietikes1452a, 3. 24 Vgl. Richard von St.Victor, De Trinitate, Buch 4,22; 280 – 282.

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Biblische und außerbiblische Geschichten und Geschichte

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scher Sachverhalt. Im hic et nunc ist sie notwendigerweise unabgeschlossen und unterliegt dem Wechselspiel von Identitätsansprüchen und -erwartungen, dem Wechselspiel dessen, was wir mittels unseres kulturellen Vokabulars austauschen. Wir erzählen ständig, wer wir sind. Explizit, wenn wir gefragt werden, wer wir sind, und implizit durch unser Auftreten, unsere Mimik, Gestik, aber vor allem auch durch das kulturelle Vokabular, das wir nutzen: durch Kleidung, Fahrzeuge, Literatur, die wir lesen, Filme, die wir anschauen. Mit Hilfe dessen stellen wir Identitätsansprüche an unsere Mitmenschen, und an uns werden Identitätserwartungen gestellt, in die wir uns einpassen sollen.25 Es liegt auf der Hand, dass auf diese Weise viele Geschichten und Teilgeschichten entstehen, wer wir sind oder sein sollen. Und es liegt auf der Hand, dass sich nicht all diese Geschichten miteinander verbinden lassen, sondern in Spannung zueinander stehen. An dieser Stelle hilft die Literatur und andere Kultur- und Kunstgüter : Man kann keinen Krimi, kein klassisches Drama lesen, ohne nicht vom Geschick einer oder mehrerer Protagonisten berührt zu sein. Und dieses Berührtsein ist mehr als eine Folge von Sentimentalitäten: Gerade hier deuten wir uns nicht selbst, sondern bekommen uns und unsere Welt gedeutet und werden so in Narrationen eingebettet, die ihrerseits wiederum irgendwie zur großen Narration, die die Welt ist und die offensichtlich keiner endgültig erzählen kann, passen muss, wenn Leben nicht endgültig scheitern soll. 4. Der Mensch ist durch göttliche Kommunikation angesprochenes Geschöpf, gleichursprünglich konstituiert, zurechtgebracht und vollendet. „[H]omo reus et perditus et deus iustificans vel salvator“, das ist nach Luther bekanntlich nicht nur das Rohmaterial, sondern der Gegenstand der Theologie.26 Möglich ist dies, weil der Mensch selbst ein Geschöpf ist, das durch das göttliche Wortgeschehen oder das Evangelium konstituiert und damit erzählt ist. Die Besonderheit dieser Erzählung ist dabei, dass Schöpfung, Versöhnung und Vollendung gewissermaßen zusammenfallen. Für Luther ist die Schöpfung des Menschen ein eschatisches Geschehen: „Quare homo huius vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam. Sicut et tota creatura, nunc subiecta vanitati, materia Deo est ad gloriosam futuram suam formam.“27 „Ubi igitur et cum quocunque loquitur Deus, sive in ira, sive in gratia loquitur, is verto est immortalis“.28 25 Vgl. Kap. 5.4 in diesem Buch. 26 Luther, M., WA 40II, 328,1 f. 27 Luther, M., WA 39I, 177,3 – 5 [Thesen 35 f]: „Wie der Mensch dieses Lebens pure Potenz Gottes zum Ziel des Lebens seiner zukünftigen Verwirklichung ist, so ist auch die gesamte Schöpfung, jetzt dem Nichtigen unterworfen, Möglichkeit für Gott zu ihrer herrlichen zukünftigen Verwirklichung.“ Diese und alle anderen Übersetzungen stammen vom Autor, MM. 28 Luther, M., WA 43, 481,32 – 34: „Wo und mit wem Gott spricht, sei es im Zorn oder in der Gnade, der ist gewiss unsterblich.“

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Die Erzählung des Evangeliums als viva vox evangelii beansprucht also nicht einfach, dass im Erzählen biblischer Geschichten unsere Identität auf eine richtige Weise gedeutet wird und korrekte, zur Gesamtwirklichkeit passende Identitätserwartungen an uns herangetragen werden, sondern sie beansprucht auch, darüber hinausgehend zweierlei zu erklären: – das Scheitern all unserer partikularen Erzählbemühungen und die Erklärung der Überlegenheit der christlichen Identitätserzählung, weil sie durch das Scheitern aller partikularer Erzählungen hindurch Identität wieder zurechtbringen kann, indem die christliche Erzählung in nichts anderem als in der promissio der endgültigen eschatischen Erzählung besteht, in die wir eingezeichnet sind und die daher nur in hoffendem Vertrauen ergriffen werden kann; – den Anspruch, dass diese christliche Erzählung nicht einfach nur eine korrekte Deutung oder Heilung unserer Identitäten bedeutet, sondern die Konstitution unserer Selbst als leibhafte Personen darstellt: Personen selbst sind nichts anderes als creaturae verbi divini. 5. Gott ist selbst eine narrative semiotische Welt sui generis. Wäre damit alles gesagt, wäre die Pluralität möglicher Narrationen natürlich nur gesteigert und ein Biblizismus (wenn auch höherer Ordnung) gelehrt: Die kontingenten biblischen Erzählungen, in welcher Rezeption und mit welchen Interpretationstheorien sie auch immer begriffen wären (historischkritisch, literary criticism, allegorisch, typologisch, strukturalistisch, poststrukturalistisch etc.), bekämen so etwas wie eine autoritative Rolle, die letztlich willkürlich und unbegründet wäre. Dies ist bei Luther nicht der Fall: Er beschreibt das Sein Gottes selbst als Narration, als kommunikatives Sein in Ewigkeit, auch dann, wenn es die Welt (hypothetisch) gar nicht gäbe: „Und hie gehoret her, das die Schrifft unsern Herrn Christum […] nennet ein Wort […] das der Vater bey und in jm selbs spricht, also das es wahrhafftiger Goettlicher natur ist vom Vater, Doch nicht aus dem Vater fellet (wie ein leiblich, natuerlich wort von einem menschen gesprochen ist eine stimme oder othem, so nicht in jm bleibt, sondern ausser jn kompt und bleibt), Sondern ewiglich inn jm bleibt, Das sind nu die zwo unterschiedliche personen: der da spricht, und das Wort, so gesprochen wird, Das ist: der Vater und Son, Hie aber folgt nu auch die dritte, nemlich der Hoerer, beide des Sprechers und des gesprochenen Worts, Denn wo da sol sein ein Sprecher und Wort, da gehoeret auch zu ein Zuhoerer, Aber dieses alles, sprechen, gesprochen werden und zu hoeren geschicht alles Jnnerhalb der Goettlichen natur und bleibet auch allein jnn der selben, da gar keine Creatur nicht ist noch sein kann sondern beide, sprecher und Wort und Hörer, mus Dir Gott selbs sein, Alle drey gleich ewig und jnn ungesonderter einiger Maiestet, Denn jnn dem Goettlichen wesen ist kein enderung noch ungleicheit und weder anfang noch ende, Das man nicht sagen kann, das der Hoerer etwas ausser Gott sey oder angefangen habe ein Hoerer zu werden,

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Sondern gleich wie der Vater ein ewiger Sprecher ist, der Son jnn ewigkeit gesprochen wird, ist, also der heilige Geist von ewigkeit der Zuhoerer.“29

Die Konsequenzen sind: Gott selbst ist eine semiotische Welt, eine semiotische narrative Welt, die uns und unsere semiotische Welt erst schafft, de facto aber so, dass sie zwei- und mehrdeutigen semiotischen Deutungen unterworfen bleibt, bis wir von Angesicht zu Angesicht in die unmittelbare eschatische Kommunikation Gottes einbezogen sind und erst dann wahrhaft Personen in actu und nicht nur potentiell sind: „Ich gedenck im offt nach, sed non possum assequi illius obiectum, wo mit wir doch die zeith werden zupringen quia ibi nulla mutatio, nihil laboris […] cibi, potus et negotiorum. Jch halt aber, wir werden obiecta genug in Deo haben. […] Domine, ostende nobis Patrem, et sufficit nobis. Das wirdt vnser obiectum sein dulcissimum.“30

Die biblischen Erzählungen des Evangeliums beanspruchen nicht deswegen Deutungshoheit, weil sie beanspruchen, die letztgültige Erzählung zu sein (Biblizismus), sondern weil sie beanspruchen, eine Inkarnation der eschatischen Erzählung, die der dreieinige Gott selbst ist, inmitten unseres semiotischen Universums zu bezeugen. Das sola scriptura gilt nur aufgrund des solus Christus: Die Person des ewigen Wortes in ihrer Inkarnation (Christus) ist das Wort. Biblische Narrationen sind nur das Wort Gottes, insofern sie Zeugnisse dieses eschatischen Kommunikationsgeschehens sind. Wenn wir also im hoffenden Vertrauen unsere eigenen Identitätsansprüche und -erwartungen, die wir mittels unterschiedlichster Narrationen, wie sie etwa in den kulturellen literarischen Gütern vorliegen, in die Narration des Evangeliums eingezeichnet bekommen (Rechtfertigung), dann ereignet sich schon hic et nunc etwas, was wir de facto eschatisch sind: Wir werden in die Lebensund Liebesgeschichte des trinitarischen Gottes eingezeichnet bzw. hineinerzählt.31 6. Grundlage der Kulturtheologie als Basis für die Verhältnisbestimmung zwischen Theologie und Kulturgütern bildet eine Verschränkung der semiotischen Welten. Theologisch ist daher das Verhältnis zwischen Theologie und Kulturgütern in folgendes Relationsgefüge eingezeichnet: Die semiotisch-narrative Welt, die Gott ist, bringt die semiotisch-narrative Welt hervor, versöhnt und vollendet sie, welche wir als unsere Wirklichkeit wahrnehmen. Wir nehmen diese Wirklichkeit aber nie unvermittelt ohne unterschiedliche Narrationen und unterschiedliches kulturelles Vokabular wahr : Zu diesem kulturellen Vokabular gehören einerseits alle sog. nicht29 Luther, M., WA 46, 59,26 – 60,6. 30 Luther, M., WA TR 3, 695,15 – 21 [3901]. 31 Vgl. auch ähnlich Drechsel, W., Lebensgeschichte, 365.

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religiösen oder säkularen Narrationen, mögen sie in Literatur, Film oder Musik erscheinen, und andererseits die explizit christlichen Narrationen. Zwischen beiden herrscht eine Wechselwirkung. Natürlich werden diese vermeintlich säkularen Narrationen durch die entsprechenden Wissenschaften (Literaturwisssenschaft, Musikwissenschaft, etc.) auf einer Metaebene reflektiert, wie auch die christlichen Narrationen durch die christliche Theologie auf einer Metaebene reflektiert werden. Auch dabei gibt es Wechselwirkungen. Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass die christliche Theologie nicht einfach auf die Rezeptionsgeschichte biblischer Texte bezogen sein kann. Da auch die nicht primär durch die Rezeptionsgeschichte biblischer Texte entstandenen literarischen Kulturgüter nichts anderes machen, als diese selbst – Identitätskommunikation in Auseinandersetzung mit der (narrativen, semiotischen) Wirklichkeit –, ist Theologie notwendigerweise immer auch auf diese nicht primär christlichen Narrationen beispielsweise der Literatur mitbezogen: Sie im Lichte des Evangeliums zu deuten, ist eine unverzichtbare Grundaufgabe systematisch-theologischer Arbeit. Mit diesen Bestimmungen lässt sich nun auch eine vorläufige Antwort auf die Eingangsfrage dieses Kapitels geben : Geschichten und Geschichte in ihrem biblischen und weiteren kulturellen Sinne wie auch als grundlegender Zugang zu Personen in Gemeinschaften können nur deswegen Material der Theologie sein, weil erstens der Gegenstand der Theologie im Anschluss an die Tradition sowohl als Gott selbst und alle Dinge in Bezug auf Gott als auch präziser als der rechtfertigende Gott und der gerechtfertigte Mensch in seiner Lebenswelt beschrieben werden kann, und weil zweitens eben dieser Gegenstand selbst eine unhintergehbar narrative Gestalt besitzt, und zwar derart, dass nicht erst im Sinne abgeleiteter, uneigentlicher Rede von Gott narrativ gesprochen werden könnte, sondern weil vielmehr umgekehrt jegliche mündliche und schriftliche, menschliche story und history sich als narrativ nur deswegen erweist, weil sie im Zusammenhang von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung desjenigen Gottes verstanden werden muss, dem Narrativität und (darin eingeschlossen) Geschichtlichkeit nicht äußerlich ist.

1.3 Eine „ethische“ Theorie der Wahrheit Hat der Gegenstand der Theologie selbst die Gestalt narrativ-ereignishafter semiotischer Kommunikation, stellt sich die Frage, in welcher Weise die Theologie mittels des Instruments ihrer vertrauenden Vernunft über diesen Gegenstand nachdenken kann. Eine klassische, etwa von Hauerwas vertretene These lautet, dass in diesem Falle nicht die Begriffsbildung, sondern die gelebte Narration selbst die geeignete Methode sei. Dabei sei es aber notwendig,

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zwischen wahren und falschen Narrationen zu unterscheiden.32 Bei diesem Verfahren entsteht freilich der Nachteil, dass der Wahrheitsbegriff nicht methodisch auszuweisen ist und infolgedessen der eigene Anspruch nicht expliziert werden kann. Theologie bliebe in diesem Falle reine Verkündigung und könnte von dieser nicht durch ihre Reflexion derselben unterschieden sein. Theologie könnte dann zwar vertrauend arbeiten, aber kaum noch vernünftig. Daher empfiehlt sich dieser methodische Zugang kaum. Notwendig ist daher, dass durch fundamentaltheologische Besinnung angegeben werden kann, auf welche Weise Theologie zu einer begrifflichen Erfassung von „Wahrheit“ gelangen kann. Dies wiederum ist nur möglich, wenn zuvor geklärt ist, was eine „begriffliche Erfassung“ – und daher auch, was begriffliche Rede überhaupt – sein kann. Vorauszusetzten ist dabei, dass Begriffe offensichtlich keinen strikten Gegensatz zur Narrativität bilden können, wenn der hier vertretene Ansatz nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt sein soll. Dies wiederum ist möglich, wenn jegliche begriffliche Rede letztlich auf metaphorischer Rede beruht, die dann jedenfalls nicht als Gegensatz zu kognitiver Rede verstanden werden kann und die fähig ist, durch Modellbildung eine kognitive Funktion zu erhalten.

1.3.1 Welche Metapherntheorien ermöglichen einen kognitiven Zugang? Verschiedene Metapherntheorien können anhand der Rolle, die die Metaphern in der Sprache spielen und anhand ihrer hermeneutischen Rolle unterschieden werden. Die Frage nach der Rolle in der Sprache lautet: Ist die Metapher eine Sonderform der Sprache, etwa eine ornamentale Rede, die innerhalb der Tropentheorie der Rhetorik zu betrachten ist, so dass sie sich von anderen Stilmitteln unterscheidet? Oder ist die Metapher keine Sonderform menschlicher Sprache, sondern eine Dimension der Sprache, so dass in irgendeiner Hinsicht Sprache immer metaphorisch ist? Die Frage nach der hermeneutischen Rolle lautet: Ist metaphorische Rede für unser Verstehen der Wirklichkeit relevant? Erfüllt sie hier eine unhintergehbare und wesentliche Funktion? Oder trägt die Metapher für das Verständnis der Wirklichkeit nichts oder nur wenig bei? Verschränken wir diese beiden Fragestellungen, dann erhalten wir vier Möglichkeiten, wie verschiedene Metaphernverständnisse klassifiziert und eingeteilt werden können: a) Theorien, in denen metaphorische Sprache als Sonderform der Sprache betrachtet wird, die nicht realitätsrelevant ist (Aristoteles, Thomas, Descartes). 32 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 41 – 43. 149; Mìhling, M., Ethik, 230.

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b) Theorien, in denen metaphorische Sprache als umfassende Dimension aller Sprache verstanden wird, die aber dennoch nicht realitätsrelevant ist (Nietzsche). c) Theorien, die metaphorische Sprache als Sonderform der Sprache verstehen, dieser Sonderform aber eine Relevanz für unser Verständnis der Realität zusprechen. Hier ist strenggenommen noch einmal zu differenzieren, denn die besondere hermeneutische Rolle zur Erfassung der Realität kann entweder kognitiv oder nicht kognitiv verstanden werden (Black, MacCormac, Blumenberg, Soskice, Ricoeur, Few, Jüngel). d) Theorien, die metaphorische Sprache als umfassende Dimension der Sprache verstehen und ihr eine Relevanz für unser Verstehen der Wirklichkeit zuschreiben. Rolle in der Sprache

hermeneutische Rolle

Sonderform nicht realitätsrelevant

Aristoteles, Thomas, Descartes

dimensional nicht realitätsrelevant

Nietzsche

Sonderform realitätsrelevant – nicht kognitiv Black, Weinrich, MacCormac, Blumenberg, Flew, Soskice, Ri– kognitiv coeur, Jüngel dimensional realitätsrelevant

Lakoff/Johnson, Hesse, Cartwright

a) Theorien, die die Metapher als sprachliche Sonderform betrachten und ihr keine Realitätsrelevanz zuschreiben Hier sind all jene Metapherntheorien zu nennen, die die Metapher als sprachliches Stilmittel beschreiben, das rein rhetorisch bleibt. Eine Metapher ist hier eine Stilfigur, die eine übertragene Redeweise ist und streng von begrifflicher Rede zu unterscheiden ist. Philosophien, die ein solches Metaphernverständnis beinhalten, sind sehr häufig zu finden. So geht etwa Descartes davon aus, dass es eine vollständige Kongruenz, eine Übereinstimmung von Logos, von begrifflicher Sprache einerseits, und von Kosmos, von der Realität andererseits, gibt.33 Metaphern aber gehörten den Rednern und Dichtern. Das, was man mit Metaphern sagen könne, sei immer in begriffliche Rede übersetzbar. Dieses Metaphernverständnis kann sich auf Aristoteles berufen; er versteht darunter eine „Übertragung eines anderen Begriffes als des gebräuchlichen“34, wenn damit auch eine etwas dunkle Definition geliefert 33 Vgl. dazu Figal, G., Art. Metapher II. 34 Vgl. Aristoteles, Poetica, 34 (1457b, Z. 6 – 9): „letavoq± d´ 1stim amºlator !kkotq¸ou 1pivoq±

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Eine „ethische“ Theorie der Wahrheit

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ist, die in ihrem Aussagegehalt hoch umstritten ist und unterschiedlich gedeutet wurde. Im Bereich der Theologie nahm Thomas von Aquin dieses Metaphernverständnis auf. Reden wir in der religiösen Sprache von Metaphern, kann die Metapher entweder direkt substituiert werden oder sie lässt sich durch eine Analogie auflösen.35 Ein Satz wie „Ich bin das Leben“ im Munde Jesu kann dann folgendermaßen aufgelöst werden: Jesus spricht hier aufgrund seiner göttlichen Natur an der Stelle Gottes. Aber auch Gott ist nicht einfach das Leben, sondern – mittels der analogia causalitatis aufgelöst – lautet der Satz in begrifflicher Rede schließlich: „Gott ist Schöpfer des Lebens, d. h. erster unbewegter Beweger von zielgerichteter Bewegung“. b) Theorien, die die Metapher als umfassende Dimension aller Sprache beschreiben, ihr aber dennoch keine positive Funktion für unser Verstehen der Wirklichkeit zuschreiben Solche Theorien könnten „postmodern“ genannt werden, zumal der Ausdruck „Postmoderne“ selbst eine Metapher ist, die aus der Architektur in die Philosophie und von dort in die Theologie übertragen wurde. Da hier aber ein begrifflicher Zugang in der Betrachtung von Metaphern gewählt wurde, erscheint es wenig sinnvoll, postmoderne Gedankengebäude selbst aufzusuchen. Das ist aber auch gar nicht nötig. Wir finden nämlich ein solches Metaphernverständnis in Reinform bereits bei dem Ahnherrn aller postmodernen Philosophien, bei Friedrich Nietzsche. Nietzsche geht ganz radikal davon aus, dass alle Sprache metaphorisch ist. Ja, selbst wenn ein „Nervenreiz“ aufgrund eines Vorstellungsbildes ausgelöst wird, ist dies eine Metapher, ebenso wie die vermeintlich begrifflichen Reden der Philosophen, die „nichts als abgenutzte und sinnlich kraftlose Metaphern“36 sind. Und weil alle Sprache metaphorisch ist, kann Sprache nichts von dem Wesen der Dinge erfassen. Die Metapher trägt zum Verständnis der Wirklichkeit nichts aus, und weil alle Sprache metaphorisch ist, trägt alle Sprache nichts zum Verständnis der Wirklichkeit aus. Wir sehen hier bei Nietzsche, wie ein radikales Metaphernverständnis in einem radikalen Skeptizismus und Relativismus zu enden scheint. Nun ist es aber so, dass das, was Menschen sagen, nicht unbedingt das ist, was sie tun. So ist es auch bei Nietzsche. Sein eigener Sprachgebrauch passt nämlich nicht zu seinem Metaphernverständnis. In „Der Antichrist“ heißt es z. B.: „Der christliche Gottesbegriff – Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist – ist einer der corruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; er stellt vielleicht selbst den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des GötterC !p¹ toO c´mor 1p· eWdor C !p¹ toO eUdour 1p· t¹ c´4mor C !p¹ toO eUdour 1p·` t¹ eWdor C jat± t¹ !m²kocom.`“ 35 Vgl. Thomas von Aquin, s.th., 3q.8a.ad2. 36 Vgl. Nietzsche, F., Über Wahrheit und Lüge, 878 – 880.

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Typus dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt!“.37

Wenn Nietzsche die christliche Rede von Gott und Leben als Widerspruch zu dem sieht, was tatsächlich Leben38 ist, dann setzt Nietzsche voraus, dass seine eigene metaphorische Rede vom Leben bei weitem realitätsgerechter ist als die christliche. Ist Nietzsche dann weitaus weniger ein Skeptiker, als er explizit beansprucht? c) Theorien, die metaphorische Rede als Sonderform der Sprache verstehen und zugestehen, dass Metaphern uns helfen, die Wirklichkeit zu verstehen Theorien dieser Art sind mittlerweile bei weitem vorherrschend und breit akzeptiert. Aber sie sind sehr unterschiedlich, so dass wir hier differenzieren müssen, einerseits in Theorien, die der Metapher keinen kognitiv-konstativen Gehalt zuweisen, sondern davon ausgehen, dass metaphorische Sprache eine andere, irreduzierbare Funktion zum Verständnis der Wirklichkeit liefert. Als Beispiel kann hier Anthony Flew genannt werden, der religiös-metaphorischer Sprache eine emotive Funktion zugesteht, indem damit die Lebenseinstellung und das Ethos einer Person zum Ausdruck gebracht werden.39 Andererseits sind Theorien zu nennen, die der Metapher einen kognitiven oder konstativen Gehalt zuweisen. Die bloße Tatsache, dass Metaphern auch einen konstativen Gehalt haben können, ist zumindest durch die katachrestische Funktion metaphorischer Rede bekannt, also durch das Vermögen von Metaphern, in lexikalische Lücken vorzudringen und neue Sachverhalte benennbar zu machen. Dieser Vorgang ist vor allem seit der Verbreitung von Computern bekannt: Hier gibt es Desktops, Mäuse, Papierkörbe und Cookies. Freilich sind diese Metaphern alle recht schnell tote Metaphern geworden, d. h. es handelt sich nun um neue, strikt festgelegte Bezeichnungen und damit letztlich um literale Rede. Haben Metaphern dennoch einen kognitiven Gehalt, gibt es „absolute Metaphern“, wie sie Hans Blumenberg nennt, die nicht aufgelöst werden können?40 Am bekanntesten ist Max Blacks Theorie, der dies in seiner Interaktionstheorie der Metapher bejaht. Metaphern hätten die Form „A ist B“, etwa der „Mensch ist ein Wolf“. Eine solche Metapher lasse sich eben nicht in „Der Mensch ist grausam“ übersetzen. In dieser Metapher sei nicht nur eine Aussage über den Menschen beinhaltet, sondern auch über den Wolf, denn Wölfe würden auf diese Weise menschlicher als sie normalerweise sind. Black geht daher davon aus, dass Metaphern eine doppelte Referenz besäßen, eine Theorie, die auch Ricoeur aufgenommen hat, wenn er davon ausgeht, 37 38 39 40

Vgl. Nietzsche, F., Der Antichrist, Abschn. 18, 183. Zu Nietzsches Lebensbegriff vgl. Welker, M., Konzepte von Leben. Vgl. Mìhling, M., Art. Metapher III + IV, Religionsphilosophisch + Fundamentaltheologisch. Zu Hans Blumenbergs Metapherntheorie vgl. die überaus instruktive Untersuchung von Stoellger, P., Metapher und Lebenswelt.

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Metaphern besäßen eine geteilte Referenz.41 Black und Ricoeur haben eine breite Rezeption erfahren und man hat im Anschluss an sie viele Verbesserungen in die ausgestalteten Metapherntheorien eingebracht.42 Nutzt man solche Metapherntheorien im Bereich der Theologie, geht man davon aus, dass religiöse Rede genuin metaphorische Rede sei. Metaphorische Rede sei besonders geeignet, „Gott“ und alles was mit „Gott“ in Beziehung steht auszudrücken, da es sich bei Gott nicht um eine raumzeitliche Wirklichkeit handele. Auf diese Weise könne der kategoriale Unterschied von Gott und Welt zum Ausdruck gebracht werden. Andererseits ist zu beachten, dass Metaphern hier immer noch eine Sonderform der Sprache darstellen; sie sind von literaler Rede unterschieden: Missachte man diesen Unterschied und verstehe religiöse Metaphern fälschlich als literale Rede, generiere man Mythen, die als Metaphern definiert würden, die aber nicht mehr als solche erkannt würden. Damit aber neige man zum Dogmatismus und verkenne die Eigenart religiöser Rede von Gott. Ein solches Metaphernverständnis findet sich etwa bei Earl R. MacCormac43 im Rahmen des Dialogs zwischen Theologie und Naturwissenschaft, bei Sally McFague in der feministischen Theologie44 oder bei John Hick, der auf diese Weise die traditionelle Zwei-NaturenLehre innerhalb der Christologie kritisiert.45 d) Theorien, die metaphorische Sprache als umfassende Dimension aller Sprache verstehen und ihr eine Verstehensfunktion für die Realität zuschreiben Lakoff und Johnson haben 1980 die oft als provokant empfundene These vertreten, dass alle Sprache metaphorisch sei und dennoch oder gerade deswegen einen kognitiven oder konstativen Gehalt aufweise.46 Nancy Cartwright hat diese These noch einmal verstärkt, indem sie davon ausgeht, dass Metaphern die Bausteine für Modelle sind und dass daher alle begriffliche Rede und alle Theorien letztlich metaphorische Sprache sind, einschließlich aller mathematisch-naturwissenschaftlichen Theorien.47 An dieser Stelle sei der Überblick über die verschiedenen Metapherntheorien abgebrochen, um im Folgenden eine Metapherntheorie detailliert vorzustellen, die in den zuletzt genannten Bereich gehört.

41 Vgl. Black, M., Die Metapher ; Black, M., Mehr über die Metapher ; Ricoeur, P., Die lebendige Metapher. 42 Vgl. exemplarisch Jìngel, E./Ricoeur, P., Metapher ; Weinrich, H., Semantik der Metapher; Soskice, J.M., Metaphor and Religious Language. 43 Vgl. MacCormac, E.R., Metaphor and Myth. 44 Vgl. McFague, S., Metaphorical Theology. 45 Zur Analyse der Debatte um John Hicks „Mythos“-Kritik vgl. Dalferth, I.U., Der auferweckte Gekreuzigte, 1 – 37. 46 Vgl. Lakoff, G./Johnson, M., Metaphors We Live by. 47 Vgl. Cartwright, N./u. a., The Tool Box of Science.

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1.3.2 Die Theorie der kontextuellen Bedeutungszuschreibung Die Theorie, die die Metapherntheorie der kontextuellen Bedeutungszuschreibung genannt sei, nimmt Ansätze von Wittgenstein, Mary Hesse48 und Earl R. MacCormac49 auf. Gehen wir davon aus, dass Zeichen in einer dreifachen semiotischen Relation stehen, nämlich zum einen in der syntaktischen Relation zwischen Zeichen und Zeichen, zum zweiten der semantischen Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem und drittens in der pragmatischen Dimension zwischen Zeichen und Zeichenbenutzern, dann gehören die folgenden Ausführungen in den Bereich der Semantik, da erklärt werden soll, warum und auf welche Weise Metaphern eine Bedeutung haben können und warum alle Sprache letztlich metaphorisch ist. Aber die Theorie geht mit dem späten Wittgenstein, der bekanntlich meinte, die Bedeutung eines Wortes liege in dessen Verwendung,50 davon aus, dass wir die Semantik nur über den Umweg der Pragmatik behandeln können – wenn es sich dabei überhaupt um einen Umweg und nicht um eine Abkürzung handelt! Es sei vorgeschlagen, eine Metapher folgendermaßen zu definieren51: „Eine Metapher ist die Rede über einen Sachverhalt A in einem Verwendungskontext B im Zusammenhang einer semantischen Einheit C im selben Kontext, für die es noch mindestens einen weiteren Verwendungskontext D gibt.“ Dies klingt zunächst reichlich abstrakt, und daher muss es etwas ausgeführt werden. Zunächst: Was sind semantische Einheiten? Semantische Einheiten können alle bedeutungsvollen Zeichen beliebiger Sprachen sein. Der Vorteil der Rede von „semantischen Einheiten“ besteht darin, dass wir die Metapher nicht auf Wörter oder Sätze einschränken. Metaphern können im einfachsten Fall aus zwei Worten bestehen, wie in den bereits genannten Beispielen „Ich bin das Leben“ oder „Der Mensch ist ein Wolf“. Metaphern können aber auch aus ganzen Geschichten oder Narrationen bestehen, die in bestimmten Kontexten erzählt und kommuniziert werden. Zum Teil können Metaphern aber ebenso nur aus einer semantischen Einheit bestehen. Wenn ich mich mit jemandem unterhalte und ihn nicht verstehe, weil z. B. ein Zug vorbeifährt, kann ich sagen: „Entschuldigen Sie bitte?“, worauf mir mein Gesprächspartner den Sachverhalt noch einmal erklären wird. In dieser Situation ist aber die Frage „Entschuldigen Sie bitte“ eine Metapher, denn mein Nicht-Verstehen des Anderen ist im allgemeinen Sprachgebrauch gar nichts, was entschuldigt werden müsste, da ich für das Nichtverstehen nicht verantwortlich bin. 48 49 50 51

Vgl. Hesse, M.B., Die kognitiven Ansprüche der Metapher. Vgl. MacCormac, E.R., Metaphor and Fuzzy Sets. Vgl. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Abschnitt 43, 262. Vgl. dazu auch Mìhling, M., Gott ist Liebe, 24 – 32.

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In diesem Beispiel wird der Sachverhalt A, über den gesprochen wird, nicht eigens mit einer semantischen Einheit ausgedrückt, sondern er ist durch den pragmatisch-situativen Kontext vorgegeben. In der Praxis wird die Auslassung derjenigen semantischen Einheit A, die die Referenz festlegt, oft im Humor benutzt, kann aber in uneindeutigen Situationen auch zu Missverständnissen führen. Wenn in dem zuletzt genannten Beispiel kein Zug vorbeikommt, kann mein Gesprächspartner meine Aufforderung „Entschuldigen Sie bitte?“ auch missverstehen als tatsächliche Entschuldigung (etwa für eine schlecht sitzende Krawatte, an der ich nervös herum taste), mit einem „Macht nichts, schon gut“ quittieren und in seinen Ausführungen ohne nochmalige Erklärung des Nichtverstandenen fortfahren. Zum Zweiten: Metaphern bestehen darin, dass jemand sie verwendet. „Verwenden“ heißt aber Handeln. Damit ist die Metapherntheorie eine Unterart der Handlungstheorie. Hier wird man, wie verschiedentlich gezeigt wurde, davon ausgehen müssen, dass Intentionalität ein notwendiges Kriterium ist, um vom Handeln zu reden.52 Dies gilt auch für die Metapher. Entscheidend ist, dass jemand sich in einem Kontext äußert oder einen Text schreibt und dies auch wirklich will. Es muss die Absicht bestehen, einen Text zu schreiben oder eine Äußerung zu tun. Dies ist auch der Grund dafür, warum der Sachverhalt, über den geredet wird, gar nicht selbst mit einer semantischen Einheit ausgedrückt werden muss. Damit berühren wir aber die Referenzproblematik – denn Absichten sind keine Entitäten, auf die man so ohne weiteres sprachlich verweisen könnte –, auf die wir hier nicht weiter eingehen können. Zum Dritten: Metaphern finden in Verwendungskontexten statt. Diese sind situativ, d. h. es handelt sich auch hier um Handlungskontexte. Es können Kontexte der Verwendung mündlicher Rede sein, es kann aber auch das Kapitel eines Buches sein. Im Extremfall genügt sogar der Eintrag einer Lexikondefinition als Kontext. Es ist nun an der Zeit, einige Beispiele für diese Metapherndefinition zu geben. Wenn ich sage: „Das Evangelium ist unser Angebot“ oder auch nur „Kommt und seht, was wir zu bieten haben“, dann verwende ich den Sachverhalt A, das „Evangelium“, im Kontext B einer kirchlichen Verkündigungssituation im Zusammenhang mit einer semantischen Einheit C, dem „Angebot“ in eben demselben Kontext kirchlicher Verkündigung. Für die letzte semantische Einheit C, das „Angebot“, gibt es aber noch einen oder viele andere Verwendungskontexte D, etwa den Kauf eines Kühlschrankes in einem Kaufhaus.

Nach dieser Theorie ist letztlich alle Sprache metaphorisch, weil semantische Einheiten nie nur in einem Kontext, nie nur in einer Kommunikationssituation verwendet werden. Nach dieser Theorie gibt es zwischen metaphorischer 52 Vgl. z. B. Runggaldier, E., Was sind Handlungen?, 88ff, wenn man auch das dort vorliegende Verständnis von Handlungskausalität nicht teilen muss.

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und literaler Rede keinen kategorialen, sondern nur einen graduellen Unterschied. Metaphern können so mehr oder weniger „literal“ oder „metaphorisch“ sein, je nachdem wie weit die beiden Verwendungskontexte auseinander liegen. Damit erklärt sich auch, warum es uns überraschende Metaphern gibt, warum es tote Metaphern gibt, und warum Metaphern eine katachrestische Funktion wahrnehmen können.

1.3.3 Metaphorische Sprache ist begriffliche Sprache und umgekehrt! Normalerweise geht man davon aus, dass Begriffe fest definiert sind. Begriffe gehören zur literalen Rede, und Metaphern gelten als streng davon unterschieden. Ich möchte dies an einem Beispiel – man kann sagen, einer Metapher – veranschaulichen. Begriffe haben zwei Aspekte, einen intensionalen Aspekt und einen extensionalen Aspekt. Mit Hilfe dieser Unterscheidung lässt sich die übliche Theorie einer strikten Unterschiedenheit von „literal-begrifflicher“ und „metaphorischer“ Rede folgendermaßen reformulieren:

Der intensionale Aspekt ist die Beschreibung oder die Definition, z. B. „x ist rot“ oder „x ist Leben“. Der extensionale Aspekt besteht in der Summe aller Gegenstände oder Sachverhalte, von denen eben das entsprechende Prädikat gebraucht werden kann. Man kann nun an einen Graphen denken, in dem der extensionale Aspekt mit der (waagrechten) x-Achse eines Diagramms bezeichnet wird und der intensionale Aspekt mit der (senkrechten) y-Achse. Ein traditionelles Sprachverständnis geht davon aus, dass es auf der y-Achse der Intensionalität nur zwei Werte gibt, nämlich 0 und 1. Statt 0 und 1 kann man auch sagen, „trifft nicht zu“ und „trifft zu“ bzw. „falsch“ oder „wahr“. Der erste Bereich der x-Achse der Extensionalität mit dem y-Wert 0 bildet nun die Klasse aller derjenigen Gegenstände, für die der Begriff nicht zutrifft bzw. für den die entsprechende Sprachform falsch ist, der zweite Bereich mit dem y-Wert 1 bildet den Bereich all der Gegenstände oder Sachverhalte, für die der Begriff zutrifft bzw. für den die Aussage wahr ist. In dem Bereich, in dem der y-Wert 0 ist, liegen also alle Dinge, die etwa nicht rot sind, in dem Bereich, in dem der y-Wert 1 ist, alle Dinge, die rot sind. Wenn wir etwa sagen, „Spontane Fortpflanzung ist Leben“, dann liegt diese Aussage in dem Bereich, in dem der y-Bereich 1 ist; die Aussage trifft also zu

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Eine „ethische“ Theorie der Wahrheit

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oder ist wahr. Es handelt sich um das, was traditionellerweise „literale“ Rede heißt. Wenn wir aber sagen, „Jesus Christus ist Leben“, dann liegt diese Aussage also in dem Bereich, in dem der y-Wert 0 ist, d. h. ihr Wahrheitswert ist null oder die Aussage ist falsch bzw. trifft nicht zu oder ist allenfalls „metaphorisch“.

Setzen wir aber die Theorie der kontextuellen Bedeutungszuschreibung voraus, dann trifft dieses Bild kaum auf die Realität unserer Sprache zu. Unter den Bedingungen dieser Theorie sieht unser Diagramm anders aus:

Hier gibt es nicht zwei fest umrissene Klassen, die einfach durch zwei Werte darstellbar sind, sondern hier müsste man sich einen kontinuierlichen Übergang zwischen nicht zutreffend (y-Wert 0) und zutreffend (y-Wert 1) vorstellen, ohne dass die Werte nicht zutreffend (0) oder zutreffend (1) je erreicht würden. Dies ist der Fall bei einer Kurve mit einem Wendepunkt, die sich im extensionalen Bereich von +‘ an der x-Achse an den intensionalen yWert 1 als Grenzwert annähert und im extensionalen Bereich von -‘ auf der xAchse an den intensionalen y-Wert 0 als Grenzwert annähert. Dies bedeutet nun, dass – je nachdem wie eng die Kontexte der möglichen Sprachverwendung beieinander oder auseinander liegen – die entsprechenden Aussagen eher im unteren – gegen 0 gehenden – oder oberen – gegen 1 gehenden – Bereich der Kurve anzusetzen sind. Ein Beispiel: Sage ich, „Spontane Fortpflanzung ist Leben“, dann ist der Verwendungszusammenhang der einer Lexikondefinition und die Aussage wäre auf der oberen Hälfte der Kurve anzusiedeln, nahe am y-Wert 1. Sage ich, „Wasser ist Leben“, was ein Werbeslogan einer Umweltschutzorganisation sein könnte, dann versteht diese Aussage so gut wie jeder, weil Wasser zu den notwendigen Bedingungen des Lebens gehört. Es handelt sich um eine ziemlich abgedroschene und nahezu tote Metapher. Diese Aussage wäre demgemäß ungefähr oberhalb des Wendepunktes der Kurve anzusiedeln. Sage ich, „Jesus Christus ist eigentlich Leben“, dann mache ich für viele eine recht überraschende Aussage, die neue Aspekte dessen, was eigentlich Leben ist, entdecken lässt. Es handelt sich um eine gute Metapher, die knapp unterhalb des Wendepunktes der Kurve anzusiedeln ist. Ich könnte nun auch sagen, „Klebstoff ist Leben“. Diese Aussage ist nahezu unverständlich, fast sinnlos. Aber in einem reichlich poetischen Kontext ist selbst so eine Aussage als nicht ganz sinnlos

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vorstellbar. Diese Aussage gehört daher eher in den unteren Bereich der Kurve, der gegen den y-Wert 0 geht.

Was sind die philosophischen Folgerungen aus diesem Bild? Nun, damit ist zum einen behauptet, dass es zwischen Begriffen und Metaphern keinen kategorialen Unterschied gibt, sondern nur einen graduellen. Daher kann man sagen, dass alle Begriffe Metaphern sind oder eine metaphorische Dimension aufweisen. Und umgekehrt muss man auch sagen, dass alle Metaphern Begriffe sind oder eine begriffliche Dimension aufweisen. Wir können nur von einer mehr oder weniger starken Metaphorik sprechen. Wenn dieses Modell unserer Sprache richtig ist, dann hat das Konsequenzen für unseren Umgang mit den Worten „wahr“ und „falsch“ und für den Wahrheitsbegriff. Wahr und falsch sind dann keine absoluten Unterscheidungen, sondern pragmatische. Wir als Zeichenbenutzer entscheiden oder setzen voraus, dass es aus pragmatischen Gründen, aus ontologischem Interesse, d. h. aus religiösen oder ethischen Gründen oder warum auch immer, angemessen ist, die Trennungslinie zwischen wahr und falsch da oder dort zu ziehen. Eher am Wendepunkt oder leicht davon verschoben. Dies ist ein vollkommen legitimes Verfahren und hat nichts Anrüchiges an sich. Es kann u. U. hilfreich sein, für bestimmte Bereiche die drei Wahrheitswerte „wahr“, „falsch“ oder „unentschieden“ einzuführen, oder vier Wahrheitswerte oder fünf. Entscheidend ist, dass man sich in diesem Fall bewusst sein muss, dass man nichts anderes macht, als wenn man mit nur zwei Wahrheitswerten operiert: Man führt so oder so quasi künstlich oder willkürlich Trennungen in einen kontinuierlichen Übergang ein. Weil die Bedeutungen von Metaphern oder Begriffen (!), wie wir nun auch sagen können, in der Verschränkung mehr oder weniger benachbarter Kontexte besteht, handelt es sich um einen kontinuierlichen Übergang.

1.3.4 Die „ethische Theorie der Wahrheit“ in christlicher Perspektive als Bedingung der Möglichkeit des Realitätsbezugs von Sprache Der größte Einwand gegen eine solche Metaphern- oder Bedeutungstheorie der kontextuellen Bedeutungszuschreibung könnte lauten: Müssen wir unter diesen Umständen nicht doch den Realitätsbezug aller Sprache aufgeben und im Gefolge Nietzsches postmoderne Skeptiker, Relativisten oder radikale Konstruktivisten werden, die davon ausgehen, dass unsere sprachliche Kommunikation jegliche Realität erst schafft? Ich glaube, dass die Antwort nur „Nein“ lauten kann. Die Theorie der kontextuellen Bedeutungszuschreibung geht in der Tat davon aus, dass die Bedeutung von Metaphern und jeglicher Sprache in Kommunikation entsteht. Sie geht auch davon aus, dass es sich in der Kommunikation in verschiedenen Kontexten entscheidet, was tatsächlich wahr und was tatsächlich falsch ist. Und dennoch ist die Theorie

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Eine „ethische“ Theorie der Wahrheit

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der kontextuellen Bedeutungszuschreibung geeignet, einen Realismus aufrecht zu erhalten. Dies muss nun erklärt werden: Traditionell ist Wahrheit die Korrespondenz zwischen Sprache und Realität. Das Problem an dieser Definition besteht darin, dass sie eine Relation, eben die Relation der Übereinstimmung, zwischen zwei Relaten behauptet, die zu unterschiedlichen Klassen von Gegenständen gehören: Sprache und Wirklichkeit. Nun sind aber nur Dinge vergleichbar, die zur selben Art gehören. Wir können nicht sinnvoll von einer Übereinstimmung zwischen Äpfeln und Birnen sprechen. Alternative Wahrheitstheorien, wie die semantischen Wahrheitstheorie von Tarski, Kohärenztheorien oder pragmatische Wahrheitstheorien können als Antwort auf dieses spezielle, relationale Problem der klassischen Theorie gesehen werden: Die semantische Theorie von Tarski53 ändert nichts an der Relation. Diese bleibt die Relation einer Übereinstimmung. Hier werden vielmehr die beiden Relate geändert. Beide Relate gehören nun zur gleichen Klasse von Gegenständen, der Klasse der Sprache: Der Satz „Schnee ist weiß“ ist genau dann wahr, wenn ,Schnee weiß ist‘ – nun formuliert auf einer anderen Sprachebene. Kohärenztheorien54 arbeiten ebenfalls mit einer einzigen Klasse sprachlicher Entitäten, allerdings ohne Objekt- und Metasprache unterscheiden zu müssen. Das hat zur Folge, dass nun auch die Relation geändert werden muss. Es ist nicht mehr die Relation einer Übereinstimmung, sondern die Relation von Kohärenz, von Widerspruchsfreiheit. Während nun sowohl die semantische Wahrheitstheorie als auch Kohärenztheorien die beiden Klassen der Relate so ändern, dass nur noch von Sprache die Rede ist, behaupten pragmatische Theorien55, dass es sich nicht vermeiden lässt, auch von Realität zu sprechen, wenn wir von Wahrheit sprechen wollen. Also betrachten pragmatische Theorien diejenigen sprachlichen Konzepte am brauchbarsten, die sich am besten in irgendeiner Form im praktischen Handeln bewähren. Im Rahmen einer christlichen Ereignisontologie narrativ semiotischer Kommunikation, die eine Kooperation zwischen göttlichem und menschlichem Handeln annimmt, lässt sich die klassische Korrespondenztheorie aufrechterhalten und lassen sich gleichzeitig ihre Schwierigkeiten vermeiden. Denn nun gehören die beiden Relate, also menschliche Sprache und Realität, zur gleichen Klasse von Gegenständen: Beides sind Ereignisse von Sprachhandlungen: Realität ist die Klasse der Ereignisse des göttlichen Sprachhandelns (in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung) und menschliche Sprache und menschliches Handeln überhaupt ist die Klasse menschlichen Sprachhandelns, d. h. die Antwort des Menschen in relativer Abhängigkeit und Unabhängigkeit zum vorgängigen Sich-Ereignen göttlicher, auf die Welt bezogener Kommunikation. Mit Colin Gunton können wir daher sagen: 53 Vgl. Tarski, A., Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen. 54 Vgl. Rescher, N., The Coherence Theory of Truth. 55 Vgl. dazu Puntel, L.B., Wahrheitstheorien, 142 – 171.

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„Die Welt ist eine solche Art von Gegenstand, dass sie in Sprache interpretiert werden kann. Sie ist selbst, oder hat selbst, metaphorisch!, eine Art von Sprache.“56

Es gibt daher, um mit Jüngel zu sprechen, „ein Wechselspiel von Mensch und Welt, in welchem der Mensch sich kosmomorph und die Welt anthropomorph versteht“57. Daher können beide in einer Beziehung der Korrespondenz oder Übereinstimmung stehen. Beachten wir den kategorialen Unterschied zwischen menschlichem Handeln und göttlichem Handeln, zwischen actio Dei und actio hominum, können wir Wahrheit folgendermaßen definieren: Wahrheit ist die Übereinstimmung kreatürlich-personalen Sprechhandelns mit göttlichem Sprechhandeln und dessen ereignishaften Effekten.

Diese Wahrheitsdefinition ist aus einer christlichen Binnenperspektive heraus gewonnen. Diese Theorie liefert aber nicht nur eine Definition von Wahrheit, sondern sie erlaubt es auch zu erklären, warum der einzige operationable Nachweis von Wahrheit in pragmatischer Bewährung besteht. Diese Theorie liefert eine ontologische Beschreibung von verschiedenen Relationen zwischen verschiedenen Arten des Handelns und daher ist sie eine ethische Theorie der Wahrheit. Als solche hat sie zu berücksichtigen, dass menschliches Handeln einschließlich menschlichen Sprechhandelns immer in der Perspektive des Falles der Schöpfung und ihrer Versöhnung zu betrachten ist, also unter der Perspektive von Sünde und Zurechtbringung. Die menschliche Suche nach Wahrheit und deren Entdeckung in allen Bereichen menschlicher Erkenntnisbemühung und Wissenschaft hängt also nicht allein vom schöpferischen, sondern auch vom versöhnenden und vollendenden Handeln von Vater, Sohn und Heiligem Geist ab. Und daher steht die menschliche Suche nach der Wahrheit unter einem eschatologischen Vorbehalt. Nichtsdestotrotz: Eine Folge dieser Wahrheitstheorie ist, dass Wahrheit nun ein Gegenstand der Ethik wird: Sind unsere Metaphern mit dem Handeln Gottes vereinbar, sind sie wahr. Und das können durchaus verschiedene sprachliche Antworten in der Kommunikation mit Gottes Sprachhandeln sein. Passen sie nicht, sind sie falsch. Welche das sind, bleibt abzuwarten, bis wir von Angesicht zu Angesicht mit Vater, Sohn und Heiligem Geist sprechen. Das heißt aber nichts anderes als: Was im Einzelnen wirklich wahr ist, hängt davon ab, ob es zur gesamten, noch unvollendeten narrativen Geschichte zwischen Gott und Welt passt. Und das, was sich von Seiten menschlicher Kommunikation als „wahr“ erweisen kann, kann sich nur als wahr erweisen, weil nicht menschliche Geschöpfe alleine ihre Sprechhandlungen ausführen, sondern dem konkarnierenden und inspirierenden Beistand des Heiligen Geistes ausgesetzt sind. Wo immer Menschen etwas als „wahr“ erkennen – auch im vermeintlich völlig nichtreligiösen Zusammenhang, ist der Heilige Geist Urheber der Wahrheitserkenntnis. 56 Gunton, C.E., Actuality of Atonement, 37. 57 Jìngel, E./Ricoeur, P., Thesen zur Metaphorologie, 63.

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Relationale Selbst-Gründung

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Fassen wir zusammen: Metaphorische Sprache ist keine Sonderform menschlicher Rede, sondern alle Sprache ist metaphorisch. Der Wahrheitsbegriff wird ethisch als Korrespondenz zwischen göttlichem und menschlichem Handeln zu fassen sein. Damit steht der Wahrheitsbegriff nicht im Gegensatz zu richtig verstandener Narrativität, sondern setzt sie voraus. Die Frage lautet also nicht, wie Narrationen einschließlich ihrer metaphorischen Rede überhaupt wahrheitsfähig sein können. Vielmehr zeigt sich nun, dass Narrativität selbst eine Bedingung der Möglichkeit der Rede von Wahrheit, von wahrheitsfähiger Sprache und damit eben auch von begrifflicher Rede ist. Mit dieser Konzeption sind keineswegs skeptische, relativistische oder konstruktivistische Implikationen verbunden – vorausgesetzt, man bewegt sich in einem christlichen Wirklichkeitsverständnis. Allgemeingültigkeit wird nicht aufgehoben, aber sie ist nicht anders als perspektivisch zu haben. Dies impliziert, dass sich auch semantische Fragen, Fragen des Verständnisses von Sprache, Wirklichkeit und Wahrheit in keinem weltanschauungsfreien Raum bewegen. Die hier behandelten Probleme lassen sich in einer christlichen Sicht auf die besprochene Weise lösen. Wie dies im Rahmen anderer Wirklichkeitsverständnisse aussieht, ist eine Frage, der hier nicht nachgegangen werden kann. Diese Perspektivität auch einer jeglichen christlichen begrifflichen (und narrativen) Rede – und damit jeglicher wissenschaftlichen Theologie – bedeutet nun aber nicht, dass im religiösen Bereich oder im Bereich dessen theologischer Reflexion die Sprache eine Sonderfunktion einnehmen würde, die sie in der Alltagskommunikation oder in der Kommunikation anderer Wissenschaften nicht hätte. Es ist nicht so, dass ein besonderes Metaphernverständnis notwendig wäre, um den christlichen Glauben verstehen zu können, sondern der christliche Glaube ist hilfreich, um die Metapher und den wahrheitsfähigen Begriff – und damit eben unsere Sprache selbst – zu verstehen: „Die Wörter, die mit ,Gott‘ zusammen gebraucht werden, haben gar keine abnormale Weise des Bedeutens, analogisch oder sonstwie. Sie tun genau das, was sie sonst tun.“58

1.4 Relationale Selbst-Gründung Theologie ist irreduzibel auf christlichen Glauben bezogen. Nicht vorausgesetzt werden kann ein unabhängiger Vernunftbegriff. Nicht vorausgesetzt werden kann ein unabhängiger Begriff eines unabhängig vom christlichen Glauben gebildeten Zeichenbegriffs. Ebenfalls nicht vorausgesetzt werden kann ein unabhängig vom christlichen Glauben gebildeter Begriff der Narration. Und ebenfalls nicht vorausgesetzt werden kann ein vom christlichen Glauben unabhängiger Begriff der semantischen Funktion der Metapher. 58 Jenson, R.W., „Gott“ als „Antwort“, 158.

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Selbst der Wahrheitsbegriff lässt sich nur innerhalb des christlichen Glaubens für die Theologie sinnvoll rekonstruieren. Nun ist Glaube aber – unter anderem – unbestreitbar auch ein Bewusstseinsphänomen, das im Begriff menschlichen Handelns stets vorauszusetzen ist. Ein Bewusstsein aber ist immer einem Subjekt zuzusprechen. Soll daher subjektivistische Beliebigkeit vermieden werden, stellt sich somit die Frage nach einer Subjektivitätstheorie, die geeignet ist, die Frage nach der Konstitution des Subjekts zu klären. Sollte sich eine solche Subjektivitätstheorie dergestalt entwerfen lassen, dass damit nicht nur zugleich der Glaubensbegriff als notwendig aufgewiesen ist, sondern auch der Gottesbegriff – in welcher Form auch immer – mitgesetzt wäre, wäre, so scheint es, viel für die Grundlegung der Theologie gewonnen. Der wohl wichtigste derartige Versuch stammt bekanntlich von F.D.E. Schleiermacher. Wieweit trägt dieser Versuch? Ist er eine gangbare Möglichkeit? Oder gilt auch für die Begriffe des Subjekts, der Subjektivität und des Selbst, dass sie nur innerhalb des Ganzen des christlichen Wirklichkeitsverständnisses theologisch explizierbar sind? Diesen Fragen soll nun nachgegangen werden. 1.4.1 Liefert Schleiermacher einen Gottesbeweis? These 1: In einer theologischen Verwendung einer Subjektivitätstheorie ist die Subjektivität das Fundament, von dem auf Gott geschlossen wird, indem die Konstitutionsbedingungen von Subjektivität in der Gottesbeziehung gesehen werden. Eine exemplarische Variation dieses Themas, das sich übrigens formal als Gottesbeweis darstellen ließe, findet sich bei F.D.E. Schleiermacher. Im Folgenden wird der Argumentationsgang des locus classicus des §4 der zweiten Auflage von Schleiermachers Glaubenslehre – in einer, augenzwinkernd bemerkt, leicht häretischen Weise – rekonstruiert, weil sich zeigen wird, dass diese Rekonstruktion an die Form eines Gottesbeweises erinnert und Schleiermacher dies bekanntlich nicht intendiert hat. Dieser Rekonstruktion ist daher vorauszuschicken, dass einige der Prämissen, zusätzlich zu dem, was Schleiermacher sagt, hinzugefügt werden müssen. Dennoch wird auf diese Weise die Schwierigkeit einer subjektivitätstheoretischen Begründung des Gottesglaubens deutlich werden. Doch kommen wir vor der Beurteilung zur Rekonstruktion: (1) (2)

Im (zeitlichen) Selbstbewusstsein ist eine Beziehung vom Selbst zu Anderem mitgesetzt.59 Die Beziehung des Selbst zum Anderen ist die Beziehung des Bewusstseins von Wechselwirkungen.60

59 Vgl. Schleiermacher, F., Glaubenslehre, Bd. 1, 24: „In keinem wirklichen Bewußtsein […] sind wir uns unsres Selbst an und für sich, wie es immer dasselbe ist, allein bewußt […]“. 60 Vgl. Schleiermacher, F., Glaubenslehre, Bd. 1, 26: „[…] so ist dann das aus beiden zusam-

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(3) (4)

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(6)

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Das (zeitliche) Selbstbewusstsein ist eine Beziehung des Bewusstseins von Wechselwirkungen. Dies folgt aus (1) und (2). Bewusstsein von Wechselwirkung bedeutet, dass es kein Bewusstsein von Selbsttätigkeit ohne Bewusstsein von Empfänglichkeit und umgekehrt kein Bewusstsein von Empfänglichkeit ohne Bewusstsein von Selbsttätigkeit gibt.61 Das (zeitliche) Selbstbewusstsein ist ein Bewusstsein von Selbsttätigkeit nicht ohne ein Bewusstsein von Empfänglichkeit und ein Bewusstsein von Empfänglichkeit nicht ohne Selbsttätigkeit. Dies folgt aus (3) und (4). Die konstituierende Bedingung des zeitlichen Selbstbewusstseins ist entweder (a) das im zeitlichen Selbstbewusstsein mittelbar erfahrbare Selbst, ohne die mitgesetzte Relation zum anderen, d. h. das im zeitlichen Bewusstsein erfahrbare Bewusstsein von Selbsttätigkeit62 (Dies ist die Möglichkeit eines solipsistisch interpretierten Idealismus) oder (b) die Relation des im zeitlichen Selbstbewusstseins mitgesetzten Anderen oder Teilen dessen zum Selbst, d. h. das im zeitlichen Bewusstsein erfahrbare Bewusstsein von Empfänglichkeit63 (Dies ist die Möglichkeit eines deterministischen Naturalismus) oder (c) sowohl (a) als auch (b), d. h. (5) das (zeitliche) Selbstbewusstsein als Bewusstsein von Selbsttätigkeit nicht ohne Bewusstsein von Empfänglichkeit und das Bewusstsein von Empfänglichkeit nicht ohne Selbsttätigkeit oder (d) absolute Empfänglichkeit von nicht Gegenständlichem (nichtSelbst, nicht-Anderem).64

mengesetzte Gesamtbewußtsein das der Wechselwirkung des Subjekts mit dem mitgesetzten Anderen“. Vgl. Schleiermacher, F., Glaubenslehre, Bd. 1, 27 f: „Denn sagt das Freiheitsgefühl eine aus uns herausgehende Selbsttätigkeit aus: so muß diese einen Gegenstand haben, der uns irgendwie gegeben worden ist, welches aber nicht hat geschehen können ohne eine Einwirkung desselben auf unsere Empfänglichkeit, in jedem solchen Falle ist daher ein zu dem Freiheitsgefühl gehöriges Abhängigkeitsgefühl mitgesetzt, uns also jenes durch dieses begrenzt. […] so kann dies [d.h. ein absolutes Freiheitsgefühl] aus demselben Grunde auf keine Weise von der Einwirkung eines uns irgendwie zu gebenden Gegenstandes ausgehen, denn auf einen solchen würde immer eine Gegenwirkung stattfinden, und auch eine freiwillige Entsagung auf diese würde immer ein Freiheitsgefühl mit einschließen“. Diese These begegnet bei Schleiermacher nur negativ als abgelehnte, siehe Schritt (7) des Argumentationsganges. Diese These begegnet bei Schleiermacher nur negativ als abgelehnte, siehe Schritt (8) des Argumentationsganges. Vgl. Schleiermacher, F., Glaubenslehre, Bd. 1, 23: „Das Gemeinsame aller noch so ver-

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Möglichkeit (6a) ist falsch, wenn (5) wahr ist; (5) ist wahr, also: (6a) ist falsch.65 (8) Möglichkeit (6b) ist falsch, wenn (5) wahr ist; (5) ist wahr, also: (6b) ist falsch.66 (9) Eine Möglichkeit der wechselseitig konstitutiven Konstituiertheit von zeitlichem Bewusstsein von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit bzw. ein Verzicht auf die Konstitutionsfrage ist nicht möglich. M.a.W.: Ex nihilo nihil fit und der Gedanke einer causa sui ist nicht haltbar. (10) Möglichkeit (6c) ist falsch, wenn (9) wahr ist; (9) ist wahr, also: (6c) ist falsch. (11) Daher gilt: Möglichkeit (6d) ist wahr. (7)

Dieser Argumentationsgang ist sicher nicht die einzige Möglichkeit, sich aus §4 zur Formulierung eines Beweises anregen zu lassen. Sie ist formal korrekt. Wir müssen nun auf die Unterschiede dieser Argumentation zu Schleiermacher selbst und deren Konsequenzen hinweisen. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um zwei Sachverhalte. Zum einen: Damit der Beweisgang gelingt, ist die Bildung einer vollständigen Disjunktion in (6) nötig. Die Alternative (6c) hat Schleiermacher jedoch nicht im Blick. Um diese Möglichkeit auszuschließen, ist daher ferner die Prämisse (9), d. h. die Einführung des Prinzips ex nihilo nihil fit und die Ablehnung des Gedankens der causa sui erforderlich, die Schleiermacher ebenfalls nicht erwähnt. Ergänzt man aber (6c) und (9), erscheint die Argumentation als traditionell bekannt, denn es handelt sich bei der gesamten Argumentation (1)–(11) dann um nichts anderes als um eine Variation eines kosmologischen Gottesbeweises. Der Unterschied zu klassischen Gestalten des kosmologischen Gottesbeweises besteht lediglich darin, dass, bildlich gesprochen, eine Form einer klassischen kosmologischen Argumentation in eine Klammer gesetzt wird, vor der als Mulitiplikant die Subjektivität bzw. das Bewusstsein erscheint. M.a.W.: Wir haben es hier mit einer Variante des kosmologischen Gottesbeweises unter dem Paradigma einer bewusstseinstheoretischen Sprache oder Ontologie zu tun, die das Kausalitätsparadigma etwa einer Substanzontologie nicht einfach außer Kraft setzt, sondern erweitert.

schiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind“. 65 Vgl. Schleiermacher, F., Glaubenslehre, Bd. 1, 28: „Das Gegenteil könnte nur eintreten, wenn der Gegenstand überhaupt durch unsere Tätigkeit erst würde, welches aber immer nur beziehungsweise der Fall ist und nie schlechthin“. 66 Vgl. Schleiermacher, F., Glaubenslehre, Bd. 1, 26, „schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl aber […] gibt es in diesem ganzen Gebiete [d.h. im zeitlichen Selbstbewußtsein] nicht“.

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Relationale Selbst-Gründung

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Zum anderen: Ich habe Möglichkeit (6d), also die Option, die bewiesen wird, in einem entscheidenden Punkt anders als Schleiermacher wiedergegeben: Schleiermacher spricht nicht einfach von absoluter Empfänglichkeit, sondern der Sache nach von einem Bewusstsein absoluter Empfänglichkeit (bzw. in textnäherer Terminologie vom unmittelbaren Selbstbewusstsein oder vom Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit). Dieser Unterschied ist signifikant und nicht willkürlich. Er ist nicht willkürlich, weil Schleiermacher in seiner Argumentation nicht erklären kann, warum es sich bei der absoluten Empfänglichkeit um einen bewusstseinstheoretischen Sachverhalt, also um einen irgendwie erfahrbaren Sachverhalt handelt. Schleiermacher setzt dies einfach thetisch. Jedoch ist dies für die Argumentation selbst nicht notwendig. Wenden wir daher das Simplizitätsprinzip an, ist es ausreichend, hier den Bewusstseinsbegriff zu streichen. Wissenschaftstheoretisch stellt also das Element der Subjektivität eine Redundanz dar. Man kann freilich vermuten, warum Schleiermacher dieses Element eben nicht streichen kann: In §3 wurde nämlich das bewusstseinsontologische Paradigma eben als Paradigma etabliert, so dass im Folgenden Schleiermacher darauf verzichtet, die einzelnen Sachverhalte auch deskriptiv als bewusstseinstheoretisch zu erfassende Sachverhalte aufzuweisen. Dieser Unterschied ist des Weiteren höchst signifikant, weil damit die Argumentation in §4 auch mit unseren Ergänzungen weniger aufweist, als intendiert ist, weil es gerade um das Bewusstsein absoluter Empfänglichkeit oder Abhängigkeit, nicht um absolute Abhängigkeit oder Empfänglichkeit selbst geht. Schleiermacher liefert aber nicht nur nicht einen rationalen Aufweis, dass es so etwas gibt, sondern er gibt dafür auch keinen phänomenalen Aufweis. Und damit, so meine These, reduziert sich §4 letztlich auf den Satz: „Es gibt ein dem zeitlichen Selbstbewusstsein zugrundeliegendes absolutes Selbstbewusstsein, das bestimmt ist als Bewusstsein (bzw. Gefühl) absoluter Empfänglichkeit oder Abhängigkeit von Nichtgegenständlichem“. Dieser Satz ist eine bloße Behauptung. Seine Akzeptanz hängt von der Werbung um Plausibilität, von seinem Einleuchten oder auch seinem Offenbarsein ab. Soll der Satz nicht einfach für wahr gehalten werden, wird sich dessen Plausibilität nur durch Erfahrung selbst erweisen lassen – nicht durch eine transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, denn dies ist genau das, was Schleiermacher in §4 versucht und was hier argumentativ rekonstruiert wurde. Damit eine solche transzendentale Reflexion gelänge, wäre aber mehr zu sagen, als Schleiermacher selbst sagt, und ihr Stellenwert für die Erkenntnis Gottes entspräche dem eines klassischen Gottesbeweises. Ich möchte im Folgenden nun nicht versuchen, auf eine solche Erfahrung zu rekurrieren, weil ich Zweifel habe, ob dies gelingen kann. Müsste dazu nicht letztlich jede(!) bewusstseinsbegabte Entität genau diese Erfahrung machen? Aber da es sich dabei um eine Allaussage handelt, lässt sie sich eben durch Erfahrung nicht verifizieren. Sie lässt sich aber durch Erfahrung möglicherweise falsifizieren, denn dazu genügt es, wenn jemand sagen würde, „Mir ist diese Erfahrung fremd“. Und wenn dies

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aufrichtig gesagt wird, ist es aufgrund der Privatheit67 des geforderten Sachverhalts nicht möglich, diese Aussage zu bestreiten. Ich schlage daher vor, für die weitere Untersuchung einen anderen Weg zu wählen, nämlich sich exakt der von Schleiermacher „vergessenen“ Möglichkeit (6c) zuzuwenden und beim „zeitlichen Selbstbewusstsein“, das nur unter dem Begriff der (relativen) Wechselwirkung erfasst werden kann, stehen zu bleiben. Dies geschieht in den folgenden Thesen.

1.4.2 Die konkrete Gestalt des Selbst und ihre relationale Konstitution These 2: Der Inhalt des Selbst wird im symbolischen Interaktionismus, etwa bei G. H. Mead, bei E. Goffman oder bei T. Shibutani sozial konstituiert gesehen. Wir wenden uns nun Theorien zu, die in unterschiedlicher Weise die Konstitution von Selbstbewusstsein in den wechselseitig konstitutiven Weltbeziehungen – d. h. apersonalen und vor allem sozialen Beziehungen – sehen. Am bekanntesten dürfte hier immer noch eine Theorie sein, wie sie sich aus dem Nachlass des amerikanischen Pragmatisten und Vaters der Sozialpsychologie, George Herbert Mead rekonstruieren lässt. Dieser geht davon aus, dass es zum Verständnis eines Self notwendig ist, innerhalb dessen zwei Aspekte, das I und das Me zu unterscheiden. Dabei repräsentiert das I den spontanen Aspekt des Self und ist nur real im sozial konstituierten Me und in der Reaktion externer personaler Relate (des generalisierten Anderen) auf dieses. Damit gehen zum einen immer Aspekte des sozial konstituierten Me in das I über, andererseits bleibt aufgrund der Spontaneität des I immer eine Differenz zwischen I und Me erhalten.68 In einer theologischen Rezeption hat Wolfhart Pannenberg69 diese bleibende Differenz als Unvollständigkeit der Identität des Selbst und gleichzeitig als Tatsache des Selbstbewusstseins benannt, so dass umgekehrt geschlossen werden kann, dass personalen Wesen mit einer je theoretisch vollständigen Identität mit der fehlenden Differenz zwischen I und Me auch kein Selbstbewusstsein zugesprochen werden kann. Unter den vielen weiteren theologischen Rezeptionen dieser Theorie sind u. a. die Verwendungen von Jan Rohls,70 Reiner Preul71 und Konrad Raiser72 zu nennen. 67 Insofern muss gefragt werden, ob Rohls, J., Frömmigkeit, mit der Rekonstruktion von Schleiermachers Ansatz mit Hilfe der Mittel der analytischen Philosophie nicht zumindest auf der richtigen Spur wandelt. 68 Vgl. Mead, G.H., Mind, Self and Society, 135 – 226. 69 Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 465 f; Pannenberg, W., Anthropologie in theologischer Perspektive, 151 – 235; Pannenberg, W., Person und Subjekt; Dieckmann, E., Personalität Gottes – Personalität des Menschen, 66 – 104. 70 Vgl. Rohls, J., Person und Selbstbewußtsein. 71 Vgl. Preul, R., Religion, Bildung, Sozialisation. 72 Vgl. Raiser, K., Identität und Sozialität.

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Während bei Mead in Mind, Self and Society die Theorie der Konstitution des Selbst eher als Nebenaspekt, aber immerhin als vollständige Theorie im Rahmen einer größeren Theorie, erscheint, ändert sich dies in der zweiten Hälfte des 20. Jh. weitgehend. Nun werden im Rahmen der Soziologie vor allem konkrete Sozialisationsprozesse in ausgewählten Situationen erforscht. So geht auf Erving Goffman der Begriff der Identitätsansprüche73 zurück, der sowohl von Philosophen als auch von Theologen zur Bildung einer soziologisch inspirierten Theorie personaler Identität in Anspruch genommen wurde.74 Während es in sekundären Interaktionsbeziehungen um die Kommunikation von für die Identität der Interagierenden nicht wesentlichen Gütern geht, geht es in primären Interaktionsbeziehungen um die wechselseitige Kommunikation von Identitätsansprüchen. Diese Identitätsansprüche werden entweder explizit oder implizit, sprachlich oder nichtsprachlich, an den Interaktionspartner herangetragen oder von ihm gestellt. Dessen eigenes und kommunikatives Verhalten und das des Kommunikationspartners stellt darauf eine Antwort dar, die entweder die Akzeptanz oder Zurückweisung der Identitätsansprüche, und damit auch eine Stärkung oder Verletzung der Identität, bedeutet. Zu beachten ist dabei, dass es sich bei der Distinktion von primären und sekundären Sozialbeziehungen um eine begriffliche Distinktion handelt. In der Realität erscheinen in allen Sozialbeziehungen beide Aspekte, allerdings in unterschiedlichem Maße. Während bei Goffman im Vergleich zu Mead der Fokus weniger auf dem personalen Relat des Self, sondern in den konkreten Interaktionsbeziehungen liegt, betrachtet der japanische Amerikaner Tamotsu Shibutani75 größere Beziehungsgefüge und sieht die personale Identität im Wechselverhältnis mit dem Relationsgefüge der Bezugsgruppe konstituiert. Von drei möglichen vorgeschlagenen Definitionen von Bezugsgruppen (a) als Gruppen, die Orientierungspunkte für Vergleiche bilden, (b) als Gruppen, denen man anzugehören wünscht, und (c) als Gruppen, deren Perspektive man übernimmt, hält Shibutani den letzteren Begriff für den leistungsfähigsten, da er die ersten beiden integrieren kann. Eine Perspektive ist dabei ein Interpretationsrahmen, der jeder Einzelerfahrung vorgängig ist und den der Einzelne benötigt, um Einzelerfahrungen machen zu können. Ebenso ergeben sich normative Internalisierungsprozesse stets im Zusammenspiel zwischen dem Handelnden und den Bezugsgruppen. Handelnde sind dabei zur Ausbildung einer Perspektive notwendig auf Bezugsgruppen angewiesen, die aber von dem konkreten Lebensumfeld des Interagierenden differieren können. Aufgrund unterschiedlicher Bezugsgruppenzugehörigkeit ergibt sich nun für jeden Handelnden eine Multiperspektivität. Diese Einheiten von Handelndem und 73 Vgl. z. B. Goffman, E., Stigma, bes. 9ff und 67 ff. 74 Vgl. Vate, D.v.d.j., Romantic Love; Mìhling, M., Gott ist Liebe, 274 f; Volkmann, S., Zorn Gottes, 30 – 34. 75 Vgl. Shibutani, T., Reference Groups as Perspectives; Shibutani, T., Human Agency.

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Bezugsgruppe, die als soziale Welt(en) zusammengefasst werden können, werden dabei kommunikativ konstituiert und sind damit dynamische Entitäten. Die Individualität sozialer Identität liegt dabei für jeden Handelnden darin, dass sich für ihn diese sozialen Welten in je individueller Weise überschneiden. Dabei sind diese sozialen Welten und Bezugsgruppen aber im Handelnden nicht organisch miteinander verbunden, sondern laut Shibutani wechseln die meisten Personen die Bezugsgruppen segmentiert und führen so ein sektorales Leben. Diese Segmentierung des menschlichen Lebens wird immer dann gefährlich, wenn die einzelnen Bereiche nicht in ein zusammenhängendes Muster integriert werden können. Während einzelne Loyalitätskonflikte durchaus integrationsförderlich sein können, besteht bei einer zunehmenden Segmentierung die Gefahr der Handlungsunfähigkeit. In allen drei genannten Beispielen geht es zunächst um den konkreten Inhalt des zeitlichen Selbstbewusstseins, um das, was gewöhnlich als soziale Identität bezeichnet wird. Während hier eine soziale (und auch biologische) Konstitution unumstritten ist, kann eingewandt werden, dass es hier noch gar nicht um das Problem geht, mit dem sich Schleiermacher beschäftigt, um das Problem nicht des Inhalts des Selbstbewusstseins, sondern um das Problem der Konstitution der Fähigkeit des Selbstbewusstseins, verschiedene Inhalte in kohärenter oder auch inkohärenter Weise ausbilden zu können. Lässt sich diesem Einwand begegnen?

1.4.3 Auch die Konstitution des Selbst ist nur extern relational denkbar These 3: Ansätze der analytischen Philosophie aufnehmend, etwa den des Klassikers P.F. Strawson, kann gezeigt werden, dass auch eine soziale Konstitution des Relats dieser sozialen und physischen Relationen vorliegt, also dessen, was auch die Form oder Fähigkeit von Subjektivität genannt werden könnte. Bei Mead finden sich durchaus Hinweise, die vermuten lassen, dass es ihm um mehr als nur eine Beschreibung des Inhalts sozialer Identität geht, nämlich um das Selbst (Self) als Ganzes, das sich auch in seiner Fähigkeit oder Form im Wechselspiel von Me und I konstituiert. Zumindest legen dies Äußerungen Meads nahe, die den Kontrast zur Kommunikation von apersonalen, lebendigen Entitäten betreffen.76 Gibt es eine Möglichkeit, grundsätzlich zu zeigen, dass in der Vielfalt der Sozialbeziehungen gleichzeitig die Konstitutionsbedingungen der Form des Selbst liegen bzw. der Subjektivität oder des Wissens „Ich bin’s“? Ich denke, dass sich zumindest zeigen lässt, dass die soziale Konstitution eine notwendige Bedingung für die Form der Subjektivität ist. Zu 76 Mead, G.H., Mind, Self and Society, 135 – 144. 164 – 173. 222 – 226, bes. 223: „Our contention is that mind can never find expression, and could never have come into existence at all, except in terms of a social environment“.

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diesem Zweck sei ein sehr bekanntes Gedankenexperiment Strawsons angeführt, mit dem er zeigen will, dass der Personbegriff ein primitiver oder primärer Begriff ist, d. h. ein Begriff mit axiomatischem Status, der insofern gerade nicht dualistisch Körperlichkeit und Geistigkeit auseinanderreißt, sondern gleichursprünglich integriert: „Als ich […] den Begriff eines reinen individuellen Bewußtseins diskutierte, sagte ich, daß er zwar nicht als primärer Begriff existieren […] kann […], daß aber dieser Begriff eine logisch sekundäre Existenz haben könnte: Ausgehend von unserem tatsächlichen Begriffsschema könnte sich jeder von uns ein individuelles Fortbestehen nach dem körperlichen Tode vorstellen. […] Wir brauchen uns nur auszumalen, daß wir Gedanken und Erinnerungen haben […], während wir (a) keinen Körper wahrnehmen, der in demselben Verhältnis zu unseren Erfahrungen stünde wie unser gegenwärtiger Körper, und (b) nicht die Macht haben, den physikalischen Zustand der Welt zu beeinflussen […]. Dann ergeben sich zwei Konsequenzen […]. Die erste Konsequenz: Das strikt körperlose Individuum ist völlig für sich allein; für dieses Individuum wäre die Frage, ob es noch andere Wesen seiner Art gibt, eine gänzlich leere, wenn auch nicht bedeutungslose Spekulation. Die zweite […] Konsequenz ist die, daß das Individuum sich selbst als entkörperlicht, d. h. als eine gewesene Person betrachten muß, um die Idee seiner selbst als eines Individuums beibehalten zu können. Das bedeutet, es muß ihm gelingen, sich immer noch als Mitglied einer Klasse […] von Entitäten zu verstehen, mit denen es nun nicht mehr in jene Interaktionen eintreten kann, deren Vorhandensein in der Vergangenheit die Bedingung dafür war, daß es überhaupt eine Idee seiner selbst hatte. Es hat seitdem gleichsam kein eigenes persönliches Leben mehr zu führen, es lebt im wesentlichen in der Erinnerung an das persönliche Leben, das es früher geführt hat. Oder es müßte, wenn sein eigenes vergangenes Leben an Reiz verliert, eine Art von verdünnter, stellvertretender Existenz annehmen […]. In demselben Maße, wie die Erinnerung verblaßt und dieses stellvertretende Leben langweilig wird, verflüchtigt sich auch der Begriff seiner selbst als eines Individuums. Am Ende dieses Prozesses besteht, vom Gesichtspunkt des Fortbestehens als Individuum aus betrachtet, kein Unterschied mehr zwischen Fortdauer und Beendigung der Erfahrung. Unkörperliches Fortleben mag in dieser Form wohl wenig attraktiv erscheinen. Kein Zweifel, daß aus diesem Grund die Strenggläubigen wohlweislich an der Lehre der körperlichen Auferstehung festhalten.“77

Wir können hier nicht auf diesen locus classicus der Philosophy of Mind im Detail eingehen. Entscheidend scheint mir aber zu sein, dass hier Körperlichkeit in erster Linie als Medium der Interaktion und reziprok-kommunikativen Beziehungshaftigkeit verstanden wird. Damit aber gilt das genannte Beispiel exakt für den Bereich der sozialen Wechselwirkung, den wir hier betrachten: Akzeptiert man das Beispiel, erweist sich soziale Interaktion zu77 Strawson, P.F., Einzelding, 148 f.

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mindest als notwendige Bedingung nicht nur des Bestehens des Inhalts, sondern auch der Form des Selbst, d. h. von Subjekthaftigkeit. These 4: Das individuelle Subjekt wird fragmentiert oder zum Schnittpunkt von Relationen. Muss man mit Goffman eher von bestimmten Situationen und ihren Personen als von bestimmten Personen und ihren Situationen sprechen? Subjektivität erscheint damit sowohl hinsichtlich ihrer Form als auch ihres Inhaltes durch soziale und biologische Wechselwirkung konstituiert und steht in ihrer Wahrnehmung des Selbst genau wie unter dessen begrifflicher Rekonstruktion immer unter der Bedingung der Multiperspektivität. Die damit verbundene Gefahr ist die der Segmentation oder Fragmentisierung des Subjekts. Am einfachsten lässt sich dies wieder auf der Inhaltsebene zeigen. Hinter den verschiedenen Beziehungsperspektiven und Bezugsgruppenzugehörigkeiten, hinter den verschiedenen Rollen, gibt es keine integrierende oder zugrundeliegende Substanz. Das Subjekt ist für seine Handlungsfähigkeit vielmehr darauf angewiesen, dass die Rollenerfahrung irgendwie ein kohärentes Ganzes bildet, in dem Sinne, dass die Rollenkonflikte der Lebenserfahrung nicht zu starken pragmatischen Kontravalenzen führen. Ob mit diesem Konzept auch ein ontologischer Primat des Ereignisses vor der Substanz, der Relation vor dem Relat und der Sozialität vor der Subjektivität verbunden sein muss, dergestalt, dass Subjektivität nun zu einer Funktion von Sozialität wird, ist damit eine weitere Frage, die nicht unbedingt bejaht werden muss. Diese Option scheint Goffman selbst vorzuschweben, wenn er in der Einleitung zu einer Aufsatzsammlung schreibt: „Ich setzte voraus, daß der eigentliche Gegenstand der Interaktion nicht das Individuum und seine Psychologie ist, sondern eher die syntaktischen Beziehungen zwischen den Handlungen verschiedener gleichzeitig anwesender Personen. […] Es geht hier also nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen“.78

M.E. ist dies keine Konsequenz der hier vertretenen Position, ja sogar im Gegenteil: Versteht man das Selbst als Funktion der Sozialität, nicht aber umgekehrt, beschäftigt man sich gerade nicht mit der von Schleiermacher „vergessenen“ Option (6c), sondern würde konsequent in der von ihm sehr wohl besprochenen Option (6b) ankommen, d. h. letztlich im deterministischen Naturalismus. Die Gründe für dessen Ablehnung scheinen mir aber einigermaßen sinnvoll zu sein.

78 Goffman, E., Interaktionsrituale, 8 f. Übrigens gelangt auch Mead, G.H., Mind, Self and Society, 222 – 226, zu der Annahme der ontologischen Vorgängigkeit sozialer Relationen vor der Subjektivität. Auch dies Bedeutet m. E. eine Reduktion der Lösung (6c) auf die Lösung (6b).

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1.4.4 Verabschiedung des „Subjekts“ als quasineutraler Grundkategorie These 5: Unter den genannten Bedingungen kann weder der Begriff des Subjekts noch der der Subjektivität als Fundament für Gotteserkenntnis genutzt werden. Diese These braucht nur dadurch erläutert zu werden, dass sie unter der Bedingung, dass man nach der Möglichkeit einer Erkenntnis Gottes fragt, die logische Konsequenz aus den Thesen 1 – 4 ist. These 6: Zu einer Begründung der Einheit des personalen Relats wird auf den Subjektivitätsbegriff verzichtet. Die Einheit des personalen Relats in der Vielfalt seiner Relationen wird vorausgesetzt. Die Anerkennung der Vielfalt der Relationen und Rollen erfordert die Anerkennung der Vielfalt der Perspektiven der Rekonstruktion und eine Begründung der Form des personalen Relats bzw. von Subjektivität. Diese These stellt noch einmal ein Fazit des bisher Gesagten dar. Problematisch ist hier nur ein Satz: „Die Einheit des personalen Relats in der Vielfalt seiner Relationen wird vorausgesetzt.“ Damit ist gemeint, dass die Einheit des personalen Relats, auch wenn sie nicht in einem unmittelbaren Selbstbewusstsein erfahren werden kann, thetisch angenommen wird. Dennoch verbietet sich die Frage, warum und auf welche Weise diese Einheit des Subjekts angenommen wird, nicht vollständig. Es ist aus pragmatischen Gründen sogar sinnvoll, diese Frage zu stellen, da sie für die Handlungsfähigkeit von Personen nicht unerheblich ist. Man muss sich aber bewusst machen, dass jede Beantwortung dieser Frage nur innerhalb der Klammer der Multiperspektivität erfolgen kann, weil jede begriffliche Rekonstruktion selbst eines Interpretationsrahmens bedarf, der durch das Zusammenspiel verschiedener Perspektiven, die unterschiedlichen Bezugsgruppen entnommen sind, zustande kommt. Für den christlichen Theologen fällt daher an dieser Stelle eine Entscheidung, die sich in folgender These ausdrückt: 1.4.5 Das Selbst des Glaubens These 7: Eine Begründung des Selbst kann nur aus einer Glaubensperspektive, hier der des christlichen Glaubens einschließlich seines Gottesverständnisses und seiner soteriologischen Auffassungen gewonnen werden. Mit dem Hinweis, dass die christliche Perspektive für den Fortgang der Untersuchung gewählt werden soll, ist gemeint, dass wir hier eine Beschränkung unserer Fragestellung einführen und uns nicht mit anderen möglichen Perspektiven, in denen die Fragestellung ebenfalls beantwortet werden könnte, befassen wollen. Mit dem Hinweis, dass es sich dabei um eine christliche Perspektive handelt, ist ausgedrückt, dass auch innerhalb der

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Christlichkeit die Multiperspektivität nicht aufgehoben werden kann, weil es auch hier unterschiedliche Ausprägungen durch verschiedene Subbezugsgruppen (Kirchen, Diskussionsgemeinschaften etc.) gibt. Mit dem Hinweis, dass es sich um eine Perspektive einschließlich Gottesverständnis und Soteriologie handelt, sind stellvertretend zwei Bereiche der Erfassung des Inhalts des christlichen Glaubens für diesen als Ganzen benannt, weil hier die Annahme vertreten wird, dass der christliche Glaube ein zusammenhängendes Ganzes bildet, dessen Inhalte egalitär sind, da es keine mehr oder weniger basalen loci einer Systematischen Theologie gibt. Von basic beliefs des christlichen Glaubens könnte nur insofern gesprochen werden, als sich diese alle als wechselseitig abhängig und eingebettet in die Lebensformen des Glaubens erweisen.79 Man kann diesen Sachverhalt, wenn man will, als den eines holistischen Ganzen beschreiben.80 Daher bilden diese Eingangskapitel des vorliegenden Buches auch keine eigentliche Fundamentaltheologie, sondern verschiedene Zugänge. These 8: Das christliche Wirklichkeitsverständnis kennt in seinem Gottesverständnis das Modell wechselseitig ontisch konstitutiver Relationen zwischen Relaten. Durch den Gedanken der imago dei ist damit ein Modell geliefert, um die Einheit auch des menschlichen personalen Relats innerhalb der Vielfalt seiner Relationen und Rollen zu denken. Christlicher Glaube entsteht, indem in der Verkündigung des Evangeliums sich Gott in der identifizierenden Trinität aufgrund der prototrinitarischen Tiefenstruktur81 der christlichen Erzählung für den Menschen erschließt (empirische Trinität).82 Die Bedingungen der Möglichkeit dieses Geschehens liegen darin, dass sich Gott so erschließt, wie er in sich ist. In der identifizierenden Trinität erscheint eine Verschränkung dreier narrativer Identitätsbeschreibungen Gottes, der Geschichte Jahwes mit seinem Volk, der Geschichte Jesu Christi, in der sich die Gottesherrschaft konkretisiert und der Geschichte Gottes mit der Kirche. Diese Identitätsbeschreibungen können mit dem Namen Gottes – Vater, Sohn und Heiliger Geist – abgekürzt werden.83 Aufgrund von Erfordernissen der Schöpfungslehre, in der der Begriff der creatio ex nihilo mit Colin Gunton so verstanden werden muss, dass für die Schöpfung keine außerhalb Gottes selbst liegenden Voraussetzungen bestehen,84 und aufgrund soteriologischer Erfordernisse der justificatio sola gra-

79 80 81 82

Vgl. Schwçbel, C., God: Action and Revelation, 132 – 156, bes. 146 – 148. Vgl. Grube, D.-M., Unbegründbarkeit Gottes?, 210 ff. Vgl. Schwçbel, C., Gott in Beziehung, 272. Zur begrifflichen Aufspaltung des Begriffs der ökonomischen Trinität in die Begriffe der identifizierenden und empirischen Trinität sowie zur Deutung des Begriffs der immanenten Trinität als individuierter Trinität vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 295 – 326. 83 Vgl. Jenson, R.W., Triune God, bes. 88 f. 84 Vgl. Gunton, C.E., Promise of Trinitarian Theology, 147: „Because God is ,before‘ creation took

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tia,85 ist die Bedingung der Möglichkeit dieses sich selbst erschließenden und identifizierenden Handelns Gottes als sein Sein als individuierte bzw. immanent trinitarische interaktionelle Liebesbeziehung zu verstehen. Die christliche Theologie kann dabei Gottes trinitarisches Sein als Relation dreier göttlicher Relate – das sind die göttlichen Personen – so denken, dass sowohl die drei Relate untereinander als auch die Relate und die Relationen jeweils als wechselseitig konstitutiv bzw. gleichursprünglich oder feldkonstitutiv verstanden werden.86 Damit liefert das christliche Gottesverständnis ein begriffliches Modell für die Rekonstruktion menschlicher Subjektivität, das sich über die anthropologische Argumentation des Menschen als imago dei auch anwenden lässt. So wie sich göttliche Personen und deren Relationen ontisch wechselseitig konstitutiv oder gleichursprünglich verhalten, so verhalten sich auch menschliche personale Relathaftigkeit, d. h. Form und Inhalt von Subjektivität, und die wechselwirkende relationale Sozialität zueinander wechselseitig konstitutiv oder gleichursprünglich. Damit ist der Nachweis erbracht, warum es eine vorausgesetzte Einheit der sozialen Rollen einer Person in kohärenter Weise geben kann.

1.4.6 Die Konstitution des Selbst These 9: Aus dogmatischen Gründen der Schöpfungslehre ist das personale Relat des Menschen durch Gott konstituiert zu denken innerhalb der Vielfalt seiner Relationen. Folglich ist das personale Relat des Menschen nicht in einem dreifach additiven Beziehungsgefüge von Selbst-, Welt- und Gottbezogenheit zu denken, dergestalt, dass der Selbstbeziehung der epistemische Primat und der Gottesbeziehung der ontische Primat zukommt. Vielmehr wird das personale Relat einschließlich dessen Selbstbeziehung ontisch konstitutiv erster Ordnung durch die Summe seiner „Welt“-beziehungen konstituiert. Nun kann die Gottesbeziehung als ontisch konstitutiv zweiter Ordnung für die Summe der Weltbeziehungen und daher auch für die Selbstbeziehung des personalen Relats verstanden werden. Nun stellt sich die Frage, wie die Gottesbeziehung in ihrem Verhältnis zur Welt- und zur Selbstbeziehung des Menschen begrifflich zu rekonstruieren ist. Zwei Möglichkeiten seien genannt, die unter Inanspruchnahme des hier vorliegenden Modells verwehrt sind: Es ist zum einen nicht mehr möglich, alle biologischen und sozialen, ebenso wie alle Bestimmungen der Selbstbezieplace, already a being-in-relation, there is no need for him to create what is other than himself. He does not need to create, because he is already a taxis, order, of loving relations.“ 85 Vgl. Sartorius, E.W.C., Lehre von der Heiligen Liebe, 21 f. 86 Zur begrifflichen und logischen Rekonstruktion des Begriffs der wechselseitigen Konstitutivität oder, was dasselbe sagen will, zum Begriff der Gleichursprünglichkeit oder Feldkonstitutivität vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 338 f.

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hungen des Menschen zu addieren und gemeinsam als defizitär, d. h. als lediglich notwendig für menschliche Subjektivität, zu postulieren, verbunden mit der Behauptung, dieses Beziehungsgefüge erweise sich als ergänzungsbedürftig durch die Gottesbeziehung. Zum anderen sind Verfahren abzulehnen, die die Einheit des Subjekts in dessen Selbstbeziehung sehen und durch eine transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeiten dieser Selbstbeziehung auf eine Gottesbeziehung schließen. Vielmehr hat man zuzugestehen, dass das personale Relat des Menschen einschließlich dessen Selbstbeziehung, d. h. dessen Subjektivität, in ontisch wechselseitig konstitutiver Relation zum welthaften Anderen steht. Diese Konstitutionsbeziehung kann als ontisch erster Ordnung beschrieben werden, weil wir noch eine Konstitutionsbeziehung ontisch zweiter Ordnung unterscheiden können: Aufgrund von Erfordernissen des christlichen Schöpfungsglaubens lässt sich nämlich eine konstitutive Beziehung Gottes zur Welt dergestalt aussagen, dass Gottes Welthandeln hinreichende Bedingung der Existenz welthafter Ereignisse und notwendige Bedingung des Geschehens aller partikularen, welthaften Ereignisse ist.87 Infolgedessen muss auch die relationale wechselseitig konstitutive Einheit von Sozialität und Subjektivität als Ganze in dieser schöpferischen Abhängigkeitsbeziehung zum Welthandeln Gottes gedacht werden. Wir nennen dies „ontisch konstitutiv zweiter Ordnung“, weil es von der „ontischen Konstitutivität erster Ordnung“ dadurch unterschieden ist, dass diese Beziehung empirisch nicht erfahrbar ist, mit Ausnahme des Rechtfertigungsglaubens.88 Damit kommen wir zu folgender Schlussfolgerung und somit zur Kernthese: These 10: Nicht die Selbstgewissheit begründet die Gottesgewissheit, sondern der Glauben an den trinitarischen Gott begründet den Glauben an die Einheit des Selbst. Die Trinitätslehre ist die inhaltliche Bedingung der Möglichkeit jeglicher transzendentalistischen Grundlegung der Theologie. Diese Kernthese besagt in anderen Worten: Es muss erst an Gott geglaubt werden, damit ich an mich selbst glauben kann. Dies gilt dabei hinsichtlich beider Aspekte der Subjektivität, sowohl hinsichtlich der Form der Subjektivität, d. h. bezüglich der Fähigkeit der Subjekthaftigkeit, als auch hinsichtlich des Inhalts der Subjektivität, d. h. bezüglich der kohärenten Einheit der Identität innerhalb der Vielfalt der Rollen der mannigfachen Sozialbeziehungen einschließlich deren Konflikte. Die These gilt bezüglich der Form der 87 Vgl. dazu die zwar an einem entscheidenden Punkt leicht zu korrigierende, dennoch aber auch nach über 30 Jahren noch herausragende Argumentation von Wçlfel, E., Welt als Schöpfung, 20 – 35. Diese Argumentation ist zu modifizieren, weil Wölfel nicht zwischen Gottes Handeln und Sein an sich einerseits und Gottes Welthandeln (d. h. Gottes Handeln an der Welt in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung) andererseits unterscheidet. 88 Diese Rede von ontischer Konstitutivität erster Ordnung und ontischer Konstitutivität zweiter Ordnung kann durchaus mit der klassischen thomasisch-thomistischen Rede von den causae secundae und der causa prima strukturanalog gesehen werden.

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Subjektivität, weil der christliche Glaube durchaus die von Schleiermacher „vergessene“ Möglichkeit wechselseitiger Konstitutivität in mannigfacher Weise, an hervorragender Stelle im Rahmen seines Gottesverständnisses, kennt. Die These gilt aber, und das dürfte praktisch von größerer Bedeutung sein, auch bezüglich des Inhalts der Subjektivität in der Identität der sozialen Rollen. Im zeitlichen Selbstbewusstsein sind die aufgrund unserer Angehörigkeit zu verschiedenen Bezugsgruppen gehörenden, unterschiedlichen Rollen notwendig segmentiert und unabgeschlossen. Wenn Christen auf den dreieinigen Gott vertrauen als „das, was die Zeit zusammen hält“89, können sie auch darauf vertrauen, dass dieser Gott sich als Garant der Einheit der menschlichen Identität erweisen wird, aller erfahrenen Segmentierung und allen Rollenkonflikten zum Trotz. Die Einheit des menschlichen Subjekts erweist sich so als zugesprochene Einheit, als externe oder fremde Einheit des eigenen Selbst, die nicht anders als in der promissio ergriffen wird. These 11: Die Multiperspektivität der Begründung personaler Relate fordert freilich auch die Anerkennung des relativen Rechts der Begründung durch Subjektivitätstheorien. Man kann zwar nicht von der universal erfahrbaren Selbstgewissheit notwendig auf eine Gottesgewissheit schließen, aber es ist möglich, eine pragmatisch angenommene reflexive Beziehung des personalen Relats zum Aufweis einer Gottesbeziehung zu nutzen. Die Argumentation hat dann eine ähnliche Funktion wie die klassischen Gottesbeweise: Aufweise von Kohärenz. Mit These 10 ist der Argumentationsgang dieses Kapitels zu seinem inhaltlichen Ende gekommen. Es seien hier aber noch drei Thesen, eine formale und zwei inhaltliche, angefügt. Zunächst die formale: Wir hatten darauf hingewiesen, dass auch innerhalb einer christlichen Rekonstruktion von Subjektivität eine Multiperspektivität nicht auszuschließen ist. Daher ist auch das relative Recht von Subjektivitätstheorien, wie sie exemplarisch an These 1 vorgeführt wurden, zuzugestehen: Wer nicht mit dieser trinitätstheologischen Begründung von Subjektivität zurechtkommt, für den mag die transzendentaltheoretische Subjektivitätsbegründung einen Wert haben und u. U. durchaus plausibel erscheinen. Diese Plausibilität ist dann aber tatsächlich einer wichtigen Funktion von klassischen Gottesbeweisen analog: des argumenta-

89 Vgl. R. W. Jenson, R.W., ST I, 54 f: „gods are eternities of a certain sort […]. Just so also our actions and with them our lives threaten to fall or to be torn between past and future, to become fantastic or empty, unplotted sequences of occurrence that merely happen to befall certain otherwise constituted entities. Human life is possible only if past and future are bracketed by reality that reconciles them in present meaning […]. Humanity calls such an embrace around time ,eternity‘, as some functional translation of this word appears in any moral-religious language. […] The chief diagnostic question about a religion is, therefore, What eternity does it posit? As some religions answer that question, a second question presses: Can we hear and speak to the posited eternity? If we can, that religion has a God or gods“.

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tiven Nachweises von Kohärenz.90 Nicht mehr und nicht weniger. D.h., dass auf eine fundamentaltheologische Basalität von Subjektivitätstheorien verzichtet werden kann. These 12: Dieses Konzept hätte nicht nur dogmatische Voraussetzungen, sondern auch dogmatische Implikationen für die Darstellung der Rechtfertigungslehre, der Anthropologie und z. T. auch für die Ethik, denn die Person kann nun nicht mehr so leicht von der Summe ihrer Handlungen und ihres Erleidens getrennt werden. Hier warten Aufgaben auf die Theologie. Nun zur ersten inhaltlichen Ergänzungsthese. Sie betrifft die binnentheologische Theoriebildung. Ist die von Schleiermacher „vergessene“ Lösung, die wir hier vertreten, richtig, gibt es hinter den Rollen und damit hinter dem Tun und dem Erleiden von Personen keine Personsubstanz. Die Person ist zunächst einmal das, was sie tut und erleidet. Wie in Gott Handeln und Sein koinzidieren, so koinzidieren Handeln und Sein auch anthropologisch im Menschen. Daher kann die Predigt der Rechtfertigungsbotschaft nicht auf den Aufweis allgemeiner anthropologischer Konstanten und allgemeiner, etwa fundamentalanthropologisch als existential zu benennender Konstanten verweisen, weil dann die Rechtfertigung als analytisches Urteil des Menschseins verstanden wäre. Dies ist durchaus eine praktische und ernste Sache: Wer sonntags immer nur zu hören bekommt, dass er sowieso liebend von Gott angenommen ist, unabhängig vom Handeln und Erleiden montags bis samstags, wird die Rechtfertigungsbotschaft kaum als ernstzunehmende Antwort auf seine Nöte empfinden. Der Verharmlosung der Sündhaftigkeit in der Sichtweise der Rechtfertigung als analytischen Urteils über das Menschsein entspricht nicht so sehr die Verharmlosung der Schuld der Sünde, als vielmehr die gleichzeitige Verharmlosung des Leidens an der Sünde. Die theoretisch-protologische Identität von anthropologischem Handeln und Sein hat freilich nicht das letzte Wort. Sie ist eine begriffliche Abstraktion von der narrativen Wirklichkeit des Menschseins in, mit und unter der Liebesgeschichte Gott. Es gilt daher darauf hinzuweisen, dass die theologisch zu Recht betonte Unterscheidung von Sünder und Sünde (bzw. die darin implizierte Unterscheidung von menschlicher Person und ihren Handlungen) – nach der gerade Gottes Zorn als Implikat (!) seiner durch die Sünde verletzten Liebe nicht zur Vernichtung des Sünders führt91 – etwas ist, das narrativ soteriologisch gewonnen wird, indem Gott sich selbst diese Unterscheidung im Versöhnungsgeschehen am Kreuz abringt, und die erst aufgrund des Heilsereignisses des Kreuzes und der Konkarnation des Geistes dem Menschen kommunikativ zugesprochen wird. Dies macht die Unterscheidung nicht weniger real – es sichert vielmehr ihre nur narrativ und prozessual verstehbare Objektivität. 90 Vgl. Mìhling, M., Art. Gottesbeweise II. Fundamentaltheologisch. 91 Vgl. z. B. H•rle, W., Dogmatik, 268.

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Theologischer Schriftgebrauch

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These 13: Eine Aufgabe für den sich im interreligiösen Dialog befindlichen Christen hinsichtlich der Frage nach der Subjektivität besteht darin, nach Funktionsäquivalenzen der Begründung von Subjektivität in anderen Religionen und Weltanschauungen zu suchen und mit deren Vertretern darüber zu kommunizieren. Die zweite inhaltlichen Ergänzungsthese: These 7 ist aus einer innerchristlichen Perspektive formuliert. Daher gilt es, mit anderen perspektivischen Rekonstruktionen von Subjektivität in ein Gespräch zu kommen. Und dies heißt zunächst zuzuhören, ob es nicht in anderen Religionen und Weltanschauungen Funktionsäquivalente der Begründung menschlicher Subjektivität gibt und notfalls auch darüber zu streiten. Weltanschaulich neutrale Begründungen von Subjektivität gibt es nicht. Auf alle Fälle hat sich gezeigt, dass christlicherseits von den Begriffen des Selbst, der Subjektivität und des Subjekts nur innerhalb des Ganzen des christlichen Wirklichkeitsverständnisses gesprochen werden kann.

1.5 Theologischer Schriftgebrauch Voraussetzungslose Exegese ist genauso unmöglich wie schriftlose Dogmatik. Der interpretative Umgang mit Schrifttexten hat daher immer auch seine eigenen, nicht-exegetischen Voraussetzungen mit zu thematisieren. Spielt aber die Schrift – bzw. korrekter der interpretative Umgang mit Texten der Schrift in der mündlichen Kommunikation der Kirche – eine notwendige Rolle in der Selbstvergegenwärtigung Gottes, wird es sich dabei nicht um rein historistische Voraussetzungen handeln können, sondern um solche, die in Konkordanz mit dieser Selbstvergegenwärtigungspraxis stehen bzw. zumindest den Anspruch zum Ausdruck bringen, dies zu tun. Aus Gründen der wissenschaftlichen Redlichkeit gebietet es sich ferner, diese inhaltlich immer schon bestimmten Voraussetzungen nicht zu vermeiden, sondern zu explizieren. Gemeinhin geschieht dies, indem man auf Luthers Kanonizitätskriterium verweist: Die Auslegung habe sich daran zu orientieren, „was Christum treibet“.92 Insbesondere bei alttestamentlichen Texten erscheint dies aber aus verschiedenen Gründen nicht einfach: Bedeutet dies nicht erstens einen Verzicht auf die historisch-kritische Methode oder reduziert es diese nicht zumindest auf die Fingerübungen eines Glasperlenspielers, der gleich Joseph Knecht das wirkliche Leben erst noch entdecken muss? Und bedeutet dieses Verfahren zweitens nicht auch angesichts des gegenwärtigen interreligiösen Dialogs, dass man eine mögliche jüdische Interpretationshoheit alttestamentlicher Texte bestreiten muss? Ist schließlich drittens damit nicht relativistischen Beliebigkeitsinterpretationen, die die Wahrheitsfrage nicht mehr zu 92 Luther, M., WA DB 7, 384,26.

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stellen brauchen, Tür und Tor geöffnet? Alle drei Gefahren bestehen zwar, aber nicht notwendigerweise: Erstens: Wenn sich Gott tatsächlich durch Inanspruchnahme der menschlichen Interpretation von Schrifttexten selbst vergegenwärtigt, dann ist in einer Hermeneutik des Vertrauens davon auszugehen, dass dies auch in historisch unterschiedlichen Interpretationskontexten geschieht: Sowohl in denen der Umwelt der Entstehung alttestamentlicher Texte, in denen ihrer Kanonwerdung und in den unterschiedlichen Kontexten ihres kirchlichen Gebrauchs. Diese Kontexte historisch zu kennen und zu erforschen – also die verschiedenen Methoden anzuwenden, die man als „historisch-kritische Methode“ bezeichnen mag – spricht also keineswegs gegen die interpretative Voraussetzung, dass eine christliche Auslegung vom Heiligen Geist geleitet sei. Vielmehr setzt genau diese Voraussetzung die historisch-kritische Methode in ihr Recht: Vergegenwärtigt sich Gott im Heiligen Geist unter Zuhilfenahme der Schriftinterpretationspraxis tatsächlich, geschieht dies notwendig in unterschiedlichen historischen Interpretationskontexten. Diese zu kennen, bedeutet daher auch, die Selbstvergegenwärtigungspraxis des Heiligen Geistes anzuerkennen. Umgekehrt würde eine Ablehnung der historisch-kritischen Methode bedeuten, dem Heiligen Geist gerade nicht diese Selbstvergegenwärtigung in unterschiedlichen historischen Situationen zuzutrauen. Strenge Literalisten misstrauen Gott dem Heiligen Geist. Da der Geist aber Christus vergegenwärtigt, trägt man an die entsprechenden Texte mit der Auslegungsregel „was Christum treibet“ nichts den Texten Fremdes heran, sondern etwas, das – wenn vielleicht auch verborgen – allen historischen Interpretationssituationen der Texte inhärent ist. Die historisch-kritische Methode ist also nicht verzichtbar. Allerdings wird man unter den genannten Voraussetzungen auch sagen müssen: Wird sie nur verwendet, um die Entstehungssituation von biblischen Texten zu erfassen, ist sie fehlgeleitet, denn die historische Entstehungssituation eines Textes oder seine Vorgeschichte ist in keiner Weise eine ausgezeichnete Situation in dieser Interpretationspraxis des Umgangs mit Texten – genausowenig wie die Situation der endgültigen Kanonwerdung.93 Da man kaum alle Interpretationskontexte berücksichtigen kann, folgt daraus, dass es wünschenswert ist, bestimmte exemplarische Interpretationskontexte heranzuziehen. Dabei erscheint, zumindest für den systematischen Theologen, die Anwendung der historisch-kritischen Methode selbst als ein solcher historisch-kontingenter Interpretationskontext. Zweitens: Eine jüdische, d. h. nicht im Lichte Christi geschehende Interpretation alttestamentlicher Texte ist damit natürlich keineswegs ausgeschlossen. Im Gegenteil wird man erkennen, dass jüdische Interpretationen ebenfalls in unterschiedlichen historischen Interpretationskontexten geschehen. Der interreligiöse Dialog erscheint dadurch zumindest spannend, da man sich hier auf eine gemeinsame Textgrundlage einer unterschiedlichen 93 Vgl. Childs, B.S., Theologie der einen Bibel, Bd. 2, 444.

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Interpratationspraxis berufen kann. Falsch wäre es allerdings, von einer jüdischen Interpretationshoheit zu sprechen. Denn die Geschichte der Interpretationspraxis des Judentums als die einer (aus seiner Sichtweise streng) anderen Religion steht in keiner höheren Dignität als die des Christentums. Wenn sich heute Christentum und Judentum interpretativ auf die gleichen Texte beziehen, dann zeigt dies offensichtlich eine gegenwärtig synchrone Mehrfachcodierung der Texte, die auch innerhalb der Interpretationsgeschichte einer einzelnen Tradition diachron vorhanden ist und die schon in der Entstehungsgeschichte und in der Semantik der Texte angelegt ist. Drittens: Mehrfachcodierungen – d. h. hier die Berücksichtigung unterschiedlicher Interpretationskontexte sowie die Interpretation biblischer Texte unter expliziter Angabe der inhaltlichen Voraussetzungen – führen keineswegs in einen beliebigen Relativismus, zumindest dann nicht, wenn von der inhaltlichen Voraussetzung ausgegangen wird, dass sich Gott in seiner Selbstvergegenwärtigungspraxis treu ist, so dass im Handeln Gottes eine Kohärenz besteht – wenn diese auch nicht unbedingt dem Menschen erkennbar sein muss. Für den systematisch-theologischen Umgang mit alttestamentlichen Texten folgt daher erstens, dass der Umgang unter einer Hermeneutik des Vertrauens der Selbstvergegenwärtigungspraxis Gottes geschehen kann, zweitens, dass sich diese Praxis auf unterschiedliche, exemplarische Interpretationskontexte beziehen sollte, und drittens, dass die dabei erscheinenden Mehrfachcodierungen nicht reduziert werden müssen. Viertens sollten die inhaltlichen Voraussetzungen der Interpretationspraxis offengelegt werden. Man mag einwenden, in der Theorie erscheine dies leicht, nicht jedoch in der Interpretationspraxis selbst. Daher sei im Folgenden ein Beispiel einer solchen systematisch-theologischen Interpretation eines biblischen Textes geboten. Gewählt wurde hier Gen 18, da es sich dabei um einen Text handelt, der die genannten Probleme exemplarisch erscheinen lässt. Kommt das, „was Christum treibet“, wirklich auch in Gen 18 als Beispiel eines besonders widerständigen Textes zum Ausdruck? Als historische Interpretationssituationen werden dabei erstens die stellvertretend für die westliche Interpretationspraxis exemplarische Auslegung Augustins angeführt, zweitens Grundzüge der gegenwärtigen historisch-kritischen Interpretationspraxis von Gen 18 und drittens Grundzüge der Interpretation der Trinitätsikone in der ostkirchlichen Praxis. Die systematisch-theologische Frage nach der Möglichkeit einer Kriteriologie im Anschluss an die Perikope Gen 18 und deren ikonenhafter Interpretation bildet den Hauptteil, um abschließend Kriterien für gelungene kirchliche Praxis im Zusammenhang mit dem Umgang mit Texten zu benennen.

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1.5.1 Reduktion semantischer Mehrfachcodierungen von Gen 18 in der Tradition am Beispiel Augustins In der Tradition bestimmte vor allem die Frage, wer in Gen 18 bei Abraham zu Besuch kommt, die Diskussion. Diese Identifikationsproblematik soll hier anhand Augustins De Trinitate stellvertretend für die westliche Tradition kurz veranschaulicht werden. Für Augustin ist es letztlich kein Problem, ob es sich in Gen 18 um den Vater allein, den Vater in Begleitung zweier Männer, den Vater in Begleitung zweier Engel, um alle Personen der Trinität, um den Sohn in Begleitung zweier Engel oder Männer etc. handelt. Dieses Problem wird auch nicht nur anhand von Gen 18 diskutiert, sondern stellt sich vielmehr immer, wenn biblisch, insbesondere im Alten Testament von Gott anthropomorph oder welthaft gesprochen wird, und das bezieht sich auch auf die Rede von Gott etwa in Gen 1, Ex 3 oder Dan 7. Gerade dort, wo in der Vulgata nur von dominus die Rede ist, bestehen Schwierigkeiten. Augustin kann diese Stellen des AT, in denen im MT von jhwh die Rede ist, nicht einfach mit dem Vater identifizieren, aus einem doppelten Grund: Erstens versteht Augustin Gott in neuplatonischer Weise als unveränderlich und unsichtbar, was ein literales Verständnis dieser biblischen Redeweise von Gott eigentlich nicht zulässt. Zweitens ist Augustin und die auf ihm fußende Tradition für eine gewisse modalistische und damit die Trinitätslehre marginalisierende Tendenz des Westens verantwortlich.94 Exemplarisch seien Augustins Ausführungen zu Gen 18 angeführt, die alles andere als naiv sind, weil sie sich der literarischen Schwierigkeiten und der Möglichkeit eines unterschiedlichen mehrfachen Verständnisses des Textes wohl bewusst sind: „Unter der Eiche von Mamre aber sah er drei Männer, die er einlud und in Gastfreundschaft aufnahm, bewirtete und bediente. Wo jedoch die Schrift die Erzählung dieses Vorgangs beginnt, sagt sie nicht: ,Es sind ihm drei Männer erschienen‘, sondern: ,Es erschien ihm der Herr.‘ Als sie dann weiter auseinanderlegt, wie ihm der Herr erschien, bringt sie die Erzählung von den drei Männern, welche Abraham in der Mehrzahl einlädt, seine Gäste zu sein. Später redet er sie in der Einzahl an, wie wenn es einer wäre. Und wie wenn es ein einziger wäre, verspricht er ihm von Sara einen Sohn. Die Schrift nennt ihn Herrn, wie sie zu Beginn der Erzählung sagt: ,Der Herr erschien Abraham.‘ Abraham lädt also ein, wäscht die Füße und gibt beim Weggang das Geleite, wie wenn es sich um Menschen handelte. Er spricht aber mit ihnen wie mit Gott dem Herrn, sowohl als ihm ein Sohn verheißen wie auch als ihm der bevorstehende Untergang Sodoms angekündigt wurde. Weder oberflächlich noch flüchtig darf die Überlegung sein, welche diese Erzählung der Schrift fordert. Wenn nämlich nur ein Mann erschienen wäre, was anders würden dann die, welche vom 94 Vgl. dazu Mìhling, M., Gott ist Liebe, 77 – 101.

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Sohne behaupten, daß er auch schon vor der Geburt aus der Jungfrau in seiner Substanz sichtbar gewesen sei, schreien, als daß er erschienen sei. […] Oder handelte es sich um gar keine wirkliche Erscheinung? So könnte ich fragen, wenn Abraham die Erscheinung nur eines Mannes gehabt hätte und man glauben würde, daß dieser der Sohn Gottes war. Nun sind aber drei Männer erschienen, und von keinem wird erzählt, daß er an Gestalt, an Alter oder Macht die anderen überragt habe. Warum sollte man da nicht annehmen, daß hier durch sichtbare, geschöpfliche Gebilde [!] die Gleichheit der Dreieinigkeit und die Gleichheit und Dieselbigkeit der Substanz in den drei Personen angedeutet und veranschaulicht werden soll? Damit nämlich niemand auf die Meinung komme, es solle einem von den dreien ein Übergewicht vor den beiden anderen zugemessen werden und dieser solle für den Herrn, den Sohn Gottes, gehalten werden, während die beiden anderen seine Engel seien, weil Abraham nur einen als Herrn ansprach, wo doch drei erschienen sind, unterließ es die Heilige Schrift nicht, derartigen späteren Vorstellungen und Vermutungen im voraus zu widersprechen und entgegenzutreten. Sie tut es, wenn sie gleich nachher erzählt, daß zwei Engel zu Lot kamen. Auch von ihnen spricht dieser Gerechte, der von der Einäscherung Sodoms gerettet zu werden verdiente, einen als Herrn an“.95

Augustins Lösung besteht nun darin, dass Gott in der Welt erstursächlich durch seinen Willen handelt und dadurch auch materielle weltliche Manifestationen bewirken kann.96 Im Falle von allen Epiphanien – und Augustin zählt darunter alle Rede von Gott, in der alttestamentlich von Gott als Handelndem die Rede ist, bis hin zu den Wortereignisformeln an die Propheten –, liefert letztlich Gen 18 die angedeutete Lösung: „Daher ist die Substanz oder, wenn man besser diesen Ausdruck verwendet, das Wesen Gottes, wo uns nach unserem bescheidenen Maße ein ganz schmaler Blick auf den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist vergönnt ist, da es in keiner Weise wandelbar ist, in keiner Weise in sich selbst sichtbar. Es ist sonach offenkundig, daß alle Erscheinungen, welche die Väter hatten, in denen ihnen die Gegenwart Gottes nach seinen dem Zeitenlauf angepaßten Verfügungen bekundet wurde, durch Geschöpfe erfolgten. Wenn uns auch verborgen ist, welche Dienste dabei die Engel leisteten, daß jedoch die Erscheinungen durch Engel geschahen, das behaupten wir nicht nach unserem eigenen Sinn […].“97

Einwände aufgrund anderer literaler Aussagen des Textes begegnet Augustin mit dem Verweis auf substitutionelle Rede: „Aber, so wird mancher sagen, warum steht dann geschrieben: ,Es sprach der Herr zu Moses‘, und nicht vielmehr : Es sprach der Engel zu Moses? Doch wohl weil, wenn ein

95 Augustinus, A., trin., CChr.SL 50, 2,10 f (Übersetzung BKV). 96 Vgl. Augustinus, A., trin., CChr.SL 50, 3,2 – 4.9. 97 Augustinus, A., trin., CChr.SL 50, 3,11 (Übersetzung BKV).

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Bote die Worte des Richters verkündet, man in den Berichten hierüber nicht schreibt: Jener Bote sagte, sondern: Jener Richter.“98

Augustin bezieht sich explizit noch einmal auf Gen 18 als hermeneutischen Schlüssel für dieses generelle Problem: „Die Schrift sagt doch auch an einer anderen Stelle: ,Es erschien ihm aber Gott bei der Eiche Mamres, als er um die Mittagszeit am Eingang seines Zeltes saß‘, und doch fährt sie weiter : ,Als er aber die Augen erhob und um sich blickte, siehe, da standen drei Männer vor ihm‘ — darüber haben wir schon gesprochen. Wie werden jene, die entweder von den Worten nicht zum Sinn aufsteigen wollen oder vom Sinn leicht in die Worte abstürzen, wie werden jene erklären können, daß in drei Männern Gott erschien, wenn sie nicht zugeben, daß diese Männer, wie ja auch der weitere Zusammenhang lehrt, Engel waren?“99

Wir halten fest: – Für Augustin ist Gen 18 hinsichtlich der Rede von Gott keine Ausnahme im Alten Testament, sondern ein exemplarisches Beispiel, das als hermeneutischer Schlüssel dient. – Augustin liefert keine naive Identifikation der Geschichte etwa mit den drei göttlichen Personen, vielmehr ist er sich der Möglichkeit einer semantischen Mehrfachcodierung bewusst. Diese Möglichkeit wird freilich zugunsten einer einfachen Codierung, nicht nur dieses Textes sondern aller „Epiphanien“, reduziert. – Augustins Deutung ist, obwohl er Bekanntschaft mit den literarischen Problemen des Identifikationsproblems zu erkennen gibt, tendenziös von seinem neuplatonischen Hintergrund her zu verstehen, dem sich der biblische Text mehr oder weniger beugen muss und der zu einer eindeutigen Lösung führt: Außer in der Sendung des Sohnes in der Inkarnation und der Sendung des Geistes nach Pfingsten meinen die biblischen, insbesondere alttestamentlichen Berichte ausschließlich Engel, die den Willen des unveränderlichen und unsichtbaren Gottes mitteilen.

1.5.2 Semantische Mehrfachcodierungen anhand von Gen 18 am Beispiel der historischen Forschung Selbstverständlich stößt auch die historische Forschung auf die semantische Mehrfachcodierung des Textes. Wir veranschaulichen dies an der Identifikationsproblematik der Besucher, an dem Erzählziel des Textes und dessen Zusammenhang im Pentateuch an ausgesuchten Beispielen.100 98 Augustinus, A., trin., CChr.SL 50, 3,11 (Übersetzung BKV). 99 Augustinus, A., trin., CChr.SL 50, 3.11 (Übersetzung BKV). 100 Die entsprechenden Hinweise verdanke ich Mìhling, A., Blickt auf Abraham, 28 ff.

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(1) Die Frage, wer in Gen 18 überhaupt zu Abraham zu Besuch kommt, die die Tradition bestimmt hat, wird von der historischen Forschung auf ihre Weise angesichts der Deutung eines Singular- und Pluralbefundes auf unterschiedliche Weise nachvollzogen: Gunkel sah Gen 18 ursprünglich im Abraham-Lot-Sagenkreis an Gen 13 anschließen und er vermutete, in Gen 18 liege ähnlich der griechischen Orionsage – Orion wird seinem Vater Hyrieus, nach dem Besuch dreier griechischer Götter aus der mit Göttersamen befruchteten Erde geboren – eine vorjahwistische, gemeinorientalische Erzählung eines Besuchs dreier Götter zugrunde, die im Laufe der Zeit zu Männern entpotenziert worden seien. Das in der heutigen Fassung deutliche Changieren zwischen Singular und Plural der Besucher sei auf die Einführung des Singulars im Zuge fortschreitender Jahweisierung zurückzuführen.101 Die semantische These, die dahinter steht, betrifft also eine fortlaufende Entpolytheisierung und Jahweisierung als Pointe der Geschichte. Genau umgekehrt hat Fripp argumentiert: Die Pluralschicht sei nachträglich zur Singularschicht hinzugekommen. Die semantische Pointe besteht dann darin, dass Jahwe als Handelnder unter den drei Männern versteckt werden sollte.102

(2) Auch die Frage nach dem erzählerischen Zweck des göttlichen Besuchs wurde unterschiedlich gedeutet mit unterschiedlichen semantischen Pointen: Die Tatsache der Singular- bzw. Pluralform des Textes und die Vermutung, dass die Bewirtungsszene der drei Besucher von der Sohnesverheißung unabhängig sein könnte, hat Anlass zu unterschiedlichen Thesen der literarischen Trennung gegeben103 – u. a. sogar zu der These, dass es zwei ursprünglich selbstständige Erzählungen gewesen seien104 –, die allerdings nicht zwingend sind und sich auch nicht durchsetzen konnten.105 Je nachdem, ob und welche Trennung man hier vornehmen will, wird man zu einer anderen Genese des Textes und damit zu einem veränderten semantischen Gehalt kommen: So kann z. B. die semantische Pointe der Geschichte darin gesehen werden, dass die Sohnesverheißung als Belohnung oder auch nur Dankeschön der drei Männer für ein von Abraham perfekt und untadelig aufgetragenes Gastmahl gesehen wird.106 Umgekehrt kann aber angenommen werden, dass der Zweck des Besuchs auf die Sohnesverheißung abzielte und damit gerade nicht durch Abrahams Leistung als Gastgeber inauguriert oder auch nur bestätigt wurde.107 101 102 103 104 105 106 107

Vgl. Gunkel, H., Genesis, 193 – 200. Vgl. Fripp, E.I., Genesis 18.19. Vgl. Levin, C., Jahwist, 153 f; Seters, J.v., Abraham, 211. Vgl. beispielsweise Westermann, C., Genesis, BK 2, 332. Vgl. Blum, E., Die Komposition der Vätergeschichte, 276 f. Vgl. Gunkel, H., Genesis, 193 f; Blum, E., Die Komposition der Vätergeschichte, 275. Vgl. Rad, G.v., Genesis, 164.

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(3) Anders als die Hinweise, die auf eine vorjahwistische und alte Sage deuten, gibt es im MTauch Hinweise, die anderes andeuten. In Gen 18,6 – 8 ist nämlich von dargereichten Speisen die Rede, die von den priesterschriftlichen Opfergesetzen in Num 15,8 f beeinflusst sein dürften. Dieser Befund lässt sich unterschiedlich deuten: Man kann an einen späten textkritischen Nachtrag denken, zumal die LXX hier eine andere Lesart bietet,108 oder man kann noch kühner andere Beobachtungen integrierend davon ausgehen, dass Gen 18 erst insgesamt nachpriesterschriftlich entstanden ist und priesterschriftliche Theologie in erzählerischer Weise deuten will.109 Die semantische Pointe besteht darin, dass entweder der Text als erzählerische Illustration priesterschriftlicher Theologie zweifelsfrei auch dienen konnte oder sogar dafür entworfen wurde, unabhängig, welche genetische Deutung man hier für wahrscheinlicher hält.

Die aufgeführten Beispiele mögen zur Illustration genügen, dass es sich bei Gen 18 um einen semantisch mehrfach codierten Text handelt, dessen Polysemantik freilich erst unter Einbeziehung der pragmatischen Dimension, also unter Einbezug der Deutungen des kirchlichen bzw. wissenschaftlichen Gebrauchs deutlich wird. Freilich kann von einer Größe „Text“ unter Absehung der Textbenutzer zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten gar nicht gesprochen werden, so dass Autoren, Redaktoren, der Kanon der hebräischen Bibel und sein Text sowie kirchliche oder wissenschaftliche Interpreten aus semiotischer Sicht erst den Text als Text konstituieren. Die Polysemantik des Textes ergibt sich dabei im Unterschied zur augustinischen Tradition in der Regel nicht aus den Ergebnissen einzelner Forscher, sondern lediglich daraus, dass es hinsichtlich der wissenschaftlichen Interpretation nie zu einem Konsens, sondern höchstens zu mehr oder weniger wahrscheinlichen Mehrheitsmeinungen gekommen ist, die immer wieder anhand des Textbefundes selbst oder durch neue Interpretationen in Frage gestellt werden konnten.

1.5.3 Mehrfachcodierungen anhand des Beispiels der auf Gen 18 Bezug nehmenden Trinitätsikone aus der (ost)kirchlichen Praxis In der kirchlichen Praxis der Ostkirche ist bis heute die Ikonenverehrung verbreitet. Eine in der Ikonostase in der Regel im Zentrum oben angeordnete Ikone bezieht sich auf Gen 18 und findet sich in einer Reihe verschiedener Ausprägungen: Gezeigt werden können beispielsweise die drei Besucher an einem Tisch, von Abraham und Sarah bewirtet als „Philoxenia“ oder – besonders im Anschluss an die fast „kanonisch“ gewordene Darstellung Rublevs 108 Vgl. Blum, E., Die Komposition der Vätergeschichte, 158. 109 Vgl. Jericke, D., Abraham, 220 – 222.

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– nur die drei Besucher am Tisch in anglomorpher Gestalt.110 Insbesondere der letzte Typus könnte den unbefangenen Betrachter an die eingangs erwähnte, monocodierte Interpretationsform der augustinischen Auslegung erinnern. Dem ist aber mitnichten so. Vielmehr zeigt sich, dass die ikonographische Darstellung ebenfalls eine Mehrfachcodierung in der Praxis ihrer kirchlichen Verehrung zulässt. Exemplarisch seien folgende Deutungen angeführt: (1) Besonders in der ursprünglichen Philoxenievariante ist die bildliche Darstellung der Erzählung in Gen 18 deutlich: Abraham und Sarah bewirten die Besucher. Unterstützend kann der Baum als Eiche in Mamre gedeutet werden. Als biblia pauperum bzw. ikonographisch-didaktische Verkündigung der Erzählung spielt dieser Aspekt aber nur eine Nebenrolle. (2) Besonders in der Rublev’schen Variante und ihrer Derivate ist der dogmatische Gehalt der Lehre von der immanenten Trinität ansichtig: Alle drei Personen werden mit gleichen Gesichtszügen, weder männlich noch weiblich, dargestellt, sind kreisförmig bzw. in einem Sechseck angeordnet, was die Einheit der Trinität symbolisiert, sind aufeinander bezogen durch blickhafte und gestische Kommunikation, was den Aspekt des Wesens Gottes als Liebe versinnbildlicht. Sogar die Identifikationsproblematik der klassischen processiones wird refiguriert: Während die Person des Vaters die linke Gestalt sein dürfte, die allein den beiden anderen den Kopf zuneigt, neigen die mittlere und die rechte Gestalt den Kopf der Linken zu. Wer Sohn und Geist ist, ist entsprechend umstritten und kann nur mit Hilfe anderer für die Sprache der Ikonen jeweils typischen Gestaltmittel geklärt werden.111 Aber auch dieser dogmatische Aspekt ist nur ein Nebenaspekt. (3) Indem die trinitarischen Personen als Engel dargestellt werden, wird Gott nicht direkt abgebildet und dem Bilderverbot, das jegliche direkte Darstellung mit der Ausnahme Christi als einzig sichtbarem Bild Gottes ausschließt, Rechnung getragen. (4) Neben der immanenten Trinität wird aber auch die Versöhnung Christi am Kreuz thematisiert: Der Tisch, um den sich die drei versammeln, ist eindeutig als Altar stilisiert, im Mittelpunkt steht ein Abendmahlskelch, der in einigen Varianten Wein oder Brot, in anderen – die Bildlogik durchbrechend in Anspielung auf Gen 18 – einen Kalbskopf enthält. Die Gestalt in der Mitte führt darüber einen Segensgestus aus, der (zusammen mit der Art des Gewandes und dem clavis) die zweite Person bezeichnet – oder aber als Epiklese des Geistes gedeutet werden kann. Verbunden mit 110 Hier ist nicht der Raum, um auf die Entstehungs- und Interpretationsgeschichte dieser Ikonentypen einzugehen. Vgl. dazu exemplarisch Mìller, L., Dreifaltigkeitsikone, 28ff und Bunge, G., Paraklet. 111 Vgl. Mìller, L., Dreifaltigkeitsikone, 52 – 103 und Mainka, R.M., Dreifaltigkeitsikone.

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dem Opfer am Kreuz und dessen Vergegenwärtigung in der Eucharistie sind die missiones von Sohn und Geist. Während in der gegenwärtigen restaurierten Form der Rublevikone die linke Gestalt des Vaters ebenfalls einen Segensgestus mit zwei Fingern ausübt, hatte die unrestaurierte Komponente einen Zeigegestus mit einem Finger, der die rechte Gestalt des Sohnes bzw. Geistes in die Welt schickt.112 (5) Von diesem Zentrum der Soteriologie ausgehend verdeutlicht die Szene protologisch den vor- bzw. überzeitlichen Heilsratschluss und damit eine supralapsarische Theologie nach dem Motto „Wer von uns wird als Opfer für die Menschen in die Welt gehen?“113 (6) Ebenfalls von diesem Zentrum der Soteriologie ausgehend und an die Sohnesverheißung an Abraham und Sarah anschließend verdeutlicht die Szene die promissio der eschatischen Aufnahme der Menschen in die trinitarische Gemeinschaft in der theosis, indem der Baum als Lebensbaum auf Joh 14,6 anspielt und das Haus über der Person des Vaters nach Joh 14,2 – 3 gemäß dem Motto „in meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ gedeutet werden kann. (7) Ikonen werden in der Frömmigkeitspraxis verehrt, weil sie in der Liturgie „Fenster zur Ewigkeit“ Gottes sind und diese eben nicht nur symbolisieren, wenn auch symbolische Mittel dies unterstützen. In der Liturgie spricht Gott zu den Menschen und die Menschen zu Gott; und damit bedeutet Liturgie einschließlich der Ikonenverehrung einen proleptischen Einbezug der Menschen im Hier-und-Jetzt in die Lebens- und Liebesgeschichte Gottes bzw. in das ewige Gespräch, das Gott ist. Dies wird durch folgende darstellerische Mittel unterstützt, mit dem Anspruch, dass die Ikonenverehrung, quasi ähnlich einem performativen Sprechakt, nicht einfach verschiedene Aspekte der Heilsgeschichte konstativ darstellt, sondern sie realisiert: Der Goldhintergrund symbolisiert das ewige und unzugängliche Licht, in dem die Gottheit wohnt und aus dem sie mittels der ikonischen Kommunikation heraustritt. Die perspektivische Darstellung des Altars lässt mitnichten auf eine fehlende Kenntnis der schon in der Antike bekannten Gesetze der Fluchtpunktperspektive schließen, sondern stellt eine umgekehrte Fluchtpunktperspektive dar, indem der Fluchtpunkt nicht im Bild selbst, sondern im Auge des Betrachters angesiedelt wird, der so auf die ewige Welt der wirklichen Dinge114 blicken kann. Vor allem aber wird die Gemeinde oder die Betrachterin vor der Ikone mit in diese einbezogen, indem sie mit am Tisch sitzen: Die Seite vor dem Tisch ist frei, erst die Gemeinde vor der Ikone schließt den Kreis um den Tisch. In der Rublev’schen Darstellung 112 Vgl. Mìller, L., Dreifaltigkeitsikone, 87 f. 113 Vgl. Mìller, L., Dreifaltigkeitsikone, 65. 114 Unter der Prämisse eines christlichen Neuplatonismus ist damit an die Vorgängigkeit des Ideenkosmos gegenüber der materiellen Welt gedacht.

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fehlen keineswegs Abraham und Sarah, sondern die Betrachtenden werden zu Abraham und Sarah, die, indem sie die Ikone verehren, genau jene untadelige Bewirtung Gottes ausführen und jene Verheißung an Abraham und Sarah erhalten, wenn auch nicht in Form der Sohnesverheißung, sondern in Form der universalen eschatischen Verheißung, und zwar selbst dann, wenn sie – wie Sarah – in lockerer Skepsis darüber lachen mögen. Die Ikone und ihre Verehrung in der Ostkirche beinhaltet also anders als die augustinische Interpretation von Gen 18 keine Reduktion einer Mehrfachcodierung auf eine semantische Monocodierung, sondern erhält Mehrfachcodierungen aufrecht, ja steigert sie noch, indem der Ikone und damit der Geschichte von Gen 18 noch zusätzliche dogmatische, liturgische und praktische Aspekte der gesamten kirchlichen praxis pietatis zugesprochen werden, die der schlichten Erzählung in Gen 18 selbst beim Bewusstsein ihrer Mehrfachcodierung kaum zu eigen sind.

1.5.4 Ist Wahrheit totalitär und wer für alles offen ist, nicht ganz dicht? Bevor wir nach der Bedeutung von Gen 18 für die gegenwärtige kirchliche Praxis fragen, müssen noch zwei Fragen geklärt werden: die Frage nach der Berechtigung, eine Erzählung wie Gen 18 als exemplarisch für die Erzählungen des AT zu werten, und die Frage nach der Korrektheit einer Interpretation. Die erste Frage lässt sich für die augustinische und die ikonische Interpretation des Textes leicht beantworten: In beiden Fällen ist die Exemplarizität gegeben. Für die Interpretation der historisch-kritischen Tradition hingegen erscheinen hier eher Anfragen: Warum sollte Gen 18 eine solche Repräsentanzfunktion zukommen können, wenn schon Versuche der Suche nach einer „Mitte“ des Alten Testaments oder nach der „Einheit“ alttestamentlicher Theologie, die bedeutend plausiblere Textrepräsentanten nutzen, unwidersprochen blieben?115 Die zweite Frage nach der Korrektheit von Interpretationen scheint noch schwieriger zu sein. Eine einfach semantisch codierte Interpretation wie im Falle Augustins scheint für die gesamte kirchliche Praxis eine autoritäre und dogmatistische Engführung zu implizieren, die im Falle der westlichen, augustinischen Tradition weit über das Mittelalter hinaus auch die tatsächlich praktische Bedeutung der Trinitätslehre fundamental verunklärt haben dürfte.116 Andererseits scheint aber auch die nahezu ins Uferlose gesteigerte 115 Vgl. Rad, G.v., Theologie des AT 1, 117 – 142; Kaiser, O., Theologie des AT 1, 329 – 353; Kaiser, O., Theologie des AT 2, 18 f; Gertz, J.C.H., Grundinformation Altes Testament, 513 – 521, bes. 514: „Jede Erhebung eines Einzelmotivs zum theologischen Zentrum des Alten Testaments ist hermeneutisch-dogmatischer Natur und keine historische Unternehmung.“ 116 Vgl. Gunton, C.E., Augustine.

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Ausweitung der Mehrfachcodierung des Textes durch die ikonische Interpretation nur deswegen im Falle der Ostkirche nicht in eine völlig beliebige, allein dem Interpreten überlassene Interpretationspraxis zu führen, weil die Ostkirche einen (einigermaßen) festgelegten Kanon von patristischen Texten zu besitzen scheint. Will man Mehrfachcodierungen für die gegenwärtige kirchliche Praxis zulassen und gutheißen, ohne die ostkirchliche Praxis eins zu eins zu übernehmen, scheint hingegen der Relativismus eines anything goes unvermeidlich zu sein. Wenn es aber richtig ist, dass das Evangelium in der Verkündigung der kirchlichen Praxis für das Leben einen Unterschied bedeutet, scheint dieser Weg ausgeschlossen zu sein. Bleiben dann nur die unterschiedlichen Methodiken der historisch-kritischen Exegese als Maßstab, die Mehrfachcodierungen einerseits zulassen, andererseits aber auch einschränken? Auch dies scheidet aus, weil die unterschiedlichen Interpretationsmethodiken der historisch-kritischen Exegese ihrerseits von recht unterschiedlichen „ontologischen“ Voraussetzungen abhängig sind und damit das Problem Augustins auf etwas kontrolliertere Weise wiederholen würden. Versteht man die Konstitution des at. Textes nur in einer unreduzierbaren Relation zwischen (1) Autor und Bearbeitern, (2) deren schriftlichen Artefakten sowie (3) Interpretanten, die direkt Personen als Rezipienten sein können oder aber Texte oder Bilder, die ihrerseits von Zeichenbenutzern in der pragmatischen Dimension verwandt werden,117 scheint ein Ergebnis nicht greifbar zu sein. Berücksichtigt man aber, dass in der kirchlichen Praxis nicht irgendwelche Texte kommuniziert werden, sondern eben biblische Texte als viva vox evangelii, ist zu berücksichtigen, dass der ursprüngliche Autor und der letztendliche Interpretant mit der Person des Heiligen Geistes zu identifizieren ist und dass damit die Kommunikation des Evangeliums anhand biblischer Texte immer schon Teil der trinitarischen Lebens- und Liebesgeschichte118 ist. Dies bedeutet für den Interpreten vor allem die Haltung einer Hermeneutik des Vertrauens, nach der der Ausleger darauf vertrauen darf, dass in der Sache der biblischen Texte selbst das entsprechende Korrektheitskriterium liegt und dass sich „die ganze Bibel mit ihren Worten je und je selbst als über unser Leben vor Gott und in dieser Welt entscheidendes Buch ausweisen“119 kann. Damit wenden wir uns nun einer inhaltlichen Interpretation von Gen 18 und der auf sie bezogenen Ikone zu, die nur einige unvollständige Auffälligkeiten nennen soll: – Gott erscheint in geschichtlich-menschlichen Kategorien, ist nicht nur aktiv sondern auch rezeptiv. – Diese Rezeptivität beinhaltet sowohl das Ertragen von Positivem – der Bewirtung – als auch von Negativem – Sarahs Lachen über die Verheißung. 117 Zur Peirce’schen Semiotik vgl. Vetter, M., Zeichen, 68 – 123. 118 Zur konkreten poimenischen Verschränkung dieser Interpretationspraxis, der sich dieser Terminus verdankt, vgl. Drechsel, W., Lebensgeschichte, 365. 119 Kaiser, O., Theologie des AT 1, 22.

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– Gottes Handeln erscheint geschichtlich als promissio der auf Zukunft bezogenen Verheißung, die Vertrauen, aber auch Zweifel evoziert und aushalten kann. – Gott präsentiert sich als Verhandlungspartner bzgl. des Gerichts an Sodom. Auffällig ist, dass es sich dabei aber nicht um Geschäftspartner handelt. Die Möglichkeit der Verhandlung geht in 18,17 f von Gott aus und ist in V.17 durch den persönlichen Respekt vor Abraham (bzw. durch dessen personale Erwählung) motiviert. Der vermeintliche „Handel mit Gott“ ist gar kein solcher, wie noch zu sehen sein wird. Zusammenfassend kann man sagen, dass Gott hier dem Menschen Abraham im Modell der Freundschaft begegnet, wenn auch dieser Terminus hier nicht explizit fällt.120 Um dieses Gottesbild noch etwas trennschärfer wahrnehmen zu können, ist es nötig, einige intensionale Bestimmungen in Auseinandersetzung mit anderen Modellen zu erwähnen, dem manipulativen und dem merkantilen Modell: Im manipulativen Modell wird das Verhältnis zwischen Gott und Mensch dergestalt angenommen, dass der göttliche Partner völlige Verfügungsgewalt über die Art und den Verlauf der Beziehung besitzt. Nur Gott kann die Beziehung wieder zurechtrücken, wenn etwas schief läuft. Allerdings kann es in der Konsequenz auch nur am göttlichen Partner gelegen haben, wenn etwas schief gelaufen ist. Die Personalität des menschlichen Partners ist nur eine Scheinpersonalität bzw. wird vom göttlichen Partner übergangen. Bsp.: In diesem Modell sind einige Züge das Exodusgeschehens gezeichnet, was vor allem an Ex 4,21; 14,4.17 deutlich wird: Indem Gott das Herz des Pharaos bzw. der Ägypter verstockt, erweist sich Gott nicht nur als allmächtig, sondern auch als allein Handelnder.121 Letztlich kämpfen hier nicht Israeliten gegen Ägypter, sondern Gott wider Gott, so dass das Exodusgeschehen sich als theatrum mundi ad majestatem gloriae dei entpuppt. Im merkantilen Modell sind zwar beide, Gottheit und Mensch, mehr oder weniger gleichberechtigte Partner, aber das in dieser merkantilen Beziehung kommunizierte Gut ist jeweils von den Partnern ablösbar und nicht mit diesen selbst identisch. Weder Gott noch Mensch binden ihre Identitäten aneinander, sondern kommunizieren um dieses dritten Guts willen in einem Handelsmodell: Dem Menschen geht es um sein Heil, seine Nachkommenschaft oder seinen Landbesitz, Gott geht es um die Akzeptanz des Anspruchs seiner mächtigen Souveränität oder seiner Ehre. Als Beispiel kann das dtr. Bundes120 Zum auch terminologisch genannten Motiv Abrahams als Freund Gottes vgl. Mìhling, A., Blickt auf Abraham, 121 ff.319 ff. Der Zusammenhang von Freundschaft als Kenneichen einer Liebesrelation kann dabei nicht nur systematisch rekonstruiert werden, sondern spiegelt sich auch in der terminologischen Verwendung der Wurzel ahv im Zusammenhang mit dem Freundesbegriff. 121 Zur unterschiedlichen Interpretation von Gottes Allmacht entweder als Allwirksamkeit oder Alleinwirksamkeit vgl. Mìhling, M., Eschatologie, 127 f.

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verständnis genannt werden, das streng von anderen Verwendungen des Bundesbegriffs zu unterscheiden ist und mit diesen anderen Verwendungen bis auf die bloße Vokabel nichts gemein hat. Hier ist die Heilsgabe der Verheißung Gottes von der Erfüllung der vermeintlich göttlichen Gesetze abhängig. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine systematische Interpretation des dtr. Bundesverständnisses, sondern neuere Untersuchungen legen nahe, „dass die Vorstellung, Jhwh habe mit Israel am Horeb einen Bund […] geschlossen […], das konzeptionelle Vorbild und den theologischen Anstoß von den im Vorderen Orient breit belegten ,politischen‘ Vertragstexten erhalten hat“.122 Mit der Herkunft der dtr. Theologie aus dem internationalen Vertragsrecht assyrischer Vassalenverträge wird dabei durchaus dieses systematisch nicht unproblematische Gottes- und Menschenbild eingekauft. Im Modell der Liebesrelation123 sind beide Partner reziprok – wenn auch nicht notwendig symmetrisch – aufeinander und auf ein gemeinsames Drittes, ein gemeinsames Projekt, derart bezogen, dass ihre kooperativen Handlungen aneinander in Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit geschehen, und Gegenstand der Beziehungskommunikation jeweils die Identität der beiden Partner, sei es nun des göttlichen oder des menschlichen, ist. Als Beispiel kann eben Gen 18 genannt werden. Betrachten wir nun die Interpretation von Gen 18 durch die ihrerseits mehrfachcodierte Ikone, wird man feststellen, dass sich auch die o. a. Kennzeichen (1)–(7) der Ikoneninterpretation am ehesten im Rahmen des Liebesmodells, nicht der anderen beiden Modelle, bewegen,124 was angesichts der trinitarischen Interpretation von Gen 18 auch nicht überrascht. Das Recht der trinitarischen Interpretation von Gen 18 liegt also nicht darin, dass in irgendeiner Form die Dreizahl hier erscheint, sondern darin, dass das Bild eines emergent-geschichtlich, im Modus von Treue, Wahrhaftigkeit und Vertrauen handelnden Gottes, wie es in Gen 18 vorausgesetzt ist, christlicherseits gerade nur durch die Basis der Trinitätslehre gesichert werden kann, indem hier geschichtlich die Identität Gottes als dessen Selbstidentifizierung festgehalten wird: In der Selbstidentitätsbeschreibung des Gottes des AT, die christlicherseits mit dem Namen „Vater“ abgekürzt werden kann, in der Selbstidentitätsnarration Gottes in Jesus Christus, die christlicherseits mit „Sohn“ bezeichnet werden kann und schließlich im Handeln Gottes in der Kommunikation der Kirche, die mit dem Namen des „Heiligen Geistes“ bezeichnet wird – sowie in deren konstitutiver Bezogenheit aufeinander – wird der in Treue verheißende Gott der Geschichte erfasst, der genau deswegen im Modell der Liebesrelation mit seinen personalen Geschöpfen interagiert, weil er in sich selbst schon eine solche ist. 122 Koch, C., Vertrag, 315. 123 Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 271 – 326. 124 Diese Diagnose gilt unbeschadet des o. a. neuplatonischen Anteils des Hintergrundes ostkirchlicher Ikonenverehrungspraxis.

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Dabei haben wir zuletzt implizit schon vorausgesetzt, dass in Beschreibungen des Handelns Gottes dem Modell der Liebesrelation gegenüber merkantilen und manipulativen Modellen ein Vorzugscharakter einzuräumen ist, dergestalt, dass die letzteren beiden nur dann ein relatives Recht haben, wenn sie durch das Modell der Liebesrelation relativiert werden können, weil dieses durch die Selbstidentifikation Gottes den anderen Modellen übergeordnet ist. Diese Voraussetzung hatten wir aber unter Einschluss strikter christlicher Prämissen getroffen. Lässt sie sich auch ausschließlich unter Inanspruchnahme des AT begründen? Ich denke, dass sich das zeigen lässt. Zwar wird man auch dem manipulativen und dem merkantilen Modell im Verlaufe der Geschichte des AT eine die jeweilige geschichtliche Situation deutende Kraft zuerkennen müssen – insbesondere, was die Bewältigung des Exils betrifft, was durch die quantitative Dominanz dtr. Anteile des AT belegt wird. Aber als Metamodell des Handelns Gottes, das die anderen Modelle integrieren und relativieren kann, eignet sich keines von beiden. Merkantile Modelle werden nämlich durch die Belege einer „Krise der Weisheit“, insbesondere durch das Hiobbuch und das Buch Kohelet, nahezu ausgeschlossen. M.E. ließe sich also mit guten Gründen zeigen, dass Metamodelle vom Handeln Gottes im AT den Ansprüchen des Modells der Liebesrelation genügen müssen und merkantile oder manipulative Modelle kritisch zu relativieren haben. Eine exemplarische Erzählung, in der das Modell der Liebesrelation aber verwandt wird, ist die Erzählung in Gen 18, die daher mit Recht exemplarischen Charakter erhält.

1.5.5 Implikationen für die kirchliche Praxis mit der Schrift Will man also aus der in Gen 18 vorliegenden Erzählung in Konkordanz mit der auf sie bezogenen Praxis der Interpretation des Textes durch die entsprechende Ikone etwas für gegenwärtige kirchliche Praxis der Verwendung biblischer Texte lernen, wird man kurz und bündig sagen müssen: – Die kirchliche Praxis der Textaktualisierung in der Verkündigung in Wort und Tat hat sich primär am Modell der Liebesrelation zu orientieren. – Beschreibungen kirchlicher Praxis der Textaktualisierung in Wort und Tat werden sich primär am Modell der Liebesrelation und ihrer sprachlichen Mittel orientieren müssen. – Kirchliche interaktionelle Vollzüge im manipulativen oder merkantilen Modell sind überall dort, wo es um die Verkündigung geht, zunächst ausgeschlossen, haben ihr relatives Recht aber aufgrund der Tatsache, dass auch die Organisation der Kirche ein „Regiment zur Linken“ kennt. – Beschreibungen der kirchlichen Praxis der Textaktualisierung in Wort und Tat mit den sprachlichen Mitteln des merkantilen oder des manipulativen Modells sind nicht ausgeschlossen, müssen aber deutlich subordiniert erscheinen und jeweils für ihren konkreten Gegenstand des kirchlichen

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Handlungsfeldes legitimiert werden. Diese Legitimation ist überall und nur dort gegeben, wo der rechtliche, wirtschaftliche oder politische Aspekt von kirchlich steuernder Interaktion gegeben ist. Sie ist ausgeschlossen, wo es um das Proprium der Kirche geht. Die Verkündigung des Evangeliums ist keine Manipulation und kein Angebot. Das Evangelium konkurriert in der Gegenwart mit zahlreichen anderen Wirklichkeitsverständnissen. Diese Situation ist aber nicht im strikten Sinne des Wortes die des Marktes. Vielmehr geht es darum, im Vertrauen und im skeptischen Lachen, in die auf unverfügbare Zukunft angelegte Verheißung der Kommunikation mit dem trinitarischen Gott in dessen Lebens- und Liebesgeschichte mit einbezogen zu werden.

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2. Gott 2.1 Gottes Selbstpräsentation und Dreiheit 2.1.1 Das Individuationsproblem Die Frage, wie der Mensch Gott erkennen kann oder erkennt, war lange eine Frage, die nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis Gottes gefragt hat. Versteht man diese Frage religionsphilosophisch, ist gegen sie nichts einzuwenden, genauso wenig wie gegen ihre unterschiedlichsten Antworten. Theologisch jedoch ist diese Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gotteserkenntnis allerdings keine vorgeordnete Frage. Es handelt sich vielmehr um eine einem Faktum nachgeordnete Frage: Der Tatsache, dass sich Menschen im Glauben bewusst sind, mit Gott zu leben, und das heißt: Gott immer schon erkannt zu haben, immer schon mit Gottes Wirklichkeit zu rechnen. Die scheinbar epistemologische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis Gottes ist somit von einer ontischen Gewissheit abhängig, der Gewissheit, dass in der praxis pietatis der Glaubenden und deren Evangeliumskommunikation sich immer schon Gott selbst präsentiert. Denn nicht der Mensch erkennt Gott, sondern Gott gibt sich im Umgang mit ihm zu erkennen. Christliche Ontologie und christliche Epistemologie sind also nicht voneinander zu trennen und höchstens begrifflich zu unterscheiden. Tatsächlich bilden sie eine Einheit. Für christliche Theologie ist dies weit mehr als eine allgemeine Behauptung. Vielmehr verbindet sich damit der Anspruch, dass im Lichte des Erkannt-Seins von Gott, dem Gottes narrative Selbstpräsentation entspricht, sich spezifische Fragen einer jeden Ontologie präzise lösen lassen, die ansonsten zu Aporien führen. In der gegenwärtigen Theologie herrscht mitunter noch die irrige Meinung vor, Theologie habe es nicht mit Ontologie, sondern mit Existentialien zu tun. Diese Meinung beruht darauf, dass man unter Ontologie offensichtlich eine bestimmte inhaltliche Ausprägung von Ontologie versteht, nicht aber Ontologie im umfassenden Sinne als Lehre von dem, worüber überhaupt gesprochen werden kann. Unter diesem Aspekt ist etwa auch jede existentiale, subjektivitätstheoretische oder sich in einem anderen Paradigma vollziehende Theologie nicht ontologiefrei, sondern beruht auf einer spezifischen Ontologie. Die entscheidende Frage lautet also nicht, ob man Ontologie als Theologe betreiben kann oder nicht – weil eine negative Antwort hier nicht denkbar ist –, sondern um welche Ontologie es geht. Deutlich dürfte dabei sein, dass Theologie nicht einfach eine philosophische Ontologie übernehmen kann – etwa die der klassischen Substanzmetaphysik, die epistemologische Ontologie

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Kants oder eine der zahlreichen existentialistischen Ontologien des 20. Jh. –, sondern ontologische Rede nur aufgrund der Selbstpräsentation Gottes modellhaft nachvollziehen kann. Eines des wichtigsten ontologischen Probleme ist die Frage nach dem Besonderen, d. h. die Individuationsfrage. Sie zu bearbeiten steht am Anfang der hier vorgelegten Frage nach dem Entwurf einer Gotteslehre. Die Frage nach dem, was etwas Besonderes zu eben diesem Besonderen macht, hat mindestens vier Aspekte: Einerseits kann nach der Identität eines Besonderen mit sich selbst gefragt werden, andererseits stellt sich die Frage nach der Differenz des Besonderen im Unterschied zu anderem Besonderen. Diese beiden Fragen haben eine ontologische und eine epistemische Dimension. Die ontologische Frage ist die Frage nach dem Individuationsprinzip des Besonderen, d. h. die Frage, warum etwas Besonderes eben jenes Besondere im Unterschied zu anderem Besonderen ist. Die Frage nach dem Identifikationsprinzip hingegen ist die Frage, warum etwas Besonderes als eben jenes Besondere im Unterschied zu anderem Besonderen erkennbar ist. Dabei gilt: Alles, was identifizierbar ist, muss auch individuiert sein, aber nicht umgekehrt: Nicht alles, was individuiert ist, muss auch als Solches identifizierbar sein. Diese beiden Fragen nach der Individuation und der Identifikation in ihren beiden Formen – der Frage nach der Identität eines Gegenstands mit sich und der Frage nach der Differenz zu anderem Besonderen – sind Grundfragen einer jeden Ontologie. Insofern stellt sich die Frage nach der Individuation und der Identifikation im Bereich der Naturwissenschaften, der Sozialwissenschaften, der Theologie und implizit auch im Rahmen der Alltagssprache, da auch hier implizite ontologische Gewissheiten in jeglichem menschlichen Handeln vorausgesetzt sind und dieses orientieren. Es macht eben einen Unterschied für unser Handeln, welche Gewissheiten Menschen hier besitzen. Die Fragen nach Individuation und Identifikation werden zwar in der Philosophiegeschichte stets behandelt, als explizite Fragen erscheinen sie aber relativ spät und setzen die christlich geformte Philosophie bereits voraus, während sie in der klassischen Antike von untergeordneter Bedeutung sind. Der Grund besteht darin, dass die hellenistische Philosophie, insbesondere insoweit sie platonisch geprägt ist, dem Allgemeinen eine deutlich höhere Valenz zuerkennt als dem Besonderen. Auch in der aristotelischen Philosophie finden sich hier nur graduelle Unterschiede. Zwar ist hier das Besondere im Vergleich zum platonischen Denken höher wertgeschätzt, aber letztlich nicht so, dass es im Mittelpunkt stünde oder prinzipiellen Rang bekäme. Auch hier liegt die ontische Prävalenz durchaus beim Allgemeinen. Da das Allgemeine aber nicht primär durch Erfahrung zugänglich ist, sondern durch Denken, können alle antiken Philosophien platonischer Provenienz als rationalistisch verstanden werden. Dem empirischen Zugang kommt keine Valenz hinsichtlich der Erkenntnisfähigkeit von Wahrheit zu. Und obwohl Aristoteles Beobachtungen zulässt, kann auch hier von einer Prävalenz des rationalen

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Erkenntnisweges gesprochen werden. Erst das, was man die erste empirische Wende nennen kann, bringt hier eine Änderung mit sich. Diese erste empirische Wende ist mit der Christianisierung des Hellenismus gegeben. Denn in der christlichen Theologie wird gerade behauptet, dass die historisch-kontingente Person Jesu Christi, d. h. ein partikulares, besonderes Seiendes, die Wahrheit selbst ist und dass insofern die Erfahrung dieses Besonderen den vorzüglichen Erkenntniszugang darstellt. In dieser Situation gewinnen die Fragen nach der Individuation und der Identifikation einen besonderen Stellenwert und werden verschiedenen Lösungen zugeführt.

2.1.1.1 Individuation durch die Verbindung von Substanz und Akzidens Bei A.M.S Boethius, dem sog. letzten Römer und ersten Scholastiker wird das Problem der Individuation ausführlich besprochen.1 Boethius kommt dabei zu folgender Lösung, die die aristotelisch gefärbte, neuplatonische Ontologie voraussetzt: Bei der Rede von Seiendem lassen sich Substanzen, d. h. das, was etwas Anderem zugrunde liegt bzw. das, was notwendig für eine Sache ist, von Akzidentien, d. h. das, was in einem Zugrundeliegenden ist bzw. das, was nicht notwendig für eine Sache ist, unterscheiden. Die Substanzen werden dabei als unveränderlich verstanden, die Akzidentien als veränderlich. Hinsichtlich der Substanzen können gemäß Aristoteles eine allgemeine und eine besondere Substanz unterschieden werden. Die allgemeine Substanz eines besonderen Menschen wäre beispielsweise das Menschsein, seine besondere Substanz, dass sie diese Person, die sie faktisch ist, ist. Die Frage nach der Individuation lautet daher, was eine besondere Substanz zu eben dieser besonderen Substanz macht. Boethius’ Antwort lautet: Die mannigfachen Akzidentien, d. h. Eigenschaften, individuieren die allgemeine Substanz, so dass das Besondere entsteht. Boethius’ Antwort unterscheidet noch nicht zwischen Individuations- und Identifikationsfrage. Seine Antwort, dass alle Akzidentien, d. h. alle Prädikate, die überhaupt von einer Sache ausgesagt werden können, die Individuation bewirken, ist nur auf den ersten Blick befriedigend. Mit ihr verbinden sich vier grundsätzliche Schwierigkeiten: Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass die neuplatonisch-aristotelische Ontologie vorausgesetzt ist. Sobald man dieses Begriffsschema verlässt, ist die boethianische Antwort wenig sinnvoll. Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass auch im Rahmen dieser speziellen Ontologie sich bei der boethianischen Antwort eine Inkohärenz ergibt: Wie können akzidentielle, d. h. nicht notwendige und veränderbare Eigenschaften eine allgemeine Substanz so individuieren, dass das Ergebnis wie1 Zur Individuation bei Boethius vgl. Schlapkohl, C., Persona est naturae rationabilis individua substantia, 47 – 52.

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derum eine substanzhafte, d. h. notwendige und unveränderliche Kategorie, nämlich die jeweilige besonderen Substanz, ist? Die dritte Anfrage betrifft schließlich die Theologie: Diese spricht ja schließlich von Gott, der sich in Jesus Christus, einer besonderen Person, erschließt. Da die neuplatonisch-aristotelische Ontologie aber nicht zulässt, dass Gott in irgendeiner Weise veränderlich wäre, eine Individuation aber immer über prinzipiell veränderliche Akzidentien geschieht, können die göttlichen Personen der Trinität nicht individuiert sein. Auch die Erkenntnis Jesu Christi als eindeutig individuierter Person kann dann nicht zur Erkenntnis des Sohnes, d. h. des ewigen Logos als zweiter Person der Trinität, führen. Die Geschichte der Selbstpräsentation Gottes hätte dann mit Gottes Sein nichts zu tun. Noch bedeutsamer ist die vierte Anfrage, die letztlich von dem spezifischen ontologischen Begriffssystem unabhängig ist: Statt von Substanzen und Akzidentien lässt sich ja in moderner Weise von einem Subjekt und seinen Prädikaten sprechen. Wenn wir eine Sache oder ein Subjekt mit Hilfe von einer Konjunktion mehrerer Eigenschaften beschreiben, also in der intensionalen Definition immer mehr Eigenschaften einführen, wird die Extension der entsprechenden Klasse immer enger. Aber sie bleibt stets eine Klasse und dringt nicht zum Besonderen vor: Wie viele unterscheidende Eigenschaften auch angeführt werden können, immer ist noch ein Besonderes denkbar, für das dies auch gilt. Daher heißt es dann in der mittelalterlichen Schulphilosophie auch zu Recht: individuum est ineffabile: Das Besondere ist nicht definierbar. Hilary Putnam und Saul Kripke haben in neuerer Zeit ferner darauf hingewiesen, dass die Identifikation des Besonderen von der Prädikation vollständig unabhängig ist, weil auch falsche Prädikationen zu einer korrekten Identifikation führen können:2 Die Prädikation „der Lehrer Alexanders des Großen“ kann in Kommunikationssituationen dazu verwandt werden, um zwischen den Sprechern einen Bezug auf „Aristoteles“ herzustellen. Sollte sich durch zukünftige Forschung aber herausstellen, dass Aristoteles gar nicht der Lehrer Alexanders des Großen gewesen sein sollte, war die Identifikation dennoch erfolgreich: Die Kommunzierenden haben immer noch Aristoteles gemeint, nicht aber die Person, die tatsächlich der Lehrer Alexanders des Großen gewesen sein mag. Identifikation und Individuation einerseits sowie Prädikation andererseits sind also unabhängig. Dies hat auch bis heute praktische Konsequenzen, z. B. in der Ethik. Wenn geschaffene Personen besonderes Sein sind und als solche nicht mittels einer Summe noch so großer allgemeiner Prädikate bestimmt werden können, lässt sich dann der Allgemeinbegriff der Person überhaupt durch entsprechende einstellige Prädikate oder eine Summe dieser bestimmen? Oft wird dies angenommen und man versucht, eine oder mehrere be2 Vgl. Putnam, H., Vernunft, Wahrheit und Geschichte, 41 – 73; Kripke, S.A., Naming and Necessity.

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stimmte Eigenschaft(en) als differentia specifica des Personbegriffs anzunehmen, z. B. indem eine Person bestimmt wird als eine individua substantia rationabilis naturae, wie bei Boethius selbst.3 Ob man aber nun Fähigkeit zur Vernunft, Sprachfähigkeit oder welche Eigenschaft auch immer als bestimmenden Faktor der Personalität ansieht: Man hat erstens nur das Gemeinsame von besonderen Personen erfasst, nie deren Besonderheit. Und zweitens wird man immer Personen finden, denen das Personsein dann abgesprochen werden muss, nämlich immer dann, wenn sie die entsprechende Eigenschaft nicht aufweisen (Vernünftigkeit, Sprachfähigkeit etc.), wie es im Gefolge des Präferenzutilitarismus bis heute auch üblich ist.4

2.1.1.2 Individuation durch die Verbindung von forma und materia Die in der Hochscholastik klassische Antwort wird u. a. von Thomas von Aquin in der Tradition der nun stärker im Vordergrund stehenden aristotelischen Philosophie formuliert: Im Rahmen der Lehre von den vier Ursachen findet sich die Distinktion von Form und Materie: Die Form übernimmt die Rolle der platonischen Idee, d. h. es handelt sich um etwas Allgemeines, das aber niemals alleine aktualisiert ist. Auch die Materie ist für sich nie alleine aktualisiert; sie ist vielmehr pure Potenz oder Möglichkeit. Aber dennoch wird nun die Materie zum Individuationsprinzip erhoben: Es ist entweder die Materie, die die Form individuiert, oder aber die Materie in Relation zur Form: „Et ideo materia sub quantite determinata est principium indiviuationis.“5 Aber auch diese Antwort ist unter verschiedenen Gesichtspunkten problematisch: Erstens ist auch diese Antwort abhängig von einem ontologischen Kategoriensystem, das in der Regel nicht mehr das unsrige ist. Zweitens ergeben sich auch hier spezifisch theologische Schwierigkeiten, weil man von Gott nur im Zusammenhang der Materie als Besonderheit oder Besonderheiten (z. B. im Rahmen der trinitarischen Personen) sprechen könnte: Soll Gott wirklich aus Besonderheiten bestehen, wie es die Erkenntnisgrundlage der Besonderheit der historisch-kontingenten Geschichte Jesu Christi nahelegt, die als Selbstpräsentation Gottes zu verstehen ist, wäre Gott notwendig an die Welt gebunden und ein notwendiger Pantheismus oder Panentheismus müsste angenommen werden. Von einer gnadenhaften creatio ex nihilo jedenfalls könnte genauso wenig gesprochen werden, wie von einer voraussetzungslosen Rechtfertigung sola gratia. 3 Vgl. Schlapkohl, C., Persona est naturae rationabilis individua substantia, 10 – 123. 4 So sprechen z. B. Guibilini und Minerva jüngst von einem positiven Abtreibungsrecht von neugeborenen Babys durch die Eltern. Vgl. Giubilini, A./Minerva, F., After-Birth Abortion. Why should the Baby live? 5 Thomas von Aquin, De principio individuationis, 576.

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Drittens ergeben sich auch mit diesem Denkmodell Schwierigkeiten, die grundsätzlich unabhängig vom bestimmten ontologischen Begriffsschema sind: Die aristotelische Distinktion von Form und Materie ist zwar nicht identisch mit der modernen Distinktion von Struktur einerseits und materiellem Stoff oder Energie andererseits, teilt aber mit dieser modernen Unterscheidung ein gewichtiges Problem: Weder die Struktur alleine ist individuationshinreichend noch die Materie im modernen Sinne, was besonders am Beispiel personaler Identität sichtbar wird: Die Materie von uns unterscheidet sich nicht grundsätzlich. Sie ist nach gegenwärtiger Erkenntnis auf der Mikroebene auch nicht individuiert und ist im Laufe des Lebens mannigfachen Stoffwechselvorgängen unterworfen, so dass eine Individuation durch Materie im modernen Sinne nicht infrage kommt. Aber auch die Struktur einer Sache hat mit der Individuation nichts zu tun. Auch dies wurde angesichts des Individualität von geschaffenen Personen mit einer Reihe eindrücklicher Gedankenexperimente gezeigt: Eines davon sei hier kurz vorgestellt. Angenommen, es wäre möglich, die gesamte Struktur ihres Körpers, einschließlich des Gehirns einer bestimmten Person A so nachzubauen, dass die so neu entstandene Person B exakt die gleichen Erinnerungen wie A hätte und exakt gleich aussehen würde. Dennoch wäre B nicht A, sondern lediglich ein Doppelgänger. Zwar wäre es für die Umwelt von A und B verwirrend, wenn beide, A und B, vor den Menschen ihrer Umwelt stehen würden und beide die Ansprüche erhöben, jeweils A zu sein. Aber A (und B) wäre es völlig unzweifelhaft, dass jeweils er A ist und nicht B.6 Weder Struktur noch Materie sind also individuationshinreichend, wenn sie vielleicht auch notwendige Bedingungen sein mögen. Die Annahme nun, dass weder Struktur noch Materie alleine die Individuation bewirken, sondern beide zusammen in ihrer Verbindung, scheint ebenfalls keine sinnvolle Lösung zu sein, sondern potenziert die einzelnen Probleme. 2.1.1.3 Individuation durch haecceitas Man hat in der Tradition christlicher Philosophie der Antike und des Mittelalters mehrfach eine dritte Art der Individuation erwogen und diese am Ende der Hochscholastik endgültig vorgeschlagen, wie dies vor allem bei Johannes Duns Scotus und in scotistischer Tradition geschah: Wenn es weder die Akzidentien noch die Materie sein können, die individuieren, und ebenso nicht die Verbindung von allgemeiner Substanz und Akzidentien bzw. von Struktur und Materie, kann es dann nicht eine besondere allgemeine Substanz geben, die selbst individuiert? Was macht also die Person Platos zu Plato? Weder die Eigenschaften, die die allgemeine Substanz der Menschheit individuieren, noch ihre Struktur oder ihre Materie, sondern eine spezifische allgemeine Substanz, die von niemand anderem als Plato selbst individuiert ist: seine 6 Vgl. Lem, S., Auferstehungsmaschine.

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Platonitas. Der Vorteil scheint nun zu sein, dass besondere theologische Probleme nicht mehr erscheinen: Auch Gott kann nun in Besonderheit gedacht werden: Es ist die paternitas, die den Vater zum Vater macht. Entsprechendes gilt für Sohn und Geist. Allgemein gesprochen wird diese besondere allgemeine Substanz quidditas oder haecceitas genannt.7 Aber handelt es sich damit wirklich um eine Lösung? Oder wird nicht einfach im Rahmen der überkommenen ontologischen Begrifflichkeit ein Allgemeinbegriff für etwas Besonderes erfunden, um sprachfähig bleiben zu können? Wird damit nicht letztlich gesagt: Das Besondere bleibt ein Rätsel, aber wenigstens ist es benennbar? Es wird also behauptet, dass es eine intrinsische, notwendige Eigenschaft gibt, die individuiert und die bei allem Besonderen verschieden ist. Obwohl diese Lösungsmöglichkeit letztlich eine Verweigerung der Antwort des Problems darstellt, war sie auch über die scotistische Philosophie hinaus historisch von Bedeutung: Leibniz’ Monadologie funktioniert im Prinzip nach diesem Schema8 und auch die kausale Interpretation der Quantenmechanik David Bohms mit ihrem Postulat verborgener Parameter.9 Alle bisher benannten Theorien der Individuation sind philosophischen Überlegungen verhaftet, die die erste empirische Wende der Betonung der Erfahrung als Königsweg der Erkenntnis nicht vollständig umsetzen. Vielleicht kann man geradezu sagen, sie versuchen, genau diese erste empirische Wende nicht mitzumachen. Alle bisher benannten Theorien leben vom christianisierten Hellenismus, in dem sich zwar das Problem der Besonderheit des Besonderen gegenüber der vorchristlich-antiken Philosophie verschärft stellt, aber nichtsdestotrotz bleibt es eine letztlich hellenistische Philosophie, die immer von der Prävalenz und ontologischen Vorordnung des Allgemeinen ausgeht. Als Solche endet sie auch nicht mit den aufgezählten Beispielen. Man könnte ähnliche Probleme in den neuzeitlichen Philosophien Hegels und Marx’ benennen.10 Besonders an letzterem Beispiel wäre auch eine wichtige ethische Konsequenz eines derartigen Denkens des Besonderen aufzuzeigen: Indem das Allgemeine ontischen Vorrang besitzt und das Besondere als zu lösendes Problem erscheint, wird auch in ethischer Hinsicht dem Kollektiven der Vorrang eingeräumt, so dass kollektivistische Haltungen die ethischen Überlegungen prägen.

2.1.1.4 Die Sistenz des Problems durch die individualistische Inversion Mit dem Nominalismus der Spätscholastik erschien auch die Invertierung des Problems. Es wurde behauptet, es gäbe gar kein besonderes Individuations7 8 9 10

Vgl. Swinburne, R., Thisness; Park, W., Common Nature and Haecceitas. Vgl. Leibniz, G.W., De principio individui. Vgl. Bohm, D., „Hidden Variables“ I. Zu Hegel vgl. jetzt Wendte, M., Gottmenschliche Einheit bei Hegel.

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problem: „quaelibet res singularis se ipsa est singularis“.11 Das Individuelle sei einfach das Individuelle. Die Leugnung des Bestehens eines Problems ist nur sinnvoll, wenn das nicht weiter bestimmte Individuierte nun tatsächlich zum ontologisch grundlegenden und prävalenten erklärt wird. Dies bedeutet umgekehrt, dass nun vielmehr das Allgemeine problematisch werden muss und höchstens als Abstraktion des Besonderen zu verstehen ist. Aber die damit verbundenen Probleme sind nicht geringer. Wie kein Weg vom Allgemeinen zum Besonderen führt, so auch kein Weg vom Besonderen zum Allgemeinen. Empirische Induktion ist eben kein sinnvoller Weg der Erkenntnis, wie man gegen J.S. Mill gut zeigen kann.12 Das Aufzählen des Besonderen entspricht nicht dem Königsweg der empirischen Erkenntnis, sondern es verhindert geradezu Empirie. Eine besonders scharfe Form dieses individualistischen Lösungsansatzes findet sich Anfang des 20. Jh. bei Bertrand Russel, der allem Individuellen den ontologischen Vorrang einräumte. Relationen zwischen diesen Individuen seien stets extern, d. h. nicht notwendig und wesensbestimmend für diese Individuen, wie Russell gegen den britischen Hegelianer Bradley betonte.13 Entsprechend gibt es nichts Allgemeines. Wir leben entsprechend auch nicht in einer Welt, einem Universum, sondern die Welt zerfiele eher in ein „Pluriversum“. Es liegt auf der Hand, dass auch diese Lösung letztlich keine Lösung ist, sondern nur die spiegelbildliche Bearbeitung des scotistischen Lösungsansatzes. Wie dieser, um nicht schweigen zu müssen, behauptet hatte, das Besondere sei die allgemeine besondere Substanz der haecceitas, wird nun das unverbunden Individuelle zur ontologischen Grundkategorie erhoben. Aber auch damit wird dem Rätsel des Besonderen letztlich nur ein Name gegeben. Ethisch einflussreich war aber auch dieser Lösungsansatz. Jegliche individualistische oder liberalistische ethische Theorie steht letztlich in dieser Tradition. Zu nennen wären hier kontraktualistische Gesellschaftstheorien, die Gesellschaften real oder ideal als sekundäre, durch Vertragsschlüsse zustande gekommene Gebilde betrachten und die Individuen als vorgängig. Von J. Locke über J.J. Rousseau bis hin zu J. Rawls reicht hier die Tradition.14 Politisch hat sie in den 1980er Jahren besonders in Großbritannien im Thatcherismus verheerend gewirkt mit seinem Bekenntnis: „there is no society, only individuals and their families“.

11 12 13 14

Ockham, W.v., Scriptum in librum primum Sententiarum, Bd. 1, I dist. II, q.6 P. Vgl. Mìhling, M., Einstein und die Religion, 153 – 165. Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 46 – 50. Vgl. Mìhling, M., Ethik, 208 – 213.

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2.1.1.5 Raumzeitliche Lokation In der Neuzeit setzte sich seit John Locke bis hin zu P.F. Strawson15 im 20. Jh. ein anderes Individuationsprinzip durch: das der raumzeitlichen Lokation von Gegenständen: „[…] it is easy to discover […] the principium individuationis; and that, it is plain, is existence itself, which determines a being of any sort to a particular time and place, incommunicable to two beings of the same kind.“16

Als individuiert und daher als Besonderes bzw. überhaupt als existent gilt alles und nur das, was einem bestimmten raumzeitlichen Ort eindeutig zugeordnet werden kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob wie bei Strawson diese Individuation positiv gewertet wird17 oder wie bei Nietzsche und Schopenhauer letztlich negativ und transitorisch: „Wir wissen, daß die Vielheit überhaupt nothwendig durch Zeit und Raum bedingt und nur in ihnen denkbar ist, welche wir in dieser Hinsicht das principium individuationis nennen. Zeit und Raum aber haben wir als Gestaltungen des Satzes vom Grunde erkannt, in welchem Satz alle unsere Erkenntniß a priori ausgedrückt ist, die aber […] nur der Erkennbarkeit der Dinge, nicht ihnen selbst zukommt […]. Ist nun dieses Ding an sich […] der Wille; so liegt er, als solcher und gesondert von seiner Erscheinung betrachtet, außer der Zeit und dem Raum, und kennt demnach keine Vielheit, ist folglich einer ; doch […] nicht wie ein Individuum, noch wie ein Begriff Eins ist; sondern wie etwas, dem die Bedingung der Möglichkeit der Vielheit, das principium individuationis, fremd ist.“18

Auch die Theologie übernahm diesen Gedanken, das Individuations- oder Gegenständlichkeitsprinzip bestehe ausschließlich in der raumzeitlichen Lokalisation in besonderer Weise. Betrachtet man so unterschiedliche Theologien wie die F.D.E. Schleiermachers, R. Bultmanns, K. Barths, P. Tillichs oder J. Moltmanns, so begegnet einem stets die Vorstellung, von Gott könne nicht als Gegenstand oder Gegenständen gesprochen werden, Gott dürfe nicht verobjektiviert werden.19 Und wie unterschiedlich dabei die Argumentationen auch ausfallen mögen und auf welch unterschiedlichen Prämissen sie auch beruhen mögen, stets erscheint an der einen oder anderen Stelle der Hinweis darauf, dass als Gegenstand nur das gelten kann, was in der einen oder anderen Form raumzeitlich individuiert ist. Den wahrscheinlich größten Erfolg feierte die raumzeitliche Lokalisation mit der Entstehung von physikalischen Feldtheo15 16 17 18 19

Vgl. Strawson, P.F., Einzelding. Locke, J., Identity and Diversity, §3. Vgl. Strawson, P.F., Einzelding, 148 f. Schopenhauer, A., Welt als Wille und Vorstellung DB 2, §25, 283. Exemplarisch sei hier nur auf Bultmann, R., Welchen Sinn, und Moltmann, J., Geist des Lebens, 45 hingewiesen.

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rien von ihren Anfängen bei Faraday, der Maxwell’schen Elektrodynamik bis hin zu Einsteins ART. Insbesondere für Einstein war der Glaube an die raumzeitliche Individuation entscheidend: Feldtheorien erlauben es, Raumzeit und Materie/Energie in einem strikten und eindeutigen Wechselverhältnis zu betrachten. War es für Einstein schon ein großer Schock, dass die Feldgleichungen der ART letztlich auch materiefreie Lösungen zulassen, so war für ihn schon ab 1909 klar, dass jede Theorie der Quantenphänomene, die das raumzeitliche Individuationsprinzip verletzt, abzulehnen sei. Nicht das Verhaftetsein am kausaldeterministischen Weltbild des 19. Jh. führte Einstein zur strikten Ablehnung der Kopenhagener Interpretation der Quantentheorie, sondern die Verletzung der raumzeitlichen Individuation war hier federführend.20 Die raumzeitliche Lokation scheint auf den ersten Blick in der Tat sehr vielversprechend zu sein: Alles, was an einem bestimmten Raumzeitpunkt lokalisierbar und identifizierbar ist, muss auch individuiert sein. In praxi bilden sich freilich zwei Probleme, deren eines sofort ins Auge springt und deren anderes trotz Strukturanalogie nicht auf den ersten Blick erkennbar ist: 1. Im Alltag sprechen wir von der Identität von Gegenständen und von Personen nicht nur zu bestimmten Zeitpunkten, sondern auch über verschiedene zeitliche Lokalisationen hinweg. Damit stellt sich aber das schwierige Problem, ab wann und bis wann etwas Besonderes eben dieses Besondere ist. Wann beginnt die Besonderheit einer geschaffenen Person und wann endet sie? Beginnt sie mit der Verschmelzung von Samen und Eizelle, beginnt sie mit der Geburt? Oder irgendwann dazwischen oder danach? Ist das Ende der besonderen Person mit dem irreversiblen Verlöschen der Hirnfunktionen gegeben, d. h. mit dem Hirntod? Wenn ja, warum spricht man dann nicht von einer Hirngeburt der Person? Oder erst mit der Verwesung? Oder dauert die Person auch über den Tod hinaus?21 2. Aber nicht nur Fragen der zeitlichen Identität bereiten Schwierigkeiten, sondern auch Fragen der örtlichen Identität. Ist dieses Gebäude ein Individuum oder sind das Hauptgebäude und der Anbau zwei verschiedene Individuen?22 Um diese Probleme der Verwendung des Begriffs des Besonderen alltagssprachlich zu lösen, wurde schon von Hume das Prinzip raumzeitlicher Lokalisation als Individuationsprinzip modifiziert: Nicht die raumzeitliche Lokalisation an sich galt nun als Individuationsprinzip, sondern die raumzeitliche Lokalisation in Bezug auf ein beobachtendes Subjekt bzw. auf intersubjektiv beobachtende Subjekte:

20 Vgl. Mìhling, M., Einstein und die Religion, 262 – 299. 21 Vgl. Mìhling, M., Eschatologie, 157 – 161. 22 Vgl. Schlapkohl, C., Persona est naturae rationabilis individua substantia, 237 f.

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„Thus the principle of individuation is nothing but the invariableness and uninterruptedness of any object, through a supposed variation of time, by which the mind can trace it in the different periods of its existence, without any break of the view, and without being obliged to form the idea of multiplicity or number.“23

Nur wirklich benachbarte räumliche Punkte und nur benachbarte raumzeitliche Punkte, die kontinuierlich im Geist bzw. Subjekt erscheinen, können als ein bestimmtes Besonderes gelten. Wo die Grenze zur Umwelt liegt, ist weitgehend konventionell durch die intersubjektiv identifizierenden personalen Subjekte bestimmt. In ähnlicher Weise muss zwischen den einzelnen zeitlichen Punkten eine Kontiguität oder auch eine Kausalität herrschen, um von einem besonderen Individuum sprechen zu können.24 Auch hier ist es eine Konvention der interpersonalen Subjektivität, die zeitliche Grenze von Individuen zu bestimmen. Von besonderer Virulenz ist dieses Problem bei personalen Gegenständen. Die Beobachtung der privaten Bewusstseinskontinuität einer geschaffenen Person kann nämlich theoretisch trügerisch sein. Zumindest theoretisch sind nämlich Personen mit Bewusstseinsspaltung anzunehmen oder zwei verschiedene Personen mit der gleichen Bewusstseinsausprägung.25 Auch bei der Individualität von Personen ist also die intersubjektive Kommunikation mit ins Spiel zu bringen, wenn von deren Besonderheit gesprochen werden soll. Aber auch die Ergänzung raumzeitlicher Relationen zur subjektiven oder intersubjektiven Beobachtung ist nicht unproblematisch. Sie hat Derek Parfit dazu geführt, auch die individuelle Personalität von Personen als Problem der Konvention anzusehen. Darüber hinausgehend versteht Parfit Personen nicht wirklich als etwas Besonderes, sondern als raumzeitliche Kollektive: Räumlich besteht eine menschliche Person aus den Kollektiven ihrer Körperteile, diese wiederum sind Kollektive aus den Zellverbänden; zeitlich ist eine Person ebenfalls ein Verband von Kollektiven der psychischen Kontinuität der Erinnerungen.26 Abgesehen von ethischen Problemen der Segmentierung der personalen Identität führt dieser Ansatz ganz grundsätzlich die Schwierigkeit mit sich, dass der Begriff des Individuums zugunsten dem des Kollektivs verschwindet. Da der Begriff des Kollektivs aber notwendig auf den des Individuums angewiesen ist, weil jedes Kollektiv nur ein Kollektiv von Individuen sein kann, wird das Rätsel des Besonderen nur um so dringlicher gestellt, wenn jedes dieser Individuen wiederum ein Kollektiv aus anderen Individuen sein soll und so weiter bis in die Unendlichkeit. Obwohl die bisher geschilderten Probleme der raumzeitlichen Individuation eigentlich schon seit ihren Anfängen bei John Locke diskutiert werden und keine grundsätzlichen Lösungen gefunden haben, dürfte doch die Vor23 24 25 26

Hume, D., Treatise, Vol. 1, 195. Vgl. Mìhling, M., Einstein und die Religion, 137 – 144. Vgl. Lem, S., Auferstehungsmaschine. Vgl. Parfit, D., Reasons and Persons, 216 f.

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stellung der raumzeitlichen Individuation bis heute weit verbreitet sein und gewissermaßen die opinio communis hinsichtlich der Lösung der Individuationsfrage darstellen. Analytisch fällt auf, dass die traditionellen Bearbeitungen des Problems zwischen Spätantike und früher Neuzeit die Frage der ontologischen Individuation in den Vordergrund stellen und in der Regel nicht die Frage nach der epistemologischen Identifikation stellen, während die Idee des raumzeitlichen Lokalisationsprinzips spätestens seit D. Hume als Problem der Identifizierbarkeit behandelt wird. Wir sahen aber eingangs, dass beide Probleme nicht identisch sind, sondern in einem asymmetrischen Wechselverhältnis stehen: Alles, was identifizierbar ist, wird auch individuiert sein. Nicht alles, was individuiert ist, muss auch identifizierbar sein. Individuation und Identitfikation hängen also zusammen, sind aber nicht identisch: Eine Antwort auf die Frage nach dem Identifikationsprinzip bedingt noch nicht automatisch eine Antwort auf die Frage nach dem Individuationsprinzip und umgekehrt. Die neuzeitliche, in unterschiedlichen Philosophien mehr oder weniger bewusste Konfundierung beider Problemlagen ist aber spätestens mit der Kopenhagener Interpretation der Quantentheorie, dem gescheiterten Versuch der Widerlegung im EPR-Papier Einsteins, den Bell’schen Ungleichungen und dem mehrfachen praktischen Nachweis der empirischen Führbarkeit EPR-artiger Experimente Ende des 20. Jh. durch A. Zeilinger u. a. nicht mehr haltbar.27 Denn lautet die These, dass raumzeitliche Identifizierung auch Individuation bedeutet, dann lässt das EPR-Experiment nur den Schluss zu, dass entweder keines der „Teilchen“ – weder das ursprüngliche noch die „Folgeteilchen“ – individuiert wären, oder aber – was die einfachere Annahme ist –, dass der ereignishafte Versuchsaufbau als Ganze, einschließlich der Messapparaturen der Makrowelt, die den Kollaps der Wellenfunktion induzieren, als ein nicht mehr teilbares Individuum verstanden werden muss. Dies aber steht im Gegensatz zu unserer Alltagsidentifikation, die die einzelnen Teile der Anordnung dennoch als etwas Besonderes oder Individuelles betrachten will, da ihr ja identifikatorisch verschiedene Teile von Raum und Zeit zugewiesen werden können 2.1.2 Zwischenfazit Die traditionellen Thesen zu einer Suche nach dem Individuationsprinzip, wie sie in den ersten drei Modellen beschrieben wurden, einschließlich der Prävalenz des Allgemeinen, überzeugen nicht. Ebensowenig überzeugt die vermeintliche Lösung mittels der Umkehrung des Problems, nach der die Prävalenz dem Individuellen zugeordnet wird, wie sie im vierten Modell be27 Vgl. Bell, J.S., On the EPR Paradox, sowie den Überblick über experimentelle Bestätigungen der Verletzung der Bell’schen Ungleichungen in Zeilinger, A./Weihs, G./Jennewein, T./ Aspelmeyer, M., Happy Centenary.

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schrieben wurde. Vielversprechender ist die These einer raumzeitlichen Individuation bzw. die Kombination einer raumzeitlichen Individuation mit einer subjektiven oder intersubjektiven Identifikation. Kennzeichen dieses fünften Modells ist eine strikt relationale Art der Individuation oder Identifikation. Dennoch zeigen der empirische Befund der EPR-Experimente und die Überlegungen zu den Bell’schen Ungleichungen, dass die These, dass alles, was ein Gegenstand sein kann, bzw., dass alles, was individuiert ist, raumzeitlich individuiert sein muss, eindeutig falsifiziert ist. Um nun in der Argumentation weiter fortschreiten zu können, ist zunächst zu fragen, warum die raumzeitliche Lokalisation überhaupt eine solch vordergründige Plausibilität besitzt. Die Antwort darauf ist einfach: Es liegt nicht an der ontologischen Beschaffenheit der Raumzeit an sich. Was immer Raum oder Zeit sein mögen, ist relativ gleichgültig. Die Plausibilität liegt an einer bestimmten relationslogischen Struktur räumlicher und zeitlicher Relationen: Sie alle – d. h. räumliche Relationen, wie „links neben“, „rechts neben“, „vor“, „hinter“, „über“, „unter“, sowie zeitliche Relationen, wie „früher“ und „später“ – haben den Charakter von Ordnungsrelationen, d. h. sie sind irreflexiv, asymmetrisch und transitiv. Nicht die spezifischen physikalischen oder ontologischen Eigenschaften der raumzeitlichen Relationen bewirken die Plausibilität hinsichtlich der Identifizierung, sondern eben diese Eigenschaft der Ordnungsrelationalität. Diese Eigenschaft kommt aber grundsätzlich auch vielen anderen denkbaren Relationen zu, z. B. der alphanumerischen Sortierung eines Lexikons. Daher lässt sich vermuten: Worin immer auch das Individuationsprinzip tatsächlich bestehen mag, es muss dieser relationslogischen Art der Individuation oder Identifikation genügen.

2.1.3 Schöpfungstheologische Argumentation Die im ersten Abschnitt geschilderten Schwierigkeiten des Grundes der Individuation welthafter Gegenstände haben auch stets zu einer schöpfungstheologischen Antwort geführt. So lehnte Heinrich von Gent als Zeitgenosse Thomas von Aquins dessen grundsätzlich aristotelischen Lösungsversuch der Individuation der Form durch die Materie ab und postulierte, dass die Besonderheit aller welthaften Besonderheiten letztlich relational in der Relation Gottes zu den welthaften Besonderheiten begründet sei.28 Diese schöpfungstheologische Argumentation wurde seither vielfach wiederholt. Besonders in den ethischen Debatten um den Personbegriff in der deutschen Theologie des beginnenden 21. Jh. dürfte sich die Einsicht durchgesetzt haben, dass besondere geschaffene Personalität nicht durch kommunikative welthafte Re28 Vgl. Gent, H.v., Quodlibeta, 2,8.

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lationen, sondern durch die Relation Gottes zu den besonderen geschaffenen Personen begründet ist.29 Wird diese These aber nur soweit entwickelt, dass über Gott nicht mehr gesagt werden kann, als dass Gott die Bedingung der Möglichkeit der Individuation geschaffener Entitäten ist, ist allerdings nicht mehr gesagt, als wenn irgendeine andere (nicht weiter bestimmte) Instanz diese Rolle einnimmt. Und genau dies ist in der Geschichte des Individuationsproblems in der Neuzeit ja geschehen. Diejenigen Probleme raumzeitlicher Individuation, die diese nicht wie die Folgen des EPR-Experiments als Ganze in Frage stellen, wurden mit dem Bezug raumzeitlicher Relationen auf eine Bedingung ihrer Möglichkeit, entweder im einzelnen erkennenden Subjekt oder in der Kommunikation geschaffener Subjekte in ihrer Intersubjektivität beantwortet. In ihrer ethischen Valenz unterscheiden sich beide Antworten, weil die Kommunikation menschlicher Intersubjektivität immer in Gefahr steht, den Interagierenden verfügbar zu sein – und zwar auch dann, wenn man nicht die eigene Subjektivität als basal anführt, sondern mit der Alterität des Anderen in der Tradition des französischen Postmodernismus beginnt –, sei es als Konstitutionsgrund des Eigenen oder als Bedrohung des Eigenen.30 Diese Verfügbarkeit ist bei der schöpfungstheologischen transzendentalistischen Begründung von geschaffener Besonderheit nicht gegeben. Fragt man aber nicht ethisch, sondern strukturell, wird man feststellen, dass sich beide Antworten gleichen. Beide haben eine voluntaristische Tendenz und neigen dazu, die Besonderheit in Willensentscheidungen zu begründen. Man könnte sogar die These vertreten, dass die Rolle Gottes als Konstitutionsgrund des Besonderen bei Bonaventura in der Neuzeit nun dem Subjekt oder den interpersonalen Subjekten zugeschrieben wird. Demgegenüber wird die Theologie die Abhängigkeit der Konstitution des Besonderen als Besonderes vom Schöpfer zwar betonen müssen. Aber sie wird dabei nicht stehenbleiben können, wenn sie nicht Gott als lediglich eine transzendentalistisch erklärete, unbekannte Variable x – und damit zwar als Ursprung, aber auch als Ausnahme unseres begrifflichen Denkens – behaupten will. Man wird also theologisch mehr sagen müssen. Mehr zu sagen, ist allerdings nicht schwer : Geschichtlich wurde der spätantiken und mittelalterlichen Philosophie die Valenz des Individuationsproblems ja durch die Erkenntnis des Ursprungs von theologischer Erkenntnis durch Offenbarung vorgegeben: Eben weil die für christliche Theologie unhintergehbare Behauptung im Raum steht, dass der besondere Mensch Jesus 29 Vgl. Mìhling, M., Ethik, 235 – 261. 30 Bei L¦vinas taucht das Problem auf, dass seine Philosophie der Alterität immer schon ein vorher konstituiertes Subjekt oder Seiendes voraussetzt, so dass es sich um eine individualistische Philosophie, nicht um eine relationale handelt. Zwar ist Sein immer Interessiert-Sein im Kampf der Egoismen (vgl. L¦vinas, E., Jenseits des Seins, 26 f.) und Alterität immer synchron zum Sein (vgl. L¦vinas, E., Jenseits des Seins, 176), aber gerade damit gehört Alterität zwar wesentlich zum Sein, nicht aber zu dessen Konstitution.

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Christus die letztgültige Selbsterschließung des Ursprungs und Ziels allen Seins darstellt – also der Selbstpräsentation. Damit ist aber nichts anderes gesagt, als dass sich Gott letztgültig selbst identifiziert in Jesus Christus. Offenbarung muss daher nicht nur als Selbstpräsentation, sondern ebenfalls auch als Selbstidentifikation Gottes verstanden werden. Diese Selbstidentifikation geschieht aber nicht anders als in der Verklammerung der Lebensgeschichten partikularer Personen mit der Geschichte des Evangeliums, und das heißt: Sie geschieht, indem partikularen, zum Glauben gekommenen Personen die Wahrheit der Geschichte des Evangeliums als Wahrheit ihres Lebens erschlossen wird. Das Evangelium hat dabei aber nicht nur eine narrative Struktur, sondern seine narrative Struktur verweist neben der Geschichte Jesu auch auf zwei weitere unhintergehbare Teilnarrationen, durch die die Selbstidentifikationspräsentation Gottes für die Glaubenden immer mit geschieht: Die Selbstidentifikationspräsentation Gottes in der Geschichte Jesu Christi verweist auf die Geschichte der Herrschaft des Gottes Israels in Schöpfung und Weltgeschichte, die eben im Wirken Jesu anbricht. Die Faktizität dieses Anspruchs der Selbsterschließung des Gottes Israels in Christus kann dem Christen oder der Christin allerdings nur gewiss sein, indem er oder sie sich als Teil einer dritten Narration, der Geschichte der Selbstidentifikationspräsentation Gottes im Glauben schaffenden Handeln an der Gemeinschaft der Kirche, erweist. Zusammenfassend kann man daher sagen: Die letztgültige Selbstidentifikation des Ursprungs und Ziels des Seins in Jesus Christus hat mit Robert W. Jenson gesprochen31 eine unhintergehbare triadische Struktur : Sie verbindet drei narrative Identitätsbeschreibungen Gottes miteinander. Unter der Prämisse, dass es tatsächlich Gott ist, der sich hier selbst identifiziert, gilt, dass Gott auch so sein muss, wie er sich für uns identifiziert. M.a.W.: Aus Gottes Selbstidentifikationspräsentation folgt logisch Gottes Selbstidentifikation. Aus Gottes Selbstidentifikation folgt logisch aufgrund der Selbstreue oder Wahrhaftigkeit Gottes seine Selbstindividuation. Historisch wurde diese Selbstindividuation Gottes in der Geschichte der Trinitätslehre zu verstehen versucht. 2.1.4 Der Beitrag der Trinitätslehre zur Entwicklung einer relationalen Ontologie und zur Lösung des Individuationsproblems Hier ist nun nicht der Ort, die Geschichte aller Probleme der Trinitätslehre vorzustellen. Vielmehr sollen hier nur diejenigen Sachverhalte benannt werden, die zur Entwicklung einer relationalen Ontologie und damit zu einer Lösung des Individuationsproblems insgesamt beigetragen haben. Klassisch erscheint die Lehre von den innergöttlichen Personalprozessionen in einer doppelten Gestalt, der ostkirchlichen und der westkirchlichen. 31 Vgl. Jenson, R.W., Triune God.

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Man spricht von zeitlosen, ewigen Ursprungsrelationen in Gott selbst. Östlich geht man von der gennesis des Sohnes und der ekporeusis des Geistes aus dem Vater aus, d. h. man unterscheidet zwei verschiedene, schon individuierte Arten von Relationen, die dann die Besonderheit der drei göttlichen Personen begründen. Da es unmöglich ist, anzugeben, worin in Gott selbst, also unter Absehung von der Welt, der Unterschied zwischen gennesis und ekporeusis bestehen soll, hat der Westen diese Unterscheidung relativiert und kommt mit Hilfe des filioque zu einer Modellierung der göttlichen Ursprungsrelationen, die mit einer einzigen Relation auskommt: Aus dem Vater geht in Ewigkeit der Sohn hervor und aus dem Vater und dem Sohn der Geist. Aus diesem Relationsgefüge, in dem der Vater keinen, der Sohn einen und der Geist zwei Ursprünge haben, ist mit einem Blick zu erkennen: Es handelt sich hier um eine nicht räumlich und nicht zeitlich gedachte Ordnungsrelation, d. h. eine asymmetrische, irreflexive und transitive Relation. So sehr die Trinitätslehre durch die Debatten der trinitarischen Renaissance der letzten 30 Jahre eine Revision erfahren haben mag, so haben sie doch an der grundsätzlichen Bestimmung der trinitarischen Relation als logische Ordnungsrelation prinzipiell nichts geändert. Zwar hat man mitunter versucht, wie bei Moltmann das westliche mit dem östlichen Modell zu kombinieren, indem eine Konstitutionsebene der Trinität von einer Beziehungsebene unterschieden wird.32 Zwar hat man versucht, die einseitige Richtung der Ursprungsrelationen vom Vater aus durch umgekehrte Relationen vom Geist ausgehend zu korrigieren, etwa in der Rede von relations of liberation bei R.W. Jenson.33 Man hat also, kurz gesagt, zu Recht betont, dass eine wechselseitige Konstitutivität der trinitarischen Personen untereinander besteht. Aber dennoch hat man dabei den Gedanken der Ordnungsrelation grundsätzlich nicht aufgegeben. Wichtig an dieser Entwicklung der Trinitätslehre ist also zweierlei: 1. Die göttlichen Personen stehen in wechselseitig, ontisch konstitutiven Relationen: Ohne den Vater gibt es keinen Sohn und Geist. Ohne den Geist gibt es keinen Sohn und Vater. Ohne den Sohn gibt es keinen Vater und Geist. Diese wechselseitige Konstitutivität garantiert die Einheit Gottes. Dies ist eine Einheit, die strikter gedacht ist als jede Einheit geschaffener besonderer Entitäten: Menschliche Personen haben einen Körper und dieser besteht aus den zu einem Organismus verbundenen Teilen; diese Teile sind zumindest z. T. durchaus austauschbar, ohne die Existenz oder Identität des Körpers der Person zu gefährden. Die streng wechselseitig konstitutiv verbundenen Relate Gottes, d. h. die göttlichen Personen, sind aber durch diese streng wechselseitige Konstitutivität eben keine Teile Gottes. Diese wechselseitigen Beziehungen sind das relationale Wesen 32 Vgl. Moltmann, J., Trinität und Reich Gottes, 199. 33 Vgl. Jenson, R.W., ST I, 161: „the Spirit liberates the Father for the Son from and for the Father“.

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Gottes selbst, und es wird als Liebe bezeichnet: Gott ist Liebe; und zwar auch ohne dass die Welt gedacht werden musste; und zwar in einem viel strikteren Sinne als geschaffene Liebe überhaupt gedacht werden könnte. 2. Unbeschadet dieser wechselseitigen Konstitutivität hinsichtlich der Liebesrelation sind die Personen relational unterschieden und individuiert durch die o. a. reine Ordnungsrelation. Damit gibt es in Gott nicht nur höchste Einheit, sondern auch höchste Unterschiedenheit oder Differenz: Der Vater ist nicht der Sohn oder Geist. Der Sohn ist nicht der Vater oder Geist. Der Geist ist nicht der Vater oder der Sohn. Sie erhalten ihre Identität jeweils streng relational, indem sie voneinander und füreinander Andersheiten sind. Für Gott gilt daher : Identität ist nur in Differenz zu denken und Differenz nur mit unterschiedlichen Identitäten. Identität erscheint hier streng relational. Das Wesen Gottes ist gewissermaßen seine eigene Ordnungsrelation. Um diese grundlegenden Sachverhalte ausdrücken zu können, wurde in der Geschichte der Theologie oft begrifflich gerungen. Die jeweiligen ontologischen Paradigmen, die in der Regel aus anderen Traditionen stammten – das neuplatonische Paradigma, das aristotelische Paradigma, das subjektivitätstheoretische Paradigma, das Ich-Du-Paradigma des dialogischen Personalismus, das Alteritätsparadigma Levinas’ etc. – waren dabei oft nicht unbedingt hilfreich, weil in einer im Prinzip fremden ontologischen Begrifflichkeit etwas ausgedrückt werden sollte, was die jeweiligen Begriffssysteme prinzipiell sprengte. Daher kam es nur selten zur Entwicklung einer streng relationalen Ontologie. Und wenn dies geschah, dann wurden diese Einsichten oft schnell vergessen. Das vielleicht eindrücklichste und m. E. auch fruchtbarste Beispiel liefern einige begriffliche Gedanken Richard v. St. Victors aus dem 12. Jh.34 Für ihn besteht alles, was es gibt, aus Existenzen. Der Begriff der existentia verbindet dabei zwei Aspekte: den des sistere, d. h. den Aspekt der Relathaftigkeit, und den Aspekt des ex, d. h. den Aspekt der Relation. Wollte man den Begriff Richards der existentia ins Deutsche übersetzen, müsste man sagen: Eine existentia ist ein Voneinander-und-Füreinander-Sein. Ex-sistenzen können allgemein oder besonders sein; Personen sind u. a. besondere Existenzen. Sie sind in-communicabilis existentiae, d. h. ins Deutsche übersetzt: im Austausch nicht-mitteilbare Voneinander-und-Füreinander-Seinende. Auf die göttlichen Personen angewandt bedeutet dies: Jede Person ist nur eine Existenz, weil sie in Relation steht. Diese Relationen sind kommunikative Relationen. Hier erscheint die Bedeutung von incommunicabilis als in-communicatione, d. h. als im Austausch stehend. Dabei erscheint aber relational etwas, was die Besonderheit ausmacht, d. h. etwas, das nicht mitteilbar ist. Hier erscheint also ebenfalls die Bedeutung von incommunicabilis im Sinne der 34 Vgl. Richard von St.Victor, De Trinitate, Buch 4.

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Verneinung nicht mitteilbar. Der Terminus incommunicabilis ersetzt also bei Richard mit Bedacht die Termini specialis, d. h. den Terminus des Besonderen, particularis, d. h. den des Teilartigen, und individualis, d. h. den des Individuellen oder Unteilbaren. Richard wendet diesen Personbegriff nicht nur auf göttliche Personen an, sondern auch auf alle geschaffenen Personen.35 Richards Begriffssystem bedeutet daher, wie auch schon die begriffliche Klärung der Trinitätslehre durch die Kappadozier,36 nichts weniger als eine ontologische Revolution. Dies ist dabei eine ontologische Revolution, die die Bedeutung der ersten empirischen Wende tatsächlich begrifflich zum Tragen kommen lässt. Freilich ist es auch eine ontologische Revolution, die sich auf Dauer nicht durchgesetzt hatte. Zu sehr war man im mittelalterlichen aristotelisch-neuplatonischen Begriffssystem gefangen. Und schon Richard selbst erkennt die grundlegende Bedeutung seiner eigenen Entdeckung nicht wirklich, fällt er doch immer wieder hinter sie zurück. Zu dieser wahrhaft relationalen Ontologie gehört es, nicht nur das Substanz-Akzidenz-Schema durch das von Relation und Relat zu ersetzten. Sondern entscheidend ist eben, dass Richard es gewagt hatte, beide Aspekte in dem einen basalen Begriff der Ex-sistenz zu verbinden. Erst dadurch wird eine wahrhaft relationale Ontologie erreicht. Denn die Unterscheidung von Relat und Relation beinhaltet nur dann eine relationale Ontologie, wenn sie als relative, nicht als absolute Unterscheidung verstanden wird: Was auf einer Ebene ein Relat sein kann, erweist sich auf einer anderen wieder als Relation. Und die Relate dieser Relation erweisen sich ebenfalls wieder als prozedierende Relationen. Wenn man diese Einsicht, die jüngst von M. Welker erneut betont wurde,37 nicht vehement vertritt und stattdessen von einer absoluten Unterscheidung von Relat und Relation ausgeht, endet man letztlich doch bei atomistischen, basalen Relaten, die kaum in internen Relationen stehen können. Folgt man diesen Anregungen aus der Trinitätslehre, lässt sich die o. a. schöpfungstheologisch-transzendentalistische Individuation der welthaften Besonderheit sinnvoll untermauern: In der Tat ist Gott der Ursprung jeglicher welthaften Besonderheit, aber eben exakt deswegen, weil Gott geschöpfliches Sein in treuer Entsprechung zu seinem eigenen Sein geschaffen hat. Nicht die Raumzeit bildet den Individuationsrahmen geschöpflicher Besonderheit, sondern das Handeln des dreieinigen Gottes an und in der Welt selbst. Aber die Raumzeit bildet für uns den umfassenden Identifikationsrahmen. Dazu ist sie präzise deswegen in der Lage, weil Gott mit der Raumzeit ein Geschöpf in strukturell formaler Entsprechung zu seinem eigenen Sein in Ewigkeit geschaffen hat. Insbesondere geschaffene Personen sind dann imagines trinitatis und imagines dilectionis des Seins Gottes. Als solche sind geschaffene Personen 35 Vgl. Richard von St.Victor, De Trinitate, 4,11 – 12. 36 Vgl. Zizioulas, J.D., Signifikanz des kappadozischen Beitrags. 37 Vgl. Welker, M., Relation: Human and Divine.

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keine Kollektive und keine Individuen, sondern Voneinander-und-Füreinander-Seiende. Das christliche Menschenbild ist weder kollektivistisch noch individualistisch; auch nichts in der Mitte davon. Vielmehr ist es ein relationales Menschenbild: Wir gehören einander und als Einander-Gehörende letztlich Gott dem Schöpfer, Erlöser und Vollender. In christlicher Vorstellung ist sich der Mensch de facto seiner eigenen relationalen Konstitution nicht bewusst oder falsch bewusst, d. h. in klassischer Terminologie: Er ist stets Sünder. Diese Sünde äußerst sich darin, dass sich der Mensch im Rahmen seines vorgegebenen konstitutiven Relationsgefüges selbst falsch relationiert sieht und sich so in seinem eigenen aktiven Verhalten in diesen vorgegebenen Bezogenheiten diesen widersprechend verhält: Er neigt zum Individualismus oder Kollektivismus und verkennt dabei die Eigenart seines Geschaffenseins. Um es mit Luther auszudrücken: „Kein Geschöpf lebt sich selbst oder dient sich selbst außer der Mensch und der Teufel. Die Sonne scheint nicht für sich selbst, Wasser fließt nicht für sich selbst, usw. So verhält sich jedes Geschöpf nach der Regel der Liebe.“38

Aus diesem sündhaften Zustand kann der Mensch dann letztlich nur herauskommen aufgrund der Versöhnung in Christus und der eschatischen Vollendung im Geist. Sich als das zu erkennen, was er ist, nicht nur intellektuell, sondern auch affektiv, ist damit ebenfalls nur aufgrund von Versöhnung und eschatischer Vollendung möglich. Sich selbst als Person zu identifizieren und die Mitpersonen mit sich, ist folglich letztlich ebenfalls nur aufgrund von Versöhnung und aufgrund der eschatischen Vollendung möglich. Wenn die neuzeitliche Annahme richtig ist, dass zur Individuation die Fragen der Identifikation und Identität dazugehören, dann wird der Mensch letztlich erst in seiner eschatischen Vollendung zur Person, weil er erst dann wird, was er schon immer als Geschaffener ist: eine incommunicabilis existentia, die sich eben dessen auch in Selbsterschlossenheit bewusst ist. Diese theologischen Einsichten in die Problematik des Zustandekommens des Besonderen sind erkenntnistheoretisch nicht allgemeingültig: Sie beruhen notwendigerweise unter faktischen Bedingungen auf der Selbsterschließung bzw. präziser auf der Selbstidentifikationspräsentation Gottes. Während diese das Wesentliche ist, ist ihre begriffliche Ausgestaltung letztlich solange zweitrangig, wie nicht andere Begriffssysteme die Selbstidentifikationspräsentation Gottes unklar werden lassen.

38 Luther, M., WA 5,38,14 – 16: „nulla creatura sibi vivit aut servit praeter hominem et diabolum. Sol non sibi lucet, aqua non sibi fluit &c. Ita omnis creatura servat legem charitatis“.

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2.2 Gottes perichoretische Einheit 2.2.1 Ist die Einheit Gottes verstehbar? Die Dreiheit Gottes ist aufgrund von Gottes Selbstindividuation einschließender Selbstidentifikation, wie sie in der narrativ verschränkten Erfahrung von Gottes Selbstidentifikationspräsentation im Leben der Glaubenden gegeben ist, offenbar. Dies schließt, wie wir sahen, das Verstehen dieser dreifachen Besonderheit Gottes genauso ein wie das Verstehen der welthaften Besonderheiten. Ist Wolfhart Pannenbergs These, dass nicht zuerst die Einheit Gottes, sondern die Dreiheit Gottes biblisch offenbar ist,39 ist zumindest insofern zuzustimmen, als tatsächlich die Dreiheit und Besonderheit der göttlichen Personen zuerst narrativ und sodann auch begrifflich erschlossen sind. Wie aber verhält es sich mit der zweiten Hälfte der These Pannenbergs? Ist die Einheit damit tatsächlich das begrifflich denkerische Problem? Einige Theologen der trinitarischen Renaissance, wie vor allem Moltmann, ziehen daher in Konkordanz zu Pannenbergs These auch in Zweifel, dass es sich beim Christentum um eine monotheistische Religion handele.40 Dennoch ist diesem Ansatz zunächst zu widersprechen: Die ontologische Rekonstruktion eines der ersten empirischen Wende entsprechenden Personbegriffs hat gezeigt, dass von einer Adäquanz einer sozialen Trinitätslehre jedenfalls nicht gesprochen werden kann, weil nicht menschliche Sozialität das Modell sein kann, mit dem Gott zu verstehen ist. Menschliche Sozialität ist als solche mehrdeutig. Sie muss nicht zwangsläufig auf einem relationalen Personbegriff einer Person als eines Voneinander-und-Füreinander-Seins beruhen, sondern kann auch, wie z. B. die einschlägigen Vertragstheorien zeigen,41 auf individualistischen Menschenbildern beruhen. Insofern mit dem Begriff des Voneinander-und-Füreinander-Seins nicht nur der Begriff der besonderen Person gegeben ist, sondern im Falle Gottes gleichursprünglich auch der Begriff der dreistelligen Relation, ist letztlich auch die Einheit Gottes mitgedacht: als eben unhintergehbare relationale Einheit. Die Einheit des Wesens Gottes ist daher nicht anders als die Einheit dieser lebendigen Relation der Liebe, die so nur Gott ist, zu denken. Allerdings ist damit die Frage nach dem Verständnis, wie und auf welche Weise Gott auch als „eins“ zu verstehen ist, noch nicht gelöst. Denn diese Frage wird nicht einfach mit dem Verweis beantwortet, dass Gottes Einheit relational zu verstehen ist, sondern es kommt vor allem darauf an, welche Relationalität zur Erfassung des christlichen Gottesverständnisses in Anschlag zu bringen ist. Die Theologien der trinitarischen Renaissance ringen 39 Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 322. 347. 40 Zu Moltmanns Monotheismuskritik in Moltmann, J., Trinität und Reich Gottes, 207. Vgl. jetzt auch Schwçbel, C., Gott im Gespräch, 379 – 406. 41 Vgl. Mìhling, M., Ethik, 208 – 213.

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durchaus um diese Frage. Dabei macht man auch zahlreiche Anleihen bei traditionellen Begriffen. Einer dieser Begriffe, der sich gegenwärtig einiger Beliebtheit erfreut, ist der Begriff der trinitarischen Perichorese als des sich wechselseitigen Durchdringens der trinitarischen Personen. Die Perichorese scheint damit eine konzeptionell herausragende Stellung zu besitzen, die Eberhard Jüngel in folgender Weise beschreibt: „Durch das trinitarische Modell von Perichorese wird herausgestellt, dass Gottes Wesen ein beziehungsreiches Wesen und dass die Relationalität von Vater, Sohn und Geist umfassend und radikal ist […]. Das Modell leitet dazu an, die Wesenseinheit Gottes nicht als metaphysische Prämisse für die dann geradezu „nachklappende“ trinitarische Selbstunterscheidung, sondern Gottes eines und einziges Sein als ereignisreiche Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins zu denken, die ewige Liebe genannt zu werden verdient. In diesem oder ähnlichem Sinne hat der Begriff Perichorese in der zeitgenössischen evangelischen und katholischen Theologie aufs neue Karriere gemacht“.42

Gottes Wesen als beziehungsreich zu verstehen und Gottes Sein als ereignisreiche Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins zu denken, die Liebe genannt zu werden verdient – wer wollte das nicht? Stimmt man diesen Zielen von Herzen zu, wird sich nur umso mehr eine kritische Überprüfung der konzeptionellen Verwendung des Perichoresebegriffs lohnen, unabhängig davon, wie diese ausfällt. Und genau diese kritische Überprüfung der konzeptionellen Kraft des Perichoresebegriffs ist erneut Aufgabe dieses Kapitels.43 Dabei werden wir zunächst nach der historisch genetischen Herkunft des trinitarischen Perichoresebegriffs fragen (1), um darauf exemplarische Verwendungsweisen des Perichoresebegriffs in Geschichte und Gegenwart anzuführen, wobei es sich um die Verwendungen bei Johannes Damaszenus, Matthias Joseph Scheeben, Karl Barth, Wolfhart Pannenberg, Jürgen Moltmann und Gisbert Greshake handelt (2). In einem dritten Schritt werden unterschiedliche begriffliche Rekonstruktionsmöglichkeiten des Perichoresebegriffs entwickelt (3), die dann zur vorläufigen Beurteilung der genannten Verwendungsweisen herangezogen werden, d. h. zur Beurteilung der Frage, ob der Perichoresebegriff das Versprochene nach den Maßstäben der Alltagslogik leistet (4). Anschließend wird das Sachproblem besprochen, d. h. die Frage, welche Bedingung – neben anderen hier nicht genannten Bedingungen – erfüllt sein muss, um Gottes Wesen als beziehungsreich zu verstehen und Gottes Sein als ereignisreiche Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins zu denken (5). Dabei wird sich letztlich zeigen (6), dass der Perichoresebegriff, wenn er die Logik der Unendlichkeit berücksichtigt, in der Tat in der Lage ist, den Gedanken der Einheit Gottes modellhaft verständlich zu machen. 42 Jìngel, E., Art. Perichorese, 1111. 43 Diese Aufgabe wurde schon einmal in Mìhling, M., Abschied von der Perichorese? zu bewältigen versucht, dort im Unterschied zu hier fälschlich mit einem negativen Ergebnis.

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2.2.2 Die christologische Herkunft des trinitarischen Perichoresebegriffs Historisch genetisch stammt der Begriff der Perichorese in seiner philosophischen Verwendung aus der Stoa und dem Neuplatonismus, um die Einheit von Leib und Seele auszusagen und wurde dann, naheliegender Weise, zunächst christologisch verwandt, um die Ungeschiedenheit und die Zusammengehörigkeit der menschlichen und der göttlichen Natur Christi zu modellieren, so schon bei Gregor von Nazianz bis hin zur altprotestantischen Orthodoxie, die dann zwischen einer personalen Perichorese in christologischer Hinsicht und zwischen einer essentialistischen Perichorese in trinitarischer Hinsicht unterschied.44 Die Herkunft des Begriffs aus der Christologie ist bei Johannes Damaszenus’ trinitarischer Verwendungsweise noch deutlich zu sehen und nicht als unproblematisch zu bewerten. Die Problematik dieser Herkunft besteht dabei weniger darin, dass hier sachliche und historische Vorgängigkeit vertauscht wären,45 sondern darin, dass hier ein Begriff in formaler Weise auf zwei sachlich völlig unterschiedene Probleme angewandt werden soll. Dies setzt nämlich eine strikte Trennung zwischen Sachgehalt und Formalgehalt eines Problems voraus; andernfalls würde inhaltlich das eine Problem vom Problemgehalt des anderen belastet werden. Um diesem Verdacht entgehen zu können, ist die genannte altprotestantische Unterscheidung eine notwendige Bedingung; ob sie dazu auch ausreicht, bleibt fraglich. Diese Stellungnahme ist freilich zu explizieren: Historisch und sachlich gesehen, ist das trinitarische Problem dem christologischen vorgängig. Während in Konstantinopel eine historisch-politisch und sachlich brauchbare Lösung gefunden wurde, führte der Kompromiss von Chalzedon weder historischpolitisch zu einer brauchbaren Lösung, denn die Reichseinheit ging verloren, noch in sachlicher Weise, da das Chalzedonense gar keine positive Formulierung vorschlägt, sondern sich rein negativ mit Hilfe der vier Alpha privativa abgrenzt. Freilich wurde, wenn auch nicht historisch-politisch, so doch sachlich angemessen, unter Justinian gut ein Jahrhundert nach Chalzedon eine positive Lösung des christologischen Problems gefunden. Diese Lösung bestand nun gerade nicht darin, dass man den Einigungsprozess der beiden Naturen in Christus zu einer Person mit der trinitarischen Einheit dreier unterschiedener Personen zu einem Wesen verband, wie es die Verwendung des Perichoresebegriffs in beiden Fällen nahezulegen scheint. Zwar wurde das christologische Problem hier mit Hilfe eines Theorieimports aus der Trinitätslehre gelöst, aber keines formalen, sondern eines inhaltlichen: Man entdeckte aufgrund der Anregung skythischer Mönche, dass der physis-Begriff der Christologie und der Essenzbegriff der Trinitätslehre exakt parallel zu gebrauchen sind; ebenso der Hypostasenbegriff: Die eine Person Christi muss 44 Vgl. Greshake, G., Art. Perichorese; Jìngel, E., Art. Perichorese. 45 Vgl. Jìngel, E., Art. Perichorese, 1110.

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in ihrer Identität die Person des göttlichen Logos sein, die zum Wesen Gottes gehört. Infolgedessen ist die Inkarnation als die Menschwerdung einer Person der Trinität zu denken und entsprechend muss die Annahme der Menschheit als Annahme einer weiteren Natur gedacht werden, die nun aber selbst anhypostatisch ist, weil sie enhypostatisch im ewigen Logos existiert.46 Entscheidend ist für unsere Zwecke nicht, ob man dies für eine tragfähige Lösung des christologischen Problems hält. Entscheidend ist hier die Art und Weise des Theorieimportes: Um das christologische Problem zu lösen, wird hier das trinitarische als gelöst vorausgesetzt. Dessen Begriffe werden übernommen und sie geben nun den Interpretationsrahmen ab, innerhalb dessen die unio personalis der Person Christi zu denken ist. Diese ist dabei gerade nicht formal identisch mit der Einheit des Wesens Gottes zu denken; da diese Einheit genau wie die vorgängige Göttlichkeit der Person Christi nun vorausgesetzt ist, ist die skythische Lösung Justinians nun stärker an Kyrill als an Antiochia orientiert; sie sagt nicht mehr einfach ein „unvermischt“ und „ungetrennt“ aus, sondern spezifiziert deutlich, was getrennt und was vermischt werden kann und was nicht. Die christologische Redefigur der Perichorese, wenngleich auch später angewandt, entstammt aber dem chalzedonensischen Problemniveau der Christologie bzw. dem Stand vor der Lösung von Konstantinopel II und reproduziert letztlich den abgrenzend-definitorischen Gehalt der chalzedonensischen Lösung. Überträgt man diese Denkfigur nun auf die Einheit der Personen der Trinität in dem einen Wesen Gottes, gerät man in Gefahr, auch das Problem zu übertragen, dass diese Einheit in Unterschiedenheit nun auch parallel zum christologischen Stand Chalzedons modelliert wird: Man sagt nicht mehr, als dass sowohl eine Einheit denkbar sein muss als auch, dass eine Unterschiedenheit denkbar sein muss. Daher besteht die Gefahr, dass lediglich das Problem als Problem kolportiert wird und der Stand positiver Problemlösung durch die neu-nizänische Theologie unterboten wird. Personale Einheit ist etwas völlig anderes als Wesenseinheit, ebenso sind personale Differenzen etwas völlig anderes als Wesensdifferenzen. Besteht die Gefahr, dass der Perichoresebegriff genau dies zu verschleiern droht? Freilich reichen solche theologiegeschichtlichen Bedenken nicht aus, um dem Perichoresebegriff den Abschied zu erteilen. Vielmehr ist das Sachproblem zu untersuchen. Wir werden daher im Folgenden konkrete Verwendungsweisen des Perichoresebegriffs, wie sie in der Tradition erscheinen, betrachten.

46 Zur christologischen Begriffsbildung in der christlichen Antike vgl. Beyschlag, K., Dogmengeschichte I, bes. 174 – 185.

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2.2.3 Die Perichorese in der Theologiegeschichte 2.2.3.1 Perichorese bei Johannes Damaszenus Johannes Damaszenus übernimmt den Begriff der Perichorese im trinitarischen Zusammenhang von dem ansonsten unbekannten Pseudo-Cyrill47 und nutzt ihn als Erster programmatisch in einer begrifflich ausgearbeiteten Fassung: „Die Personen weilen und wohnen ineinander. Denn sie sind unzertrennlich und gehen nicht auseinander, sie sind unvermischt ineinander, jedoch nicht so, dass sie verschmelzen oder verfließen, sondern so, dass sie gegenseitig zusammenhängen. Denn der Sohn ist im Vater und Geiste, und der Geist im Vater und Sohne und der Vater im Sohne und Geiste, ohne dass eine Zerfließung oder Verschmelzung oder Vermischung stattfände. Und es besteht Einheit und Identität in der Bewegung, denn die drei Personen haben nur eine Bewegung, eine Tätigkeit. Das lässt sich bei der geschaffenen Natur nicht beobachten“.48

Der erste Hinweis, nach dem die Perichorese mit der Unzertrennlichkeit und dem gegenseitigen Zusammenhang der Personen expliziert wird, ist noch reichlich unspezifisch, so dass Johannes als exaktere Erläuterung das gegenseitige Sein der Personen ineinander anführen muss. Ist eine Figur A räumlich in einer Figur B und ist diese Figur B räumlich in A, sind beide deckungsgleich und daher identisch: Es handelt sich um nur eine Figur. Da Gott nicht räumlich zu denken ist, muss Johannes angeben, für welche Hinsicht diese an sich räumliche Metapher gedacht ist: Es ist hier die Identität von Bewegung und Tätigkeit des Wesens, der Wirksamkeit des Willens, der Macht, der Kraft und Güte. Ausdrücklich betont Johannes, dass er damit tatsächlich eine Identität, nicht eine Ähnlichkeit im Sinn hat.49 Da die Perichorese also hier als Identitätsbezeichnung gebraucht wird, muss Johannes explizit eine von den genannten Hinsichten spezifizierte Hinsicht angeben, um nicht in Sabellianismus zu fallen. Daher betont er, dass die Personen nicht verschmelzen oder verfließen. Hier erinnert der Begriffsgebrauch noch deutlich an dessen historische Genese aus der Christologie. Es muss also noch ein Differenzprinzip, ein Prinzip der Alterität oder ein Individuationsprinzip geben, das dem perichoretischen Gedanken hinzuzufügen ist. Johannes benennt dieses Prinzip auch in seiner Tradition explizit mit dem Gedanken der traditionellen Ursprungsrelationen in östlicher Prägung: Der ungezeugte Vater zeugt den Sohn, der so von ihm unterschieden ist, und lässt den Geist hervorgehen, der damit von ihm unterschieden ist. Weil Zeugung und Hervorgang unterschiedliche 47 Vgl. Pseudo-Cyrill, De Trinitate, PG 77, (1164 A). 48 Damaszenus, J., de fide orthodoxa (dt.). BKV 44, 42. 49 Vgl. Damaszenus, J., de fide orthodoxa, 1, 8, BKV 44, 24.

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Relationen sind, sind auch Sohn und Geist unterschieden.50 Will man diesen perichoretischen Gedanken nun tatsächlich in dieser Form auf den Begriff bringen, muss gefragt werden, was Zeugung und Hervorgang sind und was nicht. Zeugung und Hervorgang sind keine Bewegung, keine Tätigkeit, keine Essenz, kein Wille, keine Macht oder Kraft, sondern nicht raumzeitlich gedachte Prinzipalbeziehungen.51 Fragt man aber, was nichtraumzeitliche Prinzipalbeziehungen sind, fragt man also, für welche Hinsichten Identität und Nicht-Identität gelten, so wird man bei Johannes auch fündig: „Man muss wissen, dass etwas anderes die sachliche Betrachtung und etwas anderes die logische oder begriffliche ist. Bei allen Geschöpfen wird der Unterschied der Hypostasen sachlich betrachtet […]. Die Gemeinsamkeit aber, die Zusammengehörigkeit und die Einheit werden logisch und begrifflich angeschaut […]. Bei der heiligen, überwesentlichen allerhabenen, unbegreiflichen Dreieinigkeit aber ist es umgekehrt. Denn hier wird das Gemeinsame und Eine sachlich betrachtet […]. Begrifflich aber sind sie unterschieden. Denn wir erkennen einen Gott. Nur in den Eigentümlichkeiten der Vaterschaft, der Sohnschaft und des Ausganges, hinsichtlich des Prinzips und des Prinzipierten […] denken wir Unterschiede […].“52

Johannes’ hier genannte ontologische Fundamentaldistinktion zwischen sachlich und begrifflich lässt sich mit der ontologischen Fundamentaldistinktion zwischen Extension und Intension wiedergeben: Nicht nur hinsichtlich begrifflicher Wesensbeschreibungen wie Wille, Wesen, Kraft und Macht etc. besteht zwischen den Wesen Identität, sondern sie sind sachlich, d. h. extensional, als identisch, d. h. als eins, zu betrachten. Die Differenz ermöglichenden Prinzipalbeziehungen hingegen sind rein begriffliche, d. h. lediglich intensionale Unterschiede. Um zu sehen, was dies in seiner Radikalität bedeutet, bilde man die sich durch Freges53 Erklärung von Extension und Intension nahegelegte Analogie: Vater, Sohn und Geist verhalten sich in ihrer Identität zu ihrer Differenz wie sich der Planet Venus in seiner Identität zu seiner begrifflich differenten Bestimmung als Abendstern (= Stern, der am Abend zuerst zu sehen ist) und Morgenstern (Stern, der am Morgen bis zuletzt zu sehen ist). Lediglich wenn man, was für Johannes selbstverständlich gilt, intensionalen Differenzen Realität zuspricht, was also den Rahmen eines universalienrelevanten, starken Platonismus oder Realismus voraussetzt, führt Johannes’ Erklärung der Perichorese nicht zu einem Sabellianismus und kann insofern als rechtgläubig gelten. Aber auch unter diesen Bedingungen zeigt die Trinitätstheologie von Johannes, dass die übliche Unterscheidung, der Westen betone mit Augustin eher die Einheit der Personen, der Osten mit 50 51 52 53

Vgl. Damaszenus., 1,8, BKV 44, 24 f. Vgl. Damaszenus., 1,8, BKV 44, 26. Vgl. Damaszenus., 1,8, BKV 44, 23 f. Frege selbst benutzt die Terminologie Sinn und Bedeutung; die hier verwandte Terminologie geht auf Carnap zurück, hat aber den Vorteil, dass sie keine umgangssprachlichen Konnotationen bietet.

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den Kappadoziern eher die Differenz, so nicht stimmt: Johannes kommt hier dem augustinischen Modell, das von einer extensionalen Einheit der Personen und lediglich von intensionalen Differenzen ausgeht,54 nicht nur einfach sehr nahe, sondern exemplifiziert begrifflich präzise mit wenigen Worten, wofür Augustin mehrere Bücher braucht. Wie ist die Erklärung der Perichorese bei Johannes zu bewerten? Unter den genannten Bedingungen eines universalienrelevanten Platonismus kann Sabellianismus vermieden werden. Stimmt man dieser ontologischen Voraussetzung nicht zu, bewirkt der perichoretische Gedanke bei Johannes begrifflich eindeutig den Kollaps in ein monolithisches Gottesverständnis. Für eine relationale, extensionsdistinkte Trinitätslehre, wie sie sich aus dem Gedanken der narrativen Selbstidentifikationspräsentation Gottes ergibt, kann das Verständnis der Perichorese nach Johannes gerade nicht in Anspruch genommen werden; und zwar nicht, wie Pannenberg meint, weil die Einheit der primär unterschiedenen Personen hier erst nachgängig festgestellt wäre und daher vorgängig schon anderweitig zu begründen wäre, sondern weil Johannes den Begriff der Perichorese gerade vorgängig nutzt, um Einheit als Identität, Differenzlosigkeit und Alteritätslosigkeit auszusagen. Theologiegeschichtlich ist darauf hinzuweisen, dass ein derart pointiertes Verständnis eines Perichoresebegriffs, das konzeptionell tragende Funktion hat und nicht nur zusammenfassenden Charakter, in der Geschichte der Trinitätslehre erst im 20. Jh. wieder erscheint. Sowohl in der röm.-kath. Theologie des 19. Jh. als auch noch in der Mitte des 20. Jh. in der reformatorischen Theologie bei Karl Barth erhält beispielsweise die Perichorese noch keine konzeptionell tragende Funktion, was im Folgenden zu zeigen ist:

2.2.3.2 Perichorese in der Neuscholastik bei Matthias Joseph Scheeben Scheeben nutzt den Perichoresebegriff, um die Einheit Gottes aussagen zu können, neben anderen Denkfiguren, die Ähnliches leisten.55 Das Ziel ist, die Identität der Personen auszusagen, ohne deren Unterschiede aufzugeben. Die Perichorese als wechselseitige adäquate Durchdringung und comprehensio im Doppelsinn von circuminsessio und circumincessio ist dazu geeignet, weil eine Wesenseinheit der Personen schon vorgängig vorausliegt.56 Entscheidend ist dabei, dass Scheeben die trinitarische Perichorese dadurch strikt von der christologischen und geschöpflichen abtrennt, denn in letzteren Fällen handele es sich um eine Vereinigung zweier nicht homogener Substanzen.57 Wie wird die nun gestellte Aufgabe gelöst? Scheeben hält die räumliche Analogie 54 55 56 57

Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 87. Vgl. Scheeben, M.J., Dogmatik, Bd. 1, 882. Vgl. Scheeben, M.J., Dogmatik, Bd. 1, 884. Vgl. Scheeben, M.J., Dogmatik, Bd. 1, 884.

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für wenig hilfreich. Es geht vielmehr um die innigste Gemeinschaft des Wesens und Lebens derselben Tätigkeit im Lebensverkehr der Personen. Die geschöpfliche Analogie dazu ist das Einander-im-Herzen-Tragen der jeweils anderen Person zweier geschöpflich Liebender, nur dass die Analogie dadurch qualifiziert werden muss, dass sie im Falle Gottes keine rein ethische sei. Dennoch ist das so verstandene Ergebnis der Einheit „eine durchaus einzige und erhabene Gesellschaft, eine Gesellschaft, deren Glieder in der vollkommensten Weise gleichartig, verwandt und verbunden sind, und welche deshalb das unerreichbare, ewige und wesentliche Ideal aller andern Gesellschaft ist“.58

Damit ist zu sehen, dass Scheebens perichoretisches Einheitskonzept nicht auf einen sabellianischen Identitätskollaps hinausläuft. Allerdings ist auch deutlich, dass die Alterität der Personen gegeneinander nicht mit der Perichorese begründet wird. So sind hier weder Einheit noch Distinktizität der Personen in der Perichorese begründet, sondern sie soll nur eine Figur sein, um diese nachträglich aussagen zu können. Perichorese heißt also: Einheit und Distinktizität sind in Gott verbunden. Mehr nicht. Will man wissen, warum und wie das zu denken ist, muss man sich anderen Konzeptionen zuwenden.

2.2.3.3 Perichorese in der Trinitätslehre Karl Barths Barth geht davon aus, in der Perichorese habe – explizit nach Johannes von Damaskus – der Gedanke Ausdruck gefunden, nicht die Identität der Personen, sondern deren Mitgegenwart füreinander seien bestimmend.59 Wir sahen, dass diese Ablehnung des Identitätsbegriffs nicht von Johannes Damaszenus gestützt wird. Unter Verweis auf den mittelalterlichen Befund versteht Barth die Perichorese einerseits als Kreislauf der drei Seinsweisen, hält aber auch die durch die (durch Aussprachegleichheit zustande gekommene) Begriffsverschiebung von circumincessio zu circuminsessio, die die räumliche wechselseitige Inexistenz der Personen betont, für legitim.60 Auf diese Weise betont die eine Interpretation mehr die Einheit, die andere mehr die Distinktizität der Personen. Für Barth ist damit – ähnlich wie bei Scheeben – die 58 Scheeben, M.J., Dogmatik, Bd. 1, 884. 59 Vgl. Barth, K., KD I/1, 390. 60 Vgl. Barth, K., KD I/1, 390 f. Dieser Sachverhalt ist insofern interessant, als Jìngel, E., Art. Perichorese, 1110 f diesen Sachverhalt anders sieht: Da die Begriffsverschiebung durch eine Aussprachegleichheit zustande gekommen sei, spreche dies nicht dagegen, dass sich die Einheit der trinitarischen Personen als konkrete Einigkeit im Einswerden der Personen vollziehe. Hier unterscheidet sich Jüngel aber nicht nur von Barth oder Scheeben, der genau dies explizit abgelehnt hatte (vgl. Scheeben, M.J., Dogmatik, Bd. 1, 884), sondern auch von Johannes Damaszenus selbst, der noch vor dieser scheinbaren Begriffsverschiebung im Lateinischen den griechischen Ausdruck gerade in seiner statischen, räumlichen Dimension benutzt hatte.

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Perichorese kein begründender Begriff in der Trinitätslehre, sondern ein zusammenfassender.61 Für Barth dürfte wahrscheinlich noch nicht ein kommuniales Trinitätsverständnis im Vordergrund stehen, sondern die vorgängige Einheit der Personen wird auch im Gebrauch des Abschnitts über die Perichorese betont, was auch der Verweis auf Anselms Monologion nahelegt, in dem eine radikalisierte augustinische, kaum noch abzulehnende sabellianische Fassung der Trinitätslehre geboten wird.62 Ähnlich Scheeben hat auch bei Barth der Perichoresebegriff damit noch keine konzeptionsbegründende Funktion. Dies ändert sich in der zweiten Hälfte des 20.Jh., der wir uns nun exemplarisch zuzuwenden haben. 2.2.3.4 Perichorese in der Trinitätstheologie Wolfhart Pannenbergs Einen vom klassischen Gebrauch unterschiedenen Gebrauch von Perichorese findet man bei Wolfhart Pannenberg. Pannenberg widmet dem Perichoresebegriff kein eigenes Unterkapitel im Rahmen seiner Trinitätslehre, sondern benutzt den Begriff hin und wieder, wenn es ihm sachlich angemessen erscheint. Dabei zeigt sich, dass mit einer einzigen Ausnahme63 das Verständnis der gegenseitigen Durchdringung der als extensionsdistinkt gedachten Personen keine primäre Rolle spielt. Vielmehr dient der Begriff bei Pannenberg als Gesamtbezeichnung für das trinitarische Beziehungsgefüge, d. h. für die Relationen der Personen untereinander, wie immer diese auch zu beschreiben sein mögen.64 In der Konkretion bedeutet dies freilich, dass Pannenberg davon ausgeht, dass dieses Beziehungsgefüge durchaus in seiner Wechselseitigkeit zu verstehen ist. Die klassische Rede von den Ursprungsrelationen wird aufgrund des biblischen Befundes, der nicht zwischen processiones und missiones unterscheidet, zu Recht relativiert. Dieses wechselseitige perichoretische Beziehungsgefüge ist dabei nach Pannenberg durchaus ein Ausdruck für die Einheit der Personen. Da jedoch primär die Dreiheit Gottes, nicht dessen Einheit offenbar ist, kann es sich bei der so verstandenen Perichorese nach Pannenberg lediglich um eine nachträgliche Begründung der Einheit der Personen handeln. Dies wird insbesondere gegen Moltmann hervorgehoben.65 Pannenberg selbst versucht nicht, die konkreten Beziehungen dieses perichoretischen Beziehungsgefüges konkret zu beschreiben, sondern diagnostiziert vielmehr, dass es sich hier um ein ungelöstes Problem handele.66 De facto wird man aber davon ausgehen können, dass der Begriff der wechselseitigen 61 62 63 64 65 66

Vgl. Barth, K., KD I/1, 391. Vgl. Barth, K., KD I/1, 390 mit Verweis auf Anselm, Monologion, 59. Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 449. Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 347. 353. 362. 364 (FN). 416. Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 364 (FN). Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 362.

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Selbstunterscheidung der Personen zumindest einen Versuch der Zusammenfassung dieses Beziehungsgeschehens darstellt. Pannenbergs Perichoresebegriff ist kohärent, allerdings so offen, dass zwei Fragen bleiben: Inwieweit mit ihm sowohl die Einheit Gottes als auch die Unterschiedenheit der Personen gewahrt bleiben kann, bleibt bewusst offen. Fest steht lediglich, dass hier in irgendeiner Weise von der Nicht-einlinigkeit der Beziehungen zwischen den trinitarischen Personen ausgegangen wird, was immer dies genauer heißen mag. Um uns dieser Frage zuzuwenden, ist es sinnvoll zum Perichoresebegriff Jürgen Moltmanns überzuwechseln, denn auf diesen bezieht sich Pannenberg in einer ganzen Reihe seiner Verwendungen des Begriffs. 2.2.3.5 Perichorese in der Trinitätstheologie Jürgen Moltmanns Jürgen Moltmanns Trinitätstheologie ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er innerhalb des trinitarischen Beziehungsgefüges eine Distinktion einzieht zwischen einer Konstitutionsebene der Trinität und einer Beziehungsebene der Trinität. Die Konstitutionsebene wird durch die klassischen Ursprungsrelationen ohne filioque gebildet. Da diese einerseits asymmetrisch sind, andererseits in ihrer Beziehungsqualität schon in Zeugung und Hervorgang differenziert sind, kann auf diese Weise ganz traditionell die Individuiertheit der Personen gewahrt werden. Die Beziehungsebene beschreibt das Leben der trinitarischen Personen in ihrer Wechselseitigkeit. Hier sind die Beziehungen offensichtlich symmetrisch und dynamisch gedacht. Diese Beziehungsebene wird mit dem Begriff der Perichorese beschrieben.67 Und damit erscheint ein wesentlicher Unterschied zu Pannenberg: Während bei Pannenberg, angeregt durch Moltmann, Perichorese für das trinitarische Beziehungsgefüge als Ganzes steht, wie immer dies zu beschreiben sein mag, steht bei Moltmann Perichorese nur für denjenigen Teil des trinitarischen Beziehungsgefüges, der rein wechselseitig ist. Interessant ist hier, dass Moltmann unter expliziter Berufung auf Johannes von Damaskus und die mittelalterliche Lehrbildung die Sprache der wechselseitigen Ineinanderexistenz der Personen aufnehmen kann, die bei Johannes von Damaskus als Konzept für die Einheit des Wesens Gottes sichtbar wurde. Dies korrespondiert mit der Tatsache, dass auch die Verwendung von Perichorese bei Moltmann, soweit sie die Wechselseitigkeit der Beziehungen des Beziehungsgefüges bezeichnet, die Einheit Gottes in dessen Einigkeit ausdrückt. Steht damit Moltmann, der als Vertreter par excellence einer kommunialen Trinitätslehre gilt, in deutlicher Nähe zu Johannes von Damaskus, dessen Perichoresebegriff gerade nicht mit einer kommunialen Trinitätslehre vereinbar erschien? Um diese Frage klären zu können, muss untersucht werden, ob und in welcher Weise sich die beiden bei Moltmann erscheinenden Verwendungsweisen von Perichorese, einerseits 67 Vgl. Moltmann, J., Trinität und Reich Gottes, 191 – 193.

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die gegenseitige Ineinanderexistenz der Personen und andererseits die strikte Wechselseitigkeit von Relationen, entsprechen können. Dies bedarf einer systematischen Analyse, der wir uns in Kürze zuzuwenden haben.

2.2.3.6 Perichorese in der Trinitätstheologie Gisbert Greshakes Das dritte Beispiel eines Theologen, dessen Trinitätslehre unter den „kommunialen“ Typus fällt und der dieses Wort explizit für seine Trinitätslehre in Anspruch nimmt, ist Gisbert Greshake. Greshake ist hier zu erwähnen, weil sein Perichoresebegriff sich grundlegend von dem Pannenbergs und Moltmanns unterscheidet. Zwar bezieht sich Greshake auch auf traditionelle Perichoresedefinitionen, wie z. B. die Definition des Konzils von Florenz, die inhaltlich nicht über Johannes Damaszenus hinausgeht,68 gibt diesen Definitionen aber eine eigenständige Wendung: „Die göttliche Einheit ist eine Einheit, in der im wirklichen Sinn in und mit jeder Person, ohne dass diese ihre Einmaligkeit verliert, die andere(n) mitgegeben ist/sind, da jede ihr ganzes Sein nur von der anderen her und auf die anderen hin hat, somit ihr eigenes Sein in und durch die anderen vermittelt realisiert und deshalb ohne die anderen nicht ist und nicht gedacht werden kann. Das bedeutet: In jeder einzelnen Person sind sowohl das Ganze des Beziehungsgefüges wie auch die übrigen Personen präsent. Eben dies meint der traditionelle Begriff der Perichorese.“69

Dieser Abschnitt ist nicht ganz leicht zu verstehen und muss im Rahmen von Greshakes gesamter Trinitätslehre und dessen sonstiger Verwendung des Perichoresebegriffs gedeutet werden. Dann zeigt sich: Perichorese ist hier nicht einfach Ausdruck für das trinitarische Beziehungsgefüge als Ganzes – wie immer dieses trinitarische Leben zu beschreiben sein mag – wie bei Pannenberg. Perichorese ist auch nicht Ausdruck für denjenigen nichtasymmetrischen Teil des wechselseitigen trinitarischen Beziehungsgefüges, der vom asymmetrischen Konstitutionsprozess in den Ursprungsrelationen unterschieden ist. Sondern Greshake hat Folgendes im Sinne: Die Rede von den traditionellen Ursprungsrelationen ist aufzugeben. Primär einsehbar ist die Dreiheit Gottes. Das trinitarische Leben in Liebe als Ausdruck des gesamten trinitarischen Beziehungsgefüges ist nun so zu verstehen, dass es zwar wechselseitig ist, aber gerade sowohl die Einheit der Personen als auch deren Distinktizität und Alterität begründet. Während Pannenberg im trinitarischen Beziehungsgefüge ein Unbestimmtheitsmoment stehen lässt, und Moltmann die Distinktizität der Personen nicht durch die Perichorese, sondern die Ursprungsrelationen begründet sieht, verlagert Greshake die Begründung von 68 DS 1331: „Propter hanc unitatem pater est totus in Filio, totus in Spiritu Sancto; Filius totus est in Patre, totus in Spiritu Sancto; Spiritus Sanctus totus est in Patre, totus in Filio“. 69 Greshake, G., Der dreieine Gott, Freiburg i.Br. u. a. 20014, 199.

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Alterität in die wechselseitigen Ursprungsrelationen hinein. Es liegt auf der Hand, dass dies nur dann funktionieren kann, wenn sich Greshakes Perichoresebegriff deutlich von dem bei Johannes Damaszenus vorfindlichen Begriff unterscheidet. Und dies ist in der Tat so: Greshake spricht von der Perichorese in der Regel vom „trinitarischen Wechselspiel der Liebe“, von der „Rhythmik der Liebe“, in der jede Person „nur in der anderen sie selbst ist und im Vollzug des eigenen Personseins die anderen in sich einbringt und umfängt (Perichorese)“70, etc. Dabei ist der Begriff des Spiels als strenge Analogie ernst zu nehmen. Greshake nutzt diese Analogie als Einheitsmodell, dem etwa gegenüber dem Pannenberg’schen Feldmodell der Vorzug zu geben ist: „Ein Spiel ist ein Beziehungsgefüge, das es nicht ohne Personen und Zuordnung zu distinkten Personen gibt und das doch so spielt, dass es in jedem Spieler auf höchst spezifische Weise als Ganzes anwesend ist. Kein Schauspieler, der in einem Drama spielt, kein Sportler, der sich in einem Gruppenspiel engagiert, kein Kind, das ein Rollenspiel mitspielt, spielt einen Teil des Spiels: es spielt es ganz, aber nicht allein und für sich. Jeder spielt das Spiel „totum, non totaliter“. In diesem Sinne läßt sich die göttliche Communio als Spiel der göttlichen Liebe verstehen“.71

Greshakes perichoretisches Spiel entpuppt sich dabei konkret als Tanz bzw. Rundtanz der Liebe, in der sich die Liebenden umtanzen. Damit geht Greshake explizit einen deutlichen Schritt hinter die Begriffsverwendung bei Johannes Damaszenus zurück auf die frühere, gänzlich untheologische Bedeutung des Begriffs und nimmt so eine Neubildung vor.72 Greshakes These ist also, dass in der wechselseitigen Bezogenheit der Personen aufeinander sowohl Einheit als auch Distinktizität der Personen begründet sind. Ist dies möglich? Und unter welchen Bedingungen? Damit kommen wir nun zum systematischen Teil dieser Ausführungen.

2.2.4 Begriffliche Reformulierungsmöglichkeiten Der Vergleich der Begriffsverwendung zwischen Moltmann und Johannes Damaszenus zeigt, dass die konzeptionelle Funktion bei beiden einander ähnelt: Die Konstitution der Personen und ihrer distinkten Besonderheiten bleibt dem Gefüge der Ursprungsrelationen überlassen, während die Perichorese als Einheitsmodell fungiert. Der Unterschied besteht dabei darin, dass es sich bei Johannes Damaszenus um eine zwischen den Personen extensional identitätsstiftende Einheit mittels der Figur wechselseitiger Ineinanderexistenz handelt, so dass die Personalproprietäten letztlich nur intensionale Differenzen sind, während bei Moltmann die Perichorese nicht als Ineinander70 Vgl. Greshake, G., Der dreieine Gott, 187. 189. 190. 205 f u. a. 71 Greshake, G., Der dreieine Gott, 190. 72 Vgl. Greshake, G., Art. Perichorese, 31 – 33.

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existenz, sondern als Wechselseitigkeit von Beziehungen gedacht ist. Intendiert ist damit, dass auf diese Weise die extensionale Distinktizität auch der Personen gewahrt werden kann. Die Frage lautet hier : Sind beide Redeweisen ineinander übersetzbar und worin bestehen die Unterschiede? Um diese Frage bearbeiten zu können, ist es sinnvoll, zunächst zu fragen, was Wechselseitigkeit von Beziehungen bedeuten kann.73 Dies hängt zunächst davon ab, ob man Relationen extensional oder intensional versteht. Was ist der Unterschied? Bei einer extensionalen Betrachtungsweise sind die realen Relate als Entitäten gegeben und damit auch die Relation, die zwischen ihnen besteht und zwar unabhängig von deren intensionaler Beschreibung. Bei einer intensionalen Betrachtungsweise hingegen ist primär eine intensionale Beschreibung gegeben, die zwischen Relaten besteht, was in der Regel ausschließt, dass diese Beschreibungen vollständig sind. Die Wirklichkeit der konkreten Relation zwischen diesen Relaten ist damit noch nicht vollständig erfasst. Ein Beispiel: Reden wir von zwei Menschen, A und B, die in einer Vorlesung nebeneinander sitzen, und betrachten diesen Sachverhalt extensional, meinen wir, wenn wir von der Relation zwischen diesen beiden Menschen reden, alles, was sich in diesem Sachverhalt aufzählen lässt: A sitzt neben B, A hat eine schnellere Auffassungsgabe als B, B schreibt von A ab, A bewundert B’s hübsches Aussehen etc. Was immer sich zwischen A und B abspielt, gehört in der extensionalen Betrachtungsweise zur Relation zwischen A und B. Betrachten wir dieselbe Situation intensional, wählen wir einen primären Beschreibungsaspekt, z. B. den des Nebeneinandersitzens. Alle anderen Aspekte spielen keine Rolle. Wollen wir bei der extensionalen Betrachtungsweise mehr über die zwischen A und B herrschende Relation erfahren, müssen wir die konkrete Situation beobachten. Wollen wir bei der intensionalen Betrachtungsweise mehr über die Situation erfahren, müssen wir von der konkreten Situation abstrahieren und fragen, was es an sich heißt, nebeneinander zu sitzen. Wir erfahren hier gerade durch Abstraktion mehr, etwa indem wir feststellen, dass dieselbe Situation auch zwischen C und D etc. besteht. Wechselseitigkeit von Beziehungen kann nun extensional oder intensional verstanden werden. Verstehen wir Wechselseitigkeit intensional, kann sie mit dem Begriff der Symmetrie wiedergegeben werden. Eine Relation ist symmetrisch, wenn die Relation, die zwischen A und B besteht, auch zwischen B und A besteht. So ist „sitzt neben“ symmetrisch. Denn immer wenn A neben B sitzt, sitzt auch B neben A. Und dies gilt unabhängig von der konkreten Situation, denn dies gilt auch für alle anderen Menschen C, D etc. Eine Relation ist asymmetrisch, wenn die Relation, die zwischen A und B gilt, nie umgekehrt für die Relation zwischen B und A gilt. So ist die Relation „kommt in den Raum nach“ 73 Für einen kurzen Abriss der im Folgenden verwandten relationslogischen Begrifflichkeit vgl. Menne, A., Einführung in die formale Logik, 138 – 156.

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asymmetrisch, denn immer wenn A in den Raum nach B kommt, kann B nicht nach A in den Raum gekommen sein. Auch dies gilt für alle Relate C, D etc. unabhängig von der konkreten Situation. Ferner kann eine Relation in dieser Betrachtungsweise weder symmetrisch noch asymmetrisch sein. In diesem Fall ist sie partimsymmetrisch, d. h. teilweise symmetrisch. Ein Beispiel wäre „mögen“, denn wenn A B mag und sympathisch findet, kann es durchaus sein, dass auch B A mag. Aber es gibt auch Menschen, C und D, deren Relation so aussieht, dass C D mag, D aber C nicht ausstehen kann. Bei einer extensionalen Betrachtungsweise sieht dies anders aus. In der Alltagsrealität werden wir hier keine im eigentlichen Sinne symmetrischen Relationen finden, denn dann müsste alles, was über das Verhältnis der Relate A und B zu sagen ist, symmetrisch sein, was außer bei mathematischen Gegenständen kaum der Fall sein dürfte: A mag neben B sitzen, aber A wird nicht genauso groß wie B sein, A mag mit B reden, aber B mag sich weigern, mit A zu sprechen oder nicht exakt zuhören etc. Reden wir extensional von Wechselseitigkeit, meinen wir in der Regel nicht Symmetrie, sondern greifen uns einen intensionalen Aspekt heraus, der symmetrisch ist, während es andere nicht sind. Dabei können diese anderen Aspekte durchaus relevant sein. Das ist beispielsweise der Fall in einer Gesprächssituation, in der A mit B redet und B mit A, so dass hinsichtlich der intensionalen Hinsicht „redet mit“ die Kommunikation symmetrisch ist. Dabei kann sich aber zeigen, dass inhaltlich A B ein Kompliment erteilt und B sich bedankt. Hinsichtlich des Dankesaspekts wie hinsichtlich des Aspekts des Erteilens eines Kompliments wäre diese Relation dann jeweils asymmetrisch. Ist nun die konkrete Kommunikationssituation, die wir hier ja extensional betrachten wollen, wechselseitig? Dem würden wir in der Regel zustimmen. Diese Art von extensionaler Wechselseitigkeit, in der in einer Hinsicht Symmetrie besteht, in anderen aber gerade nicht, auch dann nicht, wenn sie für unser Interesse relevant ist, kann Reziprozität genannt werden. Um für unsere Analyse der Perichorese gerüstet zu sein, bedürfen wir noch einer weiteren Unterscheidung: Beziehungen können auch reflexiv, nichtreflexiv und teilweise reflexiv (partimreflexiv) sein. So ist die Relation „spricht in Gedanken mit sich“ reflexiv, denn A spricht in Gedanken ja mit sich selbst. Reflexivität impliziert in intensionaler Betrachtungsweise auch Symmetrie, denn wenn A im Gedanken mit A spricht, spricht „umgekehrt“ auch A mit A. Nicht jedoch umgekehrt: Symmetrie impliziert nicht immer Reflexivität, sondern nur unter besonderen Bedingungen, wie noch zu sehen sein wird. Die Relation „wird geprüft von“ ist bei formalen akademischen Prüfungen immer irreflexiv, denn niemand darf sein eigener Prüfer sein. Die Relation „hört“ ist teilweise reflexiv, denn wenn A mit jemanden spricht, wird sich A unter normalen Umständen auch selbst hören. Es ist aber denkbar, dass A im Schlaf spricht oder gehörlos ist; in diesem Fall wird A sich nicht selbst hören, wohl aber können andere A hören.

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Wenden wir uns nun der Perichorese zu. Hierbei sind folgende relevante74 Fälle denkbar :

2.2.4.1 Perichorese als extensionale Symmetrie Extensional betrachtet sollen die Relationen zwischen den trinitarischen Personen symmetrisch sein. D.h., es gibt keinen Aspekt, der mit der Perichorese bezeichnet wird, der nicht auch in den umgekehrten Relationen gilt. Die Relation zwischen Vater und Sohn herrscht auch zwischen Sohn und Vater, zwischen Vater und Geist, zwischen Geist und Vater, zwischen Sohn und Geist sowie zwischen Geist und Vater. Nehmen wir an, diese Perichorese wäre alles, was es über das Relationsgefüge zu sagen gäbe, nehmen wir also an, dass die klassischen Ursprungsrelationen entfallen. In diesem Fall träte der Sonderfall ein, dass die Relationen reflexive Relationen wären, die Personen ununterscheidbar wären und strenge Identität zwischen Vater, Sohn und Geist generierten. Dies lässt sich leicht verdeutlichen: Nehmen wir eine Welt an, in der es Raum gibt, aber nichts außer zwei Eisenkugeln. In dieser Welt sind die beiden Eisenkugeln ununterscheidbar, weil alle Relationen, die zwischen ihnen herrschen könnten, symmetrisch wären, bis auf eine: Ein Beobachter außerhalb dieser Welt könnte, aufgrund des Vorhandenseins von Raum, immer noch zwischen Rechts und Links unterscheiden. Tilgen wir aber noch den Raum, bleibt nichts als differenzlose Identität übrig. Extensional betrachtet sind symmetrische Relationen immer reflexiv und damit alteritätsreduzierende Identitätsrelationen. 2.2.4.2 Perichorese als extensionale Reziprozität Verstünden wir die Perichorese als extensionale Reziprozität zwischen den Personen, entstünde diese Gefahr des Kollapses der Personen in die monolithische Identitätslosigkeit nicht. Denn dann wäre nur davon auszugehen, dass ein Teil der intensionalen Aspekte, die die Beziehung beschreiben, symmetrisch sind, während es andere nicht sind. Die Identitäts- und Differenzkonstitution der Personen als distinkter Personen kann dann nur in diesen anderen Aspekten liegen, für die die Symmetrie nicht gilt. 74 Den theoretisch möglichen Gedanken, Perichorese als intensionale Partimsymmetrie zu denken, können wir hier ausschließen, da er unweigerlich zu einer Subordination einer Person unter zwei andere führen würde. Theologiegeschichtlich tritt freilich besonders der Geist im Westen, aber nicht nur im Westen, gelegentlich in diese Rolle. Auch den Gedanken, die Perichorese als asymmetrisch zu betrachten, können wir hier ausschließen. Dies würde in einem vollständigen Subordinationismus enden. Mag es diesen theologiegeschichtlich auch geben, so bezeichnet diesen Fall doch niemand als Perichorese, so dass sich dieses Problem als systematisches in unserem Zusammenhang nicht stellt.

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2.2.4.3 Perichorese als intensionale Symmetrie Kein Problem ergibt sich, wenn mit Perichorese lediglich eine Wechselseitigkeit im Sinne intensionaler Symmetrie gemeint ist. Denn in diesem Fall läge die Individuation der Personen gar nicht im Blickfeld dessen, was mit dem Begriff der Perichorese gemeint ist. 2.2.5 Bewertung der theologiegeschichtlich vorliegenden Konzepte von Perichorese Wir werden nun mit diesem Begriffsapparat die konzeptionell relevanten Begriffsverwendungen von Perichorese, d. h. die von Johannes Damaszenus, Wolfhart Pannenberg, Jürgen Moltmann und Gisbert Greshake bewerten. Das Konzept der Perichorese, wie es bei Johannes von Damaskus vorliegt, lässt sich ohne Probleme von der Sprache der wechselseitigen Ineinanderexistenz der Personen in eine rein relationale Sprache übersetzen. Die räumliche Metapher ist hier gänzlich unwesentlich, da auch hier formal nichts anderes vorliegt als eine streng extensionale Symmetrie zwischen den Personen. Es handelt sich nur deswegen nicht um einen Sabellianismus oder gar Monolithismus, weil Johannes von Damaskus zur Sicherung der Besonderheit der Personen die traditionellen Ursprungsrelationen kennt – wenn auch nur als rein begriffliche Differenz im Rahmen eines universalienrelevanten Platonismus. Demgegenüber handelt es sich bei dem Begriff von Perichorese, den Pannenberg verwendet, eindeutig um den Begriff einer extensionalen Reziprozität. Spannend ist nun die Frage, welche Art von Wechselseitigkeit in Moltmanns Gebrauch von Perichorese vorliegt. Da Moltmann die Ursprungsrelationen nicht wie Johannes als rein begrifflich, sondern als personkonstituierend denkt, scheidet der Fall einer extensionalen Symmetrie aus. Moltmann scheint aber nicht, wie Pannenberg, eine extensionale Reziprozität im Sinne zu haben. Denn er betrachtet das trinitarische Beziehungsgefüge als Ganzes extensional, und unterscheidet zwischen Konstitutionsbeziehungen und Perichorese, so dass für letztere die Wechselseitigkeit in Anspruch genommen wird, für erstere aber gerade nicht. Daher ist anzunehmen, dass Moltmann mit seinem Sprachgebrauch von Perichorese ein intensional symmetrisches Beziehungsgefüge im Auge hat. Denn würde es sich nur um eine extensionale Reziprozität handeln, wäre unverständlich, warum davon noch einmal die Ebene der Ursprungsbeziehungen unterschieden gedacht wäre, denn die Perichorese würde dann schon einen asymmetrischen Anteil wie im Falle Pannenbergs beinhalten. Während sich die deutlich unterschiedenen Perichoresebegriffe bei Jo-

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hannes Damaszenus, Pannenberg und Moltmann begrifflich exakt durch ein relationales Verständnis reformulieren lassen, ohne dass wir hier zu entscheiden hätten, welchem der Vorzug zu geben ist oder ob der Begriff überhaupt trinitarisch zu verwenden ist, verhält sich dies bei Greshake deutlich anders. Denn Greshake will Einheit und Besonderheit durch die Wechselseitigkeit der Perichorese konstituiert wissen und zwar so, dass ein Verzicht auf die traditionellen Ursprungsrelationen möglich ist. Dies ist auch bei Pannenberg der Fall. Denn Pannenberg will zwar die Personkonstitution nicht auf die traditionellen Ursprungsrelationen beschränkt wissen, aber gerade so, dass der asymmetrische Anteil des trinitarischen Beziehungsgefüges als Ganzes ausgeweitet wird, und zwar konkret auf die Rede von der wechselseitigen, d. h. reziproken Selbstunterscheidung der Personen. Genau dies wird bei Pannenberg durch das Verständnis von Perichorese als extensionaler Reziprozität ermöglicht. Den Begriff der extensionalen Reziprozität kann aber Greshake für sein Programm nicht in Anspruch nehmen, denn dann müsste er eine zumindest theoretisch begriffliche Unterscheidung einer Konstitution von Besonderheit zulassen. Freilich kann Greshake auch nicht den Gedanken einer intensionalen Symmetrie mit der Wechselseitigkeit des perichoretischen Liebestanzes meinen. Denn in diesem Fall läge die Konstitution von Besonderheit gerade nicht in diesem Wechselspiel der Liebe, was er aber intendiert. Aber auch der Begriff einer extensionalen Symmetrie kann nicht angewandt werden, denn diese ist derart alteritätsreduzierend, dass eine „kommuniale“ Trinitätslehre, wie sie Greshake im Sinn hat, undenkbar würde. Damit könnte man – die hier entwickelten relationalen Unterscheidungen auf Basis der Logik der Alltagserfahrung vorausgesetzt – zu folgenden Thesen kommen: These 1: Auf die Rede von der Perichorese ist in der trinitarischen Theorie zu verzichten, wenn sie infolge ihrer begrifflichen Erfassung unter den Bedingungen der Logik der Endlichkeit nicht widerspruchsfrei formuliert wird. These 2: Wird die Rede von der Perichorese hingegen widerspruchsfrei entworfen – was in unterschiedlicher Weise bei Johannes Damaszenus, Pannenberg und Moltmann der Fall ist –, kann sie zwar nicht das Problem einer Konstitution von Einheit und Besonderheit in einem einheitlichen Konzept leisten, aber sie kann unter bestimmten Bedingungen ein heuristisches Modell der Gleichursprünglichkeit von Einheit und besonderer Vielheit sein.

2.2.6 Das Sachproblem: Einheit und Besonderheit, Symmetrie und Asymmetrie, Offenbarsein und Verborgensein Gefragt werden muss nun, unter welchen bestimmten Bedingungen sich These 2 formulieren lässt. Diese Bedingungen betreffen zunächst ein Sachproblem: Wie sind Einheit und Besonderheit in Gott konstituiert? Das trinitarische Beziehungsgefüge kann nicht sachgemäß als extensional

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symmetrisch gedacht werden, da dies die Besonderheit der Personen monistisch reduziert. Ebenso macht es wenig Sinn, das trinitarische Beziehungsgefüge als intensional symmetrisch zu verstehen und weiter nichts zu sagen, denn dann verweigert man sich allen weiteren theologischen Reflexionen. Als sinnvoll erscheint daher nur die Möglichkeit, das trinitarische Beziehungsgefüge als extensional reziprok zu denken. Dies setzt aber die weitere Aufgabe, zwischen symmetrischen und asymmetrischen Anteilen zu unterscheiden. Die theologische Tradition tut genau dies, wenn sie die trinitarischen Relationen als kommunikative Relationen versteht, wobei Kommunikation eine reale Mitteilung dessen, was einer Person zukommt, an die anderen bezeichnet.75 Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, dass hier von der Selbstoffenbarung der ökonomischen Trinität auf eine Selbstoffenbarung als Trinitätskonstitution in der immanenten Trinität geschlossen werden kann. Hier erscheint der pure Aspekt der Kommunikation als symmetrisch. Dies ändert sich, wenn man fragt, was eigentlich kommuniziert wird. Denn wird alles, was je einer Person zuzusprechen ist, kommuniziert, erhalten wir keine extensionale Reziprozität, sondern eine extensionale Symmetrie. In diesem Fall wäre die Symmetrie total und man müsste konsequenterweise von einem Selbstgespräch einer Person mit sich selbst sprechen. Will man dies vermeiden, sind asymmetrische Anteile in die Kommunikation einzutragen. Dies bedeutet, übersetzt in prädikatenlogische Eigenschaftsterminologie, dass bei dieser Kommunikation nicht alle Prädikate, die einer Person zukommen, den je anderen übertragen werden können, um Besonderheit und Alterität zu erhalten. Dies wiederum bedeutet, dass die Personen, gerade weil sie füreinander erschlossen und offenbar sind, teilweise verborgen bleiben. Andernfalls könnte nicht mehr von realer Kommunikation gesprochen werden. Damit zeigt sich: Eine notwendige Bedingung für Erschlossensein und Offenbarsein ist teilweise bleibende Entzogenheit und Verschlossenheit. Das bedeutet radikal betrachtet, dass nicht nur Gott für seine Schöpfung gerade in seiner Selbstmanifestation teilweise verborgen bleibt, sondern auch, dass Gott in seinem Sein etsi mundus non daretur für sich selbst teilweise verborgen ist, um sich erschlossen sein zu können. Dies mag ungewöhnlich klingen, aber die theologische Tradition hat diese Denkfigur stets verwandt und auch Spekulationen darüber angestellt, in welcher Weise und an welcher Stelle diese Entzogenheit zu verankern ist. Hier sind im Wesentlichen drei Modelle zu nennen:

75 Dieses Verständnis einer realen Kommunikation liegt etwa im Mittelalter bei Richard von St. Victors Kommunikationsbegriff vor (de trinitate, 4,22 u. a.), aber auch bei Luther (WA 46, 60,4) und wird besonders prominent bei Karl Barth (KD I/1, 311ff), in dessen Offenbarungsmodell die Differenz zwischen Offenbarer, Offenbarung und Offenbarsein eine Realität Gottes selbst darstellt.

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2.2.6.1 Ein einheitliches Prinzip bleibender Entzogenheit in Gott Im „westlichen“ Modell erscheint der Vater als Besonderheitsprinzip, als ursprungsloser Ursprung, aus dem in einer einheitlichen Relation der Sohn hervorgeht und Vater und Sohn zusammen durch dieselbe Relation den Geist hervorgehen lassen. Die Individuation, d. h. Generierung von Alterität und Besonderheit, beruht hier auf einem Zahlenspiel, das das filioque notwendig fordert: Der Vater hat keinen Ursprung, der Sohn hat einen Ursprung und der Geist hat zwei Ursprünge. Dies ist eine rein asymmetrische Relation, die beim Vater endet und diesem allein letztlich intensional unbestimmbare Eigenschaften zuspricht, die eine bleibende Entzogenheit bezeichnen. Damit besitzt dieses Modell, zumindest scheinbar, ein einziges Entzogenheitsprinzip. 2.2.6.2 Ein doppeltes Prinzip bleibender Entzogenheit in Gott Im „östlichen“ Modell ist der Vater zwar auch ursprungsloser Ursprung, aber durch den Wegfall des filioque ist es notwendig, davon auszugehen, dass die Besonderheit von Sohn und Geist nicht durch eine einheitliche Relation zum Vater zustande kommt, sondern durch zwei in sich unterschiedene Relationen, die mit Zeugung und Hervorgang benannt werden. Dabei ist es wichtig, dass nicht weiter angegeben werden kann, worin der Unterschied zwischen Zeugung und Hervorgang besteht. Damit kommt in diesem Modell neben dem Vater ein weiteres Differenzprinzip zum Tragen: die nicht weiter bestimmbare Differenz zwischen Zeugung und Hervorgang. Entsprechend besitzt dieses Modell im Vergleich zum „westlichen“ zwar keine doppelte arche, aber ein doppeltes Entzogenheitsprinzip: Bleibende Entzogenheit ist sowohl dem Vater zuzusprechen als auch der Differenz der beiden Hervorgangsrelationen. 2.2.6.3 Reziproke Asymmetrie als Prinzip wechselseitiger Entzogenheit in Gott Die dritte Möglichkeit besteht darin, das besonderheitsgenerierende Prinzip ganz in die Relationen zu verlagern. Dieses Verfahren kann als das einer reziproken Asymmetrie unterschiedlicher Relationen bezeichnet werden. Hier gäbe es Relationen vom Vater zum Sohn, vom Vater zum Geist, vom Sohn zum Vater, vom Sohn zum Geist, vom Geist zum Sohn und vom Geist zum Vater. Diese Relationen müssten intensional soweit bestimmbar und damit symmetrisch sein, als sie als jeweils kommunikative Relationen – etwa solche der Liebe – angesprochen werden, dass sie aber weitere jeweils nicht mehr bestimmbare intensionale Merkmale enthalten, die dann alteritätsgenerierend

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sind.76 In diesem Modell scheint es zunächst so, als läge das Prinzip bleibender Entzogenheit allein in der dreistelligen trinitarischen Relation göttlicher Liebe und nicht in den Personen selbst. Dies ist aber eine Frage des methodischen Zugangs. Denn wechselt man von der Sprache der Relationen zur Sprache der Eigenschaften, bedeutet dies nichts anderes, als dass eine bleibende Entzogenheit als jeweils intensional unbestimmbares Merkmal sowohl dem Vater als auch dem Sohn als auch dem Geist zuzusprechen ist. Als Beispiele eines solchen Modells können Pannenbergs Modell der wechselseitigen Selbstunterscheidung der Personen genannt werden oder Jensons Modell, der das „westliche Modell“ der vom ursprungslosen Vater ausgehenden Ursprungsrelationen um das Modell der vom nicht befreiungsbedürftigen Geist ausgehenden Befreiungsrelationen ergänzt.77 Wir kommen nun zur dritten These dieses Kapitels: These 3: Allein das letzte Modell reziproker Asymmetrie bleibender Entzogenheit ist sachlich angemessen, da die anderen beiden Modelle das letzte Modell bereits voraussetzen und in Anspruch nehmen. Oder anders ausgedrückt: Die beiden anderen Modelle sind unvollständige begriffliche Beschreibungen des letzten Modells. Das Modell reziproker Asymmetrie bleibender Entzogenheit bietet eine inhaltliche Bedingung, um These 2 vertreten zu können.

Der Nachweis dazu ist einfach zu führen: Er beruht auf der Relativität zwischen der Sprache der Relationen und der Sprache der Eigenschaften. Denn wenn es gelingt zu zeigen, dass in allen Modellen den einzelnen Personen intensional nicht weiter bestimmbare, also in der trinitarischen Kommunikation nicht kommunizierbare Eigenschaften zukommen, ist auch gezeigt, dass die Relationen differenziert zu betrachten sind. Genau dies ist aber klassischerweise in allen Modellen der Fall, wenn vom Begriff der Personalproprietäten die Rede ist: Sohn und Geist mag im ersten Modell alles vom Vater kommuniziert werden, nicht allerdings dessen Ursprungslosigkeit: Diese bleibt Sohn und Geist verborgen. Ebenso können Sohn und Geist dem Vater alles mitteilen, nicht aber das Merkmal, von einem Ursprung auszugehen im Falle des Sohnes bzw. von zwei Ursprüngen auszugehen im Falle des Geistes. Diese Eigenschaften bleiben dem Vater verborgen. Ebenso bleiben diese Eigenschaften Sohn und Geist wechselseitig verborgen. Dasselbe gilt für das zweite Modell: Die Ursprungslosigkeit des Vaters bleibt Sohn und Geist verborgen. Ebenso bleibt das Gezeugtsein des Sohnes und das Hervorgehen des Geistes dem Vater verborgen, wie diese Eigenschaften auch Sohn und Geist wechselseitig verborgen bleiben. Damit ist gezeigt, dass beide Modelle auf dem dritten Modell beruhen. Dieses Modell ist auch immer schon in Anspruch genommen, wenn überhaupt von trinitarischen Personen die Rede ist. Es ist das Verdienst Richard von St. Victors, dies in seiner Persondefinition ausge76 Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 322. 77 Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 335 – 364 und Jenson, R.W., ST I, 146 – 161.

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drückt zu haben, wenn er eine trinitarische Person als eine „incommunicabilis existentia“78, d. h. ein „in Kommunikation nicht-mitteilbares Voneinanderund-Füreinander-Sein“ beschreibt. Das Besondere des trinitarischen Beziehungsgefüges liegt aber gerade darin, dass diese reziproke Asymmetrie des trinitarischen Beziehungsgefüges bzw. das wechselseitige Verborgensein der Personen in ihrer Erschlossenheit füreinander jeweils für die einzelnen Personen und damit auch für die Einheit des Wesens Gottes existenzkonstitutiv ist: Es ist für den Vater nicht nur wesentlich, ursprungsloser Ursprung zu sein, sondern auch Ursprung einer für ihn nicht erschlossenen Gezeugtheit und eines für ihn nicht erschlossenen Hervorgegangenseins zu sein, wenn man beispielsweise die Sprache des zweiten Modells spricht. Er kann gerade nicht die Freiheit haben, nicht Ursprung eines Anderen zu sein. Dies würde die transzendentale Bedeutung der Rede von der Trinität ad absurdum führen, und Gottes trinitarisches Sein wäre nichts weiter als eine Weltverdoppelung. Analoges wäre zum ersten Modell zu sagen. In der Sprache des ersten und zweiten Modells klingt dies kompliziert, da semantische Vorverständnisse oder Konnotationen, was man sich unter „Ursprung“, „Selbst“, „Hervorgang“ und „Zeugung“ vorstellen mag, Irritationen auslösen. In der Sprache des dritten Modells lässt sich dies vergleichsweise einfach ausdrücken: Die reziproke dreistellige Asymmetrie ist sowohl für die Personen wesentlich und konstitutiv als auch – tautologischerweise – für das Wesen Gottes, das nichts anderes als dieses Beziehungsgefüge ist. 2.2.7 Perichorese unter der Bedingung der Unendlichkeit Gottes Offenbar ist in der narrativen Selbstidentifikationspräsentation Gottes in der Evangeliumskommunikation primär die besondere Dreiheit Gottes. Sie ist zugleich das Modell der Einheit Gottes. Dies begrifflich nachzuzeichnen erfordert aber den hier entwickelten, recht abstrakten Begriffsapparat der relationalen Logik. Warum ist das so? Die Antwort ist einfach: Gott ist eben kein endlicher, weltlicher Gegenstand. Die gleiche Antwort kann gegeben werden, wenn gefragt wird, warum einige Redeweisen von der Perichorese als Bild der Einheit Gottes scheitern müssen. Unter den Bedingungen der Endlichkeit gedacht – behandelt man also fälschlich Gott in einem Modell endlicher räumlicher Relationen –, läuft die Perichorese wie in These 1 angenommen auf eine unterschiedslose extensionale Symmetrie und damit auf eine auch sabellianisch-personale Identität der göttlichen Personen hinaus: Eine geometrische Figur im endlichen zweidimensionalen Raum A kann nur dann in B existieren und zugleich kann nur dann B in A existieren, wenn A und B identisch sind. Denkt man in diesem Modell die Perichorese, richtet sie für das 78 Richard v. St.Victor, De trinitate, 4,22.

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Verständnis der Trinitätslehre mehr Schaden an als sie nutzt. Ursprünglich war ich daher der Auffassung, auf die Rede von der Perichorese sei besser zu verzichten. Nun hat mich aber Marian Mesina darauf hingewiesen, dass diese Gefahr nur für die Rede von der Perichorese unter den Bedingungen der Logik der Endlichkeit gilt. Unter den Bedingungen der Logik der Unendlichkeit, die korrekterweise auf das unendliche Wesen Gottes anzuwenden ist, kommt man durchaus zu einem anderen Ergebnis. Inhaltlich wird man dann These 2 vertreten können unter Wahrung der in These 3 angegebenen Bedingung. Dabei erlaubt die Logik der Unendlichkeit es ferner, ein etwas weniger abstraktes und das heißt besser vorstellbares Modell zu bieten, wie sich Einheit und Vielheit in der Perichorese verbinden. Auf diese Weise kann die Rede von der Perichorese zwar noch keine Konstitutionstheorie der streng gleichursprünglichen Bezogenheit von Einheit und Vielheit bieten, aber immerhin ein strenges, nachgeordnetes Modell, dass diese Gleichursprünglichkeit widerspruchsfrei denken lässt. Damit ist das im Folgenden vorgestellte Modell der Perichorese des unendlichen Wesens Gottes mehr als nur ein vestigium trinitatis: Es zeigt die Widerspruchsfreiheit des Perichoresebegriffs zur Veranschaulichung der Einheit Gottes bei voller extensionaler Unterschiedenheit der Personen auf. Zwar ist der Gedanke der Anwendung der Logik der Unendlichkeit auf die Trinitätslehre – genauer auf die Frage, wie unterschiedene Personen in der Einheit des Wesens existieren können, an sich nicht neu und schon von Albert Menne vertreten worden.79 Neu an Mesinas Gedanken ist aber die nicht zu unterschätzende Einsicht, dass auf diese Weise auch die Perichorese als das wechselseitige Ineinandersein der Personen zu denken ist: „Betrachten wir drei unendliche, voneinander unterschiedliche Textmuster : {abcabcabcabc …} {bcabcabcabca …} {cabcabcabcab …} Die Unendlichkeit wurde mit Hilfe der drei Punkte in geschweiften Klammern angedeutet. […] Die hier aufgeführten Muster stellen ein exaktes Gleichnis für die Perichorese in der Dreifaltigkeit dar. Diese Muster sind voneinander verschieden, sie existieren ineinander und ohne eines dieser drei Muster kann kein anderes Muster existieren. Also sie sind existentiell untrennbar. Dies ist ein klares Beispiel für die Einheit in der Verschiedenheit.“80 „Die Selbstähnlichkeit ist eine notwendige Voraussetzung für die Existenz der Perichorese. Wie wir gezeigt haben, ist die Perichorese zwischen unendlichen selbstähnlichen Objekten möglich. […] Es ist notwendig nochmals zu betonen, dass eine vollkommene Perichorese möglich ist, die 79 Vgl. Menne, A., Mengenlehre und Trinität. 80 Mesina, M., Gott und Unendlichkeit, 157.

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o.g. Beispiele zeigen dies. Jedoch sind dies nur Gleichnisse.“81 „Die Perichorese stellt sicher, dass die göttlichen Personen nicht unabhängig voneinander existieren können. Jede existiert in jeder, und in der Erkenntnis dieser Tatsache liegt der Hauptunterschied von Christentum und heidnischem Polytheismus.“82

Mesina zeigt hier an einem einfachen Beispiel der Mathematik der Unendlichkeit, dass eine Perichorese widerspruchsfrei denkbar ist. Dabei entspricht Mesinas Verhältnis zwischen den drei Mustern dem, was wir extensionale Reziprozität (und nicht extensionale Symmetrie) genannt hatten: In einer intensionalen Hinsicht sind die drei Muster unterschieden, denn sie sind klar als drei unterschiedliche Muster erkennbar. In einer anderen intensionalen Hinsicht, dem der Selbstähnlichkeit, sind sie jedoch symmetrisch. Die Eingangsfrage, ob die Einheit Gottes verstehbar ist, ist daher positiv zu beantworten: Zwar ist die Einheit Gottes nicht unmittelbar in der narrativen Selbstidentifikationspräsentation Gottes gegeben, wie es mit der Dreiheit Gottes der Fall ist. Aber unter Anwendung der Logik der Unendlichkeit ist die Einheit Gottes mithilfe des korrekt formulierten Perichoresebegriffs sekundär leicht verstehbar. Aus der Mathematik der Unendlichkeit lässt sich nicht die trinitarische Perichorese begründen – dies geschieht nur als Nachdenken von Gottes Selbstidentifikationspräsentation –, wohl aber verstehen. Mesina weist nun noch darauf hin, dass es außerhalb der Mathematik in der Welt zahlreiche Phänomene unvollständiger Perichorese gibt83 und liefert auf diese Weise vestigia der trinitarischen Perichorese. Dennoch bleibt die Perichorese ein sekundäres Konzept. Offenbar ist primär Gottes Dreiheit und Bezogenheit aufeinander und nur in dieser Bezogenheit besteht auch Gottes Einheit. Diese Einheit ist aber nicht die völlig verborgene oder unverstehbare Unendlichkeit eines göttlichen Wesens, wie man es aus einigen Strängen der kappadozischen Trinitätslehre herauslesen mag,84 sondern es ist die durch die Logik der Unendlichkeit zumindest modellhaft verstehbare Einheit der Selbstähnlichkeit Gottes. Da ich diese Einsicht Marian Mesina verdanke, sei hier auch mit einem Zitat von ihm geschlossen: „Wir leben in einem Ozean der Zeichen, die uns an den dreieinigen Gott erinnern.“85

81 Mesina, M., Gott und Unendlichkeit, 161. 82 Mesina, M., Gott und Unendlichkeit, 162. 83 Vgl. z. B. Mesina, M., Gott und Unendlichkeit, 164: „Die Information über die Gegenwart ist unterschiedlich zur Information, die die Zukunft beschreibt. Gleichwohl ist durch die Wirkung der Naturgesetze in der Information über die Gegenwart zumindest teilweise die Information über die Zukunft enthalten und umgekehrt. […] Wenn überall die Gesetzte der klassischen Mechanik gelten würden, hätten wir sogar eine vollständige Perichorese der Information über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ 84 Vgl. zur Unbegreiflichkeit Gottes Nazianz, G.v., Orationes theologicae (FC 22), 28,10 und zur Unendlichkeit bei Gregor von Nyssa Mìhlenberg, E., Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa, 100 – 118. 85 Mesina, M., Gott und Unendlichkeit, 167.

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2.3 Gottes Glaube 2.3.1 Das Problem „[I]ch sollte auch glauben, daß drei eins sei und eins drei; das aber widerstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner Seele“.86 Dieses Zitat, mit dem Goethe seine Probleme mit der christlichen Trinitätslehre markiert, ist Symptom für einen Bedeutungsverlust der Trinitätslehre, der im Laufe der Geschichte im christlichen Westen eingetreten ist – und ebenso Symptom einer Unkenntnis. Christliche Theologie hat zwar nie behauptet, dass eins gleich drei sei oder drei gleich eins, konnte aber offensichtlich ihr Anliegen nicht vermitteln, wenn es zu derartigen Missverständnissen kam. Denn die Trinitätslehre bezieht ja die Drei und das Eine auf unterschiedliche Hinsichten, so dass es zu keinem Widerspruch kommt. Die „Drei“ beziehen sich auf die Hypostasen oder Personen, die „Eins“ auf die Usie oder das Wesen. Rein syntaktisch gibt es hier also kein Problem. Die semantische Frage bleibt aber, was Usie und Hypostase jeweils bedeuten sollen. Besonders über den Personbegriff scheint sich auch nach der Renaissance trinitarischer Theologie seit dem zweiten Drittel des 20. Jh. kein Konsens abzuzeichnen. Dabei scheint eine Gretchenfrage der Neuzeit im Raum zu stehen, „Wie hältst Du’s mit der Selbstbewusstheit der Personen?“, zu der kaum Stellung bezogen wird. Diese Frage ergibt sich u. a. aus dem Wunsch nach Vorstellbarkeit oder Vergleichbarkeit mit kreatürlichen Personen, für die Selbstbewusstheit oder Selbsterschlossenheit in der Neuzeit eine wichtige Zuschreibung ist. Und diese Zuschreibung geschieht offensichtlich auch im öffentlichen, quasi „säkular-öffentlichen“ Verständnis der Trinität, was sich sogar an einem Popsong von Don McLean zeigen lässt, wenn es heißt: „the three men I admire at most, the Father, Son and the Holy Ghost.“ Die Schwierigkeit der Beantwortung der Frage der Zuschreibung von Selbstbewusstheit zu den göttlichen personae beruht nicht nur auf theologischen Problemen, sondern auch auf Problemen der philosophy of mind, denn schon im kreatürlichen Bereich ist es nicht einfach zu sagen, was Selbstbewusstheit ist. Dieses Kapitel will sich dieser Frage annehmen, indem es nach einer kurzen historischen Problemskizze einen neuen Problemlösungsvorschlag unterbreitet. 2.3.2 Geschichte des Problems Als 325 während des arianischen Streits Hosius von Cordoba die HomoousiosFormel einbrachte, konnte dies nicht zu einer Lösung des Streits führen. Da hypostasis und ousia noch synonym gebraucht wurden, musste homoousios 86 J. W. Goethe, Gespräch mit J.P. Eckermann, 4. 1. 1824, zit. n. Greshake, G., Der dreieine Gott, 20.

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von den Origenisten des Ostens nicht als wesensgleich, sondern als persongleich verstanden werden, so dass die Formel, die das Problem der Differenzierung verschiedener Hinsichten lösen sollte, gerade dieses Problem nicht lösen konnte. Erst als in der Theologie des späten Athanasius und der Kappadozier eine Differenzierung von hypostasis und ousia eintrat, dergestalt, dass hypostasis das partikulare Sein, ousia das allgemeine Sein bezeichnete, erlangte die trinitarische Homoousios-Formel als Lösungsmöglichkeit klärende Kraft. Damit war die eingangs genannte syntaktische Differenzierung gewonnen, nach der die Trinitätslehre zumindest kein logischer Widersinn ist. Das semantische Problem des Gegenstandsbezugs war aber nur ansatzweise bearbeitet: Sicher war, dass die drei Personen partikulares Sein sind und daher spezifische Individuationsmerkmale benötigen. Die Fragen in der Folgezeit beschäftigten sich daher mit der Art der Individuation der Personen und der Art der Bezogenheit untereinander und ihrem Verhältnis zum einen Wesen Gottes. Die Frage nach der Art des Seins der göttlichen Personen spielte hingegen eine untergeordnete Rolle und wurde eher implizit verhandelt. In der westlichen Rezeption des trinitarischen Dogmas verweigerte Augustin bewusst eine Definition des trinitarischen Personbegriffs und wies darauf hin, dass persona bei jedem der drei durchaus etwas anderes bedeuten könne und dass hypostasis in der griechischen Theologie nur eingeführt worden sei, um nicht schweigen zu müssen.87 Augustin selbst versuchte vestigia trinitatis zu finden, Ternare aus dem kreatürlichen Bereich, um die Trinität zu veranschaulichen, unterschied diese aber strikt von der imago trinitatis.88 Allein diese war die angemessene Analogie. Und diese imago trinitatis war das Modell des menschlichen Geistes, der mens, die in Gedächtnis, Kenntnis und Liebe in drei Selbstrelationen auf sich selbst bezogen ist. Dabei repräsentiert die mens das Wesen Gottes, die drei Selbstrelationen die personae.89 In diesem anthropologischen Modell, das Augustin nur für den Zweck der Modellierung der Trinität verwendet, ohne dass es in seinen genuin anthropologischen Überlegungen eine Rolle spielt, war die Frage nach der Selbstbewusstheit der Personen implizit beantwortet. Selbstbewusstheit kommt nicht den einzelnen Personen, sondern letztlich dem Wesen Gottes zu, während die Personen als Vollzüge dieses Selbstbewusstseins gedeutet werden müssen. Damit determinierte Augustin einen breiten Strom westlicher Trinitätstheologie, freilich um den Preis, dass das genuine Anliegen des trinitarischen Dogmas, nämlich der Abweis modalistischer Tendenzen, nicht gewahrt werden konnte. Adolf v. Harnack charakterisierte die augustinische Lösung dann auch korrekt:

87 Vgl. Augustinus, A., trin., CChr.SL 50 7,4 (7 – 9), 255 – 60 & trin. 5,8 (10)–9(10), CChr.SL. 50, 216,43 – 217,11. 88 Vgl. Augustinus, A., trin., CChr.SL 50 12,5(5)–7(9), 359 – 64. 89 Vgl. Augustinus, A., trin., CChr.SL 50. 10,11 (17 f), 329 – 31.

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„Man sieht, über einen Modalismus kommt Augustin nur durch die bloße Behauptung, nicht Modalist sein zu wollen, und nicht durch virtuose Begriffsdistinctionen hinaus […]. Man kann […] de trinitate […] nicht verstehen, wenn man nicht ins Auge fasst, daß der grosse Denker einen Gedanken in der Trinitätsformel auszudrücken versucht hat, den diese Formel nicht nur nicht enthält, sondern implicite ablehnt, daß die Gottheit Person und somit eine Person ist“.90

In dieser augustinischen Tradition stehen eine Reihe westlicher Trinitätstheologien. Zu nennen wären hier Anselm von Canterbury, aber auch Thomas von Aquin, der die augustinische Lösung in der Ansicht, dass die Person selbst Relation ist,91 auf den Punkt bringt. Zwar soll es sich hier um eine relatio subsistens handeln, aber es ist sehr fraglich, ob eine rein intentionale Selbstrelation als reale Relation verstanden werden kann. In der Theologie des 20. Jh. findet man diesen Traditionsstrom etwa bei Karl Barth, der die personae im Anschluss an Dorner mit „Seinsweisen“ charakterisiert oder von einer dreifachen „Wiederholung“ spricht, oder bei Karl Rahner, der Bewusstsein explizit der Einheit Gottes, nicht den drei Personen zuspricht, in denen das eine Bewusstsein nur in unterschiedlicher Weise subsistiere.92 Neben dem augustinischen Traditionsstrang, in dem die trinitarischen Personen als Selbstvollzüge des Wesens Gottes gedeutet werden, so dass die Gretchenfrage nach der Vergleichbarkeit der göttlichen mit menschlichen Personen hinsichtlich des Selbstbewusstseinsbegriffs implizit eher negativ beantwortet wird, findet sich noch ein zweiter Traditionsstrang, der den trinitarischen Personen ein stärkeres Eigengewicht beimisst. Als herausragende Gestalt kann hier Richard v. St. Victor93 benannt werden. Dieser verändert und verbessert die im Rahmen der Christologie gewonnene Persondefinition des Boethius so, dass sie für die Trinitätslehre geeignet ist. Eine Person ist eine „incommunicabilis existentia“ einer göttlichen Natur bzw. allgemein einer rationalen Natur. Mit dieser Definition ist im Personbegriff sowohl die Partikularität des Seins als auch die Relationalität der Bezogenheit auf andere Personen derart ausgesagt, dass sie nicht scheidbare, sondern nur begrifflich unterscheidbare Aspekte eines ontologisch primitiven Seienden sind. Ferner beansprucht Richard damit, einen univoken Personbegriff für göttliche, engelische und menschliche Personen zu liefern. Damit ist positiv eine Vergleichbarkeit der drei göttlichen Personen mit den drei menschlichen Personen ausgesagt, offen aber bleibt die Hinsicht dieser Vergleichbarkeit. Denn die spannende Frage, was eine zur Rationalität fähige Natur sei, bespricht Richard genauso wenig wie vor ihm Boethius. Die Gretchenfrage des neuzeitlichen Menschen, wie es um die Selbstbewusstheit der Personen stehe, wird hier also nicht beantwortet, stellt sich aber im Gegensatz zur augustinischen Tradition, 90 91 92 93

Harnack, A.v., Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2, 307. Vgl. Thomas von Aquin, s.th. I, 29,4. Vgl. Rahner, K., Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund, 387. Zu Richard v. St. Victor vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 159 – 180.

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in der sie implizit eindeutig beantwortet war, weiterhin. Auch in der protestantischen Theologie der Gegenwart, die eher in diesem Traditionsstrom steht, finden sich nur Ansätze zur Beantwortung der Frage. Am weitestgehenden wird die Frage einer positiven Antwort bei Moltmann94 und Pannenberg angenähert, wenn die Personen als „Aktzentren“ bezeichnet werden. Damit ist aber die Frage nach der Bewusstheit der Personen vom Verständnis des Handelns oder Wirkens Gottes abhängig, und die Bewusstseinsfrage gerade nicht gelöst. Pannenberg beschreibt das in Frage stehende Problem folgendermaßen: „Wenn die trinitarischen Beziehungen zwischen Vater, Sohn und Geist die Form wechselseitiger Selbstunterscheidung haben, dann können sie nicht nur als verschiedene Seinsweisen eines einzigen göttlichen Subjekts, sondern müssen als Lebensvollzüge selbstständiger Aktzentren aufgefaßt werden. Ob man diese Aktzentren auch als drei ,Bewußtseinszentren‘ zu verstehen hat, hängt davon ab, ob und in welchem Sinne überhaupt die aus menschlicher Selbsterfahrung stammende Vorstellung von Bewußtsein auf das göttliche Leben Anwendung finden kann. […] Wenn hingegen mit der Einheit des göttlichen Lebens auch eine Einheit des Bewußtseins verbunden ist, dann muß man mit Walter Kaspar und gegen Karl Rahner sagen, daß das eine göttliche Bewußtsein in dreifacher Weise subsistiert, und zwar so, daß jede der drei Personen sich darin auf die anderen als andere bezieht und sich so von ihnen unterscheidet.“95

Für Theologen, die im Unterschied zur augustinischen Tradition die Personen nicht auf intensionale Differenzen eines Subjekts reduzieren, sondern als extensionsdistinkt betrachten, ist die Gretchenfrage des neuzeitlichen Subjekts nach der Art der Subjektivität Gottes damit nicht eindeutig beantwortet; vielmehr stellt sie sich in verschärfter Weise. Robert W. Jenson hat jüngst dem hier in Frage stehenden Problem einen eigenen locus in seiner Dogmatik gewidmet und es mit einem Neologismus als das „patrologische“ Problem betitelt: „Is The Trinity itself a personal reality? Is ,itself‘, as just used, the right word? Should it not be ,himself ?‘ But if the Trinity is personal, as are Father, Son, and Spirit, how many divine identities are there?“96

Im Verlaufe seiner Besprechung des Problems wird deutlich, dass es sich genau um unser Bewusstseinsproblem handelt, dass aber eine eindeutige Lösung letztlich schwierig zu bieten ist.97 Hier soll nun der Versuch gewagt werden, das Problem systematisch zu bearbeiten. 94 95 96 97

Vgl. Moltmann, J., Trinität und Reich Gottes, 140 f. 185 ff. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 347. Jenson, R.W., ST I, 116. Vgl. Jenson, R.W., ST I, 115 – 124.

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2.3.3 Lösungsmöglichkeiten Die Frage, ob Bewusstsein Gott zugeschrieben werden soll, kann, wenn man die Möglichkeiten des historischen surveys zusammenfasst, folgendermaßen beantwortet werden: [A] Weder der ousia Gottes noch den hypostaseis ist Bewusstsein zuzuschreiben. [B] Der ousia Gottes ist Bewusstsein zuzuschreiben, nicht aber den hypostaseis. [C] Sowohl der ousia Gottes ist Bewusstsein zuzuschreiben als auch den hypostaseis. [D] Den hypostaseis Gottes ist Bewusstsein zuzuschreiben, nicht aber der ousia.

Hinsichtlich der Möglichkeit [D] ist noch einmal zu unterscheiden in: [D1] Den hypostaseis Gottes ist das gleiche Bewusstsein zuzuschreiben, d. h. sie sind nicht durch das Bewusstsein unterscheidbar. [D2] Den hypostaseis Gottes ist unterschiedliches Bewusstsein zuzuschreiben, d. h. sie sind u. a. auch durch das Bewusstsein unterscheidbar.

In entsprechender Weise könnte auch Möglichkeit [C] unterteilt werden. Wir werden aber sehen, dass dies nicht nötig ist. Bevor wir die verschiedenen Möglichkeiten vergleichen wollen, muss zunächst geklärt werden, was hier unter Bewusstsein verstanden werden soll, und aufgrund welcher Voraussetzungen solche Zuschreibungen überhaupt möglich sind. 2.3.3.1 Bewusstsein Betrachtet man den Bewusstseinsbegriff in seiner Geschichte und in der philosophy of mind, wird man schnell feststellen, dass es sich um alles andere als einen geklärten Begriff handelt. Dies gilt einerseits im engeren Sinne für die Intension des Begriffs, andererseits aber bereitet auch die extensionale Bestimmung Probleme.98 Dennoch sind wir erstaunlich sicher, wenigstens einer uns bekannten Entität – nämlich jeweils uns selbst – Bewusstsein oder Selbstbewusstsein zuzuschreiben. Bei allen anderen Menschen oder bei anderen Lebensformen oder Entitäten schließen wir aufgrund des beobachtbaren Verhaltens in kommunikativer Interaktion mit uns auf Bewusstsein oder sprechen es ab. Bewusstsein ist damit ein privates Phänomen. Damit stellt sich 98 Zur Diskussion vgl. Rohls, J., Person und Selbstbewußtsein; Bieri, P., Analytische Philosophie der Erkenntnis, 17 – 25; Dretske, F., Flow of Information; Gulick, R.v., Functionalism, Information and Content; Wittgenstein, L., Das blaue Buch, hier 106 – 7; Shoemaker, S., SelfReference and Self-Awareness; Rorty, R., Incorrigibility ; Rorty, R., Spiegel der Natur, 47; Nagel, T., What is it like to be a Bat?; Chisholm, R.M., Erkenntnistheorie, 42; Tugendhat, E., Selbtbewusstsein und Selbstbestimmung, 137 – 41.

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aber ein Problem der Begriffsbestimmung. Soll diese aufgrund unserer introspektiven Erfahrung oder nach den Regeln der Zuschreibung von uns fremden Seienden durch interaktive Kommunikation erfolgen? Der erste Weg könnte durchaus zu einer vollständigen Definition, aber nicht zu einer operationablen Kriteriologie führen; der zweite Weg könnte zwar operationable Kriterien liefern, wird aber keine hinreichende Definition hervorbringen (z. B. Turingtest99). Für unsere Zwecke ist freilich eine vollständige Definition von Bewusstsein nicht nötig, denn es genügt, eine synthetische Arbeitsdefinition einzuführen, die beide Elemente verknüpft. Offensichtlich impliziert Bewusstsein, dass dem bewussten Subjekt ein bestimmtes Wissen oder bestimmte Information vorliegt: A weiß, dass B, und kann es C mitteilen.

Dies ist freilich nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung, denn auch Bücher, Computer etc. sind Wissens- oder Informationsträger. Ihnen wird in der Umgangssprache aber kein Bewusstsein zugeschrieben. Man könnte nun weitere Kriterien nennen, etwa die Fähigkeit eines Subjekts, mit dem Wissen rational oder zumindest spontan umzugehen. Freilich sind dies auch Möglichkeiten, die sich künstlich durch Computer simulieren lassen. Es ist daher angebracht, hier einfach den introspektiven Weg einzuschlagen. Das bloße Wissen von etwas genügt noch nicht für Bewusstsein, sondern wir müssen uns immer bewusst sein, etwas zu wissen. Das heißt aber nichts anderes, als zu erfahren oder zu wissen, dass wir etwas wissen. Daher können wir festlegen: „A hat Bewusstsein“ soll bedeuten: „A weiß, dass A weiß, dass B, und kann es C mitteilen.“

A ist dabei das bewusste Subjekt, B die Klasse der gewussten Information. Zu B zählen dabei eine Reihe denkbarer Sachverhalte, auf alle Fälle aber der Sachverhalt „A weiß, dass A weiß, dass B“ selbst. C ist ein mögliches Kommunikationsobjekt. Diese Arbeitsdefinition ist nun freilich wieder sehr umfangreich, denn sie unterscheidet nicht zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Ferner bringt sie Selbstbewusstsein immer mit Wissen von Anderem als B in Verbindung. Beides ist hier aber nicht weiter hinderlich. Es passt z. B. sehr gut zu der etwa von Schleiermacher oder Strawson vertretenen Ansicht, dass Selbstbewusstsein nicht unabhängig von Weltbewusstsein oder Wissen von Anderem denkbar ist.100

99 Vgl. Behmel, A., Was sind Gedankenexperimente? 100 Vgl. Strawson, P.F., Einzelding, 148 ff. und Schleiermacher, F., Glaubenslehre, Bd. 1, §3, 14 – 23.

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2.3.3.2 Voraussetzungen der Zuschreibung welthafter Sachverhalte zu Gott Betrachten wir nun die zweite Frage, aufgrund welcher Voraussetzungen überhaupt welthafte Sachverhalte, wie etwa Bewusstsein, Gott zugeschrieben werden können oder nicht, ist Folgendes zu sagen: Wenn alle Sprache metaphorisch ist, Gott selbst der Schöpfer des Menschen und damit auch dessen Sprachfähigkeit ist, und sich Gott selbst dem Menschen erschließt, ist menschliche Sprache auch fähig, wahrheitsfähige Aussagen über Gott zu treffen, indem durch eine Analogielehre oder eine Theorie theoretischer Modelle welthafte Sprache auf Gott Anwendung findet. Dies ist freilich ein recht voraussetzungsreicher Satz. Er setzt voraus, dass Gott offenbart; er setzt voraus, dass Gott sich selbst offenbart und er setzt voraus, dass Gott der Schöpfer aller Dinge ist. All diese theologischen Voraussetzungen sind aber recht unproblematisch, da diese Voraussetzungen für den in Frage stehenden Fall der Trinitätslehre ohnehin gelten. Darüber hinausgehend kann verallgemeinernd auch festgestellt werden, dass fundamentaltheologische Fragestellungen ohne dogmatische Voraussetzungen nicht lösbar sind, so dass zwar von einer Unterscheidung von Fundamentaltheologie und Dogmatik, nicht aber von einer Trennung von Fundamentaltheologie und Dogmatik die Rede sein kann. Weiterhin ist noch ein bestimmtes Verständnis von Sprache vorausgesetzt, nämlich die Ansicht, dass alle Sprache, auch begriffliche Rede, metaphorisch ist, weil die Bedeutung eines Wortes nicht unabhängig von seiner Verwendung in spezifischen Kontexten, d. h. in verschiedenen Sprachverwendungssituationen durch die Sprachbenutzter, zu erfassen ist.101 Zu diesem Verständnis von Sprache passt ferner eine begriffliche Arbeit, die mit Modellen arbeitet, die neben positiven und negativen Analogien noch prinzipielle, neutrale Analogien kennt.102

2.3.4 Problembearbeitung Betrachten wir zunächst Möglichkeit [A], nach der Gott in keiner Weise Bewusstsein zuzuschreiben ist, d. h., dass Gott in keiner Weise weiß, dass Gott weiß, dass B. Eine solche Ansicht lässt sich offenbar in keiner Religion, die davon ausgeht, dass zwischen Gott und Mensch Kommunikation möglich ist, sei es im Gebet oder der Verkündigung des Wortes, annehmen. Da das christliche oder trinitarische Wirklichkeitsverständnis diese Annahme ohnehin machen muss, wie im letzten Abschnitt zu sehen war, scheidet Möglichkeit [A] aus: Es ist falsch, dass weder der ousia noch den hypostaseis kein Bewusstsein zukommt. 101 Vgl. Hesse, M.B., Die kognitiven Ansprüche der Metapher, hier 130. 102 Vgl. Hesse, M.B., Models, 9 ff.

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Soll Möglichkeit [B] angenommen werden, nach der nur der ousia Bewusstsein zukommt, müssen die Hypostasen als unbewusst angenommen werden. Auch diese Möglichkeit scheidet aufgrund der Lebensvollzüge des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, insbesondere der Praxis in Gebet und Doxologie, aus, und ist mit dem biblischen Zeugnis kaum vereinbar : Es ist falsch, dass nur der ousia Gottes, nicht aber den Hypostasen Bewusstsein zuzusprechen ist. Ferner ist zu sehen, dass in einem Modell, das nur der ousia Gottes Bewusstsein zuspricht oder das nur einen monobewussten Gott kennt, die Ewigkeit der Welt in irgendeiner Form angenommen werden muss, da es neben dem bewussten Subjekt noch Wissensinhalte B und mögliche Kommunikationspartner C geben müsste. Dies wäre ein pantheistisches Modell. Oder anders ausgedrückt: Fichtes berühmter Einwand gegen ein personales Gottesverständnis, Personalität setze immer Beschränktheit durch anderes und damit Endlichkeit voraus, so dass ein unendlicher, personaler Gott nicht denkbar sei,103 wäre in diesem Fall gültig. Damit bleibt zu entscheiden zwischen der Möglichkeit [C], nach der sowohl der ousia als auch den Hypostasen Bewusstsein zukommt, der Möglichkeit [D1], nach der nur den Hypostasen Bewusstsein zukommt und zwar das gleiche Bewusstsein, sowie der Möglichkeit [D2], nach der nur den Hypostasen Bewusstsein zukommt, und zwar verschiedenes Bewusstsein. Im Folgenden werden wir uns zunächst mit den Möglichkeiten [D1] und [D2] befassen und sehen, dass die Problembearbeitung, die sich dort ergibt, auch eine Entscheidung hinsichtlich der Möglichkeit [C] liefert. Vorausgesetzt, Möglichkeit [D] träfe zu, welche der beiden Möglichkeiten [D1] oder [D2] ist eher anzunehmen? Wir unternehmen dazu ein Gedankenexperiment, das noch nicht den Fall der göttlichen Hypostasen betrifft. Angenommen wir haben drei oder mehr (selbst)bewusste Personen, die unwillkürlich ihr gesamtes Wissen B sofort den anderen mitteilen. Zum Wissen B gehört auch die je eigene Perspektive zu wissen, dass man B weiß. Ist dieser Fall denkbar? Wir finden ein entsprechendes Gedankenexperiment in einem Roman des Cambridger Astrophysikers Fred Hoyle. Er beschreibt den Fall, dass sich eine interstellare Wolke der Erde nähert, die sich nicht so verhält wie sie sollte. Schließlich nehmen die Wissenschaftler des Romans an, dass sie eine Art von Intelligenz besitzt: „Ich würde auch gern eine Frage stellen“, sagte Parkinson. „Warum sprechen Sie immer nur von einem Tier? Warum sollten sich in der Wolke nicht eine Menge kleiner Tiere befinden?“ […] „Gut. Nehmen wir also einmal an, daß die Wolke nicht ein großes Tier, sondern eine Menge kleiner Tiere enthält. Sie werden sicherlich zugeben, daß sich zwischen den einzelnen Tieren eine Art von Verständigung entwickelt haben muß. […] Ich glaube, daß eine Verständigung nach unseren Methoden unmöglich wäre. Wir verständigen 103 Vgl. Fichte, J.G., Göttliche Weltregierung.

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uns auf akustischem Wege. […] Jeder Versuch, sich durch Laute zu verständigen, würde durch den ungeheuren Lärm, der vermutlich in der Wolke herrscht, erstickt. Es wäre viel schlimmer, als wenn man versuchte, in einem tosenden Sturm zu sprechen. Ich glaube, wir können ziemlich sicher sein, daß die Verständigung auf elektrischem Wege erfolgen müßte.“ „Das klingt einleuchtend.“ „Ich möchte ferner darauf hinweisen, daß die Entfernungen zwischen den Einzelwesen nach unseren Maßstäben ungeheuer groß sein müßten, weil die Wolke nach unseren Maßstäben ungeheuer groß ist. Es wäre bei solchen Entfernungen jedoch fast unmöglich, Verständigungsmethoden anzuwenden, die auf Gleichstrom beruhen.“ „Auf Gleichstrom? Könnten Sie uns das bitte näher erklären?“ „Nun, mit Gleichstrom arbeitet zum Beispiel unser Telefon. Der Unterschied zwischen Gleichstromverbindung und Wechselstromverbindung entspricht ungefähr dem Unterschied zwischen Telefon und Radio.“ Marlowe grinste Ann Halsey an. „Chris versucht damit in seiner unvergleichlichen Art auszudrücken, daß die Verständigung durch Verbreitung von Strahlen erfolgen müßte.“ „Natürlich. Eine Verbreitung von Strahlen erfolgt, wenn wir ein Lichtsignal oder Radiosignal aussenden. Es durcheilt den luftleeren Raum mit einer Geschwindigkeit von 300 000 Kilometern pro Sekunde. Und selbst bei dieser Geschwindigkeit würde ein Signal etwa zehn Minuten benötigen, um die Wolke zu durchlaufen. Überdies kann durch Strahlung eine weitaus größere Menge von Nachrichten übermittelt werden als durch normalen Sprechverkehr. Wir haben das bei unseren Radiosendungen gesehen. Wenn die Wolke isolierte Einzelwesen enthält, dann müßten diese Einzelwesen sich viel ausführlicher verständigen können als wir. Wofür wir eine Stunde brauchen, das müßten sie sich innerhalb einer hundertstel Sekunde mitteilen können.“ „Ach, mir geht ein Licht auf“, warf McNeil ein. „Wenn eine derartige Verständigung möglich ist, dann erscheint es einigermaßen zweifelhaft, ob man überhaupt noch von isolierten Einzelwesen sprechen kann!“ „Sie haben’s erfaßt, John!“ „Aber ich nicht“, sagte Parkinson. „Gemeinverständlich ausgedrückt“, sagte McNeil freundlich, „will Chris folgendes sagen: Wenn sich in der Wolke Einzelwesen befinden, dann müssen diese telepathisch veranlagt sein, und zwar in solch hohem Grad, daß es ziemlich belanglos erscheint, ob sie wirklich voneinander isoliert sind.“ „Warum hat er das dann nicht gleich gesagt?“, fragte Ann Halsey.

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„Weil – wie die meisten gemeinverständlichen Ausdrücke – das Wort Telepathie nicht viel sagt.“ . . . „[…] Trotzdem ist die Übertragung bei uns nur sehr mangelhaft. Es fällt uns nicht allzu schwer, Gedanken zu übermitteln, die Übermittlung von Gefühlen jedoch ist äußerst schwierig. Kingsleys kleine Tiere könnten nun, stelle ich mir vor, auch Gefühle übermitteln, und dies ist ein weiterer Grund, weshalb es ziemlich sinnlos erscheint, von isolierten Einzelwesen zu sprechen. Die Vorstellung, daß Kingsleys kleine Tiere sich alles, was wir heute abend gesprochen und einander so unzulänglich übermittelt haben, in einer hundertstel Sekunde weitaus präziser und verständlicher mitteilen könnten, ist ziemlich erschreckend. Ich möchte den Gedanken, daß es sich um isolierte Einzelwesen handelt, noch ein wenig weiter verfolgen“, sagte Barnett, sich an Kingsley wendend […]. „[…] Die Verständigung erreichte einen Grad, den wir uns kaum vorstellen können. Ein Gedanke wurde im Augenblick, da er gedacht wurde, auch schon mitgeteilt. Ein Gefühl wurde in dem Augenblick, da es empfunden wurde, von den anderen Einzelwesen auch schon mitempfunden. Auf diese Weise wurde das Einzelwesen ausgelöscht, und es entwickelte sich ein zusammenhängendes Ganzes. Das Tier, stelle ich mir vor, braucht sich innerhalb der Wolke nicht an einem bestimmten Platz zu befinden. Seine verschiedenen Teile sind vielleicht in der ganzen Wolke verteilt, doch ich betrachte es als eine neurologische Einheit, zusammengehalten von einem Nachrichtensystem, durch das Signale mit einer Geschwindigkeit von 300 000 Kilometern pro Sekunde übermittelt und empfangen werden.“104

Lässt sich dieses Beispiel als Modell für unser Problem verwenden? Fragen wir nach dem Modell, externen Qualifikanten aus der Gotteslehre, wäre auf alle Fälle festzuhalten, dass im Falle der göttlichen Hypostasen zunächst Raum und Zeit als Geschöpfe Gottes keine Anwendung zur Individuation finden können. D.h., eine Kommunikation zwischen den einzelnen Hypostasen müsste als tatsächlich unmittelbar gedacht werden. Eine solche Kommunikation wäre weit mehr als Verständigung: Sie wäre eine reale Mitteilung aller Bewusstseinsinhalte B, einschließlich der Perspektive, dass jede Hypostase A1, A2, A3 weiß, dass sie B weiß. Damit wäre gezeigt, dass der Fall [D1], nach dem den Hypostasen das gleiche Bewusstsein zukommt, als widersprüchlich entlarvt ist. Unbeschadet der traditionellen Individuation der Hypostasen durch Ursprungsrelationen, wäre der Fall [D1] reduzierbar auf den Fall [B], d. h. auf den Fall, dass es sich um einen nur monobewussten oder monopersonalen Gott handelt. Dieser Fall wurde aber aus den genannten Gründen im Rahmen des christlichen Wirklichkeitsverständnisses schon abgelehnt. Ferner wirft dies ein Licht auf den Fall [C], nach dem sowohl den Hypostasen als auch der ousia Gottes Bewusstsein zukommen soll. Auch hier würde 104 Hoyle, F., Die schwarze Wolke, 125 – 128.

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eine Reduktion auf den Fall [B] eintreten, der abzulehnen war, sofern es sich um das gleiche Bewusstsein handeln soll. Zu fragen wäre also, was das Modell für den Fall [D2] austrägt. Ist es anzunehmen, dass den Hypostasen ein je unterschiedliches Bewusstsein zukommt? Entscheidend wäre hier die Art der Mitteilung, die Art der Kommunikation der Hypostasen. Ist diese Mitteilung so zu denken, dass sie unwillkürlich erfolgt, so dass alles, was den einzelnen Hypostasen unterschiedlich bewusst wäre, auch tatsächlich mitgeteilt würde, läge hier wieder ein einziges gemeinsames Bewusstsein vor. Der Fall [D2] wäre auf den Fall [D1] reduziert, der wiederum auf den Fall [B] reduziert wäre. Damit scheinen wir aber nun vor einem Dilemma zu stehen. Alle Möglichkeiten, Gott in irgendeiner Weise Bewusstsein zuzusprechen, haben sich als widersprüchlich oder als mit dem christlichen Wirklichkeitsverständnis nicht vereinbar erwiesen, ebenso die Möglichkeit, Gott kein Bewusstsein zuzusprechen. Wir können dieses Dilemma aber durch eine weitere Qualifikante aus der Gotteslehre lösen, die die Art der göttlichen Kommunikation bestimmt. Wenn Gott Handeln im Sinne eines intentionalen Wirkens zuzuschreiben ist, und Kommunikation als Unterart des Handelns verstanden wird, müsste die Mitteilung der Bewusstseinsinhalte der Hypostasen untereinander nicht unwillkürlich, sondern eben intentional erfolgen. Dies gewährleistet aber, dass es sich um freie Kommunikation handelt. Auf diese Weise wäre sicher gestellt, dass nicht alle Bewusstseinsinhalte B tatsächlich mitgeteilt werden müssen (bzw. dürfen). Damit aber wäre eine Identität der drei Bewusstseinsinhalte ausgeschlossen, so dass der Fall [D2], nach dem den Hypostasen Bewusstsein zukommt, das kein identisches Bewusstsein ist, als kohärent angenommen werden kann. Gleichzeitig müsste sowohl eine Variation des Falles C, nachdem sowohl den Hypostasen als auch der Usia Bewusstsein zuzusprechen wäre, das aber unterschiedliches Bewusstsein wäre, als kohärent angesehen werden. Dieser Fall würde aber zu einem vierfachen, je unterschiedenen Bewusstsein in Gott führen, was ferner die Differenz zwischen Hypostase und Usia verwischen würde. Dieser Fall wäre somit zwar nicht als inkohärent, aber als mit dem christlichen Wirklichkeitsverständnis unvereinbar abzulehnen. Damit wäre gezeigt, dass von einem dreipersonalen Gott zu sprechen ist, dessen Hypostasen mit einem je unterschiedlichen Bewusstsein begabt sind, das wahre personale Transzendenz ermöglicht. 2.3.5 Der Glaube Gottes Ein dreifältig unterschiedenes (Selbst-)Bewusstsein passt sehr gut zum Verständnis Gottes als Liebe. Wird Liebe nicht primär als Gefühl oder Haltung, sondern als reale Beziehung von Interaktion und Kooperation verstanden, so dass die einander Liebenden jeweils das Gut des anderen wollen und dabei in

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Treue zu den anderen, Vertrauen in die anderen und Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber handeln, kann die Einheit oder ousia Gottes als eine solche Liebesbeziehung dreier je unterschiedlich bewusster Hypostasen verstanden werden. Damit ist auch der Vertrauensbegriff auf die göttlichen Hypostasen anzuwenden. Die Hypostasen vertrauen einander, denn sie haben aufgrund ihrer personalen Transzendenz keinen unbeschränkten Zugang zum Bewusstseinsinhalt oder zum Wissen der jeweils anderen. Vertrauen im Sinne von fiducia setzt einen Informationsvorbehalt voraus. Innertrinitarisch kann daher davon gesprochen werden, dass den göttlichen Hypostasen Glaube oder fiducia zuzusprechen ist. Die monotheistische Einheit Gottes gerät hier nicht in Gefahr. Ist es schon ein Kennzeichen menschlicher Liebesbeziehungen, wie letztlich aller menschlicher Interaktionsbeziehungen, dass in ihnen die personale Identität konstituiert wird, so gilt für Gott noch mehr. In der innertrinitarischen Liebes- und fiducia-Beziehung wird nicht nur die Identität der Hypostasen, sondern auch deren Sein wechselseitig konstituiert. Damit sind die dreistellige Beziehung der Einheit Gottes und die Hypostasen wechselseitig ontisch konstitutiv. Ein theoretisch denkbarer Vertrauensbruch würde nicht nur, wie im menschlichen Fall, zu einer Identitätsverletzung, sondern zu einer Selbstannihilatio Gottes führen, die freilich faktisch ausgeschlossen werden kann, wenn Gottes Handeln notwendige Bedingung zum Bestand der Welt ist und die Welt, wie real erfahrbar, tatsächlich besteht. Auch die Allwissenheit Gottes ist nicht gefährdet. Denn die Allwissenheit gehört mit Gottfried Thomasius105 nicht zu Gottes absoluten, sondern zu Gottes relativen Eigenschaften, weil sie sich auf die Welt bezieht. Sie ist für das Sein Gottes nicht konstitutiv bzw. Gott nicht wesenhaft zuzusprechen. Innerhalb Gottes ist sie nicht zu lehren; an ihre Stelle tritt damit die perfekte vertrauensvolle Liebeskommunikation. Vorteile dieses Modells ergeben sich auch für das Verständnis der Christologie. Hier kann eine reale communicatio idiomatum angenommen werden, und die Personeinheit Christi gewahrt bleiben. Sachverhalte, wie das Gebet Christi zum Vater oder die Unkenntnis des Sohnes der Stunde der Parusie lassen sich so zwanglos erklären, ohne dass in der einen Person Christi nicht ein Bewusstsein, sondern deren zwei verschiedene, wenn auch hierarchisch gestaffelt, angenommen werden müssten.106 Schließlich ist auch das Leiden Christi damit als reales Leiden des Logos zu verstehen, ohne dass es zu doketistischen Ersatzkonstruktionen kommen müsste und ohne dass etwa Geist oder Vater selbst leiden müssten. Lägen in Gott drei gleiche Bewusstseine vor, so wären diese ununterscheidbar und letztlich ein Bewusstsein, wie oben 105 Vgl. Thomasius, G., Christi Person und Werk, Bd. 1. 106 Ein solches Modell wird z. B. vorgelegt von Morris, T.V., Logic of God Incarnate. Schon Anton Günther ging davon aus, dass ein Bewusstsein aus deren zwei zusammengesetzt sein könne. Vgl. Gìnther, A., Vorschule zur speculativen Theologie, 292.

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gezeigt wurde. Damit aber würden sowohl Vater als auch Geist am Kreuz leiden und ggf. sterben. Man erinnert sich hier an die Sabellius zugeschriebene modalistische Einheit Gottes im „hyopater“.107 Da aber dennoch eine vertrauensvolle Liebeskommunikation besteht, kann Vater und Geist echtes Mitleiden zugeschrieben werden, und die Auferweckung Christi kann zum gemeinsamen Projekt der Liebe des Geistes und des Vaters werden. Auch die Erfordernisse der Lebensvollzüge des christlichen Glaubens in Gebet und Doxologie sind mit Hilfe dieses Gottesbildes befriedigend zu erklären. Denn es lässt sich verständlich machen, warum sowohl zum Vater, als auch zum Sohn und zum Geist gebetet wird (etwa im Kyrie oder in der Paraklese) und damit dennoch kein Willensunterschied in Gott angenommen wird, etwa in dem Sinne, dass der Sohn den zornigen Willen des Vaters zu beschwichtigen habe.

2.4 Gottes Zufall Auf den ersten Blick scheint der Zufall im christlichen Glauben sehr zwiespältig beurteilt zu werden. „Du glaubst doch nicht etwa an den Zufall?“, mag eine denkbare Frage eines Christen sein, der überall wo andere den Zufall sehen, Gott selbst am Werk sieht. Im Zusammenhang mit dem in der Evolutionslehre beinhalteten Zufall mag man auch an „Intelligent Design“-Argumente denken, die dann, wenn sie sich auf den christlichen Glauben beziehen, den Zufallsbegriff ebenfalls gering schätzen. Demgegenüber stehen aber Verteidigungen göttlicher und menschlicher Freiheit gegen rein deterministische Weltverständnisse, wie zuletzt besonders in Auseinandersetzung mit entsprechenden naturalistischen Wirklichkeitsverständnissen einiger Hirnforscher sowie die theologische Inanspruchnahme der Quantentheorie als Argument gegen das deterministische Weltbild des 19. Jh. Denn hier wird der Zufall offensichtlich als christlicher Verbündeter gewertet. Dieses Kapitel fragt in fünf Schritten, wie diese scheinbar verwirrende Sachlage zu beurteilen ist: Zunächst wird, ausgehend von nicht theologischen Sachverhalten, nach dem Zufall und seiner möglichen religiösen Deutung gefragt. Dabei handelt es sich insofern noch nicht um eine „theologische“ Betrachtung des Zufalls, als noch nicht die Perspektive der Offenbarung eingenommen worden ist, sondern rein rational im Sinne sog. „natürlicher“ Theologie argumentiert wird. Diese Betrachtungen sind daher eher als „religionsphilosophisch“ zu kennzeichnen. Es handelt sich dabei um Besprechungen des klassischen Kontingenzbeweises der theistischen Tradition (2.4.1), um die mit der Quantentheorie gegebene Ursachenlosigkeit (2.4.2) sowie um evolutionsbiologische und vor allem systemtheoretische Verwendungsweisen des Zufallsbegriffs (2.4.3). Im anschließenden „theologischen“ 107 Vgl. Beyschlag, K., Dogmengeschichte I, 244.

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Teil wird dann auf Offenbarungsbasis nach der Rolle des Zufalls in seinem Verhältnis zum Gottesbegriff und zum Handeln Gottes gefragt (2.4.4), und es werden Folgerungen für das menschliche Selbstverständnis gezogen (2.4.5), die eine Bewertung menschlicher Umgangsweisen (einschließlich der eingangs illustrativ genannten Umgangsweisen) mit dem „Zufall“ ermöglichen.

2.4.1 Zufall als Kontingenz 2.4.1.1 Der Schluss von der kontingenten Welt auf ein notwendiges Sein Der Kontingenzbegriff, wie er hier behandelt werden soll, geht auf die Anfänge modaler Betrachtungen bei Aristoteles zurück,108 und wird im arabischen und lateinischen Mittelalter vertieft, indem Kontingenz nun nicht mehr nur wie bei Aristoteles von zukünftigem Seienden, sondern auch von aktualem und vergangenem Seienden – bzw. modern formuliert, von Aussagen über das entsprechende Seiende – ausgesagt wird. Betrachten wir dies zunächst am Beispiel von Aussagen: Sachverhalte welthaft Seienden können mit Aussagen (p) wiedergegeben werden. Sprachlich können wir uns auf solche Aussagen noch einmal beziehen und ihnen unterschiedliche Modalitäten, wie Notwendigkeit, Möglichkeit, Unmöglichkeit und eben auch Zufälligkeit oder Kontingenz zuweisen: „Es ist möglich, dass es Leben auf anderen Planeten gibt“ (Mp), „es ist notwendig, dass die Winkelsumme eines Dreiecks im Euklidischen Raum 180 Grad beträgt“ (Np) etc. Kontingent werden nun, z. B. schon bei Leibniz, diejenigen Aussagen genannt, die möglich sind oder auch möglicherweise nicht sind: „Es ist möglich, dass p und es ist möglich, dass nicht p“ (Kp = Mp ^ M p). Anders formuliert: All diejenigen Aussagen, die nicht mit Notwendigkeit ausgesagt werden, sind kontingent (Kp = Np).109 Z.T. wurden diese formalen Bestimmungen noch präzisiert um den Hinweis, dass es sich dabei auch um faktisch zutreffende und somit schon bestimmte und nicht nur zukünftige Aussagen handeln kann. Kontingent im Sinne aktualer Kontingenz sind dann diejenigen Aussagen, die möglich und möglicherweise nicht zutreffen, faktisch aber zutreffen (Kp = Mp ^ M p ^ p; Kp = Np ^ p).110 Ein Beispiel wäre: „Es ist möglich, dass ich ein Eis esse und es ist möglich, dass ich kein Eis essen, tatsächlich esse ich aber ein Eis.“ Diese Aussage ist äquivalent mit „Es ist nicht notwendig, dass ich ein Eis esse, aber ich esse ein Eis“. Kontingente Aussagen betreffen aber nicht einfach nur banale Alltagsdinge, sondern sie betreffen auch naturwissenschaftliche Aussagen und sogar Naturgesetze, worauf u. a. schon Leibniz n

n

n

n

108 Vgl. Bochenski, J.M., Formale Logik, 94 – 98. 109 Vgl. Evers, D., Gott und mögliche Welten, 17. 110 Vgl. Evers, D., Gott und mögliche Welten, 18.

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hinwies.111 So beträgt beispielsweise die Erdbeschleunigung faktisch 9,81 m/ s2, aber es ist – im Gegensatz zur Winkelsumme eines Dreiecks – nicht notwendig, sondern kontingent so. Kontingenz in diesem Sinne hat also nichts mit Kausalität zu tun. Auch die Aussagen über vollständig geschlossene Ursachenketten sind in diesem Sinne kontingent. Man könnte sogar sagen, dass es ein Spezifikum der Naturwissenschaften und aller empirischen Wissenschaften ist, sich mit kontingenten Aussagen zu beschäftigen, etwa im Gegensatz zur Mathematik oder Logik, die sich mit notwendigen Gesetzmäßigkeiten beschäftigen, die eben aus dem recht einfachen Grund notwendig und nicht kontingent sind, weil die Schlussfolgerungen in den Begriffen der Prämissen bereits enthalten sind, so dass sämtliche Empirie entfallen kann. Kommen wir nun zu den Sachverhalten und dem Seienden selbst. Ausgehend von Aristoteles hat sich arabische und christliche Theologie – oder präziser ausgedrückt, Religionsphilosophie – nicht einfach mit kontingenten Aussagen, sondern vor allem mit kontingentem Seienden beschäftigt, weil man der Auffassung war, aufgrund des kontingenten Seins auf notwendiges Sein schließen zu können, welches identisch mit Gott sei. Dies ist faktisch eine der Formen des von Kant sog. kosmologischen Gottesbeweises. Am bekanntesten ist diese Form bei Thomas von Aquin,112 der sie aber nicht erfunden hat. In der christlichen Theologie erscheint sie zum ersten Mal im 12. Jh. bei Richard von St. Victor (gest. 1173); in der arabischen Religionsphilosophie bereits bei Al-Farabi (gest. ca. 950), Ibn-Sina (gest. 1037), vielleicht auch schon bei Al-Kindi (gest. ca. 870).113 Wir stellen nun kurz den Beweis Richards vor, der von den arabischen Vorläufern unabhängig sein dürfte: Richard geht davon aus, dass sich alles denkbare Sein in drei bzw. vier denkbare Arten teilen lässt: 1. Sein, das sein Sein aus sich selbst (a semetipso) und von Ewigkeit an hat, d. h. notwendiges Sein; 2. Sein, nicht aus sich selbst und von Ewigkeit an; 3. Sein, nicht aus sich selbst und nicht von Ewigkeit an; kontingentes Sein; 4. Sein aus sich selbst und nicht von Ewigkeit an.114 Richard hält die Seinsart 4 für widersprüchlich „[d]enn nichts kann mit Sicherheit aus sich selbst sein, was nicht auch von Ewigkeit an ist […] andernfalls hätte es gegeben, was es nicht hatte, und gemacht, was es nicht konnte.“115 Der Tradition ist diese Annahme unter dem Satz ex nihilo nihil fit („aus nichts wird nichts“) bekannt – ein Satz, den man heranwachsenden 111 112 113 114 115

Vgl. Evers, D., Gott und mögliche Welten, 20. Vgl. Thomas von Aquin, s.th., I, 2,3. Vgl. Clayton, J., Gottesbeweise, hier 729 – 731. Vgl. Richard von St.Victor, De Trinitate, 1,9; 80. Richard von St.Victor, De Trinitate, 1,6; 76: „Nihil enim omnino potest esse a semetipso, quod non sit ab aeterno […]. Alioquin dedit quod non habuit et fecit quod non potuit“.

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Schülern tunlichst nicht sagen sollte. Seinsart 2 spielt für Richard im Rahmen seiner Trinitätslehre zwar eine Rolle, aber wir können sie hier vernachlässigen. Seinsart 3, das kontingente Sein, sei ein Modus, „den wir nicht anzweifeln können, da wir ihn in unserem täglichen Umgang in unserer Alltagspraxis aufweisen“.116 Von ihm ausgehend führt Richard einen Beweis des Vorhandenseins des ersten Seinsmodus, denn gäbe es kein notwendiges Sein, hätte es eine Zeit gegeben, zu der nichts existierte, und das kontingente Sein hätte nicht entstehen können. Da es dieses aber gibt, muss es auch das notwendige Sein der Seinsart 1 geben. Formal ist diese Argumentation in Ordnung.117 Gegen Gottesbeweise dieses kosmologischen Typus sind natürlich im Laufe der Zeit eine Reihe von Einwänden erhoben worden, die uns im Moment aber nicht zu interessieren brauchen. Wichtig sind zunächst vielmehr folgende Feststellungen: – Alles welthafter Erfahrung zugängliche Seiende (u. U. mit Ausnahme von Tautologien) hätte auch anders sein können, d. h. es ist kontingent. – Dieses kontingente Seiende ist im Verständnis Richards gerade durch einen ununterbrochenen, immanenten Kausalzusammenhang gekennzeichnet. – Von dem kontingenten Sein wird auf ein notwendiges Sein geschlossen, das nicht im Ursachenzusammenhang eingebettet ist, auch nicht als erste Ursache der Kausalkette, sondern eher als deren Grund als Ganzer besteht. Die Notwendigkeit dieses Seins kann, um Formulierungen aus Anselms Beweis aufzunehmen, als ein Sein, dessen Nichtsein nicht denkbar ist, gedacht werden118 und damit nicht nur als notwendiges, sondern auch als absolutes Sein bzw. als ein notwendiges Sein, das selbst nicht kontingent ist, d. h. als ein „absolut notwendiges“ Sein. Dieses „absolut notwendige“ Sein wird aus Gründen, die momentan nicht wesentlich sind, mit dem dreieinigen Gott identifiziert. Diese Identifikation ist freilich nicht notwendig. Es ist durchaus möglich, wie dies beispielsweise in eindrucksvoller Form bei Spinoza, aber wahrscheinlich auch Einstein119 geschieht, dieses „absolut notwendige“ Sein mit der Welt als Ganzer zu identifizieren, also mit der Summe des durch Kausalzusammenhang verbundenen einzelnen kontingenten Seins, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Es ist also möglich, dem gleichen welthaften Sachverhalt nicht nur Kontingenz und 116 Richard von St.Victor, De Trinitate, 1,7; 78: „[…] de quo dubitare non possumus, utpote de illo quem quotidiano usu probamus.“ 117 Vgl. Richard von St.Victor, De Trinitate, 1,8; 78. Der Beweis funktioniert für p = „Es gibt kontingentes Seiendes“, q = „Es gibt notwendig Seiendes“ nach folgendem Schema: p ! qNichtexistenz des Notwendigen impliziert Nichtexistenz kontingenten Seins. $q ! p(Äquivalenzumformung mittels Kontraposition) q Da aber kontingentes Sein q existiert, p muss es auch notwendiges Sein geben. 118 Zur Deutung von Anselms Beweis vgl. Dalferth, I.U., Fides quaerens intellectum. 119 Vgl. Mìhling, M., Einstein und die Religion, 223 – 229. n

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einen geschlossenen Kausalzusammenhang zuzuweisen, sondern ihn auch mit Rekurs auf einen christlichen (oder theistischen) Gott oder aber ohne einen solchen zu deuten. In beiden Fällen handelt es sich jedoch nicht mehr um empirische Sachverhalte, sondern um religionsphilosophische Deutungen. Unter bestimmten Prämissen120 kann man darüber hinausgehend sogar folgende These formulieren: Jede theistische oder naturalistische Deutung der Wirklichkeit setzt die versteckte Gültigkeit dieses kosmologischen Absolutheitsbeweises ex possibili et necessario voraus.121 Nun kann man aber aus religionsphilosophischen wie aus theologischen Gründen Einwände just gegen bestimmte Aspekte dieses Gebrauchs des Kontingenzbeweises machen. Wir beschränken uns hier auf einen religionsphilosophischen Einwand und fragen nach dessen theologischer Bedeutung erst am Ende des Kapitels. Richard hat zwar mit „aus sich selbst und von Ewigkeit an“ (a semetipso et ab aeterna) schon eine mögliche Definition von Notwendigkeit geliefert, doch es fragt sich, ob dies tatsächlich das trifft, was berechtigterweise als „notwendig“ bezeichnet wird. Am einfachsten kommt man dem auf die Spur, wenn man fragt, was „Notwendigkeit“ hier eigentlich semantisch bedeuten soll und dabei zunächst einmal Richards Erläuterung zurück stellt.

2.4.1.2 Zweifel am semantischen Gehalt eines absolut notwendigen Seins Die radikalste semantische Begriffsklärung, die in einen fundamentalen Einwand mündet, dürfte sich bei Nicolai Hartmann finden. Er spricht allerdings nicht von Kontingenz, sondern von Zufälligkeit, was aber das Gleiche meint, wie aus folgender Aussage hervorgeht, die etwas umständlich nichts anderes formuliert als Kp = Np: n

„als positivster der relationalen Modi ist doch die Notwendigkeit am meisten vom Gegensatz zur Zufälligkeit betroffen. Das spricht sich formal darin aus, dass sie allein unmittelbar kontradiktorisch zu ihr steht.“122 120 Zu diesen Prämissen zählt, dass man gegen Kant zeigen kann, dass nicht der kosmologische den ontologischen Beweis voraussetzt, sondern umgekehrt der ontologische den kosmologischen, wenn Notwendigkeit immer schon relative Bezogenheit auf Kontingenz voraussetzt. Dies setzt den Gedankengang Nicolai Hartmanns (s. u.) als gültig voraus. 121 Diese sehr weitreichende These lässt sich allerdings nicht leicht verifizieren, sondern (als Allaussage) höchstens falsifizieren oder positiv plausibilisieren. Aber auch Letzteres wäre nur durch ein umfangreiches Forschungsprojekt zu leisten, das an ausgesuchten naturalistischen Positionen versteckte kosmologische Argumente in Form des Kontingenzbeweises als ontologische Voraussetzungen aufweisen würde. 122 Hartmann, N., Möglichkeit und Wirklichkeit, 90.

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Hartmann betrachtet aber nun zunächst, ohne sich auf ihn zu beziehen, genauer Richards Seinsmodus 3, das kontingente Sein der Welt. Jedes Ereignis in der Welt ist für sich betrachtet zufällig oder kontingent in dem Sinne, dass es auch anders hätte sein können, in dem Sinne, dass es auch möglicherweise nicht hätte sein können. Das Ereignis A „ich bewege meinen Fuß“ ist für sich betrachtet genauso zufällig wie das Ereignis B „das Auto bremst“. Zwischen beiden Ereignissen kann aber eine Folgebeziehung bestehen, z. B. der Fall der Kausalität, dergestalt, dass Ereignis A notwendige Bedingung für Ereignis B ist. In unserem Beispiel wäre also die Fußbewegung notwendige Bedingung für das Abbremsen des Autos. Dieser Zusammenhang von in sich jeweils zufälligen Ereignissen ist nach Hartmann der genuine Entdeckungshorizont der Bedeutung von Notwendigkeit: „Weder Axiome noch Gesetze noch irgendwelche Prinzipien sind notwendig. Sie werden höchstens als die ,notwendigen Voraussetzungen‘ des anderweitig gegebenen Besonderen erfasst. Aber das ist nur die Erkenntnisnotwendigkeit im Verfahren des Rückschlusses, nicht Seinsnotwendigkeit des Erschlossenen.“ […] „Ist nämlich in einer Sphäre alles zufällig, so ist die Sphäre atomisiert, aufgelöst […]. Es fehlt ihr der innere Zusammenhalt. […] Tatsächlich ist ein solcher Fall ja auch fiktiv. […] Zusammenhang ist überall, und auch Notwendigkeit ist überall.“123

Notwendigkeit ist daher im Gegensatz zur Zufälligkeit ein streng relationaler oder relativer Begriff: „es gibt keine Notwendigkeit ohne Zufälligkeit, wohl aber kann es Zufälligkeit ohne Notwendigkeit geben“ […]. „Die Notwendigkeit trägt das Prinzip ihrer Selbstaufhebung in sich und involviert damit die Zufälligkeit als ihre Begrenzung; die Zufälligkeit dagegen kennt keine Selbstaufhebung und Begrenzung, sie involviert von sich aus keine Notwendigkeit.“124

Ist es nun dieser semantisch bestimmte Begriff von Notwendigkeit, der im oben angegebenen Kontingenzbeweis erschlossen wird, indem von allen an sich kontingenten oder zufälligen welthaften Ereignissen, die dennoch kausal determiniert und damit mit relativer Notwendigkeit verbunden sein können, auf eine darüber stehende Notwendigkeit geschlossen wird, von der sie abhängen, hat das nach Hartmann bedeutende Folgen: „Die Notwendigkeit hat ihren Platz nur bedingterweise inne; […] bedingt nämlich durch die Reichweite der Relationen und des Zusammenhanges der Sphäre. Wo dieser Zusammenhang aufhört, schlägt sie automatisch in ihr Gegenteil, die Zufälligkeit um. Damit verschwindet sie zugleich auch aus den Intermodalverhältnissen. Die Zufälligkeit ersetzt sie und tritt in ihre Rechte.“125 123 Hartmann, N., Möglichkeit und Wirklichkeit, 93. 91. 124 Hartmann, N., Möglichkeit und Wirklichkeit, 91. 92. 125 Hartmann, N., Möglichkeit und Wirklichkeit, 94 – 95.

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„Auf das ,absolut notwendige Wesen‘ angewandt bedeutet das nun nichts Geringeres, als dass es vielmehr in Wahrheit das ,absolut zufällige Wesen‘ ist. Anders müsste es […] ein aus sich selbst notwendiges Wesen sein. Und das eben ist es, was man mit der causa sui hat sagen wollen. In Wahrheit bedeutet aber ein aus sich selbst heraus notwendiges Wesen ein nicht notwendiges Wesen.“126 „Das große Beispiel dafür ist der ungeheure Missbegriff des ,absolut notwendigen Wesens‘. Man meinte damit Gott als den ersten Grund aller in der Welt bestehenden Notwendigkeit. […] [E]in Grund, auf dem die Notwendigkeit von etwas beruht, muss selbst notwendig sein; was also als erster Grund aller Gründe zugleich Grund aller Notwendigkeit in der Welt ist, muss absolute Notwendigkeit haben; sonst fiele alle Notwendigkeit in sich zusammen, wäre zufällige Notwendigkeit. […] [Aber hier] liegt […] ein einfaches Missverständnis des Grund-seins vor. Grund von etwas sein heißt gar nicht notwendig sein, sondern nur, eine notwendige Folge nach sich ziehen.“127

Lapidar kann Hartmann dann auch formulieren: „Gott als absolut notwendiges Wesen ist vielmehr das absolut zufällige Wesen.“128 Mit anderen Worten: Der Kontingenzaufweis eines notwendigen Seins leistet nicht das, was er eigentlich soll. Er beweist gerade nicht, dass ein theistisch gedachter Gott oder die Welt als ganze absolut notwendig sind, sondern, dass sie gerade zufällig sind. Zwar käme einem solchermaßen theistischen Gott oder der Welt als ganzer Notwendigkeit zu, diese aber nur in Abhängigkeit zur Ereignisfolge der einzelnen als kontingent oder zufällig gedachten Ereignisse der Welt. Der Beweis, gerade in der Form Richards, der ja auf die Begriffe der Kontingenz und Notwendigkeit verzichtet, wird dadurch formal nicht angegriffen. Wenn sonst keine Einwände gegen ihn vorliegen, kann er durchaus einen Seinsmodus 1, nach dem es Sein aus sich selbst und von Ewigkeit an geben muss, aufweisen. Nur : Genau dieses Sein hat gerade nicht den Modus der Notwendigkeit, sondern den der Kontingenz oder Zufälligkeit. Ob es nun der „ewige“ Gott oder die „ewige“ Welt ist: Es ist einfach, und als Solches gerade kontingent.129 Zerstört wäre damit der Begriff eines an sich notwendigen Seins bzw. der Begriff eines absolut notwendigen Seins. Ist diese Argumentation Hartmanns stringent? Es gab durchaus Versuche,

126 127 128 129

Hartmann, N., Möglichkeit und Wirklichkeit, 93. Hartmann, N., Möglichkeit und Wirklichkeit, 92. Hartmann, N., Möglichkeit und Wirklichkeit, 94. Dies ändert sich auch nicht, wenn man nicht beim kosmologischen, sondern beim ontologischen Argument ansetzt und dieses notwendige Sein als ein Sein versteht, dessen Nichtsein nicht denkbar ist. Denn ein Sein, dessen Nichtsein nicht denkbar ist, muss immerhin gedacht werden können und faktisch gedacht werden, so dass in dieser Formulierung schon eine versteckte Relationalität enthalten ist, und zwar dergestalt, dass hier von einer epistemischen Aussage auf eine ontische geschlossen werden soll.

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Hartmann zu widerlegen, doch scheinen diese m. E. selbst fehlerhaft zu sein, so dass sie nicht in Anschlag zu bringen sind.130 Welche Folgerungen können wir nun aus dieser religionsphilosophischen Debatte ziehen? Es handelt sich m. E. um folgende Einsichten: Kontingenz oder Zufälligkeit im Sinne des „es könnte auch anders sein“ ist mit einem Kausalzusammenhang – auch mit einem geschlossenem Kausalzusammenhang – welthafter Ereignisse vereinbar. Aus diesem kontingenten Sein muss, wenn unsere Vermutung der universalen Gültigkeit des Kontingenzbeweises stimmen sollte, auf ein „letztgültiges“, „letztes“, „eschatisches“ oder auch „absolutes“ (nicht aber „absolut notwendiges“) Sein geschlossen werden. Dieses „letztgültige“ Sein besteht aus sich selbst. Ihm kommt gerade keine (absolute, d. h. nicht relative) Notwendigkeit zu. Da die Verneinung von Notwendigkeit aber Zufälligkeit im Sinne von Kontingenz ist, ist von diesem letztgültigen Sein gerade (absolute) Kontingenz oder (absolute) Zufälligkeit auszusagen. Dieses letztgültige, zufällige Sein kann mit dem Zusammenhang der Welt als Ganzer identifiziert werden oder aber als unterschieden von ihr gedacht werden. Im ersten Fall kommt man zu naturalistischen Wirklichkeitsverständnissen, im zweiten zu solchen, die einen in irgendeiner Weise als von der Welt different gedachten Gottesbegriff enthalten. 130 Exemplarisch kann hier Beck, H., Möglichkeit und Notwendigkeit, 68 – 73, genannt werden, der zu zeigen versucht, dass Hartmann letztlich eine Äquivokation begehe, indem er zwei Notwendigkeitsbegriffe verwechsele: Die Modalität der Notwendigkeit erster Stufe innerhalb des kontingenten Seienden und davon unterschieden die Übermodalität der Notwendigkeit zweiter Stufe, die vom kontingenten Seinszuammenhang als Ganzem erschlossen wird. Wenn Beck Recht hätte, würde sich nicht nur Hartmann irren, sondern ein notwendiges und absolutes Sein, gleich in welcher Gestalt, wäre zumindest denknotwendig. Becks Ausführungen können mit den formalen Mitteln der modernen Modallogik so interpretiert werden, dass er davon ausgeht, dass notwendiges oder zufälliges Sein auf einer weiteren Modalitätsstufe als immer notwendig gedacht werden soll: Kp ! NKp bzw. Np ! NNp und dass des Weiteren, formal ausgedrückt, eine „Abtrenn- und Modifikationsregel“ angewandt werden könnte: NKp ! Nq bzw. NNp ! Nq, für p ungleich q. Dieser Schluss gilt aber an sich in keinem System der Modallogik. Vielmehr gibt es zumindest ein System der Modallogik, nach dem zwar tatsächlich die erste Beck’sche Prämisse gilt: Kp ! NKp bzw. Np ! NNp, d. h., dass jede Modalität selbst notwendig ist. Daraus folgt aber eine Reduktion von Modalitäten zweiter Stufe auf Modalitäten erster Stufe: NKp ! Kp bzw. NNp ! NP. M.a.W.: Da jede Modalität auf zweiter Stufe stets als notwendig betrachtet wird, können die gestuften Modalfunktoren wieder auf die ursprünglichen reduziert werden. In Wirklichkeit besteht also ein Äquivalenzverhältnis. Ist dies aber richtig, kann man Hartmann gerade keine Äquivokation von Modalbegriffen unterstellen, weil die „Übermodalität“ in genau demselben semantischen Sinne wie die Modalitäten zu behandeln wären. Selbst wenn die Zufälligkeit der Welt von einer Notwendigkeit abhinge, wäre diese Notwendigkeit selbst wieder nur zufällig, was Hartmann m. E. schlüssig gezeigt hat.

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2.4.2 Zufall als ontische Ursachenlosigkeit Die zweite Form des Zufalls, die hier zu behandeln ist, ist Zufall als Ursachenlosigkeit. Es muss darauf hingewiesen werden, dass mit der Quantentheorie Zufall als Ursachenlosigkeit in das bis noch Anfang des 20. Jh. deterministisch geschlossen scheinende Weltbild einkehrte, indem verborgene Parameter, die den Zufall nur als epistemischen entlarven könnten, innerhalb der Quantentheorie ausgeschlossen werden konnten. Alternative ontologische Interpretationen dieses Sachverhalts bestehen in Spielarten der Kopenhagener Deutung, Dekohärenz- und Kollapstheorien, verschiedenen Mehrweltentheorien und in Deutungen wie der Bohm’schen Deutung, die über die Einführung eines Quantenpotentials prinzipiell unentdeckbare bestimmende Parameter zulässt und so eine deterministische Welt ontisch postuliert.131 Mittlerweile ist deutlich, dass nur diejenigen Deutungen, die prinzipiell statistisch, nicht-lokal und letztlich indeterministisch sind, den empirischen Fakten entsprechen, da verborgene Variablen durch den empirischen Nachweis der Verletzung der Bell’schen Ungleichungen ausgeschlossen werden können.

Lassen sich alle einzelnen Zustände nicht in einem Experiment messen, so kann man auch keinen direkten Nachweis verborgener Parameter vornehmen. Man kann aber mehrere Experimente vornehmen, die nach unterschiedlichen Eigenschaften fragen und sich dann eine einfache Eigenschaft von Systemen mit festen, unabhängigen Eigenschaften zunutze machen: Angenommen, wir hätten eine Menge mit unbekannten Instantiationen dreier Eigenschaften a,b,c. Die Zahl der Individuen, die die Eigenschaften a und b besitzen [F(a,b)] ist dann kleiner oder gleich der Summe der Anzahl der Individuen, der a und c zukommt [F(a,c)] und der Anzahl, denen b, nicht aber c zukommt [F(b, c)]: F(a,b) ‹ [F(a,c)] + [F(b, c)]. Werden diese Ungleichungen aber verletzt, kann ein System keine distinkten, voneinander unabhängigen Eigenschaften und daher auch keine verborgenen Paramenter besitzen. Dieser emn

n

131 Vgl. Bohm, D., „Hidden Variables“ I.

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pirische Nachweis der Bell’schen Ungleichungen gelang Alain Aspect in den 1980er Jahren.132

Zusätzlich läßt sich argumentieren, dass indeterministische Deutungen wie die Dekohärenztheorie einfacher und daher vorzuziehen sind. Vorausgesetzt ist hier natürlich, dass man ein theoretisches Sparsamkeits- oder Simplizitätsprinzip (entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem, „Occams Razor“, William von Ockham zugeschrieben) für ein sinnvolles Prinzip von Wissenschaftlichkeit hält, was letztlich eine Frage der ontologischen Überzeugung oder des Glaubens ist. Die Wirkung dieses Sachverhalts und seiner Deutung auf die Theologie des 20.Jh. ist theologiegeschichtlich kaum zu unterschätzen. Es setzte eine Flut von theologischen Deutungen und Inanspruchnahmen dieses Sachverhalts ein, die hier nicht einmal annähernd vollständig beschrieben werden können, so dass wir uns auf einzelne Beispiele beschränken müssen. Dieser Input naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Denkens in theologisches Denken überrascht insofern nicht, als mit der Quantentheorie der prinzipielle Determinismus der Naturphilosophie des 19. Jh. überwunden schien, und partielle Ursachenlosigkeit im welthaften Bereich Raum nicht nur für ein generelles, sondern auch spezielles und identifizierbares Handeln Gottes zu lassen schien. Hier sind Versuche zu nennen, den Naturzusammenhang als prinzipiell für Zufall im Sinne von Ursachenlosigkeit offen zu deuten und hier einen Spielraum für intentionales Handeln Gottes zu sehen. Diese Versuche können in mannigfacher und unterschiedlicher Form geschehen. 1. Der einfachste Versuch besteht darin, anzunehmen, dass sich die Unbestimmtheit der Quantenwelt auf die Makrowelt auswirkt, diese letztlich nicht vollständig innerweltlich determiniert ist, und dass Gott auf diese Weise absichtsvoll den Weltlauf steuert, indem er auf der Ebene der Quantenwelt beständig oder gelegentlich direkt in den Weltlauf eingreift. Solche Versuche der Deutung des Handelns Gottes finden sich seit den 1950er Jahren bis in die Gegenwart, z. B. bei William Pollard, Vincent Brümmer, Nancey Murphy, Robert J. Russell, George Ellis, Thomas Tracy und z. T. bei Ian Barbour.133 So elegant solche Versuche auch erscheinen mögen, sind sie doch mit einigen grundsätzlichen Schwierigkeiten behaftet: Zum einen wird hier das Handeln Gottes in modifizierter Form nach dem Modell des „God of the gaps“ gedeutet, wenn auch keine Verletzung des Energieerhaltungssatzes 132 Vgl. Bell, J.S., On the EPR Paradox. Eine der besten Darstellungen der Quantentheorie und ihrer Deutungen findet sich in Ijjas, A., Der Alte, bes. 59 – 92.121 – 149. Zu den Bell’schen Ungleichungen und zu den Nachweisen von Alain Aspect vgl. ebd. 111. 133 Vgl. Pollard, W., Chance and Providence; Brìmmer, V., Was tun wir, wenn wir beten?, 63; Russell, R.J., Special Providence and Genetic Mutation; Murphy, N., Divine Action in the Natural Order; Ellis, G., Ordinary and Extraordinary Divine Action; Tracy, Th., Particular Providence and the God oft he Gaps; Barbour, I; Naturwissenschaft trifft Religion, 202: „Ich selbst bewundere auch die […] Vorstellung, dass Gott die Quantenunbestimmtheiten bestimmt“.

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besteht. Der traditionelle Vorwurf, das Handeln Gottes in den jeweiligen Lücken der naturwissenschaftlichen Welterkenntnis anzusetzen, ist vor allem deswegen beachtenswert, weil es sich in der Regel um Erkenntnisgrenzen der naturwissenschaftlichen Welterkenntnis handelt und die Gefahr besteht, dass Gott im Laufe sich schließender naturwissenschaftlicher Erkenntnislücken einen sehr langsamen Tod stirbt.134 Diese klassische Form des religionskritischen God-of-the-gaps-Arguments kann in diesem Fall zwar nicht in Anschlag gebracht werden, weil es sich bei der quantentheoretisch aufgewiesenen Ursachenlosigkeit um prinzipielle Ursachenlosigkeit handelt, die nicht durch weitere empirische Erkenntnis verdrängbar ist. Allerdings wird hier ontologisch die indeterministische Deutung der Quantentheorie nicht aktzeptiert, so dass statt eines naturalistischen Determinismus nun ein theologischer Determinismus entsteht – für den Fall, dass Gott alle Quantenunbestimmtheiten bestimmt – bzw. ein theologischer Voluntarismus – für den Fall, dass Gott nur einige Quantenunbestimmtheiten bestimmt. In jedem der Fälle wird aber die quantentheoretische Unbestimmtheit theologisch-ontologisch reduziert. Damit würde Gott aber letztlich doch die Funktion eines Lückenbüßers einnehmen, auch wenn es sich um eine Lücke handelt, die nicht mehr naturwissenschaftlich geschlossen werden kann. Theologie hätte sich in Explanationsmetaphysik aufgelöst. Zum anderen besteht die Schwierigkeit, dass sich zumindest rein naturwissenschaftlich bisher überhaupt nicht sagen lässt, inwieweit die Unbestimmtheit der Quantenwelt tatsächlich auch zu einer Unbestimmtheit der Makrowelt und damit zu einer prinzipiell möglichen Indeterminiertheit dieser führt. Zwar erscheint dies zunächst eine logische Folge dessen zu sein, dass die Makrowelt aus der Quantenwelt aufgebaut ist, und es lassen sich, wie im Gedankenexperiment von „Schrödingers Katze“135 auch direkte Eins-zu-eins-Relationen von Quantenwelt und Makrowelt konstruieren. Allerdings hat man bisher noch keinen direkten Einfluss der Unbestimmtheit der Mikrowelt auf die Makrowelt in dem Sinne nachweisen können, dass auch die Makrowelt als prinzipiell indeterministisch gedeutet werden müsste. Eine prinzipielle Geschlossenheit des Kausalzusammenhangs der Makrowelt lässt sich zwar empirisch auch nicht beweisen, naturphilosophisch besteht aber die Möglichkeit, dass sich Quanteneffekte in der Summe auf die Makrowelt aufgrund der großen Zahl von Freiheitsgraden nicht auswirken.136 In diesem Fall gingen die indetermi134 Vgl. z. B. die Gärtnerparabel in Flew, A./MacIntyre, A. (Hg.), New Essays in Philosophical Theology, 96. 135 Vgl. Schrçdinger, E., Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik. 136 Vgl. Kiefer, C., Quantentheorie, 69 f. Diese Argumentation ist wohl die einzig stichhaltige, um erklären zu können, warum es bislang noch keinen positiven eindeutigen Nachweis der Übertragung der Ursachenlosigkeit von der Quantenwelt auf die Makrowelt gibt. Die Versuche, die Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 134 – 139 nennt, um zu einer mit dem Determinismus kompatiblen Deutung der Quantentheorie zu kommen, haben jedenfalls einen höheren weltanschaulichen Anteil als die Kopenhagener Deutung. Wenn Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 136, diese Deutung ablehnt, weil hier nicht kausal erklärt werden kann, wie und warum es zum Kollaps der Wellenfunktion kommt, und schreibt, „Aber gerade diese – und andere – Schwierigkeiten lassen die Kopenhagener Deutung als unbefriedigend

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nistischen Quanteneffekte im Rauschen unter. Ich halte es zwar mit Wissenschaftlern wie Arthur Peacocke, John Polkinghorne, Niels Gregersen oder Thomas Görnitz137 (ohne jeweils deren ontologische Bestimmungen zu teilen) für höchstwahrscheinlich, dass die Quantenunbestimmtheit durch Bifurkationspunkte instabiler Systeme die Makrowelt maßgeblich bestimmt. Aber ein eindeutiger Erweis steht m.W. dazu noch aus. Eine Theorie des Handelns Gottes sollte sich nicht davon abhängig machen. 2. Unter Inanspruchnahme der Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads konnten prozesstheolgische Ansätze bis in jüngste Zeit138 das Handeln Gottes als absichtsvolle Lockung (to lure) deuten, die den prozesshaften Ereignissen in der Ereignisfolge der Welt gewissermaßen göttliche Absichten „soufflieren“. Die einzelnen Ereignisse werden hier nur teilweise als bestimmt von den vorangehenden Ereignissen verstanden und als teilweise dem Zufall im Sinne von Ursachenlosigkeit unterworfen, so dass jedem aktualen Ereignis in der Prozessfolge ein gewisser Entscheidungsspielraum bleibt, sich so oder so zu entwickeln und damit zukünftige Ereignisse so oder so zu bestimmen, jeweils unter der Alternative, der Lockung Gottes zu entsprechen oder nicht. Auf diese Weise bestimmt göttliches Handeln indirekt den Weltlauf in Kooperation mit den einzelnen welthaften Ereignissen.139 Vorteil dieses Konzepts ist: Gottes indirektes Handeln vermeidet das Problem des „God of the gaps“ (s. o.). Nachteile: Voraussetzung ist eine im Vergleich zur Kopenhagener oder Bohm’schen Deutung der Quantentheorie sehr umfangreiche Übernahme einer sehr voraussetzungsvollen und in sich nicht unproblematischen Prozessmetaphysik. Genannt werden kann hier nur das Problem, dass zumindest metaphorisch alle welthaften Ereignisse in personaler oder protopersonaler Sprache erfasst werden müssen, das Problem, dass die in der Quantentheorie vorausgesetzte erscheinen, was wiederum den Versuch nicht als aussichtslos erscheinen lässt, einer Theorie ,verborgener Parameter‘ weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken“, dann bedeutet dies letztendlich nur, dass Klein irreduzibel statistische Deutungen der Quantentheorie ablehnt, weil sie nicht nach seinem weltanschaulichen Gusto sind. M.a.W.: Der einzige Fehler solcher Deutung ist für Klein, dass sie nicht radikal deterministisch ist. Obwohl sich Klein nicht auf eine deterministische Deutung festlegt, ist er doch mit dem Problem belastet, dass alle Alternativen einen viel höheren weltanschaulichen Gehalt beinhalten. Denn eine Theorie der Quantengravitation gibt es noch nicht, die Viel-Welten-Interpretation läuft auf die monströse Vorstellung der Akutualität aller Möglichkeiten hinaus, bzw. kann selbst nicht den Determinismus sichern (vgl. Ijjas, A., Der Alte, 91), die Bohm-DeBroglie’sche Interpretation postuliert ebenfalls weltanschauliche Unbekannte, die gemäß der Verletzung der Bell’schen Ungleichungen, die gut experimentell bestätigt sind (Vgl. Zeilinger, A./Weihs, G./Jennewein, T./ Aspelmeyer, M., Happy Centenary), nicht experimentell gefunden werden können. Die Dekohärenztheorie schließt hingegen den Indeterminismus gerade nicht aus. Die Behauptung von Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 138, „Nichtsdestoweniger spricht viel dafür, daß der Determinismus durch die Quantenmechanik nicht per se widerlegt oder ausgehebelt wird“, ist somit nicht nachvollziehbar. 137 Vgl. Peacocke, A., Evolution, 3 – 21; Polkinghorne, J., Fatih of a Physicist, 77 f; Gregersen, N., Idea of Creation and the Theory of Autopoietic Processes; Gçrnitz, Th./Gçrnitz, B., Evolution des Geistigen, 61 f. 138 Vgl. Keller, J.A., Problems of Evil. 139 Vgl. z. B. Keller, J.A., Problems of Evil, 136 – 141.

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Zufälligkeit als Ursachenlosigkeit einiger Ereignisse in der Quantenwelt nun universal von allen Ereignissen ausgesagt werden muss, und das Problem, dass der Gehalt an weltanschaulichen Annahmen, die sich nicht der Selbstoffenbarung des dreieinigen Gottes verdanken, sowie an Annahmen, die nicht durch den naturwissenschaftlichen Diskurs verursacht sind, geradezu exponentiell ansteigen dürfte. 3. Die dritte Möglichkeit besteht darin, die mit den unreduzibel statistischen Deutungen der Quantentheorie postulierte mögliche Indeterminiertheit nicht einfach als Ausnahme, sondern als fundamentale Erkenntnis über die Natur, einschließlich der Makrowelt und der Naturgesetzlichkeit zu verstehen. Unter der Voraussetzung, dass die Naturgesetze des Naturzusammenhangs als statistische Universalhypothesen gedeutet werden können,140 stellt dies keine Verletzung der von Gott selbst geschaffenen und erhaltenen natürlichen Ordnung dar und damit auch keinen Selbstwiderspruch des im Modus der Treue und Wahrhaftigkeit verstandenen Handelns Gottes. Dies scheint mir die einzige Deutung zu sein, die theologisch anschlussfähig ist. Wir werden im Schlussteil dieses Kapitels versuchen, ein Modell des Handelns Gottes vorzustellen, das mit dieser Auffassung kompatibel ist.

Als Ergebnisse dieses Teils über Kontingenz als ontische Ursachenlosigkeit halten wir fest: – Das Vorhandensein ontischer Ursachenlosigkeit auf der Ebene der Quantenwelt kann naturphilosophisch als gesichert gelten. – Die Geschlossenheit oder Ungeschlossenheit des Kausalzusammenhangs und damit das Nichtvorhandensein oder Vorhandensein von Ursachenlosigkeit in ontischer, nicht nur epistemischer Hinsicht auf der Ebene der Makrowelt ist naturphilosophisch strittig, aber wahrscheinlich und naturwissenschaftlich stets offen, da Kausalität selbst kein naturwissenschaftlicher Begriff ist. – Christliche Theologie kann nicht einfach diese (oder andere) Ergebnisse der Naturwissenschaften oder der Naturphilosophie als Ausgangspunkt ihrer eigenen Theoriebildung nutzen, kann sie aber auch nicht missachten, sondern wird sich dialogisch auf diese beziehen müssen.

2.4.3 Von der Evolutionsbiologie zur Systemtheorie 2.4.3.1 Zufall als Ziellosigkeit, nichtberechenbarer Theoriefaktor und emergente Überraschung Seit Bestehen der Evolutionstheorie spielt der Zufall noch in zwei anderen Hinsichten eine Rolle. Einerseits dienen Selektion und nicht berechenbare und damit zufällige Mutationen als Motor des Evolutionsprozesses, andererseits macht die Evolutionsbiologie keine Voraussagen über die konkrete Zukunft 140 Vgl. Pannenberg, W., Kontingenz und Naturgesetz, und Torrance, T.F., Divine and Contingent Order, 43.

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der Entwicklung der Arten, so dass das Eintreten einer bestimmten zukünftigen Entwicklung vielleicht mehr oder weniger wahrscheinlich sein mag, auf alle Fälle aber kontingent oder umgangssprachlich ausgedrückt, überraschend ist. In der Geschichte des Dialogs von Evolutionsbiologie mit dem christlichen Glauben gab es zwei radikale Antwortstrategien von Seiten des Glaubens. Die eine besteht darin, aufgrund der naturwissenschaftlichen Erforschung des Evolutionsprozesses selbst eine irgendwie notwendige Teleonomie aufweisen zu wollen. Dies ist das Verfahren, das seit dem 19. Jh. zu mannigfachen Kämpfen zwischen Biologismus und bestimmten Vertretern einer natürlichen Theologie geführt hat und das auch zuletzt bei der „Intelligent Design“-Bewegung motivierend war. Theologisch wird man nur diagnostizieren können, dass es sich hier um eine fundamentale Kategorienverwechselung handelt, die auch aus religiösen Gründen abzulehnen ist (s.u). Schon im 19. Jh. gab es aber auch positive Aufnahmen der Evolutionstheorie durch die Theologie, wie etwa in der anglikanischen „Lux-mundi“-Bewegung, die die Frage des „Wie“ der Entwicklung des Lebens der Biologie überließ, die Frage nach dem „Sinn“ des Evolutionsprozesses einschließlich dessen zufälliger und theorieimmanent zielloser Komponenten aber theologisch zu deuten erlaubte.141 Seit Ende des 20. Jh. wird auch theologisch die naturphilosophische Deutung des Evolutionsprozesses mit Hilfe des Emergenzbegriffs aufgenommen und hat zu einer vielfältigen Form von unterschiedlichen Emergenztheorien geführt, die Teleonomietheorien wissenschaftsgeschichtlich abzulösen scheinen.142

Nun rechnen die verschiedenen Formen evolutionärer Theorien offensichtlich mit Zufallsmomenten sowohl im Mutationsvorgang als auch in den emergenten zukünftigen Effekten des Prozesses, ohne fragen zu müssen, ob diese faktisch auf einem ontischen Zufall oder nur auf einem letztlich epistemischen Zufall beruhen,143 weil dies theorieimmanent überhaupt nicht entscheidbar ist. Die Evolutionstheorie teilt damit Kennzeichen mit einer Reihe von naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Theorien, die insbesondere in der Systemtheorie Niklas Luhmanns explizit benannt wurden.

2.4.3.2 Zufall im Rahmen der Systemtheorie Zunächst sollen die Grundlinien von Luhmanns Systemtheorie, die Rolle des Zufalls sowie des Religions- und Gottesbegriffs in ihr rekonstruiert werden. 141 Vgl. Illingworth, J.R., Incarnation and Development. 142 Vgl. Clayton, P., Emergenz und Bewusstsein. 143 Es gibt allerdings auch Ausnahmen. So ist Werner Arber, der Entdecker der Restriktionsenzyme, davon überzeugt, dass es sich bei der bakteriellen Reproduktion der Ribonukleinsäure um einen indeterministischen Vorgang handelt. Vgl. Arber, W., Lebensverständnis der Biologie.

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Kommen wir zunächst zur fundamentalen Distinktion zwischen System und Umwelt sowie dem Grenzbegriff der Welt: „Strukturbildung ist immer Beschränkung der Freiheit der Kombination von Elementen. Solche Beschränkungen können nur durch Systembildung gewonnen werden. Systembildung erfordert […] die Ausgrenzung einer nicht zum System gehörenden Umwelt. […] Die Umwelt eines Systems ist alles, was durch das System ausgegrenzt wird […]. Der Umweltbegriff wird mithin systemrelativ definiert. […] Die Umwelten verschiedener Systeme können […] nicht identisch sein, sie können sich nur weitestgehend überschneiden. Die Gesamtheit dessen, was nicht zu einem System gehört, kann ihrerseits kein System sein, da sie grenzenlos in die Welt übergeht und die Welt selbst kein System ist.“144

Schon in diesen Bestimmungen ist eine Asymmetrie zwischen System und Umwelt eingetragen: „Mit der Tatsache, das jede Systembildung die Umwelten vieler anderer Systeme betrifft und umgekehrt in der Umwelt eines jeden Systems sich viele andere Systeme bilden und ändern können, hängt es zusammen, dass die Umwelt immer komplexer ist als das System. Dies gilt ausnahmslos für alle Systeme-in-Umwelten.“145

Systeme müssen daher selektiv verfahren, wenn sie auf die Umwelt Bezug nehmen: „Löst man nun den Begriff der Komplexität auf und bestimmt man ihn als selektives Relationieren in einer Menge von Elementen, so ergibt diese Überlegung, dass kein System die eigenen Elemente oder Relationen Punkt für Punkt auf diejenigen der Gesamtumwelt beziehen kann. Systemgrenzen wirken als hochselektive Kontaktverengungen.“146

Diese notwendige Bezugnahme eines Systems auf seine Umwelt durch Selektion geschieht aber immer zufällig und zwar spezifisch im Sinne von Indeterminiertheit: „Andererseits führt diese Grenzfiltrierung mit internen Kapazitätsreserven dazu, dass im Verhältnis verschiedener Systeme zueinander, also erst recht im Verhältnis von System und Umwelt, eine auf Komplexität beruhende Indeterminiertheit besteht. […] In dynamischer Hinsicht besagt dies, dass jeder Systemprozeß selektiv verfahren und dabei ein Problem der Reduktion zu hoher Komplexität lösen muss“.147

Diese Indeterminiertheit der Verarbeitung der Umwelt durch das System hat zwei Seiten: das, was durch die Relationierung der Indeterminiertheit im System erscheint, und das, was nicht im System erscheint. Gleichzeitig liefert 144 145 146 147

Luhmann, N., Funktion der Religion, 13. Luhmann, N., Funktion der Religion, 14. Luhmann, N., Funktion der Religion, 14. Luhmann, N., Funktion der Religion, 15.

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Luhmann dazu eine plastische Beschreibung dieser doppelten Indeterminiertheit: „Eine für ein System fungierende Umwelt ist deshalb notwendig eine zweiteilige Rekonstruktion der Umwelt selbst, ist Horizont und Transzendenz, Erwartung und Enttäuschung, Selektion und Risiko, Ordnung und Zufall. […] Die phänomenale Welt der Dinge und Ereignisse, der relativen Wahrscheinlichkeiten, des Vertrauten und Normalen, der Nähe und Ferne ist daher nur die eine Hälfte dieser Umwelt-Rekonstruktion; sie ist als Bereich des Zugänglichen aber auch zugleich Start- und Vollzugsbedingung für den Zugang zur anderen. Unerwartetes, Überraschendes, Enttäuschendes ist nur momenthaft unfassbar wie der Knall hinter dem Rücken; es wird alsbald […] über Reduktionen, Typisierungen und Normalisierungsstrategien zur Realität.“148

Diese doppelte auf Indeterminiertheit beruhende Komplexitätsreduktion kann Luhmann auch als kontingente Komplexitätsreduktion beschreiben, indem er sich exakt auf unseren oben eingeführten Kontingenzbegriff bezieht.149 Es sei an dieser Stelle dahingestellt, dass der Kontingenzbegriff weiter als der der Indeterminiertheit ist, so dass alles, was indeterminiert ist, zwar kontingent ist, nicht aber umgekehrt. Es scheint so, als schwinge bei Luhmann immer eine Konnotation der Indeterminiertheit mit, wenn er den Kontingenzbegriff benutzt. Ebenso ist mit dem Entwurf der so beschriebenen Systemtheorie die Geschichtlichkeit, emergente Prozesshaftigkeit und damit der Zufall im Sinne der Überraschung gegeben, der an sich vom Begriff des Zufalls als Indeterminiertheit zu unterscheiden wäre, was Luhmann aber an dieser Stelle nicht tut. Dies fällt allerdings insofern nicht ins Gewicht, als auch die emergente Überraschung eine Teilmenge des Kontingenten ist: Alles, was uns überraschen kann, ist kontingent, aber nicht umgekehrt. Entsprechend der doppelten Art von Komplexitätsreduktion ist nun in jedem System auch eine doppelte Kontingenz zu finden.150 Diese Bestimmungen gelten zunächst für alle möglichen Systeme. Beschränkt man nun die Betrachtung auf soziale Systeme, kommt der Religionsbegriff ins Spiel: „An dieser Stelle vermuten wir das Bezugsproblem aller Religionsbildung […]. Das, was Religion als Übernatürliches zu erfassen sucht, gehört zur Umwelt des jeweiligen Systems. Damit ist nicht gesagt, dass das Übernatürliche innerhalb der Umwelt ein besonderes Segment, eine besondere Entität […] wäre […]. Vielmehr ist ein stets impliziter und sich selbst implizierender Hintergrund der Umwelt gemeint. In der Religion geht es um die Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komple148 Luhmann, N., Funktion der Religion, 16 f. 149 Vgl. Luhmann, N., Funktion der Religion, 187: „Formal definiert wird Kontingenz durch Negation der Unmöglichkeit und Negation der Notwendigkeit. Kontingent ist demnach alles, was zwar möglich, aber nicht notwendig ist.“ 150 Vgl. Luhmann, N., Funktion der Religion, 81.

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xität.“151 „Religion hat demnach […] für das Gesellschaftssystem die Funktion die unbestimmbare […] Welt in eine bestimmbare zu transformieren […]“.152

Systeme vollziehen diese Aufgabe der doppelten Komplexitätsreduktion bzw. Bearbeitung doppelter Kontingenz durch verschiedene Kontingenzformeln, die je nach System unterschiedlich sind. Im Falle des Religionssystems handelt es sich dabei um den Gottesbegriff: „Unsere These […] ist, dass die Ausdifferenzierung besonderer Rollen für professionelle Arbeit im Bereich der Religion eine duale Rekonstruktion der Kontingenz ermöglicht und dass damit […] Einheits- und Abschlussprobleme aufgeworfen werden, die zur Entwicklung einer besonderen Kontingenzformel des Religionssystems führen.“153 „Eine erste Frage zielt auf die Kontingenzformel der Religion. Sie liegt für die abendländische Tradition im Begriff Gott.“154

Wir verlassen nun die Rekonstruktion der Luhmann’schen Systemtheorie und lassen deren Adäquanz und andere ihrer Probleme – etwa die Frage, ob hier nicht eine funktionalistische Verengung des Religionsbegriffs geschieht oder die Frage, ob Luhmanns konkrete systemtheoretische Transformation dogmatischer Gehalte christlicher Theologie155 nicht auf zahlreichen Missdeutungen beruht – dahingestellt sein. Wichtig ist zu erwähnen, dass das Verständnis der Religion als Kontingenzbewältigungspraxis nicht nur bei Luhmann und anderen soziologischen Ansätzen, wie dem Hermann Lübbes,156 erscheint, sondern auch von der praktischen Theologie breit rezipiert wurde.157 Für unsere Zwecke ist Luhmanns Theorie deswegen heuristisch bedeutsam, weil sie es erlaubt, die unterschiedlichen Arten der Rede vom Zufall, von der semantischen Modallogik über die Quantenphysik, die Evolutionsbiologie bis hin zu sozialen Systemen in ein einfaches Verhältnis zu setzen: – Zufall als Ursachenlosigkeit ist eine Teilmenge des Zufalls als Kontingenz. – Zufall als emergente Überraschung ist eine Teilmenge des Zufalls als Kontingenz. – Zufall als Ursachenlosigkeit und Zufall als emergente Überraschung bilden eine Schnittmenge. – Auch nicht indeterminierte und nicht überraschende Systemmomente sind eine Teilmenge der Kontingenz. Diese Einsicht beruht nicht auf Luhmanns System151 152 153 154 155 156

Luhmann, N., Funktion der Religion, 19 f. Luhmann, N., Funktion der Religion, 26. Luhmann, N., Funktion der Religion, 189. Luhmann, N., Funktion der Religion, 126. Vgl. Luhmann, N., Funktion der Religion, 182 ff. Vgl. Lìbbe, H., Religion nach der Aufklärung, 160 – 178, der dort ausdrücklich auf die Missverständlichkeit des Begriffs der Kontingenzbewältigung hinweist und betont, dass er jedenfalls nicht als Praxis des Ausschlusses von Kontingenz, also das, was wir hier „Entkontingentisierung“ nennen, verstanden werden darf. 157 Vgl. Ammermann, N., Kontingenzbewältigung.

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theorie, sondern ergibt sich aus dem unter Abschnitt 1 eingeführten Kontingenzbegriff. – In sozialen Systemen hat es Religion mit Kontingenzbewältigung im Sinne der Überführung von unbestimmbarer in bestimmbare Kontingenz zu tun. – Kontingenzbewältigung in diesem Sinne ist genauso wenig mit „Entkontingentisierung“ identisch wie Komplexitätsreduktion ein Verschwinden von Komplexität bedeutet.

2.4.4 Der theologische Umgang mit dem Zufall 2.4.4.1 Gottes Kontingenz Wir verlassen nun den religionsphilosophischen Umgang mit dem Zufallsbegriff und wenden uns einer systematisch-theologischen Bestimmung des Zufalls zu. Schon der alttestamentliche Gott zeigt sich als Gott der Geschichte, der im Laufe dieser seine Treue (emet) zu sich selbst ausagiert.158 Zu fragen wäre hier allerdings immer noch, ob diese Geschichte tatsächlich sub facie dei kontingent ist oder nicht. Durch die letztgültige Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus, die zugleich als Selbstidentifikation Gottes verstanden werden muss, wird die Aufnahme der Kontingenz eindeutig. Wenn es nämlich richtig ist, dass „der Schöpfer aller Ding […] worden ist so gering, dass […] er da liegt auf Heu und Graß, woraus ein Ochs und Esel as“159, dann können sowohl Trinitätslehre als auch das christologische Dogma als adäquate Reformulierungen des christlichen Gottesverständnisses verstanden werden: In der Person Jesu Christi hat Gott, der ewige Sohn, eine menschliche Natur angenommen, ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Unter den Bedingungen einer Trennungschristologie in antiochenischer Tradition entstehen hier allerdings einige 158 Vgl. Pannenberg, W., Was ist Wahrheit?. 159 Luther in seinem Weihnachtslied EG 24, Strophe 9.

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Schwierigkeiten, denn es müssten nun sowohl göttliche als auch menschliche Eigenschaften von Christus ausgesagt werden. Wüsste man aber vor der Christuserkennntnis schon, was „Menschheit“ und „Gottheit“ bedeutet, indem man rational auf den drei klassischen Wegen der natürlichen Gotteserkenntnis (via negationis, eminentiae und causalitatis) Gott Eigenschaften zuspricht,160 müssten von Christus nicht nur paradoxe, sondern tatsächlich antinomische Eigenschaften ausgesagt werden. Dies betrifft nicht nur die klassischen „All“-aussagen, die gleichzeitig ausgesagt und verneint werden müssten, sondern auch die Dialektik von Notwendigkeit und Kontingenz: Gott wäre gemäß dem Kontingenzbeweis absolut notwendig, gleichzeitig wäre aber aufgrund der nicht revidierbaren Selbstfestlegung in Jesus Christus Gott auch kontingent, was unmöglich wäre. Nun gibt es aber noch die Möglichkeit, erst von der Einheit der Person Jesu Christi ausgehend zu erkennen, was Gottheit und Menschheit faktisch bedeutet. Diese, vielleicht historisch in alexandrinischer und lutherischer Tradition stehende Möglichkeit ist geeignet, diese Antinomien zusammen mit den Ergebnissen Hartmanns Kritik am Kontingenzbeweis zu vermeiden: Gott ist kontingent und notwendig, weil Notwendigkeit stets eine relationale Eigenschaft ist, Kontingenz hingegen nicht. Man könnte vielleicht sagen, Notwendigkeit und Kontingenz sind in Gott „aufgehoben“ oder mit Eberhard Jüngel, Gott sei „mehr als notwendig“161, wenn dieser Ausdruck nicht so missverständlich wäre, dass man darunter auch einen Ausschluss von Kontingenz verstehen könnte. Nicht Religion als menschliche Tätigkeit, so können wir Luhmanns Ansatz modifizierend auslegen, ist Kontingenzbewältigung, sondern die primäre Kontingenzbewältigung liegt in der Person Jesu Christi selbst: Gott ist Kontingenzbewältigung. Die Inkarnation bedeutet epistemisch nichts anderes als die Überführung (scheinbar) unbestimmter in bestimmte Kontingenz. Dabei zeigt sich in Geschichte, Leben und Auferstehung Jesu Christi allerdings, dass diese Kontingenzbewältigung Gottes im Sinne der Selbstfestlegung Gottes als bestimmter Kontingenz nicht als Entkontingentisierung verstanden werden kann. Allerdings bedarf dies noch einer Erklärung: Gottes Notwendigkeit gilt nur im Verhältnis zur (kontingenten) Welt. Wenn die Welt aber nicht zu Gott selbst gehört, ist diese relative Notwendigkeit Gottes keine Wesenseigenschaft Gottes. Denn Wesenseigenschaften sind insofern notwendig, als sie einer Sache nicht nicht zukommen können. Wenn Gottes Notwendigkeit aber selbst eine Wesenseigenschaft Gottes wäre, müsste die kontingente Welt, für die Gott notwendig ist, selbst zum Wesen Gottes gehören, was Christen aber mit ihren Vorstellungen der creatio ex nihilo und der Rechtfertigung sola gratia gerade ausgeschlossen wissen wollen. Anders verhält es sich durch die im ge-

160 Vgl. Thomas von Aquin, s.c.g., 1,30 (141 – 143). 161 Vgl. Jìngel, E., Gott als Geheimnis der Welt, 30.

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schichtlichen Jesus von Nazareth erschlossene Kontingenz Gottes. Diese kann als nichtrelative Eigenschaft tatsächlich dem Wesen Gottes zukommen! Darauf aufbauend lässt sich unter Aufnahme des Wechselverhältnisses von immanenter und ökonomischer Trinität eine Rekonstruktion der klassischen Trinitätslehre vornehmen. Die klassische Trinitätslehre westlicher Provenienz versuchte die immanente Trinität zu rekonstruieren mit Hilfe des Begriffs der Personalprozessionen: Aus dem Vater gehen Sohn und Geist ewig hervor, aus dem Sohn geht nur der Geist ewig hervor, aus dem Geist geht keine weitere Person ewig hervor, der Vater geht selbst nicht ewig hervor. Diese Lehre von der immanenten Trinität diente der Identifizierbarkeit der Personen unter nicht raumzeitlichen Bedingungen mittels eines „mathematischen Tricks“, weil nun die trinitarischen Personen eindeutig durch diese asymmetrische, irreflexive und transitive Relation bestimmt sind. Die Schwierigkeit dieser Lehre besteht allerdings darin, dass sie sich traditionell nur auf die immanente Trinität beschränkte und gerade nicht aufgrund von Gottes Handeln in, mit und unter der Welt erschlossen werden sollte, weil Gottes ökonomisches Handeln der Tradition hinsichtlich der Personen gerade als untrennbar galt, was allzu oft als Ununterscheidbarkeit interpretiert wurde. Interessanterweise lassen sich strukturell diese klassisch westlichen Personalprozessionen modaltheoretisch gerade von Gottes Sein in und an der Welt aussagen: Gottes Notwendigsein für die Welt kann der Person des Vaters appropriiert oder zugesprochen werden, Gottes aktuales Sein in der Welt dem an einem konkreten raumzeitlichen Ort inkarnierten Sohn und Gottes mögliches Sein zu allen Zeiten und Orten der Person des Heiligen Geistes. Die in der klassischen westlichen Trinitätslehre enthaltenen Relationen werden nun nichts anderes als Implikationsverhältnisse der Modalitäten des Handelns Gottes in der Welt: Für p = „Gott handelt in, mit und unter der Welt“ gilt nämlich nun: Np!p; Np!Mp; p!Mp.

Nun kann aber durch die in Gottes Selbsterschließung in Christus gegebene fundamentale Kontingenz nicht überspielt werden, dass die Tatsache, dass Gott überhaupt notwendig für die Welt ist sowie faktisch und möglich in der Welt ist, selbst kontingent ist, und zwar dem Wesen Gottes selbst entsprechend: Es ist kontingent, dass (1) Gottes dem Vater appropriiertes Handeln in, mit und unter der Welt notwendig

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ist, dass (2) Gottes dem Sohn appropiiertes Handeln in, mitten und unter der Welt faktisch ist und dass (3) Gottes dem Geist appropriiertes Handeln in, mitten und unter der Welt möglich ist: K(Np!p ^ Np!Mp ^ p!Mp). Als logische Aussage scheint dies zunächst nicht einleuchtend zu sein, gelten (modal)logische Implikationsverhältnisse doch normalerweise als Inbegriff dessen, was aus sich selbst heraus notwendig ist. Unter der Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus wird man aber auch die vermeintliche logische (innerweltliche) Notwendigkeit als von Gott abhängig deuten müssen.

Die dem Wesen Gottes zukommende Kontingenz bedeutet letztlich, dass Geschichtlichkeit, Leben, Liebe, Treue, auch „Kontingenzbewältigung“ tatsächlich in erster Linie primär vom dreieinigen Wesen und Leben Gottes selbst auszusagen sind (und zwar auch etsi mundus non daretur), dass aber die Geschichtlichkeit, Prozessualität und Kontingenz der Welt selbst als Schöpfungen Gottes zu verstehen sind, die Gott selbst der Welt in Entsprechung zu seinem Wesen schenkt. 2.4.4.2 Beinhaltet Gottes Kontingenz auch Ursachenlosigkeit und emergente Überraschung? All das Gesagte bestimmt noch nicht, welcher Art diese Kontingenz oder Zufälligkeit Gottes ist. Denn wir hatten ja gesehen, dass Zufall als Ursachenlosigkeit und Zufall als emergente Überraschung zwar sich überschneidende Teilmengen von Zufälligkeit im Sinne von Kontingenz sind, dass sich aber auch geschlossene, kausal determinierte Prozesse ohne emergente Überraschungen mit dem Kontingenzbegriff vereinbaren lassen. Die spannende Frage lautet also: Schließen Handeln Gottes an der Welt und das Wesen Gottes in seiner ewigen Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist nicht nur Kontingenz, sondern auch partielle Ursachenlosigkeit und emergente Überraschung mit ein? Hinsichtlich der ersten Frage, ob es denkbar ist, dass Gott Zufall als Ursachenlosigkeit und emergente Überraschung auch sub facie dei in seinem Verhältnis zur Welt zulässt bzw. selbst inauguriert, kann man durchaus zu einer positiven Antwort gelangen und zwar unter Beibehaltung der Ansicht, dass Gott die Macht hat, die Welt zu einer rein positiven eschatischen Vollendung zu führen. Ursachenlosigkeit im Handeln Gottes bezüglich der Welt ist unter folgenden Bedingungen möglich: Zunächst einmal kennt Gott im Unterschied zu welthaften Entitäten alle zukünftigen Möglichkeiten – wenn auch als Möglichkeiten und nicht als Aktualitäten – und ist in der Lage, auf ursachenlos eintretende Ereignisse genauso wie auf menschliche Freiheitsentscheidungen immer adäquat zu reagieren, gleich einem Schachgroßmeister, der gegen einen blutigen Anfänger spielt. Im Gegensatz zu einem ebenbürtigen Partner kann dieser die Züge des Anfängers nicht voraus wissen, weil

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der Anfänger für den Schachgroßmeister völlig unvorhersehbare Züge unternimmt. Dennoch weiß der Schachgroßmeister, dass er stets adäquat reagieren und das Spiel gewinnen wird.162 Aber auch emergente Überraschung, sogar letztgültige eschatische Überraschung ist unter der Bedingung möglich, dass die Güte betreffend (d. h. ethisch) gleich gute Ereignisse denkbar sind, die dann ästhetisch differieren. In diesem Fall gäbe es nicht nur einen denkbaren Ausgang der geschichtlichen Welt am Ende der Geschichte, sondern deren mehrere denkbare, gleich gute Ausgänge, von denen aber nur einer realisiert wird. Gott wüsste dann, dass es sich um einen dieser gleich guten Ausgänge handelt, den er in Kooperation mit von ihm zugelassenen Zufall als Ursachenlosigkeit hervorbringt, nicht aber welchen, so dass auch hier ein letztgültiges Element von emergenter Überraschung dem Handeln Gottes an der Welt zukommen könnte.163

Die Frage, ob zur Kontingenz des Wesens Gottes selbst ebenfalls partieller Zufall als Ursachenlosigkeit und emergente Überraschung dazugehört, scheint nun sehr viel schwieriger beantwortbar zu sein. Hier können nun nicht alle Schwierigkeiten, die dem in der traditionellen Theologie entgegen zu stehen scheinen, besprochen werden. Stattdessen soll hier nur eine, wenn auch begründete Vermutung ausgesprochen werden: Die Antwort muss wahrscheinlich „ja“ lauten. Denn wenn es richtig ist, dass sich Gott einerseits in Jesus Christus selbst in seinem Wesen identifiziert, gehört – nicht qua Schöpfung, sondern qua Inkarnation – die Welt, die qua Schöpfung in Entsprechung zu Gottes Wesen geschaffen wurde, nun zur Identität Gottes. Zum anderen ist nach begründeten christlichen Auffassungen der eschatische Ausgang der Welt nichts anderes als die Theosis von Mensch bzw. Welt, also die Aufnahme der Geschöpfe in das innertrinitarische Beziehungsgefüge qua Gnade: Am Ende wird „Gott alles in allem sein“ (1.Kor 15,28).164 Ist diese Argumentation stichhaltig, dann müsste das zuletzt über das Handeln Gottes an der Welt und ihre eschatische Vollendung Gesagte auch hier gelten: Partielle Ursachenlosigkeit und emergente Überraschung sind eingeschlossen: im offenen, beziehungshaften, narrativ-kommunikativen, prozedierenden Ereignis, das das Wesen Gottes selbst ist. Gott ist nicht nur eine selbstkommunikative Geschichte, sondern diese selbstkommunikative Geschichte trägt auch Züge einer Abenteuergeschichte.

162 Vgl. Geach, P.T., Providence and Evil, 57 f. 163 Vgl. Mìhling, M., Eschatologie, 137 f. 164 Der Begriff der Theosis ist allerdings auch missverständlich. Er darf auf alle Fälle nicht als Aufhebung der Geschöpflichkeit, nicht als Aufhebung der Alterität und nicht als Aufhebung der Gnade gedacht werden. Diese Bedingungen sind m. E. erfüllt bei A.v. Sinai, Wegweiser, PG 89, 36.

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Gottes Zufall

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2.4.5 Folgen für das menschliche Selbstverständnis Menschliches Sein versteht sich christlicherseits als imago dei, Bild Gottes, und steht vor der Alternative, in seinem Lebensvollzug dieser Bestimmung entsprechen zu können oder ihr widersprechen zu wollen. Die christliche Theologie hat dies mit dem Sündenbegriff bezeichnet, der alle Sphären menschlichen Seins betrifft, die voluntative Seite genauso wie die affektive und kognitive. Wenn es richtig ist, dass die Kontingenz im Leben Gottes selbst aufgehoben, nicht aber beseitigt ist, und es richtig ist, dass der Mensch seine Abkehr von Gott nur überwunden bekommen kann, indem er passiv die conformitas Christi durch das Handeln des Heiligen Geistes zugeeignet bekommt, steht auch der menschliche Umgang mit Kontingenz unter der Alternative der Entsprechung oder des Widerspruchs zu Gott. Um mit der oben eingeführten systemtheoretischen Metapher zu sprechen: Da nicht die aktive menschliche Tätigkeit der Religion primäre Kontingenzbewältigung ist, sondern diese nur Antwort auf die Kontingenzbewältigung sein kann, die Gott selbst ist und die er geschichtlich in Kreuz und Auferstehung Christi ausagiert, wird der menschliche Umgang mit Kontingenz seiner Bestimmung entsprechend überall dort gelingen, wo die Kontingenzbewältigungspraxis des Menschen nicht durch Entkontingentisierungsversuche getragen ist. Entkontingentisierung ist daher neben Funktionalisierung und Pseudopersonalisierung165 eine der Grundformen der Sünde. Deutlich wird dies geschichtlich vor allem in der weisheitlichen Durchbrechung166 des sog. Tun-Ergehens-Zusammenhangs, wie sie sich im Hiobbuch, in Kohelet und in der Verkündigung Jesu zeigen lässt, der seinen Vater eben als den verkündet, der seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen lässt (Mt 5,45). Damit wird aber nicht nur ein vermeintlicher Tun-Ergehen-Zusammenhang als nicht der Schöpfung und Absicht Gottes gemäß erkannt, sondern es zeigt sich, dass der Versuch des Festhaltens an einem Solchen selbst der Absicht, sich an die Stelle Gottes zu setzen und damit dem mit dem Sündenbegriff zu erfassenden Sachverhalt entspricht, indem der Mensch versucht, der Kontingenzbewältigung Gottes zuvorzukommen und diese Kontingenz gemäß seiner eigens konstruierten Gesetzmäßigkeit zu überwinden.

Übertragen auf unsere Situation zeigt sich, dass es eine Reihe von kognitiven Haltungen und Bemühungen gibt, die von diesem Ergebnis her ebenfalls unter das Verdikt einer nicht-Gott-entsprechen-wollenden und damit de facto sündhaften Kontingenzbewältigung fallen. Zu nennen wären hier : – alle Versuche, die Welt rein deterministisch erklären zu wollen, wie es in der Gegenwart v. a. in naturalistischen Wirklichkeitsverständnissen geschieht, 165 Vgl. Mìhling, M., Ethik, 137 – 139. 166 Vgl. Freuling, G., Art. Tun-Ergehen-Zusammenhang.

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insbesondere im Versuch der Reduktion von Freiheit durch Kausalreduktion auf Hirnvorgänge,167 die Annahme einer nicht auf empirischen Fakten beruhenden deterministischen Naturphilosophie. Da die Bohm’sche Deutung der Quantenmechanik eine solche Naturphilosophie darstellt, fällt auch sie unter dieses Verdikt, alle Versuche, die quantenmechanisch gegebene Ursachenlosigkeit durch ein direktes speziell-intervenierendes Handeln Gottes erklären zu wollen, der Versuch, Gottes Sein als absolut notwendiges Sein darstellen zu wollen, der Versuch, Kontingenzbewältigung nicht als primäre Aufgabe Gottes selbst, sondern des Menschen verstehen zu wollen, und schließlich der Versuch, Konvergenzen in der biologischen Evolution mit einem „Intelligent Design“ erklären zu wollen.

All diese menschlichen Erkenntnisbemühungen unter das Verdikt des Sündenbegriffs zu stellen, mag zunächst hart erscheinen. Vielleicht entzieht man sich aber diesem Urteil, wenn man Folgendes bedenkt: Christlicherseits geht es beim Sündenbegriff um nichts weniger als um gelingendes menschliches Leben. Gott- und schöpfungsentsprechend oder -widersprechend zu leben, macht einen Unterschied für die Praxis des Lebens der personalen Geschöpfe Gottes selbst. Damit wird auch eine naturphilosophische Deutung empirischer Fakten nicht zu einer rein ästhetischen Geschmacksfrage, sondern menschliche Haltungen, Affekte und durch diese motiviert der menschlich-interaktionelle Umgang miteinander und mit der Umwelt stehen auf dem Spiel. Weit deutlicher wird dies, wenn man den Bereich der Seelsorge betrachtet. Hier kann als Beispiel die Krebsproblematik genannt werden. Eine ganze Reihe von Versuchen der Lebenshilfeliteratur, die Subjektivität des Patienten gegen seine Krankheit stärken zu wollen, können als reine Versuche der Entkontingentisierung beschrieben werden,168 die immer dann, wenn es zu einem Rezidiv kommt, sich verheerend auf Subjektivität und Handlungsfähigkeit des Patienten auswirken. Noch drastischer ist dieser Sachverhalt einzustufen, wenn es sich nicht einfach um Lebenshilfe, sondern um falsch verstandenen christlichen Glauben handelt, der einen Prosperismus einschließt. Mit Prosperismus ist die Haltung gekennzeichnet, die historisch der umstrittenen Weber’schen Rekonstruktion reformierter Soteriologie zugrunde liegen könnte, die heute u. a. in einigen evangelikalen Kreisen zu beobachten ist (die aber selbst nicht notwendig evangelikal ist), dass es dem wiedergeborenen und ein Be-

167 Zur philosophischen Kritik am Determinismus einiger Strömungen der Hirnforschung vgl. Rott, H., Freiheit in den Zeiten neurowissenschaftlichen Fortschritts. Auch theologische Versuche der vollständigen Verteidigung eines Determinismus, wie sie etwa von Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand, vorgenommen werden, gehören hierher. 168 Zur Kritik solcher Versuche vgl. Drechsel, W., Der bittere Geschmack.

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Gottes Zufall

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kehrungserlebnis vorweisenden, vertrauenden Christen auch durch Gottes Handeln wohl ergehen wird.

Nach reformatorischem Verständnis ist der Mensch immer simul iustus et peccator und er kann sein Sündersein nur überwinden, indem er dem ihn rechtfertigenden Wort Gottes vertraut, wobei dieses Vertrauen selbst nicht als Tat des Menschen zu interpretieren ist. Vorausgesetzt ist, dass der Mensch durch das Wirken des Heiligen Geistes aus seinem falschen Selbstverständnis heraus zurechtgerückt werden kann. Diese Einsicht schließt im konkreten Fall auch die Erkenntnis ein, dass der Mensch der Versuchung einer Kontingenzbewältigung als Entkontingentisierung immer wieder erliegen wird. Dass er ihr im konkreten Fall nicht erliegt, sondern die Kontingenz im konkreten Lebensfall aushalten kann, weil er weiß, dass sie längst in Christus aufgehoben ist – darum kann der Mensch Gott im Gebet nur bitten.

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3. Schöpfung 3.1 Naturwissenschaft und Theologie Fragt man, was Menschen machen, kann man antworten, dass sie immer etwas machen. Wir handeln, es sei denn, wir sind nicht bei Bewusstsein, etwa im Schlaf. Wenn man handelt, versucht man, bestimmte Absichten auszuwählen und zu realisieren. Dazu ist es nötig, dass man verschiedene Arten von Wissen oder Annahmen hat. Man muss wissen, wie die gegenwärtige Situation beschaffen ist und wie unsere Absicht zu realisieren ist. Vorausgesetzt ist dabei, dass wir eine Vorstellung haben, wie die Welt beschaffen ist. Dieses Wissen lässt sich grob in zwei Arten einteilen: Zum einen ist die Kenntnis von verschiedenartigen Fakten notwendig. Die Wissenschaften, die sich um die Kenntnis der einzelnen Fakten der Welt bemühen, sind die verschiedenen Naturwissenschaften, von denen die technischen Wissenschaften abgeleitet werden können. Zum anderen sind aber auch Annahmen notwendig, was die Welt als Ganze ist, welchen Sinn sie hat und wir als Handelnde in ihr haben. Ohne solche Annahmen wäre Handeln nicht möglich, da wir keine Orientierung hätten, Ziele auszuwählen. Diese Art von Annahmen oder Überzeugungen können im weitesten Sinne als religiöse oder weltanschauliche Annahmen bezeichnet werden. Im Falle des Christentums werden diese Voraussetzungen – der Glaube – von der Theologie erforscht. Damit stellt sich die Frage, wie sich unsere religiösen Überzeugungen zu unserer Kenntnis der Fakten der Welt verhalten, und wie Theologie und Naturwissenschaften aufeinander zu beziehen sind. Die Frage nach diesem Verhältnis ist aus der Perspektive unseres Handelns keineswegs nebensächlich, sondern äußerst wichtig, denn unser Handeln lässt sich zwar unter verschiedenen Aspekten betrachten, bildet aber eine Einheit. Die Naturwissenschaften – so mag man meinen – verführen im Idealfall weitgehend vorurteilslos, basierten auf empirisch nachprüfbaren Fakten, die quantifizierend gemessen werden können und nutzten exakte, oft mathematische Darstellungsmittel. Die Theologie hingegen scheint völlig anders orientiert zu sein: Sie ist an das christliche Bekenntnis gebunden, nach dem der dreieinige Gott sich in Jesus Christus selbst erschlossen hat, ihre Darstellung des Glaubens ist nicht mess- oder quantifizierbar und hinsichtlich der Sprache, in der sie dargeboten wird, finden sich viele Formen, in der Regel allerdings keine mathematischen. Diese methodischen Unterschiede beruhen auf den unterschiedlichen Gegenständen. Die Gegenstände der Naturwissenschaften sind in Raum und Zeit erfahrbar, während die Beziehung zwischen Gott, Welt und Mensch, die Gegenstand der Theologie ist, zunächst im

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Glauben des Menschen gegeben ist. Der Grund dafür ist, dass Gott kein Gegenstand wie andere ist, der kontinuierlich raumzeitlich erfahren werden könnte. 3.1.1 Geschichte der Verhältnisbestimmung Während die Erforschung der einzelnen welthaften Gegenstände Jahrhunderte lang mit der Erforschung und Betrachtung der Welt als Ganzer und ihrem Sinn in Philosophie oder Religion verbunden war, bilden sich die Naturwissenschaften als selbständige Bereiche erst in der Neuzeit heraus. Die Geschichte dieses Abtrennungsprozesses wird in der Öffentlichkeit oft mit der Metapher eines Freiheitskampfes verglichen: Die Naturwissenschaften mussten sich mit Mühe von religiösen Zwängen der Kirche befreien, um vorurteilslos und frei die Welt betrachten zu können. Auf diese Weise fielen immer mehr Gegenstandsbereiche in das Gebiet der Naturwissenschaften, und die christliche Religion geriet immer mehr in ein Rückzugsgefecht, in welchem man die Funktion Gottes nur noch in den jeweils durch die Naturwissenschaften noch nicht eroberten Lücken ansetzen konnte. Unter dieser Beschreibung scheint das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft vor allem das Verhältnis zweier unversöhnlicher Gegner zu sein. Obwohl an solchen Beschreibungen durchaus einiges richtig ist, ist die geschichtliche Entwicklung durchaus wesentlich mannigfacher, und es lassen sich auch viele Beispiele für ein positives Verhältnis finden. Die griechische Philosophie der Antike hatte in ihren Hauptströmungen die Erforschung des Allgemeinen zum Gegenstand, das auf allgemeine, begriffliche Weise erforscht wurde. Die einzelnen konkreten Erscheinungen der Welt hatten eine untergeordnete Bedeutung. Bei Platon sind sie im Vergleich zu dem idealisierten Allgemeinen deutlich abgewertet, bei Aristoteles dient eine anfängliche empirische Beschreibung hauptsächlich als Beispiel für allgemein gewonnene Einsichten. Die moderne Naturwissenschaft verfährt hier völlig anders: Zwar ist auch hier die Erkenntnis allgemeiner Regelabläufe Ziel, aber diese Erkenntnis wird gerade empirisch durch Erforschung einzelner konkreter Vorgänge in der Natur gewonnen, die verallgemeinert werden. In den Naturwissenschaften ist also das einmalig Konkrete wahrheitsfähig geworden, indem es den primären Zugang zur Wahrheit gewährt. Genau hier findet sich aber eine Strukturanalogie zum Christentum: Im Christentum wird zum ersten Mal in der westlichen Welt ein einzelnes Ereignis in Raum und Zeit wahrheitsfähig, und Christen beanspruchen, dass dieses Ereignis sogar Zugang zu einer letztgültigen Wahrheit gewährt: Dies geschieht, wenn Christen glauben, dass Gott und Gottes Verhältnis zur Welt in der Person Jesu von Nazareth erschlossen sind. Bedenkt man, dass die westliche Kultur stark vom Christentum geprägt ist, kann hier mehr als nur eine Strukturähnlichkeit gesehen werden: Sollte der religiöse Erkenntnisweg des christlichen Glaubens mit der Aufwertung erfahrbarer Einzelereignisse den naturwissenschaftlichen

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Erkenntnisweg stark begünstigt oder sogar erst ermöglicht haben? Falls man diese Frage mit guten Gründen bejahen kann, kann hier von der ersten empirischen Wende gesprochen werden. Als Paradebeispiel für die Deutung des Verhältnisses als Kampf gilt der Erfolg der darwinischen Evolutionstheorie, deren Folgen u. a. darin bestanden, dass Theologien nicht mehr aus einem Gedanken der Ordnung der natürlichen Welt auf Gott als ihren Urheber schließen konnten. Dennoch wurde schon im letzten Jahrhundert die Evolutionstheorie positiv in der anglikanischen Theologie rezipiert. Eine Gruppe von Theologen veröffentlichte 1889 ein Buch namens „Lux mundi“, in dem den Naturwissenschaften zugestanden wurde, die Methode der Schöpfung zu beschreiben, während die Theologie den Sinn der Schöpfung erforsche. Die mit Jesus Christus identifizierte schöpferische Vernunft, das „Wort“ (Logos) realisiere sich in den Stufen der Evolution in zunehmendem Maße in der Welt.1 Auch von Seiten der Naturwissenschaften erscheint bei genauer Betrachtung die Deutung der Verselbständigung der Naturwissenschaften von der Theologie nicht unbedingt mit der Kampfesmetapher beschreibbar. Kopernikus selbst war Kleriker und widmete sein Werk, in dem er die Sonne anstelle der Erde in den Mittelpunkt rückt, dem Papst. Newton war überzeugt, die Ehre Gottes zu fördern und trennte Religion nicht besonders von Naturwissenschaft. So arbeitete er in seiner Himmelsmechanik mit der Hypothese „Gott“, die eine exakte mechanische Funktion zugewiesen bekam, und Raum und Zeit werden von ihm als „Sensorium“ Gottes gesehen.2 Aus der heutigen Sicht ist dies problematisch, denn es dürfte sich um ein typisches Beispiel dafür handeln, Gott als Erklärungshypothese für die jeweiligen Wissenslücken zu verwenden (God of the gaps). Aber das Beispiel belegt, dass Newton nicht in der Kampfesmetapher dachte. Michael Faraday dürfte seine Intuition, physikalische Phänomene mithilfe des Feldbegriffs zu deuten, die Maxwell Anstoß zur Entwicklung der elektromagnetischen Feldtheorie gab, u. a. seinem Glauben an den dreieinigen Gott verdanken, den er als Prediger der Sekte der Sandemanianer hatte.3 Nun endet die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Naturwissenschaft und Theologie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts – abgesehen von wenigen Ausnahmen, etwa in der Theologie Karl Heims – mit einer Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche: Naturwissenschaftliche Aussagen haben keinen Einfluss auf religiöse Fragen, Fragen des Sinns und der Ethik. Religiöse Aussagen haben keinen Einfluss auf naturwissenschaftliche Fragen. Mit Wissen von der Natur kann man Religion weder stützen noch stürzen, Moral weder begründen noch behindern. Ebenso liefern Religion und Theologie keinen Beitrag zur Erkenntnis der Welt und beanspruchen dies auch gar 1 Vgl. Illingworth, J.R., Incarnation and Development. 2 Vgl. Buchholtz, K.-D., Newton als Theologe. 3 Vgl. Cantor, G., Faraday, 171.

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nicht. Vielmehr geht es um die „existentiellen“ Probleme des Menschen, um seine Schuld, Verzweiflung und Hoffnung, oder um sein Empfinden und Fühlen, oder um seine moralische Freiheit. Die Naturwissenschaft bietet einen Zugang zur Materie, Religion und Philosophie zum Geist. Diese strikte Bereichstrennung kann verschiedene Züge haben und verschieden motiviert sein. Eine ihrer Wurzeln findet sich Ende des 18. Jh. in der Philosophie Kants. Kant vertrat die Ansicht, dass empirische Erfahrung sich innerhalb der vorgegebenen Koordinaten Raum und Zeit, den Anschauungsformen der Erfahrung, vollziehe.4 Die sich daraus ergebenden Erkenntnismöglichkeiten liefern in keinem Sinne eine Brücke zur Gotteserkenntnis oder zum Verständnis menschlicher Freiheit und sittlichen Handelns. Auf diese Weise wurde eine scharfe Unterschiedenheit zwischen einem natürlichen „Reich der Notwendigkeit“ und einem personalen „Reich der Freiheit“ vertreten. Karl Barth, der vielleicht bekannteste Theologe der ersten Hälfte des 20. Jh., ging in seiner Theologie von Gott aus, wie er sich selbst dem Menschen erschließt: „Das Wort Gottes handelt von Gott und vom Menschen. Es enthält darum zweifellos eine Ontologie [Seinslehre] des Menschen, und eben mit ihr werden wir es in der theologischen Lehre vom Geschöpf zu tun bekommen: mit der Ontologie des Menschen unter dem Himmel auf der Erde. Das Wort Gottes enthält aber keine Ontologie des Himmels und der Erde.“5

Die Wahrheit der Naturwissenschaft und des Glaubens sind auf diese Weise nicht verfeindet, aber auch nicht vermittelbar. Rudolf Bultmann hält daran fest, dass die Wirklichkeit eine und nicht eine geteilte sei. Der Gottesbegriff sei erst dann richtig verstanden, wenn er als die „alles bestimmende Wirklichkeit“ gedacht sei.6 Nun sei die Natur als ein Bereich der Wirklichkeit aber – auch technisch – erfolgreich von den Naturwissenschaften erkannt. Der moderne Mensch müsse daher anerkennen, dass die biblischen Texte, die den Ablauf der Schöpfung beschreiben oder die „Geister- und Wunderwelt“ des Neuen Testaments schildern, keine wortwörtliche Absicht hätten, natürliche Abläufe zu schildern. Nicht das zugrunde gelegte Weltbild sei Sache des Glaubens. Sache des Glaubens und der Theologie sei vielmehr eine Tiefenschicht in den Texten, die die existentiale Situation des Menschen beschreibe, die es mittels der im Gespräch mit dem Philosophen Martin Heidegger entwickelten existentialen Interpretation der Texte zu verstehen gelte. So kommt es doch zu einer nahezu unberührbaren Trennung zweier Bereiche der Wirklichkeit. In der sprachanalytischen Philosophie versuchte man in verschiedener 4 Vgl. Kant, I., KrVAA, B38 f. 5 Barth, K., KD III/3, 515. 6 Vgl. Bultmann, R., Welchen Sinn, 26 – 37.

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Weise zu zeigen, dass religiöse Aussagen nicht die Funktion hätten, Tatsachen über die Einrichtung der Welt zu behaupten. Vielmehr könne Sprache mannigfache Funktionen haben. Viele unserer sprachlichen Äußerungen sind Fragen, Aufforderungen, drücken unsere Einstellungen oder Empfindungen aus oder sind selbst Handlungen in der Wirklichkeit, die Wirklichkeit haben, ohne sich auf etwas anderes zu beziehen: Dies ist etwa dann der Fall, wenn wir z. B. sagen: „Ich ernenne Sie zum Oberstudienrat.“ Diese Ernennung bezieht sich nicht auf ein von ihr unterschiedenes Ereignis, sondern ist von der sozialen Befähigung und Befugnis, von der Stellung und Funktion der beteiligten Personen abhängig. Könnte Religion nicht nach diesem Muster funktionieren? Geht es nicht in erster Linie in der Religion darum, Gefühle und Einstellungen im Umgang mit der Welt zu artikulieren? Können nicht viele sprachliche Ausdrücke in der Religion so verstanden werden, dass sie genau das bewirken, was sie sagen? Am Beispiel der Taufe oder des Schuld- bzw. Sündenfreispruchs in der Beichte dürfte dies durchaus einleuchten. Unter dem Einfluss der Philosophie Wittgensteins wurde aber auch vorgeschlagen, dass sich dieses Modell zur Erklärung religiöser Sprache als ganzer eignet. Geht man davon aus, dass die Bedeutungen sprachlicher Einheiten nicht einfach eine vorgegebene Wirklichkeit abbilden, sondern dass die Bedeutungen durch ihren Gebrauch gegeben sind, dann hängt die Bedeutung von Sprache letztlich an den sozialen Interaktionsformen, in denen sie verwendet wird. Es gibt aber verschiedene „Sprachspiele“, die in unterschiedliche „Lebensformen“ eingebettet sind. Auch die religiöse Sprache kann als solches „Sprachspiel“ verstanden werden, das in die Lebensform der Religion, zu der etwa Gottesdienst, Tisch- oder Nachtgebete gehören, eingebunden ist. Innerhalb dieser Lebensform machen die einzelnen Ausdrücke Sinn, aus der Sicht anderer Sprachspiele und Lebensformen sind sie nicht zu verstehen.7 3.1.2 Analyse der vorgeblichen Bereichstrennung Die strikte Trennung zweier Wirklichkeitsbereiche hat unübersehbare Vorteile: Theologie und Naturwissenschaft können mit ihren je eigenen Methoden ihren je eigenen Gegenständen nachgehen, ohne dass es zu Konflikten käme. Die Theologie kommt ferner nicht in die schwierige Lage, den Glauben an Gott in den jeweiligen Wissenslücken der Naturwissenschaft anzusiedeln (God of the gaps). Unter der Annahme, dass die Naturwissenschaften grundsätzlich fortschreiten können, käme dies einem Tod Gottes in Raten gleich. Ferner können wir in der Gegenwart gleichzeitig die moderne Technik nutzen, an das moderne Weltbild glauben und Christen sein. Richtig dürfte an dieser Position ferner sein, dass sie einsieht, dass es im Glauben nicht einfach um ein Für-wahr-Halten vermeintlicher Tatsachen geht, sondern um eine 7 Vgl. Phillips, D.Z., Glaubensansichten und Sprachspiele, 258 – 282.

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personale Liebesbeziehung des Vertrauens und der Treue zwischen Mensch und Gott. Dem dürften aber gewichtige Nachteile gegenüberstehen. Ist es richtig, dass sowohl Wissen einzelner Fakten der Welt und religiöse Grundannahmen für menschliches Handeln nötig sind, ist eine unberührbare Bereichstrennung zwischen Naturwissenschaft und Theologie unmöglich, wenn man sie auch als Aspekte abstrakt unterscheiden mag. In einzelnen menschlichen Handlungen sind sie allerdings vereint. Weder werden in der Feier des Gottesdienstes die Naturgesetze aufgehoben, noch können Naturwissenschaftler im Labor völlig weltanschaulich neutral sein. Zwar ist es richtig, dass das Gottesverhältnis im Wesentlichen eine Vertrauensbeziehung ist, aber dies bedeutet nicht, dass damit nicht auch Tatsachen über Gott und sein Verhältnis zur Welt behauptet wären. Vielmehr ist die Haltung des Vertrauens nur dann sinnvoll, wenn man jemandem vertraut, über den man auch bestimmte Annahmen hat, die man für wahr hält. Schließlich vertrauen Christen nicht einfach Gott, sondern sie richten unbedingtes, daseinsbestimmendes Vertrauen auf Gott. Ein daseinsbestimmendes Vertrauen auf Gott ist aber nur möglich, wenn zu allem, was unser Dasein bestimmt, Gott ein Verhältnis hat. Der Mensch ist nicht einfach ein personales, freies Lebewesen, sondern als natürliches Wesen durch natürliche Gegebenheiten oder durch auf natürlichen Gegebenheiten beruhende kulturelle Dinge bestimmt, wie z. B. Hunger, Durst, Schlafbedürfnis, Sexualität, der Funktion des je individuellen Körpers, Krankheit, die natürliche Umgebung, in der er lebt oder die Werkzeuge, die er verwendet. Infolgedessen dürfte es nötig sein, theologisch einen Bezug zu diesen natürlichen oder technischen Sachverhalten herstellen zu können. Der christliche Glaube bringt dies deutlich zum Ausdruck im Bekenntnis zu Gott als Schöpfer aller Dinge.8 Nicht zuletzt sprechen auch soziale und politische Faktoren gegen eine strikte Bereichstrennung, wie etwa das in den 1970er und 1980er Jahren sich allmählich durchsetzende Bewusstsein, dass die auf den Naturwissenschaften beruhenden technischen Errungenschaften in eine Ökologiekrise führen, die die Zivilisation bedroht. Diese Faktoren fordern gerade eine ethische Betrachtung der Natur- und Technikwissenschaften. Beschäftigt sich Religion aber nicht nur einfach mit ästhetischem Sinn, sondern soll auch handlungsleitend sein, kann sich Theologie einer positiven Verhältnisbestimmung zu den Naturwissenschaften nicht entziehen. Dies ist von theologischer Seite breit anerkannt. Die Situation, in der die säuberliche Trennung gepredigt wurde, dürfte überwunden sein. Der biblische Schöpfungsbericht in Gen 1 kann als Aufforderung gelesen werden, diesen Dialog zu führen und den jeweiligen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften positiv zu berücksichtigen. Der Text stammt aus einer Zeit, in der Anfänge der Erforschung der Welt und sakrale Aufgaben in der Religion noch institutionell in den Händen von Priestern verbunden waren. Diese Situation ist natürlich überholt. Im Alten Orient des ersten Jt. v. Chr. 8 Vgl. BSLK 510.

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sahen die Anfänge der Naturwissenschaften dergestalt aus, dass man versuchte, die einzelnen Gegenstände der Natur einigermaßen sinnvoll zu klassifizieren. Im AT finden sich einige Einflüsse derartiger Listen. In Gen 1 wird der Versuch gemacht, jeweils repräsentative natürliche Dinge derart religiös zu deuten, dass sie als geschaffen gedeutet werden. Ein Beispiel einer Klassifikation, die unserer heutigen botanischen entspricht, findet man in Gen 1,11 f: Hier werden die Pflanzen in Nackt- und Bedecktsamer eingeteilt und so nach ihrer Fortpflanzungsstrategie klassifiziert.

3.1.3 Perspektiven Schwierig zu bestimmen ist aber, wie eine solche Verhältnisbestimmung auszusehen hat. Sinnvoll ist es hier zu überlegen, welche Möglichkeiten es gibt, wie sich die Situation der friedlichen, aber unberührbaren Koexistenz beheben lässt. Im Wesentlichen kommen drei Antwortstrategien in Frage:9 Ausgehend von der theologischen Seite kann versucht werden, die Einheit der Wirklichkeit darzustellen, indem naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse aufgenommen werden, um sie theologisch zu vervollständigen. Die andere Möglichkeit besteht im umgekehrten Vorgehen: Aus der Sicht einiger Naturwissenschaftler kann versucht werden, die Einheit der Wirklichkeit so darzustellen, dass gezeigt wird, dass es sich bei den Problemen, die Theologie und Philosophie behandeln, letztlich um naturwissenschaftlich zu lösende Probleme handelt (Naturalismus). Eine dritte Möglichkeit besteht einfach darin, dass man die unterschiedlichen Zugangsweisen zur Wirklichkeit als relative Selbstständigkeit anerkennt, die es im Gespräch aufeinander zu beziehen gilt. Die erste Möglichkeit der Vervollständigung naturwissenschaftlicher Ergebnisse durch die Aussagen der Theologie findet sich eher selten und ist nicht ganz unproblematisch zu bewerten. Einerseits wird die Arbeit der Naturwissenschaft anerkannt, indem man deren Forschungsergebnisse als richtig zur Kenntnis nimmt. Die biologische Anthropologie, die Wissenschaft vom Menschen, mag durchaus richtige Ergebnisse liefern. Beansprucht sie aber, vom Menschen an sich zu reden, nicht nur vom Menschen in Teilaspekten, bedarf sie der theologischen Ergänzung. Dieses Verfahren erfordert es, dass die Naturwissenschaften in die Theologie einbezogen werden können. Die Vorwürfe gegen solche Positionen sind hauptsächlich zwei spiegelbildlicher Art: Einerseits ist diese Vereinheitlichung nur möglich, wenn entweder theologische Aussagen naturwissenschaftlichen Aussagen angepasst werden 9 Diese Verhältnisbestimmung entfaltet damit die beiden von Barbour, I.G., Wissenschaft und Glaube, 113 – 150, vorgeschlagenen Verhältnisbestimmungen von „Dialog“ und „Integration“, während Barbours Modelle des „Konflikts“ und der „Unabhängigkeit“ als keine gangbaren Wege erkannt wurden.

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oder umgekehrt naturwissenschaftliche theologischen Aussagen. Vorausgesetzt ist nämlich die Auffassung, dass sich theologische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht widersprechen dürfen. Andererseits scheint diese Position letztlich die Selbstständigkeit der Naturwissenschaften zu bestreiten, indem sie der Theologie untergeordnet werden. Solche Ansätze werden von Naturwissenschaftlern in der Regel eher skeptisch beargwöhnt. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass von Seiten der Naturwissenschaften das Ganze der Wirklichkeit als Bearbeitungsfeld beansprucht wird. Scheint dieser Ansatz zunächst der Vorgehensweise der Naturwissenschaften zu widersprechen, so scheint sich diese Möglichkeit derzeit hoher Popularität zu erfreuen. Im Folgenden seien einige Beispiele genannt. Innerhalb der astrophysikalischen Kosmologie hat sich zwar die Theorie des Urknalls durchgesetzt und ist gut bestätigt, aber die Anfangsbedingungen der Welt sind in den meisten Theorien prinzipiell nicht erforschbar, da die mathematischen Modelle am Anfang eine sog. „Singularität“ postulieren, in der Zeit und Raum zusammenfallen. Und darüber hinaus wäre prinzipiell kein Wissen erwerbbar. Der Physiker Steven Hawking sucht nach mathematischen Modellen, die eine solche Singularität vermeiden. Die Motivation scheint hier weltanschaulich motiviert zu sein. Vermeidet man die Annahme solcher Singularitäten, ist die Welt hinsichtlich ihrer Entstehung und ihrer Erkennbarkeit geschlossen: Es gibt dann keine prinzipiellen Lücken im natürlichen Prozess oder in unserer Erkenntnis davon. Hawking meint explizit, in einem solchen Falle sei der Gottesbegriff überflüssig.10 Die Schwierigkeit besteht hier darin, dass nicht genau angegeben werden kann, inwieweit die Naturwissenschaften verlassen sind, und eine Weltanschauung begründet wird. Zwar beruhen Hawkings Theorien auf empirischen Fakten, diese können aber auch mit anderen Theorien erklärt werden. Hawkings Unternehmen erscheint daher sehr spekulativ. Andererseits werden die klassischen Themen der Religion – der Sinn des Lebens unter den Bedingungen von Leid und Schuld – nicht berührt. Einzig der Gottesbegriff wird verwendet, aber auch hier in einer Weise, die den meisten Gläubigen nicht einsichtig sein dürfte. Ein Stück weiter geht Frank F. Tipler, der explizit auf den Ergebnissen seiner naturwissenschaftlichen Arbeit aufbauend versucht, eine kohärente Weltanschauung zu entwickeln. Ausgangspunkt ist hier die explizit religiöse Frage, wie Ungerechtigkeit oder scheinbar sinnloses menschliches Leid überwunden werden kann. Tipler entwirft eine Vision, in der es der Menschheit im Laufe ihrer Evolution gelingen wird, individuelle menschliche Personen der Vergangenheit unter Zuhilfenahmen technischer Mittel wieder auferstehen zu lassen. Ferner wird es den Lebewesen im Universum gelingen, die Alterungsprozesse des Universums selbst zu stoppen. Letztlich werden sie Herren über die Zeit werden, so dass das Universum innerhalb der Evolution seinen 10 Vgl. Hawking, S.W., Kurze Geschichte der Zeit, 218.

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eigenen Gott hervorbringt.11 Tipler schafft hier bewusst einen eigenen Mythos. Bei dem Verfahren handelt es sich nicht mehr um Naturwissenschaft, sondern es trägt den Charakter der Verkündigung einer neuen Religion. Die moderne Soziobiologie liefert ein Beispiel für einen Versuch, traditionelle Themen der Religion und Philosophie naturwissenschaftlich zu erklären, ohne dass der Rahmen der Naturwissenschaften verlassen wird. Explizit wird versucht, Ethik und Werte evolutionstheoretisch zu erklären. Während die ältere Verhaltensforschung Probleme hatte, uneigennütziges Verhalten zu erklären, da Altruismus keinen Überlebensvorteil zu versprechen scheint, versucht die Soziobiologie zu zeigen, dass ein gegenseitiger Altruismus im Sinne des „Ich gebe, damit Du gibst“ einen Vorteil zur Weitergabe der Gene darstellt. Auch Beispiele für uneigennützigen Altruismus, etwa das Opfer des eigenen Lebens, werden evolutionär erklärt, indem versucht wird zu zeigen, dass dieses Verhalten dem Genpool der verwandtschaftlichen Gruppe – des Stammes oder der Herde – Vorteile bringt. Auch das Erscheinen der geschichtlichen Religionen wird mit Vorteilen im Selektionsprozess erklärt.12 Neben Erklärungsversuchen über die Entstehung der Moral finden sich noch grundlegendere Annahmen. Die Soziobiologie rechnet damit, dass menschliche, freie Entscheidungen letztlich genetisch bedingt sind. Insofern kann von Determinismus gesprochen werden, als die freien Handlungen von Menschen hier tatsächlich unfrei wären. Es ist allerdings kein strenger Dualismus, da die Rolle des Zufalls im Evolutionsgeschehen nicht geleugnet wird. Gewöhnlich reagieren Theologen auf solche Positionen, indem sie ihnen vorhalten, hier würde die Wirklichkeit reduziert: Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle sind nicht identisch mit den körperlichen Prozessen, unter denen sie erscheinen. Absichten, Hoffnungen und Handlungen von Menschen sind nicht identisch mit der Funktion, die sie im Evolutionsprozess haben. Wird hier die Wirklichkeit nicht reduziert? In der Regel leugnen die Soziobiologen nicht, dass es sich um eine Reduktion der Wirklichkeit handelt. Vielmehr verfahre alle Wissenschaft reduktionistisch. Chemische Prozesse können mittlerweile vollständig als physikalische Prozesse beschrieben werden. Warum sollte eine ähnliche Reduktion nicht auch in Zukunft für die religiösen und philosophischen Probleme möglich sein? Ein möglicher Ansatzpunkt theologischer Kritik wäre hier, darauf hinzuweisen, dass die Soziobiologie und die Gestalt der von ihr verwendeten Evolutionstheorie selbst nicht wissenschaftlich neutral und somit hoch umstritten sind. Dann wäre aber ein Dialog zwischen verschiedenen Glaubensauffassungen zu führen. Christliche Glaubende könnten in diesem Fall versuchen, sich solchen „biologistischen“ Glaubensauffassungen verständlich zu machen, indem sie versuchen, ihre Annahmen mit biologischen Metaphern auszudrücken. So 11 Vgl. Tipler, F.J., Physik der Unsterblichkeit, 266 f. 12 Zur Diskussion vgl. Mortensen, V., Theologie und Naturwissenschaft, 169 ff.

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könnte z. B. das Erscheinen wahrer, nichtegoistischer Nächstenliebe, die aus christlicher Sicht ein Geschenk Gottes an den Menschen ist, auch als eine (soziale) „Mutation“ dargestellt werden, die aus der notwendigen biologischen Bedingtheit des Menschen nicht ableitbar ist.13 Wie die erste Möglichkeit der Überbietung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Theologie von den Naturwissenschaftlern beargwöhnt wird, so stehen Theologen den Versuchen von Naturwissenschaftlern, den bisherigen religiösen Bereich zu übernehmen, ablehnend gegenüber. In der Regel kann auch gezeigt werden, dass die primäre naturwissenschaftliche Funktion in solchen Fällen zugunsten der weltanschaulichen zurücktritt. Dennoch widmen Theologen naturalistischen Besetzungsversuchen, das Feld der Religion als wahrhaft naturwissenschaftliches auszugeben, weit mehr Aufmerksamkeit, als es im umgekehrten Falle der Fall ist. Dies könnte auf einen deutlichen missionarischen Erfolg naturalistischer Wirklichkeitsauffassungen in unserer Zeit hindeuten. Theologische Antwortversuche auf solche Positionen sind weniger in die Kategorie des Verhältnisses zwischen Theologie und Naturwissenschaft einzuordnen als in die Kategorie des Dialogs mit anderen religiösen Wirklichkeitsverständnissen. Der Weg, der am meisten Erfolg verspricht, die strikte Trennung von Naturwissenschaft und Theologie zu überwinden, dürfte daher in der dritten Möglichkeit des Dialogs bestehen. Die relative Selbstständigkeit der Gesprächspartner wird hier anerkannt. Dem entspricht aber auch eine relative Unselbstständigkeit. Lässt sich der Theologe auf diesen Dialog ein, betreibt er Theologie mit hohem Risiko, da das Gespräch zu Veränderungen der Theologie und der religiösen Auffassungen führen kann. Umgekehrt besteht freilich auch für den Naturwissenschaftler ein hohes Risiko, denn er kann darauf hingewiesen werden, dass seine Forschungen unter Umständen in weit höherem oder in anderem Maße weltanschaulich motiviert sind, als er es selbst intendiert hat, so dass auch hier Korrekturen nötig wären. Vorausgesetzt ist hier nicht, dass sich theologische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht widersprechen dürfen. Dieser Fall ist zuzulassen. Vorausgesetzt ist aber, dass naturwissenschaftliche und theologische Erkenntnisse so vorgetragen werden können, dass sie für den je anderen verständlich sind. Der Fall des Dissenses kann Anlass für weitere Gespräche sein oder darauf hindeuten, dass unsere Erkenntnis des entsprechenden Gesprächsgegenstandes noch mangelhaft ist. Die Möglichkeit einer dialogischen Verhältnisbestimmung zwischen Theologie und Naturwissenschaft setzt zweierlei voraus. Einerseits, dass man die Vorgehensweisen beider Wissenschaften darstellen und hinsichtlich Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten untersuchen kann. Andererseits, dass man die Inhalte und Ergebnisse der eigenen Arbeit darstellen und hinsichtlich 13 Vgl. Theißen, G., Evolutionäre Sicht.

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Unähnlichkeiten und Ähnlichkeiten untersuchen kann. Dafür soll im Folgenden ein Beispiel geliefert werden.

3.1.4 Methodiken Fragt man genauer, wie Naturwissenschaften und Theologie vorgehen, ergibt sich kein einheitliches Bild. Die Bilder von Naturwissenschaften sowie von Theologie sind mannigfach. Hinsichtlich der Naturwissenschaften scheint sich ein gewisser Konsens herauszukristallisieren, nach dem naturwissenschaftliche Theorien derart auf die Wirklichkeit bezogen sind, dass sie theoretische Modelle bilden: Teils mögen sie die Wirklichkeit treffen, teils nicht. Zu dem beobachteten Material können auch verschiedene Modelle passen. Bis diese Ansicht konsensfähig werden konnte, war allerdings ein weiter Weg zurückzulegen. Die sog. „positivistische“14 Auffassung der Wissenschaften geht davon aus, dass die Naturwissenschaften neben mathematischen Aussagen primär auf Beobachtungssätzen basieren, die die Wirklichkeit gleich einem Abbild beschreiben. Die sich daraus entwickelnden theoretischen Aussagen müssen verifizierbar, d. h. ihre Richtigkeit muss genau nachweisbar sein, wenn sie Sinn haben sollen, d. h. wenn sie wahr oder falsch sein können sollen. Aus solchen Sichtweisen wurde bestritten, dass religiöse Rede sinnvoll sei, da Gläubige gerade darauf bestünden, dass Aussagen über Gott als besonderen Gegenstand gerade nicht genau beweisbar seien. Glaube sei nicht falsch, sondern sinnlos. Theologien haben in verschiedener Weise auf diese Herausforderung reagiert: So wurde gesagt, dass die Existenz Gottes und der christliche Glaube sehr wohl Bedingungen enthalten, mit deren Hilfe ihre Richtigkeit bestätigt werden könne: Diese Bedingungen seien jetzt aber verborgen und würden erst bei der Wiederkunft Christi allgemein einsehbar (sog. eschatologische Verifikation15). Das Problem hierbei ist, dass diese Nachprüfbarkeit der Richtigkeit hier eine andere Bedeutung bekommt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass man aufzeigen kann, dass die Naturwissenschaften zum einen selbst nicht so rigoros verfahren, dass nur das sinnvoll ist, was bestätigbar ist. Zum anderen wurde gezeigt, dass diese Forderung ihren eigenen Maßstäben nicht genügen kann. Diese Nachweise stammen freilich nicht primär von Theologen, sondern aus der Wissenschaftstheorie: Die Naturwissenschaften setzen zwar bei partikularen Beobachtungen an, ihre Theorien haben aber gerade allgemeinen Status. Solche Aussagen lassen sich aber niemals völlig bestätigen: Die Aussage: „Alle Schwäne sind weiß“ ist in ihrer Wahrheit nicht bestätigbar, da nie gesagt werden kann, ob in Zukunft nicht doch andersfarbige Schwäne angetroffen werden. Ferner ist das positivistische Sinnkriterium selbst eine nicht 14 Zur Debatte mit dem Positivismus vgl. Wçlfel, E., Der Positivismus als Frage an die Theologie. 15 Zu diesem Ansatz John Hicks vgl. Dalferth, I.U., Religiöse Rede von Gott, 689 ff.

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empirische Theorie, sondern setzt allgemeine, weltanschauliche Annahmen voraus, die nicht testbar sind: Hinsichtlich solcher Allaussagen ist das Sinnkriterium z. B. selbst nur sinnvoll, wenn vorausgesetzt wird, dass die Zukunft nicht grundsätzlich von der Gegenwart unterschieden ist. Ferner ist die Aussage, dass nur das sinnvoll sei, was durch Erfahrung bestätigbar sei, selbst nicht durch Erfahrung bestätigbar. Reine Beobachtungssätze gibt es nicht, die Fakten werden nur sprachlich erfahren, so dass schon die Beschreibung der beobachteten Fakten nicht neutral ist, sondern von der Erfahrung und dem Wissen des Beobachters abhängen. Sie sind stets „theoriekontaminiert“.16 Obwohl durch solche Einwände der Positivismus wissenschaftstheoretisch in der Mitte des 20. Jh. überwunden wurde, findet man solche Auffassungen praktisch noch oft, z. T. auch in populäreren, einfachen Formen. Allgemeine Aussagen, wie „Alle Schwäne sind weiß“, sind zwar nicht bestätigbar, aber widerlegbar, nämlich dann, wenn mindestens ein Schwan gefunden wird, der nicht weiß ist. Ausgehend von solchen Beobachtungen vertraten K.R. Popper und andere die Ansicht des sog. Falsifikationismus,17 nach dem nur diejenigen Theorien als wissenschaftlich gelten, aus denen sich Vorhersagen ableiten lassen, die Kriterien beinhalten, wie sie zu widerlegen sind. Treten diese Fälle ein, gilt es, die Theorie, aus welcher die widerlegten Vorhersagen stammen, zu verwerfen und eine neue zu den Fakten passende aufzustellen. Auch dieser Ansatz bereitet für die Theologie Schwierigkeiten, denn nach diesen Kriterien ist sie keine Natur-Wissenschaft. Freilich teilt die Theologie hier ihr Schicksal nicht nur mit den anderen Geisteswissenschaften, sondern z. B. auch mit der Evolutionstheorie, die zwar vorhandene Beobachtungen erklären kann, aber keine Voraussagen macht, die widerlegbar wären. So ist auch der Falsifikationismus zwar eine Theorie über Naturwissenschaften, aber eben selbst keine Naturwissenschaft. Die Annahmen, dass nur Falsifikationskriterien enthaltende Theorien wissenschaftlich wären, beinhaltet selbst z. B. keine Falsifikationskriterien. Daher erscheint es sinnvoller, weniger Werte vorzuschreiben, nach denen Naturwissenschaften verfahren sollten, als zunächst einmal zu beschreiben, wie Wissenschaft betrieben wird. Diese Aufgabe leistete u. a. T.S. Kuhn.18 Er stellte fest, dass in der Regel an Theorien, deren Voraussagen widerlegt worden sind, festgehalten wird. Man erweitert oder verändert in solchen Fällen die Theorie nur sehr behutsam oder stellt einen Ausnahmenkatalog auf. Theorien werden in der Regel erst aufgegeben und abgelöst, wenn die Beweislast gegen sie zu groß wird. Auch dann sind aber noch andere Faktoren wichtig: Oft werden Theorien durch andere abgelöst, wenn sich ein Generationswechsel der Wissenschaftler vollzieht oder wenn Wissenschaftler beginnen, mit anderen zu kooperieren. Theoriewechsel vollziehen sich eher diskontinuierlich 16 Vgl. Hanson, N.R., Patterns. 17 Zur Debatte vgl. Pannenberg, W., Wissenschaftstheorie und Theologie, 34 ff. 18 Vgl. Kuhn, T.S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.

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im Rahmen von sog. „Paradigmenwechseln“, so dass Kuhn hier von „Revolutionen“ sprechen kann. Kuhns Leistung besteht darin, dass er enge Vorstellungen dessen, was Naturwissenschaft sei, kritisiert hat. Eine positive eigene Vorstellung, was Naturwissenschaft sei, bietet er weniger. Am ehesten dürfte man naturwissenschaftlichen Theorien gerecht werden, wenn man sie als Modelle19 beschreibt. So wie die jedem bekannten Modelleisenbahnen bestimmte Eigenschaften der Originale haben, während sie andere nicht haben, so sind auch naturwissenschaftliche Theorien auf die Erfahrung der Wirklichkeit bezogen: Einige Beschreibungen treffen zu – das sind die positiven Analogien –, anderes wird nicht erfasst – das sind die negativen Analogien. Wichtig an diesen „theoretischen Modellen“ ist, dass es in ihnen auch naturwissenschaftliche Beschreibungen gibt, von denen man nicht oder noch nicht weiß, ob sie zutreffen oder nicht. Das sind die sog. „neutralen Analogien“. Wichtig am Modellbegriff ist auch, dass es nicht genau ein theoretisches Modell gibt, das die Fakten beschreiben kann, sondern deren mehrere. Welches Modell man wählt, hängt von der Leistungsfähigkeit des Modells, aber oft auch von pragmatischen Gründen ab. Oft werden auch verschiedene Modelle benötigt, um einen Gegenstand beschreiben zu können. Das bekannteste Beispiel ist hier, dass zur Beschreibung des Lichts sowohl das Modell der Welle als auch das des Teilchens nötig ist. Man kann hier nicht mehr sagen, „Licht ist Welle“ oder „Licht ist Teilchen“. Falsch wäre auch zu sagen, „Licht ist teils Welle, teils Teilchen“. Man kann nur sagen, dass das Welle-Teilchen-Modell bisher am geeignetsten ist, die Messungen hinsichtlich der Erforschung des Lichts zu erklären. In der Theologie herrscht eine Methodenvielfalt. Im Wesentlichen borgen sich verschieden Zweige der Theologie ihre Methoden aus anderen Wissenschaften. Zur Erforschung des Alten und Neuen Testaments sowie der Kirchengeschichte werden Methoden der Alt- und Neuphilologie angewandt, aber auch der Geschichtswissenschaft oder der Archäologie. In der Regel werden die Methoden nicht einfach übernommen, sondern spezifisch abgewandelt. Die Praktische Theologie verwendet häufig Methoden und Ergebnisse aus Psychologie und Soziologie. Die Systematische Theologie, deren Gegenstand die Darstellung des christlichen Glaubens in der Gegenwart ist, indem sie dessen Wahrheitsansprüche genauso aufweist wie dessen praktische Folgen im Handeln, geht oft ähnlich vor wie die Philosophie. Die Methodenvielfalt ist hier besonders hoch, dennoch können oft exakte Kriterien verwendet werden. Eine wichtige Frage ist aber, welchen Status die Theologie ihrer Theoriebildung zuweist. Sind es verbindliche Aussagen, die fest definiert werden können und geglaubt werden müssen? Oder sind es Beschreibungen subjektiver Erlebnisse, die nur für alle oder sogar nur je einzelne Glaubende Gültigkeit beanspruchen? Diese beiden Möglichkeiten sind natürlich zwei Ex19 Vgl. Mìhling, M., Art. Modell II, Religionsphilosophisch.

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treme: Das eine ist das dogmatistische Extrem, das andere das subjektivistische. Die gegenwärtige protestantische Theologie scheint beide Extreme vermeiden zu wollen. Besonders in der englischsprachigen Theologie werden die eigenen Theorien wie in den Naturwissenschaften oft als Modelle gedeutet. Das Erscheinen von Modelltheorien in den Naturwissenschaften war für Theologen Anlass zu fragen, inwiefern auch die theologische Theoriebildung als Bildung von Modellen begriffen werden könne. Dabei zeigte sich, dass vieles, was Theologen immer schon machten, mit dem Modellbegriff beschrieben werden konnte. Hinsichtlich des Status zwischen naturwissenschaftlichen und theologischen Aussagen zeigten sich so Ähnlichkeiten auf. Freilich dürfen auch die Unterschiede nicht geleugnet werden: Naturwissenschaftliche Modelle sind in der Regel mathematisch beschreibbar und basieren auf messbarer, quantifizierbarer Erfahrung. Dies gilt für theologische Modelle nicht. Während relativ klar ist, dass theologische Aussagen als Modelle beschrieben werden können, ist weniger klar und sehr umstritten, worauf sie sich beziehen: auf unsere religiöse Erfahrung? Auf die Verkündigung des Wortes Gottes? Auf die Wirklichkeit Gottes? Auf den Menschen und die Welt in Beziehung zu Gott? Auf unsere Erfahrung mit unserer Erfahrung der Welt? Diese Fragen des Gegenstandsbezugs theologischer Modelle lassen sich allerdings nicht rein innertheologisch, ohne den Dialog mit den Naturwissenschaften klären. Dabei wird man konkrete Gegenstände und Themen des Dialogs berücksichtigen müssen. Bevor wir uns im nächsten Kapitel exemplarisch mit solchen konkreten Fragen des Dialogs hinsichtlich der Schöpfungslehre beschäftigen, ist hier abschließend noch eine weitere Frage zu stellen: Denn während somit aufgezeigt ist, dass der Dialog mit den Naturwissenschaften für die Theologie selbst keine fakultative, sondern eine verpflichtende Aufgabe darstellt, kann man nun umgekehrt fragen, ob der Dialog auch wirklich für die Naturwissenschaften von notwendiger Bedeutung ist. Und genau diese These sei hier vertreten: 3.1.5 Die Notwendigkeit des Dialogs für die Naturwissenschaften Naturwissenschaft ist ohne weltanschauliche Voraussetzungen nicht konsequent denkbar. Diese schlichte These soll im Folgenden in sieben Schritten erläutert und einer Schlussthese als Konsequenz zugeführt werden. 1. Wenn Menschen nicht gerade schlafen, handeln sie. Vom bloßen Verhalten ist das Handeln dadurch unterschieden, dass es absichtlich geschieht und der Handelnde nicht erst von dritter Seite darauf hingewiesen werden muss, dass er handelt.20 Nicht alles, was Menschen tun, ist Handeln. Klopfe ich etwa während eines spannenden Kongressbeitrags unruhig mit den Fingern 20 Zur Analyse des Absichtsbegriffs vgl. Anscombe, G.E.M., Absicht.

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auf den Tisch, kann es sein, dass ich dies erst gar nicht merke, und von einer anderen Person darauf aufmerksam gemacht werden muss. 2. Der Handlungsbegriff ist eine mehrstellige, komplexe Relation. Wenn man fragt, was Menschen eigentlich tun, wenn sie etwas machen, muss man auf eine Reihe von Sachverhalten verweisen, die als Relate in der Relation des Handelns verbunden sind.21 Was immer das im Einzelnen sein mag; eines dieser Relate, die notwendig für den Begriff des Handelns sind, ist das Wissen einer Person, das in Form von personalen Gewissheiten vorliegt. Was ist damit gemeint? Betrachten wir eine einzelne Handlung: die Fahrt eines Menschen im Auto nach New York. Eine solche Handlung kann nur gelingen, wenn der Mensch weiß, wie man Auto fährt, wo New York liegt oder zumindest, wie man ein Navigationsgerät bedient und dergleichen mehr. Dieser Wissensgehalt ist dem Handelnden gewiss, weil er sich in seinem Handeln darauf verlässt und diese Gewissheiten sein Handeln orientieren. Nur dies ist mit „Gewissheit“ gemeint; nicht gemeint ist, dass Gewissheiten immer wahr wären (sie können auch falsch sein) oder sich nicht ändern könnten. Nicht gemeint ist auch, dass solche Gewissheiten uns immer bewusst und explizit vorliegen; denn es ist mir gewiss, wie ich Gaspedal, Bremse und Kupplung benutze, ohne dass ich in dem Moment der Handlung wissen muss, wie ich dies genau mache. 3. Die Gewissheiten eines Menschen zerfallen immer in zwei Klassen: die des prinzipiell empirisch Testbaren und die des prinzipiell nicht empirisch Testbaren. Das prinzipiell empirisch Testbare bezieht sich auf solche Gewissheitsgehalte, die durch gesteuerte Erfahrung überprüft und daher verändert werden könnten. Komme ich in Bad Urach an und setze mich im Kongresssaal auf einen Stuhl, habe ich meist die Gewissheit, dass der Stuhl mich trägt; aber ich hätte zuvor testen können, ob er auch wirklich mein Gewicht trägt, so wie ich eine Schneebrücke über einer Gletscherspalte bei einer Wanderung erst daraufhin prüfen würde, ob sie auch hält. Das prinzipiell nicht empirisch Testbare bezieht sich auf solche Gewissheitsgehalte, bei der eine solche Überprüfung hinsichtlich ihrer Sachgemäßheit nicht möglich ist. Ein Beispiel: Ich bin mir gewiss, dass es sinnvoll ist, Tagungen zu besuchen oder Bergwanderungen zu unternehmen. Gefragt, warum ich mir dessen gewiss bin, könnte ich zwar in beiden Fällen auf Motive und Gründe verweisen – dass es sinnvoll ist, im Austausch sein Wissen zu vertiefen, dass ich ein erhebendes Gefühl beim Bergwandern erhalte –, aber diese Gewissheiten können vom Gesprächspartner in Frage gestellt werden, indem er einfach erneut fragt, warum es sinnvoll ist, gemeinsam Wissen zu vertiefen oder warum es sinnvoll ist, erhebende Gefühle zu erhalten. Ich kann jetzt erneut auf Gründe verweisen – dass es sinnvoll ist, kommunikativ über Wissen zu reflektieren, weil dies als Theologe zu meinen Pflichten gehört, oder dass das Erleben erhebender Gefühle m. E. zur psychischen Gesundheit bei21 Zu einer Analyse des Handlungsbegriffs sei verwiesen auf Mìhling, M., Ethik.

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trägt. Aber jetzt könnte ich erneut gefragt werden, warum ich Theologe bin und sein will, oder warum ich psychisch gesund bleiben will. Mit anderen Worten: Die Frage des „Warum“ nach diesen Gewissheitsgehalten, die auf meine Absichten und Ziele zielt, ist mir immer wieder stellbar. Dies zeigt, dass ich nicht zweifelsfrei demonstrieren oder beweisen kann, dass die in Frage stehende Handlung wirklich sinnvoll ist. Dennoch halte ich sie weiterhin für sinnvoll; ansonsten würde ich sie nicht ausüben. Das Beispiel zeigt auch noch etwas anderes: Diese Art von Gewissheiten enthält immer auch Wertungen wie „gut“ und „schlecht“, „besser“ oder „schlechter“, die nicht nur schwache beiläufige Wertungen sind, sondern starke Wertungen oder handlungsorientierende Wertungen. Der Begriff des Handelns ist ohne beides, die empirisch testbaren und die empirisch nicht testbaren Gewissheiten, nicht denkbar. 4. Die Summe der starke Wertungen beinhaltenden nicht-empirisch testbaren Gewissheiten kann unterschiedlich bezeichnet werden: Der kanadische Philosoph Charles Taylor nennt sie die „moralische Ontologie“ einer Person,22 man kann Sie auch als Wirklichkeitsverständnis oder als Glaube bezeichnen. Diese moralische Ontologie ist bei jedem anders zusammengesetzt und kommt dadurch zustande, dass wir uns in unterschiedlichen Gemeinschaften, unterschiedlichen Lebenswelten und unterschiedlichen Traditionen bewegen. Sie kann mehr oder weniger implizit oder explizit sein, wie sie auch mehr oder weniger kohärent oder inkohärent sein kann. Sie gehört aber nicht nur unreduzierbar zum Handeln, sondern ebenso unreduzierbar zur Identität von Handelnden. Ist sie in sich weitgehend kohärent, erlebt der Handelnde seine Identität als gelingend oder sich selbst als frei, und seine Umwelt erlebt ihn als zuverlässige Persönlichkeit. Ist sie weniger kohärent, leidet der Handelnde an seiner Identität, oder die Umwelt erlebt ihn als schwache Persönlichkeit. 5. Um auch nur einigermaßen kohärent zu sein, muss diese moralische Ontologie oder das Wirklichkeitsverständnis einer Person kohärent erzählt werden können, zumindest in Grundzügen. Dabei wird es ein organisierendes Zentrum dieser moralischen Ontologie geben. Funktional betrachtet ist dies im theologischen Verständnis der weite Gottesbegriff. Martin Luther macht dies in der Auslegung zum ersten Gebot seines großen Katechismus deutlich: Auf die Frage, was es heiße, einen Gott zu haben, antwortet er bekanntlich: „ein Gott heißt das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten; also dass einen Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, dass allein das Trauen und Glauben des Herzens beide macht, Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht; und wiederum, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist., da ist auch

22 Vgl. Taylor, C., Quellen des Selbst, 17 – 25.

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der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zu Haufe, Glaube und Gott. Worauf du nun (sage ich) dein Herz hängst und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“23

Diese Aussage Luthers zusammen mit den Beispielen, die Luther für solche organisierenden Zentren (Gottes- oder Abgottbegriffe) anführt – Geld und Gut, große Kunst, Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft und Ehre –, zeigen zweierlei: erstens, dass es für Luther wichtig ist, diesen weiten Gottesbegriff des organisierenden Zentrums eines Wirklichkeitsverständnisses zu benutzen, weil es sich um eine anthropologische Konstante handelt: So wie es unmöglich ist, dass Menschen nicht handeln, so ist es auch unmöglich, dass Menschen kein Wirklichkeitsverständnis und kein organisierendes Zentrum besitzen: Zu glauben – im Sinne von vertrauen – und einen Gottesbegriff zu besitzen, ist recht verstanden eine anthropologische Konstante. Zweitens zeigt das Beispiel selbstverständlich auch, dass Luther es nicht für gleichgültig hält, welche moralische Ontologie und welches organisierende Zentrum man besitzt, denn er unterscheidet zwischen Glaube und Aberglaube wie zwischen Gott und Abgott. 6. Auch naturwissenschaftliches Handeln ist nichts anderes als eine Teilklasse des Handelns. Es ist dasjenige menschliche Handeln, das sich mit der Reflexion auf die prinzipiell empirisch überprüfbaren Gewissheiten des Handelns beschäftigt. Nichtsdestotrotz ist es selbst immer Handeln. Und als solches partizipiert es auch an der allgemeinen Struktur des Handelns und schließt auch immer nicht empirisch überprüfbare Gewissheiten ein und setzt daher eine moralische Ontologie, ein Wirklichkeitsverständnis bzw. einen Glauben als Vertrauen voraus. Auch naturwissenschaftliches Handeln ist, wie jedes Handeln, nicht ohne weltanschauliche Voraussetzungen denkbar. Man könnte nun einwenden, dies alles gelte, da es ja für naturwissenschaftliches Handeln gelte, für den naturwissenschaftlich Handelnden, d. h. für die Person und die Personen des oder der Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen, nicht aber für die Naturwissenschaft selbst. Man könnte sagen, die Personen der Naturwissenschaftler hätten sicher ein Wirklichkeitsverständnis oder einen Glauben und seien daher von weltanschaulichen Voraussetzungen abhängig, nicht aber die Naturwissenschaft selbst. Das wäre aber ein Trugschluss. Denn diese Unterscheidung zwischen dem naturwissenschaftlichen Handeln einerseits und „den Naturwissenschaften“ einzuführen, wäre selbst wieder eine prinzipiell nicht empirisch testbare Behauptung, genauer : eine weltanschauliche Behauptung platonischer Provenienz, die eben behauptet, es gäbe die Entität der „Naturwissenschaften“. 7. Die Frage für die Naturwissenschaften kann also nicht lauten, ob es auch in der naturwissenschaftlichen Arbeit weltanschauliche Voraussetzungen gibt bzw. ob man diese eliminieren kann – was nach o. a. Argumentation un23 Vgl. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, BSLK 560.

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Gabe oder Gegebenheit?

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möglich ist –, sondern, wie mit diesen weltanschaulichen Voraussetzungen im Prozess der naturwissenschaftlichen Arbeit umgegangen wird. Dazu ein Vorschlag: Güte von Naturwissenschaft hinsichtlich ihrer weltanschaulichen Gebundenheit zeichnet sich durch eine Reflexion auf die weltanschaulichen Gehalte ihrer Arbeit aus. Da diese Reflexion selbst wieder ein Handeln ist, allerdings ein nicht naturwissenschaftliches Handeln, hängt die Güte von Naturwissenschaft von der Bereitschaft zum interdisziplinären Dialog mit denjenigen Wissenschaften ab, die sich primär mit der methodisch-kontrollierten Reflexion solcher weltanschaulicher Gehalte beschäftigen. Dies sind einerseits alle Geisteswissenschaften, es ist aber unreduzierbar auch die Theologie, die hier gerade nicht durch Philosophie, Religionswissenschaften o. ä. ersetzt werden kann, weil die Theologie diejenige exemplarische Wissenschaft ist, die bewusst methodisch-kontrolliert verfährt auf Basis eines bewussten Einschlusses einer perspektivischen Gebundenheit an bestimmte weltanschauliche Voraussetzungen. Im Gespräch mit der Theologie können so verborgene weltanschauliche Voraussetzungen der Naturwissenschaften nicht nur aufgedeckt und transparent gemacht werden, sondern es können auch verschiedene Arten und Funktionen solcher weltanschaulicher Voraussetzungen für die Naturwissenschaften angegeben werden.24 Damit mündet die Thesenreihe in eine Schlussthese: Naturwissenschaft gewinnt an Güte im interdisziplinären Dialog; der interdisziplinäre Dialog ist aber stets auch ein interreligiöser Dialog in perspektivischer Gebundenheit.

3.2 Gabe oder Gegebenheit? Ist es richtig, dass Theologie und Naturwissenschaft sich auf eine Wirklichkeit beziehen und beide mit theoretischen Modellen arbeiten, bieten sich drei Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung an: 1. Theologie kann die Ergebnisse partikularer naturwissenschaftlicher Arbeit als Prämissen akzeptieren und zu vervollständigen suchen. 2. Die Naturwissenschaften können zur Naturphilosophie werden, indem sie die gesamte Wirklichkeit als eigenes Feld beanspruchen. 3. Theologie und Naturwissenschaft können als unterschiedliche Zugänge zur einen Wirklichkeit verstanden werden, die sich in einem für sie jeweils wechselseitig wichtigen Dialog befinden. Um herauszufinden, welchen Nutzen ein solcher Dialog für beide Erkenntnisweisen bringt, ist es nötig, selbst ein Beispiel des gegenwärtigen Standes eines solchen Dialogs anhand seiner materialen Gegenstände zu geben. 24 Einen exemplarischen Katalog solcher unterschiedlicher Funktionen habe ich versucht in Mìhling, M., Einstein und die Religion, 358 – 366, anzugeben und am Beispiel Einsteins zu exemplifizieren.

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3.2.1 Grundzüge der Schöpfungslehre Um ein Gespräch führen zu können, müssen beide Gesprächspartner schon eigene Standpunkte vertreten. Die Inhalte jeder Seite werden je unterschiedlich strukturiert sein. Wir setzen hier zunächst mit denjenigen Gedanken des christlichen Wirklichkeitsverständnisses ein, die in einen Dialog mit den Ergebnissen der Naturwissenschaft eingebracht werden können, um anschließend diese Ergebnisse selbst zu Wort zu bringen. Wir beginnen mit der Darstellung ganz traditioneller christlicher Aussagen. Auf die menschliche Erfahrung, dass man sich wundert oder staunt, dass es etwas gibt und nicht nichts, antwortet der christliche Glaube, indem Gott als mein Schöpfer und Schöpfer aller Dinge25 bekannt wird. Die Schöpfungstheologie beinhaltet daher Aussagen über Gott, über die Welt („alle Dinge“) und über das Verhältnis beider zueinander. Allein mit diesem Satz ist schon vieles gesagt, das nicht selbstverständlich ist: Wird die Welt als geschaffen angesehen, bedeutet das, dass sie ihre Existenz nicht sich selbst verdankt, sondern von etwas anderem abhängig ist. Dies wird ferner als personales Verhältnis gesehen: Die Welt verdankt ihr Dasein dem Willen oder der Absicht Gottes. Der christliche Glaube ist sich mit dem Judentum und dem Islam einig, dass diese Aussage zu präzisieren ist: Die Welt verdankt ihr Dasein allein dem Willen Gottes, dergestalt, dass Gott keine welthaften Voraussetzungen nötig hat, um eine Welt hervorzubringen. Außerdem brachte er die Welt nicht als einen Teil von sich hervor, so dass die Welt selbst nicht Gott ist. Diese beiden Sätze wurden dadurch zum Ausdruck gebracht, dass man sagte, Gott habe die „Welt geschaffen, aber nicht aus etwas (creatio ex nihilo).“26 Diese Aussage findet sich in den beiden bekannten Schöpfungsberichten (Gen 1 und Gen 2) noch nicht. Dennoch ist das Anliegen der Voraussetzungslosigkeit der Schöpfung dem klassischen Text in Gen 1 nicht fremd. Während Sonne, Mond und Sterne im Alten Orient als göttliche Mächte erfahren und benannt wurden, nennt der Autor von Gen 1,14 – 16 sie „Lichter“. Die Lutherübersetzung untertreibt hier noch ein wenig, denn nach dem hebräischen Text könnte man gut auch von „Lampen“ sprechen. Die Gestirne werden so als Geschöpfe untergeordnet und in ihrer Funktion als Gaben sichtbar gemacht: Sie dienen zur Berechnung des Kalenders (Gen 1,14). Wurde im alten Orient das Meer als Überbleibsel schrecklicher Chaosmächte verstanden, die von den Göttern unabhängig waren, vertritt der Autor von Gen 1,21 auch hier eine Entpersonalisierung und Vergeschöpflichung: Gott schafft „große Walfische“, wie Luther übersetzt. Nun gab es im Mittelmeer keine großen Walfische. Tatsächlich wäre der entsprechende hebräische Ausdruck auch besser mit „Meeresungeheuer“ wie25 Vgl. BSLK 510. 26 Zur Analyse der creatio-ex-nihilo-Formel vgl. Wçlfel, E., Welt als Schöpfung.

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dergegeben. Diese Meeresungeheuer galten als Verkörperung der widergöttlichen Chaosmächte des Meeres. Der Autor von Gen 1 bestreitet nicht deren Existenz, sondern ordnet sie konsequent anders ein: Sie sind von Gott geschafften, also können sie keine selbständigen widergöttlichen Mächte sein. In Ps 104,26, einem Gen 1 nahe stehenden Text, wird sogar der Zweck angegeben, zu dem sie Gott geschaffen hat: Gott spielt mit ihnen, so dass sie Quelle göttlichen Wohlgefallens sind. Aussagen über die „Schöpfung ohne welthafte Voraussetzungen“ treten zuerst im Zusammenhang der Totenauferweckung auf: Weil Gott die Welt ohne welthafte Voraussetzungen, nicht aus etwas, schaffen konnte, kann er auch Tote, also Menschen, die nicht mehr da sind, auferwecken (z. B. 2.Makk 7,14; Röm 4,17). Bedeutet diese Aussage für Gott absolute Freiheit und Souveränität, so bedeutet sie für die Welt, dass ihr Dasein keine Gegebenheit wäre, die einfach hinzunehmen ist. Vielmehr drückt das Konzept der creatio ex nihilo aus, dass es sich bei dem Dasein der Welt um eine Gabe, ein Geschenk handelt. Die Vorstellung der creatio ex nihilo fand aber auch Kritiker im Christentum selbst: Ist dies nicht die Vorstellung von einem monarchischen, despotischen Gott, der je nach Willkür mit der Welt verfahren kann, weil er nicht auf die Welt angewiesen ist? Damit ist der Charakter der Welt als Gabe nur eine Seite der Medaille. Diese Gedanken sind ihrerseits auf verschiedene Weise kritisierbar : Ein einzelner menschlicher König, der je nach Lust und Laune mit seinem Volk verfahren kann, eignet sich z. B. gerade nicht als Bild zur Illustration des Schöpfers, der voraussetzungslos schafft. Denn ein Herrscher ist auf seine Untertanen angewiesen, um Herrscher sein zu können. Der Gedanke lässt sich noch ausweiten: Setzt der Gedanke, dass es Personen gibt, die Absichten haben und handeln können, nicht voraus, dass es auch etwas gibt, dass von ihnen verschieden ist, Gegenstände, an denen sie handeln können? Wenn Gott personal ist, wäre er dann nicht auf die Welt angewiesen, um Person sein zu können? Genau dies verneint aber der Gedanke der Schöpfung nicht aus etwas. Das Christentum kann diese Möglichkeit dadurch stützen, dass Gott nicht im Modell des voluntaristischen Gottesverständnisses des monarchischen Herrschers oder der einsamen Person gedeutet wird, sondern im Modell der Trinität: Gott ist in sich selbst schon Vater, Sohn und Geist, die in Beziehung stehen, so dass die Beziehung zur Welt nicht notwendig für Gott ist. Die Empfänger dieser Gabe der Schöpfung sind die Geschöpfe selbst, so dass Dasein verschiedener Geschöpfe für andere als Gabe interpretiert werden kann. Umstritten ist dabei, inwieweit der Glaube voraussetzt, dass es sich um eine Gabe der gesamten Schöpfung an personale Wesen wie Menschen handelt oder ob auch die Menschen als Gabe für andere Kreaturen verstanden werden müssen. Während man versuchte, ersteres mit dem „Herrschaftsauftrag“ (Gen 1,28) zu legitimieren, lässt sich vom Schöpfungsgedanken selbst her nur feststellen, dass die verschiedenen geschaffenen Dinge – also auch Menschen – einander Mitgeschöpfe sind. Der Herrschaftsauftrag wird dann nicht als

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Auftrag zur Herrschaft von personalen über nichtpersonale Wesen verstanden, sondern zu deren Beobachtung, Beaufsichtigung und Bewahrung ihrer natürlichen Ordnung. Die genannten Bestimmungen sind weitgehend noch keine Eigenheit des christlichen Glaubens. Eigentümlich ist hier vielmehr die Ansicht, dass es der dreieinige Gott ist, der die Welt ohne welthafte Voraussetzungen entstehen lässt. Die Vorstellung von der Dreieinigkeit Gottes besagt nämlich, dass es ebenso Gott ist, der in Jesus Christus erscheint als auch als Heiliger Geist gegenwärtig ist. Die Trinitätslehre ist damit ein Modell des gesamten Handelns Gottes.27 Mit der Verbindung der Vorstellung von der Schöpfung ohne welthafte Voraussetzungen wird diese selbst zu einem Modell, das sich auf das ganze Gottesverhältnis der Welt erstreckt: Zunächst wird der Schöpfungsgedanke ausgedehnt: Gott schafft nicht nur voraussetzungslos an einem gedachten Anfang die Welt, sondern erhält sie in jedem Augenblick ihres Bestehens. Damit ist gesagt, dass auch die Welt in der Gegenwart und Zukunft nicht alleine in sich bestehen kann, sondern ihren Charakter nicht als notwendige Gegebenheit, sondern als Gabe behält. Jedes Ereignis in der Welt soll daher so verstanden werden, dass es eine Kooperation zwischen göttlichem Handeln und weltlichem Geschehen ist. Verneint wird damit eine Ansicht, nach der die Welt selbstgenügsam sei. Des Weiteren ist damit gesagt, dass die Überwindung von Schuld und Sünde selbst zur Absicht des Schöpfers gehört. Gott kann – wie es im Handeln Jesu Christi ansichtig ist – Sünden vergeben in demselben Sinne, wie er die Welt voraussetzungslos schafft: Der Sünder und Schuldige wird zum Gerechten. Ohne eigene Voraussetzung erhält er damit als Geschenk die Möglichkeit, dass seine zukünftigen Handlungsmöglichkeiten nicht von den alten Fehlern vorherbestimmt sind. Das Modell der Rechtfertigung allein aus Gnade, das für die protestantischen Kirchen von besonderer Bedeutung ist, erweist sich somit als ein Aspekt der Schöpfungslehre. Ferner ist durch die Verschränkung der Modelle der Schöpfung ohne welthafte Voraussetzungen und der Dreieinigkeit Gottes die Vorstellung verbunden, dass die Erfahrung von Leid und Schmerz nicht endgültig zur Welt gehören, sondern überwunden werden, indem die Welt einem Ziel – der Vollendung des Reiches Gottes – entgegengeführt wird. Weitet man den Schöpfungsgedanken auf diese Weise aus, kann die Überwindung von Leid nicht als Erlösung von den welthaften natürlichen Bedingungen des Menschen verstanden werden, sondern muss als Erlösung der Welt gedacht werden. Die Erreichung dieses Zieles ist von Gott beabsichtigt und hat ebenso Geschenkcharakter wie das Dasein der Schöpfung und kann weder von personalen Wesen wie dem Menschen hervorgebracht werden, noch ist das Ziel der Schöpfung wie ein Programm eingeschrieben, das sich selbst realisiert. Die Zukunft ist nach dieser Vorstellung offen und nicht mit dem Dasein der Welt vorherbestimmt. Auch die Erkennbarkeit der Welt als Schöpfung wird in der Verbindung der 27 Vgl. Schwçbel, C., Rahmentheorie.

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Modelle von Dreieinigkeit und Schöpfung behandelt: So, wie das Dasein der Welt nicht notwendig ist, sondern Gabecharakter hat, so ist auch das Verständnis der Welt als Schöpfung nicht einfach notwendig mit dem Dasein der Welt gegeben. Vielmehr erschließt Gott selbst uns diesen Sachverhalt. Die Erkenntnis der Welt als Schöpfung ist daher vom Glauben abhängig. Wenn jemand zum Glauben der Welt als Schöpfung kommt, setzt dies zwar voraus, dass Menschen von Gott als Schöpfer erzählen. Aber alle menschlichen und weltlichen Faktoren, wie die Prägung durch die soziale Umwelt, werden nicht als hinreichend dafür angesehen, dass jemand zum Glauben kommt und weiterhin glaubend bleibt. Dazu bedarf es selbst göttlichen Handelns. Umstritten ist freilich immer noch, inwieweit aus christlicher Sicht gesagt werden kann, ob es sich hier nur um ein spezielles Handeln des Heiligen Geistes an einzelnen Glaubenden handelt, oder inwieweit es sich hier um ein allgemeines Handeln Gottes handelt, dessen Wirkungen jedem zugänglich sind oder zugänglich wären. Anlass für diese Debatte ist ein Streit um die Auslegung von Röm 1,19 ff. Hier erwähnt Paulus nämlich, dass Gott aus seinen Werken, also aus der geschaffenen Welt erkannt werden könne. Da dies aber im Zusammenhang mit der Deutung von Sünde und Schuld erwähnt wird, ist umstritten, inwieweit diese Möglichkeit nach christlicher Sicht für jeden besteht oder inwieweit hier irreal von einer verlorenen Möglichkeit gesprochen wird. Diese genannten Zusammenhänge haben die Autoren der neutestamentlichen Texte betont, indem z. B. Jesus Christus mit dem Wort (logos) Gottes identifiziert wird, durch das nach der Vorstellung von Gen 1,1 alles geschaffen ist (Joh. 1,1ff, 1. Kor 8,6; Kol 1,16ff; Phil 2,10). Dieser Bestand christlicher Schöpfungsaussagen ist in der Gesellschaft der Gegenwart, die dadurch gekennzeichnet ist, dass es in ihr viele Religionen nebeneinander gibt, nicht selbstverständlich. Dass die Welt sich der Absicht eines personalen Urhebers verdankt, ist nicht selbstverständlich. Dass gar der Mensch Jesus Christus etwas mit der Schöpfung zu tun haben soll, erscheint Nichtchristen ziemlich willkürlich, und die Vorstellung von der Dreieinigkeit Gottes ist vielen Christen selbst fremd geworden. Noch größere Akzeptanzprobleme findet aber die Vorstellung von einem speziellen Handeln Gottes. Können Ereignisse, die wir erleben, auf Gottes Absicht zurückgehen? Handelt Gott an einigen Ereignissen in der Welt in besonderer Weise, während dies an anderen nicht geschieht? Kann gar mit besonderen Wundern gerechnet werden, einem Eingreifen Gottes, das den Lauf der Welt an bestimmten Stellen unterbricht? Die Wundergeschichten des NT zeigen auf erzählerische Weise, dass es sich bei Gott um die alles bestimmende Wirklichkeit handelt, der auch die natürliche Welt nicht entzogen ist. Sie zeigen ferner, dass diese alles bestimmende Wirklichkeit in Jesus Christus in einzigartiger Weise erschlossen ist, so dass Jesus Christus aus der Sicht des Glaubens nur im Zusammenhang mit dieser alles bestimmenden Wirklichkeit verstanden werden kann. Damit gilt

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auch das Umgekehrte, denn nun kann diese alles bestimmende Wirklichkeit nur noch im Zusammenhang mit Jesus Christus richtig verstanden werden. Problematisch kann ein Wunderverständnis selbst aus der Sicht des Glaubens werden, nämlich dann, wenn man Wunder als Durchbrechung des Naturzusammenhanges versteht. Wenn der christliche Glaube einerseits behauptet, dass Gott die natürliche Ordnung geschaffen hat und diese als gute Ordnung geschaffen hat, dann wäre ein spezielles Handeln Gottes, das sich je und je über diese Ordnung hinwegsetzt, entweder Ausdruck für einen willkürlichen, untreuen Gott, der heute so und morgen so handelt, oder Ausdruck für einen inkompetenten Gott, der sein Schöpfungswerk dauernd nachbessern muss. In beiden Fällen wäre es für uns fatal, würden wir einem solchem Wesen unbedingt vertrauen. Wenn es ein spezielles Handeln Gottes geben kann, ist dies nur mit einem Verständnis der geschöpflichen Ordnung zu vereinbaren, die von Anfang an dafür Raum lässt. Das heißt aber, dass ein spezielles Handeln Gottes nicht als Verwirklichung des an sich logisch Unmöglichen gesehen werden kann. Allerdings kann der christliche Glaube aber auch nicht ohne ein Verständnis des speziellen Handelns Gottes auskommen: Die Auferweckung Jesu wird als besonderes Handeln Gottes des Vaters und des Geistes verstanden, die Hoffnung auf das Erscheinen der Vollendung der Gottesherrschaft ist ebenfalls kein in der Welt angelegter extrapolationsfähiger Automatismus. Auch das Zustandekommen des Glaubens der Glaubenden wird als je spezielles und individuell personbezogenes Handeln des Geistes gedeutet.28 Angesichts dieser Situation ist es wichtig zu fragen, was die Naturwissenschaften zu der Vorstellung von der Welt als Schöpfung sagen. Nun gehört zum Vorgehen der Naturwissenschaften, dass sie nicht mit „Gott“ als Hypothese arbeiten. Auch gläubige Wissenschaftler müssen ihren Glauben zurückstellen und so arbeiten, als gäbe es Gott nicht, um zu sinnvollen Ergebnissen zu kommen. Dies bedeutet, dass die Naturwissenschaften keine Aussagen über die Welt als Schöpfung machen, denn die Schöpfungsaussagen beinhalten Aussagen über Gott, die Welt und deren Beziehung. Die Naturwissenschaften können nur Aussagen über die Welt bzw. genauer, über Teile der Welt machen, nicht über Gott oder die Gottesbeziehung der Welt. Dennoch sind naturwissenschaftliche Ergebnisse der Schöpfungstheologie nicht gleichgültig. Denn die Beschaffenheit der Welt kann Folgen haben, wie die Gottesbeziehung zu deuten ist; und die Deutung der Gottesbeziehung kann Folgen für das Gottesverständnis haben. Insofern bedeutet Theologie im Dialog mit den Naturwissenschaften für den Theologen ein hohes Risiko. Was sagen nun die Naturwissenschaften zur Welt im Allgemeinen?

28 Vgl. BSLK 58.

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3.2.2 Grundzüge gegenwärtiger Kosmologie 3.2.2.1 Voraussetzungen Die Physik des 20. Jh. ist durch verschiedene Umbrüche gekennzeichnet, deren wichtigster in der Entwicklung der Quantentheorie liegen dürfte. Noch die Spezielle Relativitätstheorie (SRT) und Allgemeine Relativitätstheorie (ART) Albert Einsteins tragen wichtige Gesichtszüge der klassischen Mechanik Newtons, denn beide Theorien sind kausal-deterministische Theorien: Nach Laplace kann in der klassischen Mechanik zumindest theoretisch, wenn die Anfangsbedingungen eines Systems bekannt sind, jeder mögliche Zustand und damit das ganze zukünftige Geschehen eines Systems – im Grenzfall auch der Welt – vorhergesagt werden, da der Lauf der Dinge in den Anfangsbedingungen grundgelegt ist.29 Kennt man von einem mechanischem System, etwa von allen Lottokugeln in einer Lostrommel und von der Lostrommel selbst, zu einer bestimmten Zeit ihren Aufenthaltsort sowie ihren Impuls, d. h. ihre Masse und ihre Geschwindigkeit, lässt sich theoretisch ihr Verhalten in der Zukunft exakt vorausbestimmen. Dies ist möglich, da die genannten Größen, Ort und Impuls (Masse und Geschwindigkeit), jedes mechanische System vollständig beschreiben. Während in dieser klassischen Mechanik Raum und Zeit selbst nicht veränderbar sind, sondern den Hintergrund der materiellen Abläufe darstellen, ändert sich dies in der SRT und ART. Raum und Zeit sind hier keine Konstanten, sondern sind als vierdimensionale Raumzeit abhängig von der Masse und Geschwindigkeit eines Systems. Damit wird aber nicht der grundsätzliche Determinismus, die Bestimmtheit der Ereignisse, in Frage gestellt. Als neue Konstante dient die Lichtgeschwindigkeit, mit deren Hilfe sich Bestimmungen verschiedener Systeme durch die Lorentztransformationen ineinander abbilden lassen. Dies verschärft den Gedanken der Determination letztlich noch: Nicht nur durch die Anfangsbedingungen ist ein System vorherbestimmt, sondern durch die vollständige Kenntnis eines Systems zu einem Zeitpunkt ließe sich theoretisch beschreiben, wie es sich zu jedem anderen Zeitpunkt verhält. Einstein selbst war dann auch der Ansicht, dass sich Vergangenheit und Zukunft mehr ähneln, als man normalerweise annimmt: Vergangenheit und Zukunft liegen beide fest, die Zukunft ist nicht offen.30 In der Quantentheorie, die als erste physikalische Theorie nicht primär einem einzelnen Wissenschaftler zugesprochen werden kann, sondern ein erstes großes Gemeinschaftsunternehmen von Wissenschaftlern ist, wird der Gedanke der vollständigen ursächlichen Bestimmtheit verlassen. 29 Vgl. Laplace, P.S., Trait¦ de M¦chanique Celeste, IV,10. 30 Vgl. Einstein, A., EA; Mìhling, M., Einstein und die Religion, Nr. 07 – 245.00; 94, 347 f.

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Zur Beschreibung der kleinsten Bausteine der Materie, der Quanten, seien es Lichtquanten (Photonen), Elektronen oder noch kleinere Einheiten, sind die Modelle von Teilchen und Welle nötig, ohne dass sich eines auf das andere reduzieren ließe. Beide Modelle verhalten sich nach einer Bezeichnung Niels Bohrs „komplementär“. In der popularwissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche Beispiele, deren Sinn es ist, uns diese unanschauliche Vorstellung vom Allerkleinsten anschaulicher zu machen. Oft enden diese Versuche im Gegenteil: Der naturwissenschaftliche Laie staunt, kommt aber letztlich nicht zum Verständnis, sondern glaubt auf die Autorität der Naturwissenschaftler hin. Dabei geht die Pointe der Quantentheorie verloren: Mathematisch lässt sich mit den Modellen exakt rechnen. Die Quantenwelt ist grundsätzlich unanschaulich, aber nicht unverstehbar. Das Verständnis bleibt freilich ein abstraktes Verständnis. Hier soll daher – von einem naturwissenschaftlichen Laien – der Versuch unternommen werden, zu diesem Verständnis anhand eines Beispiels einen Beitrag zu liefern. Wesentlich zum Verständnis der Quantentheorie ist die Kenntnis der „Unbestimmtheitsrelation“ Werner Heisenbergs. Mehr als die Kenntnis der Grundrechenarten ist dazu in unserem Zusammenhang nicht nötig. Wir sagten, dass in der klassischen Mechanik die Kenntnis des Aufenthaltsortes sowie die Kenntnis von Masse und Geschwindigkeit („Impuls“) ein System wie eine Lottotrommel vollständig bestimmt. Dies ist auch in der Quantenwelt nicht anders. Der Zustand eines Quantensystems zu einem Zeitpunkt ist ebenfalls von Ort und Impuls (Masse mal Geschwindigkeit) bestimmt. Wichtig ist nun, dass sich diese Größen in der Quantenwelt in folgender Ungleichung zueinander verhalten: Unbestimmtheit des Aufenthaltsorts Õ Unbestimmtheit des Impulses (Massengeschwindigkeit) Š Planck-Konstante

Multipliziert man die Unbestimmtheit des Aufenthaltsort mit der Unbestimmtheit des Impulses, erhält man immer eine Zahl, die größer oder gleich der Planck-Konstante ist. Diese ist eine Naturkonstante, die selbst einen von Null verschiedenen Zahlenwert hat. Will man den Aufenthaltsort eines Quants nicht nur sehr ungefähr, sondern genauer kennen, gilt es, den Zahlenwert des ungefähren Aufenthaltsortes zu verringern. Das kann man tun, solange das Ergebnis gleich bleibt. Dies geht nur, wenn man den Zahlenwert des anderen Multiplikanten, des ungefähren Impulses erhöht, so dass der Impuls weniger exakt bestimmbar ist. Entsprechendes gilt umgekehrt. Dabei kann weder die Unbestimmtheit des Ortes noch des Impulses völlig verschwinden, denn würde man eine der beiden Größen mit Null multiplizieren, wäre das Ergebnis selbst Null und nicht mehr die Plancksche Konstante. Die Pointe daran ist, dass ein Quantensystem zwar auch durch bestimmte Größen vollständig beschrieben ist, dass aber diese Größen sich nicht exakt bestimmen lassen, sondern unscharf bleiben. Entscheidend ist, dass dies nicht nur eine Beschränkung unserer Erkenntnis sein dürfte, sondern als Bestimmung der

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Wirklichkeit aufzufassen ist. Wenn dies aber für einen Zeitpunkt gilt, ist klar, dass nicht mehr der Zustand aller zukünftigen Zeiten feststeht. Nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit können zukünftige Ereignisse eintreffen. Mit Hilfe der Unbestimmtheitsrelation kann man auch verstehen, was gemeint ist, wenn sich zwei Beschreibungen „komplementär“ verhalten: Beide Modellvorstellungen, also z. B. Teilchen- und Wellenvorstellung, lassen sich zur Beschreibung des Gegenstands nicht aufeinander reduzieren und sind zur Gesamtbeschreibung nötig und verhalten sich umgekehrt proportional: Verringert man Größen, die sich auf die eine Vorstellung beziehen, muss man die Größen, die sich auf die andere Vorstellung beziehen, erhöhen und umgekehrt. Niels Bohr selbst dachte daran, dass dieser Begriff auch jenseits der Physik Anwendung finden könne: So seien Gesellschaften durch mildtätiges Wohlwollen und Gerechtigkeit gekennzeichnet, die sich komplementär verhalten: Versucht man ein Höchstmaß an Gerechtigkeit herzustellen, reduziert man das praktizierte Wohlwollen.31 Ein Höchstmaß an praktiziertem Wohlwollen reduziere die Gerechtigkeit. Die Gültigkeit dieses Beispiels sei dahingestellt. Offensichtlich ist aber der Gedanke von komplementären Zugangsweisen weniger geeignet, das Verhältnis von Glauben und Naturwissenschaft zu beschreiben. Dies hieße nämlich nicht nur, dass sowohl Glaube als auch Naturwissenschaft zur Welterfassung nötig sind, sondern auch, dass ein besonders ausgeprägter Glaube zur Folge hätte, dass weniger Naturwissenschaft nötig ist. Umgekehrt würde eine besonders ausgeprägte Wissenschaftlichkeit den Glauben reduzieren. Ob man aber überhaupt von mehr oder weniger Glauben sprechen kann, ist umstritten und wird aus evangelischer Sicht zu Recht in der Regel abgelehnt. Nach der Quantentheorie wird nicht bestritten, dass Ereignisse andere verursachen, sondern dass Ereignisse andere exakt vorherbestimmen. Voraussagen sind nur auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten möglich. Dies kann zu einer Sicht der Welt führen, in der es echten Zufall geben kann und in der die Zukunft in Grenzen von Wahrscheinlichkeiten offen ist.

3.2.2.2 Das gegenwärtig favorisierte kosmologische Modell Die naturwissenschaftliche Kosmologie behandelt die Frage, wie sich die Materie in Raum und Zeit verhält. Sie nimmt eine Sonderstellung ein. Ihr Forschungsgegenstand, die Welt, kann nämlich nicht in einem Labor experimentell untersucht werden. Aber einzelne Beobachtungen in der Welt lassen Rückschlüsse zu. Das hier vorgestellte Modell, das des sog. „inflationären Universums“, ist experimentell gut bestätigt, aber nicht problemlos. Es setzt die Kenntnis des Standardmodells der Kosmologie voraus und basiert auf den 31 Vgl. Bohr, N., Atomfysik og menneskelig erkendeslse, 56 – 99.

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beiden großen physikalischen Theorien des 20. Jh., der ART und der Quantentheorie. Das Standardmodell32 rechnet damit, dass die Welt vor einer endlichen Zeit aus einer „Singularität“, in der es keinen Sinn macht, von Raum und Zeit im uns geläufigen Sinn zu sprechen, explosionsartig in einem „Urknall“ entstanden ist. Seither dehnen sich die vierdimensionale Raumzeit und die Materie in ihr aus. Die Gleichungen lassen dabei mehrere Lösungen zu: Die Raumzeit kann eine positive Krümmung aufweisen, vergleichbar einem dreidimensionalen Luftballon. Sie kann keine Krümmung aufweisen. In diesem Falle wäre sie „flach“, d. h. im Raum unendlich ausgedehnt, vergleichbar einer Ebene. Sie kann letztlich auch negativ gekrümmt sein, vergleichbar einer dreidimensionalen Sattelfläche. Welcher Fall zutrifft, hängt von der Masse des Universums ab, eine entsprechend hohe Masse würde eine positive Krümmung nach sich ziehen, eine entsprechend niedrige eine negative, eine entsprechend ausgewogene ein flaches Universum. Die Ausdehnung in einer positiv gekrümmten Welt würde im Laufe der Zeit zum Stillstand kommen und die Welt würde sich wieder zusammenziehen. Die Ausdehnung in einer „flachen“ Welt käme zum Stillstand und die Ausdehnung in einer negativ gekrümmten Welt würde sich unendlich fortsetzten. Dieses Standardmodell wurde im Prinzip gut bestätigt. Zu nennen wären hier verschiedene Sachverhalte: 1. Zunächst ist die Rotverschiebung der Spektren entfernter Objekte zu nennen, die mit der Expansion des Universums erklärt werden kann. 2. Die aus allen Richtungen des Kosmos wahrnehmbare 3-Kelvin-Hintergrundstrahlung kann als Überbleibsel hochenergetischer Anfangszustände der verdichteten Welt erklärt werden. 3. Die gesamte Heliumhäufigkeit, radiochemische Altersbestimmungen und die Wahrnehmung einer spezifisch anderen Struktur aller entfernten Galaxien (Quasare) lassen sich im Rahmen dieses Modells erklären. 4. Ferner kann die Tatsache der Dunkelheit des Nachthimmels als Resultat von Expansion und endlichem Alter der Sterne gedeutet werden. Wäre die Welt ewig und unendlich, müsste eine unendliche Zahl von Sternen für einen hellen Nachthimmel sorgen (Olbers’sches Paradox).33 Unter den verschiedenen ungelösten Problemen dieses Modells sticht eines hervor: Nach allen Gleichungen dürfte die gegenwärtige Ausdehnung nicht so groß wie beobachtbar sein. Dieses und andere Probleme werden im Modell des inflationären Universums gelöst. Hier wird angenommen, dass zu Beginn die Welt aus einer Quantenfluktuation zufällig aus einem hochenergetischen „Vakuum“ entstand: Nach der Quantentheorie ist es möglich, dass Teilchen spontan aus Energie entstehen können und wieder in Energie übergehen 32 Zum Standardmodell vgl. Evers, D., Raum – Zeit – Materie, 71 – 97. 33 Vgl. Weidemann, V., Das inflationäre Universum, hier 351.

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können. Während heute der materiefreie Raum ein nahezu echtes Vakuum ist, gilt dies für den Anfangszustand der Welt somit nicht. Kurz nach diesem Beginn des Ausdehnungsprozesses der nur Sekundenbruchteile alten Welt kam es aufgrund von Quantenvorgängen zu einer plötzlichen, sprunghaften, „inflationären“ Erweiterung der Ausdehnung. Erst nach diesem Sprung setzte sich die Ausdehnung regelmäßig fort, wie im Standardmodell angenommen. Nach den Gleichungen des Modells des inflationären Universums stellt die uns beobachtbare Welt nur einen winzigen Ausschnitt der gesamten Welt dar, der tatsächliche Horizont ist viel weiter. Die Welt besteht nach diesem Modell aus verschiedenen Bereichen, die nicht aneinander Wechselwirkungen ausüben können und dies auch vor dem inflationären Sprung nie getan haben. Nach den gegenwärtigen Schätzungen der uns beobachtbaren Regionen ist die Masse des Universums eher so niedrig, dass es sich um ein nahezu flaches Universum mit geringfügiger negativer Krümmung handelt und von daher endlos expandieren müsste. Unter dem Modell des inflationären Universums gilt dies streng genommen aber nur für unsere Region. Ob die Krümmung in anderen Regionen gleich ist und ob dort dieselben physikalischen Gesetze herrschen, entzieht sich unserer theoretisch möglichen Kenntnis und kann nur aus Gründen der Einfachheit angenommen werden. Auch das Modell des inflationären Universums ist nicht unproblematisch.34 Die gegenwärtigen Bemühungen der Physiker um eine mathematische Vereinfachung der physikalischen Kräfte, die mit mathematischen Modellen arbeiten, die unsere vierdimensionale raumzeitliche Wirklichkeit als Manifestation einer zehndimensionalen Mannigfaltigkeit verstehen (SuperstringTheorien), dürften, wenn sie erfolgreich sind, auch die kosmologischen Modelle verändern. Allerdings ist bezüglich solcher Theorien auch ein wenig Skepsis angebracht, denn ihr mathematisch-spekulativer Anteil ist bei gleicher Faktenbasis wesentlich höher als im Standardmodell oder im Modell des inflationären Universums. Welche Prognosen erlaubt dieses Modell für die zukünftige Entwicklung der Welt? Wenn es richtig ist, dass wir in einem nahezu flachen Universum leben, das minimal negativ gekrümmt ist, kommt die Ausdehnung des Universums zukünftig nicht zum Stillstand. Die Prognosen über die Zukunft wären dann hauptsächlich vom zweiten Hauptsatz der Wärmelehre (Thermodynamik) abhängig. Er besagt, dass sich Energieunterschiede in geschlossenen Systemen mit zunehmender Zeit ausgleichen. In der Alltagserfahrung finden sich zahlreiche Veranschaulichungen: Ein Tropfen Milch in einer Kaffeetasse bildet zunächst eine hübsche, fest umgrenzte Wolke. Selbst wenn man nicht umrührt, stellt sich nach einiger Zeit eine gleichmäßige hellbraune Färbung ein. Daraus ergibt sich folgende Prognose: Mit zunehmendem Alter der Welt ebnen sich immer mehr Energieunterschiede ein, immer mehr geordnete 34 Vgl. Weidemann, V., Das inflationäre Universum, 356.

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Strukturen nähern sich einem Gleichheitszustand. Konkret heißt dies, dass die Entwicklung neuer Sterne irgendwann abgeschlossen sein wird, und alle Sterne ihren je nach Sternart verschiedenen „Tod“ sterben. Die Kernprozesse hören auf, sie erkalten letztlich. Das ganze Universum wird dunkel; es stirbt den „Wärmetod“. Leben gibt es dann nicht mehr.35 Eine einfache, aber durchaus nicht einfach zu lösende Frage ist: Warum gibt es heute überhaupt eine geordnete Struktur? Nach allen gegenwärtig verwendeten kosmologischen Modellen ist es äußerst schwierig zu verstehen, warum die Welt heute gerade so ist, wie sie ist. Beispielsweise rechnen einerseits alle Modelle damit, dass die Materie gleichmäßig im Kosmos verteilt ist. Näherungsweise wird dies auch bestätigt. Jedoch ist die gleichmäßige Verteilung immerhin so ungleichmäßig, dass die Materie in Galaxien und deren Sternensystemen gebündelt erscheint: Die Welt hat eine „körnige“ Struktur. Andererseits hätten auch nur geringfügig andere Anfangsbedingungen und andere Werte der Naturkonstanten nicht zu unserer Welt geführt. Die Existenz geordneter Strukturen im Kosmos – chemische Elemente, Sterne, Planeten, anorganische und organische Strukturen und letztlich die Existenz des Lebens – geht so einerseits auf ganz spezielle Anfangsbedingungen zurück und andererseits auf eine Reihe faktischer, aber unwahrscheinlicher Abweichungen von der gleichmäßigen Entwicklung der Welt (sog. „Symmetriebrüche“).36 Zurzeit gibt es noch keine allgemein anerkannte naturwissenschaftliche Theorie, die erklären könnte, wieso es immer wieder zu neuen Ordnungen kommt. Die Forschungen Ilya Prigogines versuchen, innerhalb der Thermodynamik auch ein Prinzip zuzulassen, das spontan Ordnung aus dem Chaos entstehen lässt. Der Gedanke einer Evolution zu immer komplexeren Formen der Dinge und des Lebens kommt ohne solche Annahmen letztlich nicht aus. Innerhalb der Biologie versucht man auch die Möglichkeit zu durchdenken, inwiefern es zu einer „Selbstorganisation“ des Lebens kommen kann.37 Im letzten Viertel des 20. Jh. zog man zur Erklärung der Gesamtheit dieser unwahrscheinlichen Zufälle oft verschiedene Spielarten des „anthropischen Prinzips“ heran. Es besagt in seiner schwachen Version: „Weil es intelligentes Leben im Kosmos gibt, muss das Universum so beschaffen sein, dass die Entstehung von intelligentem Leben möglich ist.“ Die starke Variante lautet: „Das Universum muss so beschaffen sein, dass es intelligentes Leben notwendigerweise hervorbringt.“ Das finale anthropische Prinzip sagt schließlich: „Das Universum ist so beschaffen, dass es intelligentes Leben hervorbringt, das, sobald es entstanden ist, nicht vergeht, sondern Macht über alle physikalischen Mechanismen des Universums erhalten wird.“38 Das an35 36 37 38

Vgl. Evers, D., Raum – Zeit – Materie, 336 ff. Vgl. Weidemann, V., Cosmology. Vgl. Jantsch, E., Selbstorganisation. Vgl. Barrow, J.D./Tipler, F.J., The Anthropic Cosmological Principle.

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thropische Prinzip zeigt deutlich, inwiefern die Kosmologie zwischen Naturwissenschaft und philosophischer Spekulation steht. Die schwache Variante scheint banal zu sein, sagt sie doch nicht mehr als: „Die Welt ist so, wie sie ist, weil sie so ist, wie sie ist“. Nicht zu unterschätzen ist aber, dass damit übermäßigen mathematischen Spekulationen, die zwar nicht mehr an Beobachtungen überprüfbar sind, aber den Anspruch erheben, Modelle zur Erklärung der Welt zu sein, ein Riegel vorgeschoben wird. Gegenwärtig erscheinen derart viele Werke über „naturwissenschaftliche“ Kosmologie, die mathematische Modelle von Paralleluniversen, unendlichen Regressen von sich ausdehnenden, zusammenfallenden und sich wieder ausdehnenden Welten nicht nur postulieren, sondern errechnen, dass sie keinen Fortschritt der Wissenschaft bedeuten. Zum einen ist die entsprechende Masse an Veröffentlichungen ganz pragmatisch nicht mehr aufnehmbar, zum anderen beruht die Vielzahl der Modelle und Theorien gerade darauf, dass der Anteil an überprüfbaren Fakten gering ist, so dass die erheblichen Lücken eben auf vielfältige Weise gestopft werden können. Die schwache Variante des anthropischen Prinzips erweist sich so als nicht naturwissenschaftliches, sondern als philosophisches Prinzip, das die Grenzen der Wissenschaftlichkeit der Kosmologie markiert. Die starke Variante ist schon eine rein philosophische These, die personales Leben im Kosmos, wie den Menschen, in eine zeitlich ausgezeichnete Stelle, gewissermaßen in den Mittelpunkt stellt. Im finalen anthropischen Prinzip schließlich ist der Schritt zur Weltanschauung offen vollzogen.

3.2.3 Vergleich Hier soll nun nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den Annahmen des Schöpfungsglaubens und den naturwissenschaftlichen Aussagen über die Welt gesucht werden. Entscheidend wird dabei nicht sein, ob es einen mehr oder weniger großen Bestand von ähnlichen Ansichten gibt, sondern dass wichtige Ansichten miteinander vereinbar sind und sich damit nicht widersprechen. Naturwissenschaft: – Es gibt echten Zufall. – Die Zukunft ist offen. – Einige welthafte Dinge sind Ursache anderer welthafter Dinge.

Glaube: – Die Welt ist freie Gabe Gottes. – Gott handelt an und in der Welt. – Gott und welthafte Dinge arbeiten bei der Gestaltung der Welt zusammen. – Zukünftiges Geschehen ist nicht fest vorherbestimmt.

Die Naturwissenschaften sagen nichts darüber aus, dass die Welt personal auf Gott bezogen ist. Sie können die Welt nicht als Ergebnis eines freien Handelns

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Gottes auffassen und sie können im Lauf der Welt keine Zusammenarbeit von Gott und Mensch oder anderen Kreaturen erblicken. Aber diese Aussagen des Glaubens widersprechen der natürlichen Sicht der Welt auch nicht: Wenn es echten Zufall gibt und die Zukunft weitgehend offen ist, ist es möglich, dass die Welt als freie Gabe Gottes gesehen wird und Gott an und in ihr handelt. Damit wird nicht die Zufälligkeit in der Welt ersetzt: Nicht alles, was zufällig ist, ereignet sich, weil Gott es will. Zu sagen, dass im eigenen Erleben Gott hier oder da gehandelt hätte, bleibt nach wie vor schwierig. Ebenso ist es schwierig, anzunehmen, dass die Zufälle, die immer wieder neue Ordnungen erscheinen ließen – Atome, anorganische Verbindungen, organische Verbindungen und schließlich die verschieden Arten des Lebens – direktem göttlichem Handeln zuzuschreiben sind. Vielleicht kann man aber sagen, dass Gott die Ordnung der Welt einschließlich ihrer Zufälle für seine Zwecke nutzbar machen kann. Naturwissenschaft: Glaube: – Die Welt ist in einem „Urknall“ entstanden, – Die Welt ist geschaffen, aber ohne aus einer Singularität, raum- und zeitlos. welthafte Voraussetzungen.

Die Erklärung der Entstehung der Welt im Standardmodell der Kosmologie oder im Modell des inflationären Universums ist vereinbar mit der Annahme, dass die Welt von einem personalen Wesen voraussetzungslos geschaffen ist. Aber die „Urknall“-Modelle können nicht einfach als positive Bestätigung der Schöpfung ohne welthafte Voraussetzungen verstanden werden. Die Kosmologie nimmt an, dass die Welt endlich alt ist, und Raum und Zeit selbst entstanden sind. Schon Augustin vertrat in seinen „Bekenntnissen“ im 11. Buch die Ansicht, dass Raum und Zeit selbst geschaffen seien und es somit sinnlos sei zu fragen, was vorher gewesen sei.39 Dennoch gibt es einen wichtigen Unterschied: Das inflationäre Modell rechnet damit, dass es am Anfang ein Vakuum gab. In diesem Vakuum mag zwar nicht zwischen räumlichen und zeitlichen Abläufen unterschieden werden, und es gab nichts Materielles. Aber dieses Vakuum wird als hochenergetisches Vakuum gedacht, und Energie ist ein fest definierter Begriff und durchaus „etwas“. Widerspricht dies der Annahme, Gott habe die Welt nicht aus etwas geschaffen? Dies wäre in der Tat dann so, wenn man den „Urknall“ oder die erstmalige Entstehung der Welt aus einer Vakuumfluktuation mit dem Moment desjenigen schaffenden Handelns Gottes identifiziert, dem sich die Welt verdankt. Das muss man aber nicht so sehen. Wichtig am Schöpfungsgedanken ist ja, dass Gott ohne Voraussetzungen handelt. Über Ursachen und Voraussetzungen eines urzeitlichen, mit Energie geladenen Vakuums können wir aber prinzipiell keine Aussagen machen. Das heißt aber nicht, dass dieses hochenergetische Vakuum wirklich wie Gott voraussetzungslos und „ewig“ ist, denn es kann von Gott geschaffen sein, ohne dass wir dies erkennen können. Die gegenwärtigen kosmologischen 39 Vgl. Augustinus, A., Conf., 11, XII,14.

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Gabe oder Gegebenheit?

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Modelle lassen den Glauben an einen Schöpfer der Welt zu; sie lassen aber auch den Glauben an die Ewigkeit der „Materie“ bzw. von Energie zu. Naturwissenschaft: – Es gibt Leben, das die Welt erkennen kann, weil die Welt so beschaffen ist, dass dies möglich ist (anthropisches Prinzip).

Glaube: – Die Erkennbarkeit der Welt ist für uns eine Gabe Gottes, wie die Welt selbst.

Die schwache Form des anthropischen Prinzips schließt aus, dass unsere Wahrnehmung der Welt nur ein Konstrukt von uns ist und garantiert den Wirklichkeitsbezug der Erkenntnis. Dies stimmt mit der Annahme überein, die Erkennbarkeit der Welt sei in Gestalt des Logos eine Gabe ihres Schöpfers. Freilich geht diese Annahme darüber hinaus, indem auch hier die Erkennbarkeit nicht als bloße Gegebenheit, sondern als Geschenk verstanden wird. Naturwissenschaft: Glaube: – Die Entwicklung der Welt verläuft – Der Lauf der Welt ist auf ein nichtweltliches „blind“. Ziel bezogen: die Vollendung des „Reiches – Prognose: Die Welt stirbt einen Gottes“. „Wärmetod“.

Aus der Sicht des christlichen Glaubens ist die Zukunft zwar offen, insofern keine Ereignisse exakt vorherbestimmt sind, aber die Welt entwickelt sich doch durch das Zusammenwirken Gottes und seiner Geschöpfe in Richtung auf ein gutes Ziel. Freilich ist dieses Ziel nicht einfach ein innerweltliches Ziel. Traditionell wird entweder von der nicht aus welthaften Bedingungen vorhersagbaren Verwandlung der Welt oder in der orthodoxen lutherischen Dogmatik sogar von ihrer nicht aus welthaften Bedingungen vorhersagbaren Vernichtung gesprochen. Damit ist auch die Annahme eines innergeschichtlichen Fortschrittsprogresses aus christlicher Sicht nicht unbedingt angemessen. Die Entwicklung der Welt aus der Sicht der Evolutionstheorie strebt keinem Ziel entgegen, und aus Sicht der Thermodynamik scheint der Welt der trostlose „Wärmetod“ bevorzustehen. Ist diese Prognose vereinbar mit der christlichen Hoffnung? Auch wenn es zunächst den Anschein haben mag, diese Prognose sei unvereinbar mit der christlichen Hoffnung, ist dies bei genauerem Hinsehen nicht so. Denn die Hoffnung auf die Erreichung des Ziels selbst, das mit Metaphern wie der „Vollendung des Reiches Gottes“ beschrieben werden kann, hat freilich geschenkhaften Charakter und kann nicht durch Beobachtung des Laufs der Welt erwartet werden. Aus der Sicht des Glaubens überrascht es dann nicht, wenn aus rein natürlicher Sicht kein positives Ziel erkennbar ist. Der Preis, der für diese Annahme zu zahlen ist, ist folgender : Die Hoffnung, dass die Welt bzw. das Reich Gottes vollendet werden wird, ist die Hoffnung auf ein spezielles Handeln Gottes.

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3.2.4 Die Gottesfrage Von einzelnen Streitfällen abgesehen sind die derzeitige naturwissenschaftliche Weltauffassung und christliches Wirklichkeitsverständnis miteinander vereinbar. Das war nicht immer so. Das mechanische Naturverständnis des 19. Jh., das Zufälle weitgehend ausschloss, war für die Theologie weitaus problematischer. Allerdings wurde von Seiten der Theologie damals auch weniger ein Dialog mit den Naturwissenschaften angestrebt. Geschah dies doch, war man zu weitgehenden Veränderungen in den inhaltlichen Darstellungen des christlichen Glaubens gezwungen. Der christliche Glaube an den dreieinigen Gott, der seine Geschöpfe in freier Absicht geschaffen hat und sie in ihrem Leben treu begleitet, geht aber auch deutlich über die wissenschaftliche Weltauffassung hinaus und kann nicht notwendig aus ihr abgeleitet werden. Dies gehört geradezu zum Wesen des Glaubens, weil sich Gott letztlich entgegen weltlicher Erwartung verborgen im Kreuz offenbart. Man kann auch nicht sagen, dass die Naturwissenschaften als Naturwissenschaften die Frage nach Gott als Ursprung, Ziel und Sinn der Welt stellen. Dennoch bringt die Arbeit von Naturwissenschaftlern diese oft zu religiösen Fragestellungen. Gibt es also einen Weg von der Erfassung der Natur zur Erkenntnis Gottes? In der Tat gibt es Ende des 20. Jh. wieder vermehrt solche Versuche. Der britische Religionsphilosoph Richard G. Swinburne meinte,40 die Existenz eines personalen Gott sei sehr viel wahrscheinlicher als dessen Nichtexistenz. Er versucht dafür auch einen Beweis zu liefern, dessen Gedankengang sich einfach umschreiben lässt: Die mannigfachen verschiedenen Strukturen von Ordnung in den vielen Dingen der Welt sind sehr kompliziert. Es stellt sich dann folgendes Dilemma: Entweder gibt es einen Gott, der in der Lage ist, die Vielfalt der Welt zu schaffen, oder es bestehen viele geordnete Dinge aus sich selbst. Teilt man die Annahme, dass eine einfachere Erklärung einer komplizierteren vorgezogen werden sollte, wird man sehen, dass die Existenz Gottes wahrscheinlicher als dessen Nichtsein ist. Solche Überlegungen führen nun nicht direkt zum christlichen Glauben, aber sie können vielleicht veranschaulichen, warum viele Naturwissenschaftler, auch wenn sie keine Christen sind, sich als religiös bezeichnen oder den Glauben an einen personalen Gott nicht für absurd halten. Aus der Sicht des christlichen Glaubens können solche Hinweise nicht ausreichen, um Glauben zu wirken. Nötig ist vielmehr, dass Christen von ihrem Glauben erzählen, dass man in einer Weise sozialisiert ist, die Kontakt zum Evangelium ermöglicht. Aber auch das ist noch nicht ausreichend. Wir entscheiden uns auch nicht, zu glauben oder nicht zu glauben. Zum Glauben 40 Vgl. Swinburne, R., Existence of God.

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an Gott kommt es nur, wenn uns das, was wir hören, als plausibel einleuchtet. Das Christentum sagt nun, dass dies auf das Handeln Gottes des Heiligen Geistes zurückzuführen sei. Der Glaube an Gott wird dem Menschen also passiv erschlossen, denn der Mensch kann ihn aktiv nicht verursachen, weder bei anderen noch bei sich selbst. Hier liegt nun aber überraschenderweise eine Ähnlichkeit zum Erkenntnisweg der Naturwissenschaften vor:41 Die wesentlichen Erkenntnisse der Naturwissenschaften sind die Entdeckungen. Und Entdeckungen kann man nicht planen. Sie stellen sich passiv ein. Erst auf ihrer Basis sind Experimente und Deutungen sinnvoll. So gibt es auch hier eine Entsprechung, die darauf hindeutet, dass die Annahme einer Wirklichkeit richtig ist. Wie aber kann ein solcher Dialog in der Praxis im Detail aussehen? Zunächst einmal ist es naheliegend, die religiösen Voraussetzungen von Wissenschaftlerpersönlichkeiten – und damit deren implizite „Theologie“ – historisch zu erheben.

3.3 Interdisziplinarität als Interreligiosität: Einstein Für die theologische Schöpfungslehre ist der Dialog mit den Naturwissenschaften keine Kür, sondern offensichtlich eine Pflichtübung – zumindest wenn man inhaltlich keine epistemische Annihilationslehre im Rahmen eines gnostizistischen Dualismus vertritt.42 Nicht direkt so offensichtlich mag es erscheinen, dass auch die stellvertretende Aufklärung oder die Selbstaufklärung naturwissenschaftlicher verborgener ontologischer Vorausssetzung – und damit die Explikation des weltanschaulichen Gehalts naturwissenschaftlicher Forschung – für die Naturwissenschaften selbst ein Exzellenzkriterium darstellt, und die Naturwissenschaften insofern selbst an diesem Dialog interessiert sein können. Dennoch ist gerade dieser Aspekt kaum zu überschätzen: Auch Naturwissenschaft besteht aus menschlichem Handeln und ist insofern von unterschiedlichen weltanschaulichen Voraussetzungen getragen. Naturwissenschaftliche Gehalte und religiöse oder quasireligiöse Gehalte naturwissenschaftlichen Forschens sind daher nicht zu scheiden, wohl aber zu unterscheiden. Scheidbar wären sie nur, wenn man davon ausginge, dass es in platonischer Manier so etwas wie „die“ Naturwissenschaft gäbe, die letztlich vom Handeln der Forscher unabhängig wäre, so dass die beteiligten Forscher selbst nur dieser Entität „Naturwissenschaft“ nach-denken. Diese Annahme wäre aber selbst eine weltanschauliche, jedenfalls keine in irgendeiner Weise empirisch oder naturwissenschaftlich testbare Annahme oder Hypothese, so dass ein Selbstwiderspruch vorläge. Sind naturwissen41 Vgl. Herms, E., Offenbarung und Erfahrung. 42 Diese Gefahr besteht bei Barth, U., Kosmologie.

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schaftliche und religiöse Gehalte naturwissenschaftlichen Forschens aber nicht scheidbar, hat dies sofort Konsequenzen: Der interdisziplinäre Dialog ist immer auch ein interreligiöser Dialog – zumindest wenn der Religionsbegriff nicht eingeengt, sondern beispielsweise vor dem Hintergrund von Luthers berühmter Bestimmung des Gottesbegriffs als das, „woran der Mensch sein Herz hängt“43, verstanden wird. Die Fragen, die in diesem Sinne an den interdisziplinären Dialog als interreligiösen Dialog gestellt werden können, sind mannigfach: 1. In welcher Art und Weise sind beide, naturwissenschaftliche und religiöse Gehalte, in einem konkreten Fall relationiert? 2. Welches sind die zu untersuchenden Felder? Weltanschauliche Gehalte können sowohl in Theorien an sich, in Experimetierfeldern, und Forschungsprogrammen implizit oder explizit erscheinen als auch bei einzelnen Forschern oder Forschungsgruppen. 3. Welche Funktionen haben die religiösen Voraussetzungen für die jeweiligen naturwissenschaftlichen Theorien? Hier kann eine kleine Typologie vorgeschlagen werden. Funktionen, die weltanschauliche Voraussetzungen für naturwissenschaftliche Forschung einnehmen können, sind dabei u. a. die Folgenden:44 (1) Gegenstandsselektivität: Weltanschauliche Voraussetzungen können die Wahl des Gegenstandbereichs, um den es gehen soll, begünstigen oder verursachen. (2) Methodenselektivität: Weltanschauliche Voraussetzungen können methodenselektiv wirken, indem sie die Entscheidung für oder gegen andere in der Arbeit verwandte Theorien begünstigen oder verursachen. (3) Theorieselektivität: Weltanschauliche Voraussetzungen können theorieselektiv wirken, indem sie die Entscheidung für bestimmte und gegen andere in der Arbeit verwandte Theorien begünstigen oder gar kausieren. (4) Experimentalselektivität: Weltanschauliche Voraussetzungen können experimentalselektiv wirken, indem sie die Entscheidung für bestimmte und gegen andere in der Arbeit verwandte Experimente begünstigen oder gar kausieren. (5) Theoriekonstituierend: Weltanschauliche Voraussetzungen können ferner wesentliche, entscheidende oder auch nur ausschmückende Elemente zur Konstitution neuer Theorien beitragen. (6) Theoriekonstitutiv : Weltanschauliche Voraussetzungen können darüber hinaus auch bleibende implizite oder explizite Bestandteile von Theorien bilden, ohne welche diese Theorien nicht denkbar wären. Dieser Sachverhalt ist insofern besonders interessant, als der weltanschauliche Gehalt hier nicht mehr an das spezifische Wirklichkeitsverständnis eines bestimmten Forschers gebunden ist, sondern notwendig bei jedem Wissenschaftler, der fernerhin mit dieser Theorie arbeitet, in irgendeiner 43 Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, BSLK, 560. 44 Ausführlicher finden sich Erklärungen hierzu in Mìhling, M., Einstein und die Religion, 359 – 366.

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Weise erscheinen muss. (7) Historisch-kontingent-heuristisch: Weltanschauliche Gehalte können aber auch nur in dem Sinne theoriekonstituierend wirken, dass sie zur Konstitution einer Theorie führen, die dann aber von diesen weltanschaulichen Gehalten selbst ablösbar ist. Dies dürfte bei Weitem der Normalfall beim Entstehen von Theorien sein. (8) Historisch-kontingentnichtheuristisch: Weltanschauliche Gehalte können auch nicht-theoriekonstitutiv mit Theorien verbunden werden, ohne jemals etwas zur Entstehung der entsprechenden Theorie beigetragen zu haben. In diesem Falle sind sie nicht-theoriekonstitutiv, nicht-theoriekonstituierend und nicht-heuristisch. Sie können dann aber zahlreiche andere Funktionen erfüllen: didaktischkommunizierend, zum Verständnis und zur Kommunikation der Theorie, ästhetisch, um der Theorie eine andere Form zu geben, missionarisch-kommunizierend, um entweder Anhänger für die in Frage stehende Theorie oder gar für die mit ihr verbundene Weltanschauung zu gewinnen etc. (9) Theorieabgrenzend: Weltanschauliche Voraussetzungen können helfen, regionale Theorien von anderen Theorien abzugrenzen. (10) Theorieorganisierend: Weltanschauliche Voraussetzungen können helfen, unterschiedliche Modelle oder Theorien zu Metamodellen oder -theorien zu verbinden. (11) Theorieschärfend: Weltanschauliche Voraussetzungen können helfen, Theorien eine explikativ-begrifflich präzisere Gestalt zu geben. (12) Theoriemodifizierend: Weltanschauliche Voraussetzungen können helfen, Theorien zu verändern. (13) Paradigmenverändernd: Weltanschauliche Voraussetzungen können auch paradigmenverändernd wirken, indem sie zur völligen Aufgabe eines ganzen Theoriekomplexes zugunsten eines anderen führen. (14) Paradigmenbestärkend: Entsprechend können weltanschauliche Voraussetzungen auch ganze Theoriekomplexe stützen und damit helfen, Paradigmenwechsel gerade zu verhindern. (15) Theoriebestärkend: Weltanschauliche Voraussetzungen können auch nur einzelne Theorien oder Modelle stützen und bestärken. (16) Handlungsorientierend-motivierend: Weltanschauliche Voraussetzungen können zu weiterer Forschung hinsichtlich eines bestimmten Gegenstandsbereiches motivierend und anregend wirken. (17) Handlungsorientierend-hemmend: Weltanschauliche Voraussetzungen können umgekehrt auch weitere Forschungsbemühungen in Richtung eines bestimmten Forschungsgegenstandes verhindern. (18) Forschungsgemeinschaftsverändernd: Weltanschauliche Voraussetzungen können zudem partikulare Wissenschaftsgemeinschaften begründen, stärken, abgrenzen oder zu deren Teilung führen. (19) Wirklichkeitsverständnisverändernd: Weltanschauliche Voraussetzungen können auch in ihrer entheoretisierten Form das Wirklichkeitsverständnis, aus dem sie ursprünglich stammen, modifizieren, verändern, bestärken, vertiefen oder gar auflösen, wenn es wieder zu Extheoretisierungen kommt. Die Pointe besteht dabei in folgendem Sachverhalt: Die entsprechende Wirkung hätten die partikularen weltanschaulichen Voraussetzungen nicht, wenn sie nicht mit den entsprechenden partikularen naturwissenschaftlichen Theorien verbunden wären. Streng genommen sind hier

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alle anderen in dieser Liste aufgeführten Funktionen auch noch einmal analog anwendbar. (20) Affektivitätssteuernd: Mit naturwissenschaftlichen Gehalten verbundene weltanschauliche Voraussetzungen tragen auch wesentlich dazu bei, die Lage der Affektivität der mit ihnen kommunizierenden Wissenschaftler zu formieren. 4. Welchem Organisationsgrad gehören die beteiligten religiösen Gehalte an? In den seltensten Fällen wird es sich um eine klassische verfasste Religion, Konfession, Denomination oder auch nur einen expliziten Anschluss an eine bestimmte weltanschauliche Philosophie handeln, wenn es richtig ist, dass die primäre Erscheinungsform religiöser Gehalte im Rahmen naturwissenschaftlicher Forschung die implizite Erscheinungsform sein wird. Naheliegender ist es, davon auszugehen, dass es sich in der Regel um religiöse Mischformen handeln wird, in denen weltanschauliche Voraussetzungen divergenter Herkunft und Traditionen verbunden sind. Am einfachsten dürfte es sein, wenn man sich auf die religiösen Überzeugungen von Forscherpersönlichkeiten bezieht, da der personale Bereich derjenige Bereich ist, in dem sich weltanschauliche Einflüsse relativ gut beobachten lassen. Daher erscheint es sinnvoll, hier ein Beispiel zu wählen: das Beispiel der weltanschaulichen Einflüsse im Falle Albert Einsteins.

3.3.1 Ein Vorurteil über Einsteins Religiosität Bis in die Gegenwart hinein findet sich das falsche Vorurteil, Einstein sei hinsichtlich seiner religiösen Prägung Spinozist gewesen. Man meinte, das pantheistische Wirklichkeitsverständnis Baruch de Spinozas habe Einsteins wissenschaftliche Arbeit geleitet.45 Unterstützt wurde diese Ansicht von Äußerungen Einsteins, die von einer Hochachtung Spinozas berichten, von Gedichten Einsteins auf Spinoza und von Aussagen von Jugendfreunden, man habe zwischen 1903 – 1905 u. a. auch Spinoza gelesen. Dennoch handelt es sich dabei um ein Vorurteil, das nur entstehen konnte, weil man Einsteins Äußerungen zeitlos aufnahm, ohne zu beachten, wann sie entstanden. Einsteins SRT stammt von 1905; aus demselben Jahr stammt seine Arbeit zur Lichtquantenhypothese, die ihm später den Nobelpreis einbrachte. Spätestens 1917 war auch die ART abgeschlossen. Einsteins bekannte Skepsis gegenüber der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, die Einstein gegenüber Max Born mit dem vielleicht bekanntesten, nicht ganz wörtlichen Einsteindiktum, „Der Alte würfelt nicht“46, ausdrückte, beruht auf Einsichten Einsteins von 1909, obwohl dieses Zitat weder den Kern seiner wissenschaftlichen Kritik trifft, noch direkt mit seinen religiösen Überzeugungen in 45 Vgl. zu einer Übersicht der Forschungsgeschichte Mìhling, M., Einstein und die Religion, 23 – 25. 46 Vgl. Einstein an Born am 4. 12. 1926 in ders., Briefwechsel, 154.

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Beziehung steht. Seit der Zeit nach 1917 bis zu seinem Tod war Einstein vor allem mit einer allgemeinen Feldtheorie beschäftigt, die er als Erweiterung und Vervollständigung der ART betrachtete – eine Arbeit, die aber nicht mehr erfolgreich war. All diese Arbeit war nicht von Spinoza beeinflusst. Denn Einstein schreibt in einem Brief an seine zweite Frau, der von 1915 oder 1917 stammt: „Ich habe hier [Heilbronn] fast die ganze Ethik von Spinoza durchgelesen, vieles mit grosser Bewunderung. Kraft hat sehr Recht gehabt, mich auf dieses tiefe Werk aufmerksam zu machen. Ich glaube, es wird eine nachhaltige Wirkung auf mich ausüben.“47

Dieser Brief dokumentiert eindeutig eine Erstbekanntschaft mit Spinozas Werk. Die Erinnerungen des Jugendfreundes hingegen stammen aus der Zeit nach Einsteins Tod. Es ist anzunehmen, dass dieser seine späteren intensiven Diskussionen mit Einstein über Spinoza – sich fälschlich erinnernd – zurückdatierte.48 Alle Äußerungen Einsteins, die Bekanntschaft mit Spinoza erkennen lassen, stammen aus der Zeit nach diesem Brief. Da also Einsteins wissenschaftliche Leistungen zu dieser Zeit im Wesentlichen abgeschlossen waren, können sie nicht von Spinoza beeinflusst sein. Dennoch ist Einsteins wissenschaftliche Arbeit ohne seine religiösen Überzeugungen nicht denkbar – und umgekehrt. Um das sehen zu können, sollen die fünf wichtigsten inhaltlichen Kennzeichen seines religiösen Wirklichkeitsverständnisses genannt werden. Letztlich handelt es sich um mehr als nur fünf Kennzeichen, die auch noch aus anderen als den genannten Traditionen stammen. Eine detaillierte Analyse hat hier aber zu unterbleiben, um nur die Grundzüge vorzustellen.49

3.3.2 Die inhaltlichen Hauptkennzeichen von Einsteins Wirklichkeitsverständnis 1. Die Welt ist der Vernunft des Menschen offenbar : „Ihre Abneigung gegen den Gebrauch des Wortes ,Religion‘ [… ] kann ich wohl begreifen. Ich habe keinen besseren Ausdruck als den Ausdruck ,religiös‘ für dieses Vertrauen in die vernünftige und der menschlichen Vernunft wenigstens einigermassen zugängliche Beschaffenheit der Realität. Wo dieses Gefühl fehlt, da artet Wissenschaft in geistlose Empirie aus. Es schert mich einen Teufel, wenn die Pfaffen daraus Kapital schlagen. Dagegen ist ohnehin kein Kraut gewachsen.“50 47 Einstein, A., CPAE 8, 167. 48 Zu einer genauen Analyse vgl. Mìhling, M., Einstein und die Religion, 218 – 234. 49 Eine umfassendere Darstellung des Wirklichkeitsverständnisses Einsteins findet sich in Mìhling, M., Einstein und die Religion, 314 – 352. 50 Brief v. 1. 1. 1951, Einstein, A., Lettres a Solovine, 102.

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Die Auffassung Einsteins hinsichtlich der prinzipiellen Erschlossenheit der Welt für die Erkenntnis des Menschen begleitet ihn seit seiner Jugend. Er fand sie mannigfach in den „Naturwissenschaftlichen Volksbüchern“ des jüdischen Publizisten Aaron Bernstein (†1884), die Einstein bereits als Jugendlicher verschlang. Diese Einsicht begleitete Einstein zeit seines Lebens und er findet diese Einsicht sofort in seiner wissenschaftlichen Arbeit bestätigt. 2. Medium des Offenbarseins ist das religiöse Genie: „Die religiösen Genies aller Zeiten waren durch diese kosmische Religiosität ausgezeichnet, welche keine Dogmen kennt und keinen Gott kennt, der nach dem Bilde des Menschen gedacht wäre. […] Welch ein tiefer Glaube an die Vernunft des Weltenlaufes und welche Sehnsucht nach dem Begreifen [[wenn auch nur]] eines Abglanzes der in dieser Welt geoffenbarten Vernunft musste in Kepler und Newton lebendig sein […]. Nur wer sein Leben ähnlichen Zielen hingegeben hat, hat eine lebendige Vorstellung davon, was diese Menschen beseelt und [[ihnen die]] Kraft gegeben hat, […] dem Ziele treu zu bleiben.“51

Es mag überraschen, hier Johannes Kepler und Isaac Newton als religiöse Genies genannt zu bekommen. Und letztlich rechnet sich Einstein selbst zu diesen religiösen Genies. In Einsteins Wirklichkeitsverständnis verfestigt sich tatsächlich die Überzeugung, dass die Erschlossenheit der Welt nicht für alle zugänglich ist, sondern nur für das Genie. Dieses zeichnet sich durch Opferbereitschaft auch des persönlichen Lebens für die Sache der Wissenschaft aus. Einstein hat mit dem Geniegedanken 1903 durch die Lektüre Schopenhauers, die ihn nachhaltig bestimmte, Bekanntschaft gemacht. Der Geniegedanke taucht aber nicht sofort nach 1903 in Äußerungen Einsteins auf; dies geschieht erst in den 1910er Jahren. Es bedurfte erst der wissenschaftlichen Erfolge Einsteins, seinem jahrzehntelangen Beharren auf demselben Ansatz seines Forschungsinteresses und der Erfahrung des Scheiterns seines persönlichen Lebens, um dieses Element in seine religiösen Überzeugungen aufnehmen zu können. 3. Der Wille des Menschen ist unfrei: „Ich glaube nicht an die Freiheit des Willens. Schopenhauer’s Wort: Der Mensch kann wohl tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will – begleitet mich in allen Lebenslagen und versöhnt mich mit den Handlungen der Menschen, auch wenn sie mir recht schmerzlich sind. Diese Erkenntnis von der Unfreiheit des Willens schützt mich davor, mich selbst und die Mitmenschen als handelnde und urteilende Individuen allzu ernst zu nehmen und den guten Humor zu verlieren.“52

51 Einstein, A., EA, Nr. 28.117 von 1930, Blatt 4 – 6. 52 Herneck, F., Einsteins Glaubensbekenntnis.

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Eng verbunden mit dem Geniegedanken ist der Gedanke der Willensunfreiheit des Menschen. Auch ihn fand Einstein bei Schopenhauer ausgesprochen. Auch dieser Gedanke findet nicht sofort Aufnahme in Einsteins religiöse Überzeugungen, sondern erscheint etwa zeitgleich mit dem Geniegedanken. Beide stützen sich gegenseitig: Weil des Menschen Wille fundamental unfrei und bestimmt ist, kann er nicht über das Offenbarsein verfügen. Kein Willensakt befähigt dazu, ein entsprechendes Genie zu werden. 4. Alles, was es gibt, muss raumzeitlich eindeutig lokalisiert sein: „Wesentlich für diese Einordnung der in der Physik eingeführten Dinge erscheint ferner, dass zu einer bestimmten Zeit diese Dinge [[eine voneinander]] unabhängige Existenz beanspruchen, soweit diese Dinge ,in verschiedenen Teilen des Raumes liegen‘. Ohne die Annahme einer solchen Unabhängigkeit der Existenz (des ,SoSeins‘) der räumlich distanten Dinge voneinander […], wäre physikalisches Denken in dem uns geläufigen Sinne nicht möglich.“53

Einstein spricht hier den Gedanken der sog. raumzeitlichen Individuation aus. Dieser Gedanke war es primär, der ihn seit den 1920er Jahren die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie kritisieren ließ, nicht aber deren vermeintlicher Indeterminismus und deren wahrscheinlichkeitstheoretische Deutung. Gemäß der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie geschehen in der Welt des Allerkleinsten Prozesse, die eben nicht mehr an einem spezifisch zu bestimmenden Ort zu einer bestimmten Zeit stattfinden. Einstein fand auch die Überzeugung der raumzeitlichen Individuation schon 1903 bei Schopenhauer ausgesprochen. Auch hier experimentiert er zunächst in seiner Wissenschaft mit dieser Annahme. Ab 1909 kommt er zu dem Schluss, dass sich die Quantenphänomene mit Hilfe dieser Annahme deuten lassen müssen. Zusätzlich arbeitet Einstein seit ca. 1907 an der ART, die, wie die FaradayMaxwell’sche Theorie der Elektrodynamik, eine Feldtheorie ist. Voraussetzung zum Funktionieren einer Feldtheorie ist aber die Annahme der raumzeitlichen Individuation von Gegenständen. Indem sich diese Annahme in Einsteins naturwissenschaftlicher Arbeit durch den Erfolg der ART bestätigt, verfestigt sie sich auch in seinem religiösen Wirklichkeitsverständnis – und wirkt zurück auf seine Wissenschaft. 5. Die Naturgesetze sind für alle, immer und an jedem Ort universal gültig: „Die Naturgesetze sind unabhängig vom Bewegungszustande des Bezugssystems, wenigstens falls letzterer ein beschleunigungsfreier ist. […] Ist es denkbar, daß das Prinzip der Relativität auch für Systeme gilt, welche relativ zueinander beschleunigt sind?“54 53 Einstein, A., EA, Nr. 1.151 von 1948, Blatt 2. 54 Einstein, A., CPAE 2, 476, von 1907.

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Die Überzeugung, dass die Naturgesetze immer, überall und an jedem Ort gültig sein müssen, wird von Einstein „Relativitätsprinzip“ genannt, d. h. die Naturgesetze sind universal oder absolut gültig, relativ zu jedem Bezugssystem. Dieser Bedeutungsgebrauch war schließlich auch namensgebend für die Benennung von SRT und ART. Einstein hatte zwischen 1903 und 1905 mehrfach mit diesem philosophischen Gedanken Bekanntschaft gemacht, fand ihn aber am eindrücklichsten bei David Hume ausgesprochen, der ihn auf die Kausalität bezog, und den Einstein unmittelbar vor der Entdeckung der SRT gelesen hatte. Humes Überzeugung, dass die Kausalität immer, überall und für jeden gültig sei, war aber von Hume als natürlicher Glaube (belief) angesehen worden. Hume kontrastierte ihn dann auch mit den „beliefs“ vorrangig der röm.-kath. Kirche, um zu zeigen, dass dieses Universalitätsprinzip trotz seines Glaubenscharakters im Falle der Kausalität sinnvoll, im Falle der Dogmen der römischen Kirche aber nicht sinnvoll sei. Interessanterweise erinnert dieses Universalitätsprinzip an die Definition von Katholizität durch Vinzenz von Lerin, der nur das als „katholisch“ betrachten konnte, was von allen, überall und zu allen Zeiten geglaubt würde. Daher kann man geistesgeschichtlich sowohl bei Humes Universalitätsbehauptung der Kausalität als auch bei Einsteins Universalitätsbehauptung der Naturgesetze von einem „katholischen Relativitätsprinzip“ sprechen. Einstein nun bezog diese Universalität auf die Naturgesetze und er betrachtete die Konstanz der Vakuumlichtgeschwindigkeit als ein solches Naturgesetz. Diese beiden Annahmen waren in der Tat hinreichend, um ihn die SRT 1905 finden zu lassen. Einsteins Leistung war hier mehr oder weniger ein Zufallstreffer, denn die Einsichten der SRT lagen um 1905 herum in der Luft. Das Besondere an Einstein ist aber, dass er die Einsicht, die ihn die SRT hatte finden lassen, sofort universalisierte, und sie ihn ab 1907 zur Arbeit an der ART geführt hat. Auch hier bewährt sich eine weltanschauliche Annahme, mit der Folge, dass sie nun Einsteins Wirklichkeitsverständnis weiterhin als Gewissheit bestimmt. 3.3.3 Der Charakter von Einsteins Religiosität Bei allen fünf Annahmen handelt es sich um nicht-empirische, sondern weltanschauliche Überzeugungen. Einstein nimmt sie in seine naturwissenschaftliche Arbeit auf und lässt sich von ihnen leiten und motivieren. Haben sie sich bewährt, verfestigen sie sich und fließen in modifizierter Form in seine religiösen Überzeugungen zurück, mischen sich jeweils mit neuen Elementen, um erneut in seine naturwissenschaftliche Arbeit zurückzufließen. Dieses Wechselverhältnis zwischen Religion und Naturwissenschaft hat noch mehrere als die genannten fünf Kennzeichen; es beinhaltet auch Gedanken über die Nicht-Personalität Gottes, die Nicht-Personalität auch des Menschen, die Erlösungsfähigkeit des Menschen, personal-eschatologische Vorstellungen bis hin zu Theorien der Entwicklung der Religionen, so dass Einsteins religiöse

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Vorstellungen, die als ein Konglomerat sehr unterschiedlicher Traditionen verstanden werden können, nun maßgeblich für die Deutung aller anderen religiösen Traditionen werden. Obwohl neben den genannten Einflüssen noch eine Reihe anderer Einflüsse vorwiegend philosophischer Traditionen zu Einsteins Patchwork-Religiosität führen, ist Einstein doch auch in der Ausbildung dieser seiner Religion um Geschlossenheit bemüht. Als er in den 1910er Jahren auf Spinoza stößt, findet er hier Gedanken ausgesprochen, die seinem schon unabhängig von Spinoza entstandenen Wirklichkeitsverständnis ähneln, so dass er mitunter seine Religiosität nun als spinozistisch benennen kann – um dabei freilich alles, was sich bei Spinoza findet, nicht aber zu seinen eigenen Überzeugungen passt, konsequent zu ignorieren. Schließlich gibt Einstein seiner Patchworkreligiosität den Namen der „kosmischen Religiosität“. 3.3.4 Einstein als Anwalt religiöser Toleranz? Einsteins Herkunft aus einer säkular-jüdischen Familie spielt für seine Religion genauso wenig eine Rolle, wie sein frühkindlicher, röm.-kath. Religionsunterricht. Seine später gewonnene Patchworkreligiosität bestimmt durch und durch sein wissenschaftliches Arbeiten, sein privates Leben und seine öffentlichen Äußerungen. Einstein geht bewusst mit Religionen um und hat eine hohe Achtung vor ihnen. Die wissenschaftliche Theologie aber kann er nur als Pseudowissenschaft werten, und sie stößt auf sein Desinteresse – denn seine naturwissenschaftliche Arbeit wird zu seiner Theologie. Aus der Sicht des 21. Jh., in dem religiöse Konflikte in pluralistischen Gesellschaften an der Tagesordnung sind, kann man fragen, wie Einsteins starke Betonung der Religion zu bewerten ist. Einstein ist religiösen Traditionen gegenüber tolerant, auch dann, wenn er sie für falsch hält. Diese Toleranz kommt nicht aus einer Gleichgültigkeit. Sie kommt auch nicht durch eine Marginalisierung der Religion als vermeintliche Privatsache zustande. Diese Positionen werden von Einstein vielmehr abgelehnt. Seine Toleranz fließt aus dem inhaltlichen, noch ganz im 19. Jh. verwurzelten und uns wahrscheinlich befremdlich erscheinenden Gedanken, dass nur dem Genie die Offenbarung offensteht, es aber menschlichem Handeln und Wollen entzogen ist, ob man ein solches Genie sein kann. Dies ist die Herkunft von Einsteins Toleranzdenken. Der christliche Glaube wird sich nicht ungebrochen auf Einstein beziehen können. Zu groß sind die inhaltlichen Differenzen. An mannigfachen Stellen wird man Einstein dezidiert widersprechen müssen. Aber es gibt strukturelle Gemeinsamkeiten: Wie Einstein geht der christliche Glaube davon aus, dass religiös-weltanschauliche Gewissheiten unser gesamtes Handeln beeinflussen, sei dies wissenschaftliches, persönliches oder öffentliches Handeln. Und wie Einstein kennt auch der christliche Glaube ein inhaltliches Toleranzprinzip. Dies besteht freilich nicht im Gedanken des religiösen Genies. Sondern es besteht in der Einsicht, dass alle Sozialisationsleistungen, die Christen

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vollbringen können und denen sie ausgesetzt sind, nie ausreichend für die Konstitution christlicher Glaubensgewissheit sind. Dazu bedarf es des gewissheitsschaffenden Handelns Gottes des Heiligen Geistes in den Herzen der Menschen. Dies ist der inhaltliche Ursprung christlicher Toleranz in der pluralistischen Situation gegenüber mehr oder weniger festen anderen religiösen Traditionen wie auch gegenüber mehr oder weniger kohärenten Patchworkreligiositäten – auch gegenüber Einsteins kosmischer Religion. Die Untersuchung der religiös-weltanschaulichen Voraussetzungen des Naturwissenschaftlers Albert Einstein zeigt somit, dass sie direkt zum interreligiösen und inter-ethischen Dialog führt – und damit, dass ein theologischer Beitrag zum interdisziplinären Dialog auch immer ein Beitrag zum interreligiösen Dialog sein wird.

3.4 Quantentheorie, Gott und Gebet Nicht nur die historische Erforschung der Wirklichkeitsverständnisse von Naturwissenschaftlern im Rahmen eines interdisziplinären Dialogs als interreligiösem Dialog ist von Interesse. Wichtiger noch ist für die Theologie die Frage, welche inhaltliche Relevanz naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse für die Systematische Theologie selbst haben können und in welcher Weise. Wichtig ist für diese Frage, dass man den Dialog inhaltlich bestimmt führt und sich nicht im Formellen verliert. Auch dazu sei hier ein Beispiel geboten. Es fragt, welche Bedeutung die Quantentheorie für die Theologie besitzen kann. Genauer soll gezeigt werden, dass mithilfe der Quantentheorie eine wichtige theologische Streitfrage – die Frage, ob von Gott im Rahmen einer theologischen Systembildung ontologisch gesprochen werden kann – in ein neues Licht gesetzt wird und einer Problemlösung zugeführt werden kann. Das Interesse ist hier also ein primär theologisches.

3.4.1 Ist Gott keine Entität? Eine breite Tradition der Theologie des 20. Jh. verneint mehr oder weniger sachlich begründet die Frage, ob Gott, der „alles bestimmenden Wirklichkeit“55, Gegenständlichkeit zuzusprechen sei. Man sagt, Gott könne nicht „verobjektiviert“ oder „begriffen“ werden.56 Es kommt nun sehr darauf an, was man unter einem Gegenstand versteht, wenn man verstehen will, was mit 55 Vgl. Bultmann, R., Welchen Sinn, und Pannenberg, W., Wissenschaftstheorie und Theologie, 304. 56 Vgl. u. a. Bultmann, R., Welchen Sinn; Moltmann, J., Geist des Lebens, 45. Vgl. aber anders Dalferth, I.U., Existenz Gottes und christlicher Glaube.

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dieser Frage oder ihrer Beantwortung gemeint sein kann. Das Gewicht dieser Frage wird deutlich, wenn man auf den Vollzug der Frömmigkeit achtet: Christen beten zu Gott. Geht man davon aus, dass es sich beim Gebet um einen Kommunikationsvorgang handelt, in dem die oder der Betende ein Gegenüber anredet, setzt dies voraus, dass dieses Gegenüber gerade als „Objekt“, als von der oder dem Betenden unterschiedener „Gegenstand“ verstanden werden kann. Wir werden daher die Frage stellen, was „Gegenstände“ sind, in welcher Weise von Gott als Gegenstand geredet werden kann und welche Konsequenzen dies für den Vollzug der Frömmigkeit hat. Eingangs sollen einige Begriffsfestlegungen getroffen werden: Wir bezeichnen die Frage nach der Gegenständlichkeit als Frage nach der Individuation57 und die Frage, wodurch die Gegenständlichkeit zustande kommt, als die Frage nach dem Individuationsprinzip. Diese Frage lässt sich in zwei, allerdings äquivalente, Teilaspekte auffächern: Ein Gegenstand muss als Gegenstand mit sich identisch sein, und ein Gegenstand muss als Gegenstand von anderen Gegenständen unterschieden sein. Von der Frage nach dem Individuationsprinzip zu unterscheiden ist die Frage nach dem Identifikationsprinzip, in der gefragt wird, wodurch Gegenstände für uns als solche erkennbar sind. Ein Gegenstand ist somit etwas, das mit sich selbst identisch und von anderem unterschieden ist. Gegenständlichkeit oder Individuation bedeutet, dass etwas mit sich selbst identisch und von anderem unterschieden ist. Das Individuationsprinzip gibt an, warum ein Gegenstand von anderen unterschieden und mit sich selbst identisch ist. Das Identifikationsprinzip gibt an, auf welcher Grundlage ein Gegenstand für uns als solcher identifizierbar ist. Welche Gründe in den verschiedenen Konzeptionen der Gotteslehre des 20. Jh. konkret zur Ablehnung der Rede von Gott als Gegenstand führen, lässt sich natürlich nicht pauschal beantworten. Hier bestünde ein Desiderat der Forschung. Soweit es sich nicht einfach um eine Argumentationsweise zur Wahrung der Unverfügbarkeit Gottes handelt, lässt sich aber eine Vermutung aussprechen. Die Philosophie der Neuzeit bis etwa in die 20er Jahre des 20. Jh. begriff die raumzeitliche Lokation von Gegenständen nicht lediglich als Identifikationsprinzip, sondern als zumindest notwendige Bedingung der Gegenständlichkeit.58 Viele Theologen haben sich nun dieser Sichtweise angeschlossen, so dass es unter diesen Umständen konsequent ist, von Gott nicht als von einem Gegenstand zu sprechen, sofern Gott nicht konstitutiv Raumzeitlichkeit zugesprochen werden kann. Dies wird u. a. besonders bei Schleiermacher deutlich, der räumliche und 57 Das Individuationsproblem spielte im Mittelalter eine große Rolle, vgl. u. a. Gracia, J.J.E., Individuation in Scholasticism: The later Middle Ages and the Counter-Reformation, 1150 – 1650. 58 Vgl. z. B. Locke, J., Essay Concerning Human Understanding, II, 27, n.3; Kant, I./Weischedel, W., KrV, B 197; Bd. 3, 201; z. T. auch Strawson, P.F., Einzelding.

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vor allem zeitliche Relationen explizit als Individuationsprinzip versteht.59 Die Besonderheit der Schleiermacher’schen Konzeption besteht freilich darin, dass diese raumzeitlichen Relationen keine einfachen, nicht mehr weiter auf andere Konzeptionen zurückführbaren Konzepte sind, sondern nur die Modi, die dafür nötig sind, dass sich reziproke Wirkungen, d. h. Kausalität, vollzieht. Gegenstände des Naturzusammenhangs bzw. der Wirklichkeit sind dadurch ausgezeichnet, dass sie sowohl Ursachen als auch Wirkungen in Kausalitätsrelationen sind.60 Genau dies ist bei Gott aber nicht der Fall, dessen Wesen geradezu darin besteht, immer nur Ursache in einer solchen Kausalitätsrelation zu sein. In Analogie zur Zeit als Modus der Wirklichkeit ist der Modus Gottes damit die Ewigkeit.61 Unter diesen Bedingungen kann Gott nicht als Gegenstand bezeichnet werden. Man kann somit sagen: Unter der Voraussetzung, dass raumzeitliche Lokalisierbarkeit grundlegendes Identifikationsprinzip ist und dass gleichzeitig Identifikationsprinzip und Individuationsprinzip als identisch anzusehen sind, ist die Rede von Gott als Gegenstand nicht sinnvoll. Diese Voraussetzung scheint ein ontologisches Merkmal der Neuzeit zu sein. Im Folgenden soll diese Voraussetzung überprüft werden.

3.4.2 Gegenständlichkeit jenseits raumzeitlicher Individuation Die genannte Voraussetzung ist logisch in sich nicht widersprüchlich. Allerdings ist der Zusammenhang von Identifikation und Individuation der einer Implikation, nicht aber einer Äquivalenz, geschweige denn einer Identität: Alles, was identifizierbar ist, ist auch individuiert, aber nicht alles, was individuiert ist, ist auch für jemanden identifizierbar. „Geologische“ Formationen auf nichtsolaren Planeten mögen existieren und daher individuiert sein, auch wenn niemand davon weiß oder sie als solche identifizieren kann. Wenn die genannte Voraussetzung als Allaussage immer gilt, kann von Gott nicht als Gegenstand gesprochen werden, falls Gott raumzeitliche Relationen übersteigt. Als Allaussage ist die genannte Voraussetzung eine ontologische, keine naturwissenschaftliche Aussage. Aber sie ist naturphilosophisch überprüfbar : Wenn es im Bereich der Natur Erscheinungen gibt, die zwar raumzeitlich wahrnehmbar, d. h. identifizierbar, sind, deren Individuation selbst aber nicht raumzeitlich ist, wäre die Voraussetzung falsifiziert. Lässt sich hier ein Beispiel für empirisch-überprüfbare Sachverhalte finden, deren Gegenstände raumzeitlich identifizierbar sind, aber nicht raumzeitlich individuiert sein können, so ist die genannte Voraussetzung der Identität von Individuation und Identifikation falsifiziert. 59 Vgl. die bei Trowitzsch, M., Zeit zur Ewigkeit, 107, angegebenen Belege. 60 Vgl. Trowitzsch, M., Zeit zur Ewigkeit, 111. 61 Vgl. Trowitzsch, M., Zeit zur Ewigkeit, 112.

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Die entsprechenden Beispiele finden sich in einigen Grundsachverhalten einer empirisch gut bestätigten Theorie, die mittlerweile viele praktische Anwendungen ermöglicht hat: der Quantentheorie62. Wir betrachten im Folgenden drei Beispiele. 3.4.2.1 Erstes Beispiel: Unbestimmtheitsrelation und Gegenständlichkeit Zunächst seien einige Grundcharakteristika von Quantenentitäten genannt: Klassisch sind Teilchen durch Eigenschaften63 wie Masse m, räumliche x (z. B. die Länge s) und zeitliche t Lokalisation, Geschwindigkeit v bzw. Impuls p=mv, Beschleunigung a=v/t, Kraft F=ma etc. gekennzeichnet. Für Wellen charakteristisch sind u. a. Frequenz m und Wellenlänge k. Zur Beschreibung von Quanten ist es nun nötig, beide Modellvorstellungen zueinander in Beziehung zu setzen. Dies geschieht mit Hilfe des Planck’schen Wirkungsquantums h, einer Naturkonstante. Es gelten folgende Verhältnisse, wobei wir uns zunächst an Photonen als Lichtquanten orientieren, d. h. an „strahlungsartigen“ Entitäten, die im Gegensatz zu „materieartigen“ Entitäten keine Ruhemasse besitzen: Ein Lichtquant besitzt die Energie: (1) W=hm Auf diese Weise kann Licht mit Hilfe der Lichtquantenvorstellung quasi teilchenartige Struktur zugeschrieben werden. Man löst die Gleichung durch Division durch c2 nach m auf und erhält m=W/c2. Durch Substitution von W gemäß Formel (1) erhält man m=hm/c2. Da für die Wellenlänge des Lichts k=c/m gilt, erhalten wir durch weitere Substitution schließlich: (2) m=h/ck Auf ähnliche Weise lässt sich dem Quant ein Impuls p=mv zuordnen. Da die Geschwindigkeit des Lichts vLicht=c ist, erhalten wir als Impuls p=mc. Durch Multiplikation von Gleichung (2) mit der Lichtgeschwindigkeit c folgt daher : (3) p=h/k Louis Victor de Broglie64 schlug nun 1923/24 vor, dass jegliche Materie im Sinne von Gleichung (3) quantenhaft verstanden werden könne, so dass entsprechenden, als Teilchen bekannten Entitäten wie Elektronen etc., auch Wellencharakter zuzuschreiben ist, was sich durch Interferenzexperimente nachweisen lässt. Im Prinzip lassen sich die bisher genannten Gleichungen zu diesem Zweck leicht umformen. 62 Kein entsprechendes Beispiel liefert die Relativitätstheorie. Zu dieser findet sich eine für Theologen hervorragende Einführung in das Zeitverständnis der Relativitätstheorie, verbunden mit einer theologischen Applikation bei Wçlfel, E., Zeit. 63 Vektorielle Größen sind im Folgenden nicht als solche gekennzeichnet. 64 Vgl. Broglie, L.V.d., A Tentatice Theory of Light Quanta; Broglie, L.V.d., Ondes et Quanta.

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Damit kennt man freilich nicht die Partikelverteilung in Raum und Zeit, die sich in dem Wellencharakter der Materie wiederspiegeln muss. Es zeigte sich aber bald, dass die Amplitudenquadrate von Wellenverteilungen, die sich durch Überlagerung von Einzelamplituden und Wellenphasen von einzelnen Quanten ergeben, als Wahrscheinlichkeitsverteilungen zu verstehen sind. Sie geben an, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich „Teilchen“ an gegebenen Punkten in Raum und Zeit finden lassen. Erwin Schrödinger stellte 1926 eine Gleichung für eine solche Wellenfunktion (4) x(x,t) auf, aus der sich die Materiefeldamplitude (also die Wahrscheinlichkeitsverteilung) als Quadrat der Amplitude dieser Funktion berechnen lässt. Die sog. Schrödingergleichung für die Wellenfunktion, auf die hier nicht weiter eingegangen zu werden braucht,65 beschreibt das Raum-Zeit-Verhalten der Wellenfunktion. Die folgende Illustration, bei der die Wellenfunktion als Funktion des Ortes aufgetragen ist, möge diese Interpretation und eine zentrale Schlussfolgerung aus ihr, die Heisenberg’sche Unbestimmtheitsrelation, illustrieren.66

Die genannte Wellenfunktion x bestimmt ein „Teilchen“ gewissermaßen als endliches Wellenpaket mit einer Anzahl von n Wellenzügen, wobei das Amplitudenquadrat x2 der Aufenthaltswahrscheinlichkeit entspricht. Dies bedeutet, dass der Aufenthaltsort des „Teilchens“ uns nicht nur unbekannt, sondern tatsächlich unbestimmt ist; man kann lediglich sagen, dass sich das „Teilchen“ in den Bereichen, in denen das Amplitudenquadrat den Wert Null annimmt, mit Sicherheit nicht befindet. Die Grafiken auf der nächsten Seite veranschaulichen dies. Auf der linken Seite finden 65 Vgl. Schrçdinger, E., Quantisierung als Eigenwertproblem, 361 ff. 489 ff; Wichmann, E.H., Quantenphysik, 62 – 65. 66 Die Wellenfunktion als Funktion von Raum und Zeit ist eine komplexe Zahl mit Realteil und Imaginärteil. Im gegebenen Zusammenhang ist diese mathematische Komplikation, die für die Berechnung der Amplitude wichtig ist, aber unwesentlich. In der Abbildung ist eine rein reelle Wellenfunktion gezeigt, bei der das Amplitudenquadrat gleich dem Quadrat der Funktion ist.

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sich drei Wellenfunktionen x, auf der rechten Seite die jeweils dazugehörige Funktion x2 der Aufenthaltswahrscheinlichkeit. Diese Ortsunbestimmtheit Dx entspricht dabei der Länge, die durch die entsprechende Anzahl der Wellenzüge angegeben werden kann. Jeder Wellenzug hat ungefähr eine Wellenlänge k, so dass gemäß (3) gilt: (5)

Dx … nk=nh/p.

Die endliche Länge des Wellenpakets, d. h. die Anzahl n der Wellenzüge, nimmt nun aber mit zunehmenden Dk ab. Von Dk ist die Rede, da die Wellenlänge k nur in reinen Sinuskurven fest definiert ist. Bei endlichen Wellenpaketen ist die Wellenlänge k mit zunehmender Zahl n der Wellenzüge genauer angebbar, mit abnehmender Zahl der Wellenzüge weniger genau. Daher ist eine Wellenlängenunbestimmtheit Dk anzunehmen.67 In den Grafiken wird die Wellenlängenunbestimmtheit also von unten nach oben größer. Dabei wird der Wellenzug kürzer und damit die Ortsunbestimmtheit Dx geringer, während sich allerdings die Wellenlängenunbestimmtheit Dk erhöht. Da aber Wellenlänge k und Impuls p durch die Beziehung k=h/p verbunden sind, erhöht sich in diesem Falle auch die Impulsunbestimmtheit Dp, für die folgende Beziehung gilt: (6) Dp … p/n. Durch Multiplikation der Ortsunbestimmtheit (5) und der Impulsunbestimmtheit (6) sehen wir leicht, dass n und p gekürzt werden, so dass für die Gesamtunbestimmtheit folgende Beziehung, die Heisenberg’sche Unbestimmtheitsrelation,68 gilt: DxDp…h. Allgemein gilt: (7) DxDpŠh Man sieht sofort, dass das Produkt immer konstant bleibt, so dass die Verringerung eines Wertes des einen Faktors durch die Erhöhung des Wertes des anderen Faktors auszugleichen ist. Das Produkt, das Planck’sche Wirkungsquantum, ist zwar sehr gering, aber doch von Null verschieden. Sein Wert beträgt h…6,626 ·10-34 Js, was so klein ist, dass die Unbestimmtheit bei makroskopischen Körpern ganz weit jenseits aller Messgenauigkeit liegt und deshalb vernachlässigt werden kann. Aufgrund der Unbestimmtheitsrelation bezeichnet man die beiden Größen x und p mit N. Bohr als komplementär, was auch für andere Größen, z. B. für die Energie W und die Zeit t gilt: (8) DWDtŠh. Dieser Sachverhalt ist äußerst signifikant, denn in der klassischen Mechanik kann, wenn der Gesamtzustand eines Systems zu einem spezifischen Zeitpunkt bekannt ist, ein zukünftiger Zustand vorhergesagt werden. Der Gesamtzustand ist aber hinreichend z. B. durch die Kenntnis von Ort x und Impuls p bestimmt. Quantenmechanische Systeme sind dagegen aufgrund der Unbestimmtheitsrelation prinzipiell indeterministisch. Lediglich Wahrscheinlichkeiten lassen sich exakt bestimmen. 67 Vgl. Wichmann, E.H., Quantenphysik, 137 – 139, bes. 138. 68 Vgl. Heisenberg, W., Über den anschaulichen Inhalt.

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Der Versuch, ein „Teilchen“ genauer identifizieren zu wollen, als es die Unbestimmtheitsrelation erlaubt, ist also sinnlos. Ein entsprechendes „Teilchen“ ist nicht innerhalb des Rahmens der Unbestimmtheit individuiert. 3.4.2.2 Zweites Beispiel: Das EPR-Experiment Einstein, Podolsky und Rosen schlugen 1935 ein Gedankenexperiment vor, das heute allgemein EPR-Experiment genannt wird.69 Der ursprüngliche Zweck war, aufzuzeigen, dass die statistische Deutung des Quantengeschehens nur eine heuristische Funktion haben könne, ohne ontologische Bedeutung. „Die Wirklichkeit mag vielleicht ganz andere Wege verlangen; sicher scheint mir aber, dass man loskommen muss von der wahrscheinlichkeits-theoretischen Basierung der physikalischen Beschreibung“70, schrieb Einstein an A.M.K. Müller. Das EPR-Experiment sollte eine Absurdität der Quantentheorie entlarven. Es kam jedoch anders, denn das EPR-Experiment wurde einschließlich dieser scheinbar absurden Konsequenzen mehrfach experimentell bestätigt. Zuletzt diente es einem Experiment als Grundlage, das von Anton Zeilinger in Innsbruck durchgeführt wurde und als praktisches Ziel ein quantenmechanisches Verfahren zur Informationsübertragung hat.71 Hier sei nur der Grundgedanke genannt. Man geht von einem „Teilchen“ aus, das durch Messung derart präpariert ist, dass der Gesamtspin, d. h. modellhaft seine Eigendrehung, Null ist, dass aber erwartet werden kann, dass das „Teilchen“ in zwei „Teilchen“ zerfällt, die sich zunehmend voneinander entfernen. Weiter nehmen wir an, dass sich beide „Teilchen“ soweit voneinander entfernt haben, dass eine kausale Wechselwirkung ausgeschlossen ist. Ebenso wie in der klassischen Mechanik gilt auch in der Quantenmechanik der Satz der Erhaltung des Drehimpulses. Daraus folgt, dass der Spin des ersten „Teilchens“ sA und der des zweiten „Teilchens“ sB den des ursprünglichen „Teilchens“ bilden: sA+sB = 0 h/2p. Die Messwerte der beiden Spins werden total korreliert sein. Nach Einstein ist dies nur aufgrund einer der klassischen Mechanik entsprechenden ontologischen Deutung möglich: Beim Zerfall des ursprünglichen „Teilchens“ erhalten beide anderen „Teilchen“ einen entsprechenden Drehimpuls, der dazu führt, dass z. B. sA= 0,5 h/2p und sB= –0,5 h/2p. Beide Spins sollten dann ohne Wechselwirkung einzeln in der Zeit objektiv erhalten bleiben. Diese Deutung ist jedoch in der Quantenmechanik ausgeschlossen, denn bevor der Spin der „Teilchen“ gemessen wird, macht es keinen Sinn zu sagen, sie hätten einen bestimmten Spinwert. Die 69 Vgl. Einstein, A./Podolsky, B./Rosen, N., EPR. Einfache Darstellungen finden sich in Weizs•cker, C.F.v., Aufbau der Physik, 544ff, und in Mìller, A.M.K., Das unbekannte Land, 375 – 383(–403). 70 Zit. n. Mìller, A.M.K., Das unbekannte Land, 377. 71 Vgl. Anton Zeilinger: http://info.uibk.ac.at/c/c704/qo/photon/_teleport/index.html vom 19. 11. 1998 und Jorda, S., Teleportation.

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Messung selbst beeinflusst das Ergebnis. Denn aufgrund der Unbestimmtheitsrelation in ihrer Kopenhagener Deutung gibt es keine Existenz von Messwerten vor der eigentlichen Messung. Misst also ein Beobachter der nicht mehr wechselwirkenden „Teilchen“ am ersten „Teilchen“ sA= 0,5 h/2p, muss der zweite Beobachter am zweiten „Teilchen“ sB= –0,5 h/2p messen. Misst jedoch der erste Beobachter sA= –0,5 h/2p, kann der zweite Beobachter nur noch sB= 0,5 h/2p. messen. Diese Interpretation der Quantenmechanik ist, wie gesagt, mittlerweile experimentell bestätigt.

Im EPR-Experiment finden eindeutige, raumzeitliche Identifizierungen von Ereignissen statt, wie die genannten Messungen der Spins der beiden korrelierten „Teilchen“. Da sich Wirkungen aber nicht unendlich schnell ausbreiten können, ist keines der beiden aus dem präparierten „Teilchen“ einschließlich seines Spins hervorgegangenen „Teilchen“ für sich raumzeitlich individuiert. Zweifellos muss aber eine, wenn auch uns unbekannte (welthafte) Art der Individuation und daher der Gegenständlichkeit vorliegen, da sie raumzeitlich zu identifizierende Folgen zeigt. Aus raumzeitlicher Sicht könnte man nur sagen, dass das EPR-Experiment als Ganzes inklusive der Messungen raumzeitlich individuiert und daher ein raumzeitlicher Gegenstand wäre.72

3.4.2.3 Drittes Beispiel: Die Grenze der Planck-Größen Als Drittes befassen wir uns mit einem Aspekt des Charakters von Raum und Zeit hinsichtlich der Individuations- und Identifizierungsproblematik selbst, wie sie in den kosmologischen Theorien des „inflationären Universums“73 eine wichtige Rolle spielen. Sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht scheint innerhalb bestimmter Intervalle die Rede von identifizierbaren Gegenständen ausgeschlossen zu sein. In diesem Fall kommt dem raumzeitlichen Beziehungsgefüge nicht einmal Identifikationsfunktion zu, denn innerhalb dieser Intervalle, in denen der Quantencharakter auch der Gravitationskräfte eine entscheidende Rolle spielt, scheinen Raum und Zeit keine Konzepte zu sein, die eine Beschreibung von physikalischen Vorgängen in der uns bekannten Form erlauben. Diese Intervalle lassen sich aus Naturkonstanten ableiten, nämlich74 : aus der Lichtgeschwindigkeit c = 2,998 · 108 m/ s, der Gravitationskonstante G = 6,673 · 10–11 m3/kg s2 und dem Planck’schen Wir72 Mìller, A.M.K., Das unbekannte Land, 381: „Die zerfallenden Teilchen bilden bis zu den Messungen […] ein Ganzes, das nicht in Teile (Teilchen!) aufgelöst ist […] Die Korrelation der (nachher verglichenen) Messergebnisse erfolgt aus dieser Ganzheit heraus, nicht etwa über ein Materie- oder Energiefeld zwischen den Teilchen. Dann ist diese Ganzheit als solche aber überhaupt nicht nach Raum und Zeit aufgelöst oder auflösbar zu denken, sondern sie besteht jenseits von Raum und Zeit“. 73 Vgl. Weidemann, V., Das inflationäre Universum. 74 http://physics.nist.gov/cgi-bin/cuu/Value?eqplkl|search_for=planck+units vom 15. 11. 1998 und Planck, M., Über irreversible Strahlungsvorgänge, 479.

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kungsquantum h = 6,626 · 10–34 Js (Joulesekunden = Nms = kg m2/s). Für die PlanckLänge sP ergibt sich dann:  sP ¼

hG 2pc3

Œ12

¼ 1; 616 ¡ 10¢35 m

während sich für die Planck-Zeit tP ergibt: tP ¼

sP ¼ c



hG 2pc5

Œ12

¼ 5; 391 ¡ 10¢44 s

Man sieht sofort, dass die entscheidenden Konstanten auch hier das Planck’sche Wirkungsquantum h und die Gravitationskonstante G sind. Wäre einer von deren Werten = 0, wäre sowohl sP als auch tP = 0, d. h. hinsichtlich Zeit und Länge ließen sich nicht die genannten Intervalle, die Planckgrößen, angeben, die die identifikationsbeschränkende Wirkung haben. Da aber h einen, wenn auch geringen Wert hat, ergeben sich die oben genannten Werte.

Innerhalb der Planck-Länge oder der Planck-Zeit macht es keinen Sinn zu sagen, hier seien Ereignisse identifizierbar oder raumzeitlich individuiert. Wir können weiterhin nicht einmal sagen, ob es denkbar ist, dass Ereignisse anders als in raumzeithafter Form individuiert sind, wenn es auch verschiedene kosmologische Theorien gibt, die hier weitergehende Vorschläge unterbreiten.75 Praktisch setzen diese Planckeinheiten unserem Wissen über den Beginn der Welt prinzipielle Grenzen.76

75 So gibt es verschiedene Versuche, die vierdimensionale Raumzeit ihrerseits nur als Teil eines universaleren welthaften Individuationsrahmens zu deuten, vgl. Freedman, D.Z./Nieuwenhuizen, P.v., The Hidden Dimensions of Space-time. Auch der Versuch von Hawking, S.W., Edge of the Universe, die Welt als Ganze als Wellenfunktion eines abstrakten Superraumes zu deuten, kann hier erwähnt werden. Weidemann, V., Die Entstehung der Welt aus dem Nichts, hier 477: „Die Bemühungen, eine konsistente Quantenfeldtheorie zu entwickeln, welche die Gravitation und die übrigen Kräfte vereinigt, sind gegenwärtig in vollem Gange, wobei sich herausstellt, dass man die vertraute vierdimensionale Raum-Zeit nur als niederenergetische Manifestation höherdimensionaler Räume sowie spezieller Topologien und Symmetrien ansehen könnte.“ 76 Weidemann, V., Das inflationäre Universum, 355: „Von der Erkenntnis, dass der Kosmos ursprünglich mit einem Vakuumzustand begann, bis zu der weitergehenden Hypothese, dass unsere Welt das Ergebnis einer Vakuumfluktuation ,aus dem Nichts‘ sei, war es nur ein relativ kleiner Schritt: Weitere Rückextrapolationen des Modells führen bei t = 10–43 Sekunden, der sogenannten Planck-Zeit, in eine Epoche, in der die Gravitation nicht mehr klassisch kontinuierlich, sondern quantisiert-diskontinuierlich betrachtet werden muss. Das bedeutet, dass Fluktuationen der Raum-Zeit-Struktur unsere bisherigen Vorstellungen von Zusammenhang und Stetigkeit in Raum und Zeit zu Fall bringen und ein chaotisch-fluktuierendes Medium den Platz einnimmt, dessen Eigenschaften sich im Rahmen unserer Physik nicht fassen lassen.“ Zur Frage nach dem spekulativen Charakter „naturwissenschaftlicher“ Kosmologie und deren ontologischen Voraussetzungen vgl. Weidemann, V., Cosmology.

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3.4.3 Ontologische Bedeutung der drei Beispiele Unter der Vielzahl der philosophischen Implikationen der genannten Beispiele dürfte deren ontologische Pointe in folgendem Sachverhalt zu suchen sein: Alle drei genannten Beispiele beziehen sich zumindest prinzipiell auf empirische, d. h. raumzeitlich identifizierbare Phänomene, deren Identifizierung aber ihre raumzeitliche Individuation ausschließt, wenn Widersprüche vermieden werden sollen. Damit ist aber die Voraussetzung für die Sinnlosigkeit der Rede von Gott als Gegenstand widerlegt. Diese Voraussetzung bestand ja in der empiristischen These, dass das umfassende Individuationsprinzip mit dem Identifikationsprinzip identisch ist und dieses in der raumzeitlichen Lokalisation besteht. Wir haben also im Folgenden zu fragen, welchen Kriterien ein Individuationsprinzip genügen muss. Wir beginnen mit der Frage, warum die raumzeitliche Lokalisation als leistungsfähig erscheint. Die raumzeitliche Lokalisation lässt Gegenstände (Dingen und Ereignissen) identifizierbar werden, indem sie nach bestimmten Relationen geordnet sind: „…ist rechts neben…“, „…ist über…“, „…ist hinter…“ und „…ist später als…“. All diese Relationen und deren Konversrelationen weisen bestimmte syntaktische Eigenschaften auf. Es handelt sich um Ordnungsrelationen, d. h. um Relationen, die transitiv und asymmetrisch sind. Die bei der Identifikation von Gegenständen (Dinge und Ereignisse) eindeutige Zuordnung von Raumzeitpunkten bzw. -abschnitten zu Gegenständen beruht also auf Ordnungsrelationen zwischen den Gegenständen selbst. Da aber ferner Identifikation hinreichend – wenn auch nicht notwendig – dafür ist, dass etwas individuiert ist, kann angenommen werden, dass alle Gegenstände, die in Ordnungsrelationen stehen, hinreichend individuiert sind.

Solche Ordnungsrelationen findet man natürlich in mannigfacher Form in verschiedenen Bereichen, Beispiele sind „… ist kleiner als …“, die alphanumerische Sortierung eines Lexikons etc. Sofern es sich nicht um rein logische oder mathematische Relationen (z. B. , etc.) handelt, sind aber all diese Relationen als Teilrelationen der raumzeitlichen Lokalisation zu verstehen.

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Das Prinzip der Gegenständlichkeit ist, so können wir schließen, zunächst ein syntaktisches: Nur das, was in einer Ordnungsrelation stehen kann, ist ein Gegenstand. Die raumzeitliche Lokalisation ist zwar ontologisch die uns zunächst bekannte, umfassendste solcher Relationen, aber die Beispiele aus der Quantenphysik zeigten, dass sie nicht ontologische Individuationsrelation sein kann, sondern nur Identifikationsrelation für unsere Erfahrung. Die Frage, was ein Gegenstand ist, wird also folgendermaßen beantwortet: Ein Gegenstand ist alles und nur das, was individuiert ist. Individuiert ist alles, was in einer ontologischen Ordnungsrelation steht, wie immer diese auch aussehen mag.77 Es drängt sich die Vermutung auf, dass jegliche Antwort auf die Teilfrage, wie eine solche Individuationsrelation exakt aussehen mag, immer von ontologischen Voraussetzungen abhängig ist und somit eine Frage des Wirklichkeitsverständnisses sein dürfte. 3.4.4 Und Gott? Das christliche Wirklichkeitsverständnis geht davon aus, dass Gott dreifach identifizierbar ist in der Verschränkung dreier Geschichten, die Identitätsbeschreibungen Gottes sind: erstens in der Geschichte Jahwes, des Gottes Israels mit seinem Volk, zweitens in der Geschichte Jesu von Nazareth, der sich in seiner Botschaft von der Gottesherrschaft auf den Gott Israels als „Abba“ („Papa“) bezieht und drittens in der Geschichte der Kirche, die sich der Gegenwart Gottes bewusst ist. Die Identifikationsbeschreibungen können mit Namen als grundlegenden deiktischen Identifikationsmitteln abgekürzt werden.78 Die entsprechenden Namen sind traditionell Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die drei Identifikationsbeschreibungen sind der Inhalt des Evangeliums, wie es in der Schrift bezeugt ist, und sie geben die Konstitutionsbedingungen des Evangeliums und dessen erster mündlicher und schriftlicher Tradierung wieder. Die Zeugnisse des Neuen Testaments gehen nämlich auf die Auferstehungserfahrung der ersten Christen zurück, die als Grund dieser Auferstehungserfahrung das Handeln Gottes des Geistes benennen. Gott ist nun dreifach identifizierbar in der Verschränkung der Erfahrung der Glaubenden mit den Konstitutionsbedingungen des in der Schrift bezeugten Evangeliums, indem die Glaubenden ihre religiöse Erfahrung nach dem Muster der Schrift deuten bzw. korrekt: indem die Glaubenden ihre religiöse Erfahrung nach dem Muster der Schrift gedeutet bekommen, d. h. indem ihre Identitätsgeschichte in die Liebesgeschichte Gottes verschränkt wird.79 77 Gegen Cramer, F., Zeitbaum, 70 – 72, ist also ausdrücklich anzunehmen, dass Ereignisse (und Prozesse) nicht konstitutiv an die Zeit gebunden sind. 78 Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Schwçbel, C., Rahmentheorie, und Jenson, R.W., Triune God. 79 Die Erfahrung der Konstitution des Glaubens ist daher als Selbsterschließung Gottes zu deuten.

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Quantentheorie, Gott und Gebet

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Als Sohn bzw. Jesus Christus ist Gott raumzeitlich lokalisierbar. Diese Identifikation impliziert dann aber die Individuation Jesu Christi (wenn auch nicht unbedingt seine raumzeitliche Individuation) und, da dieser auf Vater und Geist verweist, die Individuation von Vater und Geist. Auch der Geist ist in gewisser Weise raumzeitlich lokalisierbar, nämlich insofern der Glaubende die Konstitution seines Glaubens sich nicht selbst zuschreiben kann. Geist und Sohn sind dabei deutlich extensional distinkt individuiert. Auch der Sohn ist vom Vater deutlich extensional distinkt individuiert, wie an der Gottesreichsbotschaft im Allgemeinen und an speziellen personalen Vollzügen der Vater-Sohn-Beziehung in der identifizierenden Trinität ansichtig wird. Weniger eindeutig scheint sich feststellen zu lassen, inwiefern Geist und Vater extensional distinkt sein müssen. Obwohl Geist, Sohn und Vater nur durch die raumzeitliche Lokalisation des Sohnes und des Geistes identifizierbar und damit dem Glaubenden erkennbar sein können, können aus mindestens zwei Gründen weder Sohn noch Geist noch Vater raumzeitlich individuiert sein. Erstens wäre damit die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf dahingehend verletzt, dass eine creatio ex nihilo, eine „Schöpfung ohne welthafte Voraussetzungen“ im strengen Sinne eines voraussetzungslosen Schöpfungshandelns ausgeschlossen wäre. Denn wenn Gott raumzeitlich individuiert wäre, könnte die Raumzeit selbst nicht als Geschöpf betrachtet werden, so dass Gott in seinem Schöpfungshandeln abhängig wäre. Zweitens hatten wir eingangs gefordert, dass es sich bei Gott um die alles bestimmende Wirklichkeit handeln soll. Da aber in der Quantenphysik raumzeitlich identifizierbare Phänomene erfahrbar sind, die nicht raumzeitlich individuiert sind, wäre Gott nicht die alles bestimmende Wirklichkeit, wenn seine Gegenständlichkeit nur raumzeitlich wäre. Vater, Sohn und Geist weisen also eine Gegenständlichkeit auf. Es wird sinnvoll sein, das Individuationsprinzip dieser Gegenständlichkeit nicht in etwas, das von Vater, Sohn und Geist verschieden ist, suchen zu wollen, sondern in deren ereignishaften Beziehung(en): Das narrative Wesen Gottes ist selbst sein eigenes Individuationsprinzip. Die Frage, worauf sich der Terminus „Gott“ bezieht, ist also mit „Vater, Sohn und Geist“ zu beantworten. Die Dreiheit Gottes ist demnach – hier ist Pannenberg80 zuzustimmen – in der Tat vor der Einheit Gottes identifizierbar. Referiert „Gott“ aber auf „Vater, Sohn und Geist“, heißt dies, dass Gottes Einheit nicht dinghaft, sondern nur als Ereignis identifizierbar ist. Wir werden nun auch Gottes Gegenständlichkeit als ereignishaft beschreiben können. Freilich setzt dies voraus, dass Ereignisse denkbar sind, ohne dass die Konzepte Raum und Zeit verwendet werden, da auch Gottes Ereignishaftigkeit aus den schon für Vater, Sohn und Geist genannten Gründen nicht raumzeitlich individuiert sein kann. Dies ist aber Vgl. Schwçbel, C., God: Action and Revelation, 83 – 120 und Herms, E., Offenbarung und Erfahrung. 80 Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd.1, 347.

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Schöpfung

keine besondere Schwierigkeit, da nicht Raumzeitlichkeit an sich Ereignisse individuiert und ermöglicht, sondern der Charakter der Raumzeitlichkeit als Ordnungsrelation. Gott ist daher das individuierte, aber nicht raumzeitlich individuierte Ereignis zwischen den individuierten, aber nicht raumzeitlich individuierten, sondern raumzeitlich identifizierbaren „Personen“ Vater, Sohn und Geist.81 In Analogie zur raumzeitlichen Identifikation von alltäglichen Gegenständen können diese nicht raumzeitlichen Beziehungen zwischen den göttlichen Personen, die wie die raumzeitlichen Relationen als Ordnungsrelation verstanden werden können, als „Raum“ und „Zeit“ Gottes oder vielleicht als „Ewigkeit“ verstanden werden. Christliche Theologie kann die Ereignishaftigkeit Gottes nach 1. Joh. 4,8.16 („Gott ist Liebe“) auch als dreieinige Liebe verstehen. Wir begannen dieses Teilkapitel mit der Frage nach der Bedeutung der Gegenständlichkeit Gottes für die Frömmigkeit, konkret für das Gebet. Welche Folgen hat also das hier vorgestellte Verständnis von der Gegenständlichkeit Gottes für das Gebet? Zunächst: Wenn es eine Voraussetzung des Gebets als Kommunikationsvorgang ist, dass Gott gegenständlich ist, dann ist das Gebet grundsätzlich sinnvoll. Wir sagten aber, dass mit „Gott“ ein ereignishafter Gegenstand gemeint ist. Ereignisse sind aber im Allgemeinen nicht fähig zu kommunizieren. Ich sage etwa bei der Geburt eines Kindes sinnvollerweise nicht: „Oh Geburt meines Kindes, verlaufe problemlos!“ Mit dem Ereignis Gott ist aber nicht nur dieses selbst gegenständlich, sondern auch die Relate, die es bilden: Vater, Sohn und Geist. Nach dem hier vorgestellten Begriff von Gegenständlichkeit ist es daher durchaus sinnvoll, sowohl zu „Gott dem Vater“, zu „Gott dem Sohn“ als auch zu „Gott dem Heiligen Geist“ zu beten. Und genau dies entspricht der kirchlichen Praxis. Das Kollektengebet hat ungefähr folgende Standardform: „Herr, himmlischer Vater … erhöre uns um Jesu Christi willen, der mit dir und dem Heiligen Geist lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Hier wird also eine Person der Trinität angesprochen – der Vater – und Sohn und Geist einbezogen. Aber auch zum Sohn wird gebetet, etwa im „Kyrie“. Auch die religionspädagogische Rede von Jesus Christus als „Freund“ des Glaubenden macht nur Sinn, wenn dieser Freund nicht eine Person der Vergangenheit ist, sondern wenn ihm raumzeitliche Grenzen überschreitend Gegenständlichkeit und Kommunikationsfähigkeit zugesprochen werden kann. Das Gebet zum Geist ist unserer westlichen Tradition weniger selbstverständlich, erscheint aber z. B. in Pfingstliedern wie „Komm 81 Ferner lässt sich über die Art der Gegenständlichkeit Gottes, also über das Individuationsprinzip Gottes, sagen, dass es zur raumzeitlichen Identifikation von welthaften Gegenständen nicht beziehungslos sein kann. Die Individuation Gottes könnte dann sinnvollerweise als Bedingung der Möglichkeit der Individuation welthafter Gegenstände aufgefasst werden, die wiederum als Bedingung der Möglichkeit raumzeitlicher Identifikation aufgefasst werden könnte. Wichtig ist zu sehen, dass hier raumzeitliche Identifikation nicht mit welthafter Individuation zusammenfällt. Vielmehr müssten, wenn unsere Ausführungen kohärent sind, Raum und Zeit selbst als welthafte Gegenstände angesehen werden, wenn auch als besondere.

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Zeit und Ewigkeit

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Gott Schöpfer heiliger Geist“ (EG 126) oder „O komm, Du Geist der Wahrheit“ (EG 136). Vor dem Hintergrund des hier vorgestellten Konzeptes der Gegenständlichkeit Gottes erscheinen diese und andere traditionelle Äußerungen der Frömmigkeit höchst sinnvoll.

3.5 Zeit und Ewigkeit Deutlich ist, dass die raumzeitliche Individuation in der Moderne zwar das dominante Modell, Gegenständlichkeit zu bestimmen, darstellt, dass aber nicht die Raumzeitlichkeit selbst diesen Stellenwert genießen kann. Gottes ereignishaftes narratives Wesen ist hingegen sein eigenes Gegenständlichkeitsprinzip. Hat dies eine Bedeutung für unser Leben in unserer Welt? Denn noch ist nicht klar, wie diese zeitliche Welt theologisch zu bestimmen ist, und welche Bedeutung sie innerhalb einer modellhaften Rekonstruktion des christlichen Glaubens haben kann. Diese Frage hat einen doppelten Aspekt: Zunächst: Wie ist das Verhältnis zwischen geschaffener Welt und ihrem Schöpfer – also zwischen Zeit und Ewigkeit selbst – zu bestimmen, und welchen Unterschied machen unterschiedliche Modelle der Verhältnisbestimmung aus? Sodann: Wenn die Verhältnisbestimmung der Relationierung zwischen Schöpfer und Schöpfung eine Grundaufgabe jeglicher Theologie ist und wenn sich diese Verhältnisbestimmung in der Relationierung unterschiedlicher Modelle von Zeit und Ewigkeit widerspiegelt, ist anzunehmen, dass diese Verhältnisbestimmung zwischen Zeit und Ewigkeit nicht einfach einen locus innerhalb der Dogmatik darstellt, sondern insgesamt als wesentlicher, systembestimmender Faktor jeglicher theologischer Systembildung erscheint – und zwar selbst dort, wo dieser Faktor nicht explizit erscheint. Der ersten Aufgabe soll in diesem Kapitel nachgegangen werden, der Zweiten im Folgenden. In die erste Aufgabe, der Frage nach der modellhaften Verhältnisbestimmung zwischen Zeit und Ewigkeit, ist auch die Frage eingeschlossen, welche eschatische, also letztgültige Relevanz die zeitlichen Ereignisse der Welt an sich besitzen können. Dies mag wie eine spekulative Frage erscheinen: Sie ist es aber letztlich nicht, denn an ihrer Beantwortung liegt letztlich nichts weniger als unser Umgang mit der zeitlichen Welt, in der wir leben. Im Folgenden werden vier Modelle der Verhältnisbestimmung zwischen Zeit und Ewigkeit vorgestellt und besprochen: 1. Ewigkeit als Zeitlosigkeit, 2. Ewigkeit als vollständige Simultaneität, 3. Ewigkeit als partielle Simultaneität und 4. Ewigkeit als unendlicher Zeitlauf. Innerhalb der einzelnen Abschnitte wird zunächst anhand des jeweiligen Beispiels der entsprechende Typus exemplifiziert und nach Vor- und Nachteilen befragt. Ferner wird kurz nach der möglichen Art von Ewigkeitshoffnung für den Menschen gefragt werden. Nach der Besprechung der vier Typen sollen in einem fünften Teil ausgehend von einer offenbarungstheologischen Grundlegung Forderungen für ein

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konkretes Modell der Verhältnisbestimmung von Zeit und Ewigkeit genannt werden, um so konstruktiv einen Vorschlag zur Lösung des Problems einzubringen und die Problemlage so mit dem Grundansatz dieser theologischen Konzeption in Verbindung zu bringen.

3.5.1 Ewigkeit als Zeitlosigkeit: Das Paradigma Augustins Als Textgrundlage dient im Folgenden das Verständnis von Zeit, wie es Augustin im berühmten 11. Buch der Confessiones darlegt. Dies ist nicht das einzige Zeitverständnis Augustins, so dass die hier vorzunehmende Typisierung schon bei der Textauswahl geschieht. Nachdem Augustin in Gebetsform Gott Ewigkeit zuschreibt82 beginnt er mit seinem Nachdenken über Genesis 1,1, indem er eine Explikation dessen liefert, was wir creatio ex nihilo zu nennen gewohnt sind (I,1–IX,11). In X,12 wird dann das Zeitthema eingeführt, indem Augustin fragt: „Sieh, hängen sie nicht zu sehr an ihrer Vergangenheit, die Leute, die uns fragen: ,Was machte Gott, bevor er Himmel und Erde machte?‘“83

Augustin will nun nicht lapidar mit dem ihm überlieferten Witz antworten, Gott habe die Hölle für Leute, die zu hohe Dinge erforschen wollen, gebaut,84 sondern er führt die Unzulässigkeit dieser Frage auf die strikte Unvergleichlichkeit von Zeit und Ewigkeit zurück: „Sie sind unvergleichlich. Eine lange Zeit besteht nur aus vielen kleinen Zeitspannen, die vorübereilen und nicht gleichzeitig sein können. Im Ewigen aber geht nichts vorher, dort ist totum praesens, während wahrhaft nullum tempus totum praesens ist.“85

Diese Stelle ist aufschlussreich, weil schon hier, bevor Augustin gefragt hat, was eigentlich Zeit sei, die Unvergleichlichkeit von Zeit und Ewigkeit zum gegenseitigen Ausschluss gesteigert wird: Das totum praesens der Ewigkeit ist nicht die Gegenwart aller Zeit als ganzer. Dies wird ausdrücklich ausgeschlossen. Damit hat Augustin schon hier erreicht, die Zeit auf die Seite des 82 Vgl. Augustinus, A., Conf. 11, I,1: Numquid, domine, cum tua sit aeternitas. Die Zitation bezieht sich auf den lat. Text in Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 232. 83 Augustinus, A., Conf. 11, X,12: Nonne ecce pleni sunt uetustatis sua qui nobis dicunt: Quid faciebat deus, antequam faceret caelum et terram? Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 244 f. 84 Augustinus, A., Conf. 11, XII,14: Alta, inquit, scrutantibus gehennas parabat. Flasch, K./ Augustinus, A., Was ist Zeit?, 246. 85 Augustinus, A., Conf. 11, XI,13: uideat esse incomparabilem et uideat longum tempus nisi ex multis praetereuntibus morulis, quae simul extendi non possunt, longum non fieri; non autem praeterire quidquam in aeterno, sed totum esse praesens; nullum uero tempus totum esse praesens. Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 246.

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Geschöpflichen zu ziehen, die sich selbst dem Schöpfungswirken Gottes verdankt. Er hat freilich noch nicht gezeigt, warum das möglich ist. Dies versucht Augustin nun im ganzen folgenden 11. Buch zu zeigen, und zwar anhand der Frage: „Was ist Zeit?“86 Augustin insistiert sogar : „Die reale Bedeutung und das Wesen der Zeit will ich wissen“87 .

Diese Frage – und keine andere – gibt das Thema der Untersuchung Augustins an. Und diese Frage ist eine ontologische Frage. Sie ist keine Frage der Naturphilosophie und insofern auch nicht mit Aristoteles’ Behandlung der Zeit im 4. Kapitel seiner Physik zu vergleichen. Es handelt sich auch nicht, wie noch zu sehen sein wird, um eine psychologisierende Deutung einer inneren subjektiven Zeit, die einer äußeren, objektiven Zeit im Sinne einer Aporie entgegenstünde und die erst mimetisch zu vermitteln sei, wie Ricoeur dachte,88 oder um eine transzendentalphilosophische Grundlegung von Zeit im Subjekt, wie moderne Ausleger annehmen mögen. In Conf.11 liegt vielmehr eine ontologische Theorie dessen vor, was Zeit als solche wirklich ist. Es geht um den Realitätsstatus von Zeit, darum, welche Art von Realität Zeit zukommt. Denn dass Zeit vorhanden ist, steht für Augustin – im Unterschied zu modernen und postmodernen Irrealitätsthesen zur Zeit89 – fest. Augustin versucht nun, verschiedene unterschiedliche Realitätsstatus zu untersuchen und überführt die verschiedenen Möglichkeiten im Ausschlussverfahren in Aporien. Augustins folgende Ausführungen sind nur im Zusammenhang seiner Erklärung von Substanz, Essenz und Akzidenz aus de trinitate 5 – 7 verstehbar. Hier spielt Augustin auf die ihm durch die Übersetzung von Marius Victorinus wahrscheinlich bekannte Isagoge des Porphyrius, dessen Erklärungen er aber vollständig umbaut, an. Am deutlichsten ist hier zunächst der Akzidenzbegriff definiert: Akzidenz ist das, was veränderlich ist.90 Dies ist auffällig, weil Augustin hier nur eine von drei Definitionen von Porphyrius übernimmt, der Akzidenz immer als Eigenschaft einer Substanz (als etwas Zugrundeliegendes) verstand und durch Veränderlichkeit, Möglichkeit oder durch Ausschluss von Prädikaten, die aus der substantia secunda entnommen sind, definierte.91 86 Augustinus, A., Conf. 11, XII, 14: Quid est enim tempus? Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 246. 87 Augustinus, A., Conf. 11, XXIII, 29: Ego scire cupio uim naturamque temporis. Flasch, K./ Augustinus, A., Was ist Zeit?, 262. 88 Vgl. Rçmer, I., Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricoeur, 254 – 275. 89 Die klassische moderne Irrealitätsthese der Zeit findet sich bei McTaggart, J.M.E., Unreality of Time. Überlegungen zu unterschiedlichen Perspektiven des Zeitdenkens finden sich jetzt auch in Mjaaland, M.T./Rasmussen, U.H./Stoellger, P. (Hg.), Impossible Time. 90 Augustinus, A., trin., CChr.SL 50 5,4[5]; 209,1 f. 91 1. Akzidenz ist das, was in Erscheinung tritt und verschwindet, 2. Akzidenz ist das, was ein und demselben der Möglichkeit nach zukommt oder nicht zukommt, 3. Akzidenz ist das, was weder Genus, noch Differenz, noch Spezies, noch Proprium ist, jedoch immer in einem Zugrundeliegendem vorhanden ist, vgl. Wçhler, H.-U., Texte zum Universalienstreit, Bd. 1, 12 f.

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Die Folge davon ist wichtig auch für den Substanz- und Essenzbegriff. Substanz wird im Gegensatz zu Akzidenz definiert: Substanz im weitesten Sinne ist das, was nicht Akzidenz ist.92 Dies lässt noch zwei Möglichkeiten zu: Substanz kann das sein, von dem Akzidenzien notwendigerweise ausgesagt werden,93 oder, wobei hier der Terminus Essenz Augustin besser scheint, das, was nicht Akzidenz ist, und von dem Akzidenzien notwendigerweise nicht ausgesagt werden können.94 Kehren wir mit diesem Befund zu Conf. 11 zurück und zur Frage, was Zeit ist, also zur Frage, welcher Realitätsstatus ihr zuzusprechen ist. In XIV,17 stellt Augustin zunächst fest, dass die Zukunft noch nicht ist und die Vergangenheit nicht mehr ist. Da aber auch die Gegenwart nur der sich ständig bewegende Grenzwert zwischen Vergangenheit und Zukunft zu sein scheint, ist auch die Gegenwart als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht, zumindest nicht im Sinne substantiellen Seins. Diesem Argument, das schon Aristoteles erwähnt, aber für nicht sehr besprechenswert hält, und dem die Skeptiker besondere Bedeutung für die Irrealität der Zeit zumaßen, begegnet Augustin wieder mit seiner Überzeugung der Existenz der Zeit, die hier von deren Messbarkeit abgeleitet wird.95 Was ist soweit erreicht? Augustin zeigt mit diesem Argument, dass die Zeit nicht Substanz ist, aber dass sie dennoch real ist. In XXIII,29 stellt Augustin fest, dass Zeit auch nicht die Gesamtheit der Bewegungen aller Körper, nicht nur der Gestirne, sein kann: „Von einem Gelehrten habe ich gehört, die Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Sterne seien die Zeiten, aber ich habe nicht zugestimmt. Wären dann nicht eher die Bewegungen aller Körper die Zeiten?“96

Dieses Argument wird entkräftet, indem Augustin feststellt, dass die Bewegung immer schon in der Zeit stattfindet. Mit diesem Argument richtet sich Augustin übrigens nicht gegen Aritstoteles, der die Zeit nicht mit der Bewegung, sondern mit dem Maß der Bewegung identifiziert hatte.97 Dies ist ein wichtiger Unterschied. Denn Augustin kann Zeit im Sinne des Maßes von Bewegung auch positiv gebrauchen. Nur gibt diese aus der Physik stammende Überlegung eben keine positive Antwort auf die ontologische Frage. Aber eine negative: Die Zeit ist nicht nur keine Substanz, sondern auch keine Eigenschaft von körperhaften Substanzen. So kommt Augustin schließlich im Ausschlussverfahren auf seine Lösung: Augustinus, A., trin., CChr.SL 50 9, 4 – 5; 301, 28 – 31. Augustinus, A., trin., CChr.SL 50 7, 5(4); 260 f. Augustinus, A., trin., CChr.SL 50 7,5(10). Vgl. Augustinus, A., Conf. 11, XV,18; Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 250 – 252. Augustinus, A., Conf. 11, XXIII, 29: Audiui a quodam homine docto, quod solis et lunae ac siderum motus ipsa sint tempora, et non adnui. Cur enim non potius omnium corporum motus sint tempora? Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 262. 97 Vgl. Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 117 – 124.

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Zeit und Ewigkeit

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Die Zeit ist distentio animi, eine Ausdehnung der geschaffenen Seele, die streng genommen nur in der als evident behaupteten Gegenwart besteht. Es gibt gar nicht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern es gibt die Gegenwart von Vergangenem als Erinnertes (praesens de praeteritis als memoria), die Gegenwart von Gegenwärtigem als Anschauen (praesens de praesentibus als contuitus) und die Gegenwart von Zukünftigem als Erwartung (praesens de futuris als exspectatio).98 Die Zeit hat ihre Realität damit in der Seele und, wie Augustin sagt, sonst nirgends.99 Lesen wir dieses Ergebnis wieder vor dem Hintergrund der in de trinitate explizierten Begrifflichkeit: Die Zeit ist real, insofern sie eine Eigenschaft, und zwar eine akzidentielle Eigenschaft einer geschaffenen körperlosen Substanz, der geschaffenen Seele, konkret distentio animi, ist. Übergehen wir nun Augustins Ausführungen über die Messbarkeit der Zeit und springen zum Ende von Conf. 11, so kommt Augustin auf seine Anfangsfrage zurück: Die Frage, was Gott vor der Schöpfung gemacht habe, sei sinnlos, weil es in der Ewigkeit keine Ausdehnung, keine distentio gibt.100 Damit kehrt Augustin zu seiner schon eingangs aufgestellten strikten Entgegensetzung von Zeit und Ewigkeit zurück, nicht jedoch ohne darauf hinzuweisen, dass es auch für die Seele eine Ewigkeitshoffnung gibt, nämlich, von der distentio befreit zu werden: „Mein Leben ist zerteilendes Ausdehnen (distentio). Doch dein Arm fing mich auf, in meinem Herrn, dem Menschensohn. […] So kann ich frei werden vom Vergangenen und dem Einen folgen. Ich kann das Gewesene vergessen. Statt mich im Blick auf das zukünftig Vergängliche zu zerspalten, strecke ich mich aus (non distentus, sed extentus) […], so daß ich nicht in Aufspaltung, sondern in einheitlicher Lebensrichtung (non secundum distentionem, sed secundum intentionem) die Ehre zu meiner höhreren Bestimmung ergreife. Dort will ich dein Loblied hören und deine Freude schauen, die weder kommt noch geht. Jetzt aber vergehen meine Jahre unter Stöhnen, doch du, Herr, bist mein Trost und mein ewiger Vater. Ich hingegen, ich bin zersplittert in die Zeiten, deren Zusammenhang ich nicht kenne. Meine Gedanken, die innersten Eingeweide meiner Seele, werden zerfetzt vom Aufruhr der Mannigfaltigkeiten – bis ich in dir zusammenfließe, gereinigt, und flüssig geworden im Feuer deiner Liebe. Ich werde Stand und Festigkeit finden in dir, in deiner Wahrheit, die mein wahres Wesen ist. Dann brauche ich nicht mehr die Fragen von Menschen zu erdulden […], die sagen ,Was machte Gott, bevor er Himmel und Erde machte?‘ […] Sie sollen einsehen, dass du, der ewige Schöpfer aller Zeiten, über allen Zeiten stehst

98 Vgl. Augustinus, A., Conf. 11, XX,26; Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 258. 99 Augustinus, A., Conf. 11, XX, 26: et alibi ea non uideo. Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 258. 100 Augustinus, A., Conf. 11, XXX, 40: ubi non est tempus. Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 276.

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Schöpfung

und daß es keine Zeiten und keine Geschöpfe gibt, die gleichewig wären mit dir, auch wenn es Geschöpfe gibt, die über den Zeiten stehen.“101

Fassen wir zusammen: Es lässt sich aus Augustins Ausführungen eine Verhältnisbestimmung von Zeit und Ewigkeit gewinnen, in der Zeit rein der geschaffenen Welt zukommt und ihre Realität in der Ausdehnung der Gegenwart der geschaffenen Seele findet. Kann es eine Ewigkeitshoffnung für die geschaffene Seele geben? Eine Ewigkeitshoffnung für die Seele besteht nur darin, von dieser Ausdehnung befreit zu werden (intentio). Wie diese Partizipation an der Ewigkeit aussieht, ist nicht vorstellbar. Und im Gegensatz zu anderen neuplatonischen Quellen bleibt in Conf.11 allerdings ein Problem: Es fehlt ein wichtiges Element zwischen dem zeitlosen Einen und der Zeit, das, was in neuplatonischer Terminologie als ewiges Leben des nous als Zwischenstufe zwischen dem Einen und der zeitlichen Welt-Seele zu bezeichnen wäre.102 Das Fehlen dieses Zwischenelements kann allerdings kein Zufall sein: Wenn Zeit einerseits der geschaffenen immateriellen Seele zukommt, allerdings nicht substantiell sondern akzidentiell, und wenn die geschaffene Seele als Ewigkeitshoffnung von der Zeit befreit werden kann, dann gehört Zeit weder als Substanz noch als Akzidens zur Schöpfung an sich, sondern sie gehört zur gefallenen Schöpfung. Die Zeit als distentio animi ist damit nichts anderes, als ein (geschaffenes, akzidentielles) Symptom der Sünde. Inwiefern ist das so purifizierte augustinische Zeit-Ewigkeitsverständnis ein Typus für andere Ewigkeitsverständnisse? Es ist ein Typus oder Modell all jener Ewigkeitsverständnisse, die Ewigkeit primär als Zeitlosigkeit beschreiben. Der Vorteil der Rede vom Typus oder Modell ist, dass hier gleiche Strukturen wahrgenommen werden können, ohne dass fragwürdige Rückprojektionen vorgenommen werden müssten. Welche Konsequenzen hat dieses Ewigkeitsverständnis? Zunächst ein wichtiger Vorteil: Das christliche Schöpfungsverständnis, nach dem der ewige Gott in seinem Schöpfungshandeln nicht auf weltliche Dinge angewiesen ist (creatio ex nihilo), wird sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: Auch die Zeit als Attribut der Geschöpfe gehört zur Geschöpflichkeit, wenn auch zur gefallenen. Was sind die Nachteile eines solchen Verständnisses? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es kein positives Verhältnis von Gott als zeitlos und unveränderlich zur zeitlichen Welt geben kann. Ein tatsächlich leidender oder mitfühlender Gott ist kaum denkbar. Aber sogar ein Handeln Gottes im strengen Sinne ist nicht denkbar, da Handeln zumindest Andersheit und Veränderung voraussetzt. Die zeitliche Welt ist verglichen mit der Ewigkeit Gottes ein stark defizitärer Seinsmodus. Die religiöse Praxis des Bittgebets kann – ironischerweise, denn Augustin selbst bedient sich in Conf. 11 ständig des Gebets – kaum als reale Kommunikation verstanden werden. Auch mit den 101 Vgl. Augustinus, A., Conf. 11, XXIX.39 f; Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?. 102 Vgl. Plotin/Beierwaltes, W., Ewigkeit und Zeit, 43 – 49.

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Zeit und Ewigkeit

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biblischen Belegen sieht es eher schlecht aus: Conf.11 führt außer des „Im Anfang“ von Gen. 1,1 kaum etwas an. Alles in allem kann gesagt werden: Augustins Ewigkeitsbegriff kann die Relevanz zeitlicher Ereignisse nicht sichern.

3.5.2 Ewigkeit als vollständige Simultaneität: Das Beispiel Boethii Der zweite zu behandelnde Typus der Ewigkeit als vollständiger Gleichzeitigkeit sei an Boethius’ Cons.Vexemplifiziert. Hier erscheint die boethianische Ewigkeitsdefinition im Zusammenhang der Frage, ob sich menschliche Freiheit und göttliche Providenz widerspruchslos vereinbaren lassen. Wir werden zunächst mit Boethius’ Definition einsetzen und darauf einige seiner Argumentationen heranziehen. Zunächst also die boethianische Definition: „Ewigkeit ist […] der vollständige und vollendete Besitz unbegrenzbaren Lebens“103.

Diese Definition erinnert zunächst sehr stark an die Definition Plotins: Ewigkeit sei „Leben, das im Selben verharrt, da es immer das Ganze gegenwärtig hat, nicht jetzt dieses, dann ein Anderes, sondern alles zugleich, und nicht jetzt Anderes und dann wieder Anderes, sondern teillose Vollendung“.104

Nun soll hier gar nicht geleugnet werden, dass es sich bei Boethius um einen Spätneuplatoniker handelt. Aber im Vergleich zu Plotin gibt es einen entscheidenden Unterschied: Plotin entfaltet den Ewigkeitsbegriff als Leben des aus dem Einen sich durch Selbstreflexion entfalteten nous, vollständig ohne auf die Zeit zu rekurrieren. Diese tritt erst in einer dritten Stufe als Leben der Seele als Abbild der Ewigkeit in Erscheinung.105 Boethius hingegen bezieht seine Definition sofort auf die zeitliche Welt: Ewigkeit als der Besitz unbegrenzten Lebens „wird aus dem Vergleich mit dem Zeitlichen noch deutlicher erhellt.“106 Und dieser Vergleich entpuppt sich nicht als sich ausschließende Gegenüberstellung zwischen Ewigkeit und Zeit wie bei Augustin, auch nicht als Abbildverhältnis, wie bei Platon, sondern als Gleichzeitigkeit aller zeitlichen Ereignisse: „Was jedoch die ganze Fülle unbegrenzbaren Lebens gleichzeitig umgreift und besitzt […], das wird mit Recht als ewig aufgefaßt […] und das muß notwendigerweise 103 Boethius, A.M.S., Trost V, 6p; 262: Aeternitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio. 104 Plotin/Beierwaltes, W., Ewigkeit und Zeit III,7.3; 98 f. 105 Vgl. Plotin/Beierwaltes, W., Ewigkeit und Zeit, 62 – 74. 106 Boethius, A.M.S., Trost V, 6p; 262: quod ex collatione temporalium clarius liquet.

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Schöpfung

[…] immer die Unendlichkeit der bewegten Zeit als eine Gegenwart vor sich haben“.107 In der religionsphilosophischen Literatur hat es sich eingebürgert zu erwähnen,108 Boethius modelliere dieses Bild des Verhältnisses der Ewigkeit zur Zeit gleich einem Beobachter, der sich auf der Ewigkeit als höchstem Gipfel befinde und in das zeitliche gewundene Tal mit seinen Biegungen schaue und so alles gleichzeitig sehe. Man wird zwar sagen können, dass dieses Bild das boethianische Ewigkeitsverständnis einigermaßen korrekt modelliert und vielleicht auch Anlass bei Boethius findet.109 Allein – dieses Bild als ausgestaltetes Modell selbst findet sich bei Boethius nicht.

Nicht entscheidend ist hier, dass Boethius im Gegensatz zu Augustin nicht sofort den Gedanken der creatio ex nihilo auf die Zeit bezieht, denn ein Anfang der Zeit würde sich hier auch nicht störend auswirken. Entscheidend ist: Im Unterschied zu Augustin ist hier die Ewigkeit sofort in ein sehr starkes positives Verhältnis zur Zeit gesetzt, ein noch stärkeres Verhältnis als Abbildlichkeit, wie dies bei Platon der Fall ist. Die Ursache für die starke Relation zwischen Zeit und Ewigkeit ist im Kontext der Explikation des Providenzproblems zu suchen. Boethius sieht nämlich sehr deutlich folgendes Problem: Wenn Gott quasi primordial alles voraussieht (praevidere), könnte es keine menschliche Freiheit geben, an der nach Boethius unbedingt festzuhalten ist.110 Ausdrücklich abgewiesen wird hier die Ansicht, diese Voraussicht könne ja eine Voraussicht der menschlichen Entscheidungen sein. Dies würde nichts daran ändern, dass alles Folgende dennoch mit Notwendigkeit geschähe. Boethius dürfte nun der Ansicht sein, durch die Rede der Philosophie dieses Problem auf wahrscheinlich neue Weise zu lösen, denn die Philosophie sagt, bisher sei die Sache noch nicht sicher genug herausgearbeitet worden;111 sie hingegen versuche nun, dies neu zu erhellen. Diese Lösung besteht im Wesentlichen darin, dass nicht von einer Prävidenz, sondern von einer Providenz zu sprechen sei, die sich in Boethius Ewigkeitsdefinition bündelt. Während in der Prävidenz alle zeitlichen Ereignisse mit Notwendigkeit geschehen, soll es der Providenzgedanke ermöglichen, dass einige Ereignisse mit Notwendigkeit geschehen, während andere nur mit relativer Notwendigkeit geschehen. 107 Boethius, A.M.S., Trost V, 6p; 262 – 264: Quod igitur interminabilis vitae plenitudinem totam pariter comprehendit ac possidet […], id aeternum esse iure perhibetur, idque necesse est […] infinitatem mobilis temporis habere praesentem. 108 Vgl. z. B. Brìmmer, V., What are We Doing When We Pray?, 46: „Boethius argued that we should rather view God as existing outside of time […] like a spectator on a mountain-top seeing all parts of the valley below from end to end simultaneously“. 109 Die einzige bildhafte Metapher, die sich bei Boethius dazu findet, ist die folgende kurze Erwähnung eines Gipfels im Zusammenhang mit seinem Ewigkeitsverständnis, in dem es um den Vorzug des Wortes Providenz gegenüber Praevidenz geht in Boethius, A.M.S., Trost: V,6 (266): Unde non praevidentia, sed providentia potius dicitur, quod porro a rebus infimis constituta quasi ab excelso rerum cacumine cuncta prospiciat. 110 Vgl. Boethius, A.M.S., Trost V. 3.p; 236. 111 Vgl. Boethius, A.M.S., Trost V, 4.p; 246.

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Boethius veranschaulicht diese ewige Providenz mit einer Analogie: Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit gleicht einem Beobachter, der zugleich einen Sonnenuntergang und einen davor wandelnden Spaziergänger beobachtet. Während dem Sachverhalt der untergehenden Sonne eine intrinsische Notwendigkeit zukommt, kommt dem wandelnden Spaziergänger nur eine hypothetische zu: Wenn [A] der Beobachter wirklich einen Spaziergänger wahrnimmt, dann geht [B] auch wirklich jemand spazieren. B ist hier nicht intrinsisch notwendig, sondern nur, insofern A wahr ist. Auf diese Weise112 sähe nun Gott in Ewigkeit Vergangenheit, Gegenwart und vor allem Zukunft, die für den Menschen auseinanderfallen, gleichzeitig, ohne dass das ganze zeitliche Geschehen notwendig sei: „Auf eben dieselbe Weise ist das, was die providentia als gegenwärtig sieht, notwendig, obwohl es keine Notwendigkeit von Natur hat. Freilich schaut Gott das Zukünftige, das aus der Freiheit des Willens hervorgeht, als ein Gegenwärtiges. Also geschieht dies, auf das göttliche Schauen bezogen, mit Notwendigkeit, bedingt durch das göttliche Erkennen, für sich betrachtet aber läßt es nicht ab von der absoluten Freiheit seiner eigenen Natur.“113

Damit diese Analogie funktioniert, bedarf es freilich noch einer erkenntnistheoretischen Prämisse: Das Erkenntnis- bzw. Wahrnehmungsvermögen ist derart gestaffelt, dass ein höheres Erkenntnisvermögen alles das, was ein niederes erkennt, mit umgreift, nicht aber umgekehrt. Der Mensch hat als höchstes natürliches Erkenntnisvermögen lediglich die ratio,114 Gott aber die intelligentia. Die intelligentia kann alles erkennen, was auch die ratio erkennt, aber nicht umgekehrt. Die boethianische Explikation der Ewigkeit – bzw. der Providenz im Unterschied zur Prävidenz – vollzieht sich aber in der ratio und ist daher unzureichend. Wörtlich genommen, würden daher in der boethianischen Explikation der Ewigkeit letztlich relative und absolute Notwendigkeit der gesehenen Ereignisse doch wieder in pure Notwendigkeit kollabieren. Die Differenz lässt sich nur unter dem Vorbehalt aufrecht erhalten, dass sie nicht unter menschlicher ratio, sondern unter der weitaus fähigeren göttlichen intelligentia geschieht. Dies heißt aber, um es deutlich zu sagen, dass sich Boethius letztlich einer argumentativen Lösung des Problems verweigert: Freiheit und Notwendigkeit aller Zeiten können in der Gleichzeitigkeit der Ewigkeit zusammen bestehen, wir wissen aber nicht, warum. Aber wir können sagen, warum wir es nicht wissen: weil wir nicht Gott sind. Das boethianische 112 Vgl. Boethius, A.M.S., Trost V, 6.p; 268 – 270. 113 Boethius, A.M.S., Trost V, 6p; 268 – 270: Eodem igitur modo, si quid providentia praesens videt, id esse necesse est, temetsi nullam naturae habeat necessitatem. Atqui deus ea futura, quae, ex arbitrii libertate proveniunt, praesentia contuetur; haec igitur ad intuitum relata divinum necessaria fiunt per condicionem divinae notionis, per se vero considerate ab absoluta naturae suae libertate non desinunt. 114 Vgl. Boethius, A.M.S., Trost V, 5.p; 258.

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Ewigkeitsverständnis kann daher mit Recht als unbefriedigend empfunden werden. Betrachten wir zunächst die Vorteile dieses Verständnisses: Im Vergleich zum ersten Modell ist festzuhalten, dass es einen deutlich stärkeren Bezug zur zeitlichen Welt gibt. Diese wird dadurch deutlich aufgewertet, denn das, was in der Zeit geschieht, kann Bedeutung für die Ewigkeit haben. Gleichzeitig ist die kategoriale Differenz zwischen Zeit und Ewigkeit gewahrt. Der ewige Gott kann ferner nun auch als handelnd gedacht werden. Damit wären wir aber auch schon bei den Nachteilen: Gott kann zwar handeln, aber letztlich nur einmalig. Alles Handeln Gottes kann sich nur als Weltsetzung verstehen, das die gesamte Zeit der Welt einschließlich all ihrer Ereignisse auf einmal unzeitlich setzt. In Zukunft kann nichts geschehen, was nicht schon für den ewigen Gott Realität wäre. Damit wäre zum einen die Freiheit Gottes auf einen einmaligen Akt begrenzt. Zum anderen bedeutet dies aber für die zeitliche Welt, wenn man nicht Boethius’ ratio-intelligentia-Unterscheidung folgt, Determinismus.

3.5.3 Das Modell der partiellen Simultaneität: Das scotistische Modell Um die Schwächen des boethianischen Modells der Ewigkeit als vollständiger Simultaneität vermeiden zu können, wurde dieses Modell modifiziert: Man kann dies den Typus der Ewigkeit als partieller Gleichzeitigkeit nennen. Boethius’ Modell wurde z. B. von Vincent Brümmer115 und Richard Swinburne116 so beschrieben, als vergleiche er Ewigkeit und Zeit mit einem Beobachter auf einem Gipfel, der die im Tal wandernden Ereignisse gleich Spaziergängern an allen Stellen gleichzeitig sieht, während diese nicht um die nächste Ecke schauen können. Der Fehler bestehe hier in einer Verräumlichung der Zeit, in einer Reduktion auf quasiräumliche Relationen: Zwar könne die Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Ewigkeit gewahrt bleiben, nicht aber die Differenz von früher und später. Wolle man beides wahren, dürfe das boethianische Modell nur auf die Vergangenheit und Gegenwart, nicht aber auf die Zukunft angewandt werden: Während Gott in seiner Ewigkeit als Gleichzeitigkeit alles Geschehene mit Notwendigkeit gleichzeitig sieht, sieht er in der Gleichzeitigkeit die Zukunft nur als Möglichkeit.117 Wir können auch dies in ein Bild fassen und dieses modifizierte boethianische Modell mit einem Beobachter vergleichen, der die Wanderer im Tal begleitet, und einerseits alle hinter ihm Wandernden gleichzeitig sehen kann, weil er bedeutend größer als jeder andere ist, während er das Tal voraus, einschließlich aller seiner Wegabzweigungen exakt kennt und überblickt, aber nicht sieht, welchen Weg die 115 Vgl. Brìmmer, V., Was tun wir, wenn wir beten?, 40 – 44. 116 Vgl. Swinburne, R., Christian God, 138 – 139. 117 Vgl. Brìmmer, V., Was tun wir, wenn wir beten?, 40 – 44.

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Karawane nehmen wird. Man kann dieses modifizierte boethianische Modell auch so beschreiben, dass einer Sichtweise der Ewigkeit gemäß der McTaggert’schen B-Reihe von Ereignissen nun die idexikalische A-Reihe ergänzt wird, und der Ewigkeit selbst eine Perspektive zugewiesen wird. Nach Calvin Normore geschähe diese Modifikation historisch zum ersten Mal bei Duns Scotus.118 Mit dieser scheinbar nur kleinen Modifikation wird erreicht, dass ein deterministisches Weltverständnis aufgegeben wird, und sowohl ewiger Gott als auch Mensch immer noch handeln können. Echte Kontingenz ist somit ermöglicht. Das Gebet zwischen zeitlichem Mensch und ewigem Gott kann nun als wirkliche Kommunikation verstanden werden. Neben diesen Vorteilen hat aber auch dieses Konzept Nachteile, denn die Differenz zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit ist nun deutlich herabgesetzt. Ferner ermöglicht auch dieses Bild keine wirkliche Neuheit über das Geschehen in der zeitlichen Welt hinaus. Auch dieses Verständnis der Ewigkeit in seinen beiden Varianten als vollständige oder partielle Gleichzeitigkeit hat eine breite theologische und außertheologische Tradition. Wir finden Elemente von ihm nahezu im ganzen Mittelalter,119 im 19. Jh. bei Albrecht Ritschl,120 mit einigen Modifikationen erscheint es im 20. Jh. bei Paul Tillich,121 in der Prozeßphilosophie,122 bei Vincent Brümmer,123 Peter T. Geach124 und in einigen Deutungen des modernen relativistischen Zeitverständnisses der Physik, so etwa bei Minkowski125 oder Hermann Weyl126. Dieses Modell hat gegenüber dem Modell der Ewigkeit als Zeitlosigkeit den Vorzug, dass hierfür leichter Belege der frühjüdischen Tradition verbucht werden können, etwa wenn apokalyptische Seher im Himmel nicht nur Zukünftiges, sondern auch Vergangenes schauen.127 Fragen wir auch hier nach einer Ewigkeitshoffnung für den Menschen, kann diese darin bestehen, dass das, was der Mensch in der Zeit erlebt, gewissermaßen verewigt wird. Es bleibt, um die Terminologie der Prozessphilosophie Whiteheads zu nutzen, in der Folgenatur Gottes erhalten: Im Gedächtnis Gottes geht nichts verloren oder wird, nach Tillich, essentifiziert.128 Bei diesen Vorstellungen der Verewigung des Zeitlichen bleibt auch Raum für den Ge118 Vgl. Normore, C./Kretzman, N., The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, 367. 119 Dies kommt besonders deutlich durch den Terminus sempiternitas zum Ausdruck; vgl. Echternach, H., Ewigkeit. 120 Vgl. Ritschl, A., RuV 3, 284. 475. 121 Vgl. Tillich, P., ST III, 473 – 477. 122 Vgl. Welker, M., Universalität Gottes, 109 – 137. 123 Vgl. Brìmmer, V., Was tun wir, wenn wir beten?, 40 – 44. 124 Vgl. Geach, P.T., Providence and Evil, 57 f. 125 Vgl. Minkowski, H., Raum und Zeit. 126 Vgl. Weyl, H., Analyse des Raumproblems, 87. 127 Vgl. äth. Henoch 33,6. 128 Vgl. Tillich, P., ST III, 473 – 477 und Whitehead, A.N., Prozeß und Realität, Frankfurt a.M. 1979, 611 – 627.

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richtsgedanken: Nicht alles der zeitlichen Ewigkeit bleibt erhalten, sondern nur das, was miteinander kohärent ist. Die Verewigung des Zeitlichen ist somit gleichzeitig eine Reinigung. Was es in diesem Typus von Ewigkeitshoffnungen für den Menschen freilich nicht gibt, ist die Hoffnung auf wirklich Neues und qualitativ Unterschiedenes. Die Ewigkeit fügt der Zeitlichkeit nichts hinzu, sie nimmt nur etwas weg. Ob dieser Ewigkeitstyp daher tatsächlich als ewiges Leben zu bezeichnen ist, der die volle Valenz der Zeit erhält, ist fraglich.

3.5.4 Ewigkeit als anfangsloser und endloser Fluß der Zeit: Das Beispiel Richard Swinburnes Nun erwähnt Boethius noch ein weiteres Ewigkeitsverständnis, das er aber recht lapidar ablehnt: das scheinbar naive Verständnis der Ewigkeit als endlosem Fluss der Zeit.129 Aber auch dieses Ewigkeitsverständnis ist mit Sorgfalt zu erwägen. Ich möchte dies nun nicht am Beispiel eines klassischen Autors, sondern am Beispiel des zeitgenössischen Oxforder Religionsphilosophen Richard Swinburne tun, der m.W. einen der philosophisch anspruchsvollsten Entwürfe zu diesem Typus vorgelegt hat. Swinburne hat seine Überlegungen in zwei Werken vorgetragen: in „Space and Time“ von 1968 und in „The Christian God“ von 1994. Betrachten wir zunächst Swinburnes Zeitverständnis, um darauf auf den Ewigkeitsbegriff zu sprechen zu kommen. Swinburne beschreibt zunächst mit Hilfe von vier Prinzipien das Wesen von Zeit. Das erste Prinzip besteht darin, dass Ereignisse in Perioden geschehen, niemals zu Zeitpunkten, die nur Grenzwertcharakter haben. „Every Event that is – including the mere existence of a substance with its properties – happens over a period of time and never at an instant of time“.130

Konsequenzen dieses Prinzips sind zum einen, dass Momente nur als Grenzwerte zwischen Perioden gesehen werden und dass jede beliebige Zeitperiode in unendlich viele Zeitperioden geteilt werden kann. Das zweite Prinzip unterscheidet eine Topologie von einer Metrik der Zeit: „Topology is concerned with the ordering of events, metric with the size of intervals between them“.131

Die Topologie bezieht sich auf die pure Folge realer oder möglicher Ereignisse und ist von Naturgesetzen unabhängig. Die Metrik bezieht sich auf die messbare Dauer von Zeitperioden und basiert auf Naturgesetzen. Die Metrik setzt die Topologie voraus, nicht aber die Topologie die Metrik: 129 Vgl. Boethius, A.M.S., Trost, V,6.p. 130 Swinburne, R., Christian God, 72. 131 Swinburne, R., Christian God, 75.

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„while time has a topology, independently of whether there are laws of nature, it has a metric only if there are laws of nature“.132

Die Metrik setzt den Bestand natürlicher oder künstlicher Uhren voraus, die Topologie nicht. Ohne die Metrik sind unterschiedliche Perioden hinsichtlich ihrer Länge ununterscheidbar, das Konzept der Messbarkeit von Zeit ist sinnlos. Eine Konsequenz dieses Prinzips ist, dass die Metrik der Zeit einen Anfang und ein Ende haben kann, nicht aber die Topologie: Wenn es einen ersten Grenzwert gäbe, ab dem Substanzen erscheinen, so wäre dieser Grenzwert gleichzeitig das Ende einer metriklosen Periode vorher : „So if there were no God and the universe had a beginning, then before then there would be no substances and hence no laws of nature; and then although one could talk of the time before there was a universe […], one could not distinguish any one such period from any other“.133

Konsequenterweise bezieht Swinburne die augustinische Ansicht von der Geschöpflichkeit der Zeit auf die Metrik, nicht auf die Topologie. Das dritte Prinzip bezieht sich auf eine kausale Reduktion der Zeit: Die Zukunft ist das, was kausal affizierbar ist, die Vergangenheit das, was kausal affizieren kann: „a period of time is future if it is logically possible that an agent can now causally affect what happens then; and a period of time is past if it is logically possible that an agent acting then could have causally affected what happens now“.134

Eine Konsequenz dieses dritten Prinzips, zusammen mit dem ersten Prinzip, ist, dass es nur Vergangenheit und Zukunft gibt. Eine augustinische Gegenwart ist nicht denkbar. Der Unterschied zwischen Erinnerung an Vergangenes und Wahrnehmung von Gegenwärtigem ist nicht kategorialer, sondern kontingent-biologischer Natur : Beides ist ein Bewusstsein von Vergangenem: Wahrnehmung bezieht sich auf Vergangenes, dass unvermeidlich und konstant durch Kausalzusammenhang verbunden in das Bewusstsein tritt. Erinnerung hingegen bezieht sich auf Vergangenes, das nicht konstant, sondern sporadisch in das Bewusstsein tritt. Für personale Individuen mit nicht menschlichen Hirnstrukturen, so Swinburne, könnte die Differenz von Wahrnehmung und Erinnerung hinfällig sein: „Both memory and perception must be of things past. […] Those experiences of a kind which arise by an immediate causal chain […] – experiences unavoidable – […] we call perceptions. […] Memories, by contrast, are not constantly before us, they come to us erratically. […] These differences between perceptions and memories in humans clearly have their source in the different brain structures which mediate our 132 Swinburne, R., Christian God, 75. 133 Swinburne, R., Christian God, 79. 134 Swinburne, R., Christian God, 81.

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experience of the world. Individuals of a very different kind from ourselves might not have a similar twofold scheme of awareness of the past“.135

Eine weitere Konsequenz der kausalen Reduktion besteht darin, dass der Zeitlauf irreversibel ist. Eine dritte Konsequenz schließt aus, dass die Existenz paralleler Zeitlinien ein sinnvolles Konzept sein könnte. Das vierte Prinzip schließlich bezieht sich auf die Indexikalität der Zeit, nach der die Differenz von „früher“ und „später“ jeweils vom Beobachter in der Zeit abhängig ist und nimmt McTaggarts Unterscheidung einer A-Reihe von Ereignissen und einer B-Reihe von Ereignissen auf: Die B-Reihe bezieht sich nur auf die Ordnung von Ereignissen, unabhängig vom indexikalischen Standpunkt des Beobachters, die A-Reihe bezieht die Ordnung mittels „früher-später“ relativ zum Beobachter indexikalisch mit ein.136 Kommen wir nun zu Swinburnes Ewigkeitsbegriff. Swinburne unterscheidet zwei mögliche Typen von Ewigkeitsverständnissen: zum einen das naive, explizit oder implizit nach seiner Aussage im NT bis ins dritte Jh. vorliegende Verständnis der Ewigkeit als unendlichem Zeitfluss und andererseits das seit neuplatonischer Zeit auch im Christentum herrschend gewordene Verständnis von Ewigkeit als Zeitlosigkeit. Dabei ist zu beachten, dass er beide, den hier vorgestellten augustinischen und den hier vorgestellten boethianischen Typus, darunter subsummiert, sich primär aber nur auf den boethianischen Typ bezieht. Die Verschiebung vom biblischen zum augustinisch-boethianischen Typ erkläre sich aus dem scheinbaren Mangel des ersten Verständnisses, das Gott der Vergänglichkeit der Zeit unterordne und ihn zu deren Gefangenen mache: „It seems to imply that time stands outside God, who is caught in its stream. The cosmic clock ticks […] away, and God can do nothing about it. […] the view of ,God as time’s prisoner‘“.137

Swinburne geht nun so vor, dass er versucht zu zeigen, dass der boethianische Typ inkohärent sei: Wenn der ganze Lauf zeitlicher Ereignisse in Gottes Gegenwart präsent sei, könne dies entweder heißen, dass Gottes Gegenwart hier ein Moment sei oder eine Periode. Ersteres ist aber durch das erste Prinzip der Zeit ausgeschlossen, nach dem Momente lediglich Grenzwertcharakter haben: „The most natural reading of the tradition seems to me to read ,moment‘ as ,instant‘ and in that case the doctrine is in conflict with the first principle […]. A state of affairs must last for a period of time; it cannot occur at an instant“.138

Wäre Gottes ewige Gegenwart aber als Periode zu deuten, müsste diese identisch mit dem ganzen Zeitlauf sein. Wenn Gott dann aber kausal handeln 135 136 137 138

Swinburne, R., Christian God, 90. Vgl. McTaggart, J.M.E., The Nature of Existence, Bd. 2, Bd. 2, Kap. 33. Swinburne, R., Christian God, 138. Swinburne, R., Christian God, 139.

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soll, würde dies die schon von Swinburne als logisch inkohärent angesehene Möglichkeit einer „backward causality“ oder einer gleichzeitigen Verursachung bedeuten oder die als sinnlos angesehene Möglichkeit einer parallelen Zeitlinie, die zu unserer in keinem Verhältnis steht. Damit aber hält Swinburne den boethianischen Typus für widerlegt. Demnach bleibt nur die Möglichkeit, zum Typus der Ewigkeit als unendlichem Zeitlauf zurückzukehren und aufzuweisen, dass dies nicht notwendig bedeutet, dass Gott der Zeit Gefangener ist. Dies erreicht Swinburne durch die Unterscheidung zwischen Metrik und Topologie der Zeit. Die Topologie der Zeit ist Gottes Ewigkeit. In ihr macht es keinen Sinn, von Perioden unterschiedlicher Länge zu reden: „There would be no difference between a divine act of self awareness which lasted a millisecond and one which lasted a million years“.139

Aber es kann, noch bevor es ein Universum von geschaffenen Substanzen und damit Naturgesetze sowie eine Metrik der Zeit gibt, durchaus eine Topologie geben, die auf geordneten mentalen Ereignissen in Gott beruht, ohne dass eine kosmische Uhr, die unablässig abläuft, Gott übergeordnet wäre: „There would be no cosmic clock ticking away – for there would be no laws of nature“.140

Dabei gilt ferner, dass es im Unterschied zu uns für Gott keinen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Erinnerung gibt, so dass ihm alle „vergangenen Ereignisse“ in gleicher Weise bewusst sind. Die Zukunft aber bliebe „under God’s total control; he needs not make free creatures – in which case nothing will surprise him“.141 Wenn sich Gott aber zur Schöpfung eines Naturgesetzes und somit zu einer Metrik der Zeit beinhaltenden Schöpfung entschlossen hat, bedeutet dies nicht, dass die Zeit ontisch Gott überzuordnen wäre, da es sich um eine im freien Willen Gottes begründete Selbstauslieferung an die Zeit handelt. Für Gottes Vergangenheit gilt dann das gleiche Bewusstsein ohne den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Erinnerung, für Gottes Zukunft gibt es hier aber durchaus die Möglichkeit der Überraschung durch die Zukunft. Dennoch ist Gott dann nicht „time’s prisoner“: „The unwelcome features of time – the increase of events that cannot be changed, the cosmic clock ticking away as they happen, the possibility of surprise in the future – may indeed invade God’s time; but they come by invitation, not by force“.142

Lassen wir es hier dahingestellt sein, ob Swinburnes Auffassung wirklich so scharf dem boethianischen Typus widerspricht, wie er annimmt, oder ob er 139 140 141 142

Swinburne, R., Christian God, 140. Swinburne, R., Christian God, 142. Swinburne, R., Christian God, 142. Swinburne, R., Christian God, 143.

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mit der Indifferenz zwischen Erinnerung und Wahrnehmung nicht doch sachlich ein Anliegen des boethianischen Zeitverständnisses aufnimmt. Hinsichtlich Swinburnes Auffassung, dass Gott eine Zeit vor und nach der Metrik der Zeit hat und hinsichtlich der Möglichkeit von fortgesetzter Neuheit und Überraschung, ist Swinburnes Auffassung wohl tatsächlich eine Exemplifikation des Typus eines Ewigkeitsverständnisses als unendlichen Zeitlaufes. Auch dieses Zeitverständnis hat eine breite Tradition. Wir finden es im 20. Jh. etwa bei dem Neutestamentler Oscar Cullmann,143 bei dem Religionsphilosophen Nelson Pike144 und in modifizierter Form im physikalistisch-reduktionistischen Wirklichkeitsverständnis des Physikers Frank J. Tipler.145 Die Vorteile dieses Zeit- und Ewigkeitsverständnisses liegen auf der Hand: Gott kann tatsächlich als handelnd und leidend gedacht werden, ebenso die Welt. Neuheit ist immer wieder möglich. Auch Vollzüge des christlichen Lebens wie das Gebet sind nun als reale Kommunikation denkbar. Freilich liegen auch die Nachteile dieses Verständnisses auf der Hand: Der kategoriale Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit dürfte weitgehend verschwunden sein, vielmehr ist die zeitliche Welt ein Aspekt der Ewigkeit. Gott geht zwar nicht ganz in der zeitlichen Welt auf, weil er auch vor und nach der Welt unendlich existiert, aber während der Zeit übersteigt er die Welt nicht. Wie sieht die Ewigkeitshoffnung für den Menschen unter diesem Modell aus? Sie könnte darin bestehen, dass es sich um eine unendliche Fortsetzung dessen, was wir hier erleben, handelt, wenn auch mit neuer Qualität. Aber auch hier kann die Relevanz zeitlicher Ereignisse nicht vollständig erhalten bleiben, denn für ein ewiges Leben menschlicher Individuen versinken auch diese in der Vergangenheit.

3.5.5 Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit Ist nun ein Ewigkeitsverständnis denkbar, das die ontische Relevanz zeitlicher Ereignisse sichern kann? In allen drei Fällen wird eine Vorstellung der Ewigkeit von der Erfahrung der zeitlichen Welt abgeleitet. Und dies ist theologisch ein Problem. Wenn der Mensch zeitlich ist und eben nicht ewig, kann es dann überhaupt einen Umstand geben, dass er die Ewigkeit begreifen kann? Diesen Umstand kann es geben, aber nur dann, wenn sich die Ewigkeit von sich aus dem Menschen erschließt. Eine notwendige Bedingung eines angemessenen Ewigkeitskonzepts aus der Perspektive des christlichen Glaubens 143 Vgl. Cullmann, O., Christus und die Zeit, 69. 144 Pike, N., God and Timelessness, 121 – 129. 145 Vgl. Tipler, F.J., Physik der Unsterblichkeit, 167 – 181. Die Modifikation besteht bei Tipler darin, dass er von einem Universum mit einer objektiven Endlichkeit als Bedingung für eine subjektive Unendlichkeit des Lebens ausgeht.

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setzt dabei Offenbarung – oder genauer, die Selbstpräsentation – der Ewigkeit in der Zeit voraus. Dennoch bedarf es zunächst einer kurzen Reflexion über die Zeit, um identifizieren zu können, welche Aspekte der Offenbarung für das ZeitEwigkeitsverhältnis relevant sind. Ich werde daher im Folgenden zunächst versuchen, in aller Kürze auf Merkmale des gegenwärtigen naturphilosophischen Zeitverständnisses einzugehen, um darauf auf die Selbsterschließung Gottes zu sprechen zu kommen. Anschließend müsste es möglich sein, einige Bedingungen für ein Verständnis der Ewigkeit im Verhältnis zur Zeit vorzuschlagen. 3.5.5.1 Zeit Geht man von der modernen Vorstellung der Zeit in der Relativitätstheorie aus, stellt man fest, dass die Zeit hier keine Konstante, wie in der klassischen Mechanik bildet, sondern nun ihrerseits von der neuen Konstante der Lichtgeschwindigkeit abhängig ist.146 Die daraus resultierende Zeitdilatation147 mag uns zwar irritieren, aber die Folgen sind nicht so bedeutend, wie man annehmen mag. Damit ist zwar so etwas wie absolute Gleichzeitigkeit nicht mehr denkbar, aber die Folge der Zeit eines Vorher und Nachher bleibt erhalten. Nimmt man nun noch die Quantentheorie hinzu, wird man weiter irritiert, weil nun die Möglichkeit einer diskontinuierlich „tropfenden“ Zeit erscheint, denn es macht keinen Sinn, von einer Periode, die kürzer als die Planck-Zeit ist, zu sprechen.148 Die philosophischen Interpretationen sind zwar zum Teil beachtlich, weil gezeigt werden kann, dass Zeit und Raum nicht der umfassende Individuationsrahmen sein dürften, für den man sie halten mag, aber wir können diesen Sachverhalt für unsere Zwecke ausblenden. Betrachtet man zusätzlich die Thermodynamik, erscheint die Zeit als irreversibel, so dass auch von der Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Rede sein kann.149 Damit dürfte sich die intuitive Erfahrung von Zeit auch naturwissenschaftlich bestätigen lassen. Freilich ist so noch nicht die Frage, was denn Zeit sei, beantwortet. Aber das ist auch nicht nötig. Was immer Zeit auch sein mag, wir kennen nun einige Kennzeichen von Zeit und können auch deren Leistungsfähigkeit, deren Funktion angeben: Die Zeit ermöglicht, dass wir distinkte Ereignisse und Gegenstände identifizieren können. Sie ermöglicht die Wahrnehmung von Unterscheidung und Bezogenheit verschiedener Entitäten, sie ermöglicht tatsächliche Alterität. Dies liegt aber nicht am Wesen der Zeit, sondern an ihrem Charakter als logischer Ordnungsrelation, d. h. als einer Relation die asymmetrisch, irreflexiv und transitiv ist. 2004 kommt nach 146 147 148 149

Vgl. Wçlfel, E., Zeit, hier 22 – 30. Vgl. Wçlfel, E., Zeit, 25 f. Vgl. Weidemann, V., Das inflationäre Universum, hier 355. Vgl. Jackelen, A., Zeit und Ewigkeit, 229 – 237.

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2003, nie umgekehrt. Daher ist die Zeit asymmetrisch. 2004 kommt nie nach 2004. Daher ist die Zeit irreflexiv. Wenn 2005 nach 2004 kommt und 2004 nach 2003 kommt, dann kommt auch 2005 nach 2003. Daher ist die Zeit transitiv. Diese logische Eigenschaft der Zeit ist nicht auf diese beschränkt. Wir kennen solche Ordnungsrelationen auch in mannigfachen anderen Bereichen, etwa in der alphanumerischen Sortierung eines Lexikons oder in Relationen wie „kleiner als“ oder „größer als“ oder in der Gattungs-Art-Unterscheidung der arbor porphyriana. Obwohl wir damit nicht das Wesen der Zeit entdeckt haben, können wir ein wichtiges Postulat für einen möglichen Ewigkeitsbegriff aufstellen: Wenn es einen Ewigkeitsbegriff gibt, der zur zeitlichen Welt sinnvoll in ein Verhältnis gesetzt werden soll, wird der Ewigkeit ebenfalls dieser logische Charakter der Ordnungsrelation zukommen müssen, falls Ewigkeit nicht Vernichtung der geschöpflichen Zeit und der in ihr lebenden Geschöpfe bedeuten soll. 3.5.5.2 Ewigkeit Damit sind wir bei der zweiten Frage der Selbsterschließung Gottes. Nach christlichem Verständnis erschließt sich uns Gott, indem wir erfahren, dass durch die Zusage des Evangeliums uns die Wahrheit unseres Lebens gewiss wird. Damit hat der christliche Glaube den Anspruch, dass Gott erfahrbar ist. Gott vergegenwärtigt sich uns aber nicht anders als über das äußere Wort des Evangeliums und das innere Zeugnis des Geistes. Wir haben daher nach den Konstitutionsbedingungen des Evangeliums zu fragen. Und hier stößt man auf eine dreifaltige, miteinander verschränkte, narrative Selbstidentifikation Gottes – in der Geschichte Jahwes mit seinem Volk, in der Geschichte Jesu von Nazareth, der sich in seiner Botschaft der Königsherrschaft Gottes auf den Gott Israels als seinen Vater bezieht, und in der durch den Geist gewirkten Erfahrung der Christen, von der Wahrheit der Auferstehung Christi, durch den sie dessen Anspruch, eben die Gottesherrschaft zu bringen, anerkennen.150 Gott ist damit nicht nur erfahrbar, sondern auch identifizierbar ; und zwar durch sich selbst. Wenn aber Gott wirklich so ist, wie er sich uns erschließt und wenn es wirklich Gott ist, der sich uns erschließt, d. h., wenn die Schöper-Geschöpf-Differenz gewahrt wird, dann entspricht dieser dreifachnarrativen Selbsterschließungsstruktur auch ein Sein und Leben Gottes unabhängig von der Welt: die immanente – oder besser individuierte – Trinität. Die christliche Tradition hat versucht, diesen Sachverhalt in unterschiedlichen Trinitätslehren zum Ausdruck zu bringen. Verkürzt gesagt kann Gott als ein Beziehungsgeschehen, bzw. ein prozedierendes Sich-Ereignen einer lebendigen Liebeskommunikation zwischen Vater, Sohn und Geist genannt werden. Gott ist eine selbsterzählende, sich ereignende, ewige Narration, bzw. Gott ist 150 Vgl. Becker, J., Urchristentum, 20 – 23.27.29.31.72; Jenson, R.W., Triune God, 88; Schwçbel, C., Gott in Beziehung, 33.

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eine ewige Liebesgeschichte. Damit aber ist in Gott selbst Alterität ermöglicht. Die Unterschiede, die sowohl das Sein der drei göttlichen Personen als auch deren Alterität ermöglichen, liegen dabei in nichts anderem als in ihren kommunikativen Beziehungen der Liebe. Martin Luther hat diese Kommunikation als innertrinitarisches Gespräch beschrieben. „Gleich wie der Vater ein ewiger Sprecher ist, der Sohn in Ewigkeit gesprochen wird, ist also der Heilige Geist in Ewigkeit der Zuhörer“.151 Schließt diese ontisch-konstitutive Selbstnarration Gottes auch Kontingenz und Überraschung mit ein, wie in Kap. 2.4 zu sehen war, wird man sogar zu der kühnen Metapher gelangen können: Gott ist Abenteuer, ohne dass damit freilich jedes Abenteuer göttliche Qualität erhielte. Aufgrund der naheliegenden Assoziation von „Liebesgeschichte“ und „Abenteuer“ und der verheerenden Konnotationen des Wortes „Liebesabenteuer“ wird man sich allerdings hüten müssen, auch diese Prädikation bei Gott vorzunehmen. Da sich nun zeigen lässt, dass diese trinitarische, narrative Kommunikation selbst ihre eigene Ordnungsrelation sein muss, bedeutet dies für die Ewigkeit Gottes: Die Ewigkeit Gottes ist dessen Wesen und damit das trinitarische kommunikative Beziehungsgefüge selbst. 3.5.5.3 Zeit und Ewigkeit Folgendes gilt dann für das Verhältnis der Ewigkeit zur Zeit: Indem Gott eine freie Schöpfung hervorbringt, bringt er eine Schöpfung in Entsprechung zu seiner Ewigkeit hervor, die ihren eigenen Charakter als Ordnungsrelation u. a. in der Zeitlichkeit der Welt findet, was immer auch das „Wesen“ von Zeit sein mag. Damit ist es aber möglich, dass sich die Ewigkeit Gottes zu dieser Schöpfung in ein positives Verhältnis setzt und dennoch kategorial unterschieden bleibt. Der ewige Gott kann die Welt liebend begleiten, ohne deren Eigenständigkeit und Alterität zu verletzen. Dies schließt ein, dass die Welt einen irreversiblen Zeitverlauf besitzt, in dem auch der trinitarische Gott Vergangenheit und Gegenwart als Faktizität, die Zukunft aber als qualifizierten Möglichkeitsraum kennt, den er ungleich stärker und besser lenken kann, als dies den Geschöpfen innerhalb der Zeit möglich wäre. Dies ermöglicht sowohl die Freiheit der Ewigkeit Gottes als auch die endliche Freiheit von Personen und die Kontingenz von Ereignissen der zeitlichen Welt: Beide, Gott und dessen personale Geschöpfe, können tatsächlich als handelnd gedacht werden, und damit ist eine personale Beziehung zwischen Gott und dem personalen Geschöpf möglich. Verkürzt gesagt: Das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit entspricht dem Verhältnis von immanenter und ökonomischer Trinität: Jene ist ontische Bedingung der Möglichkeit für diese, diese ist epistemisch hinreichende Bedingung der Möglichkeit für jene. Was bedeutet dieses Ewigkeitsverständnis nun für unsere Ewigkeitshoff151 Luther, M., WA 46, 60,4.

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nungen? Es bedeutet, dass unsere eschatologische Ewigkeitshoffnung darin besteht, durch das Handeln Gottes aus der Ordnungsrelation, die die zeitliche Welt bildet, in das innertrinitarische Beziehungsgeschehen versetzt zu werden, nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Gnade. Damit partizipieren wir eschatologisch am innertrinitarischen ewigen Gespräch. Dabei bleibt unsere Alterität gewahrt, denn wir werden nicht zum Vater, zum Sohn oder zum Geist. Ferner ist unsere Identität, die wir in unserer Geschichte der zeitlichen Welt leben, gewahrt: Es sind tatsächlich wir und niemand anders, der das eschatische ewige Leben führt. Es ist auch die Möglichkeit echter Neuheit gegeben: Das eschatische innertrinitarische Leben beschränkt sich nicht auf eine Rekapitulation der zeitlichen Welt. Und es ist der Gedanke des Gerichts ermöglicht: Nicht alles, was wir in dieser zeitlichen Welt sind, muss verewigt werden. In diesem Ewigkeitsverständnis, in dem der Bezug von Ewigkeit und Zeit durch die Verschränkung zweier Ordnungsrelationen stattfindet, dürfte damit die ontische Relevanz zeitlicher Ereignisse gesichert sein. Ja, mehr noch: Es dürfte sich sogar benennen lassen, wie die eschatologische Ewigkeit in der Welt zeitlicher Ereignisse erfahrbar ist: Wenn Gottes Ewigkeit nach Luther in dessen innertrinitarischer Kommunikation besteht, dann erfahren wir Ewigkeit in der Zeit mit den Worten Luthers folgendermaßen: „Wo und mit wem Gott spricht, sei es im Zorn oder in der Gnade, der ist gewiß unsterblich“.152 Gott spricht aber im Hier-und-Jetzt narrativ durch Wort und Sakrament. Daher bedeutet diese Verschränkung zweier Ordnungsrelationen, einer zeitlichen und einer ewigen, nichts anderes, als dass unser ereignishaftes, geschichtliches Leben, dessen Identität nur narrativ erzählt werden kann, sich selbst in, mit und unter der ewigen Narration vollzieht, die die Liebe des trinitarischen Gottes selbst ist.

3.6 Zeitfaktoren 3.6.1 Das Junktim Zeit/Ewigkeit im Zusammenhang theologischer Sachthemen In allen theologischen Sachbereichen spielt das Junktim der Begriffe Zeit und Ewigkeit eine kaum zu unterschätzende Rolle. Im Zusammenhang dogmatischer Sachthemen mag man hier etwa an die Schöpfungslehre denken, in der der Zeitbegriff explizit thematisiert wird, oder an die Gotteslehre und die Eschatologie, in der der Ewigkeitsbegriff in der Regel seine Explikation erhält. Implizit aber werden alle dogmatischen Bereiche von dem Junktim mitbestimmt: sei es die Anthropologie, die den Menschen als zeitliches und endli152 Luther, M., WA 43, 481,32 f.

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ches Lebewesen bestimmt, sei es die Hamartiologie mit ihrer Thematisierung des alten und neuen Menschen – auch wenn dieses „alt“ und „neu“ nicht unbedingt zeitlich zu verstehen ist –, sei es die Christologie, die seit der Alten Kirche explizit das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit – bzw. von Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit – zum Thema hat,153 oder die Soteriologie, die Lehre von der Gnadenaneignung und der geschichtlichen Existenz der Kirche. Aufgrund der unhintergehbaren narrativen Gestalt der biblischen Berichte zeigt sich das Zeitthema nicht nur in explizit heilsgeschichtlichen Konzeptionen, sondern auch im Fächerkanon der akademischen Theologie als solcher, die aufgrund ihres biblischen Ursprungs bleibend auf historische Wissenschaften bezogen ist, die die Zeitthematik per se einschließen. Darüber hinausgehend ist die Theorie der Glaubenskonstitution stets mit dem verbum externum verbunden und setzt somit ebenfalls eine geschichtliche und zeitliche Dimension voraus, die der historischen Metareflexion bedarf. Aufgrund dieser Bedeutung der Geschichte für die Glaubenskonstitution kann Theologie in keiner ihrer Disziplinen von Geltungsfragen abstrahieren, sondern muss sich des Problems des „garstigen Grabens“154 zwischen Historisch-Kontingentem und gegenwärtigem Geltungsanspruch stets bewusst bleiben.

3.6.2 Das Junktim von Zeit und Ewigkeit als prägendes Merkmal theologischer Positionalität Angesichts der hohen Bedeutung des Zeit/Ewigkeitsjunktims für theologische Sachthemen überrascht es nicht, wenn spezifische Auffassungen dieses Junktims auch für positionale theologische Systemkonstruktionen federführend sind. Man mag hier an theologische Positionen etwa des 20. Jh. denken, die den Zeitbegriff auf die eine oder andere Weise als Strukturmoment enthalten. Zu nennen wären etwa die historische Theologie Pannenbergs, die Betonung der futurischen Dimension beim frühen Moltmann, die Bedeutung der zyklischen, äonischen Zeit als Klammer von Schöpfungslehre und Eschatologie beim späten Moltmann155 oder die Theologie R.W. Jensons, der – Gedanken des Ewigkeitskapitels von Karl Barths KD II/1 aufnehmend – das Wesen Gottes selbst als das bestimmt, was die Zeit zusammenhält.156 Aber nicht nur Theologien der „trinitarischen Renaissance“ – besonders wenn sie der Identitätsthese von ökonomischer und immanenter Trinität zumindest nahe stehen – oder explizit heilsgeschichtliche Konzeptionen sind unhintergehbar durch den Zeitbegriff und sein Ewigkeitskorrelat strukturiert. 153 154 155 156

Vgl. Elert, W., Ausgang der altkirchlichen Christologie, 33 – 70. Vgl. Lessing, G.E., Werke VIII, 12. Vgl. Moltmann, J., Weg Jesu Christi, 342. Vgl. Jenson, R.W., ST I, 54 f.

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Auch Theologien, die sich in der Nähe des Bewusstseinsparadigmas Schleiermachers bewegen, werden von der Differenz und Bezogenheit eines zeitlichen Bewusstseins und eines Gottesbewusstseins zumindest stark mitbestimmt, wie am Bespiel Schleiermachers verschiedentlich aufgezeigt wurde.157 Selbst Theologien, die nur ein Minimum an Raum der Explikation des Ewigkeits- und Zeitbegriffs einräumen, können sich dessen bestimmender Rolle nicht entziehen. Im Folgenden sei dies am Beispiel Albrecht Ritschls illustriert. 3.6.3 Das Beispiel Albrecht Ritschls 3.6.3.1 Ewigkeit und Zeit Im Rahmen seiner teleologischen Personalitätskonzeption definiert Ritschl Ewigkeit: „[…] so erkennen wir die Ewigkeit Gottes darin, daß in der Stetigkeit seines auf den Zweck des Gottesreiches gerichteten Willens die Bedeutung der Zeit, in der er das Einzelne zu jenem Zweck hervorbringt oder hervorgehen lässt, für ihn aufgehoben, oder daß der zeitliche Abstand seiner vorbereitenden Schöpfungen von der Verwirklichung seines Offenbarungszieles für ihn werthlos ist.“158

Ewigkeit hat zwei Aspekte: erstens die Stetigkeit des auf den Zweck bezogenen Willens (Heiligkeit), zweitens die Erfahrung der Differenzlosigkeit zwischen Zweck und Ziel (Integrität). Die Zeit ist damit sachlogisch-ontisch ein Bewusstseinsphänomen des Menschen, in dem im Gegensatz zur Ewigkeit Gottes innerhalb der Selbstzweckstruktur, die allein real ist, Zweck und Ziel auseinandertreten und nicht gleichzeitig erlebt werden. Zweck und Ziel treten aber auseinander, weil die Zweckverwirklichung in unserem Erleben gehemmt ist: „Wir können dieses [die Stetigkeit des Willens bzw. das Erleben der Identität von Zweck und Ziel] daran ermessen, daß wir das Gegentheil davon eben als den Mangel in unserer geschöpflichen Lage empfinden. […] allein in der Erinnerung an unsere vielfältige Abhängigkeit von der Natur und von der Gesellschaft, oder an die Schwäche unseres Willens genießen wir in der Erreichung eines vorläufigen Zieles keineswegs die Verwirklichung des ganzes Werkes, sondern erleben mit der parti157 Vgl. die Analysen von Trowitzsch, M., Zeit zur Ewigkeit. 158 Ritschl, A., RuV 3, 285. Vgl. auch Ritschl, A., RuV 3, 287 f: „Allein […] so kann überhaupt keine Zeitgrenze in dem Leben Gottes behauptet werden, von welcher an er mehr seines Zieles sicher wäre als vorher. Vielmehr muß es bei der Formel bleiben, daß Gott nicht nur seines Selbstzweckes und seines Weltplanes auf jedem Punkte der Verwirklichung desselben gewiß ist, sondern in der Congruenz seines das Ganze durchschauenden Erkennens mit seinem das ganze bewegenden Willen auf jedem einzelnen Punkte stetig die Verwirklichung des Ganzen erlebt.“

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ellen Befriedigung zugleich immer die Unruhe und Angst um die Vollendung des beabsichtigten Ganzen.“159

Diese Hemmung des Selbstzweckes konstituiert letztlich die Zeitlichkeit des Menschen, allerdings nicht im Sinne eines strukturierten Ereigniszusammenhanges, der ein Ganzes bildet und als Objekt des Reiches Gottes Korrelat dessen Selbstzweckrelation ist, sondern in dem Sinne, dass dieser Ereigniszusammenhang derart auseinanderfällt, dass nur die Gegenwart, nicht aber Vergangenheit und Zukunft als aktual erlebt werden. Dieser teleologisch reformulierte Zeit- und Ewigkeitsbegriff bestimmt nun eine ganze Reihe von Systemelementen der Theologie Ritschls:

3.6.3.2 Trinität Aus zeitlicher Perspektive erscheint Christus historisch-kontingent als Gründer des Reiches Gottes. Aus Perspektive der Ewigkeit ist er damit auf den Selbstzweck des Reiches Gottes notwendig bezogen und daher der Sohn.

3.6.3.3 Christologie Christi Göttlichkeit besteht darin, dass er sich nicht in seinem Selbstzweck der Gründung des Reiches Gottes hat hemmen lassen. Seine Menschlichkeit besteht darin, dass dies mit den Mitteln menschlicher Freiheit geschieht.160

3.6.3.4 Erwählung und Schöpfung Die Erwählung der Gemeinde ist der Schöpfung logisch vorgängig, die nur mediatorischen Charakter für jenes Ziel hat. Während die Gemeinde ewig ist, ist die Welt zeitlich.161 159 Ritschl, A., RuV 3, 285. Vgl. auch Ritschl, A., RuV 3, 286: „Wir verneinen also die Anwandlung unserer Vorstellung, als ob die Welt auch für Gott, wie so oft für uns, ein Hinderniß bilde, durch die Anerkennung, daß Gott auf jedem Schritte seines Schaffens nicht blos seines Planes sicher bleibt, sondern die Verwirklichung des bezweckten Ganzen als solche erlebt.“ 160 Vgl. Ritschl, A., RuV 3, 414. 161 Ritschl, A., RuV 3, 286: „Allein in dem positiven Begriff der Ewigkeit Gottes ist nur die logische Ueberordnung der Erwählung der Gemeinde über die Schöpfung der Welt enthalten; demgemäß bezeichnet der Gedanke ihrer ewigen Erwählung nur die Werthschätzung der Gemeinde des Gottesreiches als des Endzweckes Gottes im Vergleich mit der Welt, welche verglichen mit jener Größe nur Mittel ist.“.

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3.6.3.5 Sünde Sünde ist ein Nichtübereinstimmen des geschöpflichen Selbstzweckes mit dem Selbstzweck Gottes. Aus der Perspektive von Gottes Ewigkeit handelt es sich dabei um ein relational strukturiertes Ganzes im Weltverlauf, um das Reich der Sünde, womit die Rede von der Originalsünde reformuliert wird. Aus der zeitlichen Perspektive des einzelnen Menschen erscheint die Sünde als Hemmung des persönlichen Selbstzweckes, der eben darum entsteht, weil der partikulare Selbstzweck nicht mit dem universalen Selbstzweck Gottes übereinstimmt.162 Die Distinktionen der Sündenlehre beruhen bei Ritschl damit nicht nur auf der Zeit-Ewigkeit-Distinktion, sondern stehen in einem wechselseitig kontsitutiven Verhältnis mit der Zeit-Ewigkeit-Distinktion, so dass die Frage, ob das Zeiterleben das Schuld- und Sündenerleben konstituiert, oder ob nicht das Schuld- und Sündenerleben umgekehrt das Zeiterleben konstituiert, nicht entschieden werden kann.

3.6.3.6 Zurechtrückung Der aufgrund der Offenbarung über den tatsächlichen Selbstzweck aufgeklärte Sünder partizipiert nun an der Herrschaft Christi über die Welt, d. h., er lässt sich von den Übeln nun nicht mehr vom wahrhaften Selbstzweck des Reiches Gottes abbringen. Durch extern nun auch dem versöhnten Sünder ermöglichte Stetigkeit seines gewandelten Willens partizipiert er am ersten Merkmal der Ewigkeit Gottes (Heiligkeit).163

3.6.3.7 Vermeindlicher Kollektivismus Vorgeordnet wird das relational strukturierte ewige Ganze des Reiches Gottes, das Individuum findet darin seinen Platz. Allerdings ist das Ganze kein Kollektiv und der einzelne Mensch kein Individuum, sondern partikulare Persönlichkeit im Ganzen. Als solche hat er ewigen, überzeitlichen Wert, denn die Ereignisstruktur der Zeit ist ebenso der Ewigkeit gemein. Eine Vereinzelung des Partikularen zum Individuellen und eine Unterordnung des Einzelnen unter die Welt erscheint nur als Folge der Hemmung des partikularen und aktualen persönlichen Selbstzwecks eines Menschen. 162 Vgl. Ritschl, A., RuV 3, 333 – 338. 163 Ritschl, A., RuV 3, 199: „Durch diese Veränderung religiöser Art […] wird weiterhin der Gewinn persönlicher und sittlicher Selbständigkeit erst möglich gemacht.“

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3.6.3.8 Auferstehung und ewiges Leben Christi Auferstehung und sein daraufhin eintretendes ewiges Leben ist aus zeitlich-externer Perspektive mit seinem Tod identisch. Aus zeithaft interner Perspektive gilt, dass sich Christus im Kreuz als Hemmung nicht von seinem persönlichen Selbstzweck hat abbringen lassen. Der Erhalt des persönlichen Selbstzwecks allen denkbaren Hemmungen zum Trotz ist aber gerade aus der Perspektive der Ewigkeit nichts anderes als das ewige Leben.164 Anteilnahme an Christi Selbtzweck lässt an der Bestimmung zum ewigen Leben Anteil bekommen. Die Tatsache, dass die christliche Vollkommenheit oder Partizipation des Christen an der Herrschaft Christi nicht auch zu einer vollständigen Erfahrung des ewigen Lebens – und damit einer vollständigen Partizipation des Erlebens der Ewigkeit Gottes und nicht mehr der Zeitlichkeit – führt, ist ausschließlich darin bedingt, dass auch der Versöhnte simul iustus et peccator ist (Heiligkeit ohne Integrität). 3.6.3.9 Das Gebetsverständnis Ritschl hält das Dankgebet für logisch vorgängig165 vor dem Bittgebet.166 Bitten sind nur sinnvoll unter der Bedingung der Zeitlichkeit des Auseinandertretens 164 Ritschl, A., RuV 3, 474: „Was aber in der Idee des Reiches Gottes als die bestimmungsgemäße Art der sittlichen Selbstthätigkeit vorgeschrieben ist, das wird als gleichartige Weltanschauung und Selbstbeurtheilung in dem Begriff des ewigen Lebens vorgezeichnet, nämlich, daß man in der wirklichen Gemeinschaft mit dem wahren geistigen Gott sich als ein Ganzes über die Welt erhebt, indem man den geistigen Werth seiner Individualität an der Herrschaft über alle möglichen Hemmungen aus der getheilten und natürlichen Welt erprobt. […] Denn in der Herrschaft über die Welt […] verwirklicht er direct das dem Wechsel der natürlichen Dinge entgegengesetzte ewige Leben in seiner Person. In dem Anschluß an seine Person, oder in der Aneignung seines Zweckes wird die gleiche Bestimmung zum ewigen Leben auch von den anderen erworben.“ Ritschl, A., RuV 3, 365: „Umgekehrt ist die christliche Aufgabe als die Gewinnung des ewigen Lebens gefasst. Das bedeutet die Erhaltung des persönlichen Selbstzweckes.“ 165 Ritschl stützt seine Gebetsauffassung vor allem durch exegetische Belege, u. a. einer Vaterunserauslegung, die dieses primär als Dankgebet und nur vordergründig als Bittgebet erweisen will. Vgl. Ritschl, A., RuV 3, 606 f. 166 Ritschl, A., RuV 3, 608: „Aus beiden Äußerungen des Paulus geht nun hervor, daß für die christliche Gemeinde das Danken die dem Bitten übergeordnete Anerkennung Gottes, daß das Danken nicht eine Art neben dem Bitten, sondern daß es die allgemeine Form des Betens und daß das Bitten nur eine Modification des Dankgebets an Gott ist. Dabei ist allerdings vorausgesetzt, daß wir Christen in Folge der Versöhnung uns allewege, auch in Noth und Verfolgung freuen; ohne dieses ist die Zumithung des Paulus unverständlich […]. In der Freude aber haben wir keine Wünsche, keine Spannung auf etwas, was erst erfüllt werden soll; oder wenn doch Wünsche sich regen, haben wir sie in der Freude ohne die Unlust über ihre noch nicht eingetretene Erfüllung. […] Wenn es aber mit der Versöhnung im Christenthum seine

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von Zweck und Ziel durch Hemmungen. Ist aber der Selbstzweck einer Person konkordant zum Selbstzweck Christi bzw. Gottes, partizipiert der Christ also am Ewigen Leben, partizipiert er aber auch an dem Aspekt der Willensstetigkeit dieses Ewigen Lebens, so dass er nur mit Freude zu danken hat.

3.6.3.10 Fazit Wir brechen die Besprechung der Bedeutung der Faktoren Zeit und Ewigkeit für die Theologie Ritschls an dieser Stelle ab. Die Beispiele könnten leicht vermehrt werden, etwa um die Bedeutung der beiden Faktoren für die Themen des Zornes Gottes, um die Frage nach einem doppelten Gerichtsausgang, die Tugendlehre, den Begriff des Reiches Gottes, das keineswegs perfektibilistisch misszuverstehen ist oder das keinesfalls als stufenweise sich in der Geschichte realisierender Prozess betrachtet werden darf,167 oder auch um seine Berufsethik. Auch so dürfte deutlich sein: Die Faktoren Zeit und Ewigkeit sind ein systembestimmendes Element der Theologie Ritschls. Obwohl sie ihrerseits vom Lotze’schen Zweckgedanken abgeleitet sind, ist es nicht diese teleologische Ontologie Lotzes, die die systembestimmende Kraft alleine ausübt. Denn gerade die Aufhebung des Zweckbegriffs im Ewigkeitsgedanken im Verhältnis zur Zeit ist hier entscheidend. Ritschls Zeit-/Ewigkeitsverständnis ist aber auch nicht unproblematisch: Setzt jede begriffliche Explikation des Zweckphänomens nicht das Handlungsphänomen und begriffliche Rekonstruktionen des Handelns voraus? Ist eine zeitlose Bestimmung des Handlungsbegriffs denkbar? Ritschls Bestimmung des Zeit-Ewigkeitsverhältnisses kann durchaus in die plotinisch-boethianische Tradition der Verhältnisbestimmung eingereiht werden, allerdings mit signifikanten Veränderungen durch den Zweckbegriff. Wie in der boethianisch-plotinischen Tradition ist Ewigkeit eher die Fülle der Zeit, zumindest was die topologische Struktur der Zeit betrifft. Wie auch Einstein – in dieser Tradition stehend – die Zeit einmal als „Illusion, wenn auch hartnäckige“168 bezeichnet hat, so ist die Zeit auch bei Ritschl gewisRichtigkeit hat, so muß die Freude als die normale Begleitung der Demuth und Geduld anerkannt werden.“ 167 Diese Missdeutung des Ritschl’schen „Reich Gottes“-Begriffs ist auch heute noch nicht überwunden, vgl. Weyer-Menkhoff, S., Reich Gottes, 167: „Als Folge dieser Einfachheit wird die Eschatologie zur Teleologie. Das Reich Gottes wird zur fortschreitenden Entwicklung einer Kultur der Freiheit.“ Genau dies ist bei Ritschls „Reich Gottes“-Verständnis nun nicht der Fall: Eschatologie wird bei Ritschl nicht zur Teleologie, sondern aufgrund der Teleologie zur präsentisch-ewigen Eschatologie, vielleicht auch zur realisierten Eschatologie. Ritschl ist gerade an dieser Stelle deutlich von einer kulturprotestantischen „Reich Gottes“-Deutung der „Ritschlianer“ unterschieden. 168 Vgl. Einstein, A., EA, Nr. 07 – 245.00.

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sermaßen eine Illusion. Aber etwa im Unterschied zu Einstein wird der Grund dieser Illusion benannt: Das menschlich erfahrbare Auseinandertreten von Zweck und Ziel aufgrund der Erfahrung der Hemmung von Zwecken, das auf den Sündenbegriff bezogen ist. Der Kern des Christentums, Rechtfertigung und Versöhnung, kann daher als Überwindung dieses Hiatus und damit als Aufhebung der Zeit unter den Bedingungen der Geschöpflichkeit, aktuale Anteilgabe an der Ewigkeit im Hier und Jetzt, bestimmt werden.

3.6.4 Die Vielfalt der Ausdeutung erfahrener Zeit Angesichts der Tatsache, dass menschliches Sein im Zusammensein anderen welthaften Seins grundlegend als relationales Prozedieren oder prozessuale Relationalität bestimmt werden kann, erscheint die systembestimmende Rolle von raumzeitlichen Begrifflichkeiten in der Theologie, wie immer man deren Gegenstand bestimmen mag, kaum überraschend. Zeit liegt jeder Phänomenalität prozessualer Relationalität zugrunde und erscheint selbst phänomenhaft. Dabei ist aber gerade am Phänomen der Zeit deutlich, dass eine nichttheoriegetränkte169 Erfahrung der Zeit vor aller Erfahrung offensichtlich nicht möglich ist. Sehr markant lässt sich dies an zwei unterschiedlichen Bestimmungen im Bezug auf Zeit veranschaulichen, wie sie einerseits von Augustin und andererseits von Richard Swinburne gegeben werden: Beide gehen von der Beobachtung aus, dass die Zukunft noch nicht ist, während die Vergangenheit nicht mehr ist. Beide bestimmen die Gegenwart als beständigen Übergang der Zukunft in die Vergangenheit, so dass der Gegenwart Grenzwertcharakter zukommt.170 Während aber Augustin, und mit ihm viele Theologen, wie z. B. Eilert Herms171, aufgrund dieses dauerhaften, grenzwertartigen Übergangs der Zukunft in die Vergangenheit schließen, dass es letztlich die Gegenwart ist, der vorzügliche Realität zuzusprechen ist, – so dass etwa im Falle Augustins die Vergangenheit nichts anderes als die Gegenwart der Vergangenheit und die Zukunft nichts als die Gegenwart der Zukunft ist –, schließt Swinburne umgekehrt, dass gerade die Gegenwart in ihrem Grenzwertcharakter am wenigsten Realität hat: Es gibt sie nicht, sondern nur den Übergang von Zukunft in Vergangenheit und somit ist alles, was aktual ist, nicht präsent, sondern Vergangenheit.172 Die menschliche Rede von der Gegenwart kommt vielmehr durch einen Trugschluss zustande, der aufgrund der nicht apriorischen, sondern der höchst empirischen Beschränkungen des menschlichen Er169 Gilt dies schon für die Wahrnehmung oder Beobachtung von eindeutig Gegenständlichem (vgl. Hanson, N.R., Patterns, 4 – 30), so für die Zeiterfahrungen um so mehr. 170 Vgl. Augustinus, A., Conf. 11, XIV, 17, und Swinburne, R., Christian God, 72. 171 Vgl. Herms, E., Meine Zeit in Gottes Händen, 73. 172 Vgl. Swinburne, R., Christian God, 90.

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kenntnisvermögens bedingt ist: Die Erinnerung des menschlichen Gehirns ist so angelegt, dass sie die kausalen Relationen ihrer Inhalte, soweit sie auf die allerjüngste Vergangenheit bezogen sind, nahezu lückenlos behält, während im erinnerten Kausalnexus schon kurzer zeitlich vergangener Abständigkeit Erinnerungslücken auftreten. Die lückenlose Erinnerung der jüngsten Vergangenheit aber nennt der Mensch „Wahrnehmung“ und unterscheidet sie kategorial von der Erinnerung der ferneren Vergangenheit, der der Erinnerungsterminus vorbehalten bleibt und der der Modus der Vergangenheit zugewiesen wird. Faktisch handelt es sich aber nach Swinburne überhaupt nicht um einen kategorialen Unterschied, sondern um einen nur qualitativen (bzw. sogar quantitativen) Unterschied innerhalb des einheitlichen Phänomens der Vergangenheit.173 Das Beispiel zeigt: Ein Phänomen der Zeit kann durchaus unterschiedlich rekonstruiert werden, rekonstruktionslos ist es schlicht nicht zu haben. Und als ebenso nicht einfach wahrgenommenes, sondern erfahrenes, bewusst oder unbewusst rekonstruiertes Phänomen bestimmt es dann die jeweilige theologische Systemkonstruktion.

3.6.5 Die Vielfalt der Zeitphänomene „Die reale Bedeutung und das Wesen der Zeit will ich wissen“174, sagte Augustin in seinem berühmten 11. Buch der Confessiones. Und er gab nach mannigfachem Ausschlussverfahren auch eine Antwort auf diese ontologische Frage: Die Zeit ist eine akzidentielle Ausdehnung der geschaffenen, unkörperlichen Seele, genauer, der gefallenen geschaffenen Seele.175 Sie hat damit ontischen oder objekthaften Gehalt, wenn auch nur akzidentiellen. Kant bestimmte sie als eine der Anschauungsformen.176 Auch damit hat sie ontischen Gehalt, aber keinen objekthaften mehr. Sie bildet nur noch den Rahmen des objekthaften Geschehens. Einstein führte durch seine Uhrenreduktion – der Definition, dass Zeit exakt das ist, was man mit Uhren misst177 – die Zeit umgekehrt wieder in das Reich der Objekte ein, der Gegenstände und Phänomene selbst – mit einigem Erfolg, der auch theologisch nicht zu vernachlässigen ist. John M.E. McTaggart leugnete ihren Wirklichkeitsgehalt als solchen.178 Aber auch die Leugnung eines Wirklichkeitsgehaltes der Zeit ist letztlich eine ontologische Bestimmung dessen, was Zeit ist, wenn auch eine rein negative. 173 Vgl. Swinburne, R., Christian God, 90. 174 Augustinus, A., Conf. 11, XXIII, 29: Ego scire cupio uim naturamque temporis. Flasch, K./ Augustinus, A., Was ist Zeit?, 262. 175 Vgl.Augustinus, A., Conf. 11, XX, 26. Flasch, K./Augustinus, A., Was ist Zeit?, 258. 176 Vgl. Kant, I./Weischedel, W., KrV, B 46 – 57. 177 Vgl. Einstein, A., CPAE 2, 275 – 310, bes. 278. 178 Vgl. McTaggart, J.M.E., Unreality of Time.

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Wie lassen sich diese vielfältigen ontologischen Bestimmungen, die gegensätzlicher kaum sein könnten, deuten? Die Möglichkeit, hier einfach jene positionale Vielfalt zu erblicken, die sich in der Geschichte der Geisteswissenschaften nun einmal zeigt, kann natürlich nicht ganz ausgeschlossen werden. Aber diese Möglichkeit anzunehmen wäre nicht nur trivial, sondern würde auch verhindern, nach einem tieferen, vielleicht phänomenal verankerten Grund der Vielfalt der Zeitdefinitionen zu suchen. Eine andere Möglichkeit der Deutung der Vielfalt besagt, etwa bei Eilert Herms, dass diese Vielfalt darauf verweise, dass die unterschiedlichen Versuche, Zeit zu definieren, gescheitert seien.179 Der Grund für dieses Scheitern ist einleuchtend: Nach Herms ist die Zeit nicht ein Erscheinendes neben anderem Erscheinenden, sondern das Erscheinen des Erscheinenden. Während das Erscheinende selbst klassifiziert und damit auch definiert werden kann, weil es immer in einer Pluralität neben anderem existiert, ist das beim Erscheinen des Erscheinens selbst nicht möglich. Als solches existiert es nicht neben anderem und als solches kann es kein nächst höheres genus proximum geben. Folglich muss jede Definition scheitern.180 Herms Antwort mag eine gute Antwort sein. Aber auch sie verhindert eher, dass dem Grund der Vielfalt der Definitionen, was nun Zeit sei, vertieft auf den Grund gegangen werden kann. Denn diese Bestimmung nimmt an, dass die Vielfalt der Definitionsversuche einfach auf einem Scheitern jedes einzelnen dieser Definitionsversuche beruhe. Genau dies ist zwar nun eine mögliche Erklärung, aber keine notwendige. Und so möchte ich hier eine andere Deutung der Vielfalt der geistesgeschichtlichen Zeitdefinitionen, die theologisch systembestimmend werden und sind, vorschlagen: Die Vielfalt der Deutung des Zeitphänomens geht nicht einfach auf die Eigenart der Wissenschaft zurück, sich in einer Pluralität von Forschungsmeinungen zu äußern. Die Vielfalt geht auch nicht einfach auf ein Scheitern einzelner oder aller Definitionsversuche der Zeit zurück. Die Vielfalt der Deutungen beruht darauf, dass dem Terminus „Zeit“ gar kein einheitliches Phänomen entspricht, sondern eine Pluralität von Phänomenen oder zumindest eine Pluralität von Sachaspekten. Nicht ein Sachverhalt, sondern verschiedene Sachverhalte, die sorgfältig zu unterscheiden, wenn auch wohl nicht zu scheiden sind, kommen ins Spiel, wenn von der Rolle der Zeit in theologischen Systemkonstruktionen die Rede ist. Es gibt nicht einen „Faktor Zeit“, sondern mehrere „Faktoren“, die mit dem Zeitbegriff benannt werden. Es gibt nicht einen Zeitbegriff, sondern mehrere, die deutungsbestimmend für das Nachdenken über die prozessuale Relationalität unserer Wirklichkeit sub specie aeternitatis und d. h. in, mit und unter Gott sind.

179 Vgl. Herms, E., Meine Zeit in Gottes Händen, 71. 180 Vgl. Herms, E., Meine Zeit in Gottes Händen, 71.

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3.6.6 Sachaspekte der Zeit als strukturierende Elemente Der zu differenzierende Phänomenbereich von Zeit zerfällt in mindestens fünf Aspekte. Drei dieser Aspekte können unserer Erfahrung der Zeit zugewiesen werden: die Metrik der Zeit, die Topologie der Zeit, die ihrerseits einerseits in die B/C-Reihe und die A-Reihe andererseits unterteilt werden kann. Von diesen Erfahrungen der Zeit unterschieden ist unsere Erfahrung mit der Erfahrung von Zeit, die den vierten Aspekt bildet. Als fünfter Aspekt sei der Umgang mit Zeit genannt.

3.6.6.1 Die Metrik der Zeit Richard Swinburne hat vorgeschlagen, die Metrik der Zeit von der Topologie der Zeit zu unterscheiden. Die Metrik der Zeit bezieht sich auf die Messbarkeit von Zeit. Als solche ist sie unhintergehbar an den Bestand der Schöpfung und an die physikalisch erfassbare Wirklichkeit gebunden.181 Unter prominenten Bestimmungen der Metrik der Zeit sind die aristotelische Definition der Zeit als Maß der Bewegung zu nennen182 und Einsteins bekannte Uhrenreduktion in „Zur Elekrodynamik bewegter Körper“ von 1905.183 Hier wird Zeit strikt mit dem identifiziert, was durch ideale Uhren gemessen werden könnte. Damit wurde die Metrik der Zeit im streng antikantischen Sinne als Gegenstand selbst betrachtet, der weder zu unseren Formen der Anschauung noch zum Bereich der Naturgesetzlichkeit gehört: Zeit ist vielmehr abhängig von anderen physikalischen Sachverhalten: vom Bewegungszustand eines Inertialsystems im Falle der Speziellen Relativitätstheorie (SRT) –, so dass nicht mehr Zeit, sondern die Lichtgeschwindigkeit naturgesetzlichen Rang erhält –, und von Masse und Gravitation in der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART). Die Metrik der Zeit und ihre Veränderungen können damit nicht-euklidisch geometrisch mittels der Feldgleichungen der ART beschrieben werden und sie erscheint als eine Dimension der vierdimensionalen Raumzeit. Die überragende empirische Bestätigung und Praxistauglichkeit von SRT und ART muss hier nicht hervorgehoben werden. Interessant ist, dass dieser Aspekt der Zeit als ihrer Metrik kaum in die großen theologischen Systemkonstruktionen des 20. Jh. und der Gegenwart eingegangen ist. Es scheint oft so, als überließe man diesen Aspekt der Zeit gerne und bereitwillig der Physik und beschränke sich auf andere Aspekte von Zeit. Argumentiert man so, übersieht man freilich, dass der Anspruch dieser Sicht der Metrik von Zeit nach der ART gemäß ihrem Selbstanspruch nicht die Explikation eines Aspektes von Zeit ist, sondern des 181 Vgl. Swinburne, R., Christian God, 75. 182 Vgl. Aristoteles, phys. IV,11. 183 Einstein, A., CPAE 2, 275 – 310, bes. 278.

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vollständigen Phänomenbereichs. So überrascht es auch nicht, dass Physiker den Zeitbegriff von SRT und ART immer wieder mit religiös-weltanschaulichen Gehalten verbunden haben. Dies ist auch der Fall bei Einstein selbst, der kurz vor seinem Tode die Zeit als Illusion bezeichnen konnte, womit vermutlich auf die Vorstellung eines bloc-universe angespielt ist.184 Dies gilt auch jüngst für Markolf Niemz’ Versuch, Nahtodforschung und den Zeitaspekt der SRT in populärwissenschaftlichen Büchern mit hohem Erfolg zu verbinden185, oder schließlich für Tiplers explizite Forderung, die Physik müsse alle Aufgabenfelder der Theologie beerben.186 Solchen Versuchen stehen Theologen in der Regel zu Recht skeptisch gegenüber. Allerdings finden sich Grundgedanken auch in einigen Theologien: Der Gedanke, das Phänomen der Zeitdilatation im Falle der Lichtgeschwindigkeit, bei deren Erreichen keine Zeit mehr verstreicht, mit dem religionsphilosophischen und theologischen Ewigkeitsbegriff in Verbindung zu bringen, findet sich nicht nur bei Amateurtheologen. So konnte etwa Eberhard Wölfel in diesem Phänomen zumindest einen Aspekt Gottes als nunc aeternum erblicken und dies in Verbindung mit der mystischen Ewigkeitsspekulation bringen.187 Dieser Befund zeigt: Auch die Metrik von Zeit ist religionsphilosophischtheologischer Betrachtung würdig. Auch die Metrik von Zeit kann in ihrem Verhältnis zum Ewigkeitsbegriff betrachtet werden. Hier bieten sich die drei modellhaften Bestimmungen mittels Verneinung, Integration und Identifikation an: Man kann hinsichtlich des Ewigkeitsbegriffs die Metrik erstens schlicht verneinen, wie dies in unterschiedlicher Weise etwa Augustin,188 Schleiermacher189 oder Swinburne190 getan haben, wohl wissend, damit biblische Aussagen auch zu einer Zeitmetrik Gottes191 als hochmetaphorisch bezeichnen zu müssen. Man kann zweitens die Ewigkeit auch als Integral der Metrik von Zeit verstehen, was in einer Reihe ganz unterschiedlicher Theologien wie denen Barths192, Pannenbergs193 oder der Prozesstheologie194 der Fall sein dürfte. Einzig die Möglichkeit der Identifikation der anfangs- und endlosen Zeitmetrik als solcher mit der Ewigkeit erscheint zumindest in christlichen Theologien m. E. zu Recht nicht. Zwar kann auch eine anfangs- und endlose 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194

Vgl. Einstein, A., EA, 07-245.00. Vgl. Niemz, M., Lucy mit c und Niemz, M.H., Der Schlüssel zur Ewigkeit. Vgl. Tipler, F.J., Physik der Unsterblichkeit, 19. Vgl. Wçlfel, E., Zeit, 39 f. Vgl. Augustinus, A., Conf., 11, XI, 13. Vgl. Schleiermacher, F., Glaubenslehre, Bd. 1, §52, 267 – 271, und zur Interpretation Trowitzsch, M., Zeit zur Ewigkeit, 14 – 24. Vgl. Swinburne, R., Christian God, 79. Vgl. z. B. Ps 91,7. Vgl. Barth, K., KDII/1, 686. Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 3, 641 – 654. Vgl. Welker, M., Universalität Gottes, 109 – 137.

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Metrik wie im Falle Ritschls angenommen werden;195 allein wird sie auch in solchen Fällen vom Schöpfungsbegriff umfangen und deutlich vom Ewigkeitsbegriff unterschieden. 3.6.6.2 Die B/C-Reihe der Zeit Richard Swinburne unterscheidet von der Metrik eine Topologie von Zeit, womit eine Ordnung zeitlichen Prozedierens gemeint ist. Unter Rückgriff auf John M.E. McTaggarts klassischen Aufsatz „The Unreality of Time“ können hinsichtlich der Topologie, der Ordnungsgestalt von Zeit, noch einmal zwei Aspekte unterschieden werden. Als deren erster sei hier die B/C-Reihe der Zeit genannt. Die B-Reihe bezieht sich darauf, dass alles zeitliche Prozedieren relativ in der Relation des Früher-Später geordnet werden kann.196 Die C-Reihe bezieht sich darauf, dass verschiedene zeitliche Ereignisse auch absolut geordnet sind: Die Ereignisse der Jahre 2009, 2010, 2011, 2012…2017 sind nur in dieser festen Ordnung denkbar, in keiner anderen (etwa 2011, 2009, 2017, 2012…2010). Beide Beschreibungen sind nur unterschiedliche Aspekte desselben Sachverhalts: Beide bilden eine asymmetrische, irreflexive und transitive Relation. Oder genauer : Weil die Relation früher-später mit diesen relationslogischen Eigenschaften ausgestattet ist, weil es also die B-Reihe von Zeit gibt, sind die zeitlichen Ereignisse genau in der uns bekannten Ordnung sortiert und in keiner sonst denkbaren anderen. Die B-Reihe generiert die CReihe. Oder : B-Reihe und C-Reihe sind nichts anderes als unterschiedliche Beschreibungen eines einheitlichen Sachverhalts.197 Daher sprechen wir im Folgenden von einer B/C-Reihe. Die B/C-Reihe von Zeit ist offensichtlich in der Metrik von Zeit stets vorausgesetzt: Auch das Phänomen der Zeitdilatation hebt die B/C-Reihe nicht auf, sondern setzt sie gerade voraus.198 Das Umgekehrte ist allerdings nicht 195 Vgl. Ritschl, A., RuV 3, 283: „Überdies ist diese Formel [der anfangs- und endlosen Existenz] theils kein positiver Gedanke, theils muß sie in gewissem Sinne ebenso von der Welt behauptet werden, wie man gewohnt ist, sie auf Gott anzuwenden. In jedem Erkenntnisact nämlich setzen wir voraus, daß die Welt und ihre Ordnung immer ist; denn so wie wir die Welt als nicht vorhanden setzen würden, so würde auch unser Erkennen aufhören. Und zwar gilt dieses nicht blos von unserer Erkenntniß von Theilen der Welt, sondern auch von der Erkenntnis Gottes, bei der wir eben nicht von der Welt abstrahieren können. Sind wir also nicht im Stande, uns denkend jenseits des Anfangs oder des Endes der Welt zu versetzen, ohne daß wir uns selbst wegdenken und zu denken aufhören müssten, so sind wir an die Vorstellung von der Anfangsund Endlosigkeit der Welt, oder daran gebunden, daß die Welt immer ist. […] Also liegt in dieser Gedankenreihe keine Gewähr für die Feststellung des wesentlichen Unterschieds zwischen Gott und Welt.“ 196 Vgl. zum gesamten Abschnitt McTaggart, J.M.E., Unreality of Time. 197 Im Unterschied zu McTaggart, a. a. O., sehe ich damit die B-Reihe nicht durch eine Ergänzung der C-Reihe durch die A-Reihe konstituiert. 198 Anders wäre es, wenn nach der SRT eine Überlichtgeschwindigkeit möglich wäre, was aber nicht der Fall ist.

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denknotwendig, wie Richard Swinburne überzeugend gezeigt hat: Nach der B/ C-Reihe geordnete Ereignisse müssen in ihrer zeitlichen Dauer nicht als messbar betrachtet werden. Swinburne hat daher die Topologie der Zeit als Ganze (mit B/C-Reihe, aber auch mit A-Reihe) mit der Ewigkeit identifiziert:199 Mit der Ewigkeit Gottes, aber auch mit der Ewigkeit, an der Mensch und Welt schon jetzt partizipieren und in die sie aufgehen werden. In dieser Ewigkeit ist die Dauer und Folge von Ereignissen durch nichts anderes als durch sie selbst bestimmt. Zeitdruck und Langeweile sind undenkbare Phänomene, weil ein Ereignis nach dem anderen immer erst folgt, wenn das erste Ereignis in sich abgeschlossen ist. Wir sehen hier also ein Beispiel der Ewigkeitsbestimmung mittels dieses Zeitaspekts der B/C-Reihe im Modus der Identifikation. Diese Identifikation erlaubt es Swinburne aber nicht nur, von einer Zeit vor und nach der Schöpfung zu sprechen, sondern diese mit dem Sein Gottes zu identifizieren.200 Nicht nur Swinburne ist diesen Weg gegangen, sondern alle jene Theologien, die den Ewigkeitsgedanken durch die Integration des Metrikaspekts von Zeit bestimmen, bestimmen ihn auch durch Integration der B/C-Reihe, da die Metrik von Zeit ja die Topologie der Zeit voraussetzt. Während Swinburne zwar die Ewigkeit mit der Topologie identifiziert, von der Metrik jedoch ausschließt, bestimmen andere die Ewigkeit durch Negation der B/C-Reihe.201 Ein Grund für den Ausschluss der B/C-Reihe von der Ewigkeitskonstruktion besteht in einem wichtigen Kennzeichen neuzeitlichen Denkens. Die zeitliche Ordnung innerhalb der B/C-Reihe zusammen mit räumlicher Lokation ist in der Neuzeit in den meisten Philosophien und Theologien zum bestimmenden Individuationsprinzip geworden: Gegenstände oder Objekte können sowohl als mit sich identische als auch von anderen unterschiedene Gegenstände und Objekte – sowohl unserer Wahrnehmung als auch in vielen Fällen unserer Theorien – nur als eben solche erscheinen, weil sie in exakt diesen Relationen erscheinen. Die Theologien Schleiermachers, Ritschls oder Bultmanns erweisen sich beispielsweise in dieser Hinsicht als spezifisch neuzeitliche Theologien, weil sie diese Beschränkung des Gegenstandsbegriffs auf das mittels der B/C-Reihe geordnete anerkennen. Bestimmt man den Ewigkeitsbegriff nun durch Negation dieser B/C-Reihe, kann es in der Ewigkeit nicht nur nichts Gegenständliches oder Objektives mehr geben, sondern auch nichts irgendwie Individuiertes, Differenziertes oder Relationiertes: Die Ewigkeit kann dann nichts anderes als das unterschiedlose hen sein, das zugleich auch das pan sein mag; aber auf alle Fälle das hen. Insofern, als sie als das pan bezeichnet wird, kann sie allerdings nicht mehr als Mannigfaches, Relationiertes und Differenziertes gedacht werden. Da Alterität auf alle Fälle ausgeschlossen sein muss, kann das pan nur 199 Vgl. Swinburne, R., Christian God, 139 f. 200 Vgl. Swinburne, R., Christian God, 139 f. 201 Vgl. z. B. Seuse, H./Sturlese, L./Blumrich, R., Buch der Wahrheit; Haas, A., Naturphilosophische Studien; Poulet, G., Timelessness and Romanticism.

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am hen partizipieren, wenn es selbst zum hen wird. Diese Grundfigur ist so gut wie allen mystischen Theologien in neuplatonischer Tradition zu eigen, vielleicht am eindrücklichsten bei Johannes Eriugena, bei dem Körperliches in Seelisches und Seelisches in Geistliches verwandelt werden muss, um schließlich an der Ewigkeit partizipieren zu können.202 In dieser Verewigung wandelt das Seiende nicht nur seine Gestalt, sondern wird auch seiner Bestimmtheit entkleidet. Man sieht an diesen Beispielen: Die Verwendung und Bewertung der zeitlichen B/C-Reihe ist, auch wenn sie nicht explizit thematisch wird, für jedes theologische (und philosophische) Denken schon in dessen Grundlagen bestimmend, weil es hier um die Frage der Gegenständlichkeit, der Objekte und des Objektiven selbst geht. Die Fähigkeit der B/C-Reihe der Zeit, zusammen mit räumlicher Verortung als Individuationsprinzip für Gegenständlichkeit zu dienen, wurde aber auch bestritten. Das vielleicht markanteste und zugleich empirisch bestens bestätigte Beispiel einer solchen Verletzung der individuierenden Kraft raumzeitlicher Individuationsprinzipien wird durch die Verletzung der Lokalität in der Quantentheorie gebildet. Dadurch entsteht schon aufgrund der empirischen Wissenschaften ein gerechtfertigter Anlass, die unhinterfragte neuzeitliche Übernahme raumzeitlicher Individuationsprinzipien zu hinterfragen.203

3.6.6.3 Die A-Reihe Eine Beschreibung der Topologie der Zeit nur mit Hilfe der B/C-Reihe wäre unvollständig. Genau um dies aufzuzeigen, hatte McTaggart ja diese Distinktion entworfen: Die B/C-Reihe als solche ist durch logische Relationen geordnet, die sich nicht von der starren alphanumerischen Ordnung eines Lexikons unterscheidet. Der B/C-Reihe fehlt noch die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft sowie der dauernde Übergang von Zukunft in Vergangenheit in einer jeweils ich-perspektivisch bestimmten Gegenwart. Genau diese sprachliche Unterscheidung ist das Kennzeichen der A-Reihe der Ereignisse.204 Erst durch diese Unterscheidung ist der Gedanke der Veränderung gegeben. Erst durch diese Unterscheidung ist die Irreversibilität des Zeitpfeils gegeben. Auch unsere eigene ontologische Voraussetzung, dass alles Wirkliche in prozessualen Relationen oder relationalem Prozedieren besteht, ist auf die Inklusion der A-Reihe angewiesen, da erst sie den Prozessbegriff überhaupt ermöglicht. Auch in Bezug auf die A-Reihe können durch Negation, Integration und 202 Vgl. Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, PL 122, 986C–987C. 203 Vgl. das entsprechende Kap. über Einstein und die Quantentheorie in Mìhling, M., Einstein und die Religion. 204 Vgl. McTaggart, J.M.E., Unreality of Time.

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Identifikation Ewigkeitsbegriffe gewonnen werden. McTaggart, der selbst die Realität der A-Reihe leugnete, kann als Beispiel der via negationis gelten. Explizit findet sich eine Verneinung der A-Reihe auch bei denjenigen Ewigkeitsrekonstruktionen, die die B/C-Reihe oder die Zeitmetrik verneinen. Andere Ewigkeitskonstruktionen können die A-Reihe auch integrieren oder die Ewigkeit auch mit der A-Reihe identifizieren. Beispiele dafür wären die Prozesstheologie, der Ansatz Swinburnes und Überlegungen von Eilert Herms.205 Die A-Reihe spielt ferner eine nicht zu unterschätzende Rolle in allen heilsgeschichtlichen dogmatischen Ansätzen, etwa bei Pannenberg, oder bei theologischen Ansätzen, die wie im Falle Philip Claytons evolutionistischemergent verfahren,206 ist aber auch durch eine Reihe von einzelnen theologischen Problemkomplexen vorgegeben (Schöpfung, Eschatologie, der Frage nach der überzeitlichen Gültigkeit historischer Ereignisse etc.).

3.6.6.4 Die Erfahrung der Erfahrungen von Zeit Wir erfahren nicht nur die Erfahrungen der Zeitmetrik, der B/C-Reihe und der A-Reihe, sondern wir erfahren auch, dass wir sie erfahren. Dieses Erfahren der Erfahrungen der Zeit hat selbst jedenfalls die Struktur der B-Reihe und der AReihe, nicht aber eine Zeitmetrik. Hätte die Zeiterfahrungserfahrung selbst eine Metrik, müsste keiner von uns eine Uhr tragen. Und obwohl logisch gesehen B- und C-Reihe zusammengehören, scheint zumindest unsere Zeiterfahrungserfahrung des Traumes von der C-Reihe ausgenommen zu sein, denn im Traum müssen Ereignisse keineswegs fest geordnet sein. Die Zeiterfahrungserfahrung scheint auch vorstellbar ohne empirische Wahrnehmung, so dass in dieser Hinsicht vermutlich der Kant’sche Gedanke der Zeit als einer Anschauungsform seine particula veri haben dürfte. Nicht reduktiv verstanden sind also die Konzepte der Zeit als Anschauungsform für Gegenstände und der Zeit selbst als Gegenstand kompatibel, da sie sich auf verschiedene Aspekte des mit dem Terminus Zeit Benannten beziehen. Die Zeiterfahrungserfahrung geschieht, den traumlosen Schlaf ausgenommen, jedenfalls dauernd, besitzt daher die Struktur der Gegenwart und ist der eigentliche Ort der Rede von der Vorgängigkeit von Gegenwart. Hier wird mit Augustin die Zukunft nur als Gegenwart der Zukunft und die Vergangenheit nur als Gegenwart von Vergangenem erfahren. Für die Gegenwart der Ge205 Vgl. Herms, E., Meine Zeit in Gottes Händen und Herms, E., „Das Ende der Welt aus der Sicht des Glaubens. Vortrag im Rahmen der Tagung „Welches Verständnis hat der Protestantismus von den letzten Dingen?“ der Ev. Akademie der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig am 5. 12. 2009 in Goslar,“ (Vortragsmitschnitt, 2009). 206 Vgl. Clayton, P., Emergenz und Bewusstsein.

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genwart gilt Entsprechendes.207 Dennoch sind hier weitere Distinktionen vorzunehmen: a) Die Gegenwart der Zukunft:208 Die Gegenwart der Zukunft erscheint als Erwartung und tritt als solche einerseits unter dem affektiven Gegensatz von Lust und Unlust auf und erscheint dann als Hoffnung oder Befürchtung. Anderseits erhoffen oder befürchten wir Erwartetes in unterschiedlicher Weise, je nach Bezug auf unseren Erwartungs- oder Erfahrungshorizont. Denn die Erwartung ist auf unser gesamtes erworbenes Wissen in unterschiedlichen Interpretationsrahmen, gewissermaßen auf die Gegenwart von Vergangenem, bezogen und müsste daher im eigentlichen Sinne als Gegenwart der Zukunft vor dem Hintergrund der Gegenwart von Vergangenheit bezeichnet werden. Sie erscheint als: – Das Nicht-Überraschende = das Erwartete: Das Zukünftige steht innerhalb unseres Interpretationsrahmens nahe dessen Mitte. Bsp.: Die Erwartung, dass die Lektüre dieses Artikels ein Ende haben wird. – Das Prospektiv-Überraschende: Das Überraschende ist im Prinzip vor dem Hintergrund unseres Interpretationsrahmens denkbar, steht aber an dessen Rand und ist daher überraschend. Es ist durchaus denkbar, dass die Leserin oder der Leser zum Bundesminister für Zeitfragen ernannt wird. – Das Absolut-retrospektiv-Überraschende: Das Absolut-retrospektivÜberraschende hingegen gehört im eigentlichen Sinne nicht zur Gegenwart der Zukunft, da es nicht in irgendeiner Weise Gegenstand unseres Interpretationsrahmens sein kann. Entsprechend kann ich Ihnen kein zukünftiges Beispiel geben. Aber vielleicht ein vergangenes: Dass ich genau die Person, die ich geheiratet habe, kennenlernen würde, war vor dem Kennenlernen nicht auch nur irgendwie vorhersehbar. Es war insofern eine Überraschung, die als solche aber erst retrospektiv diagnostiziert werden konnte. – Das Relativ-retrospektiv-Überraschende: Das Relativ-retrospektiv-Überraschende partizipiert an beiden: Innerhalb unseres Interpretationsrahmens gibt es Hinweise, die es uns erwarten lassen, retrospektiv überrascht zu werden: Ein Alltagsbeispiel sind Geburtstagsüberraschungen: Ich erwarte, an meinem zukünftigen Geburtstag dieses Jahr überrascht zu werden, ich weiß aber – hinsichtlich der wirklich guten und der wirklich schlechten Geburtstagsgeschenke – nicht, wodurch. Durch diese wesentlichen Distinktionen werden unsere Erwartungshorizonte konstituiert: Sie variieren je nach Kontext der Lebenswelt: In der Familie haben wir andere Erwartungshorizonte als in der beruflichen Praxis. Diese Erwartungshorizonte überschneiden einander teilweise oder sind in der Art von Teilmengen geordnet. Fortgesetztes Zeiterfahrungserfahren kann diese 207 Vgl. Augustinus, A., Conf., 11, XX, 26. 208 Zum Folgenden vgl. Mìhling, M., Eschatologie, 41 – 45.

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Erwartungshorizonte verschieben. Postuliert werden kann, dass alle diese partikularen Erwartungshorizonte von einem umfassenden Erwartungshorizont umfasst werden, den wir einen religiösen oder eschatischen Erwartungshorizont nennen können. Er kann durch Erfahrung nicht einfach erweitert werden, sondern nur durch einen anderen eschatischen Erwartungshorizont abgelöst werden. Dieser Vorgang wäre dann mit den Begriffen der Konversion oder vielleicht auch des Paradigmenwechsels zu benennen. Die Unterscheidung von partikularen weltlichen Erwartungshorizonten und eschatischen Erwartungshorizonten hängt nun wesentlich mit der Unterscheidung des Relativ-retrospektiv-Überraschenden vom ProspektivÜberraschenden zusammen: Was immer prospektiv überraschend ist, gehört nicht in unseren eschatischen Erwartungshorizont, sondern zu einem unserer weltlichen Erwartungshorizonte. Wenn etwa die Auferstehung Christi als historische Tatsache bezeichnet wird oder wenn sie geleugnet und angenommen wird, dass Jesu Person im Grabe aufgehört habe zu sein, wird beide Male derselbe Fehler begangen: Das Ereignis der Auferstehung wird an unseren weltlichen Erwartungshorizonten gemessen und hört damit auf, ein eschatisches oder überhaupt nur ein Ereignis von religiösem Interesse sein zu können. Vielmehr ist nun die Summe unserer weltlichen Erwartungshorizonte selbst zum eschatischen Erwartungshorizont geworden. Genau dies dürfte aber für christliche Theologie nicht tragbar sein. Sie wird darauf insistieren müssen, dass die Gewissheit von Christi Auferstehung selbst ein Relativ-retrospektiv-Überraschendes war, das unseren eschatisch-christlichen Erwartungshorizont konstituiert, und das, insofern es mit unserer eigenen Zukunftshoffnung verschränkt ist, auch ein Relativ-retrospektivÜberraschendes bleiben wird: Wir erwarten, an der Zukunft Christi zu partizipieren, wissen aber hinsichtlich der meisten semantischen Kennzeichen nicht, worin diese besteht. Hinsichtlich anderer Kennzeichen wissen wir es allerdings. Deren Wichtigstes lautet: „Furcht ist nicht in der Liebe, denn die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus“.209 Die Gegenwart der Zukunft ist also wesentlich für die Konstitution religiöser Erkenntnis und kann ebenso als Deskriptionselement für bestimmende Faktoren theologischer Systemrekonstruktionen verwandt werden. b) Die Gegenwart der Vergangenheit: Auch die Gegenwart der Vergangenheit liegt nicht absolut vor, sondern nur vor dem Hintergrund des Erhofften und Befürchteten. Sie ist daher eigentlich die Gegenwart der Vergangenheit vor dem Hintergrund der Gegenwart der Zukunft. Wie bei letzterer können auch hier einige Distinktionen vorgenommen werden, die theologisch von höchster Relevanz sind. Zu nennen ist hier ebenfalls eine affektive Distinktion: Als Unlust erscheint die Erinnerung als Belastung, als Lust als positive Erinnerung. Beide, Belastung oder positive Erinnerung, erscheinen noch einmal unter der Distinktion von realer Erinnerung, wenn sie auf Er209 1.Joh 4,18.

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eignisse bezogen ist, die tatsächlich reale prozesshafte Relationen waren, oder als Sentimentalitäten, wenn sie auf nur fiktive prozessuale Relationen bezogen sind. Die Grenze zwischen Sentimentalitäten und realen Erinnerungen ist allerdings – insbesondere für die zeiterfahrungserfahrende Person selbst – nicht immer leicht vorzunehmen. Ebenso wird man, zumindest wenn man bestimmten Strömungen der Psychologie ein auch nur minimales Existenzrecht einräumen will, auch eine Unterscheidung zwischen bewusst und unbewusst Erinnertem einführen müssen, auch wenn letzteres zumindest sprachlich als Selbstwiderspruch erscheinen mag. Die theologische Relevanz der genannten Unterscheidungen der Gegenwart der Vergangenheit dürfte deutlich sein: Für die Sünden-, Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre spielen die genannten Unterscheidungen eine nicht zu unterschätzende Rolle, und so mancher theologische Systemansatz könnte in dieser Hinsicht mithilfe dieser Unterscheidungen rekonstruiert werden. Hier entscheidet es sich, welche Macht die Vergangenheit über uns hat oder inwieweit wir aus der uns zugesprochenen Gegenwart der Zukunft in der promissio leben können. Hier entscheidet es sich, ob wir die Identität von Personen als Summe ihrer Erfahrungen betrachten oder als hoffnungsvolles Ergreifen des Zuspruchs des eschatischen Gerichts etc. c) Die Gegenwart der Gegenwart: Die Gegenwart der Gegenwart kann als Wahrnehmung oder als Erfahrung bezeichnet werden. Sie ist kein ausgezeichneter Modus im Vergleich zur Gegenwart der Zukunft und zur Gegenwart der Vergangenheit, sondern sie erscheint stets in der Differenz dieser beiden anderen Gegenwarten: Was wir wahrnehmen oder erfahren ist stets mitbestimmt und wird ausgewählt durch die Gegenwart der Zukunft und die Gegenwart der Vergangenheit. Schon unsere Aufmerksamkeit der Wahrnehmung ist davon abhängig. Insbesondere gilt das für Fälle der exklusiven Aufmerksamkeit, wie sie im negativen Falle bei Obsessionen vorliegen und im positiven Falle bei romantischer Liebe zu menschlichen Personen oder beim konzentrierten, nur scheinbar zeitvergessenden (wissenschaftlichen) Arbeiten, Spielen oder der zwischenmenschlichen Kommunikation. Auch hier wäre von zahlreichen Distinktionen von systemmitbestimmender Relevanz zu reden, worauf hier aber verzichtet sei. Auch die Zeiterfahrungserfahrung kann vor dem Hintergrund jeweils verschieden konzipierter Ewigkeitsbegriffe beschrieben werden. Auch in diesem Falle wären die Methoden der Verneinung, der Integration oder Identifikation auf die Zeiterfahrungserfahrung anzuwenden. Auch hier wäre nicht nur zu fragen, ob jeweils die Zeiterfahrungserfahrung als solche verneint, integriert oder mit der Ewigkeit identifiziert wird, sondern es wäre zu fragen, ob dies für die Gegenwart der Zukunft, die Gegenwart der Vergangenheit und die Gegenwart der Gegenwart gilt. Aber auch das würde noch nicht genügen: Auch hier wäre zu fragen, ob die einzelnen Binnendistinktionen innerhalb der Gegenwart der Zukunft, der Gegenwart der Vergangenheit oder der Gegenwart der Gegenwart jeweils durch Verneinung, Inte-

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gration oder Identifikation verewigt werden. Dies kann hier jedoch nicht ausgeführt werden. Stattdessen mögen zwei Beispiele genügen: Erstens: Die Frage, ob belastende Gegenwart der Vergangenheit auf eine der genannten Weisen „verewigt“ wird, ist die Frage nach einem doppelten Gerichtsausgang und kann mit der Frage der Berechtigung der Rede von der Hölle in Zusammenhang gebracht werden. Das zweite Beispiel: Wenn aufgrund des christlich eschatischen Erwartungshorizontes ein eschatisch-relativ retrospektiv Überraschendes erwartet wird, kann schon diese Erwartung als Erfahrung des Ewigen im Jetzt bezeichnet werden. Muss dieser Erfahrung dann nicht aber auch eine mögliche tatsächliche Ewigkeitserfahrung entsprechen, wenn sie nicht religionskritischen Projektionsverdikten zum Opfer fallen will? Wenn dies aber nicht der Fall ist und die tatsächliche Ewigkeitserfahrung kreatürlich-personalen Seins nur als Partizipation an der Ewigkeit des Ewigen selbst verstanden werden kann, muss dann umgekehrt der Gottesbegriff selbst mit Ewigkeitserfahrung und/oder seinem Korrelat der Zeiterfahrungserfahrung ausgestattet gedacht werden? Gibt es etwa noch Überraschungen in der Ewigkeit? Ohne diese Fragen hier beantworten zu wollen, sei darauf hingewiesen, dass es jedenfalls mannigfache Rekonstruktionen solcher Ewigkeitsverständnisse gibt. So hat etwa Eilert Herms den Sachverhalt, der hier als Zeiterfahrungserfahrung thematisiert wird, beschrieben als: „Das Erscheinen von dem Erscheinen von Besonderem für mögliche und wirkliche Instanzen unseresgleichen als durch sie zu bestimmendem und zu erkennendem für unseresgleichen als durch unseresgleichen erkenn- und bestimmbar.“210

Herms hat nun postuliert, dass ausgehend von diesem Fall der Zeiterfahrungserfahrung noch ein anderer Fall der Zeiterfahrungserfahrung angenommen werden muss: „Das Erscheinen von dem Erscheinen von Besonderem für mögliche Instanzen unseresgleichen als durch diese zu bestimmendem und zu erkennendem für Gott als durch ihn zu bestimmendes und zu erkennendes.“211

Damit ist in einem transzendentalen Rückschritt unsere Zeiterfahrungserfahrung in einer Zeiterfahrungserfahrung Gottes konstituiert gedacht und ein Ewigkeitsbegriff entworfen, der jüngeren Aussagen von Herms zufolge zwar das Ende und die Vollendung jeden geschöpflichen Prozedierens einschließt, aber so, dass dieses Ende immer nur als Anfang eines gemeinschaftlichen, genusshaften neuen Prozedierens von Schöpfer und Geschöpf gedacht werden kann.212 210 Herms, E., Meine Zeit in Gottes Händen, 81. 211 Herms, E., Meine Zeit in Gottes Händen, 81. 212 Vgl. Herms, „Ende der Welt.“.

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3.6.6.5 Der Umgang mit der Zeit Von den drei Arten der Zeiterfahrung und von den unterschiedlichen Formen der Zeiterfahrungserfahrung ist noch einmal unser Umgang mit Zeit in allen diesen Hinsichten unterschieden. Hier handelt es sich im Wesentlichen um eine ethische Frage, so dass wir durch Anwendung entsprechender Distinktionen eine deskriptive Ethik der Zeit erhielten, mit deren Hilfe wir ebenfalls theologische Systemkonstruktionen beschreiben könnten. Selbstverständlich könnten nicht nur deskriptive Folgerungen aus einer solchen Ethik der Zeit abgeleitet werden, sondern es könnte – bei entsprechender inhaltlicher Füllung – auch eine normative Zeitethik entwickelt werden. Für unsere Zwecke müssen diese kurzen Andeutungen genügen. 3.6.7 Ewigkeit und Zeit Bisher haben wir verschiedene Aspekte der Zeiterfahrung unterschieden und mit Hilfe der Begriffe der Verneinung, Integration und Identifikation in je unterschiedliche Verhältnisse zu Ewigkeitsbegriffen gesetzt, um die Rolle des Zeit-Ewigkeitsjunktims für theologische Systemrekonstruktionen beschreiben zu können. Diese Aufgabe ist weithin eine deskriptive. Als solche ist sie freilich nicht ohne die eigene positionale Verortung möglich. Diese hinsichtlich der Zeitthematik ausführlich darzustellen, würde den Rahmen des zur Verfügung stehenden Raumes sprengen. Es seien wenigstens einige Hinweise gestattet. Es ist nicht nur Zeit, was unser theologisches Nachdenken bestimmt. Aber insofern es Zeit ist, ist es nicht Zeit an sich, sondern die Relation von Zeit und Ewigkeit. Wie ist diese Relation in erkenntnistheoretischer Hinsicht zu bestimmen? Symmetrisch? Asymmetrisch? Und wenn ja, in welcher Hinsicht? In welchem Grad? In welcher Richtung? Die Aufzählung dieser formalen Vielfalt der Bestimmungsmöglichkeit allein der epistemischen Relation von Zeit und Ewigkeit soll nicht dazu dienen, all diese Möglichkeiten zu explizieren und einander abzuwägen. Sie soll lediglich andeuten, dass das Problem durchaus noch komplexer ist, als es in diesem kurzen Abschnitt besprochen werden kann. Eine verhältnismäßig einfache Antwort auf die epistemische Frage lautet, dass Ewigkeitsauffassungen aufgrund ihrer Relationierung zum Zeitbegriff – oder zu Zeitbegriffen, wie wir jetzt sagen müssen – entwickelt oder typisiert werden können. Auf diese Weise käme man etwa zum augustinischen Modell der Ewigkeit als Negation der Zeit – in der Neuzeit vor allem von Schleiermacher meisterhaft entwickelt –, zum plotinisch-boethianischen Modell der Ewigkeit als der Fülle der Zeit – vertreten etwa von Ritschl und Barth –, zum Modell der Ewigkeit als unendlichen Progredierens von Zeit – vertreten etwa

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von Richard Swinburne – und zu einigen Mischmodellen, wie es beispielsweise bei Herms der Fall ist oder in anderer Weise bei Vincent Brümmer213. Und in der Tat haben wir dieses Verfahren als Analysemöglichkeit in den letzten Abschnitten auch gewählt. Für den Entwurf einer systematischen Position hat dieses Verfahren aber einen entscheidenden Nachteil: Es hätte die epistemische Frage immer schon auf recht einfache Weise gelöst: Epistemisch von der Zeit ausgehend würde via negationis, eminentiae oder identificationis in unterschiedlicher Weise auf die Ewigkeit geschlossen. Wir hätten es dann mit einer allgemeinen Religionsphilosophie von Zeit und Ewigkeit zu tun, ohne auch nur einmal nach der offenbarungstheoretischen Fundierung einer solchen Religionsphilosophie von Zeit und Ewigkeit gefragt zu haben. Nun hat bekanntlich Karl Barth genau diese Form von Ewigkeitsdenken programmatisch kritisiert: Nicht von der Zeit sei auszugehen, um die Ewigkeit zu bestimmen, sondern von der Offenbarung selbst.214 Allerdings hält Barth seinen Anspruch kaum selbst durch. Wie Pannenberg Barth vorgeworfen hat, er vertrete zwar den Anspruch in seiner Trinitätslehre, von der Offenbarung auszugehen, aber er entspreche diesem Anspruch nicht, wenn er faktisch nur von der Form der Offenbarung, nicht aber deren Inhalt ausgehe,215 so verhält es sich auch beim Problem von Zeit und Ewigkeit bei Barth: Faktisch startet er vom plotinisch-boethianischen Modell der Ewigkeit als Gleichzeitigkeit, die nun als reine oder freie Dauer bestimmt wird, und setzt damit den Zeitbegriff voraus.216 Seine Aufnahme der Begriffe der Vorzeitlichkeit, Überzeitlichkeit und Nachzeitlichkeit217 mögen dieses Modell ausweiten oder ein Mischmodell generieren. Aber Barths Ausführungen zur Ewigkeit wären wahrscheinlich auch ohne Kenntnis der christlichen Narration verständlich. Ich bin der Meinung, dass Barths Anspruch im Gegensatz zu seiner Ausführung allerdings richtig ist: Es mag eine unhintergehbare Korrelation von Zeit und Ewigkeit geben. Um christlicherseits aber über Ewigkeit sprechen zu können, ist nicht einfach von der mannigfachen Phänomenalität von Zeit auszugehen. Es ist aber auch nicht einfach von einem offenbarungstheologisch erschlossenen Ewigkeitsbegriff auszugehen, um dann anschließend einen oder mehrere Zeitbegriffe zu definieren. Vielmehr ist beides zu leisten: eine offenbarungstheologische Rekonstruktion des Ewigkeitsbegriffs und parallel eine auf Alltagserfahrung beruhende Rekonstruktion von Zeit. Inwieweit beide sich treffen, bleibt abzuwarten. Man wird aber, wenn man von der narrativen Selbsterschließung Gottes in der Erfahrung des Zuspruchs des Evangeliums ausgeht, auf eine unhintergehbar ökonomisch-trinitarische Struktur stoßen, die in jeder Kon213 214 215 216 217

Vgl. dazu Kap. 3.5 in diesem Buch. Vgl. Barth, K., KD II/1, 689. Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 322. Vgl. Barth, K., KD II/1, 688 – 693. Vgl. Barth, K., KD II/1, 698 – 722.

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stitution von Glauben vorausgesetzt ist.218 Wird nun diese Selbsterschließung Gottes tatsächlich als eine solche gedacht, wird man diese Struktur auch – ohne die Welt als notwendig denken zu müssen – auf den Gottesbegriff anwenden müssen. Man wird ökonomische und immanente Trinität nicht identifizieren können, sondern man wird die ökonomische Trinität als epistemische Bedingung der Möglichkeit der immanenten Trinität verstehen müssen und umgekehrt die immanente Trinität als ontische Bedingung der Möglichkeit der ökonomischen Trinität.219 Narrativität ist auf diese Weise sowohl in der Selbstidentifikation Gottes als auch in Gottes Wesen verankert. Auf welche Weise von der Trinität zu reden ist, ist innerhalb der Geschichte der Trinitätslehre bekanntermaßen durchaus umstritten. M.E. leisten aber alle geschichtlichen Rekonstruktionen der Trinitätslehre eines: Sie beschreiben die Relationen zwischen den trinitarischen Personen als asymmetrische, irreflexive und transitive Relationen. Genau diese Relationen sind gemäß der Annahme der göttlichen Einfachheit aller Prädikate auch als göttliches „Leben“, als göttliche „Liebesgeschichte“, als „Abenteuer Gott“ oder als „Ewigkeit“ zu bezeichnen. Diese rein formale Struktur jeder möglichen immanenten Trinitätslehre mit ihren Kennzeichen der Asymmetrie, Irreflexivität und Transitivität entspricht aber nun exakt den formalen Kennzeichen der B/ C-Reihe der Zeit. Diese Beobachtung der Strukturgleichheit ist m. E. mehr als zufällig. Sie deutet darauf hin, dass man, ohne definieren zu müssen, was Ewigkeit semantisch ist, und ohne definieren zu müssen, was Zeit ist, zumindest die theologische Aussage wagen kann: Der dreieinige Gott hat in Entsprechung zu seinem eigenen narrativen Leben eine zeitliche Welt geschaffen, die mit der zeitlichen Struktur einer B/C-Reihe als Form der geschaffenen Narrativität begabt ist, die seinem eigenem narrativen Sein entspricht. Daher ist es möglich, dass Gott sich dieser Welt erschließt. Daher ist es ferner möglich, dass auch die zeitliche Welt in der Ewigkeit der Selbsterzählung Gottes aufgehoben wird und ist, ohne zerstört werden zu müssen.

218 Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 296 – 302. 219 Vgl. Mìhling, M., Art. Immanente/ökonomische Trinität.

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4. Mensch 4.1 Der Mensch als Geschöpf endlicher Freiheit Der Mensch lebt als narratives Geschöpf Gottes in dessen geschaffener Welt. Als imago dei ist der Mensch aber nicht einfach von Gott erzählt, sondern selbst Nacherzähler und Koerzähler seines Seins. Der Mensch bestimmt sich zumindest selbst in diesem narrativen Lebenszusammenhang mit. Wenn der Mensch sich selbst bestimmen will, ist unzweifelhaft der Freiheitsbegriff ein entscheidendes und unterscheidendes Merkmal. Der Mensch nimmt sich als handlungsfähig wahr und in dieser fundamentalanthropologischen Handlungsfähigkeit scheint der Freiheitsbegriff auf die eine oder andere Weise impliziert zu sein. Obwohl auch die Infragestellung dieser basal-anthropologischen Stellung des Freiheitsbegriffs zum üblichen Repertoire der Geistesgeschichte gehört, überraschen solche Infragestellungen immer wieder und ziehen auch zum Widerspruch herausfordernde Aufmerksamkeit auf sich. Obwohl dieser Sachverhalt an sich nichts Neues ist, so zog doch die Debatte um die Infragestellung der Willensfreiheit in den 2000er Jahren durch führende Vertreter der Neurobiologie bis heute viel Aufmerksamkeit auf sich, so dass man kaum davon sprechen mag, die Debatte liege uns schon in historischer Abständigkeit vor, wenn das m. E. allerdings durchaus der Fall sein dürfte. Ausgehend von dieser Debattenlage im ersten Teil dieses Kapitels soll im zweiten Teil nach einigen philosophischen grundlegenden Begrifflichkeiten zur Frage, inwieweit der Freiheitsbegriff kennzeichnend für den Menschen sein kann, gefragt werden, bevor im dritten Teil der Mensch theologisch als Wesen endlicher Freiheit bestimmt werden soll.

4.1.1 Die weltanschaulichen Ansprüche der Hirnforschung der 2000er Jahre In der neurobiologischen Debatte fokussierte man sich von vornherein auf die Frage der Willensfreiheit im Unterschied zur äußeren Handlungsfreiheit. Dabei wurde von verschiedener neurobiologischer Seite bestritten, dass es so etwas wie Willensfreiheit gäbe. Man versuchte gewissermaßen, eine theologisch-philosophische Frage mit Mitteln der empirischen Forschung zu bearbeiten. Kennzeichnend für diese Infragestellung des Begriffs der Willensfreiheit waren im Wesentlichen die folgenden Kennzeichen: – Man rekurrierte auf empirische Experimente, vornehmlich die schon älteren Libetexperimente und ihre Nachfolger, um mit empirischen Tests

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aufzeigen zu können, dass von einer Willensfreiheit nicht die Rede sein könne.1 Man versuchte zu zeigen, dass innere und private Zustände des menschlichen Geistes strikte neuronale Korrelate aufweisen und u. U. auf solche Zustände reduzierbar sein könnten.2 Man versuchte ebenso zu zeigen, dass diese neuronalen Korrelate – gewissermaßen das neuronale Vokabular unseres Geistes – strikt in ein Wirklichkeitsverständnis einzubetten seien, das in der kausaldeterministischen Tradition des 19. Jh. stand. Besonders dieser letzte Zug überraschte doch in wissenschaftstheoretischer Hinsicht. Genau genommen zerfällt diese These in zwei Thesen, die strikt getrennt zu betrachten sind, weil sie nicht notwendigerweise miteinander verbunden sein müssen: Willensempfindungen sind – wie auch andere private Phänomene wie Gefühle, Stimmungen, Absichten etc. – über den Umweg ihrer neuronalen Basis in den kausalen Zusammenhang natürlicher Phänomene eingebunden und lassen sich entsprechend dieser Logik behandeln.3 Darüber hinaus ist der kausale Zusammenhang ein geschlossener Zusammenhang, der alle möglichen Entitäten betrifft, so dass eine Determination aller welthaften Phänomene anzunehmen ist, einschließlich der des Willens.4 Problematisch war vor allem, dass von Seiten der Neurobiologie wenig Rücksicht auf die schon älteren philosophischen Debatten zum Thema, insbesondere der analytischen philosophy of mind, genommen wurde und z. T. sogar eine strikte Opposition zu diesen philosophischen Problemdiskussionen eingenommen wurde. Ebenso wurden umgekehrt die Thesen der Neurowissenschaftler von den Geisteswissenschaftlern oft nur rudimentär oder verzeichnend dargestellt.5 Zeitweise gewann man den Eindruck, als handele es sich um Machtfragen der Definitionsgewalt von Begriffen,6 die von Seiten der Neurobiologie mit einer grundsätzlichen Infragestellung der Geisteswissenschaften verbunden werden konnten.

Zusätzlich verbanden sich mit diesen Infragestellungen der Willensfreiheit auch explizite und normative ethische Ansprüche hinsichtlich des Verant-

1 Vgl. z. B. Libet, B., Unconscious Cerebral Initiative, und Libet, B., Mind Time. 2 Zu einer Anführung der entsprechenden Behauptungen, wie sie z. B. von Wolfgang Prinz, Erhard Roth und Wolf Singer vertreten werden, vgl. deren Beiträge in Geyer, C. (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, dazu Roth, G., Das Gehirn und seine Wirklichkeit, und in plakativerer Form Roth, G./Singer, W./u. a., Das Manifest, sowie zu ihrer Diskussion in philosophischer Beleuchtung Rott, H., Freiheit in den Zeiten neurowissenschaftlichen Fortschritts. 3 Vgl. die Darstellung in Rott, H., Freiheit in den Zeiten neurowissenschaftlichen Fortschritts. 4 Vgl. die Darstellung in Rott, H., Freiheit in den Zeiten neurowissenschaftlichen Fortschritts. 5 Vgl. Prinz, W., Philosopie nervt. 6 Vgl. die treffende Analyse von Rott, H., Freiheit in den Zeiten neurowissenschaftlichen Fortschritts, 131 – 133.

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wortungsbegriffs, hinsichtlich Revisionsansprüchen des Strafrechts und des Bildungssystems.7 Im Folgenden soll dieser Anspruch der Neurobiologie einer kritischen Revision unterzogen werden, indem ausgehend von deren experimenteller Basis nach deren weltanschaulichen Voraussetzungen gefragt werden soll.

4.1.1.1 Die experimentelle Basis: Die Haynes-Experimente Welche Gründe auch immer im Einzelnen zum Aufschwung der Neurowissenschaften in den 1990ern und 2000er Jahren geführt hatten, auf alle Fälle gehörte die Entwicklung der sog. neuen bildgebenden Verfahren dazu. Mit Hilfe nicht unbeträchtlichen technischen Aufwands war es möglich, Durchblutungszustände des Gehirns dreidimensional abzubilden, was eine ganze Reihe faszinierender Aufschlüsse über unser Gehirn zu Tage brachte. Angesichts dessen überraschte es doch, dass bei der Infragestellung insbesondere des Begriffs der Willensfreiheit vor allem auf die älteren, EEGbasierten Libetexperimente8 zurückgegriffen wurde. Man interpretierte diese Libetexperimente dabei derart, dass die Differenz zwischen dem 550ms und 1050ms vor der ausgeführten motorischen Handlung gemessenen Bereitschaftspotential im Motorkortex und den ca. 200 ms vor der ausgeführten Handlung berichteten Absichtserklärungen der Probanden, darauf hindeute, dass die Absichtserklärung und die damit als identisch gesetzte Willenserscheinung also nur nachträglich als Sanktionierung einer vorher schon auf Basis von neuronalen Vorgängen feststehenden „Entscheidung“ zu verstehen sei. Der Nachweis, dass die bewusste Willensempfindung nur ein Epiphänomen von vorgängigen und unbewussten neuronalen Vorgängen sei, konnten dabei die Libetexperimente von vornherein nicht erbringen, denn hier wurden die Probanden bekanntlich aufgefordert, auf einen sich einstellenden Entscheidungsdrang (urge) zu warten,9 und mitnichten Handlungen auszuüben, die auf bewussten Entscheidungen beruhten. Auch wenn einige wenige Nachfolgeexperimente10 versucht haben, dieses Manko auszugleichen, so blieben doch immer noch eine Reihe methodischer Zweifel bestehen. Mittlerweile wurden aber auch die neuen bildgebenden Verfahren, wenngleich diese nicht die Schnelligkeit eines EEG erreichen, für ähnliche Experimente genutzt. Am deutlichsten und erfolgversprechendsten erscheinen dabei Experimente, die zuletzt um John-Dylan Haynes in Berlin ausgeführt 7 Vgl. exemplarisch die Beiträge in Grìn, K.-J./Friedmann, M./Roth, G. (Hg.), Entmoralisierung des Rechts, und in Lampe, E.-J./Roth, G./Pauen, M. (Hg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung. 8 Vgl. Libet, B./Gleason, C.A./Wright, E.W./Pearl, D.K., Time of Conscious Intention to Act. 9 Vgl. Libet, B., Mind Time, 193 – 199. 10 Vgl. Haggard, P./Eimer, M., Relation between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements.

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wurden. Sie bilden gewissermaßen die Referenz gegenwärtiger Hirnforschung zu dem in Frage stehenden Problem und sollen daher als empirisches Beispiel angeführt werden. In nicht wissenschaftlichen Veröffentlichungen äußert sich Haynes sehr optimistisch, was die Entschlüsselung des neuronalen Vokabulars unseres Geistes angeht und die Voraussagbarkeit von Handlungen vor dem eigenen Bewusstwerden der Handlungen, wenn auch nicht so vollmundig wie die meisten Protagonisten der 2000er Jahre. Auf die Frage, ob Gedankenlesen das Fernziel seiner Forschung sei, antwortete Haynes 2008 im Deutschlandfunk: „In einer ganzen Reihe von unseren Forschungsprojekten geht es immer wieder um die Frage, inwiefern wir die Gedanken von Menschen aus ihrer Hirnaktivität auslesen können, und das beruht einfach darauf, dass, wenn man etwas anderes denkt, dann stellt sich auch ein anderes Aktivierungsmuster im Gehirn ein, und wenn wir diese Muster erkennen können, dann können wir auch die Gedanken lesen. Aber das ist wirklich noch in den Kinderschuhen, und zwar deswegen, weil wir die Muster wissen müssen. Wir müssen also vorher wissen, welches Muster stellt sich im Gehirn einer Person ein, wenn sie zum Beispiel an ,ich koche heute Abend Nudeln‘ versus ,ich koche heute Abend Bratkartoffeln‘ denke. Diese beiden unterschiedlichen Gedanken, die Muster, die damit einhergehen, die müssen wir erst mal messen. Dazu müssen wir die Probanden erst mal bitten, sich diese Gedanken vorzustellen, und daran können wir dann diese Geräte kalibrieren. Damit ist natürlich auch ein großes Problem bezeichnet, und zwar, dass wir prinzipiell nur solche Gedanken auslesen können, wo wir diese Aktivitätsmuster im Gehirn schon erkennen können.“11

Haynes Anspruch geht also letztlich noch weiter als einen verlässlichen Test zur Frage der Willensfreiheit bieten zu wollen. Es geht letztlich um neuronale Korrelate von Gedanken und sprachlichen Sachverhalten, es geht um neuronale Korrelate der klassischen Propositionen. Zunächst erfolgt aber eine Konzentration auf Haynes letztes Experiment zur Frage der Willensfreiheit.12 Der Versuch: 12 Probanden sollten sich entscheiden, spontan entweder mit dem rechten oder linken Zeigefinger einen Knopf zu drücken, den Druck auszuführen und den Zeitpunkt der Bewusstwerdung mit Hilfe eines weiteren Knopfdruckes anzugeben, währenddessen vor ihren Augen zur Zeitmessung eine schnelle Buchstabenfolge sichtbar wurde. Mithilfe von fMRI (functional Magnetic Resonance Imaging) wurde die gesamte Gehirnaktivität gemessen mit einer Auflösung von 1 mm3 Voxels (dreidimensionalen Bildpunkten).13 Vor- und nachbereitende Interviews der Probanden sollten die Objektivität erhöhen. In Kalibrierungsversuchen stellte sich ein bestimmter Bereich im 11 Haynes, J.-D./Mìller-Schmid, R., Fortschritt und Dilemma. 12 Vgl. Haynes, J.-D./Bode, S./Hanxi He, A./Soon, C.S./Trampel, R./Turner, R., Tracking the Unconscious Generation of Free Decisions. 13 Vgl. Haynes, J.-D./Bode, S./Hanxi He, A./Soon, C.S./Trampel, R./Turner, R., Tracking the Unconscious Generation of Free Decisions.

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frontopolaren Cortex als besonders erfolgversprechend dar, indem bei den Voxels dieses Bereichs für verschiedene Personen je individuelle Aktivitätsmuster für rechts und links zugewiesen werden konnten. Mit jedem Probanden wurden mehrere Versuche durchgeführt; das Ergebnis von zwei Probanden konnte nicht gewertet werden. Das Ergebnis: In den Worten der Autoren besagt das Ergebnis, erstens dass „the present study supports the hypothesis that prefrontal cortex is a core region for free decisions“,14 wobei redlicherweise kein Anspruch auf einen Kausalitätszusammenhang erhoben wird: „[…] our study cannot provide evidence for a causal relationship between the activation in frontopolar cortex and the decision“.15 Zweitens aber zeige das Ergebnis, dass „motor intentions were encoded in frontopolar cortex up to seven seconds before participants were aware of their decisions.“16 Dieses Ergebnis kam zustande, indem in einem Verlauf von 12 Sekunden vor und nach der Entscheidung, die Hirnaktivität im frontopolaren Cortex mit der Entscheidung für „links“ und „rechts“ in einen Zusammenhang gebracht wurde. Dabei zeigte sich, dass in der Tat 7 Sekunden vor der Entscheidung mit 52 – 56 % Wahrscheinlichkeit die Entscheidung auf Basis der fMRI-Analyse korrekt vorhergesagt werden kann. Deutlicher ist die Wahrscheinlichkeitsvorhersage nur ca. 1,5 s vor der Entscheidung mit 55 – 58 % Wahrscheinlichkeit.17

4.1.1.2 Notwendige weltanschauliche Voraussetzungen der Hirnforschung Natürlich fällt auf, dass die Wahrscheinlichkeit des Ergebnisses der Vorhersagbarkeit zumindest nach unserem Alltagsverständnis nur sehr knapp über einem zufälligen Ergebnis liegt. Würden sich aber diese Zahlen über eine große Anzahl von Probanden bestätigen, wären sie signifikant. Nicht die relativ geringe Rate über Zufall ist hier signifikant, sondern, dass die entsprechenden Experimente überhaupt immer auf statistische Interpretationen hin – und das heißt im Rahmen von kontingenten Deutungen – verlaufen müssen. Denn in welches Wirklichkeitsverständnis man dieses und ähnliche Experimente auch einordnen mag, man wird immer auch berücksichtigen müssen, dass sie sich grundsätzlich im Rahmen einer kontingenten Deutung statistischer Wahrscheinlichkeiten bewegen müssen, weil eben dies die Eigenart empirischer Experimente ist. Das bedeutet aber auch, dass jeweils gefragt 14 Haynes, J.-D./Bode, S./Hanxi He, A./Soon, C.S./Trampel, R./Turner, R., Tracking the Unconscious Generation of Free Decisions, 9. 15 Haynes, J.-D./Bode, S./Hanxi He, A./Soon, C.S./Trampel, R./Turner, R., Tracking the Unconscious Generation of Free Decisions, 9. 16 Haynes, J.-D./Bode, S./Hanxi He, A./Soon, C.S./Trampel, R./Turner, R., Tracking the Unconscious Generation of Free Decisions, 12. 17 Vgl. Haynes, J.-D./Bode, S./Hanxi He, A./Soon, C.S./Trampel, R./Turner, R., Tracking the Unconscious Generation of Free Decisions, 5.

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werden kann, ob diese prinzipielle Eigenart statistischer Kontingenz in den jeweiligen Deutungen auch stets berücksichtigt ist. Analysieren wir im Folgenden also die weltanschaulichen Voraussetzungen, die Hirnwissenschaftler selbst angeben, anhand dreier Beispiele. a) Haynes Haynes eigene weltanschauliche Voraussetzungen dürften die Folgenden sein: (H1) Zur Wirklichkeit gehören die beiden Sphären des phänomenal durch Sinne Beobachtbaren und die der nur in privater Selbsterschlossenheit vorliegenden mentalen Phänomene: „Die Privatsphäre der eigenen Gedanken ist so, dass wir überhaupt nicht dazu in der Lage sind, von außen das zu erkennen.“18

Damit ist in Haynes Wirklichkeitsverständnis schon ein radikaler Reduktionismus, der nur die Sphäre des phänomenal durch Sinne Beobachtbaren für real, den anderen Bereich aber für trügerische Illusion erklärt, ausgeschlossen. Dieses Ernstnehmen des phänomenalen Bereichs zeigt sich auch daran, dass in Haynes’ Experimenten das Interview der Probanden hinsichtlich ihres nur privat beobachtbaren Erlebens eine nicht reduzierbare Rolle spielt.19 (H2) Beide Sphären, die phänomenal-sensitive und die phänomenal-mentale20 sind nicht neukantianisch strikt getrennt, sondern stehen in einem Korrelationsverhältnis. Andernfalls würden entsprechende Versuche überhaupt nicht durchgeführt werden. (H3) Dieses Korrelationsverhältnis ist zumindest z. T. durch phänomenalsensitive Experimente erhellbar, weil sich die phänomenal-mentale Sphäre durch Sprache artikulieren kann: „Aber es gibt ein paar Hinweise darauf. Und zwar ist es so, dass wenn man Probanden sagt: Du musst jetzt die linke oder rechte Taste drücken – oder nachdem sie sich entschieden haben, da wissen wir, dass wir sofort aus motorischen Hirnregionen auslesen können, wie sich jemand entschieden hat. Das heißt, wenn ich jetzt eine Entscheidung fälle, ich werde links drücken, dann bereite ich schon mein Gehirn ganz 18 Haynes, J.-D./Mìller-Schmid, R., Fortschritt und Dilemma, 3. 19 Vgl. Haynes, J.-D./Bode, S./Hanxi He, A./Soon, C.S./Trampel, R./Turner, R., Tracking the Unconscious Generation of Free Decisions, und ebenso Haynes, J.-D./Soon, C.S./Brass, M./ Heinze, H.-J., Unconscious Determinants of Free Decisions. 20 Herms, E., Freiheit des Willens, benutzt hier den Ausdruck „noumenal-mental“, was für ihn möglich ist, da er schon eine vertiefte Analyse der Erschlossenheitsrelation vorlegt. Demgegenüber wird hier „phänomenal-mental“ gebraucht, um zunächst nur anzudeuten, dass die Erfahrung des Mentalen und Privaten jedenfalls zum Phänomenbestand gehört.

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weit darauf vor, dass es quasi nur noch das Startzeichen braucht, und dann wird die Handlung umgesetzt.“21

Der phänomenal-sensitive Ausdruck des Mentalen, d. h. das Drücken des Knopfes, ist dabei selbst schon als Sprache zu verstehen. Bei Haynes ist das Experiment dabei so entworfen, dass es nicht nur wie bei Libet darum geht,22 überhaupt das „Dass“ dieser Sprache in Anspruch zu nehmen, sondern eben auch schon eine rudimentäre semantische Kodierung, nämlich die von „links“ und „rechts“. Und nur etwas geringfügig anderes bietet die Beobachtung mittels fMRI: Während das Drücken eines der beiden Knöpfe einen sprachlich-sensitiven Selbstbericht des Probanden darstellt, sind die Aufzeichnungen mittels fMRI und ihre statistische Auswertung nichts anderes als sprachlich-sensitive Fremddeutungen desselben mentalen Geschehens. Insofern hat die Suche nach einer Sprache der Gehirne, wie sie Haynes als Fernziel seiner Forschung vorschwebte, nichts Geheimnisvolles an sich. Signifikant ist aber, dass die phänomenal-sensitive Fremdbeschreibung offensichtlich (lange) vor der phänomenal-sensitiven Selbstbeschreibung vornehmbar ist. An dieser Stelle kommt eine weitere ontologische Gewissheit ins Spiel: (H4) Es gibt einen phänomenal-sensitiven Bereich, der sich zunächst in seiner Komplexität nicht in der Selbsterschlossenheit spiegelt, aber dort später spiegeln kann und spiegelt: „Eine Kaskade von unbewussten Prozessen fängt an, eine Entscheidung vorzubereiten, lange bevor diese ins Bewusstsein dringt […]. Was uns bewusst wird, ist nur […] Spitze [eines Eisbergs]. Neunzig Prozent liegen unter Wasser – das sind die unbewussten Prozesse in unserem Gehirn. […] Alle unsere Handlungen sind die Überlagerung von Tausenden von kleinen Ursachen – Erfahrungen in Kindheit und Beruf, unsere Kultur, die Menschen, mit denen wir uns umgeben, die Medien, die wir zurate ziehen, und so weiter […]. Auch unbewusste Prozesse folgen einer Logik. Doch diese können wir in uns selbst nicht beobachten. Und die bewussten Gründe, die wir dafür angeben, stimmen oft nicht.“23

Haynes’ und Libets Experimente unterstützen die Behauptung der „Existenz“ von etwas Unbewusstem. Diese Behauptung ist uns zwar nach dem Jahrhundert der Tiefenspsychologie nicht unvertraut. Während sie dort aber nichts als eine weltanschauliche Voraussetzung darstellt, handelt es sich hier immerhin um eine weltanschauliche Voraussetzung, die einige Evidenz besitzt. Wichtig ist hier aber, über Haynes hinausgehend zu betonen, dass diese unbewussten Vorgänge, die zur phänomenal-sensitiven Seite gehören und die offensichtlich nur in die phänomenal-mentale Sphäre dringen, d. h. bewusst 21 Haynes, J.-D./Mìller-Schmid, R., Fortschritt und Dilemma, 3. 22 Vgl. dazu die Analyse zu Libets Selbstdeutung in Herms, E., Freiheit des Willens, hier 75. 23 Haynes, J.-D./Schnabel, U., Der unbewusste Wille.

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werden, wenn sie länger als 500ms andauern,24 die phänomenal-mentale Selbsterschlossenheitserfahrung steuern und beeinflussen können und auch tatsächlich beeinflussen, nicht aber immer beeinflussen müssen. Die Behauptung, dass sie dies immer müssten, auch dann wenn sie nicht in der Selbsterfahrung berichtbar werden, wäre jedenfalls eine weitere und darüber hinausgehende weltanschauliche Annahme, und zwar eine solche, die von Seiten der phänomenal-sensitiven Seite der Fremdbeschreibung niemals überprüfbar wäre. Haynes selbst scheint diese stärkere Annahme auch nicht zu teilen, worauf eine weitere notwendige weltanschauliche Annahme von ihm hindeutet: (H5) Die phänomenal-mentale Seite ist an der sprachlichen Umsetzung in erneut phänomenal-Sensitives wesentlich, d. h. im Sinne einer notwendigen Bedingung, beteiligt: „Man sitzt im Sprung […]. Und diese Areale, die finden wir in unserem Experiment nicht. Das heißt, wir finden die hohen, komplexen Planungsareale, aber wir finden nicht diese Areale, die die Ausführung unmittelbar umsetzen. Das heißt, wir interpretieren das so, dass die Person sich zu dem Zeitpunkt unbewusst entschieden hat. Das Gehirn hat entschieden, aber erst dann, wenn man sich bewusst entscheidet oder wenn das Bewusstsein dazukommt; erst dann bereitet man die Handlung richtig vor.“25

Ob dieses bewusste Entscheiden der phänomenal-mentalen Seite seinerseits wieder auf phänomenal-sensitiven neuronalen Prozessen beruht, die der phänomenal-mentalen Seite vorangehen, ist gegenwärtig nicht experimentell beobachtbar. (H6) Die phänomenal-sensitive und die phänomenal-mentale Sphäre sind aber nicht nur in einer Relation korreliert, die zumindest teilweise durch Fremdbeobachtung verbunden ist, sondern sie bilden auch eine untrennbare Einheit, die die Einheit der Person bzw. des „Ich“ ist: „Mein Gehirn, das bin ja ich […]. Was uns bewusst wird, ist nur […] Spitze [eines Eisbergs]. […] Aber die Spitze gehört ja zum Eisberg dazu, beide bilden eine Einheit. […] „26

Die postulierte Einheit, die die phänomenal-sensitive Seite und die phänomenal-mentale Seite zusammenhält, wird hier von Haynes mit „ich“ benannt, nicht etwa mit „Gehirn“. Damit ist auf alle Fälle deutlich, dass Haynes keinen naturalistischen Reduktionismus annehmen kann; und zwar auch dann nicht, wenn sein Fernziel der Dekodierung individueller Gehirnsprachen gelänge. 24 Vgl. Libet, B., Mind Time, 58 – 121, und dazu auch Herms, E., Freiheit des Willens, 76. 25 Haynes, J.-D./Mìller-Schmid, R., Fortschritt und Dilemma, 3. 26 Haynes, J.-D./Schnabel, U., Der unbewusste Wille.

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Was diese Einheit ist und worin sie besteht, d. h., was ein „Ich“ oder eine „Person“ ist, sagt Haynes nicht. Damit ist auch eine letzte weltanschauliche Diagnose noch einmal zu explizieren: (H7) Die phänomenal-sensitiven Vorgänge auf neuronaler Ebene sind notwendige Bedingungen jedes phänomenal-mentalen Vorgangs und damit auch jeder willentlichen Entscheidung. Haynes experimentelle Forschung ist also von einer Reihe von nicht empirisch testbaren, d. h. weltanschaulichen Voraussetzungen abhängig, die wir mit den sieben zuletzt genannten Sätzen charakterisiert haben. Sie stellen dennoch ein sehr bescheidenes und vorsichtiges Set an notwendigen weltanschaulichen Gewissheiten dar, die in umfassendere Wirklichkeitsverständnisse integriert werden können oder die verändert und bestritten werden müssen, um in umfassendere Wirklichkeitsverständnisse integriert werden zu können. Beides geschieht bereits im Rahmen der neurowissenschaftlichen Selbstauslegung, was nun an den Beispielen Libets und Roths kurz zu veranschaulichen ist. b) Libet Haynes versteht seine Experimente als eine Weiterführung der Experimente Libets mit anderen Mitteln. Aber auch in seinen weltanschaulichen Voraussetzungen, die Libet umfänglich besprochen hat27 und die auch von theologischer Seite bereits glänzend analysiert wurden,28 gibt es eine große Ähnlichkeit: Beide teilen die Annahmen (H1)–(H7). Lediglich bezüglich von Annahme (H3), nach der die phänomenal-mentale Sphäre durch Sprache auf der phänomenal-sensitiven Ebene berichtet werden kann, geht Haynes in seinen Experimenten einen Schritt über Libet hinaus, indem er eben nicht einfach nur das bloße Gegebensein dieser Sprache diagnostiziert, sondern auch deren semantische Differenziertheit. Libet selbst geht aber an einer anderen entscheidenden Stelle über die von Haynes vertretenen Annahmen hinaus, indem er den Einheitsgrund zwischen Phänomenal-sensitivem und Phänomenal-mentalem näher zu bestimmen wagt: (L1): Der Einheitsgrund besteht in einem „bewussten mentalen Feld“ (BMF), das notwendig, aber emergent aus der phänomenal-sensitiven Sphäre erscheint, aber selbst nicht auf diese zu reduzieren ist. Dieser emergente Charakter des BMF kann sich darin zeigen, dass es selbst nicht (ausschließlich) über neuronale Wege interagiert.29 27 Vgl. Libet, B., Mind Time. 28 Vgl. z. B. Herms, E., Freiheit des Willens, 68 – 86. 29 Vgl. Libet, B., Mind Time, 212.

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Libets Annahme ist sicherlich sehr spekulativ. Aber sie ist so entworfen, dass sie zumindest prinzipiell testbar wäre, wozu Libet selbst einen Vorschlag unterbreitet.30 Aufgrund dieses postulierten BMF wird nun auch verständlich, warum Libet annehmen kann, dass gegen die nur notwendig von Seiten der phänomenal-sensitiven Sphäre bedingten Handlungsentscheidung ein Veto erfolgen kann, das nicht mehr hinreichend durch die phänomenal-sensitive Seite bedingt ist, sondern aus dem BMF stammt: (L2): Ein freies Veto gegen die phänomenal-sensitiv vorbereitete Entscheidung ist zwischen dem Erscheinen des Bereitschaftspotenzials und der ausgeführten Handlung möglich.31 Dieser Annahme folgt dann eine weitere Annahme: (L3): Die Welt ist nicht deterministisch geschlossen, sondern letztlich emergent indeterministisch.32 Libet geht daher mitnichten von einem dualistischen Wirklichkeitsverständnis aus, in dem die phänomenal-sensitive Sphäre und die phänomenal-mentale Sphäre in einer unerklärbaren Weise interagieren, sondern die phänomenal-mentale Sphäre erscheint emergent aus der phänomenal-sensitiven Sphäre, ist aber nicht auf diese zurückführbar. Die Einführung des Gedankens der Emergenz steht dabei jenseits eines naturalistischen Monismus und eines Leib-Seele-Dualismus, weil er im Prinzip mit einer Vielheit von möglichen prozessual emergierenden Sphären rechnet, so dass sich angesichts der Vielheit der möglichen und wirklichen Sphären, aus der unsere Wirklichkeit aufgebaut ist, die Streitfrage zwischen Monismus und Dualismus erledigt hat, weil wir immer schon in einer pluralistisch emergierenden Welt vieler Sphären leben.33 Nicht erledigt hat sich freilich auch angesichts dieses pluralistischemergenten Wirklichkeitsverständnisses die Frage nach dem Grund der zugrundeliegenden Einheit der Wirklichkeit. Denn der Emergenzgedanke ist überhaupt nur sinnvoll unter Wahrung des Gedankens der Einheit der Wirklichkeit. Die zusätzlichen weltanschaulichen Annahmen Libets L1–L3 haben jeweils unterschiedlichen Charakter : Für L1, die Annahme des BMF, schlägt Libet selbst ein theoretisch durchführbares Experiment vor, für L2, die Annahme der Vetofunktion des Geistes, hat Haynes eine experimentelle Überprüfung vorgeschlagen,34 was aber bisher – wohl aufgrund der Langsamkeit der ver30 31 32 33 34

Vgl. Libet, B., Mind Time, 216 – 232. Vgl. Libet, B., Mind Time, 177 – 179. Vgl. Libet, B., Mind Time, 193 – 199. Vgl. Clayton, P., Emergenz und Bewusstsein. Vgl. Haynes, J.-D./Schnabel, U., Der unbewusste Wille.

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wendeten Verfahren –35 nicht umgesetzt werden konnte. L1 und L2 sind daher nur relative weltanschauliche Annahmen, weil sie zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht experimentell überprüfbar sind, aber eine experimentelle Überprüfbarkeit zumindest denkbar ist. Wie steht es aber mit der Annahme L3 des Indeterminismus? Hat diese einen absoluten weltanschaulichen Gehalt oder hat sie auch nur einen relativen weltanschaulichen Gehalt, der in Zukunft experimentell auf die Ebene des Empirischen, d. h. des Phänomenal-sensitiven, überführt werden könnte? Um diese Frage lösen zu können, ist es zunächst hilfreich, sich ein Gegenmodell einer weltanschaulichen Deutung sowohl zu Libet als auch zu Haynes anzuschauen. Eine solche Auffassung findet man bei Gerhard Roth. c) Roth Roths ebenfalls von ihm sehr detailliert vorgelegtes Wirklichkeitsverständnis36 kann hier nicht ausführlich analysiert werden.37 Wichtig ist vielmehr zunächst eine Annahme Roths, die die Deutung des von ihm als nicht unmöglich verstandenen Vetos gegen eine phänomenal-sensitive, neuronale Vorbereitung einer Handlung betrifft: (R1): Jedes mögliche Veto der handelnden Person gegen eine neuronal vorbereitete Handlung ist ihrerseits notwendig und hinreichend durch phänomenal-sensitive, neuronale Vorgänge bestimmt.38 Mit dieser simplen, aber sehr entscheidenden Annahme ist Roths Wirklichkeitsverständnis offensichtlich nicht nur nicht mit dem Libets inkompatibel, sondern auch nicht mehr mit dem in den Annahmen H1–H7 explizierten Wirklichkeitsverständnis von Haynes. Denn Roth fällt diese Annahme auf der Basis der folgenden Annahmen: (R2): Die phänomenal-sensitive Welt ist der Einheitsgrund der Wirklichkeit (kantisch gesprochen: das Ding an sich) dergestalt, dass auch die phänomenalmentale Welt vollständig von ihr – und daher von dem Gehirn – bestimmt ist.39 35 Vgl. Haynes, J.-D./Bode, S./Hanxi He, A./Soon, C.S./Trampel, R./Turner, R., Tracking the Unconscious Generation of Free Decisions, 12: „One advantage of using fMRI for this purpose compared to readiness potentials (RPs) as in the classical Libet study […] is that fMRI allows the investigation of the whole brain at high spatial resolution. The temporal resolution of fMRI compared to EEG is low. On the other hand, it offers the possibility to assess activation in a multitude of brain regions at early stages of the decision process.“ 36 Vgl. Roth, G., Das Gehirn und seine Wirklichkeit. 37 Dies ist auch nicht nötig, da es bereits bei Herms, E., „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“, ausführlich vorgenommen wurde. 38 Vgl. Roth, G., Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 309 f. 39 Roth, G., Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 324 f: „Wenn ich aber annehme, daß die Wirklichkeit ein Konstrukt des Gehirns ist, bin ich gleichzeitig gezwungen, eine Welt anzunehmen, in

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(R3): Die Empfindungen der phänomenal-mentalen Welt sind daher auf die phänomenal-sensitive Welt abbildbar. Die Reizung von Hirnarealen bedingt hinreichend die Entstehung des Geistes aus Materie.40 (R4): Widersprechen Empfindungen der phänomenal-mentalen Welt der phänomenal-sensitiven Welt, wie im Erleben von Willensfreiheit, handelt es sich um illusionäre, d. h. trügerische Gehalte.41 (R5): Die phänomenal-sensitive Welt ist eine geschlossene, deterministische Welt. Hinsichtlich dieser letzten Annahme ist Roth etwas vorsichtiger als viele seiner Kollegen. Er scheint sie anzunehmen, aber ihren prinzipiell weltanschaulichen Gehalt durchschaut zu haben.42

Roths Wirklichkeitsverständnis ist von deutlich anderer Gestalt als das Libets und auch als das von Haynes, soweit dieses erkennbar ist. Insgesamt liegt bei Roth sogar ein theologischer Anspruch vor, weil nicht nur die notwendigen neurobiologischen Bedingungen der phänomenalen Welt untersucht werden sollen, sondern deren Verankerung in einer transphänomenalen Welt, die in eben den in der phänomenalen Welt erfahrenen Entitäten bestehen soll, postuliert wird. Damit hat die Konzeption Roths aber nicht nur religiösen und theologischen Charakter, sondern unkritisch theologischen Charakter, weil die transphänomenale Welt einfach durch Verdoppelung und Identifikation mit der phänomenal-sensitiven Welt gewonnen wird, so dass es sich hier um eine mythische Theologie handelt.43 Die spannende Frage lautet nun zunächst, ob es sich bei der Frage nach Determinismus und Indeterminismus, d. h. bei den beiden sich widerspre-

40 41 42

43

der dieses Gehirn, der Konstrukteur, existiert. Diese Welt wird als ,objektive‘, bewußtseinsunabhängige oder transphänomenale Welt bezeichnet. Ich habe sie der Einfachheit halber Realität genannt und sie der Wirklichkeit gegenübergestellt. […] Die Wirklichkeit und die Realität wird durch das reale Gehirn hervorgebracht.“ Vgl. Roth, G., Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 332, und dazu auch Herms, E., „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“, 96. Vgl. dazu die bei Rott, H., Freiheit in den Zeiten neurowissenschaftlichen Fortschritts, 122 angegebenen Belege und Roth, G., Worüber dürfen Hirnforscher reden, 81. Roth vertritt einen solchen Determinismus eindeutig an einigen Stellen, wenn er das Prinzip alternativer Möglichkeiten des Weltlaufs ausschließt, z. B. in Roth, G., Wir sind determiniert, 222. Anderenorts hält Roth diese Frage allerdings für offen, vgl. Roth, G., Fühlen, Denken, Handeln, 504; und wenn ich es recht sehe, auch für eine empirisch nicht zu entscheidende Frage. Eindeutiger beziehen hier andere Hirnforscher Stellung. Prinz, W., Der Mensch ist nicht frei, 22, geht davon aus, dass der Determinismus notwendigerweise eine Voraussetzung jeglicher naturwissenschaftlicher Tätigkeit ist. Eindeutig fällt das Bekenntnis zum Determinismus auch in Singer, W., Verschaltungen legen uns fest, bes. 34 – 37 und 57 – 60. 64 aus. Vgl. dazu die Analyse in Herms, E., „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“.

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chenden Thesen L3 und R5, um empirisch entscheidbare Thesen handelt oder ob es sich um prinzipiell nicht empirisch entscheidbare Sachverhalte handelt.

4.1.1.3 Ein Gedankenexperiment zum Determinismusproblem Dass es sich bei der These „Determinismus versus Indeterminismus“ um eine nicht empirisch entscheidbare These handelt, kann mit einem an die Libetexperimente angelegten, reinen Gedankenexperiment veranschaulicht werden, das ich hier vorschlagen möchte:

Eine Handlung x1 erfolge zum Zeitpunkt t1+n. Die Anbahnung von x1 kann bereits zum Zeitpunkt t1-10s von einem Forscher A gemessen werden, während der Proband für die bewusste Entscheidung zur Handlung x1 den Zeitpunkt t1 angibt (t1-10s < t1 < t1+n). Während der Zeitspanne t1-10s bis t1 hat der Proband also Zeit für eine andere Handlung. Diese sei das Veto x2 gegen die Handlung x1, die nur zu einem Zeitpunkt t2 erfolgen kann, von dem gilt: t1-10s < t2 < t1. Soll das Experiment wirklich etwas über eine mögliche Willensreduktion aussagen, muss es auf alle willentlichen Ereignisse verallgemeinerbar sein. Also muss die Handlung x2 ebenfalls zu einem Zeitpunkt t2-10s vorhergesagt werden können, beispielsweise durch einen anderen Forscher B. Nun ergibt sich aber folgende Schwierigkeit: Aus der Bestimmung t1-10s < t2 < t1 ergibt sich ja, dass t2-10s auf alle Fälle vor t1-10s liegen muss: t2-10s < t1-10s. Daraus würde nun folgen, dass die Entscheidung eines Vetos x2 gegen eine Handlung x1 schon von B vorausgesagt werden kann, bevor die Handlung x1 selbst von A vorausgesagt werden kann. Diese Argumentation kann theoretisch für beliebige, immer weiter in der Vergangenheit liegende Handlungen x3 … xn ausgedehnt werden, die jeweils ein Veto gegen die vorausliegende Handlung darstellen. Aus alldem folgt nur dann kein Widerspruch, wenn man annimmt, dass es im Laufe der Welt eine erste datierbare Handlung xn gibt, die sich bereits zu einem festen Zeitpunkt xn-10s voraussagen ließe. Mit der Voraussage dieser Handlung stünde dann aber fest, welche Entscheidungen der Person in einer beliebigen Zukunft gemessen werden müssen. Es ließen sich auf diese Weise also nicht nur alle

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zukünftigen im Gehirn verorteten Entscheidungen des Probanden vorhersagen, sondern ebenso alle Messungen beliebiger dritter Personen, die sich zu beliebigen Zeitpunkten mit dem Probanden beschäftigen, denn Forscher B müsste voraussagen können, was Forscher A in Zukunft messen wird; nämlich ein Bereitschaftspotential hinsichtlich der Person des Probanden, ohne dass es zur Handlung kommt. Dies ist aber nur kohärent denkbar, wenn eine völlig determinierte Welt angenommen wird und nur, wenn dieser Determinismus nicht nur im Gehirn des Probanden, sondern auch zwischen allen welthaften Gegenständen (allen möglichen Forschern, die sich mit dem Probanden beschäftigen, den verwandten Messinstrumenten etc.) besteht. Dieses Gedankenexperiment zeigt also nicht einfach eine hirnphysiologische Abhängigkeit von Willensentscheidungen, sondern es zeigt, dass die Frage, ob der Mensch zu einem Veto, das selbst vollständig neuronal in der phänomenal-sensitiven Welt bedingt ist, fähig ist, für die Frage für oder gegen ein deterministisches Weltverständnis nichts austrägt. Es zeigt aber auch, dass die Annahme des Determinismus eine logisch denkbare Annahme ist, aber nur, wenn die völlige deterministische Geschlossenheit der ganzen Welt (aller welthaften Prozesse, sensitiver wie mentaler) vorausgesetzt wird. Unser Gedankenexperiment zeigt daher, dass der Determinismus gut denkbar ist, wenn er wirklich als geschlossen gedacht wird. Aber auch dieser Determinismus hätte zwei Seiten: Er würde nur zeigen, dass in der Welt alles so geschieht, wie es geschehen muss, er würde aber noch nicht zeigen, dass es keinen freien Willen gäbe. Denn Vorhersagbarkeit ist noch nicht Kausalität. Das wusste schon im 6. Jh. Boethius, der bei dem Problem von Gottes Allwissenheit davon ausging, dass Gott in ewiger Gleichzeitigkeit zwar immer schon eine providentia zu eigen ist, die aber nur ein zeitloses Sehen aller welthaften Ereignisse ist, nicht eine notwendige Festlegung dieser Ereignisse. Nach Boethius gibt es im zeitlichen Verlauf der Welt auch nicht notwendige Ereignisse, wie Willensentscheidungen, nur dass in der Perspektive der Ewigkeit diese immer schon feststehen.44 Boethius behandelt interessanterweise beide Perspektiven, die der Zeitlichkeit und die der Ewigkeit, gleichberechtigt. Würde er die Perspektive der Ewigkeit der der Zeitlichkeit überordnen, könnte er nicht, wie er es faktisch tut, den Determinismus ablehnen, sondern müsste die zeitliche Willensfreiheit des Menschen konsequenterweise als Illusion werten und alles mit Notwendigkeit geschehen lassen. Dabei zeigt sich eine erstaunliche Parallele zur Debatte um die Hirnforschung. Denn auch diese betrachtet das Willensproblem unter zwei Perspektiven: Der der phänomenal-mentalen Erfahrung von Willensfreiheit und der der behaupteten neuronalen Basis, die hier die Ewigkeitsperspektive von Boethius ersetzt. Im Unterschied zu Boethius werten hier aber die Protagonisten die letztere Perspektive als vorgängig, nicht als gleichberechtigt. Unser Gedankenexperiment zeigt also: Eine deterministische Welt kann 44 Vgl. Boethius, A.M.S., Trost, Buch 5, 228 – 275.

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sinnvoll angenommen werden, aber nur unter der Bedingung, dass sie auch tatsächlich als vollständig geschlossen deterministisch angenommen wird. Der Determinismus ist das weltanschauliche Bekenntnis einer Allaussage. Ob er als solcher auch sinnvoll ist und angenommen werden sollte, ist eine andere Frage, auf die wir weiter unten zurückkommen werden.

4.1.1.4 Kausalität als belief Völlig unabhängig von der Frage, ob die Welt als Ganze eine deterministisch geschlossene Welt ist, ist die Frage, ob sich phänomenal-mentale Sachverhalte auf phänomenal-sensitive Sachverhalte reduzieren oder zumindest abbilden lassen. Nehmen wir zunächst einmal an, dies sei möglich. Dann wäre auch mit dieser Annahme noch nichts darüber ausgesagt, wie diese sensitive Welt beschaffen ist. Sie könnte deterministisch sein oder auch nicht. Keine der beiden weltanschaulichen Annahmen ist für die Naturwissenschaften notwendig. Allerdings wäre es notwendig für naturwissenschaftliche Forschung, überhaupt Kausalzusammenhänge innerhalb der phänomenal-sensitiven Welt annehmen zu müssen (wenn auch nicht notwendigerweise deren Geschlossenheit). Aber auch diese Voraussetzung – die der Existenz von Kausalität – ist selbst keine empirisch überprüfbare Aussage, sondern besitzt prinzipiell weltanschaulichen Gehalt: Im Falle Kants, der – m. E. zu Unrecht – die Kausalität zu den in der Erkenntnis vorauszusetzenden Kategorien zählte,45 ist dies evident, denn die Kant’schen Kategorien zählen nicht zu dem, was empirischer Erkenntnis zugänglich ist, sondern von dieser vorausgesetzt werden muss. Noch deutlicher wird dies aber m. E. bei der viel sorgfältigeren Analyse des Kausalitätsbegriffs durch David Hume. Hume zählt bekanntlich räumliche und zeitliche Nähe zu den notwendigen Bedingungen von Kausalität: Nur was räumlich benachbart ist und zeitlich in unmittelbarer Folge steht, kann eine kausale Wirkung entfalten. Allein diese raumzeitliche Nachbarschaft setzt schon eine recht detaillierte Ontologie voraus, um überhaupt denkbar zu sein. Aber raumzeitliche Nähe ist für Hume nur eine notwendige Bedingung für Kausalität. Nicht jedes zeitliche Folgeverhältnis des räumlich Benachbarten wird auch eine kausale Verbindung genannt. Zusätzlich muss noch das Merkmal der Notwendigkeit hinzukommen. Nur was eine notwendige Folge ist, kann auch als ein Kausalitätsverhältnis verstanden werden. Was aber ist eine notwendige Folge? Hume kommt hier auf sein „katholisches“ Kausalitätsverständnis: Nur was überall, zu aller Zeit und für jedermann eine solche Notwendigkeit besitzt, dass der

45 Vgl. Kants Kategorientafel in Kant, I./Weischedel, W., KrV, 119 (B106), und seine Ausführungen ebd., 226 – 242 (B233 – 256).

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Lauf der Natur immer unversehrt ist,46 kommt in Frage. Und diese Bestimmung erinnert entfernt – daher meine Bezeichnung als „katholisch“ – eben an das berühmte Katholizitätskriterium Vinzenz von Lerins, nach dem nur das, was überall, zu allen Zeiten und von allen zu glauben ist, als katholisch gelten kann.47 Hume ist sich durchaus bewusst, damit das Feld des Glaubens im Sinne von belief betreten zu haben. Die Zuschreibung der Notwendigkeit im Falle von Kausalitätsverhältnissen beruht nach Hume auf beliefs. Zwar versucht Hume eine Unterscheidung zwischen plausiblen und natürlichen beliefs, wie im Falle der Kausalität, und abergläubischen und daher nicht natürlichen beliefs einzuführen (als deren Paradebeispiel er nun tatsächlich den römischkatholischen Glauben aufführt),48 aber letztlich gibt es für die unterstellte Natürlichkeit des Glaubens an die Notwendigkeit im Falle der Kausalität keinen festen Grund. Die Tatsache, dass Hume – übrigens eher am Rande – auf die pragmatische Gewohnheit dieser Zuschreibung verweist,49 wird m. E. falsch verstanden, wenn Hume hier als Vorläufer der Pragmatisten oder als Skeptiker verstanden wird. Vielmehr zeigt Hume hier, dass ein Kausalitätsbegriff nur sinnvoll angenommen werden kann unter der Bedingung, dass er zum Set der beliefs der ihn verwendenden Menschen gehört. Ein belief ist für Hume letztlich eine „lebhafte Vorstellung“50 und als solche für die Definition von Kausalität unverzichtbar : „Ursache ist ein Gegenstand, der einem anderen voraufgeht, ihm räumlich benachbart, und zugleich mit ihm so verbunden ist, daß die Vorstellung des einen Gegenstandes den Geist nötigt, die Vorstellung des anderen zu vollziehen, und der Eindruck des einen ihn nötigt, eine lebhaftere Vorstellung des anderen zu vollziehen.“51

Hume übersteigend müsste man auch sagen, dass der Glaube an die Notwendigkeit einer Folgebeziehung nicht nur eine einfache Annahme darstellt, sondern durchaus ein forschungsleitendes und auch den Alltag bestimmendes Vertrauen, so dass zur rechten Verwendung des Kausalitätsbegriffs auch Glaube im Sinne von Vertrauen oder faith gehört, der unser Handeln bestimmt. Das alles – die weltanschauliche Gebundenheit der Verwendung des Kausalitätsbegriffs – gehört zu deren purer Verwendung und muss auch dann angenommen werden, wenn man überhaupt davon ausginge, dass es in der 46 Vgl. Hume, D., Trakat. Buch I. Über den Verstand, 119. Zu einer Besprechung des Hume’schen Kausalitätsbegriffs vgl. Mìhling, M., Einstein und die Religion, 136 – 144. 47 Vgl. Lerin, V.v., Commonitorium II, 5 – 6. 48 Vgl. Hume, D., Trakat. Buch I. Über den Verstand, 126 – 210. 49 Vgl. Hume, D., Trakat. Buch I. Über den Verstand, 134 f. 50 Vgl. Hume, D., Trakat. Buch I. Über den Verstand, 125: „Demzufolge dürfen wir im Folgenden die teilweise Bestimmung des Wesens des Fürwahrhaltens oder Glaubens sehen: es ist eine Vorstellung, die mit einem gegenwärtigen Eindruck in Beziehung steht oder damit assoziiert ist.“ 51 Hume, D., Trakat. Buch I. Über den Verstand, 230.

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Welt Kausalitätsbeziehungen gäbe, dass aber nicht alle Beziehungen dieser Art dazu gehörten. Erweitert man die These derart, dass man davon ausgeht, dass es letztlich nur Kausalitätsbeziehungen gäbe, oder verbindet man diese Idee mit der des Determinismus zum Gedanken der kausaldeterministischen Geschlossenheit der Welt, handelt es sich auf alle Fälle um ein sehr anspruchsvolles und sehr voraussetzungsreiches Wirklichkeitsverständnis auf nichtempirischer Basis.

4.1.2 Willensfreiheit auf dem philosophischen Prüfstand Im Verlauf der Untersuchung dürfte deutlich geworden sein, dass eine Antwort auf die anstehende Frage, ob Willensfreiheit zum humanum des Menschen gehört oder nicht, von den empirischen Wissenschaften, insbesondere von den Neurowissenschaften, nicht zu erwarten ist. Wir wenden uns daher nun der philosophischen Betrachtung zu. Dabei unterscheiden wir zunächst zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit. Handlungsfreiheit bezeichnet die Fähigkeit des Menschen, das tun zu können, was er will. Unzweifelhaft besitzt der Mensch Handlungsfreiheit, wenn auch eine relative und endliche: Nicht alles, was der Mensch will, kann er auch tun: Er kann nur das aus seinem Willen tun, was mit den natürlichen und sozialen Gegebenheiten seines Beziehungsgefüges nicht in Widerspruch steht. Nicht ob der Mensch (eingeschränkt) das tun kann, was er will, ist hier die Frage, sondern die Frage nach der Willensfreiheit lautet mit Schopenhauer und Einstein52 gesprochen, ob er auch das wollen kann, was er will. Dabei darf der Mensch nicht abstrakt betrachtet werden, sondern muss in seinem Beziehungsgefüge verstanden werden, d. h. nicht isoliert als Individuum, sondern in Beziehung zur präpersonalen Umwelt, zur personalen Umwelt und in Beziehung zu dem, worüber hinaus Größeres nicht denkbar ist. Vernachlässigen wir dabei feinere Unterschiede, lassen sich hinsichtlich der Willensfreiheitsfrage im Groben drei Positionen finden: Eine reduktionistische, die Willensfreiheit angesichts einer unterstellten kausaldeterministischen Weltsicht leugnet, wie es jüngst in den Debatten um die Neurowissenschaften geschah; eine libertarianische, die das Bestehen einer solchen Willensfreiheit behauptet, und verschiedene Spielarten von kompatibilistischen Positionen.

52 Zu Schopenhauer und Einstein hinsichtlich der Frage der Willensfreiheit vgl. Mìhling, M., Einstein und die Religion, 84 – 104.

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4.1.2.1 Naturalistischer Reduktionismus/Impossibilismus Die reduktionistische Sichtweise behauptet, dass das Phänomen der Willensfreiheit auf außerwillentlich und kausal zu erklärende Sachverhalte reduziert werden könne. Die reduktionistische Sichtweise ist letztlich nicht haltbar, weil Sätze des Typs A „Ich will x“ offensichtlich nicht auf Sätze des Typs B „Das Gehirn, die Umstände und der welthafte Zusammenhang kausieren M, x im Handeln umzusetzen“ reduzierbar sind. Sie sind nicht auf solche Sätze reduzierbar, weil beide Sätze nicht äquivalent sind und nicht äquivalent sein können. Sie können dabei nicht äquivalent sein, weil Sätze des Typs A auf die Qualia rekurrieren, die die private Perspektive der ersten Person voraussetzen, Sätze des Typs B aber nicht. Auch „Ich empfinde diesen Gegenstand als gelb“ ist ein Satz des Typs A, der nicht auf den Satz des Typs B „M empfängt von diesem Gegenstand auf der Netzhaut die Wellenlänge eines bestimmten Spektralbereichs“ reduziert werden kann. Denn in beiden Fällen würde das open-question-Argument53 greifen: Jemand, der gefragt wird, ob er nicht exakt Satz B meint, wenn er Satz A äußerst, könnte dies immer verneinen. Diese Feststellung ist wichtig, weil damit deutlich ist, dass das Verhältnis zwischen der phänomenal-sensitiven Sphäre und der phänomenal-mentalen Sphäre jedenfalls nicht das einer Reduktion der letzteren auf die erstere sein kann: Wie eng auch immer man dieses Verhältnis bestimmen mag, es gibt keine Identität zwischen beiden Sphären und damit keine Möglichkeit, auf die Rede von der phänomenal-mentalen Sphäre zu verzichten.

4.1.2.2 Libertarianismus Der Libertarianismus geht davon aus, dass es Willensfreiheit gibt, d. h., dass der Mensch wollen kann, was er will. Angesichts des Auftretens von Kausalität in der Welt wird dann meist eine dualistische Auffassung vertreten. Berühmt geworden ist natürlich Kants Unterscheidung bzw. die neukantische Unterscheidung eines Reiches der Notwendigkeit von einem Reich der Freiheit. Kant vertritt dabei zwar eine libertarianische Position, allerdings als Implikat seiner Ethik: Wie der Gottesbegriff und der Begriff der Unsterblichkeit der Seele ist für Kant der Begriff der Willensfreiheit nichts anderes als ein – allerdings notwendiges – Postulat der praktischen Vernunft.54 Radikalere libertarianische Positionen, wie die des frühen Roderick Chisholm, gehen davon aus, dass Handlungen und die durch sie inaugurierten Ereignisse nur mithilfe eines Bestimmten Typs von agent causation hinreichend erklärbar seien: Es mag 53 Zum open-question-Argument, wie es v. a. bei G.E. Moore im Rahmen der Ethik Verwendung fand, vgl. Mìhling, M., Ethik, 84. 54 Zur Kant’schen Ethik vgl. Mìhling, M., Ethik, 108 – 115.

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biochemische und physikalische Mechanismen geben, d. h. event causation, die zum Ausführen von Handlungen hinzukommen müssen, ja die sogar hinzukommen müssen, um eine Handlung nur wollen zu können. Aber die Summe dieser Bedingungen wird als nur notwendig und nicht hinreichend behauptet. Vielmehr bedürfe es noch des Willens, um die hinreichende Bedingung zu erreichen. Was aber ist darunter zu verstehen? Chisholm versteht darunter eine nur im Handelnden selbst liegende Ursache, die im Moment des Handelns von keiner anderen Ursache der Ereigniskausalität beeinflusst ist, sondern umgekehrt diese und damit sowohl den Weltlauf als auch mögliche neuronale Zustände des Handelnden beeinflusst. Der Begriff der Verantwortlichkeit und das Prinzip der alternativen Möglichkeiten, d. h. das Prinzip, dass der Ereignisverlauf durch Handlungen geändert werden könne, nötige zu einer solchen Annahme, die letztlich auf folgende Konsequenz hinauslaufe: „If we are responsible, […] then we have a prerogative which some would attribute only to God: each of us, when we act, is a prime mover unmoved. In doing what we do, we cause certain events to happen, and nothing – or no one – causes us to cause those events to happen.“55

Chisholms frühe libertarianische Position sei damit ausreichend beschrieben. Er steht damit nicht einfach in aristotelischer Tradition, wie man aus dem Zitat annehmen mag, sondern letztlich in spätmittelalterlicher voluntaristischer Tradition: Hatte man dort den Begriff der Allmacht und des Willens Gottes entgrenzt zum Begriff der zumindest logisch zu denkenden potentia absoluta, so wird dieser Begriff hier bewusst auf den Menschen übertragen. Der Einwand hier wie dort ist letztlich derselbe: Ein solcher absoluter Wille ist letztlich ein leerer Wille. Ein Handelnder, sei es ein Mensch oder Gott, könnte nicht sinnvoll gefragt werden, warum er so und nicht anders gehandelt hätte. Ein Handelnder müsste eine jede solche Frage sogar als unangemessen zurückweisen, weil sie sich der Logik der Ereigniskausalität, nicht aber der der Handlungskausalität bedienen würde. In beiden Fällen, Gottes wie des Menschen, ist dies aber nicht zutreffend: Menschen geben Antworten auf ihre Motivation, so und nicht anders handeln zu wollen, sei es im Nachhinein bei spontanen Handlungen oder auch nur zur Planung der Handlung, wenn Gründe, Stimmungen und Gefühle herangezogen werden, und zwar nicht nur in der Perspektive der dritten Person, sondern auch aus der Perspektive des Handelnden. Wäre der radikale Libertarianismus Chisholms phänomengerecht, wären dies nicht einfach falsche oder inkorrekte Versuche und Antworten, sondern sinnlose. Mit diesem Einwand ist m. E. zumindest der starke56 Libertarianismus abzulehnen. 55 Chisholm, R.M., Human Freedom and the Self, 34. 56 Es gibt freilich auch libertarianische Konzeptionen, die diese Konsequenzen vermeiden und kompatibilistischen Anliegen sehr nahe kommen, vgl. z. B. Kane, R., Significance of Free Will, der eine Reihe von kompatibilistischen Argumenten akzeptiert, aber der Meinung ist, eine

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4.1.2.3 Kompatibilismus Neben reduktionistischen und libertarianischen Optionen können noch kompatibilistische Optionen angenommen werden. Dabei sind zwei Arten von kompatibilistischen Optionen zu unterscheiden: Solche, die mit der Annahme einer kausal geschlossenen Welt (Kausaldeterminismus) kompatibel sind, und solche, die sowohl mit der Annahme einer kausal geschlossenen Welt als auch mit der Annahme einer nicht kausal geschlossenen Welt (Indeterminismus) kompatibel sind. Beide Formen sind dabei zunächst phänomengemäß, weil sie anerkennen, dass der Wille des Menschen durchaus von außervoluntativen Sachverhalten motiviert ist – auf welcher Ebene diese außervoluntativen Sachverhalte auch immer liegen mögen. a) Determinismuskompatibler Kompatibilismus: Der klassische Kompatibilismus, etwa von David Hume, lehrte schon eine Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit. Er hatte allerdings den Schönheitsfehler, dass hier letztlich nicht die Willensfreiheit vertreten werden konnte, sondern nur das, was wir Handlungsfreiheit genannt hatten.57 Moderne Kompatibilisten versuchen demgegenüber, auch den Begriff der Willensfreiheit behaupten zu können. Wenn Handlungsfähigkeit die Fähigkeit ist, tun zu können, was man tun will, dann könnte Willensfreiheit zweifach verstanden werden: Einerseits so, wie sie klassisch verstanden wurde, als (A) Fähigkeit zu wollen, was man will, oder aber auch, wie G.E. Moore vorgeschlagen hatte,58 als (B) Fähigkeit wollen zu können, was man wollen will. Beide Formulierungen sind nicht identisch. Denn in B wird, präziser als in A, auch die Fähigkeit selbst im Definiens ausgedrückt durch das Erscheinen des „können“. „Können“ aber kann unterschiedliche Bedeutungen haben und auch auf die Bedingungen rekurrieren, unter denen dieses Wollen überhaupt möglich ist. Und zu diesen Bedingungen können durchaus solche gehören, die mit dem Determinismus vereinbar sind. Was aber sind dann diese Bedingungen für die Freiheit, etwas zu wollen? Nach Daniel Dannett gehören zu den Bedingungen für Willensfreiheit und Verantwortlichkeitszuschreibung wesentlich sowohl die Fähigkeit zur Rationalität als auch die Fähigkeit der Selbstkontrolle und Selbstreflexion.59 Beide aber sind mit der Annahme eines Determinismus vereinbar. Letztverantwortlichkeit setze einen libertarianisch verstandenen freien Willen voraus, der aber ohne Konzepte wie agent-causation auskomme. Stattdessen versucht Kane neuronale Mechanismen auf quantenmechanischer Basis anzunehmen, über die aber letztlich nur eine empirische Entscheidung fallen könne. Vgl. auch Keil, G., Willensfreiheit. 57 Vgl. für einen kurzen Überblick zum Freiheitsverständnis Humes Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 41 – 48. 58 Zum Freiheitsverständnis Moores vgl. Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 203 – 213. 59 Vgl. Dennett, D.C., Elbow Room, 168.

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b) Determinismus- und indeterminismuskompatibler Kompatibilismus: Die berühmteste Analyse der Willensfreiheit als der Fähigkeit, wollen zu können, was man wollen will, stammt bekanntlich von Harry G. Frankfurt. Sie kann hier nicht im Detail vorgestellt werden. Frankfurt beobachtet phänomengemäß, dass wir Wünsche erster Ordnung und Wünsche zweiter Ordnung haben. Ein Wunsch erster Ordnung hat eine bestimmte Handlung zum Gegenstand und ist eine Volition, wenn er handlungswirksam wird. Ein Wunsch zweiter Ordnung hat einen Wunsch erster Ordnung zum Gegenstand und ist als second order volition dann ebenfalls handlungswirksam, indem er zur Verwirklichung eines Wunsches erster Ordnung dient. In der Regel entdecken wir diese Struktur unseres Wollens dann, wenn Wünsche erster und zweiter Ordnung nicht zusammenstimmen, wie schon Paulus wusste (Röm 7,19: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“). Mein Wunsch zu rauchen, ist ein Wunsch erster Ordnung. Ich kann aber den Wunsch zweiter Ordnung haben, nicht rauchen zu wollen. Wenn nun dieser Wunsch zweiter Ordnung diesen Wunsch erster Ordnung verändern kann, dann besitzt der Mensch nach Frankfurt Willensfreiheit. Nehmen wir an, ich wäre von härteren Drogen abhängig, so dass sich mein Wunsch zweiter Ordnung nicht gegen die Wünsche erster Ordnung durchsetzen könnte. In diesem Falle besäße ich nach Frankfurt keine Willensfreiheit; und zwar auch dann nicht, wenn ich nach den Wünschen zweiter Ebene durchaus diese Drogen nehmen wollte. Die bloße Übereinstimmung der Wünsche erster und zweiter Ordnung bedeutet noch nicht Willensfreiheit, sondern Freiwilligkeit, die offensichtlich nicht Willensfreiheit einschließen muss.60 Auch Frankfurts Position ist mit deterministischen Positionen vereinbar, was besonders deutlich wird, wenn Frankfurt Personen auch Verantwortlichkeit zuschreibt, wenn sie nicht anders hätten handeln können.61 Im Grunde ist Frankfurts Analyse des Begriffs der Willensfreiheit wie auch des Begriffs der Freiwilligkeit nicht an den Determinismus gebunden, weil sie 60 Vgl. z. B. Frankfurt, H.G., Willensfreiheit. Auf die Diskussion, d. h. die Einwände und Gegeneinwände gegen Frankfurts Position, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. auch dazu z. B. Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 226 – 273. 61 Vgl. Frankfurt, H.G., Alternate Possibilities and Moral Responsibility. Frankfurt entwirft hier ein Gedankenexperiment, das nach Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 230, zu Recht in seinen Grundzügen schon auf John Locke zurückgeht. Frankfurt entwirft folgendes Szenario: Eine Person A will vielleicht eine Person B umbringen, weiß aber noch nicht, ob sie es tun will. Eine Person C will auf alle Fälle, dass Person B von A umgebracht wird. Dazu implantiert C ohne das Wissen von A in das Gehirn von A einen Apparat, der Person C das Abwägen der Wünsche von Person A beobachten lässt und ggf. eine Manipulation der Wünsche von A möglich macht. Beobachtet nun C, dass A zum Ergebnis kommt, dass er B umbringen wird, schreitet C nicht manipulativ ein. Beobachtet C allerdings, dass A B nicht umbringen will, manipuliert er die Wünsche von A, so dass A doch noch B umbringt. A hatte also keine Möglichkeit, B nicht umzubringen. Dennoch ist A wenigstens im Falle, dass C nicht einschreitet, verantwortlich. Daher sei die Anwendung des Verantwortungsbegriffs auch unter Fehlen alternativer Möglichkeiten sinnvoll.

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letztlich nicht fragt, wie Wünsche zweiter oder höherer Ordnung zustande kommen. Darin und in dem verwandten Gedanken, dass bei Frankfurt die Gefahr eines unendliches Regresses von Wünschen höherer Ordnung entsteht, sollte man m. E. eher eine Tugend denn eine Schwäche erblicken. Kompatibilistische Modelle unterschiedlicher Ausprägung erleben gegenwärtig von philosophischer Seite wohl eine stärkere Ausarbeitung als die anderen Modelle.62 Für unsere Zwecke des Überblicks mögen aber diese kurzen Ausführungen genügen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Phänomen der Willensfreiheit am ehesten mit kompatibilistischen Mitteln zu lösen ist, ist damit einigermaßen wahrscheinlich. Allerdings ist die Debatte weder abgeschlossen noch abschließbar ; auch die kompatibilistischen Freiheitsverständnisse unterliegen weltanschaulichen Voraussetzungen. Um nicht zu verhängnisvollen Vorentscheidungen zu kommen, empfiehlt es sich daher, vorläufig eher für diejenige Optionen zu votieren, die ein Freiheitsverständnis vorlegen, das sowohl mit einer deterministischen als auch einer indeterministischen Weltsicht vereinbar ist.

4.1.3 Der theologische Umgang mit dem Problem 4.1.3.1 Theologische Reaktionen auf die Infragestellung der Willensfreiheit von Seiten der Neurowissenschaften Im Verlauf der Untersuchung dieses Kapitels war zu sehen, dass weder die Mittel der Neurowissenschaften noch die der analytischen Philosophie das Problem zufriedenstellend lösen können. Dies überrascht aufgrund des jeweils vorausgesetzten weltanschaulichen Gehalts,63 der prinzipiell irreduzibel ist, auch nicht. Insofern wäre zu fragen, ob sich dezidiert theologisch nicht mehr sagen lässt. Insgesamt lassen sich zwei Haupttypen von theologischen Reaktionen auf die Infragestellung der Willensfreiheit durch die Neurowissenschaften unterscheiden. Dualistische Positionen halten gegenüber den naturalistischen Positionen der meisten Neurologen an einem Leib-Seele-Dualismus fest. Damit stehen diese Positionen von vornherein auf einem nicht gerade populären Standpunkt. Allerdings wird man, zumindest im protestantischen Bereich, kaum eine dualistische Position finden, die auch zugleich libertaria62 Vgl. z. B. Pauen, M., Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, der 96 definiert: „Frei […] handelt eine Person, die in einer bestimmten Situation eine Option x statt einer Option y wählt, genau dann, wenn sich die Entscheidung für x und gegen y auf die personalen Präferenzen der Person zurückführen läßt.“ Zu anderen, mitunter auch kritisch zu betrachtenden kompatibilistischen Entwürfen vgl. z. B. Bieri, P., Handwerk der Freiheit; Nida-Rìmelin, J., Über die menschliche Freiheit. 63 Mit unmissverständlicher Klarheit hat Drechsel, W., Aus tiefer Not, den praktisch-religiösen Gehalt der entsprechenden Ansprüche der Hirnforschung dargestellt.

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nisch im eigentlichen Sinne wäre. Die Willensfreiheit im Sinne eines säkularvoluntaristischen Konzepts wird in der Regel auch von dualistischen Positionen – oft zur Überraschung der Neurowissenschaftler – nicht vertreten.64 Monistische und emergentistische Positionen arbeiten entweder mit einer monistischen oder emergentistischen Anthropologie, die in der Regel den klassisch-hellenistischen Leib-Seele-Dualismus hinter sich lässt und entweder von einer monistischen, aber nicht naturalistisch-reduktionistischen Sicht ausgeht, oder aber die Wirklichkeit emergentistisch auf verschiedenen Stufen prozesshaft aufgebaut sieht, so dass personale Fähigkeiten einschließlich der Willensfrage als emergent auf Basis des Physischen entstehen, aber nicht mit dessen Deskriptionsmitteln erfasst werden können.65 Auch unter diesen Positionen wird man, zumindest im deutschsprachigen protestantischen Bereich, kaum Positionen finden, die eine radikale Willensfreiheit im Sinne des Libertarianismus lehren würden. Die entsprechenden Positionen wären in der Regel vielmehr als kompatibilistisch anzusprechen.66 Betrachtet man die Haltung der theologischen Antworten auf das Determinismusproblem in Bezug zur Willensfreiheit, so fallen die Antworten hier mitunter für den Theologen erstaunlich aus. Kann es diesen nicht überraschen, dass theologischerseits eine voluntaristische Willensfreiheit in der Regel nicht vertreten wird, weil diese mit den meisten theologischen Anthropologien schlicht unvereinbar ist, so überrascht doch der folgende Befund: Es werden nämlich hinsichtlich der Determinismusfrage mitunter radikale Positionen eingenommen, d. h., es gibt sowohl Positionen, die ein kausaldeterministisches Wirklichkeitsverständnis rundweg ablehnen,67 aber auch solche, die ein kausaldeterministisches Wirklichkeitsverständnis vehement vertreten.68 Das vehemente Verteidigen scheint darauf hinzudeuten, dass es sich bei der Determinismusfrage offensichtlich um eine theologisch entscheidbare und theologisch grundlegende Frage handelt. Die Vehemenz der divergierenden Auffassungen müsste dann auf radikal inkompatible Theologien schließen lassen. Eine historisch-analytische Besprechung des Sachverhalts muss unterdessen hier unterbleiben. Stattdessen ist es nun nötig, die Leitfrage konstruktiv systematisch zu beantworten:

64 Eine sorgfältige und achtenswerte Position dieser Art bietet z. B. Eibach, U., Gott im Gehirn? Zur Besprechung vgl. auch Mìhling, M., Rez. Eibach. 65 Vgl. z. B. Clayton, P., Neurowissenschaft, und Clayton, P., Emergenz und Bewusstsein. 66 Vgl. z. B. Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand; Klein, A., Verabschieden wir uns von der Willensfreiheit (Farewell to free will?), Achtner, W., Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften; Evers, D., Neurobiologie und die Frage nach der Willensfreiheit; Evers, D., Der menschliche Mensch; Evers, D., Hirnforschung und Theologie. 67 Vgl. z. B. Eibach, U., Gott im Gehirn? oder Achtner, W., Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften. 68 Vgl. Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand.

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4.1.3.2 Der Mensch als Person und imago Dei Der Mensch ist vor allen Dingen imago Dei, die streng als imago trinitatis, imago personalitatis und damit auch als imago narrationis und als imago caritatis zu verstehen ist. Auch der Mensch ist in seiner narrativen Identität zumindest im status gloriae der eschatischen Vollendung eine incommunicabilis existentia, d. h. ein nichtmitteilbares Voneinander-und-FüreinandnerSeiendes. Für das Hier-und-Jetzt der sich narrativ-geschichtlich ereignenden Schöpfung gilt: Die (5) geschaffene Person ist (4) – ein partikulares (6) – durch das eschatische Gericht konstituiertes, (7) – im gegenwärtigen Vertrauen oder Misstrauen auf die promissio (3) – selbster(ver)schlossenes, (2) – prozedierendes (1) – Voneinander-und-Füreinandersein – in Verantwortung. Erläuterung: (1) Als Voneinander-und-Füreinanderseiende (existentiae69) sind Personen in der Einzahl nicht denkbar. Personsein ist immer Sein in Beziehung zu anderen Personen. Sowohl in der konkreten Ausgestaltung ihrer Identität als auch in ihrem Sein ist damit Relationalität kein akzidentieller Bestandteil, sondern gehört organisch zum Menschsein des Menschen. Individualistische Menschenverständnisse, die Sozialität nur sekundär, etwa durch Vertragstheorien konstituiert sehen,70 sind daher zu kritisieren. (2) Geschaffene Personen sind prozedierend ereignishafte Entitäten. Sie sind nicht statisch, sondern besitzen eine narrativ beschreibbare Geschichte. Insofern sich die welthafte Geschichte der Personen in der raumzeitlichen Welt ereignet, ist immer auch die nichtpersonale (oder präpersonale) Welt notwendig: Eine geschaffene Person steht immer in Bezogenheit zum Präpersonalen. (3) Geschaffene Personen stehen in einer Bezogenheit zu sich selbst dergestalt, dass sie sich erschlossen sind. Denn Personen erfahren und führen nicht nur eine handelnde Geschichte mit der präpersonalen und personalen Umwelt, sondern sie erfahren dabei immer auch, dass sie eine entsprechende Geschichte führen: Eine geschaffene Person steht immer in einer Selbstbezogenheit. 69 Vgl. Richards Personbegriff der incommunicabilis existentia in Richard von St.Victor, De Trinitate, 4,18; 268. 70 Zu einer Besprechung des Individualismus im Rahmen von Vertragstheorien vgl. Mìhling, M., Ethik, 208 – 213.

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(4) Personen sind Besonderheiten oder Partikularitäten. In der Geschichte des Personbegriffs stand die Frage, wie diese Besonderheit zustande kommt, oft im Mittelpunkt der Betrachtung. Für unsere Zwecke sei hier nur darauf hingewiesen, dass diese Besonderheit nicht fundamentalistisch als Voraussetzung des Voneinander-und-Füreinanderseins bestehen kann, sondern in diesem selbst konstituiert ist.71 (5) Für geschaffene Personen ist das dreifache Relationsgefüge zu sich selbst, zur präpersonalen und personalen Umwelt in wechselseitiger, aber durchaus asymmetrischer Bezogenheit und Sich-in-Beziehung-Setzen zwar konstitutiv. Allerdings ist dieses dreifache Relationsgefüge nach christlicher Überzeugung eben immer schon gegeben. Und das bedeutet, dass dieses dreifache Relationsgefüge als solches vollständig abhängig ist: Es benötigt zu seinem Dasein eine hinreichende Bedingung und zum Erhalt seines Lebens eine begleitende notwendige Bedingung,72 die nicht selbst in diesem dreifachen Relationsgefüge aufgeht. Gehört diese basale Abhängigkeit zur Selbsterschlossenheit einer Person – und das bedeutet, dass sie die gesamte Lebensführung bestimmt –, wäre eine geschaffene Person theoretisch bereits vollendet. Unter faktischen Bedingungen verkennen Personen gerade dies aber immer wieder, so dass ihre Selbsterschlossenheit de facto immer schon eine sündhafte Selbstverschlossenheit ist: Personen sind innerhalb ihres Beziehungsgefüges ver-rückt. Eine entsprechende Zurechtrückung kann dabei nur durch eine sich selbst erschließende Anwesenheit dieses nicht allein weltlichen Grundes des geschaffenen Personseins erfolgen. Christlicherseits kann dies nicht anders als mithilfe von Christologie und Soteriologie begriffen werden. Unter faktischen Bedingungen ermöglicht diese Zurechtbringung den Personen eine Bildungsgeschichte, in der Selbsterschlossenheit und Selbstverschlossenheit immer in einer Gemengelage vorkommen. Die geschaffene Person ist immer simul iustus et peccator. Es bedarf daher der eschatischen Vollendung des Personseins im Heiligen Geist, durch das die Kontinuität der Geschichte der Identität einer Person gewahrt ist, aber auch die innergeschichtlich bestehende Zweideutigkeit ein für alle Mal überwunden ist. Zum Begriff der geschaffenen Person gehört also aus christlicher Perspektive Schöpfung, Versöhnung und Vollendung immer dazu. Man kann daher sagen: Als vollendete wird die geschaffene Person (6) letztlich im Gericht konstituiert und sie erhält ihre Lebensführung und Handeln ermöglichende korrekte Selbsterschlossenheit nicht anders als durch (7) Vertrauen auf die Zusage oder promissio des Evangeliums dieser eschatischen Vollendung.73 71 Zu einer ausführlicheren Besprechung vgl. Mìhling, M., Abschied von der Perichorese? 72 Vgl. zur Explikation der Lehre von der creatio ex nihilo und der creatio continu(at)a Wçlfel, E., Welt als Schöpfung, 26 – 35. 73 Mit Luther gesprochen: WA 56,371,3 – 6: Quia philosophi oculum ita in presentiam rerum immergunt, vt solum quidditates et qualitates earum speculentur, Apostolus autem oculos nostros reuocat ab intuitu rerum praesentium, ab essentia et accidentibus earum, et dirigit in eas, secundum quod futurae sunt („Die Philosophen versenken das Auge so in die Gegenwart der

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Dieses in das christliche Wirklichkeitsverständnis eingebettete Konzept des Menschen enthält einige wichtige Implikationen für die Frage nach der Freiheit des Menschen: relative, d. h. endliche, Handlungsfreiheit im Rahmen des den Menschen konstituierenden Beziehungsgefüges kommt dem Menschen selbstverständlich zu. Ebenso kommen dem Menschen hinsichtlich seiner Selbstbeziehung, neben affektiven und rationalen Fähigkeiten, voluntative Fähigkeiten zu; d. h., es ist vom menschlichen Willen zu sprechen. Kann man dann auch von einem „freien Willen“ bzw. einer „Willensfreiheit“ des Menschen sprechen? Diese Fragestellung ist zunächst noch einmal zu differenzieren in drei Fragestellungen: Erstens: Das Problem der externen Willensfreiheit: Kommt dem Menschen eine Freiheit des Willens im Rahmen seines Beziehungsgefüges zu Anderem, d. h. zu Gott, der präpersonalen und der personalen Umwelt zu? Zweitens: Das Problem der internen Willensfreiheit: Kommt dem Menschen eine Freiheit des Willens im Rahmen seiner Selbstbeziehung zu? Beide Fragen hängen selbstverständlich zusammen. Das erste Problem fragt, ob der Wille des Menschen bestimmt ist, und wenn ja, wie weit er von Relaten bestimmt ist, die außerhalb des Menschen liegen. Das zweite Problem fragt, ob und inwieweit des Menschen Wille bestimmt ist vom inneren Beziehungsgefüge des Menschen. Denn auch die Selbstbeziehung muss differenziert gedacht werden. Die Unterscheidung von Relat und Relation ist nämlich eine relative, so dass das, was auf der einen Ebene als Relat erscheint – der Mensch als Person –, auf einer anderen Ebene eben wieder selbst als Relationsgefüge gedacht werden muss.74 Von diesen beiden Fragestellungen ist eine dritte Fragestellung zu unterscheiden: Drittens: Das Problem des Willensfreiheitserlebens: Was bedeutet es, dass der Mensch seinen Willen phänomenal-mental als frei erlebt? Denn dass der Mensch nicht nur sein Handeln, sondern auch seinen Willen als frei oder unfrei erleben kann, scheint mir zumindest phänomenal dadurch gesichert zu sein, dass wir diese Sprache menschlicher Willensfreiheit benutzen. Diese Sprache deutet aber zunächst nicht auf das Problem der externen und internen Willensfreiheit hin, sondern auf das Erleben von Willensfreiheit, das per se ein internes Problem ist, d. h., es betrifft immer primär die Selbstbeziehung des Menschen. Diese Frage ist mitnichten eine nachgeordnete Frage, denn sie betrifft ja das Erleben des Phänomenal-mentalen selbst. Da es aber überhaupt Dinge, dass sie allein deren Washeit und Qualität erblicken, der Apostel aber ruft unsere Augen ab vom Blick auf die gegenwärtigen Dinge, von der Essenz und ihren Akzidentien, und lenkt sie auf das, was sie nach dem Zünkünftigen wirklich sind“); WA 39/I,177,3 – 5 [Thesen 35 f.]: Quare homo huius vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam. Sicut et tota creatura, nunc subiecta vanitati, materia Deo est ad gloriosam futuram suam formam („Daher ist der Mensch dieses Lebens reine Materie, d. h. Möglichkeit Gottes zu dem Leben in seiner zukünftigen, Verwirklichung. Gleichwie auch die ganze Schöpfung, die nun der Leere unterworfen ist, mögliche Materie für Gott ist zu seiner zukünftigen ruhmvollen Verwirklichung“). 74 Vgl. Welker, M., Relation: Human and Divine.

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kein Erleben des Phänomenal-sensitiven ohne begleitendes Erleben des Phänomenal-mentalen gibt, ja da sich jedes phänomenal-sensitive Erleben immer nur in und mit phänomenal-mentalem Erleben erschließt, ist diese Frage von grundlegender Bedeutung. 4.1.3.3 Die Frage nach der externen und internen Willensfreiheit in Heilsdingen Hinsichtlich der Frage nach der externen und internen Willensfreiheit des Menschen ist die einfachste Antwort hinsichtlich der Gottesbeziehung zu geben: Hinsichtlich der Gottesbeziehung und hinsichtlich der Frage, ob der Mensch zu einer freien voluntativen Entscheidung hinsichtlich seiner wahren eschatischen Identität fähig ist bzw. ob der Mensch selbst für sein Heil verantwortlich ist, ist die Frage eindeutig zu verneinen. Schon unter den als ideal gedachten Bedingungen des status integritatis ist der Wille des Menschen gebunden und abhängig von der Regel der Liebe, nach der er geschaffen ist. Zwar kann hier eine negative relative Freiheit so gedacht werden, dass diese Regel, wie jede personale Regel, übertreten werden kann; aber sie wird dadurch eben nicht außer Kraft gesetzt. Der faktische Zustand der Willensfreiheit des Menschen, d. h. post lapsum, ist daher der, dass der Wille des Menschen immer abhängig ist von Sachverhalten, die sich dem Menschen als gut erschlossen haben, die es aber im eschatischen Licht nicht sind. Der Mensch hat zwar einen Willen, aber dieser ist nicht frei: Weder im faktischen Zustand unter der Sünde, noch im status integritatis, noch nach der Rechtfertigung, noch in der Vollendung: Der Wille ist immer an das Gute der Regel der Liebe gebunden oder er verhält sich nach dem, was dem Menschen intern als gut scheint, es aber tatsächlich nicht ist, so dass die Ver-rücktheit des Menschen zustande kommt. Die passive Befreiung von diesen falschen Bindungen des Willens unter sündhaften Bedingungen durch das Handeln von Sohn und Geist kann dann zwar tatsächlich als Befreiung dargestellt werden; allerdings ist diese Befreiung strikt als Herrschaftswechsel zu verstehen. In beiden Fällen, im Falle der korrekten wie im Falle der ver-rückten Willensbindung, tritt dabei eine Verschränkung von interner und externer Willensbindung auf: Letztlich ist des Menschen Willen in Heilsdingen extern abhängig, weil diese externen Relate über interne, nichtvoluntative Relate des Menschen den Willen steuern. D.h. konkret: des Menschen Wille ist immer an das gebunden, was ihm affektiv oder rational als gut erscheint. Das Erscheinen von Güte im affektiven und rationalen Bereich – wenn diese überhaupt so scharf zu trennen sind – geschieht dabei letztlich immer passiv. Im Falle der affektiven Ausstattung mag uns das unmittelbar einleuchten und zwar auch dann, wenn der Mensch intern die Fähigkeit hat, affektive Bestimmungen seiner selbst voluntativ zu unterbrechen. Allerdings besitzt der Mensch diese Fähigkeit der voluntativen Willensunterbrechung dann stets nur mit einem Willen, der ar-

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gumentativ und rational verfährt. Rationalität ist, zumindest dem Anspruch nach, immer eine passive Bestimmung des Willens und zwar auch dann, wenn die rationale Überlegung, die zur Unterbrechung der direkten Affektbestimmtheit des Willens führt, selbst bewusst und unter Abwägung von Alternativen durchgeführt wird: Der Wille wird in diesem Falle an das rational als gut Erkannte gebunden. Zu beachten ist dabei, dass die Rationalität des Menschen nun ihrerseits keinen Objektivitätsstandard garantiert, sondern selbst fehlbar ist, an der Ver-rücktheit des Falles partizipiert und damit selbst gebunden und abhängig wird; und zwar extern, wie wir in Kap. 1.1 sahen: Auch die Vernunft ist von affektiven Gehalten abhängig und steht immer nur unter der Alternative, entweder korrekt vertrauende oder inkorrekt vertrauende Vernunft zu sein. In Heilsdingen ist des Menschen Wille daher stets abhängig. Luther drückte das bekanntlich 1525 so aus: „Am sichersten und frömmsten wäre, dieses Wort [der Rede vom freien Willen] ganz aufzugeben. Wollen wir das nicht tun, sollten wir es doch nach bestem Wissen so zu verwenden lehren, dass dem Menschen ein freier Willen (arbitrium liberum) nicht im Blick auf das ihm Übergeordnete (non respectu superioris), sondern nur im Blick auf das ihm Untergeordnete (sed tantum inferioris) zugestanden werde, d. h. dass er wisse, er habe im Blick auf sein Vermögen und seinen Besitz ein Recht, diese Dinge nach seinem freien Willen zu gebrauchen, zu tun, zu lassen.“75

Am plastischsten wird diese Gebundenheit des Willens in Heilsdingen bei Luther mit seiner Metapher des Willens als Last- oder Reittier, die der mittelalterlichen Ikonographie und der Bildwelt der Psalmen entstammt,76 ausgedrückt. Sie verdeutlicht, dass die Willensbindung nichts mit einem Zwang des Willens zu tun hätte. Zwang kann daher auch nicht als Einschränkung des Willens verstanden werden, sondern Zwang wäre als Einschränkung der Handlungsfähigkeit des Menschen zu verstehen: „Es wäre kein Wille, wäre er gezwungen, denn Zwang ist eher Nichtwille. Falls aber ein Stärkerer ihn überwindet und besiegt und uns als seine Beute raubt, sind wir durch seinen Geist Gebundene und Gefangene (die dennoch königliche Freiheit ist), so dass wir wollen und gerne machen, was er selbst will. So ist der menschliche Wille in die Mitte gesetzt, wie ein Lasttier; sitzt Gott darauf, will und geht es, wohin Gott will wie ein Psalm (Ps 73) sagt: ,Gemacht bin ich wie ein Lasttier und ich bin immer mit Dir‘. Sitzt aber Satan darauf, will und geht es, wohin Satan will, und es liegt nicht in seinem 75 Luther, M., WA 18, 638; vgl. Luther, M., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, 296: Quod si omnino vocem eam omittere nolumus, quod esset tutissimum et religiosissimum, bona fide tamen eatenus uti doceamus, ut homini arbitrium liberum non respectu superioris, sed tantum inferioris se rei cancedatur, hoc est, ut sciat sese in suis facultatibus et possessionibus habere ius utendi, faciendi, omittendi pro libero arbitrio. Vgl. auch Luther, M., LateinischDeutsche Studienausgabe, Bd. 1, 370. 643 f. 76 Vgl. z. B. Lucas Crancachs Darstellung der 10 Gebote von 1510 im Lutherhaus zu Wittenberg.

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Willen, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst streiten, es zu erwerben und zu besitzen.“77

4.1.3.4 Die Frage nach der externen und internen Willensfreiheit an sich Kann man Luthers Unterscheidung der inferiora von den superiora so verstehen, als sei Luther Libertarianer, so dass Luthers These vom gebundenen Willen nur in soteriologischer Hinsicht, nicht aber in fundamentalanthropologischer Hinsicht gälte, mit der Folge, dass an sich dem Menschen in Beziehung zu geschöpflich personalen und präpersonalen Relaten doch eine Willensfreiheit zukäme? Diese Auffassung ist sowohl historisch hinsichtlich Luthers eigener Auffassung als auch systematisch-theologisch nicht haltbar. Erstens: Luther ist nämlich nicht der Meinung, der Mensch besitze tatsächlich hinsichtlich der inferiora eine Willensfreiheit. Er ist vielmehr der Meinung, wie auch die o. a. Zitate zeigen, dass hier von einer Verfügungsgewalt und d. h. von einer Handlungsfreiheit ausgegangen wird. Luthers o. a. erstes Zitat ist nämlich konditional formuliert: Am besten wäre es, die Rede vom freien Willen aufzugeben. Nur wenn man das nicht tun will, kann man in uneigentlicher Rede hinsichtlich der inferiora diese Redeweise einführen. Luther kommt zu dieser Erkenntnis nicht erst 1525. Sie ist bereits 1518 ausgebildet. Luther bestreitet nämlich, dass es sich bei dem Ausdruck „freier Wille“ überhaupt um einen intelligiblen Sachverhalt handelt: „Der freie Wille ist, nach dem Fall, eine res de solo titulo“.78 Eine res de solo titulo, d. h. eine Sache nur dem Namen nach, ist ein bloßer Terminus, der keinen Begriff darstellt, weil er in sich widersprüchlich ist. Res de solo titulo wären in diesem Sinne auch ein quadratischer Kreis oder ein winkelloses Dreieck. Luther macht zwar 1518 noch die Einschränkung, diese Bestimmung gelte nach dem Fall. Aber wenn etwas auch nach dem Fall gilt, ist nicht ausgeschlossen, dass es auch vor dem Fall und damit fundamentalanthropologisch gilt. Und dies wird von Luther dann auch explizit gesagt.79 Vor dem als idealtypisch gedachten Fall wird auch von Luther keine absolute Willensfreiheit behauptet, sondern nur eine negative Freiheit des Abwendens vom Guten. Wird von dieser allerdings 77 Luther, M., WA 18, 635; Luther, M., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, 290: voluntas non esset, Nam coactio, potius est (ut sic dicam) Noluntas. Si autem fortior superveniat, et illo victo, nos rapiat in spolium suum, rursus per spiritum eius servi et captivi sumus (quae tamen regia libertas est) ut velimus et faciamus lubentes quae ipse velit. Sic humana voluntas in medio posita est, ceu iumentum, si insederit Deus, vult et vadit, quo vult Deus, ut Psalmus dicit, Factus sum sicut iumentum et ego semper tecum. Si insederit Satan, vult et vadit, quo vult Satan, nec est in eius arbitrio, ad utrum sessorem currere aut eum quaerere, sed ipso sessores certant ob ipsum obtinendum et possidendum. 78 Luther, M., WA 1, 359; Luther, M., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, 46: Liberum arbitrium post peccatum, res est de solo titulo […]. 79 Luther, M., WA 1, 360; Luther, M., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1; 48: Nec in statu innocentiae potuit stare activa, sed subiectiva potentia, nedum in bonum proficere.

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Gebrauch gemacht, ist eine erneute Hinwendung zum Guten, das ja dann unbekannt ist, ausgeschlossen. 1520 kann Luther die Rede vom Ausdruck des „freien Willens“ als res de solo titulo noch einmal deutlicher explizieren: „Unpräzise habe ich mich nämlich ausgedrückt, dass der freie Wille vor der Gnade eine res de solo titulo sei, sondern ich hätte deutlicher sagen müssen: Der freie Wille ist ein figmentum hinsichtlich des Sachverhalts oder ein Terminus ohne Sachgehalt. Denn keiner hat es in der Hand, sich etwas Gutes oder Böses zu denken, sondern alles ereignet sich […] mit absoluter Notwendigkeit.“80

Ein figmentum ist ein Hirngespinst oder ein Wahn, d. h. etwas, was eine der Wirklichkeit nicht entsprechende Täuschung ist. Luther geht also davon aus, dass der größte Wahn, der dem Menschen in den Sinn kommen kann, die Rede von der Willensfreiheit ist. Wie schon 1518 wird hier noch einmal präzisiert, dass es sich dabei nicht nur um einen nur faktisch nicht zur Welt passenden Sachverhalt handelt, sondern dass es sich um einen leeren Begriff, also überhaupt um keinen Begriff handelt. Im Unterschied zu 1518 wird hier aber noch eine Erklärung angegeben, warum Luther das so sieht: Der Ereignisverlauf der Welt als Ganzer geschehe mit absoluter Notwendigkeit. Zweitens: Unabhängig von Luthers Meinung ist die Lösung einer Aufspaltung der Wirklichkeit in soteriologisch wirksame Sachverhalte, d. h. in superiora, und in soteriologisch nicht wirksame, aber fundamentalanthropologische Sachverhalte, d. h. in inferiora, nicht sachgemäß. Wollte man in soteriologischen Fragen die Willensfreiheit des Menschen leugnen, sie aber in vermeintlich weltlichen Sachverhalten beibehalten, würde man konsequenterweise ein streng doketistisches Wirklichkeitsverständnis vertreten müssen, nach dem soteriologische Fragen nicht in, mit und unter Alltagsfragen verhandelt werden würden. Dann aber hätte der ganze christliche Glaube keine Orientierungskraft für unser Handeln in unserem Dasein und wäre letztlich nichts als ein bedeutungsloses folkloristisches Beiwerk. Ethik hätte mit dem Glauben als Vertrauen nichts zu tun. Oder aber man müsste genau anders herum annehmen, die Wirklichkeit wäre streng dualistisch in zwei Bereiche gespalten: Unser Erleben im Hier-und-Jetzt hätte dann nichts mit unserer Identität zu tun, so dass unsere Identität lediglich vollständig von der eschatischen Konstitution der Person abhängig wäre, nicht aber von unserem Tun und Erleiden in der Welt. Die Welt wäre dann überflüssig und man müsste in gnostischer Tradition eine erkenntnistheoretische Annihilationstheorie der Welt vertreten.81 In der Erklärung der Definition der geschaffenen Person im Hier-und-Jetzt hatten wir aber gesehen, dass die eschatische Konstitution der 80 Luther, M., WA 7, 146; Luther, M., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, 202: Male enim dixi, quod liberum arbitrium ante gratiam sit res de solo titulo, sed simpliciter debui dicere, „liberum arbitrium est figmentum in rebus, seu titulus sine re“. Quia nulli est in manu sua, quippiam cogitare mali aut boni, sed omnia (ut Viglephi articulus Constantiae damnatus recte docet) de necessitate absoluta eveniunt. 81 Vgl. dazu Kap. 7.3.

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Person und ihr Leben im Hier-und-Jetzt untrennbar im Vertrauen des Ergreifens oder Vergreifens der eschatischen Verheißung der Identität der Person verschränkt sind. Daraus folgt, dass das, was soteriologisch angemessen ist, nichts anderes sein kann, als das, was überhaupt den Menschen als Menschen ausmacht: Wenn soteriologisch die Rede vom freien Willen des Menschen ein figmentum, eine Täuschung ist, dann gilt dies für die Konstitution des Menschen als Mensch und als Person an sich: Die Rede vom freien Willen ist ein figmentum. Allerdings bedeutet die Bestreitung der Intelligibilität der Rede vom „freien Willen“ zunächst nur eine negative Aussage: Mit ihr verbindet sich soweit noch kein positiver Sachgehalt. Gefragt werden muss nun, ob sich damit nicht auch ein positiver Sachgehalt verbindet. Und dieser positive Sachgehalt besteht darin, dass eben das, was wir als Wille oder auch als „Willensfreiheit“ erfahren, überhaupt nur sinnvoll möglich ist, wenn der Wille selbst ein gebundener Wille ist. Luthers Rede vom gebundenen Willen und seine Bestreitung der Rede vom freien Willen ist also zugleich eine Begründung des Phänomens des Willens überhaupt und, wenn man so will, damit auch eine Begründung der Erfahrung von „Willensfreiheit“.

4.1.3.5 Ist die Rede von der Willensfreiheit als figmentum bei Luther notwendigerweise mit einem Determinismus verbunden? Luthers Begründung für die Auffassung des freien Willens als figmentum rekurriert darauf, dass der Ereigniszusammenhang der Welt als Ganzer mit absoluter Notwendigkeit geschehe. Was ist damit gemeint? Beinhaltet diese These Luthers ein deterministisches Weltbild? Und falls ja: Wäre dies sachgemäß? Obwohl man sachgemäß mit Luther eine Entscheidung zwischen Gottes Alleinwirksamkeit und Gottes Allwirksamkeit einführen kann, so dass im Rahmen der cooperatio zwischen Gott und Welt zwar von einer Allwirksamkeit Gottes gesprochen werden kann, derzufolge Gott zwar in jedem weltlichen Ereignis eine notwendige Bedingung für das Geschehen darstellt, aber keine hinreichende, so dass Gott nicht als alleiniger Täter allen Geschehens verstanden werden kann,82 überholt Luther diese Unterscheidung in De servo arbitrio noch und relativiert sie im Rahmen seiner Erklärung der Distinktion zwischen Deus absconditus und Deus revelatus: „Der treue Gott […] beweint den Tod, den er im Volk vorfindet, und versucht, ihn abzuwenden. Denn das macht der gepredigte Gott, dass er Sünde und Tod wegnehme und wir heil seien. […] Ansonsten beweint der in seiner Majestät verborgene Gott

82 Vgl. Mìhling, M., Eschatologie, 127 f.

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weder den Tod noch hebt er ihn auf, sondern er wirkt Tod und Leben und alles in allem.“83

In der evangelischen Theologie gibt es unterschiedliche Interpretationen, wie diese Aussagen zu verstehen sind. Man kann darauf hinweisen, dass der Deus absconditus ja kein dem Deus revelatus entgegengesetzter Gott sein kann, sondern dass aufgrund der Tatsache, dass Gott treue Liebe ist, damit nur eine erkenntnistheoretische Verborgenheit Gottes für uns sowohl im Lichte der Vernunft als auch im Lichte der Gnade gemeint ist. Während des Weltlaufes ginge uns die Frage nach dieser Abskondität Gottes in der Tat nichts an, so dass das, „was über uns ist, nichts für uns wäre“.84 Man kann allerdings hoffen, dass sich unter dem Gesichtspunkt oder dem Licht der eschatischen Vollendung auch für die Ratio hier eine Einsicht in die Kohärenz der Aussage ergäbe.85 Dieser Auffassung steht aber eine radikal andere Deutung gegenüber, die die Rede vom Deus absconditus nicht der Rede vom Deus revelatus unterordnet, sondern sie als streng gleichberechtigt betrachtet oder gar die Rede vom Deus absconditus der Rede vom Deus revelatus überordnet. Im ersten dieser Fälle gerät man unweigerlich in Gefahr, ein dualistisches Gottesverständnis vertreten zu müssen und dabei den Boden des Christlichen endgültig zu verlassen.86 Im zweiten dieser Fälle endet man bei einem voluntaristischen Gottesbild, in welchem nicht die Liebe und Treue, sondern Gottes absolute voluntas Gottes Wesen bezeichnen würden. Obwohl es bei Luther durchaus Stellen gibt, die diese letzte Deutung (scheinbar) nahelegen,87 ist sie m. E. aus theologi83 Luther, M., WA 18, 685; Luther, M., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, 404: Deus pius […] deplorat mortem quam invenit in populo et amovere studet. Hoc enim agit Deus praedicatus, ut ablato peccato et morte, salvi simus. […] Caeterum Deus absconditus in maiestate neque deplorat neque tollit mortem, sed operatur vitam, mortem, et omnia in omnibus. 84 Luther zitiert dieses auf Minucius Felix zurückgehende Sprichwort in der Tat in WA 18, 605 (Luther, M., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, 232), allerdings als Haltung des Erasmus, die abzulehnen ist und somit keine gangbare Lösungsmöglichkeit darstellt. 85 Zum Typus dieser Deutung gehört m. E. etwa Jìngel, E., Quae supra nos, nihil ad nos. Zu diesem Deutungstypus gehörend rechene ich auch Herms, E., Gewißheit in Martin Luthers „De servo arbitrio“. 86 Diese Gefahr besteht m. E. in der Auslegungstradition, wie sie etwa von Werner Elert vertreten wird. Vgl. dazu Volkmann, S., Luthers Lehre vom verborgenen Gott. 87 Vgl. Luther, M., WA 18, 685; Luther, M., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, 406: Neque enim tum verbo suo definivit sese, sed liberum sese reservavit super omnia. Vgl. auch WA 18, 712; 472: Non enim quia sic debet vel debuit velle, ideo rectum est, quod vult; Sed contra, Quia ipse sic vult, ideo debet rectum esse quod fit. („Denn nicht daher, weil er wollen muss oder musste, ist richtig, was er will. Sondern im Gegenteil: Weil er so will, daher muss richtig sein, was geschieht“). Diese Aussagen klingen nun in der Tat so, als verträte Luther eine klassisch spätmittelalterliche voluntaristische Gotteslehre, in der Gottes Allmacht tatsächlich ungebremst ist und nur im Sinne einer potentia absoluta, nicht aber auch einer potentia ordinata besteht. Allerdings wird man das nur behaupten können, wenn diese Stellen aus ihrem Kontext gerissen werden. Denn hinsichtlich der letztgenannten Stelle schreibt Luther eben auch: Deus est, cuius voluntatis nulla est caussa nec ratio, quae illi ceu regula et mensura praescribatur, cum nihil sit illi aequale aut superius, sed ipsa est regula omnium. Si enim esset illi aliqua regula vel mensura, aut caussa aut ratio, iam nec Die voluntas esse posset. („Gott ist der, dessen Wille keine Ursache

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schen Gründen auszuschließen. Wilfried Härle hat nun zu Recht darauf hingewiesen,88 dass es bei Luther selbst einen entscheidenden Sachverhalt gibt, der in der Tat die Auffassung verweigert, bei Luther liefe alles auf einen theologischen Determinismus des Weltverlaufs hinaus: In einem strengen theologischen Determinismus müsste Gott im Modus der Letzturheberschaft auch verantwortlich für das Böse und die Sünde sein. Das schließt Luther aber aus: „Da ja doch Gott alles in allem bewegt und wirkt, bewegt und wirkt er auch notwendigerweise im Satan und im Gottlosen. Er wirkt aber in ihnen so, wie sie sind, und wie er sie vorfindet. Das heißt: Weil jene abgewandt sind und böse und fortgerissen werden von jener Wirksamkeit der göttlichen Allmacht, tun sie nichts als Abgewandtes und Böses. Das ist so, wie wenn ein Reiter ein drei oder zweibeiniges Pferd reitet, dann reitet er es jedenfalls so, wie das Pferd beschaffen ist, das heißt, das Pferd geht schlecht. Aber was sollte der Reiter tun? […] Hier siehst du, dass, wenn Gott in den Bösen und durch die Bösen wirkt, zwar Böses geschieht. Dennoch kann Gott nicht böse handeln, mag er auch Böses durch Böse tun, denn er ist selbst gut und kann nicht böse handeln. […] Nicht anders, als wenn ein Zimmermann mit einem gezackten und schartigen Beil schlecht schneidet.“89

Scheidet aber ein theologischer Determinismus aus, weil Gott nicht böse handeln kann, dann ist letztlich auch der radikale theologische Voluntarismus ausgeschlossen. Allerdings entsteht nun, was ich Luthers Pferde- oder Reittierdilemma nennen möchte: Denn wenn die beiden Reittierbilder, die Luther verwendet, wirklich ein kohärentes Modell darstellen sollen, dann ist deutlich, dass die Beschaffenheit des Reittiers (schlecht zu gehen) nicht in der Verantwortung des Reittiers selbst liegt, aber auch nicht in der des Schöpfers und Reiters. Man müsste also neben Schöpfung und Schöpfer ein Drittes annehmen. Wie aber sollte man dieses Dritte neben Schöpfung und Schöpfer bezeichnen? Als Rätsel? Als das Nichtige? All diese Versuche sind m. E. nicht tragfähig. oder Ratio hat, die ihm als Regel oder Maß vorgeschrieben werden würde. Ihm ist nichts gleich oder überlegen, sondern er selbst ist die Regel von allem. Denn falls es für ihn eine andere Regel oder ein anderes Maß oder eine Ursache oder eine Ratio gäbe, dann wäre der Wille Gottes nicht möglich.“). Damit ist nicht gesagt, dass Gott keiner Regel folgt, sondern dass Gott die Regel von allem ist, auch einschließlich seiner selbst. Luther vertritt also mitnichten eine voluntaristische Regellosigkeit Gottes, sondern eine Regelidentität Gottes mit sich selbst. 88 Vgl. H•rle, W., Unvereinbarkeit des Determinismus mit Luthers Theologie, bes. 8 f. 89 Luther, M., WA 18, 709; Luther, M., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, 464: Quando ergo Deus omnia in omnibus movet et agit, necessario movet etiam et agit in Satana et impio, Agit autem in illis taliter, quales illi sunt et quales invenit, hoc est, cum illi sint aversi et mali, et rapiantur motu illo divinae omnipotentiae, non nisi aversa et mala faciunt, tanquam si eques agat equum tripedem vel bipedem, agit quidem taliter, qualis equus est, hoc est, equus male incedit. Sed quid faciat eques? […] Hic vides, Deum, cum in malis et per malos operatur, mala quidem fieri, Deum tamen non posse male facere, licet mala per malos faciat, quia ipse bonus male facere non potest […]. Non aliter quam si faber securi serrata et dentata male secaret.

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Das Problem entsteht, weil der Reiter, das Pferd und seine Qualität – oder Gott, menschlicher Wille und das Böse – hier als feste Größen, atomar und nicht relational-prozessual gedacht sind. Lösen lässt sich dieses Dilemma nur, wenn ein solch statisch-substanzhaft atomares Gottesverständnis aufgegeben wird zugunsten eines relational-narrativen Gottesverständnisses: Hier kann man annehmen, dass Gott der Urheber der Zulassung des Bösen ist, dass dieses aber in Gott selbst aufgehoben ist, indem Gott es prozesshaft überwindet. Aber wie die Überwindung des Bösen nichts Passives für Gott ist, so auch nicht die Zulassung des Bösen. Gott hat uns, wie Luther meint, dazu geschaffen, dass er uns erlöst und vollendet.90 Diese Zulassung durch Gott ist nichts unaktives, sie äußerst sich in der Verstockung. Sie ist aber etwas Temporäres, was in er dramatischen Versöhnungsgeschichte überwunden wird.91 Hat schon Gott selbst prozesshaften und narrativen Charakter (Vgl. Kap. 2), warum sollte es nicht auch seine Schöpfung haben?

4.1.3.6 Gebundener Wille und das Determinismusproblem Kommen wir damit zur systematischen Behandlung des Problems: Ist die theologisch und anthropologisch strikt notwendige Rede von der Gebundenheit des Willens, d. h. die Einsicht, dass von einem Willen überhaupt nur gesprochen werden kann, wenn voluntative und außervoluntative Willensbindungen vorliegen, notwendigerweise auf ein deterministisches Weltbild angewiesen? Nehmen wir zunächst an, ein theologischer Determinismus, d. h. ein Determinismus, in dem alle geschöpfliche, ereignishafte Prozessualität von einem voluntaristischen Gott determiniert sei, dessen Willen selbst durch nichts anderes als durch seinen Willen erklärbar sei, sei kohärent durchzuführen. Ist ein solcher voluntaristisch theologischer Determinismus überhaupt mit einem naturalistischen Kausaldeterminismus vergleichbar? Einerseits könnte man argumentieren, dass das nicht der Fall sei. Der Kausaldeterminismus versucht ja auf einen freien Willen an sich zu verzichten, während es im voluntaristisch-theologischen Determinismus immerhin eine einzige Instanz gibt, die personal über einen freien Willen verfügt und Gott genannt wird. Ob es aber im Gesamtjunktim zwischen Gott und Welt eine oder viele Instanzen gibt, die so etwas wie einen freien Willen besitzen, ist für die Existenzfrage, ob es überhaupt einen solchen freien Willen gibt, letztlich unerheblich. Würde man dieser Argumentation folgen, würde ersichtlich 90 Vgl. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, BSLK 660. Vgl. auch dazu die instruktiven Ausführungen von Herms, E., Gewißheit in Martin Luthers „De servo arbitrio“, hier 39 – 48. 91 Vgl. Luthers Ausführungen zum Wechselverhältnis zwischen Allmacht und Verstockung in WA 18, 710 (Luther, M., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, 464 – 467).

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werden, warum naturalistische Deterministen kaum theologisch begründete Argumentationen für die Gebundenheit des Willens oder für einen voluntaristisch-theologischen Determinismus als unterstützend für ihre Position anerkennen können. Denn es geht ihnen ja genau um die Bestreitung dieser Existenzaussage, es gebe, auch nur in einer Instanz, so etwas wie einen freien Willen. Andererseits und tiefer argumentierend wird man aber sehen müssen, dass auch im naturalistischen Determinismus die Position Gottes im Sinne einer Minimalbedingung, d. h. als Perfektion oder als alles bestimmender Wirklichkeit, überhaupt nicht unbesetzt bleibt. Die göttliche Instanz wird nur anders benannt: Als Naturgesetzlichkeit, als überall herrschende kausale Folge oder als natürlicher Zusammenhang der Welt als Ganzer. Naturalismen taugen dann, wenn sie zur Elimination eines theologischen und nicht nur trivialen Gottesbegriffs herangezogen werden sollen, nichts, weil sie die Instanz an anderer Stelle und mit anderen Bestimmungen wieder einführen. Das gleiche gilt auch für die Instanz des freien Willens. Deterministen argumentieren ja gegen die Existenz des freien Willens, dass es bei dessen Annahme im Rahmen des Naturzusammenhangs dann eine Instanz geben müsse, die nicht verursacht ist und für die es keine Gründe gibt; eine Instanz, die dann ein unbewegter Beweger wäre oder letztlich eine unerklärliche und zufällige, dass dann jedenfalls eine radikal kontingente Instanz das Weltgeschehen steuern oder zumindest mitsteuern würde. Aber das gleiche gilt auch für jeden naturalistischen Determinismus: Denn hier kann für die Instanz, die die Gottesstelle besetzt, sei dies der Kausalzusammenhang als solcher, sei dies die Welt als Ganze oder auch nur die Naturgesetzlichkeit, ebenfalls keine Begründung gegeben werden. Diese Instanz erscheint notwendigerweise selbst dem Kausalzusammenhang entnommen, zufällig, unerklärbar und kontingent. Dieser Instanz eine absolute, nicht relative Notwendigkeit zuschreiben zu wollen, scheitert aber, wie wir in Kap. 2.4 sahen, und zwar ironischerweise mit Notwendigkeit. Das bedeutet nicht, dass ein solches Wirklichkeitsverständnis nicht vertretbar wäre. Aber es würde auf alle Fälle eher einem spinozistischen Wirklichkeitsverständnis nahekommen als den „neuen“, nur vermeintlichen „Atheismen“. Daraus folgt, dass es zwar richtig sein mag, den menschlich-personalen Willen des Menschen extern und intern immer als gebundenen Willen zu beschreiben, um ihn überhaupt als Willen verstehen zu können. Es folgt aber nicht, dass dies nur unter Annahme eines strengen Determinismus möglich sei, sei dies nun ein theologisch-voluntaristischer Determinismus oder ein naturalistischer Determinismus. In beiden Fällen wird die Instanz – ontische Kontingenz – die an Stelle des personal-geschöpflichen Willens eliminiert wurde, jeweils an einer anderen Stelle wieder eingeführt. Damit aber spitzt sich die Frage zu: Ist eine letztgültige, d. h. eschatische und damit selbst auf anderer Ebene notwendige Kontingenz denkbar? Im Rahmen des christlichen trinitarischen Gottesverständnisses ist diese Frage

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aber immer schon beantwortet: Wenn in Christus die letztgültige Selbstpräsentation Gottes geschieht und das Christusereignis selbst als Kontingenzbewältigung ohne Entkontingentisierung verstanden werden muss, dann gilt dies auch für das Sein Gottes etsi creatura non daretur: Im Sein Gottes selbst ist dann Kontingenzbewältigung ohne Entkontingentisierung, d. h. ohne Elimination von Kontingenz, eingeschlossen. Ist Gott aber selbst auch etsi creatura non daretur eine narrative, ereignishafte Relation zwischen den Relaten Vater, Sohn und Geist, dann ist auch in diesem Leben und Lieben Gottes Kontingenz eingeschlossen, und zwar auch Kontingenz im Sinne der Überraschung wie in Kap. 2.4 zu sehen war. Gehen wir einen Schritt weiter : Ist der Mensch als Person aber immer imago Dei, ist er auch imago narrationis Dei, d. h.: Auch der Mensch ist letztgültig nur als inkludiert in die Narration, die Gott selbst ist, verstehbar, sowohl eschatisch als auch im Hier-und-Jetzt. Gehört aber zu dieser Narration, die konstitutiv für das Sein des Menschen ist, unreduzierbare Kontingenz und Unableitbarkeit konstitutiv mit dazu, dann kann auch der Mensch im Hier-und-Jetzt nicht ohne diese irreduzierbaren kontingenten Faktoren verstanden werden. Und ist der Mensch tatsächlich in ein personales und präpersonales Beziehungsgefüge notwendigerweise relationiert, dann kann auch dem ereignishaften Weltverlauf als solchem unreduzierbare Kontingenz – da sie selbst Geschöpf ist – nicht fremd sein. Diese theologische Argumentation zwingt notwendigerweise zur Ablehnung des Determinismus an sich, sowohl des theologisch-voluntaristischen als auch des naturalistischen Determinismus. M.E. wird diese Argumentation durch zwei phänomenale Argumentationen unterstützt: Einerseits sprechen die empirischen Beobachtungen zur Quantentheorie eher gegen als für einen naturalistischen Determinismus. Die Quantentheorie ist eher so zu verstehen, dass letztgültige Kontingenz in der Tat zur Ordnung der Natur selbst gehört.92 Die Frage, ob allerdings indeterministische Quantenprozesse in irgendeiner Weise auf die Makrowelt durchschlagen, etwa in Form neuronaler Prozesse, bleibt davon völlig unberührt. Diese Frage ist eine empirische Frage; sie trägt aber für unsere Frage nach dem Verhältnis von Willensfreiheit und Determinismus nichts aus. Andererseits spricht m. E. auch die eigene personale Erfahrung des eigenen internen Willens, d. h. die Grunderfahrung personaler Erschlossenheit im phänomenal-mentalen Bereich, für die Auffassung der Ablehnung des Determinismus: Der Mensch erlebt spontane Willensentscheidungen seiner selbst, für die er gerade keine plausiblen Gründe angeben kann und die ihn einfach so „überkommen“. Und genau diese Erfahrung scheint hinter der 92 Vgl. hier etwa Torrance, T.F., Divine and Contingent Order. Die Auffassung von Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 133 – 143, nach der letztlich deterministische Interpretationen der Quantenmechanik die aussichtsreichen Erklärungen darstellen würden, erscheint reichlich gewagt, wenn nicht abenteuerlich.

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Antwort zu stehen, eine bestimmte Handlung nur deshalb ausgeführt zu haben, weil „ich es wollte“. Damit ist nicht gesagt, dass eine solche Handlung nicht auch auf präpersonalen Mechanismen und Kausalzusammenhängen, wie neuronalen Vorgängen, beruhen kann. Beruht sie darauf, dann handelt es sich nur um eine erkenntnistheoretische Kontingenz, die allerdings für die Handlungs-, Willens- und Entscheidungssituation des Menschen in der entsprechenden Situation in seiner Kontingenz unreduzierbar bleibt. Wenn aber sowohl in einigen Fällen naturwissenschaftlicher Erfahrung als auch in der Alltagserfahrung Kontingenz-, Zufälligkeits- und Unableitbarkeitserfahrungen auf phänomenaler Ebene nicht wegzudiskutieren sind, warum sollte man dann auf der Reflexionsebene die gewagte Interpolation vornehmen, es handele sich dabei immer nur um eine epistemische Kontingenz, und solche kontingenten Willenserfahrungen beruhten immer und hinreichend auf kausaldeterminierten Faktoren des phänomenal-sensitiven Bereichs? Vor dem Hintergrund des (allerdings selbst weltanschaulichen) Prinzips von Occam’s razor der Sparsamkeit, nach dem die einfachere Erklärung die bessere Erklärung ist, ist es jedenfalls plausibler, nicht von einer vollständig kausaldeterminierten Welt, sondern von einer Welt auszugehen, in der es echte Kontingenz im Sinne der Unverursachtheit gibt. Aus theologischen Gründen ist, wie wir gesehen haben, diese Auffassung allerdings nicht beliebig: Vor dem Hintergrund des christlichen Gottesverständnisses ist sie unausweichlich und daher selbst notwendig. Und daher passt sie auch zu Luthers Auffassung, dass alles in der Welt mit einer Geschehensnotwendigkeit der necessitas consequentiae geschieht, wenn auch Luther selbst noch nicht an den Einschluss auch dieser nichtreduzierbaren Kontingenz und Unverursachtheit in diese Notwendigkeit gedacht haben dürfte.93 4.1.3.7 Entkontingentisierung als Sünde Daraus ergibt sich für die Frage nach Willensfreiheit und Determinismus folgendes Bild: Der Mensch lebt als kontingentes Wesen in einer kontingenten Welt, die letztgültig – auch als in seinem Leben in Gottes eschatischem Sein – Kontingenz, Überraschung und Unableitbarkeit radikal, d. h. mit Notwendigkeit, einschließt. Damit bestimmen den Menschen auch immer letztgültig ontisch-kontingente Faktoren. Für die anthropologische Willensfrage bedeutet dies, dass ein freier Wille im doppelten Sinne für den Menschen nicht gegeben ist: Der Wille ist einerseits nicht frei, weil er auf präpersonalen und personalen Bestimmungen beruht, intern wie extern, die er teilweise kontrollieren kann. Der Wille ist aber auch gerade andererseits deswegen nicht frei, weil er ebenfalls auf völlig zufälligen und ontisch kontingenten Faktoren beruht, die dem Handelnden ebenfalls passiv geschehen und die er nicht 93 Vgl. Herms, E., Gewißheit in Martin Luthers „De servo arbitrio“, 30.

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kontrollieren kann. Diese Faktoren ontischer Kontingenz erweisen sich auch nicht als von Gott als dem Wunsch Gottes gemäße verursacht. Die Annahme, die erfahrenen – die epistemischen und tatsächlichen ontischen – Kontingenzen der Welt wären tatsächlich als Wirken Gottes zu interpretieren, wäre nichts anderes als der Versuch einer erneuten Entkontingentisierung! Vor dem Hintergrund des christlichen Gottes- und Menschenverständnisses erscheinen Kontingenzbewältigungspraxen im Modus der Entkontingentisierung stets als Ausdruck der falschen, d. h. ver-rückten Selbstgewissheit des Menschen und damit als Vergreifen seiner ihm in der promissio zugesprochenen personalen Identität. Am anschaulichsten wird dieser Sachverhalt in Gen 3 in der Versuchung der Schlange, die dem Menschen verspricht, darin wie Gott sein zu können, dass er selbst bestimmen und festlegen kann, was gut und böse ist. Hier wird der Wille des Menschen als absolut-voluntaristisch ausgegeben. Die Versuchung der Schlange lautet also bei Lichte betrachtet, dass dem Menschen ein freier Wille versprochen wird – den er natürlich nicht bekommt, sondern nur in einer verschärften Abhängigkeit – nun einseitig vom Bösen – endet. Aber auch der umgekehrte Versuch, die ontische Kontingenz durch Kausaldeterminismen zumindest theoretisch erklären oder reduzieren zu wollen, ist nichts anderes als eine Entkontingentisierung und damit Ausdruck der Sündhaftigkeit oder Ver-rücktheit des Menschen. Selbstverständlich leugnet diese Sicht – die Sicht der notwendigen Kontingenz nicht nur der Welt als Ganzer, sondern auch einzelner welthafter Ereignisse als notwendig kontingent im Sinne der Ursachenlosigkeit – nicht Gottes Fähigkeit, mit dieser Kontingenz auch zieldienlich umgehen zu können, gehören doch Kontingenz und Überraschung schon zum Wesen Gottes. Und der Umgang Gottes mit dieser Kontingenz, wie er am Kreuz für uns vergegenwärtigt wird, zeigt eben auch, dass durch dieses Selbstvergegenwärtigungsgeschehen, das zugleich das Versöhnungs- und Zurechtbringungsgeschehen ist, der Mensch in die Lage der Heilsgewissheit versetzt wird: „Heilsgewissheit ist diejenige Notwendigkeitsgewissheit, die den Menschen zu einem amor fati, zur cooperatio mit dem Fatum instand setzt, weil dieses Fatum – die uns aufliegende Notwendigkeit der Existenz – eben nicht blind ist, sondern weil es den Charakter der unfehlbaren Verwirklichung des göttlichen Heilswillens hat. In dieser letzten inhaltlichen Bestimmtheit der Notwendigkeitsgewissheit sind also alle früheren Bestimmtheiten festgehalten.“94 Dieses Zitat von Eilert Herms ist genau und nur dann richtig, wenn diese früheren Bestimmtheiten – bzw. das „Fatum“ – eben auch die genannte notwendige Kontingenz enthält. Dann wird es in der Tat möglich, um mit Hauerwas zu sprechen, dass für den Versöhnten, der seine Identitätsgeschichte im Lichte des Evangeliums erzählt bekommt und erzählt, fate zu destiny wird.95 94 Herms, E., Gewißheit in Martin Luthers „De servo arbitrio“, 47. 95 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 93, und zur Besprechung Mìhling, M., Ethik, 230.

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Damit sind wir in der Lage, den eingangs des theologischen Abschnitts beobachteten Befund zu deuten. Dieser hatte ja gezeigt, dass es in der Reihe der zeitgenössischen theologischen Versuche, mit dem Problem der Willensfreiheit und des Determinismus umzugehen, zwei radikale Positionen gibt: Die erste radikale Position lehrt einen strikten Indeterminismus und versucht, die ontische Kontingenz des natürlichen Ereigniszusammenhanges für die behauptete Freiheit des Willens und darauf beruhender unableitbarer Handlungen, seien es die Handlungen ausschließlich Gottes oder sowohl Gottes als auch des Menschen, fruchtbar zu machen.96 Die andere radikale Position lehrt, dass – zumindest was den Weltlauf betrifft – eine Willensfreiheit nicht denkbar sei, weil die Welt deterministisch geschlossen sei.97 Beide radikalen Versuche erscheinen nun als falsch und als der Sachlage – dem christlichen Menschenbild als Person im Werden der Welt – nicht angemessen. Sie erscheinen aber nicht nur als falsch und nicht angemessen, sondern sie sind im Rahmen des christlichen Wirklichkeitsverständnisses dennoch deutbar : als Versuche der Kontingenzbewältigung im Modus der Entkontingentisierung und damit als Ausdruck der Ver-rücktheit und Sündhaftigkeit des Menschen.

4.1.3.8 Freiheitserfahrungen Des Menschen Wille ist gebunden und nicht frei. Er ist intern wie extern an nicht-voluntative Sachverhalte gebunden, die allerdings auch ontisch-kontingente, d. h. nicht nur unbestimmte, sondern auch unbestimmbare Faktoren mit einschließen. Damit wäre theologischerseits ein Kompatibilismus hinsichtlich der Willensfrage vorzuziehen. Dies ist dann notwendigerweise allerdings ein Kompatibilismus, der sowohl mit einer deterministischen als auch mit einer indeterministischen Weltsicht kompatibel ist. Desweiteren wäre dies ein Kompatibilismus, der sich streng auf die Behauptung von Handlungsfreiheit, nicht aber auf die Behauptung von Willensfreiheit beschränkt, wenn man darunter die Existenz eines freien Willens versteht. Das bedeutet allerdings nicht, dass kompatibilistische Argumentationen wie die Frankfurts wertlos sind. Sie erklären aber m. E. nicht das nicht vorhandene Phänomen des Begriffs der Willensfreiheit, sondern das Phänomen der Willensfreiheitserfahrung in der phänomenal-mentalen Welt. Man kann also sagen, dass man eine positive Willensfreiheitserfahrung wie auch eine negative Willensfreiheitserfahrung besitzen kann, ohne jedoch in diesen Fällen einen freien Willen zu besitzen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine antinomische Rede. Vielmehr liegt nur das Stilmittel eines Paradoxes vor, d. h. einer Redeweise, die bei näherem Hinsehen nichts Antinomisches besitzt. Der Grund dafür besteht darin, dass „Willensfreiheit“ und der Wortbestandteil 96 Ein reines Paradigma dieser Position scheint mir faktisch schwer auffindbar zu sein. 97 Als Paradigma dieser Position kann gelten Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand.

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„Willensfreiheits-“ aus „Willensfreiheitserfahrung“ äquivok verwandt sind und nicht dasselbe bedeuten. Daher würde man besser von „Freiheitserleben“ anstelle von „Willensfreiheitserfahrung“ sprechen. Dieses Freiheitserleben ist allerdings noch umfassender, weil es sich auch auf Handlungsfreiheitserfahrungen bezieht, so dass eine Reihe von Distinktionen einzuführen ist. Dabei sei Frankfurts Unterscheidung von Wünschen erster und zweiter Ordnung aufgenommen und mit Charles Taylors Theorie der in einer moralischen Ontologie eingebetteten starken Wertungen98 verbunden. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass alle Wünsche, die höherwertig als Wünsche erster Ordnung sind, gleich behandelt werden können, so dass sich ein unendlicher Wunschregress erübrigt. Vor dem Hintergrund der hier vertretenen Theologie ist lediglich zu präzisieren, dass diese moralische Ontologie, die den Rahmen der höherwertigen Wünsche bildet, stets den narrativen Charakter einer gemeinschaftlich kommunizierten Narration besitzt. 1) Erleben der externen Freiheit (Handlungsfreiheit) a) Konstitutionserleben von endlicher, externer Handlungsfreiheit: Die Person macht die Erfahrung der Vorfindlichkeit der Handlungsfreiheit, d. h. die Handlungsfreiheit ist für sie konstituiert. M.a.W.: Die Person macht die Erfahrung, dass sie das tun kann, was sie will; dass sie aber auch schon im Gebrauch dieser Fähigkeit steht. Dieses Konstitutionserleben der endlichen, externen Handlungsfreiheit steht unter der Alternative der Sicht der Handlungsfreiheit als Gabe des Schöpfers oder als welthafter Gegebenheit. b) Praktizierungserleben von endlicher Handlungsfreiheit als situative externe Handlungsfreiheit: Gemeint ist hier das Erleben endlicher geschöpflicher Freiheit hinsichtlich ihrer innerweltlichen Bestimmtheiten. Es geht um das Erleben, dass die Freiheit, tun zu können, was man will, immer von zahlreichen personalen und präpersonalen Faktoren eingeschränkt ist, die freilich historisch-kontingent variieren. Auch dieses situative externe Freiheitserleben steht unter einer Alternative: – Erleben situativer externer Handlungsfreiheit: Passt der Willensinhalt zu den personalen und präpersonalen Faktoren, die Freiheit ermöglichen und begrenzen, oder passt sich der Willensinhalt diesen Faktoren an, erlebt sich die Person als handlungsfrei. – Erleben situativer externer Handlungsunfreiheit (Zwang): Passt der Willensinhalt nicht zu den personalen und präpersonalen Faktoren, die Freiheit ermöglichen und begrenzen, oder kann der Willensinhalt nicht an diese angepasst werden, erlebt sich die Person als gezwungen.

98 Vgl. Taylor, C., Was ist menschliches Handeln, und Taylor, C., Quellen des Selbst, 17 – 25, sowie zur Besprechung Mìhling, M., Ethik, 151 – 154.

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2) Erleben interner Freiheit a) Konstitutionserleben von endlicher interner Freiheit: Die Person erfährt, dass sie sich zu ihren Wünschen erster Ordnung immer schon im Sinne Wünsche zweiter Ordnung bejahend oder verneinend verhält. Es handelt sich hier um das Erleben relativer Freiheit von immer rein passiv gegebener interner Freiheitserfahrung (Willensfreiheitserfahrung), da die Wünsche zweiter Ordnung immer schon in einer starke Wertungen beinhaltenden, moralischen Ontologie der Person eingebunden sind. Das Vorhandensein einer narrativen moralischen Ontologie überhaupt ist dabei für eine Person nicht wählbar. b) Praktizierungserleben von endlicher, interner Freiheit: Die Wünsche erster Ordnung einer Person passen bzw. passen nicht zu ihren Wünschen zweiter Ordnung, die wiederum starke Wertungen beinhalten und insofern in den narrativen Rahmen der kommunitär gebildeten moralischen Ontologie eingebunden sind. Das Eingebettetsein der Wünsche zweiter Ordnung in eine starke Wertungen beinhaltende moralische Ontologie verhindert hierbei, dass der Regress von Wünschen höherer Ordnung ins Unendliche gesteigert werden könnte. Dieses Praktizierungserleben von endlicher interner Freiheit steht unter folgenden Alternativen: ab) Die Person erlebt sich als innerlich frei (situative interne Freiheit), wenn – die in eine narrative moralische Ontologie eingebundenen Wünsche zweiter Ordnung auf der Ebene der Wünsche erster Ordnung handlungsorientierend werden, oder wenn – sie in der Lage ist, ohne Dauerreflexion ihre in einer narrativ moralischen Ontologie eingebundenen Wünsche zweiter Ordnung in Bezug auf ihre Wünsche erster Ordnung zu praktizieren. bb) Die Person erlebt sich ebenfalls als innerlich frei (lebensgeschichtliche interne Freiheit),99 wenn – sie in der Kommunikation mit anderen in der Lage ist, widersprüchliche Wünsche zweiter Ordnung in eine diese Widersprüche inkludierende Narration einzubinden oder eingebunden zu bekommen. cb) Die Person erlebt sich als unfrei (situative interne Unfreiheit), wenn – die in eine narrative moralische Ontologie eingebundenen Wünsche zweiter Ordnung nicht in Bezug auf die Wünsche erster Ordnung handlungsorientierend werden; d. h., die Person erlebt sich als innerlich gegen ihren Willen gezwungen (z. B. in Röm 7,19). db) Die Person erlebt sich ebenfalls als unfrei (lebensgeschichtliche interne Unfreiheit) , wenn 99 Die Einsicht, auf der Praktizierungs- oder Vollzugsebene endlicher Freiheit hier zwischen situativer und lebensgeschichtlicher Freiheit unterscheiden zu müssen, verdanke ich Schlarb, V., Narrative Freiheit.

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– die narrative, moralische Ontologie derart (dramatisch) inkohärent ist, dass widerstrebende Wünsche zweiter Ordnung um Wünsche erster Ordnung konkurrieren, ohne dass sie in der um die partikulare Person versammelte Erzählgemeinschaft in eine diese Widersprüche inkludierende Narration eigebunden werden können. 3) Vollendungsebene der endlichen Freiheit Die Vollendungsebene endlicher Freiheit bezieht sich auf die eigene, letztgültige, eschatisch-dramatisch nichtwidersprüchliche Narration der eigenen Identität. Da diese sowohl der im Fokus stehenden Person als auch der sie miterzählenden Personen im Hier-und-Jetzt unverfügbar ist, so dass ihr eigentliches Erleben der eschatischen Realität einschließlich des Transformationsprozesses des Gerichts vorbehalten bleibt,100 vollzieht sich ihr Erleben im Hier-und-Jetzt stets im Modus der Erwartung. Diese Erwartung steht unter der Alternative – der Hoffnung, vollendete endliche Freiheit zu erhalten, bzw. – der Enttäuschung, keine vollendete endliche Freiheit zu erhalten. Hinsichtlich des Erlebens der Vollendungsebene endlicher Freiheit im Leben und Lieben Gottes erübrigt sich die Unterscheidung zwischen situativ und lebensgeschichtlich, weil es sich hier stets um eine lebensgeschichtliche Erwartung handelt. Da diese Erwartung (Hoffnung oder Enttäuschung), vollendete endliche Freiheit zu erhalten, aber immer zur moralischen Ontologie einer Person dazugehört, tritt hier ein rekursives Moment mit auf den Plan und steuert dadurch die Ebenen des Erlebens von Freiheit auf den anderen Ebenen stets mit. In allen genannten Fällen spielt das Zustandekommen der narrativ moralischen Ontologie und damit der Wünsche zweiter Ordnung keine Rolle. Als Konstitutionsfaktoren für die Wünsche zweiter Ordnung und damit für die narrativ moralische Ontologie der Person kommen in Frage: affektive Bestimmungen der Person, ihre Präferenzen, ihre Selbstwahrnehmung ihrer Geschichte in der Verschränkung von Selbst- und Fremderzählen ihrer Identität, biologische, chemische und physische Faktoren, die Sozialisationsund Bildungsgeschichte der Person, das konkarnierende Handeln Gottes des Heiligen Geistes in, mit und unter all diesen genannten Faktoren sowie echte ontische externe und interne Kontingenz. M.a.W.: Das Zustandekommen der Wünsche zweiter Ordnung beruht immer auf einem gebundenen Willen und schließt einen sog „freien Willen“ (d. h. gar keinen Willen) und voluntaristische Entscheidungsmächtigkeit aus. Es versteht sich von selbst, dass das passiv gewirkte, vertrauende Ergreifen 100 Vgl. Mìhling, M., Eschatologie, 282 – 291.

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der promissio des Evangeliums im Glauben als Vertrauen das paradigmatische Beispiel des Erlebens lebensgeschichtlicher Freiheit darstellt.

4.1.3.8 Und die Verantwortlichkeit? Die theologische Auffassung der Willensgebundenheit bedeutet keineswegs eine Ablehnung des Verantwortungsbegriffs. Denn für Verantwortlichkeit ist wichtig, dass der Mensch innerhalb des ihn konstituierenden kommunikativen Relationsgefüges auskunftsfähig und auskunftspflichtig ist. Er ist fähig zur Antwort auf die Anfrage des Anderen; er ist response-able. Dazu gehört, dass er innerhalb dieser kommunikativen Relationen Ziele, Mittel und Folgen des Handelns unter den Bedingungen des Naturzusammenhangs, so wie er ist – Kontingenz beinhaltend – benennen kann.101 Konstitutiv ist dann auch, dass affektive Tugenden wie Mut Verantwortlichkeit erst wirksam werden lassen. Gerade weil eine menschliche Person ein besonderes Voneinander-und-Füreinandersein ist, ist es plausibel, dass jede Person nur ein notwendiger Faktor für das Zustandekommen von Handlungen ist. Dies reduziert nicht den Verantwortungsbegriff, aber es verändert ihn. In der Reihe der notwendigen Faktoren zum Zustandekommen eines Ereignisses mag es Faktoren geben, die mehr oder weniger verantwortlich sind. Und die entscheidende Frage wäre dann, aufgrund welcher Logiken und kommunikativen (Macht-)Prozesse Menschen diese Verantwortungsverteilungszuschreibung eigentlich vornehmen. Deutlich ist aber auch, dass eine völlige Nichtverantwortlichkeit einzelner Faktoren – und damit auch beteiligter Personen – für Ereignisse nicht in Frage kommt.

4.1.3.9 Das theologische Verständnis von Mensch und Wille und die Neurowissenschaften Kommen wir auf den Eingang des Kapitels zurück. Wie verhalten sich die Deutungen der Neurowissenschaften zur Frage des menschlichen Willens zum theologischen Verständnis des Menschen als eines werdenden Voneinanderund-Füreianderseienden, das mit echten Erfahrungen endlicher Freiheit begabt ist, gerade weil es einen immer gebundenen Willen besitzt? Die Antwort ist einfach: Beschränkt man sich auf die Experimente wie die von Haynes und Libet, bestätigen diese das theologische Menschenveständnis eher, als dass sie es bestreiten. Denn sie zeigen nur, dass sich diese theologisch notwendig zu lehrende Gebundenheit des Willens nicht im luftleeren Raum vollzieht, sondern dass sie sich medial durch des Menschen notwendiges Eingebundensein 101 Zum Verantwortungsbegriff vgl. Mìhling, M., Ethik, 190 – 207.

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in die präpersonale Schöpfung, d. h. in die phänomenal-sensitive Sphäre seiner neuronalen Bestimmtheiten, vollzieht. Fragt man darüber hinausgehend, wie sich das theologische Menschenverständnis zu den weltanschaulichen Selbstdeutungen der Hirnforscher verhält, wird man diagnostizieren können: Auch ein „minimalistisches“ Wirklichkeitsverständnis, wie es von Haynes vertreten wird und wie wir es in den analytischen Thesen H1–H7 expliziert haben, ist mit dem theologischen Menschenverständnis kompatibel. Ebenso das reichere Wirklichkeitsverständnis von Libet, wie es in den analytischen Thesen L1–L3 veranschaulicht wurde, kann noch mit dem christlichen Menschenverständnis kompatibel sein, wenn es auch, wie beim Postulat eines BMF, gewagte Spekulationen enthält. Das reduktive Wirklichkeitsverständnis von Roth, wie wir es anhand der analytischen Thesen R1–R5 veranschaulicht haben, ist mit dem christlichen Wirklichkeitsverständnis inkompatibel. Enthält ein solches Wirklichkeitsverständnis die These R5 der kausalen Geschlossenheit des Junktims zwischen Gott und Welt, ist es darüber hinausgehend aus christlicher Perspektive als Entkontingentisierung und damit als Ausdruck der Ver-rücktheit des Menschen zu werten.

4.2 Liebesregel und Liebesbeziehung Als imago narrationis dei ist der Mensch aber nicht nur eine gebundene Freiheit beinhaltende Narration, sondern eben auch Bild der Liebe Gottes, wenn Gott nicht einfach irgendein narratives Wesen zukommt, sondern er eine Liebesgeschichte ist. Wie ist diese menschliche Liebe zu verstehen? In christlicher Tradition finden sich zwei Konzeptionalisierungen des Liebesbegriffs, die „Nächstenliebe“ vor allem bei den Synoptikern und die „Geschwisterliebe“ unter anderem bei Paulus und vor allem in der johanneischen Literatur. Während das synoptische Liebesgebot die Liebe zu Gott und zum Nächsten bzw. sogar zum Feind fordert, bezieht sich der johanneische Liebesbegriff primär auf die christliche Gemeinde, deren Glieder sich als Geschwister bzw. als Freunde sehen. Das synoptische Liebesgebot der Nächstenliebe und Feindesliebe lautet: „Das höchste Gebot ist das: ,Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herren, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften‘. Das andre ist dies: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘“ (Mk 12, 29 – 31parr). „Liebet Eure Feinde […], damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,38 – 48 = Lk 6, 27 – 36).

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Der – nicht nur! – johanneische Liebesbegriff der Geschwister- bzw. Bruderliebe oder Freundschaft102 lautet in einigen Beispielen: „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, daß auch ihr einander liebhabt. Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh 13,34 f., vgl. Joh, 3,16; 1.Joh 2,10; 3,10.11.14.23; 4,7 – 21; 5,2; 2.Joh 5). „Niemand hat größere Liebe als die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde“ (Joh 15,13). „Ihr Lieben, laßt uns einander liebhaben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.“ (1.Joh 4,7 f).

Interessant ist noch eine negative Bestimmung des johanneischen Liebesbegriffs: „Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt liebhat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters“ (1.Joh 2,15).

Nächstenliebe und Geschwisterliebe bei Paulus erscheinen miteinander verbunden im Verhältnis der qualitativen Steigerung: „Darum, solange wir noch Zeit haben, laßt uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen“ (Gal 6,10).

Fragt man nun, wie sich beide Liebesbegriffe, Nächstenliebe und Geschwisterliebe, zueinander verhalten, erhält man nicht selten Auskunft, der Begriff der wahren christlichen Liebe sei rein in der Nächstenliebe repräsentiert, während die Geschwister- bzw. Bruderliebe, wie wichtig dieser Liebesbegriff in der spezifisch johanneischen Situation auch gewesen sein mag, eine Verfallsform darstelle, die das eigentlich christliche Verständnis der Liebe nicht mehr erreichen könne oder gar verfehle. In Verhältnisbestimmungen dieser Art wird das synoptische Liebesgebot als Maßstab genommen und andere Liebesbegriffe, etwa der johanneische, in derselben Hinsicht mit diesem verglichen. Solche Verhältnisbestimmungen finden sich sowohl bei Exegeten als auch in systematisch-theologischen Explikationen. All diese Verhältnisbestimmungen, auch die exegetischen, sind nicht frei von pragmatisch-dogmatischen Interessen.103 Im Folgenden soll gezeigt wer102 Die These, der Freundschaftsbegriff spiele im Neuen Testament keine Rolle, finde sich nur im johanneischen Schrifttum oder sei gar unbiblisch, kann durch die zentrale Bedeutung des Freundschaftsbegriffs für die neutestamentliche, besonders paulinische Ethik, wie sie durch Wolter, M., Die ethische Identität christlicher Gemeinden, bes. 80ff aufgewiesen wird, als widerlegt gelten. 103 Freilich gilt auch das umgekehrte, vgl. Schwçbel, C., Gott in Beziehung, 325: „Wird diese Wechselbeziehung nicht offengelegt, dann kann es leicht dazu kommen, daß in der Diskussion exegetischer Probleme dogmatische Fragen eine große Rolle spielen, die als solche […] nicht

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den, dass diese Verhältnisbestimmung von Nächstenliebe und Geschwisterbzw. Bruderliebe kurzschlüssig ist und dem vorausgesetzten systematischen Interesse weit weniger genügen kann, als man annehmen mag. Um dies zu zeigen, sollen solche Verhältnisbestimmungen in einem ersten Durchgang genannt und besprochen werden. In einem zweiten Teil wird eine alternative, positive Verhältnisbestimmung (neben anderen positiven Verhältnisbestimmungen)104 geboten, deren notwendige Grundlagen in der Gotteslehre in einem dritten Teil expliziert werden.

4.2.1 Die antithetische Verhältnisbestimmung von Nächstenliebe und Geschwister- bzw. Bruderliebe oder Freundschaft 4.2.1.1 Beispiele der antithetischen Verhältnisbestimmung Im Folgenden werden einige Beispiele für die antithetische Verhältnisbestimmung genannt und dann deren gemeinsame Voraussetzungen analysiert. Für Ernst Käsemann ist der johanneische Liebesbegriff letztlich sogar unchristlich, da er der Rechtfertigungslehre widerspreche:

erörtert werden, oder daß in der Erörterung von Lehrfragen exegetische Fragen dogmatisch mitentschieden werden, ohne daß diese Entscheidung an der Schriftauslegung überprüft würde.“ 104 Freilich gibt es nicht nur negative, sondern auch positive Verhältnisbestimmungen in der Forschung, die mit unterschiedlichen Hintergrundtheorien arbeiten. Klauck, H.-J., Der erste Johannesbrief (EKK 23/1), 277 – 282, hier 279, sieht das Bruderliebegebot einerseits auf der gleichen Ebene wie das Nächstenliebegebot angesiedelt als dessen Paradigma: „Die Liebe ist auch und gerade im Nebeneinander von Geschwistern nicht selbstverständlich. Im Gegenteil, der Bruderkonflikt dürfte eine Art Archetyp menschlicher Feindschaft sein. In Anbetracht dessen kann die Geschwisterliebe ein Paradigma werden […] für den Umgang, den Menschen miteinander pflegen sollen“. Andererseits bietet Klauck, H.-J., Der erste Johannesbrief (EKK 23/1), 280, darüber hinausgehend eine Verhältnisbestimmung, die ähnlich unserem Vorschlag hier die Bruderliebe formal als eine Bedingung der Möglichkeit der Nächstenliebe deutet: „Er insistiert darauf, daß die christliche Gemeinde der primäre Ort für die Praxis christlicher Liebe ist. Von der Gemeinde kann sie und muß sie in die Welt hinaus ausstrahlen. Aber eine im Inneren lieblose Gemeinde kann der Welt […] kein Zeugnis der Liebe geben.“ Allerdings können im Gegensatz zu dem hier entwickelten Vorschlag inhaltlich damit nicht Stellen wie 1.Joh 2,15 gedeutet werden. Auch Fuchs, E., Was heißt „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“? liefert implizit eine positive Verhältnisbestimmung, wenn er, ebd., 18, das Nächstenliebegebot ganz von Joh 13,34 f her christologisch begründet sieht. Obwohl er, ebd., 6, erkennt, dass das Gebot der Nächstenliebe für den natürlichen Menschen unmöglich zu erfüllen ist, kommt es ebd., 18, zu der Fehleinschätzung: „Das kann freilich nur für den Christen gelten. Er kann so handeln, und er soll so handeln“. Richtig ist, dass in der Tat die gegenseitige Geschwisterliebe und die verwirklichte Nächstenliebe christologisch begründet sind und für die Gemeinde gelten. Davon zu unterscheiden ist aber das Gebot der Nächstenliebe, das als Gebot eben nicht christologisch, sondern gerade schöpfungstheologisch begründet ist.

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„Nichts spricht dafür, daß die Bruderliebe exemplarisch die Nächstenliebe umfaßt, wie sie sonst im Neuen Testament gefordert wird. Im Gegenteil, hier wird eine unverkennbare Einschränkung vorgenommen.“ „Objekt christlicher Liebe ist für Johannes allein […] die Bruderschaft Jesu […] Im Laufe der Kirchengeschichte werden im allgemeinen die Konventikel das Verhältnis von Kirche und Welt unter solcher Perspektive sehen. Der irdische Jesus, der zu den Sündern und Zöllnern ging und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählte, ist ebenso fern gerückt wie die paulinische Verkündigung von der Rechtfertigung der Gottlosen.“105

Auch für Martin Rese stellt der johanneische Liebesbegriff gegenüber dem synoptischen eine Verfallsform dar, da er die Güte der von Gott geschaffenen Welt leugne: „Denn ,Nächster‘ und ,Bruder‘ meinen keineswegs immer dasselbe. Wie bereits deutlich wurde, bezieht sich das Wort ,Bruder‘ im 1.Joh allein auf den Mitchristen, der den gleichen Glauben besitzt. […] Wo das Gebot der Bruderliebe so verstanden wird wie im 1.Joh., dort wird das Gebot der Nächstenliebe zumindest eingeschränkt, wenn nicht gar aufgehoben.“ „Am Anfang erwähnte ich den Streit der Ausleger darüber, ob das Gebot der Bruderliebe nicht das der Nächstenliebe einschränke oder gar außer Kraft setze […]. [V]on der erkennbaren Wirklichkeit jener johanneischen Gemeinden […] ist dieser Streit […] mit bemerkenswerter Eindeutigkeit entschieden: Das Gebot der Bruderliebe hat zu einer bestimmten Zeit, in einem begrenzten Raum und in genau zu bezeichnenden Gemeinden das Gebot der Nächstenliebe nicht nur eingeschränkt, sondern schlicht außer Kraft gesetzt. […] Unter dem Markenzeichen der Bruderliebe sah man nur noch auf die eigene, konventikelhafte Gemeinschaft, man machte neben der Bruderliebe die Trennung von der Welt zu einem weiteren Programmpunkt und verriet so die Sendung der Kirche Christi in diese Welt.“106

Für Ethelbert Stauffer ist der johanneische Liebesbegriff letztlich kontravalent zum Geist Jesu: „In den johanneischen Schriften ist von der Liebe zwischen Mensch und Mensch öfter die Rede als irgendwo sonst im Neuen Testament. Aber hier handelt es sich nicht mehr um die Liebe zum Nächsten, die Jesus verkündigt hat, sondern um die Liebe zum christlichen Bruder und Glaubensgenossen. Der Begriff des ,Nächsten‘ kommt in den Johannesschriften überhaupt nicht vor und das Gebot der Nächstenliebe erst recht nicht. Die Liebe ist eine innerkirchliche Angelegenheit geworden, und die Kirche spricht: Habt nicht lieb die Welt (1.Joh 2,15). Es ist der Geist der qumranischen Ordensregel, der hier triumphiert. Er hat den Geist Jesu von Nazareth aus den Mauern der johanneischen Schule vertrieben“.107

Für Willi Marxsen führt der johanneische Liebesbegriff zum Gegenteil dessen, was er intendiert: nicht zu Liebe, sondern gerade zu Lieblosigkeit: 105 K•semann, E., Jesu letzter Wille nach Johannes 17, 124 und 136. 106 Rese, M., Das Gebot der Bruderliebe in den Johannesbriefen, hier 54.57. 107 Stauffer, E., Die Botschaft Jesu, 47.

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„Im Zentrum steht die Forderung der Bruderliebe. Das Selbstverständnis der Gemeinde führt dazu, daß hier strenge Exklusivität herrscht. Die außerhalb der Gemeinde Lebenden kommen beim Liebesgebot nicht in den Blick. Abgefallene werden ausdrücklich ausgeschlossen. Sie sind keine Brüder mehr. Gastfreundschaft darf ihnen nicht gewährt werden (2.Joh 10). Selbst der Gruß ist ihnen zu verweigern; denn schon wer sie grüßt, macht sich mit ihnen gemein (2.Joh 11). […] Da ist dann festzustellen, daß die Bruderliebe der johanneischen Schriften mit einer Lieblosigkeit erkauft wird, die innerhalb der neutestamentlichen Schriften beispiellos ist.“108

Jürgen Becker beschreibt das in jesuanischer Tradition stehende synoptische Liebesgebot auf der Basis des Schöpfungshandelns Gottes als prinzipiell universalistisch, vom Objekt der Nichtigkeit her begründet, während sich in den paulinischen Gemeinden sowohl ein Binnen- als auch ein Außenethos findet. In den johanneischen Gemeinden sei das letztere aufgrund der dualistischen Weltsicht aufgegeben: „Noch eine letzte Entwicklung urchristlicher Geschichte mit Relevanz für das Liebesgebot ist zu besprechen, nämlich die Aufkündigung eines mit dem Begriff der Liebe definierten Außenverhältnisses und dementsprechend der Rückzug in die begrenzte Kleingruppe in Gestalt nur noch praktizierter Bruderliebe […] Wendet sich göttliches Heilshandeln nur noch – vermittelt durch den Sohn – an die Erwählten, können auch nur sie zum Bleiben in der Liebe aufgefordert werden […] Solches Bleiben wird praktiziert als Bruderliebe, also als Liebesband der Erwählten (Joh 13, 34 f usw.). Das Außenverhältnis der Gemeinde ist bestimmt durch Abstand von den teuflischen Werken […] und äußert sich im übrigen als Angst vor der Welt […] Solcher Rückzug aus einer Gesamtverantwortung, die nicht mehr intendiert als begrenztes Kleingruppenverhalten, ist natürlich der extremste Gegensatz zur Jesusverkündigung.“109

Anders Nygren, der Schöpfer der berühmt-berüchtigten Eros-Agape-Typologie110, sieht den Verfall der Agape und das langsame Einschleichen des Eros in das Christentum innerhalb der johanneischen Schriften beginnen: während noch Joh 3,16 die Liebe ganz von Gott her denkt und nicht vom Objekt her, geschehe mit dem Abweis der Liebe zur Welt (1.Joh 2,15) nicht nur eine Veränderung des Weltbegriffs, sondern auch eine qualitative Verschiebung des Liebesbegriffs:

108 Marxsen, W., Ethik im Neuen Testament, 263. 109 Becker, J., Feindesliebe, Nächstenliebe, Bruderliebe, hier 16. 110 Die strikte Dualisierung von den mit „Eros“ und „Agape“ typisierten Sachverhalten dürfte mittlerweile als überwunden gelten. Diese Überwindung bringt Jìngel, E., Gott als Geheimnis der Welt, 463 f sehr klar auf den Punkt: „Die Agape liebt den Eros. Das allerdings unterscheidet sie von ihm.“ Eine knappe aber präzise Nachzeichnung dieser Typologie der Forschung vom frühen Barth über Heinrich Scholz, Anders Nygren zum späten Barth findet sich z. B. in: Stock, K., Wahre Liebe, 74 – 86.

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„Es ist nicht nur die ,Welt‘, sondern auch die ,Liebe‘, die hier teilweise einen anderen Inhalt bekommen hat. Wenn vor der Liebe zur Welt gewarnt wird, so kann es sich offenbar nicht um die schenkende, sich selbst hingebende Agapeliebe, sondern nur um die begehrende Liebe handeln. […] Als schenkende und sich selbst hingebende Liebe ist Agape ganz unabhängig vom Wert des Gegenstandes. Aber das Verhältnis wird ein ganz anderes, wenn es sich um die begehrende Liebe handelt: ihre Qualität wird durch den Wert des Gegenstandes bestimmt. […] Nun kann zwar mit Recht gesagt werden, daß der hier angeführte johanneische Gedankengang nichts anderes als eine gewisse Unbestimmtheit in der Ausdrucksweise und Terminologie zu sein braucht, und daß es deshalb unberechtigt wäre, von hier aus Schlüsse über den Inhalt des johanneischen Agapebegriffs zu ziehen […] Das Agapemotiv ist bei Johannes nicht so bewußt reingezüchtet, daß es keine solche Verschiebung wie die oben angeführte zuläßt.“111

Carl Heinz Ratschow sieht das Gebot der Nächstenliebe im Alten Testament in Gottes Erwählungsliebe begründet, während es in jesuanischer Tradition mit Gottes Weltliebe und d. h. mit seinem Schöpfungshandeln begründet werde. Der Christ ist aufgerufen, diese Liebe Gottes nachzuahmen. Diese Liebe finde ihre Begründung daher gerade nicht, wie etwa bei Becker112 und Schottroff113 in ihrem Objekt. Schon in paulinischer Tradition werde die christliche Liebe jetzt aber wieder mit Gottes Erwählungshandeln begründet, so dass in der Geschwister- bzw. Bruderliebe wieder das Objekt der Liebe motivierende Qualität erhalte, bis in johanneischer Tradition schließlich die Geschwisterliebe als Freundschaft, die mit Nygren eine Teilklasse des Eros, nicht der Agape sei,114 als alleinige Liebe übrig bleibe: „Die Tat Jesu, die Nächstenliebe der Weltliebe Gottes verbunden zu haben, scheint nun bei Paulus in ihrer Eigenart nicht erkannt zu sein. Paulus ordnet nämlich die Agape Gottes als seine Erwählungsliebe dem Christen zu.“ „Diese starke christozentrische Verankerung der Bruderliebe hat den paulinischen Bezug der Erwählung in sich aufgenommen. Diese Agape ist daher streng auf die Gemeinde bezogen. Das ergibt sich aus ihrer christozentrischen Bindung. Daß diese Agape sich über die Gemeinde hinaus richten könnte, ist anscheinend gar nicht mehr ins Auge gefaßt. […] 1.Joh 2,15 verbietet es daher, die Agape auf den Kosmos und was zu ihm gehört zu richten.“ „Die Eigenart der Agape wird in diesen Wendungen verwischt. Dies wird besonders deutlich, wenn wir beachten, wie sich das Moment der Philia in den Bereich der Agape einschiebt. Agape und Philia sind gegensätzlich orientierte Formungen […] von der Nächstenliebe zur Bruderliebe sehen wir einen für das Verständnis der Agape gefährlichen Entwicklungsgang.“ „Der beobachtete Entwicklungsgang lehrt, wie die Agape in ihrem Wesen offenbar von Zerfall bedroht ist, wo 111 112 113 114

Nygren, A., Eros und Agape I, 135 f. Vgl. Becker, J., Feindesliebe, Nächstenliebe, Bruderliebe, 8. Vgl. Becker, J., Feindesliebe, Nächstenliebe, Bruderliebe, 197 – 204. Vgl. Ratschow, C.H., Nächstenliebe und Bruderliebe, hier 175.

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die Bruderliebe sich gegenüber der Nächstenliebe absolut setzt. Das Gemeindeverhältnis des Christen absorbiert sein Weltverhältnis.“115

Auch Ratschow ist also der Meinung, dass sich Nächstenliebe und Geschwister- bzw. Bruderliebe oder Freundschaft faktisch kontravalent verhalten, wenn man die Geschichte des christlichen Liebesbegriffs betrachtet.

4.2.1.2 Analyse der antithetischen Verhältnisbestimmung Wie sind nun diese Verhältnisbestimmungen zu verstehen? In den genannten Verhältnisbestimmungen wird Liebe in beiden Fällen – als Nächstenliebe und als Geschwisterliebe – offensichtlich entweder als Tat, oder korrekter, als Haltung verstanden. Gemeint ist damit die zunächst zweistellige, intentionale Relation, in der ein Relat – ein Christ – in der Relation der Liebe auf ein anderes Relat – ein Objekt – bezogen ist. Unter einer Haltung ist eine Handlungsdisposition zu verstehen, d. h. die Möglichkeit, dass ein bestimmtes Handlungsmuster durch das Handlungssubjekt aktualisiert wird, sofern sich ein geeignetes Objekt in raumzeitlicher Nähe befindet.116 Die Relation der Liebe besteht dabei primär darin, dass das Subjekt sucht, dem Objekt dasjenige Gute zu tun, was dem Objekt jeweils zum Besten ist. Insofern beinhalten Nächstenund Geschwisterliebe Wohlwollen. Diese Liebe ist am Bedürfnis orientiert, freilich nicht am eigenen, sondern an dem des Objektes. Der umgekehrte Fall, dass das Subjekt die Haltung einer Liebe einnimmt, in der es von einem potentiellen Objekt ein Gut für sich selbst erhalten will, also der Fall einer Liebe, die am eigenen Bedürfnis orientiert ist, scheidet – zumindest für die Nächstenliebe – zunächst aus, bei der Geschwisterliebe ist die Frage noch offen. Die Motivation zur Nächstenliebe und im johanneischen Fall auch zur Geschwisterliebe besteht nicht in dem Verhältnis von Subjekt und Objekt in der Liebe selbst, sondern in der Liebe Gottes zur Welt. Auf diese Weise kann sich die Nächstenliebe zwar am Bedürfnis des je anderen orientieren, ist aber nicht durch diese, sondern durch Gottes vorgängige Liebe, die ihr Liebenswertes nicht vorfindet, sondern ex nihilo, also voraussetzungslos, schafft,117 motiviert und gewissermaßen eine Entsprechung zu dieser Liebe Gottes. 115 Ratschow, C.H., Nächstenliebe und Bruderliebe, 173. 175. 178. 179 f. 116 Man könnte statt von einer Haltung auch von einer Gesinnung oder einem Habitus sprechen, wenn dies nicht missverständlich wäre. Die Rede von der Gesinnung ist missverständlich, weil sie, wie bei Fuchs, E., Was heißt „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“?, 4, Gesinnung gerade in Differenz zur aktualisierten Tat verstehen könnte und so die Pointe der Rede von Haltungen verfehlt. Die Rede vom Habitus ist missverständlich, weil sie eine Konstitution durch Habitualisierungsvorgänge nahelegen könnte. 117 Die markantesten Aussagen Luthers zu diesem Sachverhalt finden sich bekanntlich in der ersten Hälfte der 28. These der Heidelberger Disputation von 1518, WA 1, 365: Amor Dei non inuenit, sed creat suum diligibile („Die Liebe Gottes findet nicht, sondern schafft ihr Liebenswertes“), sowie deren Auslegung.

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Worin besteht nun der Unterschied zwischen Nächstenliebe und Geschwisterliebe in den genannten Verhältnisbestimmungen? Der Unterschied besteht zunächst einfach darin, dass die Klasse der Objekte im Falle der Nächstenliebe prinzipiell offen und unbegrenzt ist – paradigmatisch gehört auch und gerade der Feind dazu –, während sie im Fall der Geschwisterliebe offensichtlich extensional begrenzt ist.118 Nicht alle Menschen können Objekt der Geschwisterliebe sein, sondern nur die, die ebenfalls Christen sind. Nach johanneischem Verständnis (1.Joh 2,15) muss sogar ausgeschlossen werden, dass jemand, der nicht Christ ist, von einem Christen diese Geschwisterliebe erfährt. Man argumentiert also, dass durch diese Einschränkung der Extension sich nun auch die Relation der Haltung der Liebe ändert, denn nun ist diese Haltung nicht nur vorgängig durch Gottes Lieben motiviert, sondern auch von einer Eigenschaft des Objektes abhängig, eben dessen Christsein, und d. h. letztlich, davon, dass das Objekt eine entscheidende Eigenschaft besitzt, die auch das Subjekt besitzt. Damit wäre die Geschwisterliebe gerade Liebe nicht zum anderen, sondern zum eigenen. So entsteht aber nicht nur das Problem, dass die Liebe jetzt nicht allein in der Gottesrelation begründet ist, sondern auch an der Beschaffenheit des Objektes hängt, sondern es tritt auch ein Widerspruch gegen die inhaltliche Bestimmung der Gottesrelation ein, denn Gott liebt ja die Welt in seinem universalen, begründenden und erhaltenden Schöpfungshandeln, durch das er die Sonne über Gute und Böse, Christen und Nichtchristen scheinen lässt. Damit aber bleiben nur zwei Verhältnisbestimmungen zwischen Nächstenliebe einerseits und Geschwister- bzw. Bruderliebe oder Freundschaft andererseits übrig: Entweder sie schließen einander aus – so dass es sich bei der Bruderliebe letztlich nicht einmal um eine Defizienzform der Nächstenliebe handeln kann – oder die Bruderliebe ist als Steigerung der Nächstenliebe zu verstehen, wie es Gal 6,10 nahezulegen scheint. Aber auch diese zweite Möglichkeit scheidet aus: Denn einerseits müsste die Steigerung begründet werden, was wieder nur über eine im Objekt liegende vorzuziehende Eigenschaft, nämlich dessen Christsein, begründet werden könnte, so dass sich der Charakter der Liebeshaltung verändern würde. Anderseits wird – zumindest für den johanneischen Bereich – eine Steigerung gerade ausgeschlossen, wenn in 1. Joh 2,15 darauf verwiesen wird, dass alle Objekte, die die Eigenschaft des Nichtchristseins besitzen, gerade nicht geliebt werden sollen. So bleibt 118 Freilich ist eine universalistische Deutung des Nächstenliebebegriffs auch in neutestamentlicher Zeit nicht unproblematisch, vgl. Wischmeyer, O., Art. Liebe IV, hier 140. Immerhin scheint die Erwähnung des Gebots der Feindesliebe, das auf Jesus selbst zurückgehen mag (vgl. Lìhrmann, D., Liebet eure Feinde, hier 437), sprachlich notwendig zu sein, um diese Universalisierung vollständig zu beschreiben. Andererseits wird man aber die Universalisierung des Nächstenliebegebotes auch nicht einfach Jesus oder der neutestamentlichen Zeit als Erfindung zuschreiben können, da das Nächstenliebegebot durchaus schon im AT schöpfungstheologisch-anthropologisch mit dem Gedanken der gleichen Bedürftigkeit aller Menschen begründet sein könnte. Vgl. Schìle, A., Denn er ist wie Du, hier 533.

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schließlich nur das einander ausschließende Verhältnis von Nächstenliebe und Geschwisterliebe übrig.

4.2.1.3 Problematik und Ursprung der antithetischen Verhältnisbestimmung Diese zuletzt gegebene Analyse soll erklären, welches Grundmuster der Verhältnisbestimmung der Entgegensetzung von Nächstenliebe und Geschwisterliebe zugrunde liegt. Nun entsteht aber das Problem, dass eine positive Verhältnisbestimmung von Nächstenliebe und Bruderliebe nicht mehr möglich zu sein scheint. Will man aber nicht einseitig die johanneischen Schriften als deuterokanonisch brandmarken und mit der Schere die anstößigen Passagen aus der paulinischen Literatur entfernen, bleibt man vor der Aufgabe einer positiven Verhältnisbestimmung stehen. Auch Ratschow sieht darin eine wichtige Aufgabe, deren Lösung er sich freilich in seinem Aufsatz nicht mehr selbst annimmt: „Sehen wir von hier aus auf das Verhältnis von Nächstenliebe und Bruderliebe, so bemerken wir, daß die sie tragende und hervorrufende Agape Gottes im christlichen Bewußtsein eine ist. Das heißt, die Charakterisierung der Nächstenliebe von Gottes Welthandeln in Regen und Sonnenschein aus (Mt 5, 45) und die Kennzeichnung der Bruderliebe von Jesu erlösender Liebe aus (Joh 13, 34) müssen zusammen geschaut werden.“119

Damit stellt Ratschow uns exakt die Aufgabe, die es hier zu lösen gilt, und deutet mit den Sachverhalten, die er „Gottes Welthandeln“120 und „erlösende Liebe“ nennt, bereits fruchtbare Lösungsmöglichkeiten an. Diese Aufgabe ist nicht fakultativ, denn das Christentum hat zu allen Zeiten daran festgehalten, dass Gottes Heilshandeln Gottes Schöpfungshandeln voraussetzt und nicht vernichtet. Unter der Voraussetzung, dass sich die Geschwisterliebe tatsächlich aus Gottes versöhnendem und heiligendem Handeln ergibt, ist der Nachweis einer positiven Verhältnisbestimmung damit ein notwendiger Kohärenztest des Christentums. Bevor wir uns aber einer dieser positiven Lösungsmöglichkeiten zuwenden, muss noch gesagt werden, welches Element der Analyse von Nächstenliebe und Geschwisterliebe, wie wir es eben gegeben haben, derjenige Faktor 119 Ratschow, C.H., Nächstenliebe und Bruderliebe, 181. 120 Ratschow unterscheidet zwischen dem inhaltlich definierten Heilshandeln in Jesus Christus und dem – für uns – nicht eindeutig identifizierbaren Welthandeln Gottes. Diese Terminologie könnte insofern missverstanden werden, als sich auch Gottes Heilshandeln – in Versöhnung und Vollendung – eben auf die Welt bezieht, so dass auch Gottes Heilshandeln als Welthandeln bezeichnet werden kann. Die gesamte heilsökonomische Trinität wäre von hier aus als „Gottes Welthandeln“ zu bezeichnen, während ihre Bedingung der Möglichkeit in Gottes Wesen gerade auch als Handeln, aber als immanentes, nicht eben als Handeln an der Welt, zu bezeichnen wäre.

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ist, der zu der kontravalenten Verhältnisbestimmung führt. Der problematische Faktor ist nicht die unterschiedliche Extension des Objekts der Liebe – einmal unbegrenzt, einmal eingeschränkt – und auch nicht die Motivationsrelation in der Liebe Gottes, sondern er besteht in einem scheinbar gemeinsamen Merkmal von Nächstenliebe und Geschwisterliebe: Beide werden als Haltung betrachtet. Diese scheinbar harmlose Klassifikation ist der entscheidende Faktor, der der kontravalenten Verhältnisbestimmung zugrunde liegt, weil er ermöglicht, dass beide, Nächsten- und Geschwisterliebe, zur gleichen Gattung gehören und daher überhaupt verglichen werden können und die eine an der anderen gemessen werden kann. Im Folgenden ist zu zeigen, dass die gemeinsame Klassifizierung von Nächsten- und Geschwisterliebe falsch ist, d. h., dass die Klassifizierung als Haltung in dem einen Fall, nämlich dem der Nächstenliebe, zutreffend ist, in dem anderen Fall, dem der Geschwisterliebe, aber nicht. Damit ergibt sich aber nicht nur keine direkte Vergleichbarkeit und also auch kein ausschließendes Verhältnis von Nächstenund Geschwisterliebe, sondern es wird zu zeigen sein, dass beide einander notwendig ergänzen. 4.2.2 Eine positive Verhältnisbestimmung zwischen Nächstenliebe und Geschwisterliebe 4.2.2.1 Intentionale Haltungen und reale Beziehungen Liebe ist nicht immer eine Haltung. Sie ist dies dann, wenn sie nur Wohlwollen oder nur das Streben nach Befriedigung bestimmter eigener Bedürfnisse ist oder wenn dies wechselseitig der Fall ist. Liebe kann auch eine reale Beziehung, ein reales Verhältnis sein. Haltungen sind demgegenüber intentionale Beziehungen, d. h., es ist möglich, dass sie aktualisiert werden oder nicht. Für reale, dauerhafte Beziehungen hingegen gilt dies nicht, denn diese haben einfach den Modus der Faktizität. Sie sind, wie sie sind. Und Liebe kann auch eine solche reale Relation sein – schon im geschöpflichen Bereich, etwa in filialen Beziehungen oder in Beziehungen zwischen Geschwistern. Man ist hier einfach Sohn oder Tochter oder Vater oder Mutter oder Bruder oder Schwester und hat weder die Wahl, dies zu sein oder nicht zu sein, noch diese Beziehung beenden zu können, auch wenn uns dies Dialoge in schlechten Filmen („Du bist nicht länger mein Sohn“) suggerieren mögen. Aber für reale Beziehungen ist es nicht entscheidend, dass sie unverlierbar sind, quasi einen character indelebilis haben, sondern dass sie einfach faktisch vorhanden sind. Einige sind selbstverständlich verlierbar. Auch Freundschaften oder Lebenspartnerschaften sind Liebe in Form solcher realen Beziehungen im Modus der Faktizität. Und die Bruder- bzw. Geschwisterliebe oder Freundschaft, von der in der johanneischen Literatur die Rede ist, ist eben eine solche reale Beziehung, während es die Nächstenliebe nicht ist.

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Der entscheidende Unterschied zwischen Liebe als Haltung und Liebe als realer Relation ist die Differenz von Möglichkeit und Faktizität. Daraus ergibt sich sofort ein weiterer wichtiger Unterschied: Das, was möglich ist oder möglicherweise nicht ist, kann, sofern es sich um Handlungen, Handlungsmuster oder Gesinnungen handelt, von einer Instanz geboten werden, d. h., es kann die Form des Gesetzes annehmen. Das, was Faktizität ist, kann nicht die Form eines Gebotes oder Gesetzes annehmen. Nun ist zu zeigen, dass die Haltung der Nächstenliebe eben ein solches Gebot oder Gesetz ist, das konstruktiv auf die Geschwisterliebe als reale Relation bezogen ist.

4.2.2.2 Die realen Beziehungen von Gottes Liebe als Ursprung der realen Beziehungen zwischen den Geschöpfen als existierende und zurechtgebrachte Geschöpfe Wir können nun die Liebesbeziehung Gottes zum Menschen als reale Relation verstehen, die auf weltlicher Seite voraussetzungslos, ex nihilo, den Menschen schafft und erhält. Diese Relation schließt – gleichsam als Schöpfungsordnung – den Imperativ, Gott und den Nächsten zu lieben, ein, d. h. die Aufforderung an den Menschen, die Haltung der Nächstenliebe zu aktualisieren. Der Mensch unter den Bedingungen des Falls kann aus dem Gebot der Nächstenliebe, d. h., seinen Nächsten so zu lieben, wie der Mensch sich unter den Bedingungen des Falls selbst fälschlich liebt,121 erkennen, dass ihm selbst die Erfüllung, d. h. die Einnahme und Aktualisierung dieser Haltung, nicht möglich ist. Dank Gottes trinitarischem Heilswirken in Versöhnung und Heiligung – einschließlich der Mitarbeit der Geschöpfe in der Verkündigung des Evangeliums – zeigt sich Gottes voraussetzungslose Liebe als reale Beziehung noch in einer anderen Weise: als Heil schaffend, wo kein Heil ist. Dieses Heil besteht nun darin, dass der Mensch seinerseits der Relation der filialen Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen entsprechen kann, indem er Gott wieder vertraut bzw. glaubt. Damit 121 Die Aufforderung, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, enthält nach Luther keine Aufforderung zur Selbstliebe. Der Zusatz „wie dich selbst“ hat lediglich exemplarischen Charakter und gehört nicht mehr zum Gebot. Der Mensch kennt die Pervertierung der Liebe im amor sui als Tatsache seines faktischen Lebens. Diese Tatsache kann als Beispiel auch für die korrekte Liebe dienen: „Liebe deinen Nächsten, auf die Weise, wie du dich jetzt selbst fälschlich liebst“, vgl. z. B. WA 56, 518, Z.4 – 10. WA 2, 580 f, Z. 29 f, WA 57 II, 100, Z. 18 – 23. Diese Deutung widerspricht inhaltlich nicht der neuerdings von Schìle, A., Denn er ist wie Du, vertretenen Deutung des „wie Dich selbst“ als „Denn er ist wie Du“ im Sinne der gleichen Bedürftigkeit der Menschen als Geschöpfe Gottes, sondern setzt die gleiche Bedürftigkeit gerade voraus. Dennoch ist festzuhalten, dass die Fähigkeit zur Selbstliebe keine Bedingung zur Nächstenliebe sein kann. Selbstliebe ist weder temporär vorgängig noch eine notwendige oder gar hinreichende Bedingung der Nächstenliebe oder der Gottesliebe. Vielmehr ist positiv zu bewertende Selbstliebe eine Folge des durch Gott zurechtgebrachten Gottesverhältnisses im Glauben, dessen Folge die Nächstenliebe ist. Dann ist reflexive Selbstliebe aber höchstens gleichursprünglich mit Nächstenliebe, wenn nicht zeitlich oder logisch nachgängig.

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besteht nun zwischen Gott und Mensch nicht einfach die reale Relation der Geschöpflichkeit, sondern die reale Relation einer filialen Beziehung, d. h. das geheilte Gottesverhältnis. Durch diese beiden realen Relationen der Liebe Gottes zum Menschen bestehen aber zwischen den Menschen selbst zwei reale Relationen: Durch Gottes schöpferisches Handeln besteht zwischen den Menschen die reale Relation der Mitgeschöpflichkeit. Durch den Fall ist sie – genauso wie die Gottesbeziehung – gestört. Durch Gottes zurechtbringendes Handeln, durch das die Menschen Töchter und Söhne Gottes werden, besteht zwischen den Töchtern und Söhnen Gottes die reale Beziehung der Geschwisterliebe. Diese realen Relationen sind für die Existenz und Identität der Menschen nicht äußerlich, sondern tragen vielmehr zu deren Konstitution bei. Verstehen wir in diesem Modell die johanneische Bruderliebe, wird nicht nur deutlich, wie das Sein in und von Gott die Liebe zwischen denen, die in und von Gott sind, begründet (1.Joh 4,7 f). Es wird auch deutlich, dass jemand, der in eben einer solchen realen Beziehung, die identitätsstiftend ist, nicht zu Gott und den Mitgeschwistern, sondern zur gefallenen Welt steht, eben durch diese Relation seine Identität gestiftet bekommt, d. h.: Er selbst erhebt den Identitätsanspruch, durch die gefallene Welt konstituiert zu sein. Er besitzt also nicht die Fähigkeit, sich selbst von der Sünde zu unterscheiden. Daher ist es mit 1.Joh 2,15 auch ganz korrekt, wenn eine solche identitätsstiftende Beziehung verworfen wird. Das Problem, das sich in der johanneischen Literatur findet, liegt nicht in der Beschreibung der Bruderliebe in ihrer Begründung von Gott her oder in ihrer Extension, sondern darin, dass sie im Modus des Gebotes gefasst ist. Freilich ist dieses Faktum erklärlich: Wenn eigentlich über die Geschwister- bzw. Bruderliebe nur im Modus der Deskription gesprochen werden kann, dies aber nicht geschieht, so dürfte sich dahinter die Erfahrung der Zurechtgebrachten verbergen, simul iusti et peccatores zu sein, d. h., in via immer unter Anfechtung und Versuchung zu leben. Die johanneischen Gemeinden deuten diesen Sachverhalt, der sich im Bruderzwist innerhalb der Gemeinde äußert122, aber nicht auf diese Weise, sondern sie sehen die Gefahr, dass sie in der Liebe nicht vollkommen sind. Folglich ergeht ein Imperativ an einer Stelle über einen Sachverhalt – die Geschwister- bzw. Bruderliebe –, der insofern sinnlos ist, weil sich diese reale Beziehung nicht gebieten lässt. 4.2.2.3 Geschwisterliebe und Nächstenliebe Inwiefern sind nun die gebotene Haltung der Nächstenliebe und die reale Relation der Geschwisterliebe aufeinander angewiesen? Auf verschiedene Weise kann gezeigt werden, dass reale Beziehungen der Liebe nicht zweistellige Beziehungen zwischen einem Liebendem und einem Geliebten sind, sondern zumindest intentional, wenn nicht sogar real, ein drittes Relat er122 Vgl. Klauck, H.-J., Der erste Johannesbrief (EKK 23/1), 124 ff.

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fordern; dass sie nicht nur zwischen einem Liebenden und einem Geliebten bestehen, sondern einen „Mitgeliebten“ oder zumindest etwas „Mitgeliebtes“ erfordern.123 Betrachten wir einige Beispiele: Wenn in reziproken Liebesbeziehungen sich beide Partner in ihrem Wollen und Handeln jeweils am anderen orientieren, sie aber nicht noch in anderen gemeinsamen Beziehungen zu dritten stehen, etwa zum Erwerb gemeinsamen Eigentums, zu einem gemeinsamen Beruf, zu gemeinsamen Kindern etc., „drehen sie sich nur um sich selbst“. Denkt man diese Möglichkeit radikal zu Ende und ginge in einem Gedankenxperiment davon aus, dass die Welt nur aus den beiden Liebenden bestünde, wären sie zur Untätigkeit und zum Nichts-mehr-wollen verdammt, da sie sich in der Orientierung einzig am anderen gegenseitig lähmen. Dieses Prinzip gilt aber auch für weniger reziproke Formen der Liebe. Möchte jemand aus Wohlwollen jemand anderem etwas Gutes tun, setzt dies voraus, dass der andere einen Mangel an etwas Drittem verspürt, der zu stillen ist. Wir brauchen hier die Beispiele nicht fortzusetzen, sondern gehen davon aus, dass diese Struktur für reale Liebesbeziehungen gilt. Dieser Sachverhalt ist nun für die zurechtgebrachte reale Liebesbeziehung zwischen Gott einerseits und den Geschwistern im Glauben andererseits, d. h. den Zurechtgebrachten, bedeutsam. Denn diese Beziehung benötigt ebenfalls ein drittes Relat, besteht aber zunächst nur aus zwei Relaten: Gott und den Zurechtgebrachten.124 Gibt es hier ein gemeinsames Projekt125 ? Naheliegend ist m. E. zu sagen, dass das gemeinsame Projekt in via darin besteht, dass Gott weiterhin Glauben bei anderen, Nichtglaubenden schaffen will und die bereits glaubende Gemeinde ihren Glauben gegenüber (sich selbst) und den Nichtglaubenden bezeugt. Im Zeugnis bleiben daher die Geschwister der Gemeinde notwendig auf die Nichtglaubenden verwiesen, ohne dass sie freilich mit diesen in der identitätskonstitutiven Liebesbeziehung stünden, in der sie zu Gott und den Geschwistern stehen. Und die Realisierung dieser Beziehung der Glaubenden zu den Nichtglaubenden geschieht in der Verkündigung. Diese aber zerfällt in zwei Aspekte: Einerseits ist zu verkündigen, dass Gottes Liebe 123 Vgl. z. B. Richard von St.Victor, De Trinitate, 3, 11. 15, 190 – 194. 202. 124 Ritschl kann diese Relation auch beschreiben mit den Relaten: Gott und das Reich Gottes. Ritschls Einsicht, die einzelnen Glaubenden hier zum Reich Gottes zu verbinden bzw. primär von diesem aus zu denken, ist daher völlig korrekt und beinhaltet gegen Sch•fer, R., Ritschl, 140 f keinen Kollektivismus. Vgl. Ritschl, A., RuV 3, 266 f; Ritschl, A., Unterricht, § 5, 2 f. 125 Die Bezeichnung des dritten Relats einer Liebesbeziehung als „Projekt“ hat gerade den Vorteil, dass sie nicht notwendig personal ist, aber personal sein kann. Ein Projekt ist etwas auf die Zukunft Gerichtetes. Damit kann es eine gemeinsame Tätigkeit zweier sein, aber auch eine dritte Person, wenn Personalität in via als unabgeschlossen betrachtet wird. Der Nachteil, mit der Rede vom „Projekt“ als drittem Relat nicht sofort die Personalität des Heiligen Geistes aufzeigen zu können, wenn man diesen Liebesbegriff für die Trinitätslehre fruchtbar machen will, wird durch den Vorteil ausgeglichen, sowohl Gott als Liebe innerhalb der Trinität als auch die Erfahrung menschlicher Phänomenalität der Liebe unter einem einheitlichen Begriff mit je spezifischen Differenzen bestimmen zu können.

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existenz- und identitätskonstitutiv ist, die personalen Geschöpfe sich aber dieser Liebe verweigern. Andererseits ist zu verkündigen, dass Gott selbst die Geschöpfe zur Entsprechung führen wird. Der erste Aspekt erfolgt, indem das Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten verkündet wird, das präzise den pragmatischen Zweck hat zu zeigen, dass eben die Erfüllung für den Menschen unter den Bedingungen des Falls unmöglich ist. Der zweite Aspekt sagt: „Gottes voraussetzungslose Liebe wird Dich vertrauen lassen; Du wirst mit Gott und deinen Geschwistern in der Gemeinde in Liebesbeziehungen stehen, die eine heile Identität ermöglichen, und Du wirst auch deinen nichtglaubenden Nächsten gegenüber die Haltung der Nächstenliebe einnehmen, indem Du ihnen – in Worten oder Taten – diese beiden Aspekte der Verkündigung erzählst.“ Der Aspekt der Evangeliumsverkündigung hat daher nicht nur eine rekursive oder selbstreferentielle Struktur ; er schließt auch notwendig die Haltung der Nächstenliebe mit ein; und zwar als verkündigte in Gebotsform wie auch als nun tatsächlich aktualisierte. Aber diese Aktualisierung der Haltung der Nächstenliebe einschließlich der Feindesliebe ist nur möglich, wenn man selbst zuvor in den realen, narrativen Liebesbeziehungen der Kinder Gottes des Vaters und Geschwister (oder Freunde) Jesu Christi gestanden hat. Mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Liebe als realer, narrativer Beziehung und Liebe als Haltung lassen sich auch missverständliche Zuordnungen von „Glaube“ und „Liebe“ vermeiden. Denn innerhalb der filialen realen Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch besteht notwendig von Seiten des Menschen in Richtung Gottes der Glaube als Vertrauen als korrekte Haltung,126 nicht aber eine Haltung der Liebe im Sinne des Doppelgebots, so dass die GottMensch-Beziehung gerade vollständig als reale Liebesbeziehung erfasst werden kann und gleichzeitig das problematische Konzept der fides caritate formata vollständig abgewiesen werden kann. Zusammenfassend können wir sagen: Die christliche Geschwisterliebe schließt eine ebensolche für den Liebenden identitätskonstitutive reale Beziehung zur gefallenen Welt aus, beinhaltet aber gerade Nächstenliebe als Haltung. Die Nächstenliebe zielt auf Geschwisterliebe, über deren Herbeiführung sie aber nicht selbst verfügen kann, denn diese bleibt vom Handeln Gottes abhängig. Beide schließen sich gerade nicht aus, weil die Geschwisterliebe als reale, identitätskonstitutive Beziehung zu verstehen ist, die Nächstenliebe aber als intentionale Beziehung einer Haltung zu verstehen ist. Die christliche Nächstenliebe findet eine ihrer Bedingungen der Möglichkeit gerade in der Geschwisterliebe, die in der vorgängigen Liebe Gottes begründet ist.127

126 Oder wie es Jìngel, E., Gott als Geheimnis der Welt, 468, treffend formuliert: „Daß ich geliebt werde, läßt sich ,nur‘ glauben.“ 127 Insofern ist mit Fuchs, E., Was heißt „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“?, 19,

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4.2.3 „Gott ist Liebe“ als Voraussetzung der voraussetzungslosen Liebe Gottes Wir haben nicht nur gesehen, wie Nächstenliebe und Geschwisterliebe einander ergänzen, da sie kategorial, die eine als Haltung, die andere als reale Beziehung, voneinander unterschieden sind, sondern auch, dass beide instand gesetzt werden durch Gottes voraussetzungslose Liebe zu seinen Geschöpfen. Diese Liebe Gottes selbst ist ökonomisch trinitarisch vermittelt, wie 1.Joh 4, 7 – 21 zeigt: Die Liebe Gottes ist erschienen, da Gott seinen Sohn zum Leben seiner Geschöpfe gesandt hat (1.Joh 4,9 f. 14 f). Dass man in dieser durch des Sohnes Versöhnungswerk instand gesetzten Liebe steht, erkennt man an der Sendung des Geistes (1. Joh 4,13) und seiner Gaben in Zuversicht und Furchtlosigkeit (1.Joh 4,17 f). Diese ökonomisch trinitarische Liebe besitzt also unhintergehbar eine narrative Struktur einschließlich mehrerer göttlicher Akteure. Uns bleibt nun noch übrig zu fragen, in welchem Sinne diese voraussetzungslose Liebe Gottes voraussetzungslos ist und in welchem Sinne nicht. Gottes Liebe muss streng in Entsprechung zur creatio ex nihilo interpretiert werden, d. h., sie darf in ihrem Liebesobjekt, den Geschöpfen, keine Voraussetzung haben, auch nicht die Voraussetzung deren Existenz, wenn die beschriebene konstitutive, d. h. schöpferische, und rekonstitutive, also rechtfertigende, Funktion der Liebe Gottes gewahrt bleiben soll. Damit entsteht nun aber ein Problem: Wir hatten gesehen, dass diese Liebe Gottes selbst eine reale Beziehung ist, wenn sie diese existenzkonstitutive und identitätskonstitutive Funktion für die Geschöpfe wahrnehmen soll. Der Widerspruch entsteht, weil diese Liebesbeziehung dann selbst für Gott existenzkonstitutiv und identitätskonstitutiv wäre, was aber ausgeschlossen werden muss. Dann bleibt aber die Frage, ob Gott selbst willkürlich liebt, frei in dem Sinne ist, dass er zwischen Liebe und Nichtliebe die Wahl hätte. Bejaht man diese Frage, wird die beschriebene konstitutive Verschränkung zwischen der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen und der Liebe der Geschöpfe untereinander in Geschwisterliebe und Nächstenliebe aber wieder fragwürdig. Dieses Dilemma lässt sich systematisch vermeiden, wenn Gott selbst Liebe ist, wie es 1. Joh 4,8.16 voraussetzt, aber nicht expliziert. Die Lösung dieses Dilemmas ist die indirekte biblische Grundlage für die systematisch-theologische Rede von Gottes Wesen als Liebe: Gott kann voraussetzungslos die Welt lieben in dem Sinne, dass es von Seiten der Welt keine Voraussetzungen für Gottes Liebe gibt, weil Gott in sich selbst die Voraussetzung erfüllt, Liebe zu sein. Diese Liebe, die Gott selbst ist, bedarf nun einer weiteren systematisch-theologischen Bestimmung im Rahmen der Trinitätslehre. Hierbei bieten sich zwei Möglichkeiten an: Einerseits kann Gott Liebe im augustinisch-barthianischen Stil sein. Dann wäre die und anderen gerade zu betonen, dass die christliche Nächstenliebe mit einer humanistischen Menschheitsliebe nichts zu tun hat.

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göttliche Essenz sich selbst liebend (Augustin)128, oder das göttliche Ereignis der Liebe wäre sich selbst, gleichsam als liebende Liebe, liebend (Barth)129. Fasse das, wer will! Oder Gott ist andererseits selbst die ewige reale kommunikative und ereignishafte Relation der Liebe etsi mundus non daretur.

4.3 Gelegenheit zur Liebe: Diakonisches Handeln Menschen als Bilder der Liebe Gottes können ihr eigenes Sein nur nach der Zurechtrückung und Rechtfertigung verstehen. Sie leben aber stets mit Menschen zusammen, denen nicht diese Einsicht zu unterstellen ist. Niergends kommt dies so deutlich zum Ausdruck, wie in der Tatsache, dass die Gemeinschaft der zurechtgerückt Liebenden und bleibend auf Zurechtrückung Angewiesenen als Ausdruck ihrer Liebe diakonisches Handlen praktiziert. Will man diakonisches Handeln mit dem Liebesbegriff begründen, sind zwei Anforderungen zu stellen: Einerseits muss die deskriptive Wirklichkeit diakonischen Handelns beschrieben werden können, andererseits muss diakonisches Handeln normativ begründet werden können. Oder anders ausgedrückt: Wie sieht diakonisches Handeln faktisch aus? Und: Warum sollen wir an wem diakonisch handeln? Die letzte Frage impliziert, dass (vorläufig) von mindestens zwei Relaten oder Beziehungspunkten zu sprechen ist: Der Helfende und der, dem geholfen werden soll. Es geht hier also um die beiden Teilfragen: Wem soll geholfen werden und warum eigentlich? Und: Wer soll helfen und warum? Die letzte Frage der Normativität schließt dabei die Frage der Motivierbarkeit der Helfenden mit ein. 4.3.1 Begründungsstrategien In der Gegenwart wird zur Begründung diakonischen wie ethischen Handelns im Rahmen der Personalethik häufig der Begriff der Würde des Menschen herangezogen, und der Begriff der Menschenwürde erfreut sich – veranlasst durch sein Erscheinen im Grundgesetz an prominenter Stelle – einer Hochkonjunktur. Dies ist aber nicht unproblematisch: Denn die Frage, wem diakonisch geholfen werden soll, ist nur scheinbar einfach zu beantworten: Jedem, der der Hilfe bedürftig ist. In den Gesellschaften der Gegenwart entpuppt sich diese Antwort aber als problematisch, denn es ist nicht nur unklar, in welcher Weise diese Hilfe geschehen soll, sondern es stellt sich auch das Problem, dass aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten offensichtlich nicht mehr jedem in gleicher Weise geholfen werden kann. Diese Schwierigkeit 128 Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 89 – 93. 129 Vgl. Barth, K., KD I/1, 392.387 f und Mìhling, M., Gott ist Liebe, 111.

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kulminiert in der Frage: Wer ist der Hilfe nicht nur bedürftig, sondern wer ist ihr würdig? Die neoutilitaristische Ethik scheint hier gegenüber den klassisch christlichen oder humanistischen Lösungen praktikable Hilfen zu versprechen, denn sie misst mögliche Hilfeleistungen nicht nur an der Hilfsbedürftigkeit, sondern auch am Erfolg. Eine allgemeine Menschenwürde nur aus Gattungszugehörigkeit wird so von utilitaristischer Seite bestritten, ja sogar in Analogie zum Rassismus als Speziesismus verschrien: Nicht jeder, der der Gattung Mensch zugehört, hat u. U. auch die entsprechende Würde. U.U. gibt es auch Angehörige anderer Gattungen, denen die gleiche Würde gebührt130. Allgemein akzeptiert scheint in den ethischen Debatten dabei zu sein, die Frage nach der Menschenwürde auf die Frage der Personwürde zu reduzieren: Jeder, der eine Person ist, hat die Würde, die die Hilfswürdigkeit begründet. Wer ist aber eine Person? 4.3.2 Personen Die Frage, wer eine Person ist, kann unterschiedlich beantwortet werden. Dabei lassen sich drei Typen von Persondefinitionen unterscheiden, die alle ihre geschichtlichen Paradigmata haben:

4.3.2.1 persona est rationa(bi)lis naturae individua substantia Auf Boethius geht die erste Definition zurück: Eine Person ist eine individuelle Substanz einer vernünftigen oder zur Vernuft fähigen Natur.131 Hier streiten sich die Exegeten, ob es „vernünftig“ oder „zur Vernunft fähig“ heißen muss, denn in den Handschriften findet man beides: sowohl rationalis als auch rationabilis.132 Was ist der Unterschied? Im ersten Fall geht man davon aus, dass einer Person eine bestimmte Eigenschaft, nämlich die Eigenschaft rationalis, man könnte sagen „vernünftig, kommunikationsfähig etc.“ zukommen muss, um als Person gelten zu können. Die Konsequenzen sind klar : Jedem der Gattung Mensch, dem diese Eigenschaft nicht zukommt – Kindern unter zwei Jahren, Schlafenden, Komatösen oder Demenzkranken –, kann nicht als Person gelten.133 Umgekehrt müssten Angehörige anderer Gattungen, u. U. Menschenaffen, die vernünftiges Verhalten aufweisen, als Personen gezählt werden. Diese utilitaristische Interpretation der Personalität kann so auf die erste Möglichkeit der Auslegung des 130 Vgl. Singer, P., Praktische Ethik, 147 – 158. 131 Zur boethianischen Definition vgl. Schlapkohl, C., Persona est naturae rationabilis individua substantia. 132 Vgl. Schlapkohl, C., Persona est naturae rationabilis individua substantia, 56. 133 Vgl. Singer, P., Praktische Ethik, 177 – 277 und jüngst Giubilini, A./Minerva, F., After-Birth Abortion. Why should the Baby live?

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boethianischen Personenbegriffs, der übrigens ursprünglich für Zwecke der Christologie entworfen war, zurückgeführt werden. Dieser utilitaristischen Interpretation wird eine andere Interpretation entgegengehalten, die nicht eine aktuale Eigenschaft, sondern deren Potentialität betont. Es geht darum, dass nicht die Fähigkeit, vernünftig oder kommunikabel zu sein, besteht, sondern nur die Möglichkeit dazu.134 Der Vorteil dieser Interpretation besteht darin, dass nun die Personalität etwa auch Kindern unter zwei Jahren und Schlafenden zugewiesen werden kann. Der Nachteil besteht darin, dass auch hier die Konsequenz besteht, dass es zweifelsfrei Angehörige der Gattung Mensch gibt, die die entsprechende Fähigkeit unwiderruflich verloren haben. Prinzipiell ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass es nicht entscheidend ist, wie man rationalis oder rationabilis übersetzt, oder welche Eigenschaft man auch immer an die Stelle dieser Termini setzt. Entscheidend ist, dass es sich um Eigenschaften handelt, dass also Individuen unter bestimmte Klassen subsummiert werden. Allein dieses sprachlogische Vorgehen lässt immer die Möglichkeit zu, dass bestimmte Individuen nicht unter diese Klasse fallen bzw. dass bestimmten Individuen diese Eigenschaften nicht zukommen. Diese eigenschaftstheoretische Begründung von Personenwürde führt daher aus sprachlogischen Gründen prinzipiell nicht zu einer Begründung der allgemeinen Menschenwürde, wie sie hier wünschenswert erscheint.

4.3.2.2 Eine Person ist ein durch eine die Würde betreffende Proprietät unterschiedenes Individuum Die zweite Möglichkeit, von Personalität zu reden, setzt direkt mit dem Würdebegriff ein. Meist ist nicht bekannt, dass diese Definition auf Alexander von Hales zurückgeht135 und ursprünglich gerade nicht die Egalität einer Menschenwürde zu begründen suchte. Alexander orientiert sich in seiner Persondefinition an dem antiken Begriff der Amtswürde: So wie unterschiedlichen Ämtern eine unterschiedliche Würde zukommt, so kommt unterschiedlichen Personen eine unterschiedliche Würde zu. So wie einem Bürgermeister eine andere Würde als einem Pastor oder einem Bäcker zukommt, so beruht der Unterschied zwischen Personen auf deren unterschiedlicher Würde. Alexander ist hier also mit einem anderen Problem der Personalität beschäftigt: Er hat nicht unser modernes Problem der Frage nach der Menschenwürde, sondern er versucht eine Antwort auf die Frage zu geben: Was unterscheidet eigentlich Personen voneinander? Es liegt auf der Hand, dass gerade dieser Begriff der Würde nicht geeignet ist, eine Antwort auf unsere Frage zu geben und letztlich an denselben sprachlogischen Problemen 134 Vgl. Schlapkohl, C., Persona est naturae rationabilis individua substantia, 269 – 293. 135 Vgl. Schlapkohl, C., Persona est naturae rationabilis individua substantia, 170 – 188.

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wie die erste Persondefinition krankt. In der Geistesgeschichte ist daher ein anderer wichtiger Vertreter zu nennen, der Personalität mittels des Würdebegriffs zu bestimmen versuchte. Immanuel Kant hat in einer seiner Bestimmungen des kategorischen Imperativs von Personen so gesprochen, dass Personen mit anderen Personen immer so umzugehen haben, dass sie sie nicht allein als Handlungsmittel, sondern zugleich immer auch als Handlungszweck in Betracht zu ziehen haben.136 Diese neuzeitliche Persondefinition, die auf bestimmten Handlungsweisen zwischen Personen, also auf bestimmten Relationen zwischen Personen beruht, leitet daher zur dritten Persondefinition über – zu der Richards von St. Victor :

4.3.2.3 Eine Person ist eine inkommunikable Existenz, d. h., eine Person ist ein nichtmitteilbares Voneinander-und-Füreinandersein137 Richard gewinnt seinen Personbegriff aus der Trinitäslehre und bestimmt zunächst göttliche Personen, dann aber auch engelische und menschliche Personen so, dass sie durch ihre Beziehungen, in denen sie stehen, von denen sie herkommen und zu denen sie hingehen, bestimmt sind. Man könnte also sagen: Eine Person ist jemand, der mit anderen Personen in personalen Beziehungen steht. Diese Definition scheint nun zwar fähig zu sein, einen umfassenden Begriff einer Personwürde, der den Begriff der Menschenwürde einschließt, erklären zu können, hat aber das Problem der Rekursivität: In der Definition erscheint der Begriff dessen, was definiert werden soll, letztlich wieder. Dieses Problem lässt sich nur lösen, wenn man bestimmen kann, was das personale an „personalen Beziehungen“ ist.

4.3.3 Personale Beziehungen sind Liebesbeziehungen! Um diese These, die sowohl eine Antwort auf den deskriptiven Aspekt als auch auf den normativen Aspekt der Begründung diakonischen Handelns einschließlich der Fragen, wem warum geholfen werden soll, und wer warum helfen soll, zu geben vermag, verstehen zu können, ist es zunächst notwendig zu beschreiben, was unter Liebe verstanden sein soll. Dazu sind einige Distinktionen nötig:

136 Vgl. Kant, I., GMS AA, 429,10 – 12. 137 Vgl. Richard von St.Victor, De Trinitate, 4,18.

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4.3.3.1 Liebe ist nie nur ein Gefühl oder ein Affekt! Affekte oder Gefühle sind Empfindungen der Lust oder Unlust, die durch eine intentionale Relation zu realen Gegenständen ausgelöst werden. Das unterscheidet sie von Sentimentatlitäten, die eine Lust- oder Unlustempfindung auch aufgrund fiktiver Gegenstände zulassen.138 Demgemäß wäre das unangenehme Empfinden der Betroffenheit beim Lesen eines tragischen Liebesromanes kein Gefühl, sondern eine Sentimentalität. Die Betroffenheit, die man empfindet, wenn man von einem Unglück einer anderen Person hört, wäre demnach ein Gefühl, aber keine Sentimentalität. Beides ist aber noch nicht Liebe. Zwar gehören zur Liebe auch Gefühle, so wie zu einer Tür eine Türklinke gehört, damit sie sinnvoll als Tür genutzt werden kann. Aber Liebe in einem weiteren Sinne ist genausowenig ein Gefühl wie eine Tür eine Klinke ist. Liebe ist mehr. Sie ist nicht nur eine intentionale Relation, sondern eine reale Relation. Sie ist Interaktion oder treibt zur Interaktion.

4.3.3.2 Liebeshaltungen Wenn Liebe zur Interaktion treibt, ist sie eine Haltung oder eine Handlungsdisposition:139 Zu nennen ist hier die Haltung der Liebe als Begehren: „Ich liebe Erdbeeren“ heißt: Immer dann, wenn ich in raumzeitliche Nähe zu realen Erdbeeren komme, werde ich versuchen sie zu erlangen und zu verspeisen, weil ich mir ein Gut von dem geliebten Gegenstand, etwa einen kulinarischen Genuss, verspreche. Dieselbe Haltung der Liebe als Begehren kann auch Menschen entgegengebracht werden. Dies kommt etwa in Filmtiteln wie „Blondinen bevorzugt“ zum Ausdruck. Liebe als Haltung kann aber nicht nur ein Begehren, sondern auch ein Wohlwollen sein. Hier löst die raumzeitliche Nähe des entsprechenden Gegenstandes nicht den Wunsch aus, ein Gut übertragen zu bekommen, sondern ein Gut zu übertragen. Sehe ich ein fehlerhaftes Diktat meines Kindes, verspüre ich den Wunsch zu helfen, sei es, dass ich selbst die Fehler verbessere oder dass ich dem Kind helfe, sie zu verbessern. Die Haltungen der Liebe als Begehren und als Wohlwollen haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind nicht auf individuelle Personen, sondern auf Klassen und Eigenschaften gerichtet: Immer wenn sich ein Angehöriger dieser Klasse nähert, wird die entsprechende Handlungsdisposition aktualisiert und führt zur Handlung. Welche Eigenschaften dies sind, hängt vom jeweils Liebenden ab, von dessen partikularen Präferenzen, die er durch seine nur narrativ erfassbare Bildungsgeschichte ausgebildet haben mag. Die Liebe hängt hier 138 Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 273 – 275.280. 139 Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 281 – 286.

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gewissermaßen vom Zufall ab. Es gibt aber auch Arten der Liebe als Haltungen, bei denen dies nicht der Fall ist. Zu nennen wäre hier das, was man villeicht mit dem Kunstbegriff „Förderung“ beschreiben kann: Gerade weil ich als Liebender zu einer bestimmten Klasse gehöre bzw. weil mir eine bestimmte Eigenschaft zukommt, fördere ich einen Angehörigen einer anderen Klasse. Diese Haltung der Liebe als Förderung scheint nun geignet, zwar nicht diakonisches Handeln zu begründen, aber vordergründig zu beschreiben: Weil ich zur Klasse der durch einen Arbeitsvertrag gebundenen Pfleger gehöre, aktualisiert sich meine Liebe dann, wenn ein Kranker erscheint. Dieser Liebesbegriff gewinnt seine deskriptive Kraft für diakonisches Handeln gerade deswegen, weil er beide, Helfende und zu Helfenden, als Klassenangehörige oder Instantiationen von Eigenschaften beschreibt. Daher ist er in der Lage, institutionalisiertes Handeln zu beschreiben. Aber gerade weil er bei beiden Relaten auf Eigenschaften rekurriert, hat dieser Begriff keine normative Kraft und kann die Frage nach dem warum des diakonischen Handelns genausowenig beantworten wie die Frage nach der Hilfswürdigkeit derer, denen geholfen werden soll. Bevor daher nach anderen Wegen, Liebe beschreiben zu können, gesucht werden soll, lohnt es sich aber, noch einen Blick auf einen Sonderfall der Haltung der Liebe als Förderung zu werfen: der Sonderfall, der dann vorliegt, wenn die Klassen des Liebenden und Geliebten gleich sind. Man kann dies relationslogisch mit dem Begriff „feldbeschränkte Förderung und Begehren“140 bezeichnen, man kann es auch leicht pejorativ als Konventikelethik, Speziesismus oder gar Rassismus beschreiben. Um was geht es? Ich liebe jemanden in dem Sinne, dass ich eine bestimmte Handlungsdisposition, etwa die zu helfen, aktualisiere, weil dieser Jemand zur gleichen Klasse wie ich selbst gehöre. Nach diesem Prinzip funktionieren studentische Verbindungen: Weil ich Akademiker bin, will ich anderen Akadmikern helfen oder habe den Anspruch, von anderen Akademikern Hilfe zu bekommen. Nach diesem Prinzip funktioniert letztlich auch der Rassismus, um ein Negativbeispiel zu nennen. Und nach diesem Prinzip, das ist die Pointe, funktioniert auch eine aufklärerische Begründung der Ethik nach dem Muster des Kant’schen kategorischen Imperativs.141 Uns erscheint dieser freilich nicht so anrüchig wie die anderen Beispiele, denn die Klasse scheint hier sehr unbeschränkt zu sein, schließt sie doch alle Menschen oder zumindest Personen mit ein. Der Begriff der feldbeschränkten Förderung hat gegenüber dem Begriff der Förderung tatsächlich normative Kraft. Er kann die Frage nach dem doppelten Warum diakonischen Handelns beantworten: Man handelt, weil der, dem geholfen werden soll, genauso ist wie man selbst, einer meinesgleichen. Würde sich die christliche Antwort nach der Begründung durch Personenwürde mittels des Liebesbegriffs auf diese Argumentation reduzieren, 140 Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 284 f. 141 Zu den verschiedenen Formen des kategorischen Imperativs Kants und seiner weltanschaulichen Gebundenheit vgl. H•rle, W., Die weltanschaulichen Voraussetzungen.

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wären wir wieder am Anfang: Es ginge doch um Klassen oder Eigenschaften, man könnte sich höchstens noch darum streiten, welche das sein sollen. Dem ist aber zu wehren. Denn Liebe kann nicht nur als Haltung, sondern auch als reale Beziehung in Interaktion verstanden werden:

4.3.3.3 Liebe als reale Relation Wenn Liebe nicht nur zur Handlung treibt, sondern immer wieder in Handlungen zwischen partikularen Personen besteht, ist sie Interaktion. Und zwar nicht irgendeine beliebige Interaktion, sondern spezifisch geregelte Interaktion.142 Als reale Beziehung, als Interaktion hängt die Liebe immer von den partikularen Eigenschaften der involvierten Personen und der Art der Liebesbeziehung ab. Sie ist nicht vollständig zu beschreiben. Aber das heißt nicht, dass sie gar nicht mit einigen formalen Merkmalen beschrieben werden könnte. Dies ist vielmehr notwendig, damit von Liebe geredet werden kann. Dabei ist nun zwar immer noch wesentlich, dass man ein Gut übertragen will oder ein Gut übertragen bekommen will, aber dies ist noch nicht das Spezifikum. Das Spezifikum an Liebe als realer Beziehung ist, dass die involvierten Personen nicht austauschbar sind. Das einseitig oder wechselseitig übertragene Gut, um das es hier geht, sind die Identitäten der beteiligten Personen.143 In realen Liebesbeziehungen geht es immer darum, wer die einzelnen Personen sind. Sie stellen gegenseitige Identitätsansprüche,144 die sie, im Falle wechselseitiger Liebe, akzeptieren: Ich bin der, der Dich liebt und der von Dir geliebt werden will. Gelingt eine solche Liebesbeziehung, bestehen in ihr die Regeln der Treue, des Vertrauens und der Wahrhaftigkeit; Begriffe, die nur verschiedene Seite derselben Medaille, sprich Handlungsmuster beschreiben: Ich vertraue Dir, dass du in Deinen Handlungsmustern mir gegenüber kohärent bleibst. Genauso erweise ich mich treu, wenn ich ebenso kohärent Dir gegenüber bleibe. Und weil das kommunizierte Gut unsere beiden Identitäten sind, bin ich mir auch wahrhaftig, wenn ich in meinen Handlungsmustern kohärent bleibe. Denn werde ich Dir untreu, missbrauche ich nicht nur Dein Vertrauen, sondern werde auch unwahrhaftig. Ich verletze nicht nur Deine Identität, sondern auch meine.145 Dieser Liebesbegriff scheint sehr weit zu sein. Oberflächliche Freundschaften scheinen genauso darunter zu fallen wie leidenschaftliche Liebesbeziehungen. Was ist hier der Unterschied? Der Unterschied besteht darin, dass diese Beziehungen nicht zweistellig sind, sondern immer dreistellig: Liebender und Geliebter sind stets auf etwas Drittes bezogen – das gemein142 143 144 145

Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 291 f. Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 310. Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 275 und Vate, D.v.d.j., Romantic Love, 18 – 27. Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 292 f.

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same Projekt: Besteht mein Identitätsanspruch nur darin, Dich zu lieben und Dein Identitätsanspruch darin, mich zu lieben, verlöre die Liebe an Realität: Sie würde zur Lähmung führen, zur Handlungsunfähigkeit. Daher ist sie auf etwas gemeinsames Drittes146 bezogen: ein gemeinsames Kind, den Erwerb gemeinsamen Eigentums, die gemeinsame Vorliebe für eine Freizeitbeschäftigung. „Romantische“ Liebensbeziehungen unterscheiden sich nun von anderen Freundschaften dadurch, dass das gemeinsame Projekt in der Regel Sexualität einschließt und möglichst umfassend viele Lebensbereiche, eine gemeinsame Lebenswelt, umfassen soll. Ist die Übertragung von Gut nicht strikt wechselseitig, sondern verläuft asymmetrisch, ist von filialer Liebe die Rede, nach dem Modell von Elter und Kind. Ist sie zwar wechselseitig, aber nicht freiwillig gewählt, sondern geht auf einen gemeinsamen Ursprung zurück, kann von geschwisterlicher Liebe gesprochen werden. Allen diesen unterschiedlichen Formen ist aber eines gemeinsam: Es geht immer um unsere Identitäten, Deine und meine: In Liebe als realer Relation geht es immer darum, wer wir sind. Der Begriff der Liebe als realer Relation ist nun geeignet, die normative Frage, „Warum sollen wir diakonisch handeln?“, zu beantworten: Wir sollen diakonisch handeln, weil es um unsere (nur narrativ beschreibbaren) Identitäten geht. Im diakonischen Handeln zeigt sich, wer wir sind: Wer sowohl die sind, die helfen, als auch die, denen geholfen wird. Wenn es um unsere Identitäten geht, ist nicht nur der deontische Aspekt der normativen Frage gelöst, sondern auch der Aspekt der Motivation: Wenn in einer Beziehung diakonischen Handelns meine Identität auf dem Spiel steht, erfolgt die Motivation mit unmittelbarer Kraft. Aber auch diese Antwort ist nur vorläufig. Denn der Begriff der Liebe als realer, narrativer Relation krankt an dem umgekehrten Problem wie der Begriff der Liebe als Haltung: Liebe als Haltung kann diakonisches Handeln deskriptiv erfassen, nicht aber normativ. Liebe als reale Relation kann diakonisches Handeln normativ erfassen, aber nicht deskriptiv. Hier hat der Begriff viele Schwächen: Muss ich wirklich alle, denen ich als Pfleger helfe, so schätzen, dass meine Identität davon abhängt? Überfordert mich das nicht vielmehr? Verliere ich meine Würde, wenn ich nur noch mechanisch helfe? Und schließlich: Gibt es nicht auch Vereinsamte, die kaum oder kaum noch in solchen realen Liebesbeziehungen stehen? Verlieren diese Personen dann ihre Identität? Haben Sie keine Würde? Um die Aporien einer normativen und deskriptiven Beschreibung diakonischen Handelns mittels des Liebesbegriffs und die Aporien des Begriffs der Personwürde zu überwinden, ist eine Einführung des Gottesbegriffs und des Begriffs göttlicher Liebe notwendig.

146 Vgl. Mìhling, M., Gott ist Liebe, 288.

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4.3.4 Gott ist trinitarische Liebe zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist Der christliche Glaube beschreibt Gott selbst als Liebe. Diese ist trinitarisch zu verstehen als Liebe im Sinne einer realen dreistelligen Relation zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist. Diese Liebe ist perfekt, d. h., Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit der trinitarischen Personen sind absolut kohärent. Gott ist dabei identisch mit dieser trinitarischen Liebe. Gott ist nicht dem Prinzip Liebe unterworfen, sondern Gott ist selbst diese Liebe. Diese Liebe ist kein Prinzip, sondern eine lebendige Gemeinschaft in einer narrativen Entwicklung. Gott könnte diese Liebe auch ohne die Welt sein. 4.3.5 Imago Gott hat sich zur Schöpfung einer Welt einschließlich personaler Kreaturen als sein Ebenbild entschlossen und d. h. als ein Ebenbild seiner Liebe. Geschöpfliche Personen sind dadurch Personen, dass sie untereinander in freundschaftlicher, d. h. wechselseitiger Liebe als realer Relationen stehen und dadurch, dass sie in filialer Liebe zu Gott, Vater, Sohn und Heiligem Geist, stehen. Dies kommt im Doppelgebot der Liebe zum Ausdruck: Erfüllen kreatürliche Personen das Doppelgebot der Liebe, erfüllen sie ihre geschöpfliche Bestimmung als Ebenbilder Gottes. 4.3.6 Sünde Die Sünde ist ein Ausdruck dafür, dass kreatürliche Personen in ihrem faktischen Zustand nicht das Doppelgebot der Liebe erfüllen. Damit verletzen sie ihre eigenen Identitäten und verletzten ihre Gottebenbildlichkeit. Zerstören können sie sie nicht: weder die Gottebenbildlichkeit, noch ihre Identitäten. Denn die filiale Liebesbeziehung besteht von Seiten Gottes weiter und garantiert damit die Identität und die Gottebenbildlichkeit der geschaffenen Personen. Dies ähnelt dem Sachverhalt, nach dem ein gegen seine Eltern rebellierendes Kind zwar alles tun kann, um Eltern und Geschwister zu verletzten, aber nicht seine Kindschaft aufheben kann. Sünde im Sinne der Verletzung des Doppelgebots der Liebe ist daher immer auch Selbstverletzung, nie aber Selbsttötung. In der Sünde verletzen sich nicht nur die personalen Geschöpfe gegenseitig, sondern sie verletzten auch Gott. Auch der göttliche Identitätsanspruch, Schöpfer zu sein, wird verletzt. Dies kommt in der biblischen Rede vom Zorn Gottes147 zum Ausdruck. Aber auch die göttlichen Identitäten können durch 147 Vgl. Volkmann, S., Zorn Gottes.

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die Sünde nicht zerstört werden, weil sie nicht primär in der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern in der Liebe zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist konstituiert werden. Das Doppelgebot der Liebe einzuhalten, ist für die schon verletzten Geschöpfe nach dem Fall keine natürliche Möglichkeit mehr : Das Doppelgebot ist als Gebot paradox: Es gebietet etwas, das nicht geboten werden kann. Es gießt den Inhalt der Liebe in die Form des Gesetzes. Seine Struktur ähnelt der Aufforderung: „Sei spontan!“ Der Inhalt, das sind reale Liebesbeziehungen, die tatsächlich so gelebt werden sollen, dass sie die Identitäten und Affekte der beteiligten Personen sichern. Die Form des Gesetzes hingegen lässt sich durch Liebe als Haltung beschreiben: Immer wenn ein Geschöpf als Kind Gottes auftritt, soll es geliebt werden. Die Aporie der Begründung diakonischen Handelns mittels des Liebesbegriffs, die darin bestand, dass sich mittels des Begriffs von Liebe als realer Relation die Normativität diakonischen Handelns begründen lässt, nicht aber dessen deskriptive Beschreibung, und umgekehrt der Begriff von Liebe als Haltung geeignet ist, diese deskriptive Beschreibung zu liefern, ohne normativ begründend zu sein, hat ihren Ursprung daher in der Sünde; genauer : in der Gabe des Gesetzes als Antwort des Zornes Gottes auf die faktisch verletzte Liebe im Doppelgebot der Liebe. 4.3.7 Evangelium Dem Gesetz allerdings folgt das Evangelium. Indem Gott durch Inkarnation, Leben, Sterben und Auferstehen des Sohnes in der Versöhnung seinen Geschöpfen „nachläuft“ und sie durch die Konkarnation und Inspiration des Geistes „einholt“, befähigt Gott seine Geschöpfe zur Liebe und damit zur Erfüllung des Doppelgebots. Die Möglichkeit dazu liegt in einem wichtigen Unterschied zwischen göttlicher Liebe und geschöpflicher Liebe: Während geschöpfliche Liebe, sei es als Liebe zum Nächsten oder als Liebe zu Gott, nach Luther immer an ihrem Liebenswürdigen entsteht, ist göttliche Liebe immer Liebe ex nihilo oder sola gratia: Sie bringt ihr Liebenswürdiges erst hervor.148 Dies geschieht in der Schöpfung und dies geschieht in der Rechtfertigung sola gratia. Wird dieses rechtfertigende Handeln Gottes durch Sohn und Geist als zur Liebe befähigendes Handeln verstanden, ist die Wirkung effektiv zu denken. Nichtsdestotrotz bleibt der effektiv Gerechtfertigte simul iustus et peccator, er steht weiterhin in der Spannung von Gesetz und Evangelium, Anspruch und Zuspruch. Die Effektivität der Rechtfertigung besteht zunächst darin, dass der Mensch befähigt wird, die erste Hälfte des Doppelgebots spontan zu erfüllen, indem er Gott vertraut. In filialen Liebesbeziehungen mit asymmetrischem Charakter ist die adäquate Erfüllung der Liebe zum Elter Vertrauen, d. h. fiducia oder 148 Vgl. Luther, M., WA 1, 365.

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Glaube. Dieses Vertrauen richtet sich gerade auch darauf, dass Gott trotz aller Verletzungen der Liebe durch die Geschöpfe deren Identitäten und damit deren personale Würde aufrechterhalten wird. Da Liebe als reale, narrative Relation nie zweistellig, sondern immer dreistellig zu verstehen ist, erkennt der Mensch seine Mitmenschen als Kinder Gottes und Geschwister seiner selbst: Es kommt zur spontanen Erfüllung der zweiten Hälfte des Doppelgebotes der Liebe. Der Mensch wendet sich zusammen mit Gott in einem gemeinsamen Projekt den Mitmenschen zu, um ihnen in Verletzungen und Selbstverletzungen beizustehen. Dieses gemeinsame Projekt zwischen Gott und gerechtfertigtem Geschöpf heißt Diakonie. 4.3.8 Kirchliches Handeln ist immer diakonisches Handeln! Die Kirche ist die Gemeinschaft derer, die zum Glauben gekommen sind, d. h. derer, die Gott vertrauen und das gemeinsame Projekt der Diakonie betreiben. Diakonie ist daher kein Sonderfall kirchlichen Handelns, sondern dessen umfassende Beschreibung. 4.3.9 Diakonisches Handeln ist immer kirchliches Handeln! Unter den Bedingungen des simul iustus et peccator sind sich die Handelnden dabei ihrer Stellung in dieser menschlich-göttlichen Kooperation bewusst: Diakonisches Handeln kann helfen, Verletzungen und Selbstverletzungen von Menschen zu lindern, überwinden kann es diese nicht. Dies ist keine menschliche, sondern eine göttliche Möglichkeit. Diakonisches Handeln hat nicht die Überwindung von Verletzungen zum Ziel, sondern die Mithilfe an der Überwindung von Verletzungen. Diakonisches Handeln kann daher nicht am Erfolg gemessen werden. Weil diakonisches Handeln sich der Spannung von Gesetz und Evangelium, Welthandeln und Heilshandeln Gottes bzw. normativer Begründung im Begriff realer Liebesbeziehungen und deskriptiver Beschreibung im Begriff der Liebe als Haltung bewusst ist, kann diakonisches Handeln helfende Bemühungen anderer, Nichtchristen miteinbeziehen. Dies geschieht, indem diakonisches Handeln einerseits die Form des Gesetzes haben muss, d. h., seine Bemühungen im Kontext von institutionalisierten Formen und Organisationen vollzieht, die andererseits die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für reale, spontan gelingende Liebesbeziehungen sind. Dies schließt freilich ein, dass die diakonischen Institutionen tatsächlich so organisiert sind, dass ein Umfeld geboten wird, in dem diese spontan gelingenden, identitätswahrenden Liebesbeziehungen zwischen Helfenden und zu Helfenden entstehen können (aber nicht müssen). Fazit: Ein Versuch der Begründung diakonischen Handelns mittels des Begriffs der Menschenwürde führt zu einer Begründung mittels des Begriffs

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der Personwürde, die wiederum zu einer Begründung mittels des Liebesbegriffs führt. Diese Begründung bleibt unter den Augen der Welt aporetisch, weil die Normativität nur mit dem Begriff gelingender realer Liebesbeziehungen, die sich auf die Identitäten der Beteiligten richten, gesichert werden kann, die aber gerade in der Beschreibung der faktisch institutionellen Wirklichkeit, die nur mit dem Begriff von Liebe als institutionalisierter Haltung der Förderung beschrieben werden kann, scheitert. Unter den Augen des Glaubens und dessen Unterscheidung von opus hominum und opus dei bzw. Gesetz und Evangelium, sind diese Perspektiven im Begriff der Liebe als Kooperation von Gott und Mensch im gemeinsamen Projekt der Diakonie inmitten der narrativen Liebesgeschichte, die Gott zuallererst ist und dann mit den Menschen hat, versöhnt.

4.4 Macht und Gewalt 4.4.1 Das Problem Der Mensch als Bild der göttlichen Liebesgeschichte ist in seiner eigenen Liebesgeschichte zu gebundener Freiheit fähig. Er ist fähig, selbst zu lieben und er ist in solcher Liebe auch auf die Mangelleidenden Nicht-Vertrauenden im diakonischen Handeln bezogen. In seiner eigenen Geschichte gestaltet der Mensch durch Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht seine eigene Identität zumindest mit. Er erfährt aber auch widerständige Macht als Gewalt, an der die romantische Vorstellung, dass die Macht der Liebe immer siegen möge, zu scheitern droht. Darf und kann der Christ dann machtvoll und gewaltig ohne Liebe handeln, oder gilt nicht doch der universelle Gewaltverzicht? Ist das Christentum ein gewaltfreies Wirklichkeitsverständnis? Man möchte es meinen, und viele bekannte Christen haben sich öffentlich zum Pazifismus bekannt, wie es auch viele christliche Kirchen gibt, die sich explizit als Friedenskirchen verstehen. Allerdings deutet dieser Befund schon das Problem an: Wenn es christliche Kirchen gibt, die sich als Friedenskirchen verstehen, setzen sie sich offensichtlich von Gemeinschaften ab, die sich offensichtlich nicht so verstehen. Wenn es Christen gibt, die sich explizit als pazifistisch verstehen, dann scheint dies ebenso ein unpazifistisches Christentum als Profilierungsfolie vorauszusetzen. Die einfachste Annahme, diesen Befund zu deuten, wäre, auf die Geschichte der christlichen Religion zu verweisen, die ja nicht nur als solche theologisch immer schon – insofern sie Religion ist – als Sünde zu verstehen ist, sondern tatsächlich selbst innerhalb dieser Geschichte zu zahlreichen kontingenten Erscheinungen geführt hat, in denen durch Gewaltgebrauch alles, was man als „Christentum“ titulieren mag, aufs höchste beschädigt und in sein Gegenteil verkehrt wurde: in totalitäre Ideologien. Insofern erscheint die Betonung des Pazifistischen durch Einzelpersonen und

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Gemeinschaften für die Gesamtheit der Kirche, ja für alle menschlichen Gemeinschaften, als ein segensvoller, geradezu nötiger Zug, erinnert er doch an die dem Christentum inhärente Gewaltlosigkeit. Insofern ist es zu begrüßen, wenn es auf Anregung der historischen Friedenskirchen Anfang des 3. Jt. im Bereich der engeren Ökumene zu einer „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ gekommen ist. Die „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ hat dabei bewusst nicht das Thema der Gewalt selbst, sondern deren Überwindung in den Mittelpunkt gesetzt. So blieb die Dekade fähig, Projekte verschiedenster Art integrieren zu können, da es vorab keine Definitionen gab, die bestimmte Projekte ausschließen. Statt dessen versucht man extensional und beispielhaft von (der Überwindung) der Gewalt in den verschiedensten Bereichen zu sprechen: Es geht um Gewalt zwischen Staaten, innerhalb von Staaten, in örtlichen Gemeinschaften, zu Hause und in der Familie, in der Kirche, um sexuelle Gewalt, um sozio-ökonomische Gewalt, um Gewalt als Ergebnis wirtschaftlicher und politischer Zwangsmaßnahmen, um Gewalt unter Jugendlichen, um Gewalt in Verbindung mit religiösen und kulturellen Gebräuchen, um Gewalt innerhalb des Rechtssystems, um Gewalt gegen die Schöpfung, um Gewalt als Ergebnis von Rassismus und ethnischem Hass149 und gelegentlich werden auch Flutopfer und Verkehrsunfälle als Beispiele von Gewalt genannt.150 Angesichts dieser Diversität kommt leicht die Frage auf, ob es sich wirklich um ähnliche Phänomene oder ob es sich um Phänomene völlig verschiedener Art handelt. M.a.W.: Man möchte nach einer Bestimmung des Gewaltbegriffs fragen, die aber gerade nicht geboten wird. Nun gibt es einige Hinweise, die zeigen, dass implizit verschiedene Teilnehmer freilich schon mehr oder weniger klare Definitionen von Gewalt vorauszusetzen schienen. Genannt wurden z. B. „direkte körperliche oder seelische Beeinträchtigungen [des …] Lebens als Einzelne oder Gemeinschaften“ und die „Zerstörung [der …] unmittelbaren Lebensbedingungen“ oder die Zerstörung von „Leben ermöglichenden Beziehungen von außen“.151 Hier erschienen nun zwar implizite Definitionen, aber diese dürften immer noch sehr weit sein. Schien der Gewaltbegriff also bewusst unbestimmt zu bleiben, so dürfte ein sehr profilierter Begriff der Überwindung von Gewalt verwandt worden sein. An mehr als einer Stelle wurde mit einem Modell gearbeitet, das davon ausgeht, dass Gewalt zwischen Tätern und Opfern besteht, die durch gewaltlosen Widerstand so aufgelöst wird, dass die Opfer nicht selbst zu Tätern werden, also ihrerseits Gewalt anwenden, aber auch nicht willige Opfer bleiben und so Gewalt hinnehmen, sondern sich der „Opferrolle verweigern“.152 Ferner ging man davon aus, dass den unterschiedlichen Phänomenen „Mechanismen der Selbsterhaltung von 149 150 151 152

Vgl. Ein Rahmenkonzept für die Dekade zur Überwindung von Gewalt, hier 478. Vgl. Enns, F., Auf dem Weg zu einer Kultur des Friedens, hier 136. Raiser, K., Gewalt überwinden, hier 20 f. Vgl. z. B. Raiser, K., Gewalt, 24.

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Gewalt“ unterliegen, denen entsprechend mit „Mechanismen der Gewaltüberwindung“ zu begegnen sei.153 Nun mag zwar das Modell zur Überwindung von Gewalt noch präzisierungsbedürftig sein, aber hier liegen sehr explizite Vorstellungen davon vor, wie die Überwindung von Gewalt funktionieren dürfte. Und solche Vorstellungen, ebenso wie die genannte Redeweise von „Mechanismen“, setzen voraus, dass implizit doch eine vorgängige Bestimmung des Gewaltbegriffs erfolgt bzw. erfolgen müsste. Eine umgangssprachliche und systematisch-theologische Klärung des Gewaltbegriffs ist daher Aufgabe dieses Kapitels. Ein solches, dringendes Desiderat erwächst nicht nur aufgrund der genannten Probleme der „Dekade“, sondern aufgrund der allgemeinen theologischen Unterbestimmung des Gewaltbegriffs.154 Auch die Rede von der Überwindung von Gewalt dürfte missverständlich und insofern klärungsbedürftig sein. Wir werden im Folgenden zunächst eine Reflexion über die Verwendung des Gewaltbegriffs liefern, daraufhin Abgrenzungen zu verwandten Begriffen vornehmen, um zuletzt zu fragen, was ein solcher Reflexionsgang für die Rede von der Überwindung von Gewalt austrägt. 4.4.2 Verwendungsweisen des Gewaltbegriffs Wir versuchen nun im Folgenden die Verwendung des Gewaltbegriffs und dessen semantischen Gehalt zunächst deskriptiv-analytisch zu erfassen. Ziel dieses Unternehmens ist es, ein Kriterium für eine Unterscheidung von negativer und positiver Gewalt zu finden, d. h. von solchen sozialen Phänomenen, die überwunden werden sollen und solchen Phänomenen, die nicht überwunden werden müssen oder nicht überwunden werden dürfen. Im Englischen heißen die ersten Phänomene i. d. R. violence, während im Deutschen beide Gewalt heißen. Versuche, nur die engl. Terminologie zu verwenden oder im Deutschen nachzuahmen, empfehlen sich aber nicht, da damit das Problem der sachlichen Bestimmung noch nicht gelöst ist. a) Gewalt als Kausalität (engl. force, violence) Wir reden von der Gewalt der See oder des Wetters ebenso wie von Naturgewalten. In dieser Verwendungsweise scheint der Gewaltbegriff dem einer großen natürlichen Energie oder Fähigkeit zu entsprechen. Es geht um die Potentialität bestimmter „Gewalten“, eine bestimmte „Arbeit“ leisten zu können.

153 Vgl. Enns, F., Gemeinschaftsbildung zur Überwindung von Gewalt, hier 40 f. 154 Auch in der vierten Auflage der RGG gibt es keinen Artikel „Gewalt – syst.-theol.“, ebenso nicht „dogmatisch“ oder „ethisch“.

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b) Gewalt als Steigerungsausdruck (engl. huge, mighty, terrific, powerful) Die Verwendung des Adjektivs oder Adverbs „gewaltig“ („Frauen kommen langsam, aber gewaltig“155, „Da habe ich mich ganz gewaltig geirrt“, „My wedding was terrific.“) zeigt, dass diese Verwendungsweise nicht auf unpersönliche Urheber beschränkt ist. Der Terminus Gewalt scheint hier vielmehr nicht nur die Ursache, sondern auch eine Steigerungsform zu markieren: Man spricht von einem gewaltigen Sturm, auch einem „gewaltigen Essen“. Richard von St. Victor spricht von der Gewalt (violentia!) der Liebe und meint damit die menschliche Gebundenheit von Affekten, Wille und Handeln in Beziehungen zu Anderem oder Anderen.156 Etymologisch liegt hier übrigens die Wurzel des deutschen Wortes Gewalt.157 c) Gewalt als Fähigkeit, etwas zu tun (engl. power to do s.th., control) Nahe verwandt der Verwendung des Begriffs der Naturgewalt als Potentialität, Wirkungen hervorzubringen (a), ist eine Verwendung, in der Gewalt personalen Subjekten zugesprochen wird, nicht aber auch auf personale Objekte gerichtet sein muss. Im Deutschen kann in der Regel Gewalt hier durch „Macht“ ausgetauscht werden, im Englischen spricht man von „power to do s. th.“. Der Gewaltbegriff wird hier mit dem Begriff der dispositionalen Fähigkeit zu einer Tätigkeit verwendet. Bei einem Verkehrsunfall sprechen wir z. B. davon, dass jemand „die Gewalt über sein Fahrzeug verloren hat“. Wir werden noch sehen, dass diese Verwendungsweise des Gewalt- oder Machtbegriffs grundlegende Bedeutung hat, so dass wir sie hier kurz analysieren wollen.158 Hier ist nämlich der Gewaltbegriff in einer spezifischen Weise mit dem Handlungsbegriff verbunden. Handeln bedeutet, dass Personen A als notwendige Bedingung ein Ereignis B aufgrund des – in Faktenwissen und weltanschauliches Wissen zu differenzierenden – Wissens C mit Hilfe von Handlungsmitteln D nach Regeln E zu dem Ziel F absichtlich herbeiführen. Der Begriff der Gewalt oder Macht, etwas zu tun (power to do s.th.), bezeichnet nun genau denjenigen Bereich der Handlungsfähigkeit, der darin besteht, die Handlungsmittel aufgrund des Handlungswissens so einzusetzen, dass das Ereignis dem beabsichtigten Ziel entspricht. Dies ist eine Teilrelation von Handlungsfähigkeit, weil hier z. B. noch nichts über die Art der Motivation der Zielwahl gesagt ist. Vielmehr ist vorausgesetzt, dass diese bereits erfolgt ist, worin immer sie bestehen mag. Gewalt oder Macht (power to do s.th.) ist damit Handlungsfähigkeit, nicht aber umgekehrt.

155 156 157 158

So der Titel eines Popsongs von Ina Deter von 1986. Vgl. Richard von St.Victor, Über die Gewalt der Liebe. Vgl. Duden, Herkunftswörterbuch, Art. Gewalt. Vgl. auch die Analye bei Brink, G.v.d., Almighty God, 119 – 34.

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d) Gewalt als Befähigung, etwas zu tun (engl. authority, power) Nahe an der Verwendungsweise (c) liegt eine andere, in der wir nicht die tatsächliche Fähigkeit, sondern die Befähigung oder Autorität zu bestimmten Handlungen ausdrücken. Dies geschieht etwa bei Verwendung des Begriffs „Amtsgewalt“. Hier wären noch weitere Differenzierungen möglich, denn es gibt eine Gewalt im Sinne von Autorität, die aufgrund der Gewalt als Fähigkeit, etwas zu tun (c), und aufgrund der Anerkennung durch andere besteht, und es gibt eine davon zu unterscheidende Autorität, die sich mit „Gewalt“ Anerkennung verschafft.159 e) Gewalt als Herrschaft (engl. dominion) „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (Mt. 28,18). In dieser und ähnlichen Redensarten ist Gewalt im Sinne von Herrschaft verwendet, ein Begriff der seinerseits bestimmungsbedürftig wäre. f) Gewalt als soziale Hemmung von Zielen (Zwang) (engl. power over, force, coercion abgl. violence) Betrachten wir die meisten der oben unter 4.4.1 genannten Beispiele der Dekade, so haben sie zumindest einen Aspekt gemeinsam: Sie gehen davon aus, dass eine Interaktion, also wechselseitiges Handeln, von mehr als einem Akteur, besteht, in welcher zumindest ein Akteur das gewaltige Handeln anderer (c) so erfährt, dass seine eigenen Ziele gehemmt bzw. verletzt (engl. to violate) werden. Analog zur Unterscheidung zwischen primären sozialen Beziehungen,160 in denen die ausgetauschten Güter der Interaktion wesentlich für die Identität oder das Sein der Personen selbst sind, und sekundären sozialen Beziehungen, in welchen die ausgetauschten Güter prinzipiell duplizierbar und für die Identität der Person weniger wesentlich sind, können wir noch unterscheiden zwischen: f1) Gewalt als Hemmung von Zielen innerhalb von Handelsbeziehungen (sachlicher Zwang), wo ein Handelnder eine nicht willentliche Vereitelung eines für ihn nicht wesentlichen Zieles erfährt, und f2) Gewalt als Hemmung des persönlichen Selbstzweckes (personaler Zwang), wo ein Handelnder sich durch andere Handelnde in Zielen gehemmt fühlt, die seine eigenen Identitätsansprüche161 betreffen.

Wir werden noch sehen, dass der Rede von Gewalt als Zwang (coercion) (f) ein ähnlicher fundamentaler Stellenwert zukommt, wie der Redeweise von Gewalt als Fähigkeit, etwas zu tun (c). Dennoch handelt es sich hier einerseits um einen sehr engen, andererseits aber auch um einen sehr weiten Gewaltbegriff. Sehr eng ist dieser Gewaltbegriff, weil die Rede von Gewalt gegen Sachen, Tiere 159 Zur weiteren Analyse vgl. Brink, G.v.d., Almighty God, 129 ff. 160 Vgl. Vate, D.v.d.j., Romantic Love, 19 – 20; Mìhling, M., Gott ist Liebe, 275. 161 Zur Bedeutung von Identitätsansprüchen vgl. Vate, D.v.d.j., Romantic Love, 16 – 27.

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oder andere apersonale Kreaturen noch nicht erfasst ist. Sehr weit ist dieser Gewaltbegriff, weil er sich auf die Hemmungen von Handlungszielen zugunsten anderer Handlungsziele überhaupt bezieht. Möchte etwa ein Kleinkind mit einer Schere ein Kabel durchschneiden, worauf die Eltern dem Kind die Schere entwenden und an einem sicheren Ort verwahren, handelt es sich um Gewalt in diesem Sinne. Man kann sehen, dass Gewalt im Sinne von (f) damit ein fundamentalanthropologischer Begriff ist, genauso wie Gewalt im Sinne von Fähigkeit, etwas zu tun (c), weil eben der Begriff des Handelns für das Verständnis des Menschen grundlegend ist. Gewalt oder Macht als Fähigkeit, etwas zu tun (power t. d. s.th.) (c), schließt immer die Gewalt oder Macht als Fähigkeit der Verletzung bewusster Ziele anderer ein (power over) (f). Die Redeweise von der Gewalt oder Macht über jemanden (power over) (f) ist somit konzeptionell auf die Fähigkeit, etwas zu tun (power t. d. s.th), zurückzuführen,162 derart, dass jemand in bestimmten Hinsichten in der Lage ist, jemanden anderen mit oder gegen dessen Ziele zu einem bestimmten Handeln oder Erleiden in bestimmten Hinsichten zu veranlassen. Und wie unser banales Beispiel gezeigt hat, ist Gewalt in diesem Sinne mitnichten zwangsläufig negativ, sondern eher ambivalent: Ein beabsichtigtes Ziel einer Person kann mittels Zwang auch gehemmt werden, wenn die Absicht der zwingenden Person das Gute der gehemmten Person verfolgt. Und dies gilt nicht nur für Hemmungen von Absichten innerhalb von Handlungsbeziehungen (f1), sondern auch für Hemmungen des persönlichen Selbstzwecks (f2), weil eine Person durchaus mit ihren Zielen Identitätsansprüchen nachjagen kann, die ihrem faktischen Gut widersprechen. Gewalt oder Macht, jemandes Ziele zu verletzen (f), ist daher (durch spezifische Differenz gebildete) Gewalt oder Macht, etwas zu tun (c), die wiederum (eine durch spezifische Differenz) gebildete Handlungsfähigkeit ist, nicht aber jeweils umgekehrt. Je nach Klassifikation der Handlungsmittel, um die es geht, kann hier körperliche Gewalt (lat. vis), psychische oder wirtschaftliche Gewalt gemeint sein. Ferner kann es sich je nach Handlungssubjekt um individuelle oder strukturelle Gewalt etc. handeln. Die weiteren Einteilungen sind entsprechend der Einteilungsmöglichkeiten des Handlungs- bzw. Interaktionsbegriffs mannigfach, aber, je nachdem auf welches Relat des Handlungsbegriffs sie sich beziehen, kategorial unterschieden. Aus dem Begriff von Gewalt als Zwang (f) lässt sich ableiten: g) Gewalt als Konstitutionsmerkmal sozialer Regeln (engl. force, power) Wir stellten fest, dass hinsichtlich der Analyse des Handlungsbegriffs der Begriff der Regeln wichtig war. Will jemand eine Handlung von Erfolg gekrönt sehen, muss er Regeln verschiedenster Art befolgen. Dazu gehören zum einen Regeln, die auf Naturgegebenheiten beruhen. So kann ich mich z. B. nicht mit 162 Vgl. Brink, G.v.d., Almighty God, 119 – 23.

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jemandem im Erdmittelpunkt treffen. Natürliche Regeln sorgen quasi von selbst für ihre Einhaltung. Davon zu unterscheiden sind zum anderen soziale Regeln, die für jede Sozialgestalt (auch für das Reich Gottes163) notwendig sind. Sie sorgen nicht von selbst für ihre Einhaltung, sondern sind sanktionsbewehrt. Und diese Sanktionen bestehen exakt in einem Empfinden von Gewalt als Zwang im Sinne von (f), sei es, dass jemand mich zukünftig als unzuverlässig einstuft und Interaktion mit mir nur noch in vorsichtiger Weise ausübt, weil ich eine Verabredung habe platzen lassen, sei es, weil eine Instanz bewusst für die Ausübung von Gewalt als Zwang (f) zwecks Aufrechterhaltung der Regel sorgt. Gewalt als Konstitutionsmerkmal sozialer Regeln ist also Gewalt als Zwang (f), durch die spezifische Absicht der Regelkonstitution unterschieden, nicht aber umgekehrt. Eng verwandt mit diesem Gewaltbegriff ist ein weiterer : h) Gewalt als Konstitutionsmerkmal des Rechts (engl. force, power) Nun ist es ein Kennzeichen der (gefallenen) Welt, dass innerhalb eines Gemeinwesens verschiedene Instanzen versuchen, Zwang auszuüben und damit Regeln zu etablieren, zu welchem Zweck auch immer. Ein solcher Zustand ist für eine Gesellschaft unhaltbar, weil er – unabhängig von den jeweils verfolgten Zielen – einen Krieg aller gegen alle bedeutet. Daher ist es notwendig, dass in jeder beliebigen Gesellschaft (der gefallenen) Welt164, solche sozialen Regeln existieren, die durch eine bestimmte autorisierte Instanz sanktionsbewehrt sind. Dies ist das Recht. Die genannte Instanz ist dabei der Souverän eines Staates, der genau deswegen soziale Regeln als Recht konstituieren kann, weil er das Gewaltmonopol besitzt, weil er also entsprechenden Zwang im Sinne (f) ausüben kann. Es ist daher nicht einfach so, als ob das Recht gewisse Formen von Gewalt in einer Gesellschaft zuließe, während es andere verböte, sondern das Recht wird selbst durch Gewalt konstituiert.165 Gewalt als Konstitutionsmerkmal des Rechts ist daher durch Monopolisierung unterschiedene Gewalt als Konstitutionsmerkmal sozialer Regeln, nicht aber umgekehrt. i) Legitime und illegitime Gewalt (engl. force, violence) Umgekehrt wird Recht nicht nur durch Gewalt konstituiert, sondern regelt auch die Bereiche der Gewalt als Befähigung, etwas zu tun (d), der Gewalt als Herrschaft (e), der Gewalt als sozialer Hemmung (f) und der Gewalt als Konstitutionsmerkmal anderer, nicht rechtlicher sozialer Regeln (g), indem es hier jeweils die Unterscheidung von rechtsgemäß (legitim) und nicht rechts163 Dies ergibt sich daher, weil das Reich Gottes als Gemeinschaft der Liebe verstanden werden kann, und Liebe nicht einfach ein Gefühl oder ein sittlicher Imperativ ist, sondern eine spezifisch geregelte Interaktion. 164 Also ist Recht kein Kennzeichen des Reiches Gottes, denn in diesem gibt es zwar soziale Regeln, aber keine Konkurrenz um die soziale Regelkonstitution. 165 Vgl. den instruktiven Aufsatz von Herms, E., Gewalt und Recht in theologischer Sicht.

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gemäß (illegitim) einführt. Bei einer positivistischen Sicht entspräche der Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt auch die Unterscheidung von gerechter und ungerechter Gewalt. Das Rechtsystem ist innerhalb eines Staates ein weitgehend verlässliches Instrument zur Regulation von Gewalt im Sinne von (f). Problematisch sind nun alle Versuche der Regulation von Gewalt im Sinne von (f) in solchen Gesellschaften, in denen kein Rechtssystem und d. h. auch kein Gewaltmonopol besteht. Dies ist die gegenwärtige Lage der Weltgesellschaft. Man kann nun sehen, dass so etwas wie ein humanitäres Recht im Kriegsfalle oder ein Völkerrecht postuliert wird und dass sich mit dem Postulat eines entsprechenden Rechts auch der Anspruch auf die Etablierung eines Gewaltmonopols verbindet (etwa durch das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeübt), das vor allem deswegen nicht unumstritten ist, weil fundamental unklar ist, wer die Autorität dazu hat (Die UN? Die NATO? Einzelne Bündnisse einflussreicher Staaten?). Legitime Gewalt ist daher eine Form von Gewalt als Zwang, die durch rechtskonstituierende Gewalt (h) spezifiziert wird, selbst aber nicht mit der rechtskonstituierenden Gewalt identisch ist. Freilich ist rechtskonstituierende Gewalt dann immer legitime Gewalt (aber nicht umgekehrt). j) Negative und positive Gewalt (engl. force, violence) Nun ist das Rechtssystem nur ein weitgehend verlässliches Instrument, weil die Unterscheidung zwischen legitim und illegitim nur formal ist. Legitime Gewalt kann auch negative Gewalt sein und illegitime Gewalt kann auch positive Gewalt sein! Nicht jeder Staatsstreich ist negativ zu bewerten. Unsere Analyse des Gewaltbegriffs in allen verschiedenen Hinsichten hat bis jetzt zwar zeigen können, dass Gewalt in mancher Hinsicht ein fundamentalanthropologischer Grundbegriff ist, der auch positive Bedeutung haben kann, aber wir haben in keiner der bisher genannten Analysen eine Unterscheidung von positiver und negativer Gewalt einführen können. Eine solche Unterscheidung ist aber unerlässlich, wenn man von der Überwindung von Gewalt sprechen möchte. Denn deutlich ist, dass negative Gewalt eine solche Gewalt sein soll, die es wert ist, überwunden zu werden, während positive Gewalt eine solche Gewalt nach (a)-(i) wäre, die es nicht wert ist, überwunden zu werden oder die nicht überwunden werden kann oder darf. k) Sittliche und unsittliche Gewalt (engl. force, violence) Damit dürfte klar sein, dass die Frage, welche Art von Gewalt überwunden werden soll – vorwiegend im Sinne von (f), aber auch in anderem Sinne – auf die ethische oder sittliche Frage nach der Differenz zwischen sittlicher und unsittlicher Gewalt zielt. Da aber als erwiesen gelten kann, dass es so etwas wie ein allgemeines und operationables Sittengesetz nicht gibt, ist die Unterscheidung von sittlicher und unsittlicher Gewalt eine Unterscheidung, die nur aufgrund und unter Berücksichtigung spezifischer, partikularer Wirk-

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lichkeitsverständnisse getroffen werden kann.166 Damit ist auch klar : Die Unterscheidung zwischen sittlicher und unsittlicher Gewalt – und damit die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Gewalt – ist erstens eine perspektivische Unterscheidung, die zweitens prinzipiell nur im Plural und drittens – unter den Bedingungen einer grundsätzlich begrüßenswerten pluralistischen Gesellschaft – auch faktisch im Plural existieren kann. Damit scheinen wir aber in einer widersprüchlichen Lage zu stecken : Bringen plurale Gewaltdistinktionen nicht solche Bestimmungen mit sich, die nicht nur Raum für Konflikte, sondern auch Raum für Interaktion gegenseitiger Zweckhemmungen nach (f) mit sich bringen, also neue Gewalt, die nun nicht mehr als negativ oder positiv beurteilt werden kann? Das muss dann nicht so sein, wenn nur solche Wirklichkeitsverständnisse in den Blick kommen, die nicht eine prinzipielle Reduktion des weltanschaulichen Pluralismus im Sinne haben, die ein je eigenes und perspektivisches Glaubensprinzip kennen, das die Konstitution des eigenen Wirklichkeitsverständnisses als unverfügbar ansieht – und damit auch abweichende Gewaltdistinktionen gewaltlos erträgt (Toleranz kommt von tolerare = ertragen) und das selbstverständlich nicht die Öffentlichkeitsrelevanz von Wirklichkeitsverständnissen allgemein leugnet,167 d. h. in diesem Fall, dass anerkannt wird, dass die Frage der Unterscheidung von negativer und positiver Gewalt eine weltanschauliche Frage ist : l) Sündige und nicht-sündige Gewalt (engl. force, violence) Die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Gewalt ist äquivalent mit der Unterscheidung von sittlicher und unsittlicher Gewalt, und diese soll mit Hilfe des christlichen Begriffs der Sünde so gedeutet werden, dass sie als äquivalent mit der Unterscheidung zwischen sündiger und nicht-sündiger Gewalt angesehen werden kann.168 Damit ist schon gesagt, dass der Gewaltbegriff und der Sündenbegriff nicht koextensiv sind. Der Grund dafür besteht in folgender Verhältnisbestimmung: Als grundlegend hat sich der Begriff von Gewalt als Fähigkeit, etwas zu tun (c), erwiesen, der einen bestimmten Aspekt menschlicher Handlungsfähigkeit thematisiert. Durch Einführung einer 166 Damit wird eine Kant’sche Autonomieethik nicht als inkohärent angesehen. Vielmehr handelt es sich um eine Ethik unter vielen, die keine Metaperspektive besitzt. 167 Zur Debatte um das Verständnis der Toleranz im Rahmen des Pluralismus vgl. Mìhling, M., Ethik, 272 – 288. 168 So ist die Unterscheidung zwischen Religiosität und Sittlichkeit gewahrt. Religiosität bezeichnet die Gottesbeziehung des Menschen, Sittlichkeit die Weltbeziehung. Eine sündlose Gottesbeziehung wird Sittlichkeit implizieren, Sittlichkeit aber keine sündlose Gottesbeziehung. Es kann durchaus korrektes sittliches Handeln bei gleichzeitiger Sündhaftigkeit geben, nicht aber umgekehrt. Dennoch ist sündhafte Gewalt äquivalent mit unsittlicher Gewalt, weil Gewalt per definitionem ein sittlicher Begriff ist. Gewalt gegen Gott gibt es nicht direkt (sondern nur indirekt so, dass Gott Gewalt gegen sich freiwillig zulässt, obwohl er es nicht müsste). Dies sei zur Korrektur an Herms, E., Gewalt und Recht in theologischer Sicht, 133, gesagt.

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weiteren intensionalen Beschreibung ergibt sich der Begriff von Gewalt als sozialer Hemmung (f). Auch weitere Begriffe von Gewalt als Konstitutionsmerkmal sozialer Regeln (g) und Gewalt als Konstitutionsmerkmal von Recht (h) sowie der Gewaltbegriff der legalen Gewaltdistinktion (i) ergeben sich durch weitere Differenzierungen. Damit gehört (f) in die Gattung (c); (g), (h) und (i) in die Gattung (f), so dass auch (g), (h) und (i) Teilaspekte von (c) sind. Nun ist aber zu erwarten, dass die gesuchte Gewaltdistinktion nach (j), (k) und (l) (zwischen sündiger und nicht-sündiger Gewalt) nicht zu den Begriffen von Gewalt als sozialer Hemmung (f) beziehungslos ist und infolgedessen ebenfalls in die Gattung (c) (von Gewalt als Fähigkeit, etwas zu tun) gehören wird. Wenn im Rahmen der Dekade dazu aufgerufen wird, auf theologische Legitimationsversuche von Gewalt zu verzichten,169 kann dies also nicht für Gewalt im Sinne von Begriff (c) gelten und es kann auch nicht im Sinne von nichtsündiger Gewalt gelten. Vor einer pauschalen Verdammung des Gewaltbegriffs ist also zu warnen. Die sittliche Gewaltdistinktion wird man nun erhalten können, indem der Begriff der Gewalt als Fähigkeit, etwas zu tun, durch den Sündenbegriff weiter spezifiziert wird. Sünde kann im Rahmen des Doppelgebots als Zusammenfassung christlicher Ethik als Ver-rücktheit170 des Menschen aus dem geschöpflichen Beziehungsgefüge verstanden werden. Vorausgesetzt ist in diesem Begriff, dass es eine Wohlgeordnetheit des kreatürlichen Beziehungsgefüges gibt, dass Kreaturen zwar nicht so streng relational wie die trinitarischen Personen, aber immerhin relational konstituiert sind und dass dieses Beziehungsgefüge pervertiert werden kann. Sünde bedeutet damit nicht den Abbruch von Beziehungen überhaupt, sondern die Verletzung je bestimmter Arten von Beziehungen und die Ersetzung durch andere, pervertierte Beziehungen. Die Wohlgeordnetheit des kreatürlichen Beziehungsgefüges lässt sich angemessen mit dem Begriff der Liebe umschreiben, in dem weiten Sinne, dass hier ein Dasein einer Kreatur vorliegt, deren Ziel jeweils das Gut anderer Kreaturen ist. Verbindet man dies mit dem Handlungsbegriff, erhält man einen Begriff von einer Wohlgeordnetheit menschlichen Handelns, wenn die Handlungsziele das Gut anderer Kreaturen sind. Im Falle sozialer Beziehungen kann das Gut anderer Personen in deren eigenen Absichten und Zielen und in deren Selbstzweck bestehen, muss es aber nicht, denn andere Personen können auch einen pervertierten Selbstzweck verfolgen. Infolgedessen ist das letzte Kriterium der Wohlgeordnetheit menschlichen Handelns, dass es in Konkordanz zu den Zielen des dreieinigen Gottes erfolgt, wie es in Gottes Selbsterschließung und der daraufhin folgenden Konstitution von Glauben mitgesetzt ist. Immer dann, wenn die menschliche Fähigkeit, Handlungsmittel zu solchen Zwecken einzusetzen, die den Absichten Gottes widersprechen oder die dem tatsächlichen Gut von Kreaturen widersprechen, aktualisiert wird, liegt ein 169 Vgl. Ein Rahmenkonzept für die Dekade zur Überwindung von Gewalt, 475. 170 Vgl. auch den Dislokationsbegriff bei Schwçbel, C., Human Being as Relational Being.

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Missbrauch der menschlichen Handlungsfähigkeit vor. Dieser Missbrauch menschlicher Handlungsfähigkeit (Machtmissbrauch) ist dann als sündige Gewalt zu bezeichnen, während überall dort, wo dieser Missbrauch nicht vorliegt, von nicht-sündiger Gewalt zu sprechen ist. Damit ist die Gefahr des Missbrauchs zur Instrumentalisierung von Theologie zur Bejahung von Gewalt gegeben. Aber dieser Gefahr wird man sich aussetzen und standhalten müssen. Dieses Konzept hat sofort Konsequenzen für die Verhältnisbestimmung der Gewaltbegriffe untereinander. Denn der hier verwendete Begriff sündiger Gewalt ist einerseits enger als der Begriff der Gewalt als sozialer Hemmung (f), andererseits auch weiter. Enger ist dieser Begriff, weil die positive Gewalt ausgeschlossen ist, die in (f) noch nicht ausgeschlossen war. Weiter ist der Begriff, weil nun nicht nur soziale Gewalt in Interaktionsverhältnissen, sondern Gewalt als Machtmissbrauch gegen jegliche Geschöpfe, auch apersonale Kreaturen in den Blick kommt.171 Gemäß der Differenzierung zwischen personalen und nicht-personalen Beziehungen kann nun der Sündenbegriff schärfer durch Mindestbedingungen differenziert werden: In apersonalen Beziehungen liegt überall dort ein Missbrauch der Fähigkeit, Mittel zu Zielen einzusetzen, vor, wo die nicht-personalen Objekte des Handelns eine pseudopersonale Rolle spielen, während in personalen Beziehungen mindestens überall dort sündige Gewalt vorliegt, wo die Personen als Handlungspartner ausschließlich funktionalisiert werden.

4.4.3 Abgrenzungen Hier sollen einige Abgrenzungen vorgenommen werden zu Begriffen, die dem Gewaltbegriff nahestehen, im Gegensatz zu den bisher genannten Gewaltbegriffen aber deutlich unterschieden sind. Gewalt ist nicht Aggressivität. Aggressivität bezeichnet entweder eine bestimmte Art menschlichen oder tierischen Verhaltens oder die entsprechende habituelle und biologische Basis, die hinter diesem Verhalten steht. Während bei Tieren das aggressive Verhalten ausschließlich durch Instinkte geregelt sein dürfte, müssen Menschen lernen, mit ihrer Aggression und Aggressivität so umzugehen, dass sie nicht zerstört, sondern zu einem Gestaltungspotential wird.172 Aggressivität wird daher immer handlungsmotivierend sein, aber sie muss nicht zu Gewalt führen, nicht einmal zu nicht-sündiger Gewalt, da das entsprechende Verhalten nicht zu Hemmungen anderer Zwecksetzungen führen muss. Ein Gegenbegriff zu Aggressivität wäre vielleicht Sanftmut. Die Habitualisierung sanftmütigen Verhaltens wäre, da Sanftmut kein Gegenbe171 Vgl. Ein Rahmenkonzept für die Dekade zur Überwindung von Gewalt, Rahmenkonzept für die Dekade zur Überwindung, 133 f. 172 Vgl. Raiser, K., Gewalt überwinden, 21.

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griff zu Gewalt ist, dann auch nicht notwendig für die Überwindung von Gewalt, aber hilfreich. Sanftmütiges Verhalten kann Gewalt überwinden, muss es aber nicht. Dann ist darin logisch eingeschlossen, dass es selbst auch mit Gewalt verbunden sein kann. Ebenfalls ist Gewalt vom Begriff des Konflikts zu unterscheiden. Dieser bezeichnet lediglich eine Kollision von Handlungszielen. Damit ist nicht notwendig verbunden, dass diese Interaktion eine gewaltsame Form annehmen muss, d. h., eine Form, in der einer der Interakteure tatsächlich das Handlungsziel des anderen hemmt. Der Begriff des Konflikts ist also einerseits weiter als das Verständnis von Gewalt als sozialer Hemmung von Zwecken (f), andererseits aber enger als das Verständnis von sündiger Gewalt, weil der Konfliktbegriff eo ipso ein sozialer Begriff ist. Der Gegenbegriff zum Konfliktbegriff wäre dann der Begriff der Konfliktbewältigung, die verschiedene Formen annehmen kann, z. B. Interaktionsvermeidung, Kompromissfindung oder Versöhnung etc. Im ersten Fall wäre der zu erreichende Zustand Interaktionsabbruch, im zweiten ein wechselseitig toleranter modus vivendi, im dritten Friede. Entsprechend dem Verhältnis des Konfliktbegriffs zu den beiden Gewaltbegriffen gilt dann Folgendes: Artet der Konflikt zweier Aktanten zu Gewalt aus im Sinne der sozialen Hemmungen von Zwecken, ist mit der Versöhnung, dem Interaktionsabbruch oder dem Kompromiss auch die Gewalt im Sinne der Hemmung sozialer Zwecke zwischen den Interaktanten verbunden (f), weil dieser Begriff eine Teilmenge des Konfliktbegriffs ist. Eine entsprechende Konfliktbewältigung führt dann zum Ende der Gewalt (f) zwischen den beiden Interaktanten. Damit muss aber noch nicht sündige Gewalt (l) überwunden sein, weil das neue Kooperationsverhältnis der ehemals konfligierenden Interaktanten selbst gewalttätig sein kann. Auch im Falle des Interaktionsabbruchs können die nun getrennt vollzogenen Handlungen weiterhin gewalttätig sein. Dies gilt auch für den Gemeinschaftsbegriff. Viele Formen von Gewalt im Sinne der sozialen Hemmung von Zwecken sind nur bestandsfähig, weil sie gerade mehr oder weniger feste, z. T. sogar institutionalisierte, Gemeinschaftsformen aufweisen. Zu erinnern ist auch daran, dass auch die Allgemeinheit der Sünde oft gerade mit Gemeinschaftsformen beschrieben werden kann, was z. B. in Ritschls Rede vom „Reich der Sünde“173 oder durch Pauli Rede von der „Gemeinschaft (koinonia!) der bösen Geister“ (1.Kor. 10,20) deutlich wird.174 Wenn vom Mechanismus der Gewaltüberwindung durch die Verweigerung der Opferrolle die Rede ist, ist deutlich, dass hier die Ausübung von Gewalt gerade ein soziales Gemeinschaftsverhältnis 173 Vgl. Ritschl, A., RuV 3, 320. 174 Man definiert Gemeinschaft besser nicht so, dass nur eine liebende Gemeinschaft eine Gemeinschaft ist, so dass eine pervertierte Form des Zusammenlebens bzw. eines sozialen Beziehungsgefüges keine Gemeinschaft mehr wäre. Damit wäre zum einen das Sachproblem nicht gelöst. Ferner wäre dies nicht der