Liebe und Emergenz: Neue Modelle des Affektbegreifens im französischen Kulturgedächtnis um 1700 9783110928624, 9783484507227

As a dynamic phenomenon, 'cultural memory' is also regulated by emotions. Emotions are part and parcel of soci

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Liebe und Emergenz: Neue Modelle des Affektbegreifens im französischen Kulturgedächtnis um 1700
 9783110928624, 9783484507227

Table of contents :
Vorbemerkung
Inhaltsverzeichnis
Liebe, ,Kulturgedächtnis‘ und Emergenz: Kulturwissenschaftliche Perspektiven eines romanistischen Konzeptbands
Liebes (über) blendungen: Aufscheinen neuer Modelle des Affektbegreifens im Kreuzfeuer der Diskurse
,Galante Liebes-Ethik‘: Jean-François Sarasins Dialogue sur la question s ’il faut qu ’un jeune homme soit amoureux
„Qui veut faire l’ange fait la bête“: Das Paradoxon der Leidenschaften in Pascals Pensées
Liebe in Zeiten der Repräsentation: Jean de La Fontaine
Die Aporie(n) leidenschaftlicher Liebe: Überlegungen zu den Lettres portugaises
Literarische Inszenierungen einer science du cɶur bei Marivaux
Haremskonstellationen, oder: die Leerstelle der ‚orientalischen Liebe‘ in der französischen Liebeskonzeption
Affekt und Gattung: Ausreizen
Liebe als Drama: Von Corneille bis Marivaux
Von der carte de tendre zur sensibilité: Dramen französischer Autorinnen zwischen 1650 und 1750
Komik und Code der Passion: Molières Kritik und Teilhabe an galanter Liebeskommunikation
Gefahrliche Leidenschaften: Vom Wandel des amour galant zum amour passion im Roman der französischen Klassik: La Princesse de Clèves und Les Lettres portugaises
„Queu diante d’train qu’l’amour, on est comme des je n’sçais pas quoi!“: Eine literarische Inszenierung plebejischer Liebe des Jahres 1749
Amour sage vs. douce volupté: Das Petrarcabild in der französischen Literatur zwischen 1650 und 1750
,Ιn Liebe‘: Neue Privilegierungen des ,Anderen‘ und Aufwertungen des ,Selbst‘
,Vous fussiez-vous imaginé, Madame, que d’une feuille de papier, j’eusse pu faire un si grand feu?“: Petrarkistischer Liebesdiskurs und Selbstinszenierungen in Cyrano de Bergeracs Lettres amoureuses
Liebe, Freundschaft und commerce: Zur Darstellung intersubjektiver Beziehungen bei Montaigne und La Rochefoucauld
Gegen Agape: Selbstbewußte Liebesbriefe Edme Boursaults: Treize lettres amoureuses d’une dame à un cavalier (1700)
Warum der erste Systemtheoretiker die Liebe nicht begriff: Montesquieus Esprit des Loix (1748)
Liebe zwischen Natur und Gesellschaft: Überlegungen zur Gestaltung des Liebesthemas im frühneuzeitlichen Roman
Forschungsbibliographie
Allgemeine Literatur zur Geschichte des Liebes- und Affektbegreifens sowie Nachschlagewerke
Ausgewählte Literatur der Philosophie, Soziologie und Emotionsforschung
Zur ,Ordnung der Affekte‘ um 1700
Romanistische Forschungsbibliographie zur Liebessemantik von 1650–1750
Anhang
Index Nominum
Index Rerum

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Liebe und Emergenz

Liebe und Emergens Neue Modelle des Affektbegreifens im französischen Kulturgedächtnis um 1700 Herausgegeben von Kirsten Dickhaut und Dietmar Rieger

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Sonderforschungsbereiches 434 »Erinnerungskulturen« der Universität Gießen

Titelbild: Charles Joseph Natoire, »Die Schönheit entfacht die Fackel der Liebe«, 1739, Chateaux de Versailles (Foto: BPK / RMN / Jean Schormans)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-50722-7

ISBN-10: 3-484-50722-5

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Dr. Kirsten Dickhaut, Gießen Druck: Druckerei Lapp & Göbel, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Geiger, Ammerbuch

Vorbemerkung

Ziel des vorliegenden romanistischen Bands ist es, die erinnerungskulturellen Funktionen und Bedeutungen des Liebesaffekts in französischen Texten zwischen 1650 und 1750 zu konturieren und vor allem den Blick systematisch auf neue Formen des Affektbegreifens zu lenken, die nicht ohne den Horizont des ,Kulturgedächtnisses' als solche zu qualifizieren sind. Erst vor diesem Hintergrund emergieren signifikante Modelle des Affektbegreifens und damit transformierte oder variierte Vorstellungen von Eros, Philia und Agape, die in den kultursemiotischen Einzelstudien des Bandes vorgestellt werden. Sie bieten Perspektiven auf die Liebe, die eine höherstufige Reflexion des Affektbegreifens ausweisen und im theoriegeleiteten Blick auf die Liebe Neupositionen im historisch-anthropologischen Feld vorstellen. Viele der hier versammelten Beiträge sind zunächst fur die von uns initiierte Sektion „Europas neue Liebe - Theorie und Repräsentation des Affekts um 1700" des XXIX. Romanistentags in Saarbrücken entstanden, der vom 25.29. September 2005 unter dem Motto „Europa und die romanische Welt" stattfand. Bereits in der Sektionsarbeit hat sich gezeigt, daß das Problemfeld ,der Liebe und des Neuen' eine intellektuelle Kraft birgt, die einen Gedankenaustausch motiviert hat, der es - über systemtheoretische Denkmodelle und Theoreme - erlaubte, die Zeit um 1700 in Frankreich in ein ,neues Licht' zu rücken. Im Anschluß an die Sektionsarbeit ließ sich ein Konzeptband konkretisieren, der die Beiträge systematisch zusammenführt und zugleich darauf zielt, die Entstehungsbedingungen und die Qualitäten des ,Neuen' kontextualisierend zu beschreiben und damit auch den erinnerungskulturellen Rahmenbedingungen, derer das ,Neue' als Differenzqualität bedarf, einen angemessenen Ort in der Reflexion über den Gegenstand zu geben. Unter dem Titel „Liebe und Emergenz. Neue Modelle des Affektbegreifens im französischen Kulturgedächtnis um 1700" fuhrt die vorliegende Publikation sowohl Sektionsbeiträge zusammen als auch Arbeiten von Romanisten, die wir im Anschluß an die Tagung für die Konzeptidee gewinnen konnten. Der vielfaltige Blick auf das anthropologische Feld perspektiviert dabei sowohl theoretische Brennpunkte als auch kontroverse Forschungsfragen zu Einzeltexten der französischen Klassik, Frühaufklärung und Aufklärung neu. Der Band wird durch eine umfassende Forschungsbibliographie zum Problemfeld der „Liebessemantik" abgerundet, die im Rahmen des Gießener DFG-Netzwerks „Liebessemantik. Repräsentation menschlicher Affekte in Texten und Bildern von 1500 bis 1800 in Italien und Frankreich" durch intensive Recher-

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chearbeiten erstellt werden konnte (www.uni-giessen.de/romanistik/frank/ liebessemantik). Sie umfaßt nicht nur verschiedene philologische Arbeiten mit Schwerpunkt auf der romanistischen Forschung, vielmehr berücksichtigt sie auch weitere disziplinare Felder der Emotionsforschungen. Ein solcher Band ist immer ein Gemeinschaftswerk. Der Gießener Sonderforschungsbereich 434 „Erinnerungskulturen" hat ihm und seinem Konzept großes Interesse entgegengebracht und ihn durch einen großzügigen Druckkostenzuschuß wesentlich gefördert. Seinem Sprecher, Jürgen Reulecke, sei an dieser Stelle ausdrücklich dafür gedankt. Herzlich zu danken ist auch Ulrike Dedner, die den Band im Niemeyer-Verlag angenommen und redaktionell engagiert betreut hat, und Sandra Berger, welche die Beiträge zeitintensiv und kompetent zusammen mit Daniela Matzner formatiert hat. Bei der Erstellung der Register hat uns Julia Schütze wertvolle Hilfe geleistet. Nicht zuletzt aber sind wir den Beiträgern selbst zu Dank verpflichtet. Sie haben uns stets mit Rat und Tat unterstützt und es uns ermöglicht, den Band relativ zügig in der vorliegenden Form herauszugeben. Gießen, im November 2006

Kirsten Dickhaut & Dietmar Rieger

Inhaltsverzeichnis

Kirsten Dickhaut Liebe,,Kulturgedächtnis' und Emergenz: Kulturwissenschaftliche Perspektiven eines romanistischen Konzeptbands

1

Liebes(über)blendungen: Aufscheinen neuer Modelle des Affektbegreifens im Kreuzfeuer der Diskurse Jörn Steigerwald ,Galante Liebes-Ethik': Jean-Franfois Sarasins Dialogue sur la question s 'il faut qu 'un jeune homme soit amoureux

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Anne Amend-Söchting „Qui veut faire l'ange fait la bete": Das Paradoxon der Leidenschaften in Pascals Pensees

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Michael Bernsen Liebe in Zeiten der Repräsentation: Jean de La Fontaine

75

Martin Neumann Die Aporie(n) leidenschaftlicher Liebe: Überlegungen zu den Lettres portugaises

85

Jutta Weiser Literarische Inszenierungen einer science du coeur bei Marivaux

99

Birgit Wagner Haremskonstellationen, oder: die Leerstelle der .orientalischen Liebe'in der französischen Liebeskonzeption

117

Affekt und Gattung: Ausreizen Franziska Sick Liebe als Drama: Von Corneille bis Marivaux

135

Rotraud von Kulessa Von der carte de tendre zur sensibilite: Dramen französischer Autorinnen zwischen 1650 und 1750

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VIII

Inhaltsverzeichnis

Bernd Blaschke Komik und Code der Passion: Molieres Kritik und Teilhabe an galanter Liebeskommunikation

165

Rainer Zaiser Gefahrliche Leidenschaften: Vom Wandel des amour galant zum amour passion im Roman der französischen Klassik: La Princesse de Cleves und Les Lettres portugaises

183

Dietmar Rieger „Queu diante d'train qu'l'amour, on est comme des je n's?ais pas quoi!": Eine literarische Inszenierung plebejischer Liebe des Jahres 1749

197

Renate Schlüter Amour sage vs. douce volupte: Das Petrarcabild in der französischen Literatur zwischen 1650 und 1750

211

,ln Liebe': Neue Privilegierungen des , Anderen' und Aufwertungen des ,Selbst' Cerstin Bauer-Funke „Vous fussiez-vous imagine, Madame, que d'une feuille de papier, j'eusse pu faire un si grand feu?": Petrarkistischer Liebesdiskurs und Selbstinszenierungen in Cyrano de Bergeracs Lettres amoureuses ...

227

Silke Segler-Messner Liebe, Freundschaft und commerce: Zur Darstellung intersubjektiver Beziehungen bei Montaigne und La Rochefoucauld

245

Kirsten Dickhaut Gegen Agape: Selbstbewußte Liebesbriefe Edme Boursaults: Treize lettres amoureuses d'une dame ä un cavalier (1700)

263

Paul Geyer Warum der erste Systemtheoretiker die Liebe nicht begriff: Montesquieus Esprit des Loix (1748)

283

Wolfgang Matzat Liebe zwischen Natur und Gesellschaft: Überlegungen zur Gestaltung des Liebesthemas im frühneuzeitlichen Roman

299

Forschungsbibliographie Allgemeine Literatur zur Geschichte des Liebes- und Affektbegreifens sowie Nachschlagewerke

317

Inhaltsverzeichnis

IX

Ausgewählte Literatur der Philosophie, Soziologie und Emotionsforschung

320

Zur ,Ordnung der Affekte' um 1700

323

Romanistische Forschungsbibliographie zur Liebessemantik von 1650-1750

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Anhang Index nominum

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Indexrerum ...,

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Kirsten

Dickhaut

Liebe, ,Kulturgedächtnis' und Emergenz Kulturwissenschaftliche Perspektiven eines romanistischen Konzeptbands

Selbstreflexion und Emergenz sind, so kann man mit Blick auf das für den Band als Titelbild ausgewählte allegorische Gemälde des Hofmalers Charles Natoire (1700-1777), La Beaute rallume le flambeau de l'Amour (1739),1 feststellen, auch in der bildenden Kunst der französischen Frühaufklärung für das Liebesbegreifen zentral. Auf dem Gemälde zündet eine schöne, nur wenig bekleidete, weibliche Allegorie geschickt durch die Kraft der Sonne die Fackel Amors wieder an, die deutlich nach oben gerichtet eine positive Kraft der Liebe symbolisiert. Während das Entflammen für die allegorische Person vorhersehbar und planbar ist, erscheint Amor selbst als überrascht und wirft seine Arme entzückt in die Luft. Das Liebesfeuer kann zwar planerisch in Angriff genommen werden, aber sein Entzünden selbst bleibt kontingent. Daß ferner dem Entstehen von Liebe ein (selbst-)reflexives Moment innewohnt, zeigt die Lupe, die für das Entflammen verwendet wird. Das gewöhnlich zur Lektüre benutzte Vergrößerungsglas, ein optisches Erkenntnismittel, ist auch hier Symbol der Reflexion auf das Liebesmodell. Mangels kunstwissenschaftlicher Aufmerksamkeit diesem Gemälde Natoires gegenüber läßt sich nur spekulieren, ob - wie es die Interpreten der Bilder Antoine Watteaus konstatieren - die hochgehaltene Fakkel auch hier ein Zeichen der zur Ehe führenden Liebe ist.2 Eine solche symbolbedingte Bedeutungszuweisung kann das Liebesverständnis konturieren helfen und zeigen, daß dieses Bild Aspekte der (Un-)Vorhersagbarkeit, der Dynamik und der Reflexionskraft von Liebe modellhaft vor Augen stellt. Daß die Schönheit auf Natoires Gemälde, wie es der Titel suggeriert, Voraussetzung und keine Folge der Liebe ist, läßt ein bestimmtes, neoplatonisches Liebeskonzept aufscheinen.3 Im Vergleich mit den Beobachtungen, die Niklas Luhmann in seiner Studie Liebe als Passion anstellt, mag dies insofern etwas überraschen, als dieser nicht nur maßgebliche Veränderungen im Liebesverstehen für die Zeit um 1700 notiert, sondern einen Paradigmenwechsel nachzeichnet,4 den er durch eine Relativierung der Seltenheitswerte, wie der Schön-

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Öl auf Leinwand, 106 cm χ 152 cm, Schloß Versailles: Musee du chateau, Inventar: 6874, ausgestellt Paris: Salon des artistes franfais 1745. Es gibt ausgesprochen wenige Studien zu diesem Maler, zum Gemälde selbst gar keine Interpretation. Einige wenige biographische Angaben finden sich in folgender Publikation: Ferdinand Boyer: Catalogue raisonne de l'ceuvre de Charles Natoire. Paris 1949. Medienspezifische Aspekte und Differenzen sind hier nicht relevant. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M. 1982.

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Kirsten Dickhaut

heit, als Voraussetzung für Liebe neu bestimmt.5 Die Existenz einer Vielzahl an solchen - sowohl kunsthistorischen als auch literarischen - Beispielen frühaufklärerischer Liebesfiktionen, die dennoch weiterhin Seltenheitswerte als Liebesauslöser thematisieren, bezeugt die Notwendigkeit, nach den semantischen Valenzen von Liebe und ihren Voraussetzungen genau zu fragen. Der Begriff amour wird in der Zeit von 1650 bis 1750 semantischen Auffächerungen unterworfen, die mit einer deutlichen Veränderung des Frauenbildes einhergehen.6 Bezeichnend für die frühaufklärerische Zeit ist, daß viele Synonyme entstehen oder für die Liebe umgewertet werden, die diese modellhaft zu erklären trachten (galanterie, tendresse, amitie, sensibilite, passion etc.), während amour stets ein polyvalenter Oberbegriff bleibt. Er umschließt weiterhin Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe, hetero- oder homosexuelle Liebe7 einerseits und verschiedene metaphorische und metonymische Verwendungen, wie die Vaterlandsliebe, andererseits. In fiktionalen Liebesdarstellungen müssen deshalb gerade die Affekt-, Liebes- und Verhaltenssynonyme von amour in ihren Verwendungen analysiert werden, um dem jeweiligen historischen Liebeskonzept Kontur zu geben. Diesem Ziel hat sich der vorliegende Band verpflichtet, indem er seine Perspektive auf die semantischen Grenzziehungen und Verwerfungen der Liebeskonzepte richtet, deren Reibungsfläche durch den Begriff der Emergenz gebannt ist. Wie in Anbindung an verschiedene Diskurse, Gattungen und Subjektmodelle im vorliegenden Band gezeigt wird, zeichnen sich die Veränderungen der Liebessemantik in der Zeit um 1700 durch Heterogenität und achrononologische Bewegungen aus und gewichten das Verhältnis von Liebe, Sexualität und Ehe auf unterschiedliche Weise neu. Verschiedene historische Liebeskonzepte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, zeigen, daß aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Thesen Luhmanns nicht nur bestätigt und kritisch beleuchtet werden können, sondern unter Fokussierung von diskursiven Praktiken, Gattungspezifika und Subjektmodellierungen ergänzt, respezifiziert oder auch revidiert werden müssen, wenn der Blick zugleich auf einen diachronen, erinnerungskulturellen Vergleich gelenkt wird, der unvorhersehbare Veränderungen im Liebesbegreifen aufzeigt. Die Studien, die in diesem Band publiziert werden, schließen deshalb nicht einfach an die Arbeit Luhmanns an, vielmehr geben sie auch kultur- und literaturwissenschaftliche Impulse und historisierende Antworten auf Fragen zum 5

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„Die Schönheit der Geliebten zum Beispiel ist jetzt [i.e. um 1700] nicht mehr notwendiger Tatbestand, auch nicht notwendige Einbildung, sie ist nicht mehr ein Grund, sondern für die Liebenden selbst eine Folge der Liebe." Zu Luhmanns Imaginationsthese siehe ausfuhrlicher: Liebe als Passion, S. 52. Siehe dazu Maurice Daumas: La tendresse amoureuse XVI e -XVIII e siecles. Petrin 1996. Im vorliegenden Band werden Beispiele heterosexueller Liebe in der Literatur in den Blick genommen. Die in den Analysen herausgestellten Modelle können jedoch durchaus gleichermaßen relevant sein für homosexuelle Liebe. Dies ist vor allem auch bei der Vorstellung von Liebe als homosozialer Freundschaft der Fall.

Liebe, ,Kulturgedächtnis' undEmergenz

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Verhältnis von Literatur, Poetik und Anthropologie in der skizzierten ,Übergangssemantik': Welches Gepräge hat das jeweilige Liebesmodell? Wie läßt sich das Neue nicht nur anhand einer Vielzahl von Texten konstatieren, sondern in Einzelanalysen identifizieren und ästhetisch qualifizieren? Welche Entstehungsbedingungen der Veränderungen und Ausdifferenzierungen des Liebesbegreifens lassen sich benennen? Welcher (mehr oder weniger) reflektierte Mehrwert entsteht aus den Reibungen überkommener anthropologischer Vorstellungen in den Fiktionen? Mit den unterschiedlichen Akzenten der Einzelantworten möchte der Konzeptband Neuperspektivierungen der verschiedenen fiktionalen Liebesmodelle bieten, damit auch den Liebescode in seiner Pluralität zur Kenntnis geben, mithin das Paradigma Ernst Blochs einer ,Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen'8 auch für das Liebesbegreifen um 1700 als bestimmend belegen. Im folgenden werden im Anschluß an eine Erörterung literaturwissenschaftlicher Perspektiven auf die systemtheoretischen Thesen von Liebe als Passion die Relevanz der Fokussierung der ästhetischen Liebesdarstellung diskutiert und dabei verschiedene Darstellungsverfahren genauer konturiert, die zugleich die konzeptionelle Notwendigkeit der dreidimensionalen Perspektive des Bandes - auf Liebe, ,Kulturgedächtnis' und Emergenz - erschließen. In der Querelle des anciens et des modernes, die die zweite Hälfte des 17. und die erste des 18. Jahrhunderts maßgeblich im Fortschrittsdenken geprägt hat, setzt sich der Gedanke einer historischen Relativität der ästhetisch nachzuahmenden Vollkommenheit durch sowie „eine neue, zeithafte Auffassung von der Geschichte und von der geschichtlichen Bedingtheit des Menschen." 9 Leitet man aus diesen Umbauten eine Neuperspektivierung des Modernen und Neuen ab,10 also eine positive Besetzung beider Begriffe, so stellt sich die Frage, wie in dieser selbstreflexiven Epoche11 das Verhältnis von überkommenen Formen des 8

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Siehe auch dazu die Diskussion Reinhart Kosellecks in: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Reinhart Herzog, ders. (Hgg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987, S. 269-282. Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des Anciens et des Modernes, in: ders.: Parallele des Anciens et des Modernes. Par Μ. Perrault de l'Academie Fran9aise. Mit einer einleitenden Abhandlung von H. R. Jauß und kunstgeschichtlichen Exkursen von M. Imdahl. München 1964, S. 8-64, hier: S. 12; siehe zur Querelle die Einschätzungen von Marc Fumaroli: Les abeilles et les araignees, in: Anne-Marie Lecoq (Hg.), La Querelle des Anciens et des Modernes. XVIP-XVIIT siecle. Paris 2001, S. 7-220. Die Folge der Querelle ist, daß die Moderne entsprechend optimistisch besetzt wird: „In der Moderne verschiebt sich die Gewichtung: Das Gedächtnis wird mit Erinnerung gleichgesetzt und die Erinnerung mit der Vergangenheit. Allerdings werden Leitbilder nicht länger in der Vergangenheit gesucht. Das Bestreben nach Dauer wird ersetzt durch den Drang nach Veränderung, die Wiederholung durch Neuheit, die Beständigkeit durch Wandel." (Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt/M. 2002, S. 7). Rene Demons: Les fetes galantes chez Watteau et dans le roman contemporain, in: Dixhuitieme siecle 3 (1971), S. 337-357.

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Kirsten Dickhaut

Liebesbegreifens und neuem, also cartesianischem Menschenbild, in den verschiedenen literarischen Gattungen einzuschätzen ist. Die zentrale These des vorliegenden Bandes lautet, daß das Vollkommenheitsstreben um 1700, das durch Liebe erzeugt wird, vor dem Hintergrund einer nicht (mehr) dominierbaren Affektkontrolle in la cour et la ville und einer Verbürgerlichung von Liebe' entsteht und mit ihm verschiedene Modelle des Liebesbegreifens zu entdecken und in ihrer Semantik zu beschreiben sind. Diese Modelle zeichnen sich dadurch aus, daß sie erstens im positiven Sinn als neu qualifiziert werden, zweitens eine breite, variantenreiche, pessimistisch bis optimistisch konnotierte Auseinandersetzung mit den Subjektmodellen bieten, die durch das jeweilige Selbstverhältnis (als amour de soi oder amour propre) ihre spezifische Gewichtung erhalten, und drittens eine andere, in der Relativierung des Tradierten plausibilisierten Legitimität des rein menschlichen Bedürfnisses nach Zuneigung behaupten und damit das Feld von Eros, Philia und Agape neu gewichten. All dies ist vor dem Hintergrund bedeutsamer Veränderungen der Hierarchie der Affekte und der Neueinordnung,12 d.h. Entthronung der Liebe durch und nach Descartes zu betrachten. Gleichermaßen spielt in der Zeit nach dem Edikt von Fontainebleau (1685) die Auseinandersetzung zwischen katholischen Liebesvorstellungen und zurückgedrängten reformierten Konzepten eine zentrale Rolle. Die neue Pluralisierung von Liebe um 1700 wird nicht mehr auf einen Zielpunkt, das summum bonum, ausgerichtet und findet demgemäß nicht mehr ausschließlich im amour purn ihren besonderen Ausdruck. Vielmehr sind verschiedene (von theozentrischen bis egozentrischen) Hierarchien im Liebesbegreifen auszumachen, die durch unterschiedliche Argumentationen ihr jeweiliges theoretisches Erkenntnisgerüst plausibilisieren wollen. Die Aufwertung der sinnlichen Erkenntnistheorie, des Sensualismus und der Empfindsamkeit, finden ihren ästhetischen Ausdruck ebenfalls Ende des 17. Jahrhunderts und werden mit den Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture (1719) des Abbe Jean-Baptiste Du Bos zugespitzt. Grundsätzlich werden mit der cartesischen Relativierung von amour und der Prävaluierung von admiration also deutliche De- und Resemantisierungen vorangetrieben,14 die aus heutiger Perspektive als Vorbereitung auf eine Anerkennung des Freundschaftsmodells für die Liebe hinauslaufen. Die Adaptation dieses Modells ist in der Zeit zwischen 1650 und 1750 in Frankreich für viele Liebeskonzepte bestimmend. Die Konsequenzen, die sich an diesen Relativier12 13

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Vgl. Gisele Mathieu-Castellani: La rhetorique des passions. Paris 2000. Diesem Umbau eingeschrieben ist eine auch den Jansenismus maßgeblich prägende Diskussion, die Robert Spaemann nach Fenelon wie folgt faßt. Er fragt, ,,[o]b es fiir das Wesen [der] Liebe konstitutiv sei, jene himmlische Seligkeit zu erstreben." (Robert Spaemann: Reflexion und Spontaneität. Studien über Fenelon. Stuttgart 1963, S. 39). Die hier bereits bedachte Möglichkeit, das Verständnis der menschlichen Liebe vom summum bonum abzusetzen und damit dem Freundschaftsmodell überhaupt erst Tür und Tor zu öffnen, wird in den Beiträgen anhand der einzelnen literarischen Textanalysen ermessen. Siehe dazu z.B. Delphine Denis, Francis Marcoin (Hgg.): L'Admiration. Artois 2003.

Liebe, ,Kulturgedächtnis' und Emergenz

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ungsprozeß der ursprünglichen ,Liebesherrschaft' in der ,Ordnung der Affekte' und an den damit einhergehenden Anthropologisierungsschub von Liebe binden, d.h. sich an das Aufkeimen eines modernen Menschenbildes anschließen, sind eine Pluralisierung des Liebesbegreifens, eine hohe Dichte an selbstreflexiven Affektdarstellungen und im Zuge dessen eine dynamische Auseinandersetzung mit dem ,Kulturgedächtnis': 15 Jeder Darstellung von Liebe sind die Fragen eingeschrieben, wie bisher über Liebe nachgedacht wurde und woran sich die axiologischen Vorstellungen orientierten. Grundsätzlich sind es semantische, gestalttragende Einheiten, die in den Neukonzeptualisierungen bestimmend wirken, wenn sie zum Kernelement eines Modells (z.B. des je ne sais quoi) erhoben und in dieser Denkfigur im Hegeischen Sinne aufgehoben werden. Im vorliegenden Band liegt der Fokus auf umfassend-vergleichenden und auf paradigmatischen Analysen, die aus der ecriture der Liebespraxis heraus innovative Konzepte extrapolieren. Diese zeichnen sich grundsätzlich durch eine ,neue Qualität' aus. Der verfolgte Ansatz sucht nach denjenigen Konzepten von Liebe, die in der historischen Zeit in einer Vielfalt auftreten und diskutiert werden, heute jedoch nicht mehr unbedingt als ,modern' gelten. Gerade diejenigen, vielleicht zwischenzeitlich verworfenen Modelle werden vorzugsweise fokussiert, um der historischen Differenz Rechnung zu tragen. Deshalb wird in diesem Band eine theoriegeleitete Herangehensweise umgesetzt, die durch drei Modi ihre Auseinandersetzung mit Luhmanns Liebe als Passion praktiziert. 16 Im Blick auf Diskurspraktiken, Gattungsspezifika und Subjektmodellierungen werden in den Einzelanalysen die Darstellungsverfahren der Liebesmodelle und ihre Bedeutungen reflektiert. Es werden nicht nur Lücken im , System' geschlossen, sondern Luhmanns Thesen werden auch weitergeführt und anhand neuer, unentdeckter Quellen belegt oder auch revidiert. Schließlich mündet die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung über eine Facettierung hinaus auch in kritische ReSpezifizierungen, die dann besonders erhellend sind, wenn die literarischen Texte selbstreflexiv die Liebesdarstellungsmodi thematisieren und/oder auch ironisierend erproben. Die einzelnen Liebesdarstellungsweisen, die durch diese drei Anbindungsmöglichkeiten (diskursiv, gatttungsspezifisch, subjektkonstitutiv) in unterschiedlichen Funktionen als ,neu' bestimmt werden, können in ihrem selbstreflexiven Gestus verschiedene ästhetische Modi praktizieren: Während meta-

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Das Gepräge des ,Kulturgedächtnisses' in der Zeit ist vornehmlich höfisch, jedoch setzt die Verbürgerlichung schon starke Akzente und befördert die Übergänge der Semantik. Die Gedächtnisstruktur umfaßt dabei Handlungsmodelle, die für strategische Züge zur Verfugung stehen. Michel de Certeau: L'invention du quotidien. 1. Arts de faires. Paris 1990 ('1980), S. 41. Siehe zum Begriff des .Kulturgedächtnisses' meine Ausführungen ab S. 17. Eine paradigmatische Analyse aus literaturwissenschaftlicher Perspektive mit Blick auf die Liebessemantik der französischen Literatur hat Thomas Klinkert vorgelegt: Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik (Hölderlin, Foscolo, Madame de Stael und Leopardi). Freiburg 2002.

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Kirsten Dickhaut

phorische und metonymische Liebesentwürfe die gängigen Varianten sind, erschließen sich neue Seinsweisen von Liebe gerade durch eine ausgestellte und liebesbezogene Selbstreflexivität, die sich zugleich in einer Betonung oder Abgrenzung zu erinnerungskulturellen Traditionen manifestiert. Diese werden zuweilen gedoppelt, wenn das Auftauchen von innovativen Modellen durch eine ecriture geprägt ist, die sich selbst durch Emergenzen vor der diachron-intertextuellen Matrix des ,Kulturgedächtnisses' und synchron in der Modellierung des Gegenstandes auszeichnet.17 Das Konzept des Bandes wird demgemäß durch die beiden zentralen Begriffe in der Titelgebung, „Liebe und Emergenz", konturiert und exponiert. Emergenz wird verstanden als „das plötzliche Auftreten einer neuen Qualität, die jeweils nicht erklärt werden kann durch die Eigenschaften oder Relationen der beteiligten Elemente, sondern durch eine jeweils besondere selbstorganisierende Prozeßdynamik'." 18 Überträgt man diese Definition der Systemtheorie als metaphorisches Denkmodell19 in die Kulturwissenschaften, so zeigt sich, daß die Betonung des Irreduziblen bedeutet, daß hier ein neues Liebeskonzept sich nicht aus den jeweiligen Bestandteilen erklären läßt. Die Bezugnahme auf das ,Kulturgedächtnis' behauptet deshalb keine Begründung des Ursprungs bzw. Ursächlichen, sondern sie erlaubt eine nachträgliche Beschreibung des Hervorgehens. Die Differenz zwischen beiden Modellen liegt in der Sprungqualität der Emergenz. Mit dem Blick auf das ,Kulturgedächtnis' wird zwar das Hervorgehen verfolgt, jedoch keine reduktionistische Ursache-Wirkung angenommen, sondern ein plötzliches Entstehen beschrieben, das nicht restlos erklärt werden kann und auch die Erklärung dafür schuldig bleibt, wofür sich die historische Voraussetzung als Bedingung versteht.20 Bei der Übertragung dieser Definition von Emergenz aus der Systemtheorie in die Kulturwissenschaften entsteht ein Problem der Divergenz der Beobachtungsebenen, das es kurz aus der Position der Literaturwissenschaft heraus zu klären gilt. Systemtheoretische Perspektiven gehen bekanntlich von einer Tren-

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„Ablesbar ist diese Emergenz am Wandel der Modellierungen, die der nachzuahmende Gegenstand in der Geschichte des Mimesiskonzepts erfährt." (Wolfgang Iser: Mimesis-* Emergenz, in: Andreas Kablitz, Gerhard Neumann [Hgg.], Mimesis und Simulation. Freiburg im Breisgau 1998, S. 669-684, hier: S. 672). Günter Küppers, Wolfgang Krohn: Selbstorganisation. Zum Stand einer Theorie in den Wissenschaften, in: dies. (Hgg.), Emergenz von Ordnung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt/M. 1992, S. 7-26, hier: S. 7f; siehe zur Eigenschaft des Irreduziblen auch Thomas Wägenbaur (Hg.): Blinde Emergenz? Interdisziplinäre Beiträge zu Fragen kultureller Evolution. Heidelberg 2000, S. 6. Siehe ausführlicher zur Metapherntheorie und ihren erkenntnistheoretischen Möglichkeiten Max Black: Mehr über die Metapher, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1996 (' 1983), S. 379-413, hier S. 405). Siehe auch dazu: Max Black: Die Metapher ('1954), in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher. Darmstadt 1996 (21983), S. 55-79; zu diesem Zusammenhang Kirsten Dickhaut: Verkehrte Bücherwelten. Eine kulturgeschichtliche Studie über deformierte Bibliotheken in der französischen Literatur. München 2004, S. 13ff und S. 99ff. Wolfgang Iser: Mimesis-»Emergenz, S. 681.

Liebe, ,Kulturgedächtnis'

undEmergenz

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nung der Systeme aus, die aus einer Beobachterperspektive heraus das geschlossene Kommunikationssystem beobachten und dabei Liebesrepräsentationen als Operationen erfassen können. Das System operiert dabei selbstorganisierend. Dies kann und muß für literarische Prozesse bedeuten können, daß Selbstorganisation eine Frage der vom Beobachter erkannten Ordnung ist. 21 In diesem Sinn läßt sich Ordnung als kontextbedingt und damit als „erkenntnissubjektiver Begriff' 2 2 bestimmen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht kann das K o m m u nikationssystem also nur als sehr weitgefaßt angenommen werden. D.h. also, daß innerhalb des historischen Kommunikationssystems sowohl literarische Texte als auch nicht-fiktionales Quellenmaterial miteinander operieren. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive stellt sich dann die Frage nach der Rolle von Liebe in der Gesellschaft, die Luhmann mit seinem Medienbegriff konzise beantwortet. Liebe wirkt kommunikationsfördernd. Das Interesse der Literaturwissenschaft jedoch, wie sie hier praktiziert wird, gilt der Frage nach den historischen Begriffen und Wertigkeiten von Liebe. Wie wurde Liebe historisch verstanden und diskursiv verortet? Welche anthropologischen, ethischen, sozialen und ästhetischen Versuche wurden in Fiktionen anhand von Liebesentwürfen erprobt? Welche literarhistorischen Veränderungen lassen sich im Blick auf Liebesdarstellungen und durch sie erkennen und mit dem Begriff der Emergenz fassen? Die Emergenz wird erst innerhalb des literarischen Textes erkennbar und dann als bedeutungsstiftende Kategorie für die Literaturwissenschaft interessant. Es geht deshalb nicht darum, die Differenz System/Umwelt 2 3 zu beobachten oder auch das soziale System zu beschreiben, sondern einzelne literarische Texte werden untersucht im Blick auf ihre Aufarbeitung des ,Kulturgedächtnisses' und des historischen Kontexts, die beide innerhalb des Kommunikationssystems operieren. Diese Form der Aufarbeitung wird in bezug auf das Liebesbegreifen nicht mehr durch ein „zweistelliges Mimesiskonzept" 2 4 be-

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„Unter Selbstordnung verstehen wir, daß ein System durch seine Eigendynamik in Richtung auf eine Ordnung sich ändert." (Ulrich Müller-Herold: Selbstordnungsvorgänge in der späten Präbiotik, in: Günter Küppers, Wolfgang Krohn [Hgg.], Emergenz von Ordnung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt/M. 1992, S. 89-103; hier: S. 92, Hervorheb. im Original). Günter Küppers, Wolfgang Krohn: Selbstorganisation. Zum Stand einer Theorie in den Wissenschaften, S. 12. Die von Luhmann getrennten Systeme, Kommunikation und Bewußtsein etwa, können nicht interagieren, jedoch kann die Analyse der Thematisierungen von Liebe und Bewußtsein in der literarischen Kommunikation zu wichtigen Ergebnissen fur Literaturwissenschaft oder auch für die Bewußtseinsphilosophie gleichermaßen fuhren. Siehe auch dazu Niklas Luhmann: Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Alois Hahn, Volker Kapp (Hgg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt/M. 1987, S. 25-94; hier: S. 25; sowie: Niklas Luhmann: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, in: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, S. 37-54. Iser zielt hier auf sein eigenes Fiktionsmodell: Wolfgang Iser: Mimesis~ »Emergenz, S. 680.

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schreibbar, vielmehr fuhrt das Modellieren des Liebesgegenstands zu wechselseitigen Störungen, die sich als emergent kennzeichnen lassen. 25 Die ,Emergenz' erlaubt es deshalb, das Konzept des Neuen theoretisch zu fundieren und seine Semantik präzise zu fassen, die Qualität des historisch Innovativen von Liebe zu erkennen und zugleich von einem kulturevolutionären Verständnis im teleologischen Sinne explizit Abstand zu nehmen. Die Leitfrage des Bandes konzentriert sich in diesem Sinn nicht auf die Konturierung des Ursächlichen und der Tradition, sondern zielt auf die Entstehungsbedingungen des Neuen (im Sinne Michel Foucaults 26 ), auf die Frage nach den Aktivitäten des ,Kulturgedächtnisses'. 27 In bezug auf die literarischen Primärtexte muß dann auch pragmatisch gefragt werden: Wie läßt sich Neues in der Liebesdarstellung entdecken? Grundsätzlich kann nur durch den Blick auf das ,Kulturgedächtnis' die Emergenz eines neuen Liebeskonzepts erkannt werden. Entweder wird bereits die Emotion in der historischen Zeit neu gefaßt und über entsprechende Modelle ausgewiesen und diskutiert, oder das Liebesbegreifen wird durch einen theoriegeleiteten Analyseblick auf literarische Beispiele als innovative Repräsentation kenntlich. Die Perspektive auf „Liebe und Emergenz" zu lenken vermag deshalb nicht nur Liebesmodelle zur Kenntnis zu bringen, die davon ausgehen, die jeweilige Emotion selbst entstehe grundlos und plötzlich, vielmehr umspannt der vorliegende Band eine große Breite an Analysen literarischer Beispiele, die das „organische Eigenleben der Begriffe" 28 beleuchten und einen reflexiven Mehrwert der historischen Modelle in bezug auf das Liebesbegreifen in literarischen Texten fruchtbar machen wollen. Daß eine Vielzahl an Veränderungen in den Liebesmodellen des ausgehenden 17. Jahrhunderts zu verzeichnen ist, mag im zeitgenössischen Umdenken des Werteverhältnisses von ,alt' und ,neu' mitbegründet sein. Dies muß jedoch Spekulation bleiben. Im erläuterten Sinn erlaubt

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Zur Wirkung von emergenten Phänomenen siehe Wolfgang Iser: Mimesis-» Emergenz, S. 680. Vgl. zum Verhältnis von Emergenz und Michel Foucaults Abgrenzung von der Herkunftsidee: Thomas Wägenbaur (Hg.), Blinde Emergenz? Zum Genealogie-Gedanken siehe Michel Foucault: Nietzsche, la genealogie, l'histoire, in: ders.: Dits et Ecrits I. 1954-1975. Paris 2001, S. 1004-1024. „[C]e reste laisse par la colonisation technologique acquiert valeur d'activite ,privee', se charge d'investissements symboliques relatifs ä la vie quotidienne, fonctionne sous le signe des particularites collectives ou individuelles, devient en somme la memoire ä la fois legendaire et active de ce qui se maintient en marge ou dans l'interstice des orthopraxies scientifiques ou culturelles." Michel de Certeau: L'invention du quotidien. 1. arts de faire, S. 109. Winfried Wehle: Diaphora. Barock: eine Reflexionsfigur von Renaissance - Wandlungen Arkadiens bei Sannazaro, Tasso, Marino, in: Joachim Küpper, Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Diskurse des Barock. Dezentrierte oder rezentrierte Welt? München 2000, S. 95-143, hier: S. 107.

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es die Metapher der Emergenz,29 die neue Qualität in je konkreten Einzelanalysen zu benennen, denn das Denkmodell behauptet, daß das Neue nicht in der Synthese oder in Varianten überkommener Modelle zu suchen ist, sondern daß es sich um ein plötzliches Auftreten einer neuen Dimension handelt, die eben nicht additiv, sondern reflexiv geprägt ist.30 Ob das Denkmodell der Emergenz der Qualität des Neuen gerecht wird, wird in den Einzelbeiträgen nach den historischen Gegebenheiten entschieden. Es geht darum, sich mit Fragen des Liebesbegreifens um 1700 in der französischen Literatur in einer Weise zu beschäftigen, die es durch Bezugnahmen auf Diskurspraxis, Gattungsspezifik und Subjektmodelle erst erlaubt, in den ästhetischen Texten Neues zu erkennen und damit auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive das weite Feld der historischen Liebessemantik systematisch zu analysieren und als bedeutsames Segment der literarisch-anthropologischen Debatte zu begreifen.

Konzeptuelle Leitfragen Der Soziologe Luhmann hat in seiner Studie Liebe als Passion das Diskussionsfeld über die Liebessemantik31 neu eröffnet und mehrere, die Forschung nachhaltig beschäftigende und betreibende Thesen aufgestellt. So hat er in bezug auf ein umfassendes Romankorpus der französischen Frühaufklärung auch eine Komplexitätssteigerung der Liebessemantik vermerkt. Die romanesken Entwürfe werden als „Spiegel der Entwicklung" von der stratifikatorischen zur funktionalistischen Gesellschaftsstruktur begriffen. 32 Sieht man zunächst einmal von

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„Emergente Phänomene also sind aus den vorhandenen Vorgaben weder ableitbar; geschweige denn vorhersagbar, weil im wechselseitigen Einwirken der Vorgaben diese zwangsläufig eine Veränderung erfahren." (Wolfgang Iser: Mimesis-'Emergenz, S. 682). Damit wird auch deutlich, daß es hier nicht nur um ein Ausweisen der durch aemulatio bedingten Prozesse geht, denn die emergenten Phänomene können auch unabhängig von einer (postulierten) mimetischen Überbietung auftauchen. Bekanntlich ist der Begriff der ,Liebessemantik' eine Luhmannsche Prägung, die eine Verbindung zweier Schlüsselbegriffe seiner Theorie darstellt. Während jedoch für Luhmann ,Liebe' ein Medium ist, das die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation wahrscheinlicher werden läßt, wird im vorliegenden Band ,Liebe' weiter gefaßt, anthropologisch als Emotion begriffen. Der Begriff der Semantik, den Luhmann als „kulturelle Überlieferungen, literarische Vorlagen, überzeugungskräftige Sprachmuster und Situationsbilder" (Niklas Luhmann: Liebe als Passion, S. 47) resümiert, läßt sich mit dem im folgenden noch zu diskutierenden ,Kulturgedächtnis' korrelieren. Daß eine Veränderung der begrifflichen Prämissen durch Fokussierung anthropologischer Aspekte auch zu anderen Ergebnissen in bezug auf die Liebessemantik führt, versteht sich von selbst; dies zeigt jedoch zugleich die Notwendigkeit einer literaturwissenschaftlichen Neuperspektivierung der Luhmannschen Thesen für die Zeit um 1700. Vgl. zur ,Liebessemantik' im Sinne Luhmanns Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003. Niklas Luhmann: Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissensso-

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dem aus literaturwissenschaftlicher Sicht eingeschränkten, weil bloß funktional (im Sinne einer Eins-zu-eins-Beziehung) gefaßten Literatur- und Fiktionsbegriff ab, so läßt sich dennoch mit Luhmann eine Ausdifferenzierung und Verdichtung des Liebesbegreifens in Frankreich in der Zeit um 1700 situieren. 33 Wichtige Kennzeichen der Komplexitätssteigerung sind für ihn Bezugnahmen neuer Modelle auf solche historischer Prägung, die der Liebe traditionell antithetisch zugeordnet sind. So wird in der Frühaufklärung die Liebe am Paradigma der Freundschaft ausgerichtet und - auch dies gehört zur paradoxen Qualität der von Luhmann konturierten Liebe - die Sexualität in den Liebescode eingebaut. 34 Die diesbezüglichen Antworten im vorliegenden Band fallen aus anthropologischer, sozialer, ethischer und ästhetischer Methodenperspektive unterschiedlich aus und gewichten die historischen Modelle neu: Diese verhandeln die Frage des amour pur35 mit Modellen der Galanterie, Selbstliebe und Eigenliebe, mit Eros, Philia und Agape. Auch deshalb kann und wird der von Luhmann skizzierte Prozeß nicht eindimensional und in allen literarischen Texten gleichermaßen vollzogen, 36 vielmehr zeigen verschiedene Diskurse, Gattungen und Subjektmodelle unterschiedliche Interessen an den modellgestützten Ausdifferenzierungen von tendresse, amitie oder sensibilite etwa und betreiben oder retardieren, bestätigen oder kritisieren auch (implizit) den Befund jener Übergangssemantik, die in der Forschungsliteratur schon als historisches Merkmal der Regence herausgestellt wurde. 37 Unter dem Obertitel „Liebe und Emergenz" wurden Studien über literarische Texte aus der Zeit um 1700 systematisch zusammengestellt, die ein doppeltes Ziel in bezug auf das ,Kulturgedächtnis' verfolgen: Zum einen weisen sie signifikante Veränderungen von Liebessemantik-SeAe/wata aus, zum anderen beschreiben sie Verschiebungen und Brüche in der erinnerungskulturellen Praxis des Affekterfassens. In den Beiträgen wird herausgestellt, inwiefern und mit welchen Modellverschiebungen das ,Neue' im Gedächtnishorizont zu qualifizieren ist. Die gemeinsame Perspektive läßt sich durch folgende Leitfragen zur

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ziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt/M. 1993 ('1980), S. 72-161, hier: S. 84. Den historischen Moment des semantischen Umbaus erläutert Luhmann mehrmals, exemplarisch sei auf folgende Stellen verwiesen: Niklas Luhmann: Liebe als Passion, S. 18, 75. Niklas Luhmann: Liebe als Passion, S. 53, 103. Fenelons Dissertatio de amore puro und die nach wie vor einschlägige Analyse von Spaemann: Reflexion und Spontaneität, S. 26-50. Die literatur- und kulturwissenschaftliche Kritik an der Luhmannschen Teleologie formuliert Aleida Assmann abgrenzend wie folgt: „An Stelle einsinnig gerichteter Prozesse tritt die Dialektik von Ausdifferenzierung und Entdifferenzierung, von Autonomisierung und Absolutsetzung der Literatur in den Blick." (Aleida Assmann: Was sind kulturelle Texte?, in: Andreas Poltermann (Hg.), Literaturkanon - Medienereignis - kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin 1995, S. 232-244, hier: S. 243). Z.B. Paul Hazard: La crise de la conscience europeenne 1680-1715. Paris 1961; Louise K. Horowitz: Love and language: a study of the classical French moralist writers. Columbus 1977.

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Emergenz neuer Liebesmodelle pointieren: Sind die äußeren Zeichen der Innovation nicht tatsächlich Verschleierungsmechanismen fur Traditionelles? Lebt etwa ein religiöses Muster in säkularisierter Form im ,Kulturgedächtnis' weiter? Läßt sich durch eine kultursemiotische Analyse anhand von Emotionsschemata Innovatives entdecken, das sich durch Techniken der Dissimulation nur als Tradiertes zu erkennen geben will? Und vor allem: Aus welchen überlieferten Schemata entsteht nicht etwa in einem additiven Modus Neues, sondern emergiert ein innovatives und reflektiertes Modell des Liebesbegreifensl Welcher Wert wird dem Neuen beigemessen? Mit ihren spezifischen Antworten auf die Leitfragen tragen die Einzelstudien wesentlich dazu bei, die in der Luhmannschen Studie vernachlässigte Gattungsspezifik als Differenzierungsmöglichkeit der systemtheoretischen Perspektive zu nutzen, die diskursive Anbindung der jeweiligen - und verschiedenen - Liebesmodelle (in bezug auf den ethischen, anthropologischen, epistemologischen und ästhetischen Diskurs, aber auch in Verbindung mit gewder-Perspektiven und sozialen Implikationen) offenzulegen und die reflektierte Spezifik und Differenz des jeweils Neuen in der ästhetischen Praxis von Subjektmodellierungen auszuweisen. Im folgenden sollen die genannten Fragekomplexe in den Forschungsdiskussionen situiert und respezifizierend erörtert werden. Dies geschieht in drei Abschnitten. Zunächst werden die literarischen Darstellungsverfahren von Emotionen und die Möglichkeit des Ausweisens einer Liebessemantik diskutiert. Es folgt eine Reflexion auf das weite Feld der erinnerungskulturellen Forschung und eine weiterführende Erläuterung der Relevanz des ,Kulturgedächtnisses' für die vorliegende Konzeption. Abschließend wird die der Denkfigur der Emergenz zugeordnete Beschreibungsqualität und der durch diese Metapher mögliche Erkenntnisgewinn für die Einzelbeiträge zugespitzt. Die Fokussierung des Liebesbegreifens und der emergenten Modelle soll zu einer Neuperspektivierung des in der Bezeichnung des ,Neuen' vielfach Nivellierten führen und damit einer reflektierten Erschließung diverser Facetten des Denkens über Liebe in Frankreich um 1700 dienlich sein. In der Verbindung von historisch versichertem Blick und theoretischer Reflexion scheint die Differenzqualität der einzelnen literarischen Werke auf.

Liebe und

Darstellung

Liebe zu erkennen bedingt eine im Denken sich vollziehende Versprachlichung und provoziert damit einen hermeneutischen Akt. Der Versuch, Liebe zu verstehen, ist immer schon sprachlich strukturiert und dem Logos zugeordnet. Umgekehrt entzieht sich die dem Logos gar nicht zugängliche Liebe (eine quasi-vorbewußte Liebe) unserem Begreifen und damit der Kommunikation. 38

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Ludwig Wittgenstein hat sich intensiv mit dieser Problematik befaßt und die für den Poststrukturalismus wichtige These aufgestellt und begründet, daß Empfindungen nicht ohne ein äußeres Korrelat kommunizierbar seien (siehe zum sogenannten Privatsprachenargu-

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Vielleicht liegt es in der Beziehung von Liebe und Sprache begründet, daß jene Empfindung, des Menschen Drang nach Nähe und Wunsch nach „Herstellung von Vereinigung", 39 wohl das am besten dokumentierte Anthropologikum darstellt und demgemäß die Literatur ein besonderer Ort der ,Jagd' nach einer Liebe ist, die sich immer dem zeichenhaften Zugriff zu entziehen droht. Auch wenn die Liebe nach Ausdruck drängt und literarische Produktivität generiert, steht diese Ausdrucksvielfalt im Zusammenhang mit drei grundsätzlichen Darstellungskomplexen, die immer wieder Anlaß geben, das Verhältnis von Liebe und Kultur zu überdenken. Den ersten Darstellungskomplex birgt bereits die Benennung von Liebe. Eine Erwähnung und damit Setzung von amour möchte zwar die Empfindung einfangen, plastisch werden lassen, stabilisieren, vereindeutigen und aus der Gemengelage der Emotionen herausdestillieren. Doch der Begriff amour und seine Flexionen behaupten allenfalls eine Empfindungsentität, zum semantisch eindeutigen Nachweis kann die Sprache nicht dienen. Sie ist allenfalls eine Spur oder ein spürbarer Auslöser dessen, was in der Vorstellung der Leser entsteht. Der sprachliche Liebesausdruck ist prinzipiell dem Verdacht der Unzuverlässigkeit ausgesetzt. Jedoch kann eine literaturwissenschaftliche Arbeit nicht bei dieser Beobachtung stehen bleiben, sie muß sich - eingedenk der Diskurspraxis, Gattungs- und Subjektproblematik - der Frage der Dechiffrierung der literarischen Liebesaussagen stellen: Dies bedeutet, daß die spezifischen Ambivalenzen und Darstellungskomplexe in ihrer historischen Valenz interpretatorisch entfaltet werden müssen. Auch wenn der Liebesdiskurs eine Forderung der Auseinandersetzung mit Möglichkeiten von Authentizität und Unverstelltheit impliziert und auch wenn der Verdacht der Simulation und der Dissimulation selbst nie ganz ausgeräumt werden kann, so ist bereits die Zuschreibung von Vortäuschung einer Leidenschaft oder eines Erkennens von Verschleierungsstrategien ein wesentlicher, in der literaturwissenschaftlichen Analyse auszuweisender Unterschied oder eine zu benennende Gemeinsamkeit. Das Dilemma der Analyse von Aufrichtigkeit, das sich in jeglichem Liebesentwurf verbirgt, besteht darin, zwischen einer notwendigen Abgrenzung von rhetorischem Spre-

ment Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/M. 1990 ('1921 in Annalen der Naturphilosophie ohne Wittgensteins Mitarbeit), S. 225-580; sowie die bemerkenswerte Arbeit von Walter Koch: Über Bedingung und Möglichkeit sprachlicher Bezugnahme auf Empfindungen. Frankfurt/M. 2000; Barbara Schmitz: Wittgenstein über Sprache und Empfindung. Eine historische und systematische Darstellung. Paderborn 2002). Für Luhmann ist der Ausweg aus dem Dilemma die konsequente und theoretisch begründete Trennung der Systeme; Jacques Derrida, der grundsätzlich die Idee einer (,metaphysischen') Präsenz von Sprache dementiert, betont das für das Anthropologikum zentrale Fehlen eines „absoluten Verankerungszentrums" (Jacques Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders.: Limited Inc. Aus dem Französischen von Werner Rappl unter Mitarbeit von Dagmar Travner. Wien 2001, S. 15^15, hier: S. 32). Allein sich der Aufgabe der Interpretation zu stellen, bleibt auch nach der Sensibilisierung fiir die Darstellungsproblematik eine Herausforderung. 39

Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt/M. 2002, S. 8.

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chen einerseits und einer genauso unerläßlichen Markierung von Wahrhaftigkeit andererseits zu balancieren.40 Dieser Konflikt prägt die Liebesdarstellung in grundlegender und diejenige in der französischen Frühaufklärung in besonderer Weise. Dieses erste gewichtige Darstellungsproblem wird zudem von der Annahme möglicher Konstruktivität41 überschattet und zugleich zugespitzt. Die Beziehung zwischen Sprache und Liebe wird dann gewissermaßen umgekehrt: Einer Darstellung wird die Kraft zugeschrieben, eine Realität auch zu verändern, mithin die Vorstellungen der Rezipienten zu transformieren. In der Folge von Michel Foucaults Archeologie du savoir (1969) und Michel de Certeaus L 'invention du quotidien (1980) läßt sich die konstruktivistische These auch hier bestätigen, daß letztlich alle Geschichte Kulturgeschichte ist,42 mithin auch die Liebe und ihre Bedeutung als Kulturgut zu begreifen sind. Die literaturwissenschaftliche Herausforderung besteht nun darin, sich eingedenk der Konstruktivität mit den historischen Valenzen fiktionalisierter Liebe zu beschäftigen und ihre historische Semantik im Sinne der genannten Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' zu beschreiben und damit zugleich die je spezifische diskursive Anbindung zu benennen. Es gilt, erste Facetten einer Kulturgeschichte des Liebeswissens für einen engen Zeitraum zu konturieren, dessen ausgebildete und emergierende „Darstellungsoptionen" Aussagen über die „Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche"43 ermöglichen, weil die Korrelation zwischen Gegenstand und Darstellung nicht vorausgesetzt wird. Die verschiedenen Optionen und Verfahren, die die unterschiedlichen Konzepte von Liebe in der Zeit um 1700 in Frankreich verhandeln, müssen deshalb in den Einzelinterpretationen ausgewiesen werden.

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Claudia Benthien, Steffen Marius: Einleitung. Aufrichtigkeit - zum historischen Stellenwert einer Verhaltenskategorie, in: dies. (Hgg.), Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 114), S. 1-16. „Ein wohlverstandener Konstruktivismus impliziert keineswegs willkürliche, individuelle Konstruktionen. Realität ist eine sozial und kulturell geteilte Konstruktion, auf die wir nicht verzichten können und die in ihrer Widerständigkeit konstruktivistisch beibehalten werden kann. Dies gilt auch fur Gefühle. Gefühle sind nicht konstruiert in dem Sinne, dass wir sie auch ganz anders schaffen könnten. Das Involviertsein der Gefühle lässt sich nicht einfach wie bei einer Maschine an- und abschalten; es ist aber auch nicht einfach ohne unser Zutun gegeben: Weder sind Gefühle willkürlich konstruiert noch einfach vor aller Interpretation authentisch gegeben." (Heiner Hastedt: Gefühle. Philosophische Bemerkungen. Stuttgart 2005, S. 92). So resümiert auch der Kulturhistoriker Peter Burke unlängst die Bewegung von .Darstellung' zur ,Konstruktion': Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte? Frankfurt/M. 2005, S. 117. „Eine Geschichte des Wissens lässt sich nicht auf die Historie seiner Gegenstände und Referenten reduzieren. Jede Beziehung eines Objekts vollzieht zugleich eine diskursive Bewerkstelligung desselben Objekts, eine Verfertigung, in der sich die Kodes und die Wertsetzungen einer Kultur, die Systematik und die Praxis eines Wissensbereichs reproduzieren." Alle Zitate des Fließtexts ebenfalls: Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich, Berlin 2004, S. 13f.

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Ein zweiter Komplex verbirgt sich hinter der Rede über die Liebe, denn nicht nur der Gegenstand selbst entzieht sich dem sprachlichen Zugriff, 44 der Darstellung mangelt es ebenfalls an Eindeutigkeit. Dies hängt zum einen mit den wesentlichen ästhetischen Merkmalen von Fiktionen 45 zusammen, zum anderen gehört es zum Kennzeichen der Liebe selbst, daß sie sich nur selten in ,Reinform' zu erkennen gibt oder auch vereinzeln läßt: Liebe ist eine Variable. Die Schwierigkeit des sprachlichen Ausdrucks von Liebe ist demnach mit der Frage nach der Möglichkeit der Differenzierung von anderen Affekten verquickt. Denn die dynamische Liebe betreibt im Affekthaushalt häufig das Entstehen anderer Gefühle, etwa Lust, Schmerz, Erfüllung, Nichtbefriedigung, Freude, Leid, Glückseligkeit oder Melancholie. Wenn die Liebe jedoch zugleich sich selbst bedeutet und andere Gefühle einwirbt oder erzeugt, dann ist sie fähig, „de signifier plus que lui-meme et de viser indirectement d'autres qualites de l'amour." 4 6 Auch dies wird bereits vor 1700 in zentralen französischen Texten diskutiert. Vornehmlich in medizinhistorischen Schriften versucht man, in der Folge Descartes', den Affekten auf die Spur zu kommen und sie über systemisches Denken beherrschbar zu machen. Das Hervortreiben anderer Affekte durch die Liebe betont etwa der Leibarzt Ludwigs XIV., Marin Cureau de la Chambre. Aus der fehlenden ,Trennlinie' zwischen den Affekten resultieren für ihn physiognomische und semiotische Probleme, die sich während der interpretierenden Beobachtungsakte stellen. Er schreibt: II n'y auroit point de Douleur, de Crainte ny de Desespoirs s'il n'y auoit point d'Amour. [...] II [l'amour] fait naistre & mourir en mesme temps cent sortes de desirs & de desseins; Et ä voir l'Esperance & le Desespoir, la Hardiesse & la Crainte, la Ioye & la Douleur qu'il fait succeder continuellement l'une ä l'autre, le Despit & la Cholere qu'il fait eclater ä tous momens, & le meslange qu'il fait de toutes ces passions; il est impossible que l'on ne se figure quelque grande tempeste, oü la fureur du vent esleve, abbat & confond les vagues, oü les eclairs & les foudres rompent les nuees, oü la clarte & les tenebres, le ciel & la terre semblent retoumer en leur premiere confusion 4 7

Hier wird der Liebe ein Energiepotential zugeschrieben, das, Naturelementen gleich, eine dynamische Wirkung entfalten kann, die gerade in Romanen und Dramen in vorzüglichem Maß handlungsfördernd ist. Zugleich behauptet Cureau de la Chambre, die Liebe bereite eine Mischung aus den Leidenschaften („le meslange qu'il [l'amour] fait de toutes ces passions"). Damit wird pointiert

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Eine umfassende Aufarbeitung zur Emotionsforschung und strukturelle Kritik ihres häufigen Versichertseins ob des Darstellungsgegens/arafe hat unlängst Rüdiger Schnell vorgelegt: Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung, in: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 173-276; ders.: Medialität und Emotionalität, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 55 (2005) S. 267-282. Zum Fiktionsbegriff und seiner triadischen Struktur siehe weiterhin Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven einer literarischen Anthropologie. Frankfurt/M. 1991. Paul Ricceur: Amour et justice. Liebe und Gerechtigkeit mit deutscher Parallelübersetzung von Matthias Raden. Tübingen 1990, S. 24. Les characteres des hommes par le Sr de la Chambre, Conseiller du Roy en ses Conseils & son premier Medecin ordinaire. Paris 1662, S. 20 und S. 25.

Liebe, , Kulturgedächtnis' und Emergenz

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das Darstellungsproblem als Erkenntnisproblem benannt. Liebe zu schreiben kann vieles bedeuten. Der Begriff setzt scheinbar Emotionen fest, aber nur im Kontext läßt sich die semantische Sprengkraft annähernd beherrschen und lassen sich die anthropologischen Facetten aufspüren. Und nur durch den semantischen Zusammenhang läßt sich auch zeigen, welches Modell im Einzelfall mit dem Begriff amour verhandelt wird. Der Kontext jedoch wird nicht als eine stabile Größe angenommen, vielmehr ist dieser selbst durch eine Unabschließbarkeit gekennzeichnet, die nur aus der Perspektive der Interpretation eingegrenzt und durch die Analyse der Zitathaftigkeit der semantischen Umgebung gedeutet werden kann.48 Zu den signifikanten, die Liebessemantik konstituierenden ,Kontexten' gehören deshalb in gleich bestimmender Weise die Handlungsräume, in denen eine Liebessprache sich vollzieht und zwar in je spezifischer Weise. Liebe ist damit nicht nur ein anthropologischer, sondern in gleichem Maße ein topographisch gebundener Wert.49 Orte des Sprechens über Liebe und Gegen-Orte, in denen sich die Liebe verweigern soll, zeugen vom rituellen Eingebundensein der Liebesdarstellung. Eingedenk dieser topographischen Prämissen wird die semiotische oder auch physiognomische Analyse, die die Zeitgenossen von Descartes, Cureau de la Chambre und Le Brun beschäftigt,50 von möglichen Markierungen der Liebe, die es zu erkennen gilt, zu einem mehrfach codierten Darstellungskomplex, der nicht nur subjektmodellierend wirkt,51 sondern auch spatial bedingt ist und Aufreibungen erzeugen kann. Ein weiterer zentraler Aspekt der Liebesrepräsentation, die „ästhetische Erfahrung",52 ist deshalb auch im mehrfachen Sinn ,Kontext'-gebunden. Literarische Darstellungen von Liebe sind symbolische Handlungen. Folglich reicht eine „Textsemiotik [...] prinzipiell nicht aus, um verstehbar zu machen, was sinnlich an Literatur ist."53 Es bedarf tatsächlich einer Semiotik, die den ästhetischen Genuß konstitutiv bedenkt. Umberto Ecos ,offenes Kunstwerk' 54 und eine

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Sprache ist grundsätzlich durch Iterabilität gekennzeichnet, so daß auch der Kontext nur immer relativ und nur für die je eigene Interpretation zur Deutung von Liebe dienlich sein kann. Zur Unabschließbarkeit des Kontexts siehe grundlegend: Jacques Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 15-45. Claudie Benthien, Steffen Martus: Einleitung, S. 4. Die Aufteilung in verschiedene Räume entspricht wiederum der Luhmannschen Formel einer stratifikatorischen Gesellschaft. Siehe hierzu Kirsten Dickhaut: Liebe als Einfühlung: Psyches Energien - energetische Psycheme (Charles Le Brun, Jean de La Fontaine), erscheint in: Heinz Thoma, Kathrin van der Meer (Hgg.), Epochale Psycheme und Menschenwissen: von Montaigne bis Redonnet. Würzburg 2007. Hier nach Wolfgang Matzat verwendet: Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac. Tübingen 1990. Im Sinne der Arbeiten von Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/M. 1982, Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003, S. 10. Umberto Eco: Opera aperta. Forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee. Mailand 1962.

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konzeptuelle Überfuhrung von Affektrhetorik in Modelle der Performativität 55 können gemeinsam die ästhetische und aisthetische Leistung von diversen historischen Liebesdarstellungen ermessen helfen. Liebe zu beobachten muß bedeuten, daß man hinter einer Kontinuität der Begrifflichkeiten auch semantische Verschiebungen erwartet, die nur in einer adäquaten Kontextualisierung - die auch intertextuelle Aspekte als konstitutive bedenkt - einzuschätzen sind. Wichtig ist es folglich, um eine historische Liebessemantik zu konturieren, Verschiebungen, modellhaftes Begreifen, reflektierte Umwertungen und emergente Konzepte auszumachen, denn das Wissen über Liebe kann nur in den jeweiligen Aussageweisen, also in der ästhetischen Praxis erkannt werden. Die Analyse von historischen Texten sieht sich deshalb noch mit einem dritten Darstellungskomplex konfrontiert, der wiederum nicht spezifisch für die Liebe, sondern für anthropologische Phänomene überhaupt ist, durch die Vielfalt und Subtilität der verschiedenen Liebesentwürfe jedoch in der französischen Literatur um 1700 ein besonderes Gewicht erhält: Die fehlende Kongruenz 56 zwischen Sprache und Anthropologikum wird durch zwei wesentliche Bewältigungsstrategien der Liebesdarstellung aufgefangen - die Metaphorizität 57 und die Unsagbarkeit. 58 Beide rhetorische Strategien sind nicht erst von der Psychoanalytikerin Julia Kirsteva als Kennzeichen der Liebessprache markiert worden, sie haben ihren vornehmlichen Ort auch und gerade in den literarischen Entwürfen von Liebe um 1700, weil hier häufig die Darstellungsprobleme metatextuell erörtert werden. Während Metaphern als Erkenntnismodelle die Liebe über sich hinaus weisen lassen, 59 läßt die topische Unsagbarkeit die immer schon gewußte Insuffizienz von Sprache für die Darstellung von Emotionen als Grundvoraussetzung für das Sprechen über Liebe erkennbar werden. Sie bieten Räume für 55

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Siehe zum Komplex von Performativität und Gedächtnismodellen neuerdings Birgit Neumann: Memoria e performance, in: Elena Agazzi et al. (Hgg.), Memoria - Memorie. Parole chiave per uno studio biologico-culturale della memoria. Rom 2006; zur Performanz einschlägig: Uwe Wirth (Hg): Performanz. Zwischen Srachphilosohie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. 2002. Zur Kritik an der Vorstellung eines transparenten Zeichenbegriffs, wie ihn Michel Foucault für Port-Royal entwirft, siehe Louis Marin: Le portrait du roi. Paris 1981; Rudolf Behrens: Problematische Rhetorik. Studien zur französischen Theoriebildung der Affektrhetorik zwischen Cartesianismus und Frühaufklärung. München 1982, S. 47ff. Julia Kristeva: Histoires d'amour. Paris 1983. Auch Paul Ricceur konstatiert, daß die Liebessprache grundsätzlich in die Metaphorik treibt, „l'amour parle, mais dans une autre langue" (S. 10). Er schreibt weiter, „la puissance de metaphorisation [...] s'attache aux expressions de l'amour" (Paul RiccEur: Amour et justice, S. 22). Marc Fumaroli: L'Ecole du silence. Le sentiment des images au XVIF siecle. Paris 1994; Claudia Benthien: Schweigen als Pathosformel in der Frühen Neuzeit, in: Johann Anselm Steiger (Hg.), in Verbindung mit Ralf Georg Bogner et al., Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Wiesbaden 2005, S. 109-144. Im Sinne der von Paul Geyer verwendeten Denkfigur: Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau. Tübingen 1997; siehe auch ders.: Dekonstruktion der Cartesianischen Anthropologie durch La Rochefoucauld, in: Rudolf Behrens, Roland Galle (Hgg.), Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft. Würzburg 1995, S. 109-133.

Liebe, ,Kulturgedächtnis'

undEmergenz

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Emergenzen. Durch Redundanz wird zugleich die Aufmerksamkeit für Neues aufgebaut, wird einmal mehr die Liebeskasuistik auf eine paradoxe Formel gebracht: die Beredsamkeit des Schweigens. Die genannten drei, in der Zeit um 1700 in Frankreich besonders wichtigen und selbst vielfach diskutierten Darstellungskomplexe sind selbstverständlich ineinander verflochten und produzieren in ihrer Verbindung weitere ästhetische Spannungen. 60

, Liebe' im ,

Kulturgedächtnis'

In der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung herrscht der pragmatische, aber produktive Konsens, daß scharfe Trennungen zwischen den Vorstellungen eines individuellen und eines gesellschaftlichen Gedächtnisses existieren und diese auch in der wissenschaftlichen Arbeit ausgewiesen werden. 61 Wie dies jedoch im einzelnen umgesetzt und welche Begriffsschärfe jeweils angewandt wird, ist selbstverständlich von Fall zu Fall verschieden. Und doch beruht die breite Forschung zu den Erinnerungskulturen 62 auch auf der Prämisse, daß gerade über die metaphorische und metonymische Verwendung des Gedächtnisbegriffs in den Kulturwissenschaften eine signifikante Forschungsperspektive eröffnet wurde. Entsprechend konzentriert sich die Literaturwissenschaft nicht nur auf die Analyse der rhetorisch gebannten Thematisierung von Erinnerungs- und Gedächtnismodellen (im Sinne Prousts etwa), vielmehr hat sie selbst bereits eine ganze Palette an Gedächtniskonzepten entwickelt, 63 die verschiedene metaphorische Potentiale ausloten und diese in seltenen Fällen sogar wieder an die konkrete Gedächtnisarbeit im psychologischen Sinn, soweit die Texte dies zulassen, zurückbinden. 64

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Aus solchen ästhetischen Reibungen können Emergenzen entstehen, die Eckhardt Lobsien als „uncodierte ästhetische Ereignishaftigkeit" faßt. Siehe: Körperchiasmus: Descartes/ Merleau-Ponty/Beckett, in: Rudolf Behrens, Roland Galle (Hgg.), Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman. Würzburg 1995, S. 25-38, hier: S. 25f. Eine besonders produktive Verknüpfung beider Aspekte kann dann das über die Einzelforschung der Disziplinen hinausgehende kulturwissenschaftliche Ziel sein. Vgl. exemplarisch: „Der Versuch, eine Theorie des Gedächtnisses im Rahmen einer Gesellschaftstheorie zu formulieren, beinhaltet deshalb, dass man ein Gedächtnis behandeln muss, das den Kommunikationen und ihren Verknüpfungen eigen ist und das deutlich von dem Gedächtnis der Individuen unterschieden ist. Nur die Einhaltung der Unterscheidung beider Gedächtnisformen erlaubt es, den Analysefokus auch auf ihre gegenseitige Beeinflussung zu richten." (Elena Esposito: Soziales Vergessen, S. 17). Vgl. hierzu das Konzept des Gießener SFB 434 „Erinnerungskulturen", das Astrid Erll in kompakter Form resümiert: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einfuhrung. Stuttgart 2005, S. 34^t9. Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hgg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York 2005. Birgit Neumann: Erinnerung - Identität - Narration. Typologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin 2005; Silke Segler-Messner: Archive der Erinnerung: Literarische Zeugnisse des Überlebens nach der Shoah in Frankreich. Köln, Weimar 2005.

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Aus dem weiten Feld der internationalen Gedächtnis- und Erinnerungsforschung erscheint jedoch vor allem ein Konzept für den hier verfolgten Zusammenhang von Liebe, Emergenz und Gedächtnis besonders tragfahig: Die Erörterung des Begriffs des ,Kulturgedächtnisses' bietet für den vorliegenden Band die Möglichkeit, die Relevanz der Verquickung historisierter Vorstellungen von Liebe mit einem für die Literaturwissenschaft operationalisierbaren Gedächtnismodell zu zeigen und damit auch einen für das Begreifen von Kulturmechanismen eminent wichtigen Brückenschlag anzustreben, der in der Erinnerungsund Gedächtnisforschung bisher nicht geleistet wurde, weil noch zu selten die Darstellung von Anthropologica als kulturgedächtnisstiftende Leistung in den Blick gerät. Die histoire de l'imaginaire social, der sich die französischen Historiker in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zuwandten, hat gezeigt, daß kollektive Vorstellungen und Bilder eine eminent wichtige Rolle in der Ausbildung von Nationengedanken spielen. 65 Gilbert Durand hat in seinen breit gefächerten Studien zudem herausgestellt, auf welche Weise das kollektive Imaginäre unser Textverständnis wesentlich vorprägt. 66 Dies gilt ebenfalls für die historischen Formen des Liebesbegreifens. Auch sie sind in Schemata eingebunden, die wir zu erkennen suchen und die die Wertmaßstäbe bestätigen sollen. 67 Das Bild, das uns Pierre Noras lieux de memoire über die civilisation franqaise liefern, die in diesem Feld zentral sind, korrespondiert mit den genannten Schemata. Im Artikel .Galanterie' 68 von Noemi Hepp wird einem Liebesmodell, der galanten Liebe, die vor allem im 17. Jahrhundert Gestalt gewinnt, eine signifikante, weil gedächtnisstiftende Leistung zugewiesen. Damit wird jedoch nur ein Modell von Liebe aus der Zeit um 1700 für das ,Kulturgedächtnis' Frankreichs als partiell verbindlich angesehen, denn in ihr erkennt die Gesellschaft eine klare Werteperspektive. Es wird ein korrespondierendes Gefüge zwischen einer Liebesvorstellung aus der Zeit um 1700 und dem aktuellen kulturellen Selbstbild angenommen. Diese Sichtweise erklärt, weshalb von der Seite der französischen Historiker dieser frühaufklärerischen Liebesform eine identitätsbildende Funktion zugewiesen, ja aufgebürdet wird. Die Galanterie erhält eine deutliche - vielfach auch für andere Liebesmodelle beanspruchte identitätsstiftende Rolle. Sie wird als spezifisch französisch erachtet.

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Siehe hierzu die einschlägigen Forschungen der Geschichtswissenschaften zu den Anthropologica, die in der Forschungsbibliographie (ab S. 317) aufgelistet sind. Gilbert Durand: L'imaginaire, science et philosophie de l'image. Paris 1994; ders.: Science de l'Homme et Tradition. Paris 1979. Denn auch Affekte sind abhängig von ihren kulturellen Schemata (Frederick Bartlett, Remembering: a study in experimental and social psychology. Cambridge 1932) und Codes (im Sinne Luhmanns), die in ihrer Beständigkeit das ,Kulturgedächtnis' erzeugen und von ihm geprägt werden. Noemi Hepp: ,Galanterie', in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de memoire. Bd. III: Les France. Teil 2: Traditions. Paris 1992, S. 745-783.

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Das Gedächtnismodell jedoch, das Nora impliziert, ist zum einen eine reine Rekonstruktion - vor allem des 19. Jahrhunderts - , die historisch zumindest für die Galanterie zu differenzieren wäre, 69 zum anderen ist nicht nur durch die historische Diskrepanz, sondern auch durch den Anspruch auf Ausschließlichkeit einer gültigen Vorstellung von Liebe begründet, so daß die sozialen Umbauten der historischen Zeit selbst und damit imaginäre Alternativen durch die deutlich eindimensionale Werteperspektive zu wenig berücksichtigt werden. So wie für Luhmann allein der amour passion maßgebend erscheint, ist für Nora und entsprechend für Hepp die galanterie identitätsstiftend. Indessen gibt es eine ganze Reihe von anderen Liebesmodellen in der Zeit (preziöse Liebe, amitie tendre, sensibilite etc.), die bei weitem nicht alle bis in die heutige Zeit fortgeführt sind und anschließbar erscheinen, die jedoch um 1700 in unterschiedlichen Konstellationen emergieren und kulturell bedeutsam sind. Während die Galanterie einen Erinnerungsort unter vielen anderen verkörpert, aber doch als einzige auch ein Liebeskonzept in dieser erinnerungspraktischen Form bindet, wird im vorliegenden Band grundlegend ein metaphorisch verstandenes Gedächtniskonzept verwendet, das die Kultur als dynamischen Speicher versteht. Durch das Oszillieren des ,Kontexts' und die , Vibration' des intertextuellen Gefüges kann man auch das Gedächtnis der Texte als eine bewegliche Kraft verstehen. „Es gilt also, Intertextualität und Gedächtnisarchitektur zusammenzudenken. Der Text durchquert die Gedächtnisräume, läßt sich in ihnen nieder, aber er bildet auch selbst den Gedächtnisraum selber ab." 70 Der in der genannten Weise angesetzte gewissermaßen plastische, weil diachron gedachte Textbegriff setzte eine Gedächtnismetaphorik voraus, die durch Harald Weinrich 71 vorgeprägt und von Renate Lachmann theoretisch entfaltet wurde. Der Begriff des ,Kulturgedächtnisses' wird von ihr nach Juri Lotmann wie folgt definiert: Angelpunkt der Kultursemiotik ist ein Gedächtnisbegriff, der weniger anthropologisch als kulturologisch bestimmt ist. Diese Akzentsetzung erlaubt es, die Kultur als nicht vererbbares Gedächtnis eines Kollektivs zu verstehen, das vermittels eines überindividuellen Speicher- und Transformationsmechanismus in Erscheinung tritt. 72

Dieses Denkmodell bietet eine operationalisierbare Möglichkeit, die der Literatur seit der Antike zugeschriebene Speicherkompetenz - in unterschiedlicher historischer Spezifik - als gedächtnisaffine Eigenschaft von Texten zu begreifen

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Siehe ausfuhrlich dazu Jörn Steigerwald: Galanterie als kulturelle Identitätsbildung: Französisch-deutscher Kulturtransfer im Zeichen der Querelles (Dominique Bouhours - Christian Thomasius - Benjamin Neukirch), in: Christian Emden, David Midgley (Hgg.), German Literature, History and the Nation. Papers from the Conference ,The Fragile Tradition'. Cambridge 2002, Bd. 2, S. 119-141. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 37. Harald Weinrich: Gedächtniskultur - Kulturgedächtnis, in: Merkur 45, 508 (1991), S. 5 6 9 582. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur; siehe auch zur Methodik: dies.: Kultursemiotisches Projekt, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst. Leipzig 1996, S. 47-64, hier: S. 47.

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und, davon ausgehend, einen Textbegriff zu entwerfen, der räumlich gedacht ist und ein bestimmtes Gedächtnismodell 73 konturiert. Dieses ist umfassender, aber eben nicht wertend konzipiert, birgt jedoch das dynamische Potential einer Vorstellung der Aktivität von Erinnerungen und ist folglich für die systematische Perspektive auf Liebe und Emergenz gewinnbringend funktionalisierbar. Der Begriff des ,Kulturgedächtnisses' impliziert dabei eine doppelte Speicherleistung der Texte: Sowohl die (kanonische) Textsammlung einer kulturellen Gemeinschaft als auch der einzelne Text selbst behaupten eine Gedächtnisstruktur, die durch Akkumulation und Transformation von Sinn bedingt ist.74 In der metaphorischen Setzung wird die Macht der generierenden Ein- und Ausschließungsverfahren des Gedächtnisbegriffs deutlich, bei dem von einer Dynamik der De- und Resemiotisierung von Zeichen - auch im Sinne der Intertextualität 75 - auszugehen ist.76 Lachmann macht deutlich, daß sie sowohl Literatur als „ein Medium des Gedächtnisses" 77 begreift, als auch eine Bestimmung vornimmt, die eine Ineinssetzung beider Komponenten - Gedächtnis und literarischer Texte - schafft und dadurch ein Modell setzt, das wesentlich abstrakter ist als etwa dasjenige des „kollektiven Gedächtnisses" 78 , weil es von Texten als Räumen ausgeht, die einer Kybernetik das Wort reden. Das hier indizierte G e dächtnis' hat ausschließlich nicht-personale Träger. Darüber hinaus ist dieser Begriff insofern praktikabel, als er erlaubt, mittels intertextueller Verfahren die Dimensionen des Textgewebes zu analysieren, seine Prätexte zu eruieren, das implizite oder explizite Verhältnis der Texte zueinander zu erkennen und deshalb Umbauten des Liebesbegreifens auszuweisen. In der zitierten Definition geht es darum, Texte nicht als bloße Speicher, sondern immer eingedenk der Problematik und Dynamik des ,Kontexts' zu lesen, die für das Verstehen von Liebe sinn- und identitätsstiftend wirken. Dieser Textbegriff setzt eine beson-

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Hier geht es um eine mitgedachte Unterscheidung von Speicher- und Funktionsgedächtnis, deren subtile Unterscheidung jedoch fur die vorliegende historische Perspektive nicht notwendig erscheint. Von der Differenzierung in eine Erinnerungspraxis erster Ordnung (Funktionsgedächtnis) und eine zweiter Ordnung, „ein Gedächtnis der Gedächtnisse", ausgehend wird hier nur letzteres untersucht und mit der ,einfachen' Gedächtnis-Metaphorik gefaßt (Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 134). Vgl. Renate Lachmann: Kultursemiotischer Prospekt, S. 47. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 36. Siehe auch dazu: Franziska Sick, Beate Ochsner: Einleitung, in: dies. (Hgg.), Medium und Gedächtnis - Von der Überbietung der Grenze(n). Frankfurt/M. 2004, S. 7-29. Renate Lachmann: Kultursemiotischer Prospekt, S. 48. Siehe hierzu ausführlich Astrid Erll: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: dies., Ansgar Nünning (Hgg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York 2005, S. 249-276. Im Sinne von Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; siehe grundlegend: Maurice Halbwachs: Les Cadres sociaux de la memoire. Paris 1925 (Bibliotheque de philosophie contemporaine. Travaux de 1 'Armee sociologique.); ders.: La Memoire collective. Ouvrage posthume publie par Mme Jeanne Alexandre, nee Halbwachs. Paris 1950 (Bibliotheque de sociologie contemporaine).

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ders aktive Rolle des Lesers voraus (etwa im Sinne des ,offenen Kunstwerks'). Die rezeptioneile Möglichkeit besteht darin, die diachrone Relevanz, die Selbstverortung der Texte zu beschreiben, indem die „intertextualisierende Lektüre den Text auf die Prätexte zutreibt." 79 Die ,Liebe' im Text wird zugleich als ein Verhandlungsmodell - in bezug auf ältere Vorstellungen - zur Kenntnis gegeben, in dem Verfahren der Partizipation, Transformation oder Tropik greifen. 80 Damit geht es wohlgemerkt nicht in jedem Fall darum, einen Mehrwert durch die intertextuelle Arbeit am Text auszumachen, vielmehr kann es sogar nur darum gehen, das Gedächtnisspiel zwischen Latenz und Manifestation zu konturieren und in seiner agonalen Gewichtung und Funktion das reflektierte Explizitwerden eines spezifischen Liebesbegreifen zu beschreiben. Dies bedeutet jedoch zugleich, mit Blick auf die Liebe um 1700 eine Historisierung der gedächtnisaffinen Intertextualität vorzunehmen, 81 damit auch dem historischen Rhetorikmodell (imitatiolaemulatio) Rechnung zu tragen, das in der spatialen Vorstellung von Texten als intertextuellen Gedächtnissen nicht verschleiert werden soll. Die hier vorgenommene Verknüpfung des Gedächtnismodells mit einer historischen Subjektkonstitution möchte diesem Anspruch genügen.

Liebe und Emergenz Die Differenz zu inzwischen bereits traditionellen intertextuellen Analyseverfahren - etwa im Sinne Gerard Genettes die hier als methodisches Konzept vor dem Hintergrund des ,Kulturgedächtnisses' konturiert wird, liegt im Denkmodell der Emergenz begründet. Schon länger hat sich die Intertextualitätsdebatte von den Studien der Quellenforschung abgesetzt und eine deutliche Ausrichtung auf Fragen der Funktionalisierung von zu analysierenden und zu qualifizierenden Text-Text-Bezügen umgesetzt. Richtet man nunmehr sein Augenmerk zugleich auf intertextuelle Gefüge und auf ihre instabilen Bedeutungen, so gerät das textuelle Ensemble im Lektüreakt in Bewegung. Der Begriff der Emergenz kann demgemäß drei verschiedene Relativierungen des traditionellen Intertextualitätskonzepts fassen: Zum einen wird die Eindeutigkeit der Bezugnahme hinterfragt, zum anderen wird auf diese Weise die Kontextualisierung in ihrem vagen und oszillierenden Charakter adäquat berücksichtigt. Vor allem jedoch können emergierende Phänomene sowohl auf einer wissenssoziologischen als auch auf einer ästhetischen Ebene das Verhältnis von Text und Kontext präziser begreifen lehren, weil sie nicht das Ursprüngliche anvisieren, sondern die Veränderung nachträglich zu benennen erlauben.

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Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 49. So die drei Intertextualitätsachsen Renate Lachmanns in: Gedächtnis und Literatur, S. 40. Rainer Warning: Claude Simons Gedächtnisräume: La route des Flandres, in: Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hgg.), Raum - Schrift - Bild. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt/M. 1991, S. 356-384, hier: S. 380.

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In den kulturwissenschaftlichen Forschungen werden verschiedene Begriffe des Emergentismus benutzt. 82 Ihnen allen gemein ist, daß sie das Paradox des Neuen vorstellbar machen, denn das absolute Novum läßt sich nicht per se wahrnehmen. Es bedarf immer der Voraussetzung des Alten, um erfaßbar zu sein.. Gleichzeitig ist es eine Seinsbedingung des Innovativen, das Überkommene zu überschreiten. Jedoch bedarf auch das Alte der Voraussetzung des Neuen, um als alt erkannt zu werden. Beide Qualitäten bedingen also einander und grenzen sich doch wesentlich voneinander ab. Daraus ergibt sich das genannte Paradox, daß sich trotz Negationen des Innovativen Traditionen oder auch das ,Kulturgedächtnis' nie ganz überwinden lassen, denn ohne sie ist uns das Neue nicht zugänglich. 83 In dieser Dialektik zeigt sich die Bedingtheit von Veränderungen und erinnerungskultureller Textarbeit. Parallel ist dieser Abhängigkeit die Frage inhärent, ob und wie sich die Beziehungen zwischen ,alt' und ,neu' fassen und denken lassen. Der Begriff der Emergenz setzt auf ein Beschreibungsmodell, das davon ausgeht, daß solche Veränderungen, Umbauten, Verschiebungen oder auch Brüche grundsätzlich nur nachträglich konstatierbar sind. 84 Der seit dem 19. Jahrhundert in der Philosophie und später in den Biowissenschaften diskutierte Begriff wird vor allem durch die Eigenschaft der Unvorhersagbarkeit faßbar. 85 Veränderungen im Liebesbegreifen über die Denkmodelle von , Kulturgedächtnis' und Emergenz zu beschreiben bedeutet, einen schwächeren Emergentismus-Begriff anzunehmen, der mit reduktionistischen Positionen vereinbar und damit diachron ausgerichtet ist.86 Eine nachträglich konstatierte modellhafte Differenz im Denken über Liebe liefert keine Begründung für ihre Veränderung, jedoch läßt sich das Hervorgehen, der „Gestaltwandel der Mimesis" 87 , wie eingangs erläutert, verfolgen. Da Liebe sich als besonders darstellungswidrig erweist, besitzt sie diskursiv eine deutliche Tendenz, Emergenzen auch auf der synchronen Ebene zu betreiben. In diesem Sinn eignet einem als emergent zu bezeichnenden Liebesmodell, das sich aus den überkommenen Vorstellungen speist, auch ein höherer Grad an Reflexivität, die wiederum dazu neigt, die Konturen des Neuen und ein tatsächlich innovatives Modell zu sprengen. Das Neue läßt sich nicht allein, dies ist

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Es werden vor allem zwei wesentliche Formen, der schwache, ,diachrone' und der starke, ,synchrone' Terminus unterschieden, und ferner als Differenzierung der starke ,diachrone Emergentismus' angesetzt. Während in der schwachen Begrifflichkeit der Fokus allein auf der .Unvorhersagbarkeit' und dem ,Neuen' liegt, wird bei der starken Form von einer Unmöglichkeit der Reduzierbarkeit ausgegangen, die in der diachronen Variante noch durch das Prädikat des Neuen ergänzt wird; vgl. Thomas Wägenbaur: Blinde Emergenz?, S. 7. Siehe ausfuhrlich dazu Thomas Wägenbaur: Einleitung, S. 29ff. Thomas Wägenbaur: Einleitung, S. 31. Siehe zur historischen Perspektive Achim Stephan: Eine kurze Einfuhrung in die Vielfalt und Geschichte emergentistischen Denkens, in: Thomas Wägenbaur (Hg): Blinde Emergenz? Interdisziplinäre Beiträge zu Fragen kultureller Evolution. Heidelberg 2000, S. 3 3 47. Achim Stephan: Eine kurze Einführung, S. 35. Wolfgang Iser: Mimesis •»Emergenz, S. 681.

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essentiell, aus dem zu rekonstruierenden Material der ,Vorgänger' erschließen, vielmehr stellt es ein (selbst-)reflexives Phänomen dar, das in seinem Anspruch, sich selbst als Konstruktion zu thematisieren, zugleich die häufig konstatierte Nähe von Liebe und Erkenntnistheorie zum Ausdruck bringt. Die reflektierende Gedächtnisarbeit des Liebesbegreifens wird um 1700 nicht nur am künstlerischen und literarischen Gegenstand festgemacht. Die eigenen poetologischen Maßstäbe werden immer wieder, wie es die Querelle besonders intensiv zeigt, diskutiert. Über die Liebe werden dann Sozialbezüge, der höfische Verhaltenskodex und das bürgerlich-städtische Leben von Paris, aber auch Klugheitsideal, Geschmacksfragen und die Unterhaltsamkeit verhandelt. Über die Fragen der adäquaten Liebesform der jeweiligen Gattung werden die Parameter von vraisemblance und (Dis-)Simulation erörtert. Die Zeit um 1700 läßt sich durch ihre semantischen Verschiebungen als „Phase eines gleitenden Epochenübergangs" 88 deuten, und damit wird implizit im sfumato die Idee einer Luhmannschen Übergangssemantik kritisch relativiert und nicht etwa bloß bestätigt. Daß allerdings die Zeit des alternden Louis XIV, der Regence und der frühen Regierungszeit von Louis XV bzw. des Kardinal Fleury besonders kulturdynamische Epochen gewesen sind, erscheint im historischen Blick als stimmig. Allein die Literaturgeschichten verzeichnen nur wenige ,kapitale' Einträge. Auch deshalb muß die Suche nach Veränderungen des Liebesbegreifens sowohl kanonische Texte in den Blick nehmen, als auch solche, die bisher in der Forschung vernachlässigt wurden, um die emergenten Transformationen 89 zu kartographieren. 90 Die Auseinandersetzung mit diesen durch Unzulänglichkeiten bedingten Verarbeitungsprozessen lenkt den kulturwissenschaftlichen Blick notwendigerweise auf die Komplexität von Veränderung. In den Beschreibungen dieser nicht-linearen Prozesse werden Mechanismen erkennbar, die ob ihrer Vielfalt und scheinbaren Funktionsleere aus traditionellen Entwicklungsgeschichten herauszufallen drohten, während sie nun gebannt im Begriff der Emergenz ihre komplexen Entstehungsbedingungen offenlegen können und damit auch für die Literaturgeschichtsschreibung Frankreichs mit Blick auf die Liebe einer wesentlich heterogeneren Affektlandschaft neue Einsichten in das anthropologische Selbstverständnis der historischen Zeit liefern können. Die Idee der Konstruk-

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Dirk Niefanger hat den Begriff des sfumato hierfür 1995 im Blick auf die Zeit um 1700 in Deutschland geprägt: Sfumato. Traditionsverhalten in Paratexten zwischen ,Barock' und .Aufklärung', in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 98 (1995), S. 94-118. „Transformation [ist] als eine über Distanz, Souveränität und zugleich usurpierende Gesten sich vollziehende Aneignung des fremden Textes, die diesen verbirgt, verschleiert, mit ihm spielt, durch komplizierte Verfahren unkenntlich macht, respektlos umpolt, viele Texte mischt, eine Tendenz zur Esoterik, Kryptik, Ludismus und Synkretismus zeigt." (Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 39). „Ablesbar ist diese Emergenz am Wandel der Modellierungen, die der nachzuahmende Gegenstand in der Geschichte des Mimesiskonzepts erfahrt. Dabei gilt es allerdings festzuhalten, daß Wandel und Emergenz unterschiedliche Phänomene sind. Wandel bezeichnet die historische Lesbarkeit von Emergenzen, die ihrerseits dem Spiel von Störung und Verarbeitung entspringen." (Wolfgang Iser: Mimesis~»Emergenz, S. 672).

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tion von Traditionen, die Eric Hobsbawm zunächst für das 19. Jahrhundert herausstellte,91 zeigt auch der kulturwissenschaftlichen Arbeit Wege, um nicht nur die Dialektik von ,Kulturgedächtnis' und Emergenz zu betrachten, sondern gleichermaßen zu berücksichtigen, daß auch die Vorstellung des ,Kulturgedächtnisses' selbst neueren Ursprungs ist und unsere Beobachtungen von Traditionen immer einer umfassenden, eben kulturhistorischen Absicherung und kritischen Selbstreflexion bedürfen, um die Verfahren einer diskursiven Konstruktion von Liebe konturieren und überhaupt als emergente Transformationen konstatieren zu können. Die Gedächtnismetapher läßt die Konstruktion literarischer Verarbeitungsprozesse deutlich werden.

Reibungen: Liebesmodelle und ihre erinnerungskulturellen Bezugnahmen auf Diskurse, Gattungstraditionen und Subjektentwürfe Die Möglichkeiten der Bezugnahmen von Liebe und Emergenz auf das , Kulturgedächtnis' lassen sich in mehreren kategorialen Feldern der Literatur um 1700 erkennen. Die vorliegenden Beiträge argumentieren besonders auf diskursiver, gattungsspezifischer und subjektkonstitutiver Ebene, um die innovativen Momente in bezug auf die jeweiligen Liebesmodelle zu konturieren. Entsprechend wird auch das textuelle Analysewerkzeug auf den entsprechenden Ebenen angesetzt und zum ,Kulturgedächtnis' in Beziehung gestellt. Grundsätzlich lassen sich, wie bereits erläutert, zwei historische Korrelationsmöglichkeiten von Liebe und Emergenz ausmachen. Zum einen können Liebeskonzepte selbst durch emergente Phänomene (etwa auch das Unfaßbare auf der Darstellungsebene) gekennzeichnet sein, zum anderen können in diachroner Perspektive innovative Modelle unerwartet und mit einem reflexiven Mehrwert aufscheinen. In einer paradigmatischen Analyse von Jean-Franfois Sarasins' Dialogue sur la question s'il faut qu'un jeune homme soit amoureux hat Jörn Steigerwald beide Varianten herausgearbeitet, indem er den Blick auf die in der sozialen Praxis sich entfaltende galante Liebesethik lenkt und ihre Konstituenzien herausstellt. In Abgrenzung zur preciosite erlangt die Galanterie nicht nur auf diachroner Ebene in bezug auf das ,Kulturgedächtnis', sondern auch synchron eine neue Kontur und Relevanz, deren Geltung sie langfristig zu einem lieu de memoire werden läßt. Der Beitrag zeigt, wie die Innovation des galanten Konzepts, die auch in der positiven Valorisierung der traditionellen .himmlischen Liebe' im Bereich von Militär, Rhetorik und civilite besteht, sich sowohl rückwirkend als emergentes Phänomen beobachten läßt, als auch von den Zeitgenossen bereits als Überschreitung erkennbarer Referenzen in der sozialen Praxis erkannt und folglich als Distinktionsmerkmal wahrgenommen

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Eric Hobsbawm: Inventing Traditions, in: ders., Terence Ranger (Hgg.), The Invention of Tradition. Cambridge 1963, S. 1-14.

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wurde. Da der galante Diskurs wirkungsmächtig in die reale Gegenständlichkeit eingreift und aus ihr ein neues, distinktives Moment hervortreibt, wird darüber hinaus auch seine Liebesethik als neues Konzept erfahren. Im ,Kreuzfeuer der Diskurse' stehen ebenfalls die Paradoxa Pascals, die vor allem vor dem Hintergrund moralphilosophischer und theologischer Kontexte ein neues Menschenbild postulieren. Anne Amend-Söchting zeichnet eine wichtige, weil frühe Form der modernen Subjektmodellierung nach, die Spuren einer ,neuen Liebe' kennt. Vor dem jansenistischen Hintergrund entsteht eine eigenwertige und eigenwillige Affektdynamik, die den ethischen Diskurs neu modelliert. Das christlich-theozentrische Gepräge der Liebesidee Pascals macht die menschliche Liebe zu einer der göttlichen, schenkenden Liebe (Agape) Korrespondierenden und aus ihr Resultierenden. Das Innovationspotential des Konzepts Pascals wird in den bildlichen Reibungen der Paradoxa erzeugt. Mit einer kosmologisch, ontologisch und epistemologisch begründeten Standortbestimmung des Menschen wird Pascals fragmentgebliebener Beitrag zu einer neuen Liebeskonzeption ergründet, die in erster Konsequenz eine Hinwendung zum deus absconditus ist und in zweiter einen Weg zur Selbstfindung bahnt. Ist das Emergente das Unfaßbare Gottes, so ist die ,neue Liebe' auf dieses Phänomen ausgerichtet. Eine ebenfalls deutliche Auseinandersetzung mit dem Jansenismus praktiziert das Werk Jean de La Fontaines. Seine Thematisierung der Liebe steht, wie Michael Bernsen zeigt, in einem sichtbaren Zusammenhang mit der von ihm allseits geübten Kritik des Transparenzgebots der Zeit und der damit verbundenen Machtansprüche. La Fontaines Fabel Les deux pigeons beschreibt, wie die Liebe im Strudel konkurrierender amours propres untergeht. Als alternatives Modell wird der amour amitie in den Raum gestellt, eine Perspektive, die in der Dichtung Les Amours de Psyche et de Cupidon näher ausgeführt wird. Die Positivierung der Leidenschaften ist jedoch nur eine Seite der Relektüre La Fontaines. Vor allem die Kritik des Poeten am Machtdispositiv der Episteme der Repräsentation zeigt die poetologische Bedeutung einer vermeintlich nur die Liebe erzählenden Fabel. Aus den Reibungen der Dispositive überkommener Liebesvorstellungen entsteht eine Kritik, die auf die zeitgenössische Repräsentationslogik zielt. Als Paradebeispiel einer sich zu ihrer leidenschaftlichen Liebe gegen alle Vernunft bekennenden Frau gelten die Briefe der portugiesischen Nonne, die sowohl im Beitrag von Martin Neumann als auch in demjenigen von Rainer Zaiser Kernelemente fur die Konturierung von Neuem sind, allerdings mit unterschiedlicher Akzentuierung. Neumann rückt die Versuche der Nonne, die eigene Liebe zu begreifen, in die Perspektive der Imaginationstheorie und diskutiert damit die Neuerungen des Liebeskonzepts in einem diskursiven Zusammenhang. Es wird deutlich, daß das Novum des Briefromans in der Liebesbegründung liegt, die sich nicht mehr auf das Liebesobjekt beruft, sondern sich allein aus der Imagination speist. Das unfaßbare Imaginäre hat auch hier emergente Qualität. Allein die verschiedenen Normbrüche werden im diskursiven Feld der Ethik greifbar. Neumann kommt zu dem Schluß, daß die positive Be-

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Stimmung der Affekte nicht nur eine Folge der Revalorisierung im Sinne des Sensualismus ist. Vielmehr muß grundsätzlich eine gewder-Perspektive berücksichtigt werden, die zeigt, daß die Positivierungen zunächst vor allem Frauen erfahren, die jedoch auf diese Weise eine festgefugte Position in der Machthierarchie zugewiesen bekommen. Die Konstruktionsmechanismen des ,Kulturgedächtnisses' werden damit erkennbar und zugleich auch, daß die Liebesdarstellung hier das Machtkonzept konstituiert. Der Beitrag von Jutta Weiser geht einer neuen Liebeskonzeption in den Komödien Marivaux' nach, die als hybrides Resultat einer Überlagerung zweier Wertesysteme verstanden wird, gewissermaßen aus der Überblendung der Diskurse emergiert. Es wird gezeigt, daß der psychische Mechanismus einer wechselseitigen Liebeserkenntnis und dessen theatrale Inszenierung einer science du cceur geschuldet sind, die um 1700 eine wichtige Scharnierstelle darstellt im Übergang von der diskursiv gebundenen Salon-Galanterie zu einem empfindsamen Liebesideal, das auf Innerlichkeit und Gefühlskonstanz ausgerichtet ist. Die Analyse einiger Liebessequenzen von Marivaux' Theaterstücken zeigt, welch komplexer Ablösungsprozeß im französischen ,Kulturgedächtnis' zwischen französischer Moralistik und englischem Sensualismus, zwischen ethischen und anthropologischen Diskursdominanten zu verzeichnen ist. In einer die Forschungserkenntnisse zu Montesquieus Les Lettres persanes respezifizierenden Lektüre gelingt es Birgit Wagner, die Entstehungsgeschichte moderner europäischer Liebeskonzeptionen zu differenzieren und deutlich zu machen, auf welche Weise die Produktion eines Liebesdiskurses teil hat an der Vorstellung der zivilisatorischen Überlegenheit der europäischen und insbesondere der französischen Kultur. Die vielschichtige Analyse erhellt zudem die Bedeutung der Mille et une Nuits für die Ausformung des europäischen , Kulturgedächtnisses' der Liebe und über ihre diskursive Relevanz. Während die sich an Frankreichs amour passion ausrichtende Liebeskonzeption der 1001 Nacht nur wenig Aufmerksamkeit erlangte, wurde die ,Haremskonstellation' zur Rezeptionsdominante. Das Imaginationsprogramm, das den exotisch gefärbten Texten aufgebürdet wird, überblendet geschickt, wie im Beitrag deutlich wird, welche Auffassungen von ,typisch orientalischer Liebe' einerseits den Blick auf das Fremde generiert haben und welche Abgrenzungs- und Bestätigungsmechanismen für das eigene ,Kulturgedächtnis' andererseits die Perspektive auf die .andere Liebe' gezeitigt hat. Nur die Bestätigung der ,Haremskonstellation' konnte, auch für den Aufklärer Montesquieu, bedeuten, daß die eigene Konstruktion einer zivilisatorischen Überlegenheit auf Dauer gestellt wurde. Das Ignorieren der Existenz der Liebespraxis des amour passion in den Mille et une Nuits ist Teil des die Dialektik der Aufklärung prägenden Machtdispositivs. Der diskursarchäologische Blick kann über das Hervorbringen innovativer Leistungen genauso erhellen wie über resistente Anachronismen. Für die Analyse der Veränderungen des anthropologischen Selbst- und Fremdblicks und damit der Neuentwürfe von Liebeskonzeptionen müssen auch gattungsspezifische Aspekte berücksichtigt werden, die gleichermaßen teilhaben an der Ausdif-

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ferenzierung des Liebesbegreifens. Im Sinne des als Denkfigur zugrundegelegten Emergentismus zeigt es sich auch in dieser Sektion des Bandes, daß die Liebeskonzepte zwar mit überkommenden Traditionen abgeglichen werden, aber die Veränderungen nicht restlos verfolgt und benannt werden können. In einem die wirkmächtigen Theatergattungen und -werke der Frühaufklärungen systematisch erfassenden Beitrag hat Franziska Sick die wichtige Frage gestellt, ob Gattungsgrenzen und Grenzen von Liebeskonzeptionen notwendig zusammenfallen müssen. Ihre Antwort zeigt, daß es eine spezifische Liebesordnung der dramatischen Gattungen gibt, die zugleich wesentliche Interaktionsformen des von Luhmann beschriebenen modernen Modells antizipieren: Im Drama des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts werden wesentliche Elemente der modernen, uns heute so romantisch wie romanhaft erscheinenden Liebe erarbeitet und grundgelegt. Gattungskonventionen und -differenzen (Tragödie, Komödie) spielen dabei ebenso eine Rolle wie dramenspezifische Interaktionsstrukturen (Geständnis, Vertraulichkeit). Als emergentes Phänomen erweist sich im gattungsspezifischen Blick die Unverfügbarkeit des Liebesaffekts. Rotraud von Kulessa perspektiviert ihre Dramenanalyse als weitere gattungsspezifische Ergänzung der Komplexitätsthese Luhmanns, die von einer Paradoxierung der Liebessemantik für die Zeit um 1700 ausgeht. Damit bestätigt der Aufsatz in seiner auch gender-Positionen berücksichtigenden Darstellung, die vier relativ unbekannte Dramen von Autorinnen aus der Zeit von 1650 bis 1750 umfaßt, daß auch die literaturwissenschaftliche Diskussion um die Veränderungen des Liebesbegreifens in der ausgehenden Klassik triftig sind. Auch Bernd Blaschke arbeitet eine gattungsbedingte Spezifizierung der Luhmannschen These heraus. Anhand der Plaisirs de l'Ile enchantee Molieres zeigt er, daß die Komödie die exzessive Leidenschaft, die als Bauelement des Modernen gilt, am Ende gattungsgemäß familiarisiert. Mit wichtigen Einblicken in die historische Eheschließungspraxis verbindet Blaschke die Konturierung einer Ökonomie der Liebestopoi und belegt, daß das Gattungsgesetz aus literaturhistorischer Perspektive das Affektbegreifen grundsätzlicher bedingt als der Liebesdiskurs. Damit wird durch die Mitwirkung der Komödie am emergenten Phänomen eines neuen Liebescodes auch die teleologische Ausrichtung eines ,Liebe als Passion'-Denkmodells literarhistorisch differenziert. In allen Gattungen der französischen Literatur des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts zeigt sich, daß die Liebe als gesellschaftlicher Verhaltenskodex an Bedeutung verliert und eine individuelle Freiheit Raum gewinnt bzw. sich Raum schafft. In einem Vergleich zwischen zwei Paradigmen, der Princesse de Cleves und Guilleragues' portugiesischer Nonne, zeigt Rainer Zaiser, daß der Roman vor allen anderen Gattungen insofern Zentrum moderner Subjektentfaltungen wird, als dieser nicht nur für die erinnerungskulturelle Auseinandersetzung ein zentraler Ort ist, um Fragen der Autoritätskonstruktion und der Machtdispositive zu verhandeln, sondern daß auch das Individuum im Narrativen einen neuen Handlungsfreiraum durch die Liebe gewinnt. Das Modell einer modernen Liebe zeichnet sich dann vor allem durch Prozeßhaftigkeit aus, die im Roman ihr ästhetisches Pendant findet.

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Die kleineren Erzählgattungen, die in der doctrine classique keine Berücksichtigung erfuhren, gelten in bezug auf das narrative Liebesbegreifen ebenfalls als erhellend. Besonders die Briefromane waren schon bei den Zeitgenossen als ,authentische' Liebeszeugnisse beliebt. Sie markieren zugleich den wichtigen Medienwechsel in der Liebeskommunikation vom mündlichen zum schriftlichen Diskurs. Ihre Gattungsprämissen entstehen in der Zeit um 1700 erst und verdienen deshalb für die Betrachtung der Relation von Genre und Liebesdarstellung stets besondere Aufmerksamkeit. Dietmar Rieger macht auf einen kleinen Liebes-Briefroman des Jahres 1749, die Lettres de la Grenouillere von Jean-Joseph Vade, aufmerksam, dessen Verfasser nicht, wie im Genre der lettres amoureuses bis dahin üblich, eine soziale und/oder geistige Elite zu Wort kommen läßt, sondern im style poissard den brieflichen Liebesdialog von der Werbung bis zur Heirat eines Seinefischers und einer Wäscherin inszeniert. Funktional steht zweifellos die ergötzliche Unterhaltung des bürgerlich-aristokratischen Lesers im Vordergrund - das sprachliche encanaillement und der parodistische (aber auch autoparodistische) Grundton dürften ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Doch eine genauere Analyse auch und gerade der Differenzqualitäten anderen poissard-Texten und der erinnerungskulturellen Tradition der lettres amoureuses gegenüber verweist darauf, daß die sprachliche Repräsentation in ihrer Naivität und Simplizität als ,natürlich', ,echt', ,wahr' und ,authentisch' markierter Liebesgefuhle auch zur Satire und Kritik der Liebessimulation und -perversion in der gesellschaftlichen Elite und von deren durch die deutlich partikularisierten Briefpartner Vades entkonventionalisierten, deformierten, verzerrten und reoralisierten Liebesrhetorik gerät. Einer solchen plebejischen Liebe des aufrichtigen Herzens bleibt zwar die tragische Erhöhung, aber eben nicht das Happy ending versagt. Schließlich müssen auch durch die Gedichttradition und -rezeption Spezifizierungen in bezug auf die systemtheoretische Analyse Luhmanns erfolgen und auch hier die Gattungsnormen und -praxen Berücksichtigung erfahren. Einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung für die Frühaufklärung hat Renate Schlüter hierzu vorgelegt. Sie geht von einem erinnerungskulturellen Wissen aus, daß Petrarcas, vor allem im Canzoniere thematisierte Liebe zu Laura eine platonische Liebe war. Demgegenüber kann eine kleine Gruppe von Texten aus dem 17. bzw. 18. Jahrhundert belegen, daß den französischen Dichtern unter Rückgriff auf Texte früherer Autoren (Theokrit, Vergil) eine die Sinnlichkeit integrierende Neuformulierung des Liebesdiskurses des Canzoniere auch losgelöst von der antipetrarkistischen Traditionslinie möglich war. Damit wird eine Neupositionierung sowohl der komplexen Rezeptionsgeschichte als auch eine Konturierung des gattungsspezifischen Liebesgepräges für die Zeit um 1700 erreicht. In der dritten kategorialen Möglichkeit, sich auf ein Feld des ,Kulturgedächtnisses' zu beziehen und Umgestaltungen sowie Abgrenzungen in bezug auf ältere Liebeskonzepte hin vorzunehmen, werden vor allem Aspekte der Subjektkonstitution verhandelt. Wie in den Beiträgen gezeigt wird, gehen mit den ,neuen Privilegierungen des Anderen', die dem Freundschaftsmodell für die Liebe um

Liebe, , Kulturgedächtnis' und Emergenz

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1700 Rechnung tragen, zumeist .Aufwertungen des Selbst' einher. In einer breiten Spanne von Cyrano de Bergerac bis hin zu Ausblicken auf Rousseau zeigt auch dieser dritte Sektionsabschnitt, daß der Prozeß der Umbauten und Umwertungen keine lineare Chronologie besitzt. Im Gegenteil: Zeitlich frühere Werke können avantgardistisch die Liebessemantik prägen, während noch im 18. Jahrhundert ,alte' Vorstellungen als aktuell ausgemacht werden. In der Erörterung der Liebesbriefe von Cyrano de Bergerac erläutert Cerstin Bauer-Funke, daß diese vor dem ,Kulturgedächtnis' des neo-petrarkistischen Liebesdiskurses zu lesen sind und daß die Überfuhrung dieses Paradigmas in die Gattung des Briefromans zur Emergenz eines neuen Modells fuhrt. Dieses Liebesmodell bewirkt zum einen eine Neumodellierung des spezifischen .Kulturgedächtnisses', und zum anderen wird durch die barocke Inszenierung einer mediatisierten Selbstaffirmation das schreibende Ich deutlich positiviert. In einer Dialektik zwischen einem Modell der innerlichen Beständigkeit des Selbst und einer Inszenierung der Frau entsteht ein Akt der Selbstliebe des Ich. Die Aufwertung des Selbst läßt es schließlich zu, wie abschließend gezeigt wird, daß Cyranos Ich seine selbstgewisse Verhaftung im heroischen Modell nutzt, um Kritik am Absolutismus üben zu können. Interessanterweise geht jedoch in diesem frühen Text die Selbstaufwertung gerade nicht mit dem Freundschaftsmodell einher. Der Beitrag von Silke Segler-Messner spannt demgegenüber den Bogen zwischen Montaigne und La Rochefoucauld, um zwei Werke systematisch zu vergleichen, die in besonderer und zugleich divergierender Weise gerade das Freundschaftsmodell mit der Liebe verknüpfen. Ihre Analyse einer neuen Ökonomie der Gabe zeigt unter anderem, daß Luhmanns Thesen historisch verrückt werden müssen, blickt man zunächst nur auf Montaignes Annäherung der Liebe an das Freundschaftsmodell. Jedoch müssen sie vor allem auch differenziert werden: Denn der Beitrag macht auch deutlich, daß sich durch den Vergleich mit La Rochefoucaulds Werk erkennen läßt, daß die asymmetrische Fürsorge der freundschaftlichen Liebe als Modell im 17. Jahrhundert bereits ausgehöhlt erscheint. So wird das Konzept der parfaite amitie, die im Beitrag in all ihren erinnerungswirksamen Facetten entfaltet wird, von La Rochefoucauld bereits dekonstruiert. Sie wird jedoch dann im Modell des honnete homme in supplementierter Form wieder aufgegriffen, so daß das neue Moment eine paradoxale Struktur besitzt, die wiederum Luhmanns Lektüre anschließbar werden läßt. Der Beitrag zeigt präzise, daß Montaigne und La Rochefoucauld für eine intime Form sozialer Interaktion plädieren, die die freundschaftliche Verbindlichkeit wieder herstellt, und damit den Anderen dem Selbst gegenüber aufwertet und privilegiert. So paradigmatisch und einschlägig die Moralistik die anthropologischen Positionen des ausgehenden 17. Jahrhunderts auch in der aktuellen Forschung besetzt und so vermeintlich unscheinbar andere Texte zumeist erscheinen mögen, so innovativ mag vor dem erinnerungskulturellen Hintergrund das in Edme Boursaults Treize lettres amoureuses d'une dame ä un cavalier vertretene selbstbewußte Liebesideal wirken, dessen Briefe Kirsten Dickhaut analysiert.

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Kirsten Dickhaut

Gegen Agape kommt in diesem Briefroman ein intersubjektives Liebesmodell zum Ausdruck, das sich einem positiven Entwurf eines fingierten weiblichen Ich verdankt. Der Beitrag hebt hervor, daß sich die liebessemantische Idealvorstellung an der Selbstliebe orientiert und diese zu einer selbstbewußten Form supplementiert wird. Die Selbstliebe wird damit zur axiologischen Vorgabe eines neuen Liebesmodells, das die naturrechtliche Caritas ordinata zu überwinden trachtet und damit auf die Vorstellung einer bürgerlichen Liebesehe zielt. Am Fehlen der Gerechtigkeit dieses ehebrecherischen Freiheitsmodells scheitert jedoch auch das Ideal. Letzteres entsteht als emergentes Phänomen in der Auseinandersetzung mit dem ,Kulturgedächtnis' des Agapekomplexes. Auch in Paul Geyers Beitrag wird der Nexus von Naturrecht und Liebesvorstellung in den Blick genommen. Er zeigt systematisch die Bedingungen der anthropologischen Konstanten auf, die fur Montesquieu den Menschen zum sozialen Typus machen und zugleich das ,Menschliche', etwa den modernen Freiheitsbegriff ,undenkbar' erscheinen lassen. Die Paradoxic der Naturrechtslehren besteht darin, eingedenk und trotz geschichtlichem Menschenbild das ,Menschliche' auf anthropologische Konstanten zurückführen zu wollen. Geyer stellt heraus, daß vor dem Hintergrund dieser Vorbereitungen auf die Moderne dennoch fur Montesquieu keine Überwindung einer Ökonomie des sexuellen Begehrens denkbar ist. Mit einem Identitätszentrum, das nicht eigendynamisch funktioniert, kann der Mensch nicht autonom agieren. Dies jedoch wäre die Voraussetzung, einen Freiheitsbegriff und einen Begriff der bürgerlichen Liebe im Esprit des Loix ansetzen zu können. Damit wird Montesquieus Schrift historisch restituiert, und es wird einer Luhmannschen Vorstellung der liebessemantischen Wendezeit eine historische Gegenposition offeriert. In einem weit gespannten Beitrag bietet schließlich Wolfgang Matzat sowohl eine systematische Erörterung der für die Liebessemantik zentralen Leitdifferenz von Natur und Gesellschaft als auch einen Ausblick auf die Romantik, die die Liebesfreiheit in eine ,Liebe zur Liebe' überfuhren wird. Anhand der zivlisationstypischen Opposition stellt Matzat heraus, daß Natur paradoxerweise als das Andere der Gesellschaft gilt, aber mit dem Aufkommen des Schäferromans in der Renaissance die Natur auch zum Maßstab einer neuen Liebesfreiheit wird. Damit wird im Beitrag der Bogen von Sannazaro bis Rousseau gespannt, und die semantischen Verwerfungen der Übergangszeit werden in ihren Seinsweisen beleuchtet. Auf die Frage nach den Grundmodellen dieser Übergangssemantik gibt Matzat eine typologische Antwort. Es dominieren zwei Möglichkeiten, mit der Leitdifferenz produktiv umzugehen: ein Inklusionsmodell und ein Exklusionsmodell, die sich an der axiologischen Vorgabe der Vereinbarkeit von Liebesvorstellungen mit gesellschaftlichen Verhältnissen scheiden. Es wird deutlich, daß das Exklusionsmodell dabei eine besondere Triebökonomie ausbildet.

Liebes (über) blendungen: Aufscheinen neuer Modelle des Affektbegreifens im Kreuzfeuer der Diskurse

Jörn Steigerwald

,Galante Liebes-Ethik' Jean-Frangois Sarasins Dialogue sur la question s 'il faut qu 'un jeune homme soit amoureux]

Die folgende Lektüre von Jean-Franfois Sarasins Dialog geht von einer einfachen Beobachtung aus und konkretisiert sich dann anhand dreier Hypothesen zur Emergenz der galanten Liebe um 1700. Den Ausgangspunkt hierfür bildet die Feststellung, daß die Publikation der Werke Sarasins die Galanterie in doppelter Hinsicht begründet.2 Zum einen wird mit der Veröffentlichung der Werke Sarasins im Jahr 1656 erstmals das sozio-kulturelle Modell der Galanterie der Öffentlichkeit präsentiert. Insbesondere Paul Pellison konturiert in seinem einleitenden Discours sur les CEuvres de M. Sarasin die Konzeption der Galanterie, indem er sie am Modell Sarasins beispielhaft vor Augen stellt. Zum anderen nimmt die gegenwärtige Forschung zur Galanterie ihren Ausgangspunkt von Alain Vialas Edition des Pellisonschen Diskurs über Sarasins Werke, innerhalb derer Viala erstmals die Galanterie als eigenständiges, historisches Konzept der höfischen Gesellschaft herauspräpariert und zugleich von der preciosite absetzt.3 Bemerkenswert ist, daß in beiden Fällen Sarasins Texte den Anlaß bieten, die Galanterie publik zu machen, ohne daß eine eingehende Analyse der zugrundeliegenden Texte vorgelegt wird. Vielmehr bilden Sarasins Werke die produktive Leerstelle, um die herum sich die Präsentation der Galanterie organisiert. Diese produktive Leerstelle der Galanterie, die durch die Werke Sarasins markiert, aber nicht ausgefüllt wird, führt zur ersten Hypothese, dernach die Fiktionen der Galanterie keine Nachahmungen einer vorausliegenden sozialen Realität, sondern allererst Realität suggerierende Hervorbringungen des sozialen Imaginären sind, die im Akt des Fingierens Gestalt annehmen. D.h., daß die Galanterie als Emergenz vor der Matrix der Mimesis zu fassen ist, wobei die Besonderheit der Galanterie darin besteht, daß sie als ein mit ihrer Diskursumwelt interagierender Diskurs fungiert, der an jene rückgekoppelt ist, so daß die Emergenz .gefesselt' wird, ohne daß die emergenten Phänomene mit dem Dis1

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Zitiert wird, wenn nicht anders angegeben, nach der einzigen modernen Ausgabe des Textes: Jean-Franpois Sarasin: S'il faut qu'un jeune homme soit amoureux. Dialogue, in: ders., (Euvres de Jean-Frangois Sarasin. Rassemblees par Paul Festugieres. Paris 1926 ('1656), Bd. 2, S. 146-232. Diese mehrfache Valenz der Begriffe der Publikation bzw. des Publizierens als Formen des ,öffentlich Machens' wird umfänglich behandelt in dem Sammelband Christian Jouhaud, Alain Viala (Hgg.): De la publication. Entre Renaissance et Lumieres. Paris 2002. Siehe Alain Viala et al. (Hgg.): L'Esthetique galante. Paul Pellison Discours sur les CEuvres de Sarasin et autres textes. Toulouse 1989.

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Jörn Steigerwald

kurs oder der Diskursumwelt zusammenzufallen. Vielmehr stellt die Galanterie eine Leerstelle zwischen Repräsentandum und repräsentierendem Diskurs dar, die emergente Phänomene hervortreibt, um sie im Diskurs zu modellieren, ohne in ihnen aufzugehen. Im Sinne von Wolfgang Iser läßt sich die Emergenz der Galanterie dadurch präziser fassen, daß sie einen Modus des Wirkens kennzeichnet, der sich nur operational beschreiben läßt, da „das Emergente Verarbeitungsnotwendigkeiten auslöst, die den Beobachter mit den emergenten Phänomen zusammenschließen". 4 Systematisch zu unterscheiden sind daher operationale Beschreibungen, die sich auf das Zustandekommen der Emergenz beziehen, und symbolische Beschreibungen, die die Verhaltensweisen des Beobachters zur Emergenz kennzeichnen. Die zweite Hypothese geht von der Emergenz der Galanterie aus und veranschaulicht sich in der Darstellung der galanten Liebe in den fiktionalen Repräsentationen der Galanterie. Die Galanterie begründet sich demnach in einer distinguierenden Praxeologie der höfischen Gesellschaft, innerhalb derer die Präsentation der Galanterie als Akt der Selbstdarstellung erfolgt. 5 Dabei präferiert die Galanterie deiktische Darstellungsformen, die im Zusammenspiel von idealer Performanz und vorbildlicher Nachahmung dem Beobachter ein Tableau galanter Distinktionsformen vor Augen stellt, ohne daß das System der Distinktion expliziert wird. 6 An die Stelle einer konkreten Systematik setzt die Galanterie Modelle der deiktischen Repräsentation, die ihre Evidenz aus der Präsentation der vorgestellten sozialen Praxis erhält. Diese metadeiktische Qualität der Repräsentation, die in der Integration der Reflexion über die Darstellung in die Darstellung besteht, kennzeichnet die Galanterie nicht nur im Falle des Sarasinschen Dialogs, sondern grundsätzlich, wie etwa die Romane und Novellen Madeleine de Scuderys ausweisen. Diese Deixis produziert zudem eine doppelte Distinktion der galanten Praxeologie; zum einen nach innen, als Konstitution

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Wolfgang Iser: Mimesis-»Emergenz, in: Andreas Kablitz, Neumann, Gerhard (Hgg.), Mimesis und Simulation. Freiburg im Breisgau 1998, S. 669-684, hier: S. 680. Siehe zudem Isers Ausführungen zur ,gefesselten Emergenz': „Solange solche Gegenstandsprägungen noch einem traditionellen Verständnis der Mimesisdoktrin unterliegen, erweisen sie sich als ,gefesselte' Emergenz. Emergent sind diese Prägungen insofern, als die performative Aktivität ständig neue oder wechselnde Funktionsgerechtigkeiten des nachzuahmenden Gegenstands hervorbringt. .Gefesselt' ist diese Emergenz insofern, als der mit seiner Umwelt interagierende Diskurs darüber befindet, was diese Funktionsgerechtigkeit sei, die nun wiederum auf die Diskursumwelt zurückzukoppeln ist." (Wolfgang Iser: Mimesis-» Emergenz, S. 674).

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Zum Konzept der Praxeologie siehe Pierre Bourdieu, Lo'ic J.D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt/M. 1996, und weitergehend Hans-Peter Müller: Handeln und Struktur. Pierre Bourdieus Praxeologie, in: Catherine Colliot-Thelene, Etienne Francois, Gunter Gebauer (Hgg.), Pierre Bourdieu: Deutsch-Französische Perspektiven. Frankfurt/M. 2005, S. 21^42. Zum Verfahren der deiktische Darstellung siehe die systematische Unterscheidung Klaus W. Hempfers zwischen deiktischer und mimetischer Darstellung des Dialogs, auf die hier bezug genommen wird. Klaus W. Hempfer: Lektüre von Dialogen, in: ders. (Hg.), Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien. Stuttgart 2002, S. 1-38.

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, Galante Liebes-Ethik'

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einer Ethik der höfischen Gesellschaft, zum anderen nach außen, als Abgrenzung dieses sozialen Raumes auf der vertikalen Raumachse nach unten. Die Anbindung der deiktischen Darstellung der Galanterie an ausgewählte fiktionale Gattungen, wie den Dialog oder hybride Erzählformen wie den galanten Roman, generiert schließlich emergente Phänomene, die als spezifische Modellierungen beschrieben werden können, die das symbolische Kapital der Galanterie ausstellen. Die dritte These geht schließlich von der postulierten Neuheit der Galanterie aus und beschreibt deren historische Konfiguration als Fabrikation einer neuen (Liebes-)Ethik der höfischen Gesellschaft.7 Gegenüber der Luhmannschen These, daß das Modell der ,Liebe um Liebe' sich erst um 1800 herausbildet, wird hier behauptet, daß dieses Modell bereits über 100 Jahre früher in der Galanterie ausgeprägt wird.8 Parallel zur Herausbildung des neuen Paradigmas der Sexualität um 1700, das mit der Intensivierung des Körpers jene Diskurse in Gang setzt, die wir als Sexualitätsdispositiv zu bezeichnen gewohnt sind, etabliert die Galanterie in Frankreich ein neues Paradigma der Liebe, das als Modell distinguierter Selbstsorge den Subjekten die Regulierung ihrer Affekte in der heterosexuellen Partnerschaft aufgibt.9 Während Christian Thomasius in seiner 1692 erschienene Einleitung zur Sittenlehre im Namen der Galanterie sogar die Integration von partnerschaftlicher Liebe und Sexualität in eine philosophische Liebesethik leistet, fokussieren die französischen Galanten vorzugsweise die Modelle der heterosexuellen Freundschaft und Liebe unter Hintanstellung der Sexualität. Gleichwohl eignet beiden Modellen der Galanterie, daß sie eine Liebeskonzeption vorlegen, in der die Ausrichtung auf den menschlichen Affekt der Liebe dazu dient, die bis dato dominante christliche, d.h. transzendente Ethik durch eine ,civile', d.h. sozial geordnete Sittenlehre zu ersetzen.10 Zudem präsentieren beide Varianten der Liebesethik gerade keine Theorie des

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Ich verwende den Begriff im Anschluß an Peter Burke: The Fabrication of Louis XIV. New Haven 1992. Siehe zu dieser These grundlegend Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Die Codierung von Intimität. Frankfurt/M. 1982; sowie als literaturwissenschaftliche Fortschreibung Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999; und als je eigene Applikationen Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2004; und Thomas Klinkert: Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik. Freiburg im Breisgau 2002. Michel Foucault: Histoire de la sexualite. Bd. I: La volonte de savoir. Paris 1976. Von literaturwissenschaftlicher Seite aus wurde die ,mise en discours du sexe' insbesondere anhand der Funktion des Geständnisses sowie der Affektmodellierung in literarischen Texten um 1700 herausgearbeitet. Siehe Roland Galle: Geständnis und Subjektivität. Untersuchungen zum französischen Roman zwischen Klassik und Romantik. München 1986; und Wolfgang Matzat: Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac. Tübingen 1990. Verwiesen sei zudem auf die grundlegende Studie von Jean-Louis Flandrin: Le sexe et l'Occident. Evolution des attitudes et des comportements. Paris 1981. Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim 1971.

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Affekts der Liebe, sondern stellen eine deskriptive Liebesethik vor, die auf ein selbstsorgendes Subjekt der höfischen Gesellschaft abzielt, das dieser Theorie gerade nicht bedarf.11 Daher resultiert die Neuheit der galanten Liebe weniger aus der offensiven Proklamation eines neuen Ideals als aus der diskreten Einfuhrung einer neuen Liebeskonzeption in der Aktualisierung eines antiken lieu de memoire. Gerade der hier im Mittelpunkt stehende Dialog Sarasins zeigt augenfällig, wie aus der Thematisierung antiker Traditionen eine Aktualisierung antiker Residuen der Liebe in der gegenwärtigen Gesellschaft wird, die nur nominell mit dem antiken Ideal übereinkommen, substantiell hingegen je eigen konzeptioniert sind. Diese Translatio antiker Ideale in die eigene Gegenwart produziert schließlich die Herausbildung eines neuen, d.h. nunmehr französischen Kulturgedächtnisses, in dem die Galanterie nicht nur als Gedächtnisort, sondern sogar als nationale Einzigartigkeit geführt wird.12 Dementsprechend wird gegen Luhmanns These der Herausbildung des Konzepts der ,Liebe um Liebe' als rein bürgerlichem Paradigma13 im weiteren die Überlegung Michel Foucaults aufgegriffen, daß die Diskursivierung der Sexualität zunächst der Selbstermächtigung des Adels diente, und die These aufgestellt, daß analog dazu die neue Konzeption der galanten Liebe als Selbstermächtigung der höfischen Gesellschaft zu fassen ist."4

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Siehe dazu umfassend: Jörn Steigerwald: Galanterie. Zur Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft. Habilitationsschrift Bochum 2006. Noemi Hepp: Hepp, Noemi: ,Galanterie', in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de memoire. Bd. III: Les France. Teil 2: Traditions. Paris 1992, S. 745-783. Der Blick auf die historische .Galanterie' läßt nachdrücklich drei Problemstellen in Luhmanns Rekonstruktion der Liebessemantik in der Frühen Neuzeit erkennen: Erstens fokussiert Luhmann einseitig eine jeweils von ihm als epochenspezifisch angesehene Codierung von Intimität, ohne die historiographische Konstruktion dieses Modells zu berücksichtigen: Er orientiert sich an einer Forschungslinie, die von Boileaus Verdikt gegen die preciosite über Gustav Lansons Ausschluß derselben aus dem literarischen Kanon bis hin zu ihm reicht, ohne diese Konstruktion als Verengung der historischen Gegebenheiten zu begreifen. Zudem ordnet er einzelne Codierungen - wie die Galanterie - Epochen zu, denen sie nicht angehören: Die Galanterie ist die dominante Liebesethik des späten 17. Jahrhunderts und nicht des 18. Jahrhunderts, weshalb Luhmann unter dem Stichwort Galanterie auch weit eher den Libertinage als die Galanterie selbst begreift. Damit verbunden ist zweitens eine fehlerhafte Rekonstruktion spezifischer Liebesethiken, woraus nicht selten schwerwiegende Folgefehler resultieren: Madeleine de Scuderys Figuren argumentieren keineswegs grundsätzlich gegen die Ehe, sondern nur gegen die Ehe als Instanz eines rein männlich dominierten Raumes, in dem der Frau keine Möglichkeit zur Entfaltung zugestanden wird. Drittens rekonstruiert Luhmann die Liebessemantik durch eine reine Wortfeldanalyse, ohne die Praxeologie der untersuchten Konzeption zu beachten. Die Ethik der Galanterie wird grundsätzlich nicht theoretisch ausgefaltet, da dies der ihr eigenen Logik entgegenstehen würde, die auf Distinktion qua Mimesis und Performanz abhebt. Luhmanns Lektüren finden deshalb gerade dort Zeugnisse der Galanterie, wo sie nur diesen Namen fuhren, jedoch nicht substantiell vorliegen. Anstelle idealer Darstellung rekonstruiert er die Semantik der Mimikryvarianten der Galanterie. Vgl. dagegen Niklas Luhmann: Liebe als Passion, besonders Kap. 5-7, S. 57-106. Diese erste Entfaltung des Sexualitätsdispositivs wird in den meisten Forschungsarbeiten, die sich dem 18. Jahrhundert als dem eigentlichen Zeitalter der Ausfaltung des Sexualitäts-

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Präziser läßt sich sagen, daß gegenüber dem homosozialen Modell der platonischen Eroslehre, das die Liebe einseitig als freundschaftliche Seelenliebe zwischen Männern begreift, wie es sich vorbildlich in der italienischen Renaissance ausgebildet hat, sich die französische Galanterie durch die Integration der zuvor aus vermeintlicher Inkompetenz exkludierten Frau in die heterosexuelle Liebesethik auszeichnet. 15 Diese Inklusion der Frauen in ein Freundschafts- und Liebesmodell ereignet sich Mitte des 17. Jahrhunderts und nimmt in den Dialogen über Liebe und Freundschaft, die im ersten und dritten Teil von Madeleine de Scuderys Clelie integriert sind, ihre wohl heute noch bekannteste Gestalt an. Diese galanten Dialoge zeigen zum einen deutlich, daß die galante Liebe als Praxis konzipiert ist, die vom Individuum sowie vom Paar den regulierten Gebrauch der Lüste einfordert, ohne daß diese Praxis theoretisiert würde. 16 Zum anderen wird in diesen Fiktionen ein Zusammenspiel von Mimesis und Performanz präsentiert, das dazu dient, vorbildliches Verhalten in der Freundschaft und der Liebe vorzustellen, 17 um zur Nachahmung desselben anzuregen und somit eine aemulative Soziabilität der höfischen Gesellschaft zu begründen: Die galante Liebe ahmt folglich keine soziale Realität nach, sondern emergiert in der Deixis der Galanterie.

1. Sarasins Dialog als literarisches Moment der galanten Ethik Als Leitfaden der nachfolgenden Lektüre von Sarasins Dialog S'il faut qu'un jeune komme soit amoureux fungiert die Beobachtung, daß in ihm eine männlich perspektivierte ,(Economie der Lüste' vorgestellt wird, die als philosophisches Komplement zum privativen Modell der geschlechterübergreifenden höfischen Interaktion gefaßt werden kann, wie es in Scuderys Werken vorgestellt wird. 18 Beiden Varianten dieses höfischen Modells der Liebe, das als

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dispositivs zuwenden, gerne außer Acht gelassen. Siehe dagegen Foucaults historische Zuordnung: „[...] la sexualite est liee ä des dispositifs recents de pouvoir; eile a ete en expansion croissante depuis le XVNC siecle; l'agencement qui l'a soutenue depuis lors n'est pas ordonne ä la reproduction; il a ete lie des l'origine ä une intensification du corps - ä sa valorisation comme objet de savoir et comme element dans les rapports de pouvoir." (Michel Foucault: La volonte de savoir, S. 141). Grundlegend dazu Hans Baron: In Search of Florentine Civic Humanism. Essays on the Transition from Medieval to Modern Thought. Princeton 1955; und neuerdings Sabrina Ebbersmeyer: Sinnlichkeit und Vernunft. Studien zur Rezeption und Transformation der Liebestheorie Piatons in der Renaissance. München 2002. Siehe Joan DeJean: Tender Geographies: Women and the Origins of the Novel in France. New York 1991; Nathalie Grande: Strategies de romancieres. De Clelie ä La Princesse de Cleves. Paris 1999; und Myriam Maitre: Les Precieuses: Naissance des femmes de lettres en France au XVIF siecle. Paris 1999. Siehe hierzu auch den Beitrag von Silke Segler-Messner in diesem Band. Die Forschungen zu Sarasin sind nach wie vor äußerst spärlich, wobei meist die Poesie und nur in geringem Maße der hier behandelte Dialog im Mittelpunkt steht. Verwiesen sei da-

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Galanterie bezeichnet wird, schöpfen ihre Neuheit aus der Reaktivierung antiker Modelle der Selbstsorge, die sie auf die Liebesbeziehung zwischen den Geschlechtern, sei sie freundschaftlich oder erotisch geprägt, applizieren. Erst aus dieser Renaissance antiker Praktiken der Individualhygiene heraus erfolgt die umfassende kulturelle Translatio, die zur Fabrikation' der klassischen französischen Hofkultur dient. Dabei wird die platonisch grundierte Tradition der italienischen Vorläufer, wie sie zwischen Giordano Bruno und Baidassare Castiglione vorliegt, ersetzt durch eine vorwiegend aristotelische, zum Teil aber auch epikureisch geprägte mittlere Ethik.19 Der behauptete komplementäre Status von philosophischer und privativer Modellierung der Liebe wird nicht nur durch die Einbindung von Sarasin in die samedis von Madeleine de Scudery ersichtlich, sondern auch durch die Inszenierung der Publikation seiner Schriften.20 Der Dialog wurde bereits Ende der 1640er Jahre geschrieben, also zum Zeitpunkt der Publikation des Artamene ou le Grand Cyrus (1649-53) von Madeleine de Scudery, doch erst in der posthumen Ausgabe der Werke 1656 veröffentlicht. Diese Werkausgabe kann in doppelter Hinsicht die Aufmerksamkeit des Lesers beanspruchen: Zum einen handelt es sich um eine besondere Gemeinschaftsarbeit, da die von Gilles Menage herausgegebenen Texte Madeleine de Scudery gewidmet sind und von Paul Pellison mit einem separaten Discours sur les osuvres de M. Sarasin eingeleitet werden. Das Werk emergiert folglich als Momumentum einer gruppenspezifischen Form der Interaktion, genauer: der gemeinschaftlichen Konzeption des gesellschaftlichen Ideals der Galanterie, die insbesondere Pellison in seinem Discours präsentiert. Augenfällig wird dies aber bereits in der einleitenden

her nur auf Albert Mennung: Jean-Fran^ois Sarasin's Leben und Werke, seine Zeit und Gesellschaft. Halle 1902-04; Roger Zuber: Les „Beiles Infideles" et la formation du goüt classique. Perrot d'Ablancourt et Guez de Balzac. Paris 1968; Janis Pallister: Sarasin, Lyric Poet, in: L'Esprit Createur XX, 4 (1980), S. 55-63; ders.: Sarasin Epicurean, in: Papers on French Seventeenth Century Literature 9, 16 (1982), S. 313-325; Alain Niderst: Culture antique et galanterie moderne chez Sarasin, in: XVII e Siecle 186 (1995), S. 21-38; Alain Genetiot: Des hommes illustres exclus du pantheon, les poetes mondains et galants (Voiture, Sarasin, Benserade), in: Litteratures classiques 19 (1993), S. 215-235; und ders.: Poetique du loisir mondain. De Voiture ä La Fontaine. Paris 1997. Die einzige Studie, die sich vorzugsweise mit dem Dialog S'il faut qu 'un jeune homme soil amoureux auseinandersetzt, ist die von Ada Speranzi Armani: J e a n - F r a n c i s Sarasin: SuH'Amore. In: Eros in Francia nel Seicento. Paris 1987, S. 213-243, wobei selbige weitgehend eine Zusammenfassung des Dialogs bietet. 19

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Siehe Emmanuel Bury: Litterature et politesse. L'invention de l'honnete homme (15801759). Paris 1996. Als das erste Moment dieser Fabrikation der höfischen Gesellschaft Frankreichs, die in der Einführung eines antiken Ideals zur Ausbildung eines eigenen lieu de memoire besteht, kann wohl Guez de Balzacs Reinvention der urbanite gelten, die er im zweiten Discours De la conversation des Romains seiner (Euvres diverses (1644) vorlegt. Dabei ist folgende Differenz zu beachten: Während Guez de Balzac und Paul Pellison in ihren genannten discours auf die Mesotes-Lehres der Nikomachischen Ethik rekurrieren, referiert Sarasin hingegen auf das epikureische Modell der mittleren Ethik. Madeleine de Scudery, Paul Pellison et leurs amis: Chroniques du Samedi. Suivies de pieces diverses (1653-1654). Edition etablie et commentee par Alain Niderst, Delphine Denis et Myriam Maitre. Paris 2002.

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Liebes-Ethik'

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v o n Gilles M e n a g e an Madeleine de Scudery, in der ersterer seine H o c h -

achtung ihr gegenüber dadurch z u m Ausdruck bringen will, daß er die W e r k e des g e m e i n s a m e n , nun verstorbenen Freundes Sarasin publiziert: Cependant, MADEMOISELLE, il est estrange que depuis ce temps-lä ie n'aye point encore fait sfavoir au Public l'estime particuliere que ie fais d'une personne si extraordinaire, & qu'estant un des hommes du monde qui vous honore le plus dans son cceur, ie sois un des hommes du monde qui vous ay le moins celebree dans ses Escrits. Quoy que ma conscience ne me reproche rien de ce coste-lä, & que mon silence ne soit qu'un effet de mon admiration, ie ne laisse pas d'avoir quelque honte d'estre si longtemps ä vous rendre l'hommage que vous doivent tous ceux qui font profession d'honorer publiquement le Merite & la Vertu. En attendant que ie puisse vous rendre cet hommage par quelques-uns de mes Escrits, qui ne soient pas tout ä fait indignes de vous, l'amitie qui estoit entre feu Monsieur Sarasin & moy, m'ayant oblige de prendre soin du Receuil, & de l'Edition de ses Ouvrages, ie prens la liberie de vous en faire une offrande. Ie suis assure que ie ne fais rien en cela contre l'intention de l'Autheur, & que comme vous estiez l'objet eternel de ses loüanges & de ses respects, s'il eust publie luy-mesme ses Oeuvres, & plust ä Dieu que sa mort precipitee n'eust pas prive le monde de cet avantage, il les eust publiees sous cette mesme protection que ie vous demande. Ie veux croire aussi, MADEMOISELLE, que ie ne fais rien en cela qui vous soit desagreable, & que vous ne rejetterez pas mon offrande: non seulement acause de cette amitie tendre & officieuse que vous avez toujours eue pour Monsieur Sarasin; mais aussi acause de l'estime extraordinaire que vous avez toüjours faite des productions de son esprit. I'ose bien vous dire qu'elles sont en effet tres-dignes de vötre approbation. 21 Im Mittelpunkt steht hierbei die Gabe, die s o w o h l Ausdruck als auch K e n n z e i chen der Freundschaft ist, die Sarasin mit M e n a g e s o w i e mit Scudery pflegte. D i e zentral gesetzte „amitie tendre" s o w i e der g e g e n s e i t i g e „estime" z e i g e n sich demnach v o r z u g s w e i s e in der j e spezifischen sozialen Praxis der Galanten, genauer: in der Veröffentlichung und damit auch öffentlichen Präsentation der Freundschaft und vor allem denjenigen Handlungen, die diese Freundschaft begründen, erhalten und letztlich auch über den Tod hinaus forttragen. D i e Publikation erscheint folglich als sozio-kulturelles M o m e n t der galanten , Ethik der Gabe'. Z u m anderen begründet Paul Pellison in s e i n e m Discours M. Sarasin

sur les CEuvres

de

erstmals die Konzeption der Galanterie, die Alain Viala z u m A u s -

gangspunkt seiner Rekonstruktion dieses historischen Konzepts der h ö f i s c h e n Gesellschaft nahm. 2 2 Ohne auf Pellisons Discours

im Detail einzugehen, m ö c h t e

ich an einige v o n Viala herausgearbeitete Fakten erinnern: Erstens kennzeichnet Pellison in s e i n e m Discours der urbanite,

21

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Sarasins Texte als Z e u g n i s s e jener aktuellen Form

die man galanterie

nenne. Z w e i t e n s hebt er hervor, daß Sarasin

Les Oeuvres de Monsieur Sarasin. Α Paris, Chez Augustin Coubre, en la petite Salle de Palais, ä la Palme. MDCLVIII, Epitre, o.S. Siehe Alain Viala: Introduction: De la galanterie comme Strategie litteraire, in: ders. et al. (Hgg.), L'Esthetique galante, S. 13-46. Verwiesen sei zudem auf die Studien von Viala: D'une politique des formes, la galanterie, in: XVIIe siecle 182 (1994), S. 143-151; und ders.: Les Signes Galants: A Historical Reevaluation of Galanterie, in: Yale French Studies 92 (1997), S. 11-29; sowie die Monographie von Delphine Denis: Le Pamasse galant. Institution d'une categorie litteraire au XVII® siecle. Paris 2001.

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mit dem vorliegenden Dialog insofern Neuland betreten habe, als er erst eigentlich den Dialog, genauer: den galanten Dialog geschaffen habe, der den Anforderungen der höfischen Gesellschaft nach Amüsement und Gelehrsamkeit Genüge leiste.23 Dies sei Sarasin besonders dadurch gelungen, daß er einen style egal et nature! zum Ausdruck gebracht habe,24 der allen Beteiligten eine gleichberechtigte Position in der Unterhaltung zuweise und dabei die spezifische ,Natürlichkeit', d.h. die natürliche' Distinktion der höfischen Gesellschaft vor Augen stellt. Diese behauptete ,Natürlichkeit' fungiert als exklusives Distinktionskriterium der höfischen Gesellschaft, indem von den Galanten eine Korrelation zwischen der anthropologischen Natur des höfischen Subjekts und seiner quasi .natürlichen', de facto habitualisierten sozialen Praxis gesetzt wird. Diese Natürlichkeit wird insbesondere von den Figuren in den galanten Dialogen als Ausweis ihrer spezifisch höfischen Konstitution vorgestellt, so daß ihr inkorporierter Habitus in ihrer Selbstdarstellung in einen naturalisierten Habitus transformiert wird.25 Drittens bemerkt Pellison, daß der Dialog ein bis dato weitgehend unbeachtetes, jedoch zentrales Thema der eigenen Gesellschaft zum Inhalt habe: eine ,question de morale'. Im Gegensatz zu den tradierten Themen der gelehrten Dialoge wie der Philosophie, der Juristerei oder der Theologie, die nicht zur allgemeinen Unterhaltung dienlich sind, handelt es sich bei den questions de morale' um das dem Dialog eigentliche, d.h. ,natürliche' Thema, das in der und für die Gesellschaft innerhalb einer Gesprächssituation inszeniert

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Siehe dazu Jörn Steigerwald: Galante Gespräche: Fontenelles Dialogues des morts, in: Gabriele Ribemont-Vickermann, Dietmar Rieger (Hgg.), Dialog und Dialogizität im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 2003, S. 13-30; sowie umfänglich Ciaire Cazenave: Le genre du dialogue ä l'äge classique. These de doctorat Paris 2004. Paul Pellison hebt zunächst die spezifische Formation des dialogue galant hervor: „En demier lieu, il faut posseder Part du dialogue, pour faire que cette conversation, qu'on represente, quoique plus savante et plus soutenue que les conversations ordinaires, soit pourtant une conversation; c'est-ä-dire un entretien libre, familier et naturel, seme partout des jeux, de la gaiete et de la civilite des honnetes gens, qu'on y distingue le caractere particulier de chacun de ceux qui parlent, qu'on les y connaisse, qu'on les y aime." (Alain Viala et al. (Hgg.): L'Esthetique galante. Paul Pellison Discours sur les CEuvres de Sarasin et autres textes, S. 55). In bezug auf die Lyrik Sarasins faßt Pellison dann das Ideal prägnant zusammen: „Elle [la poesie] doit souvent, je le confesse, se precipiter comme un torrent. Mais eile doit plus souvent encore couler comme une paisible riviere, et plus de personnes, peut-etre, sont capables de faire une description pompeuse ou une comparaison elevee que d'avoir ce style egal et naturel, qui sait dire les petites choses ou les mediocres sans bassesse, sans contrainte et sans durete." (Alain Viala et al. (Hgg.): L'Esthetique galante. Paul Pellison Discours sur les CEuvres de Sarasin et autres textes, S. 61). Dieses Modell der ,galanten Natürlichkeit' wird paradigmatisch modelliert in Madeleine de Scuderys Konversation De I 'air galant. Zum Problem der Bestimmung des .naturel' im Frankreich des 17. Jahrhunderts und besonders in der Galanterie siehe Michel Bouvier: Le Naturel, in: XVII e Siecle 156 (1987), S. 229-240; Elizabeth MacArthur: La fiction du naturel, in: XVII e Siecle 180 (1993), S. 501-518; und Alain Viala: Le naturel galant, in: Christian Delmas, Franfoise Gevrey (Hgg.), Nature et culture ä l'äge classique ( X V I ' - X V I I f siecles). Actes de la joumee d'etudes au Centre de recherche, Idees, themes et formes 1580-1789', 25 mars 1996. Toulouse 1997, S. 61-76.

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wird.26 Schließlich sei noch hervorgehoben, daß die Verbindung von Gesprächsfiktion und Publikationsinszenierung dadurch intensiviert wird, daß einer der beiden leitenden Dialogpartner, Gilles Menage, als realer Herausgeber der Werke Sarasins fungiert, es mithin zu einem mehrfachen Rollenspiel kommt.

2. Die Gesprächssituation des Dialogs Der Dialog Sarasins zeichnet sich durch einige Besonderheiten gegenüber den gängigen Modellen der höfischen Gesprächsfiktion aus, die es verdienen, hervorgehoben zu werden. Der Dialog kennt verkürzt gesagt zwei unterschiedliche Modelle der Inszenierung: Im ersten Fall handelt es sich um ein Gespräch zwischen Mitgliedern - meist Männer und Frauen - der höfischen Gesellschaft, die sich in einem distinkten Ambiente unterhalten, wobei eine oder mehrere Personen eine dominante Position bei der Gesprächsführung zugeordnet bekommen; so im Cortegiano von Castiglione.27 Im zweiten Fall wird eine höfische Gesprächsgemeinschaft in einem antikisierenden Gewand vorgestellt, die sich über Themen der Gegenwart des Verfassers austauschen, dabei aber eine antike Traditionsbildung personifizieren und in actu realisieren; so im Cyrus oder in der Clelie von Scudery.28 Sarasins Dialog unterscheidet sich von beiden Formen erstens dadurch, daß er keine Mitglieder des inneren Zirkels der höfischen Gesellschaft im Gespräch vereint, sondern Gelehrte, die gleichwohl dieser Gesellschaft nahestehen.29 Im vorliegenden Text kommt es zum Aufeinandertreffen der fiktiven Personae Jean Chapelain, Gilles Menage, M. de Trilport und Sarasin, die sich in den Räumen des Letzteren über die Liebe austauschen. D.h. es werden Figuren eingeführt, die realen Personen entsprechen, wobei die scheinbare Identität von Person und Persona dadurch gesteigert wird, daß den Figuren

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Siehe Alain Viala: Introduction: „La .galanterie' n'abolit pas la distinction entre le savoir et Fenjouement; mais eile la nuance en rendant les deux conciliables, et, de ce fait, donne au jeu litteraire mondain, jusque lä pour accessoire, une place equivalente ä celle de la litterature serieuse, et meme une position avantageuse. Cela, grace ä une attention particuliere portee au sens des formes (la ,maniere galante'), ä l'agrement du bien-dire. La galanterie n'est pas que discours amoureux et seducteur, ni civilite superficielle; eile n'est pas non plus simple jeu d'esprit mondain; eile se definit comme alliage: en temoignent la definition des trois formes du dialogues, dont la plus eminente se situe entre le didactique et le railleur, et celle du ,style egal et naturel' qui est ,quelque chose de coupe entre l'ode et l'epigramme'." (S. 34).

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Siehe beispielhaft Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992. Verwiesen sei vor allem auf die Studie von Delphine Denis: La Muse galante. Poetique de la conversation dans l'oeuvre de Madeleine de Scudery. Paris 1997; sowie auf die von ihr vorgelegte Edition: Madeleine de Scudery: De I'air galant et autres Conversations (1653— 1684). Pour une etude de l'archive galante. Edition etablie et commentee par Delphine Denis. Paris 1998. Zur problematischen Stellung des Gelehrten in der höfischen Gesellschaft siehe Jacqueline Lichtenstein: Socrate ä l a c o u r d e Louis XIV, in: ΧΥΙΓ siecle 150(1986), S. 3-18.

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Texte und Verhaltensweisen der realen Personen zugeschrieben werden. Zweitens weist der Dialog eine deutliche Fokussierang auf ein gemeinsames Ziel hin auf, der Begründung, daß ein junger Mann lieben müsse, um vollkommen in der Gesellschaft zu agieren. Es kommt folglich im Unterschied zu den Dialogen Castigliones und Scuderys zur geistreichen Darstellung einer - wenn auch weitgehend impliziten - Didaxe und nicht zu einem gleichberechtigten Gespräch der Dialogpartner. Die präsentierten Figuren übernehmen vielmehr eine je eigene, fingierte Rolle im Gespräch, die sie in bewußte Distanz zu ihrer realen sozialen Rolle setzt, um den Dialog auf das anvisierte Ziel hin auszurichten. Der Sarasinsche Dialog potenziert folglich die Möglichkeit des Dialogs durch das Rollenspiel der Figuren, das eine Erweiterung der Standpunkte ermöglicht, und reduziert zugleich dessen Möglichkeiten, indem er auf ein Telos ausgerichtet wird. Des weiteren zeigen sich alle vier Figuren als distinguierte Gelehrte, was sie nicht nur durch ihre Eruditio, sondern auch durch ihren Diskussionsstil, ganz in der Fortfuhrung von Guez de Balzacs Discours de la conversation des romains unter Beweis stellen. Allerdings muß man bedenken, daß die vier Figuren nicht nur als Gelehrte, sondern auch als Hofleute vorgestellt werden, was sich besonders an zwei Momenten festmachen läßt. Zum einen wissen sie den Rahmen der privaten Konversation zu wahren und jede Form des akademischen Disputs hintanzustellen, um die gegenseitige Unterhaltung und die gebotene Natürlichkeit' zu gewährleisten. Zum anderen zeigen die vier Figuren ein bewußtes Rollenspiel, indem sie vorbildlich eine soziale Rolle spielen, die sie bewußt als Rolle präsentieren. Im Anschluß an Pierre Bourdieu und Erving Goffman läßt sich dieser Zusammenhang als fiktionale Präsentation einer Habitusform im Dialog, nämlich derjenigen des philosophe honnete homme, bezeichnen. 30 Dabei haben alle vier Figuren ein derart hohes Bewußtsein von ihrem Rollenspiel, daß sie bzw. der Erzähler Sarasin im Dialog auch darüber reflektieren, so daß ihre Vorbildlichkeit im situativen Umgang ausgestellt und zur Nachahmung vorgelegt wird. Die Inszenierung eines realistischen Gesprächs beschränkt sich allerdings nicht auf die Ebene der Produktionsästhetik, sondern betrifft auch die Wirkungsästhetik des Textes. Besonders prägnant wird sie im Verfahren der ,scherzhaften' Rollenzuweisung, wenn etwa einzelne Figuren eine Sprechrolle übernehmen, die für zeitgenössische Rezipienten eindeutig erkennbare ironische Wendungen enthält, so daß reale Person und fingierte Persona klar zu scheiden

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Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1983 ('1959); und Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. 1987 ('1979). In seiner Studie bestreitet Bourdieu indes, daß es eine Rollendistanz im sozialen Verhalten gibt und behauptet stattdessen, daß es eine Varianzbreite in den Habitusformen gebe, jedoch keine wirkliche Selbstdistanzierung, bei der der Akteur darum weiß, daß er eine Rolle spielt. Das Beispiel der Galanterie legt dagegen nahe, daß diese Rollendistanz möglicherweise an die Position im sozialen Raum gebunden ist, die desto größer oder zumindest wahrscheinlicher ist, je höher sie angesiedelt ist; zu Bourdieus Kritik an Goffman siehe Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 101 und S. 394f.

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sind: So fungiert die Figur Chapelain als Fürsprecher der Liebe, während der reale Chapelain in der Academie franfaise einen Discours contre Γ Amour gehalten hatte. Die fiktionale Darstellung von Habitus und Rollenspiel beschränkt sich allerdings nicht nur auf den Bereich der Gelehrsamkeit, sondern nimmt eine tragende Funktion innerhalb der Ethik der Galanterie ein, die als deskriptive Ethik ihre Distinktion dadurch erhält, daß sie nur von natürlich distinguierten Personen nachahmbar ist. Gerade das Beispiel der Liebe, die als Nukleus der galanten Ethik gefaßt werden kann, zeigt deutlich, daß sie weniger als ein spezifischer, theoretisch herauszupräparierender Affekt verstanden wird denn als Mittelpunkt einer mittleren Ethik, genauer: einer ,CEconomie der Lüste', mit der sich das distinguierte Individuum problematisiert. 31 Der eigentliche Dialog setzt mit der Beschreibung der aktuellen Situation Sarasins ein, der öffentlichen Anfeindungen seiner Gegner ausgesetzt auf Unterstützung vom Hofe hofft, um die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, satirische Verse auf Mazarin und die Königin-Mutter verfaßt zu haben, zu widerlegen. In dieser Situation erhält er Besuch von dreien seiner Freunde, den Herren Menage, Chapelain und de Trilport, die ihn antreffen, als er einem anwesenden Pianisten bei dessen Spiel lauscht. Diese Tatsache überrascht die Ankommenden, da sie Sarasin eher bei der Lektüre von Senecas De constantia vermutet hätten als beim Genießen eines Klavierspiels. Sarasin erklärt seine Haltung damit, daß er einer anderen philosophischen Sekte - den Epikureern - zuneige, die keineswegs eine vollkommene Zurückhaltung gegenüber allen plaisirs fordere, sondern diese sehr wohl erlaubt, so lange sie in einem geregelten Maße bleiben. Sarasin positioniert sich gleich zu Beginn des Dialogs als Anhänger jenes Neoepikureismus, der im Gefolge von Gassendi in Frankreich aufkam und zu dem auch der reale Sarasin einen eigenen Beitrag, den Discours de Morale sur Epicure geleistet hat. 32 Beim Eintritt in das Zimmer finden seine Bekannten zudem einige Bücher auf Sarasins Schreibtisch, die ihre Neugier erwecken: Lukrez, Sallust und der Roman de Perceforet befinden sich dort. Diese Bücher dienen dazu, ein zunächst unscheinbares intellektuelles Tableau zu entfalten, das im weiteren Verlauf des Gesprächs an Bedeutung gewinnt.

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Zum Konzept der .CEconomie der Lüste' siehe Jörn Steigerwald: (Economie der Lüste. Konfigurationen des ,plaisir' in der galanten Anthropologie der Frühaufklärung (EtienneSimon de Gamaches, Dupuy La Chapelle), in: Manfred Beetz, Jörn Gaber, Heinz Thoma (Hgg.), Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hamburg 2006. Das Konzept der ,Problematisierung' entfaltet Foucault in: Usage des plaisirs et technologies du soi, in: ders.: Dits et ecrits II, 1976-1988. Edition etablie sous la direction de Daniel Defert et Francois Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Paris, S. 1358-1380. Siehe dazu auch Robert Castel: ,Problematization' as a Mode of Reading History, in: Jan Goldstein (Hg.), Foucault and the Writing of History. Oxford 1994, 2 3 7 252; und Paul Rabinow: Was ist Anthropologie? Frankfurt/M. 2004, besonders Kap. 1.2, Von der Rekonstruktion zur Problematisierung, S. 23-29.

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Siehe Jean-Charles Darmon: Philosophie epicurienne et litterature au XVII e siecle. Etudes sur Gassendi, Cyrano de Bergerac, La Fontaine, Saint-Evremond. Paris 1998; und speziell zu Sarasin die Studie von Janis Pallister: Sarasin Epicurean.

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Angesprochen auf die Differenz zwischen Sallust und Epikur antwortet Sarasin etwa, daß er seinem bevorzugten Philosophen keineswegs sklavisch folge, sondern nur insoweit, als ihn ,sa raison et sa nature' tragen.33 Die Ethik Epikurs, die bereits zu Beginn des Dialogs als Leitstern gesetzt wird, fungiert folglich nicht als philosophisches Konzept mit normativem Anspruch, sondern als Basis fur eine eigene, natürliche' und d.h. erneut distinguierte philosophische Lebenspraxis in der höfischen Gesellschaft. Die Hinwendung zum Thema der Liebe erfolgt jedoch nicht über die Philosophie, sondern über die Publikationstätigkeiten der anwesenden Personen. Während Menage sich zugunsten der Verfertigung der Pucelle aus der Gesellschaft, vor allem aus den Salons zurückgezogen hat, um sich an Stelle der realen Damen seiner fiktiven Jungfrau zu widmen, geht Sarasin noch einen Schritt weiter. Nicht nur den Musen schwört er zukünftig ab, da sie ihm seine aktuelle Situation beschert haben, auch der Liebe ist er abhold. Dies begründet er damit, daß es zum einen genügend Werke der Galanterie von geeigneten Autoren gebe, so daß man seiner Texte nicht bedürfe. Zum anderen haben ihm seine wenigen galanten Verse den Unwillen der Frauen zugezogen. Dieser Verzicht auf Apollon mitsamt seinen Musen sowie Venus mit Cupido bringt ihm eine grundsätzliche Rüge von Seiten Chapelains ein, die zum Ausgangspunkt der Frage wird, ob ein junger Mann verliebt sein müsse. Die Liebe wird hierbei in einem umfänglicheren Sinne verstanden, da sie von Chapelain als Grundlage der civilite und politesse, die man durch die Damen erlangt habe, ebenso gepriesen wird wie als Quelle der bonnes fortunes, die man von ebendiesen Frauen, die man selbst geliebt, erhalten habe.34 Damit eröffnet Chapelain den eigentlichen Dialog, der eine gelehrte und zugleich galante Diskussion über die Liebe darstellt, innerhalb derer sich Menage als Verfechter der männlichen Liebesaskese vorstellt, während Chapelain als Laudator der Liebe in der Gesellschaft agiert.

3. Warum ein junger Mann nicht verliebt sein solle Zuerst argumentiert Menage gegen die Liebe, wobei er sich selbst als ein Mann präsentiert, der selbst schon geliebt habe und wiedergeliebt wurde, also wohl wisse, wovon er rede. Doch gerade deswegen müsse er auch von den Gefahren der Liebe für die Herausbildung eines honnete homme sprechen. Die implizite Pointe dieser Präsentation war fur die Zeitgenossen deutlich, galt ihnen doch der

„Je n'ai pas jure, lui repartis-je, de m'attacher ä toutes Ies regies de ce sage, et je suis seulement Celles de ses opinions oü me portent ma raison et ma nature." (Jean-Francois Sarasin: Dialogue, S. 148). „Allez, dit alors M. Chapelain en souriant et haussant sa voix, vous etes des ingrats; car sans compter vos bonnes fortunes, vous ne songez pas que tout ce que vous avez de civilite et de politesse, vous l'avez appris aupres des femmes qui vous ont soufferts et que vous avez aimees." (Jean-Francois Sarasin: Dialogue, S. 151).

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reale Menage als ein eher unfreiwillig platonisch Liebender, dessen Begehren von den angebeteten Frauen stets nur freundschaftlich erwidert wurde. Die Figur Menage baut ihre Argumentation in drei Schritten auf: Zunächst unternimmt er eine ikonographische Lektüre der Amor-Allegorie, um zu beweisen, daß bereits die bildliche Figuration das ihr eigene Gefahrenpotential deutlich ausstelle. Etwa, daß die Binde um die Augen einstehe für die Wahllosigkeit, d.h. Unnatürlichkeit und Unvernünftigkeit der Liebe, die vor nichts und niemandem Halt mache und so alle in ein allgemeines Chaos führe. Oder daß die knabenhafte Gestalt Amors klar vorstelle, daß die Liebe den erwachsenen Menschen in ein kindisches Wesen verwandle, so daß es Wahnsinn wäre, wenn man versuchen würde, vernünftig zu lieben.35 Danach legt er eine Reihe von antiken Belegen für das irrationale Potential der Liebe vor, um anhand exemplarischer Gestalten und Handlungen deren Gefahren zu behandeln. Wie schon im ersten Schritt bemüht sich Menage willentlich um antike Beispiele, da sie der aktuellen Gesprächssituation unter Gelehrten und Dichtern am besten eignen. Dafür bezieht er sich sowohl auf fiktionale Figuren als auch auf reale Personen, um seine Argumente gegen die Liebe plastisch zu belegen. Bemerkenswert ist dabei ein Moment, das in der Diskussion der Zeit weitgehend ausgespart bleibt: die homosoziale bzw. homosexuelle Liebe unter Männern.36 Am Anfang der Rezeption der platonischen Liebe in der italienischen Renaissance steht bekanntlich das Problem, daß Piaton Agathon derart begehrte, daß er wünschte, ihn zu küssen. Dieser Kuß wird in der italienischen aber auch französischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts so interpretiert, daß das homosoziale Gefahrenpotential pazifiziert wird. Entweder wird der Kuß zur Vereinigung der Seelen sublimiert, wie dies bei Bruno der Fall ist, oder er wird dahingehend uminterpretiert, daß der Adressat des Kusses nicht Agathon sondern Agathis ist.37 Menage greift in seiner satirischen Darstellung jedoch auf Piatons Begehren nach Agathon zurück und stellt dies als Beispiel für die extreme Widernatürlichkeit der Liebe dar, die sowohl die Grenzen der Scham als auch der Moral

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„Aussi les comiques introduisent-ils l'Amour sur leur theatre sans conseils, sans regle, accompagne de soupfons, d'injures, d'intimites, tantöt en treve, tantöt en paix, tantöt en guerre, et trouvent que ces desordres et ces inegalites lui sont des choses si naturelles qu'ils concluent que ce serait derniere folie de vouloir aimer sagement." (Jean-Franfois Sarasin: Dialogue, S. 156). Zum ikonographischen Programm der Liebe im Allgemeinen und von Eros im Besonderen in der Frühen Neuzeit siehe zudem die klassische Studie von Erwin Panofsky: Der blinde Amor, in: ders., Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance. Köln 1980, S. 153-202; sowie Victoria von Flemming: Arma Amoris. Sprachbild und Bildsprache der Liebe. Kardinal Scipione Borghese und die Gemäldezyklen Francesco Albanis. Mainz 1996. Zu dieser Differenzierung siehe grundlegend Eve Sedgwick-Kosofsky: Between Man: English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985. Dies lässt sich augenfällig anhand des 28. der Dialogues des morts von Bernard de Fontenelle zeigen, in dem Marguerite d'Ecosse und Piaton über den Kuß diskutieren, wobei der von Piaton Geliebte Agathon in Agathis feminisiert wird. Siehe dazu Jörn Steigerwald: Le baiser galant: approche d'une configuration erotique de l'esthetique galante, in: Alain Montandon (Hg.), Les baisers des lumieres. Clermont-Ferrand 2004, S. 11-30.

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verletzte.38 Ihren Abschluß findet die Beschreibung der schädlichen Wirkungen der Liebe in einem an Petrarcas Trionfo del amore geschultem Tableau, das auf einer wunderschönen Insel alle Liebenden versammelt, die mit ihren Klagegesängen, Verzweiflungen und Larmoyanzen den imaginierten Besuchern nicht nur ein eindrückliches Bild von den Unbilden der Liebe bieten, sondern sie auch vollständig von der Schädlichkeit der Liebe überzeugen.39 Den dritten und abschließenden Schritt unternimmt Menage erst nach einer Kritik Chapelains an seinen Ausführungen. Chapelain führt dabei an, daß es wenig nutze, über Aristoteles und Agamemnon oder über fabelhafte Inseln zu sprechen, wenn man wissen wolle, ob ein junger Mann lieben solle: Ainsi M. Menage, avec ces lies, ces peintures imaginaires, ces exemples fabuleux, täche de nous epouvanter et de nous detourner de la solide raison. A quoi bon, meme, parier d'Agamemnon ni d'Aristote, pour savoir si un jeune horame doit etre amoureux? 4 0

Erst auf diesen Einwand hin, der einerseits die Relevanz der vorgestellten antiken Beispiele bezweifelt und andererseits eine Rückführung der Allegorie auf den literalen Sinn einfordert, wendet sich Menage der eigenen Gegenwart zu und zeichnet ein Bild von denjenigen Qualitäten und Verhaltensweisen, die der Liebe zugeordnet werden. Gleichwohl verändert der Blick auf den eigenen kulturellen Raum nur minimal das Ergebnis, da allein die emergierten sozialen Phänomene different sind, jedoch nicht die ihnen innewohnende Struktur.41 Seine Beschreibung der aktuellen Zustände schließt nahtlos an seine vorausgehenden Betrachtungen an, denen gemäß die Liebessachen keineswegs besser, sondern höchstens schlimmer stehen als in der Antike. So führt die Konversation mit den Damen die Männer keineswegs dazu, daß sie ihre ,politesse' und ,civilite' schulen, sondern vielmehr dazu, daß sie ein minimales Set an hypertrophen Phrasen erwerben, die sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit anwen-

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„Une folie, interrompit M. Menage en riant, ne peut etre l'apologie d'une autre. Et quand mon sonnet m'empecherait de me servir de l'epigramme de Piaton, je ne vois pas de quelle sorte vous defendriez les vers qu'il composa lorsqu'il aimait le bei Agathon, et qui disent qu'il ne baisait jamais ce bien-aime qu'il ne serrät les levres, tant il avait de crainte que son äme lui echappät. Or, dites-moi, que vous semble de ce baiser? Est-il fort selon les bonnes mceurs, et n ' y a-t-il point un peu trop de ragout pour un philosophe?" (Jean-Franfois Sarasin: Dialogue, S. 171). Soweit ich sehe, wurde bisher diese Traditionslinie der ironisch gebrochenen Darstellung des Liebesleides, die von Petrarcas Trionfi, insbesondere dem Trionfo d'amore ausgeht und über Sarasin Dialog bis hin zu Bernard de Fontenelles Dialogues des morts verläuft, übersehen. Betrachtet man die Gesprächsgegenstände der Toten in Fontenelles Dialogues mit denjenigen der Figuren Sarasins und Petrarcas, so erkennt man hingegen deren Motivik. Demnach leistet Fontenelle eine Engführung einer Traditionslinie mit einer neuen Gattung, dem galanten Dialog, um sich im literarischen Feld zu distinguieren. Jean-Franfois Sarasin: Dialogue, S. 178. So hält Menage einleitend fest, daß er sich gerne dieser Forderung unterwerfe, auch wenn er keine eigentliche Notwendigkeit dafür sehe: „Quant ä moi [...] je pensais que vous m'epargneriez cette peine, qui me parait assez inutile, et qu'apres vous avoir montre que generalement tous les hommes qui aiment extravaguent, vous ne croirez pas que notre nation en fixt plus exempte que les autres." (Jcan-Frangois Sarasin: Dialogue, S. 179).

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den: Der ironische Seitenhieb auf die grotesken Ausprägungen der preciositd ist nur allzu deutlich.42 Meist dient die Konversation mit den Frauen indes dazu, die Sitten zu korrumpieren, indem sie dem Libertinage, gemeint ist damit sowohl der intellektuelle als auch der erotische, Vorschub leisten. Kurz gesagt, die Liebe korrumpiert die Männer und Frauen in der Gesellschaft derart, daß sie entweder vollkommen unvernünftig bis regellos agieren oder aber danach trachten, den jeweils anderen auszubeuten oder zu hintergehen.43

4. Warum ein junger Mann verliebt sein müsse Als Menage sich regelrecht schwindelig redet mit der Aufzählung von immer neuen un- bis widernatürlichen Handlungen der Liebe, unterbricht ihn Chapelain und schraubt die vorgelegten Missetaten noch ein wenig höher, indem er auf die Hetärengespräche Lukians und weitere einschlägige Quellen abhebt, um die Untreue, Verschlagenheit und Bösartigkeiten der Frauen, die sie im Namen der Liebe begehen, bündig zusammenzufassen. Doch verändert er mit diesem Einwurf zugleich den Verlauf des Gesprächs, da er das schwerwiegendste Argument vorzeitig einführt. Er nimmt die derart erzielte Unterbrechung sofort zum Anlaß, eine grundlegende Kritik an Menages Redestrategie zu äußern, die er satirisch am Beispiel des Rates von Thaies an einen verliebten jungen Mann illustriert, der um Hilfe nachfragte: Erst empfahl Thaies dem jungen Mann Diät zu halten, als dies nichts nutzte, sich zu absentieren, und als auch dies nicht zum Erfolg führte, sich zu erhängen. Folgte man den Ausführungen Menages, so Chapelain, dann bliebe einem Mann in der Tat nichts anderes übrig, als sich zu erhängen, da nach dessen Beschreibung es eben kein Entrinnen aus den Unbilden der Liebe gebe, so daß nur dieser Ausweg bleibe.44 Von diesem paradoxen Kontrapunkt ausgehend, argumentiert Chapelain im weiteren parallel zu Menage, wobei er hervorhebt, daß er sich ebenfalls formal des privativen Duktus befleißigen werde, den Menage vorgegeben habe, und nicht des akademischen,

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„Sans songer ä cultiver le bon sens, ils [les cavaliers] debiteront en un quart d'heure un nombre infini de fadaises, qu'ils prononceront pourtant avec une autorite railleuse, comme s'il y avait bien du mystere et du sei cache dessous. Les dames, aussitöt, en riont sur leur bonne foi, pour montrer qu'elles en entendent bien la finesse. S'ils [!] rencontrent quelque homme qui, pour leur complaire, ne veuille pas quitter le parti de la raison, Dieu sait le mepris qu'ils en feront, et comme il sera traite dans toutes les ruelles oü ces etourneaux vont chiffler en bände" (Jean-Franipois Sarasin: Dialogue, S. 180). Bemerkenswert an dieser Kritik am Preziösentum, die nur wenige Jahre vor Molieres berühmten Precieuses ridicules veröffentlich wird, ist die Tatsache, daß sie von einer Figur geäußert wird, die selbst den Preziösen nahesteht. Kritisiert wird demnach nicht die preciosite an sich, sondern nur eine verfehlte soziale Praxis, die im Namen derselben ausgeübt wird, jedoch gerade nicht dieser zuzurechnen ist: Der preziöse Habitus erscheint hier allein in seiner Mimikryvariante. Siehe Jean-Franfois Sarasin: Dialogue, S. 181. Siehe Jean-Francis Sarasin: Dialogue, S. 187.

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wodurch er jenen von Pellison gelobten ,style egal et naturel' fortfuhrt, den sein Vorredner eingeführt hat. Inhaltlich werde er hingegen Schritt für Schritt eine Widerlegung von dessen Ausführungen leisten.45 In einem ersten Schritt nimmt er das ikonographische Programm der Amorallegorie auf und erklärt es nun regelgerecht. Dabei bezeichnet er Menages Beschreibungen als ,railleries', d.h. als bewußte Scherze, die zum allgemeinen Amüsement die eigentlichen Fakten auf inventive Weise neu arrangieren. Doch fungiert diese Widerlegung eher als Expositio als geistreiches Vorspiel für sein eigentliches Anliegen, da es ihm weniger um die Interpretation der Liebesallegorie geht als vielmehr um das Prinzip der Liebe selbst. Dazu führt er einleitend an, daß die Liebe kein homogenes Ganzes bildet, sondern in sich viele heterogene Affekte, Tugenden und Verhaltensweisen vereint, die erst zusammen eine instabile und auch paradoxe Konfiguration bilden. [...], l'Amour n'est ni male, ni femelle, ni demon, ni homme, ni prudent, ni fat, mais un compose de toutes ces choses, qui, sous une seule figure, assemble plusieurs especes tresdifferentes, qui a de la hardiesse des hommes, la timidite des femmes, qui est serieux dans sa folie, sense et circonspect dans sa rage, qui se laisse aller aux emportements des betes feroces, que le travail ne saurait dompter, dont l'ambition est dereglee, qui n'apporte pas moins de discorde qu'on imagine dans les enfers, qui se trouve capable des choses serieuses, des choses tranquilles, de choses violentes, qui fait secher ä vue d'ceil ceux qu'il persecute. 46

Diese Unfaßbarkeit der Liebe, die sie weder theoretisch noch (sinn-)bildlich einholbar macht, zeitigt die Notwendigkeit einer adäquaten sozialen Praxis der Liebe, um ihrer wirklich habhaft zu werden. Damit unterliegt auch die Liebe demjenigen Prinzip, dem alle menschlichen Besitztümer unterworfen sind: Je vous dirai done que toutes les choses que nous possedons, quelques bonnes qu'elles soient et quelques louanges qu'elles meritent, deviennent mauvaises lorsqu'elles sortent des bornes de leur perfection, soit que l'exces ou les defaut les en tire. 47

Der Gebrauch der Lüste, die paideia, umfaßt folglich die Liebe wie alle anderen Besitztümer des Menschen: Sie ist eingebettet in das seit der Antike tradierte Modell des oikos, das im ganzen Haus dem ganzen Menschen den Raum zum geregelten Gebrauch seiner Habseligkeiten vorgibt.48 Dazu gehören nach dem

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„Je m'accomoderai meme ä votre maniere de philosopher, qui est, sans doute, la plus propre pour la conversation, et de laquelle je me sers volontiers, quoiqu'elle ne soit pas si severe que Celle que nous pratiquons d'ordinaire. [...] Ainsi done, je continuerai de bannir de notre discours ces syllogismes de l'ecole, qui donnent la migraine ä ceux qui s'attachent ä les comprendre et ä les resoudre. Nous ne tirerons pas l'Amour d'entre les Graces pour le mettre entre les bras de la Chicane, et je donnerai bon ordre que notre entretien, qui jusques ici a ete doux et aise, ne degenere pas en une crierie querelleuse de deux maitres es-arts." (Jean-Francois Sarasin: Dialogue, S. 189). Jean-Francois Sarasin: Dialogue, S. 198. Jean-Franipois Sarasin: Dialogue, S. 199. Zur Subjekttechnologie der paideia siehe grundlegend Wemer Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 3 Bde. Berlin 1936-1955; sowie fur die antike Ausfaltung beispielhaft: Hartmut Wilms: Techne und Paideia bei Xenophon und Isokrates. Stutt-

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tradierten Verständnis nicht nur das eigentliche Haus oder das Vermögen, sondern eben auch die Gattin und die Kinder. Im Unterschied zu den meisten Tugenden verfügt die Liebe jedoch über eine kategoriale Binnendifferenz, die für den moderaten Gebrauch der Liebe entscheidend ist.49 Chapelain faßt in dieser Doppelung der Liebe die von Menage angeführten Argumente zusammen und weist sie einer Ausprägung der Liebe zu, die schon immer als Negativvariante gefaßt wurde, die jedoch nicht für die wahre Liebe einstehen könne: D'oü vous pouvez induire que ce n'est pas de l'Amour regle, qui est celui que nous conseillons, que les auteurs ont dit tant de mal, mais bien de celui que nos exces depravent et que nous sommes prets de blämer avec vous. Pour mieux faire comprendre la difference de ces deux Amours, la docte antiquite a reconnu deux Venus, l'une celeste, l'autre vulgaire. 50

Die aufgenommene Unterscheidung zwischen einer himmlischen und einer vulgären Liebe wird jedoch nicht theologisch gewendet, sondern sozial grundiert. So führt Chapelain weiter aus: Or ces deux Venus avaient chacune leur Amour, dont Tun, comme nous venons de dire, etait regle par les Muses, l'autre, Selon le temoignage d ' u n poete grec, n'osait approcher des Muses; le premier, exempt de tous les troubles violents, l'autre, pere du desordre et de l'embarras; celui-lä pour les sages, celui-ci pour la foule. Selon ce sens, quelqu'un a fort judicieusement dit que le sage aimera et que les autres desireront, voulant montrer que l'avantage de savoir bien aimer est seulement reserve aux vertueux, delaissant ä la multitude tous les malheurs qui suivent les passions deraisonnables. 5 1

Darauf aufbauend setzt er den amour celeste als distinguierte Form der Liebe, die allein den honnetes gens vorbehalten ist und sie auszeichnet: Appliquons cela, nous trouverons que l'Amour, qui se presente aux hommes communs avec tant de fausses beautes qui les trompent et qui les perdent, se defait de ces enchantements pernicieux lorsqu'il approche des sages, ou plutöt que le peuple orne l'Amour de ces faux brillants, qu'il idolätre parce qu'il ne les connait pas, et les suit jusque dans le precipice oil il les conduisent, au lieu que les honnetes gens l'en depouillent pour le revetir des vrais ornements qu'il merite, et le mettre en cette perfection qui fait le bonheur de ceux qui savent aimer. 52

gart 1995; und Christopher Nadon: Xenophon's prince: republic and empire in the Cyropaedia. Berkeley 2001. Die Wiederaufnahme in der italienischen Renaissance sowie der französischen Klassik verfolgen Eugenio Garin: L'education de l'homme moderne. La pedagogie de la Renaissance 1400-1600. Paris 1968 [1957] ; und Emmanuel Bury: L i t e r a ture et politesse. 49 „II en est de meme des autres vertus, les extremites desquelles ne sont jamais saines; le bon sens seul les modere, et tout l'avantage qu'ont les personnes que nous appelons vertueuses, c'est la science de la mesure ä laquelle il faut reduire leurs bonnes qualites. 11 en va aussi de l'Amour; et c'est pour cela que Plutarque ecrit qu'Erato, l'une des Muses, preside ä le regier. Quand il est au point de sa perfection, il n ' y a point d'eloges qu'il ne merite; quand il sort de ses limites, il est digne de toutes les injures que vous et moi en avons pu alleguer." (Jean-Francois Sarasin: Dialogue, S. 200). so Ebd. 51 Jean-Franfois Sarasin: Dialogue, S. 201. 52 Jean-Frangois Sarasin: Dialogue, S. 202-203.

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Jörn Steigerwald

Sichtbar wird der geregelte Gebrauch der Liebe bereits dadurch, daß der Mann sich nicht erst verliebt, bevor er eine begründete Wahl trifft, sondern erst die Person gemäß der ihr gebührenden Achtung wählt, bevor er sich verliebt: Pourtant, ä mon sens, la cause principale du desordre des hommes qui aiment vient de ce qu'ils s'embarquent ä aimer avant d'avoir choisi; et de lä il arrive que, trouvant des humeurs contraires aux leurs ou des ämes dereglees, il faut bien, ou que leur vie se passe en querelies, ou qu'ils s'abandonnent ä ce dereglement qu'ils ont suivi sans l'avoir prevu. 5 3

Dieser Punkt, der von Chapelain noch weiter ausgeführt wird, verdient hervorgehoben zu werden, da er eine spezifische Konfiguration der Liebesethik zum Vorschein bringt. Die galante Liebe, die man durch die Anbindung des amour celeste an die honnetes gens mit dieser gleichsetzen kann, setzt notwendig eine Liebe aus Hochachtung des anderen voraus, wobei die Wertschätzung sich sowohl auf die Tugenden, genauer: den geregelten Gebrauch der Lüste bezieht als auch auf den sozialen, d.h. distinkten Status. So bezeichnet Chapelain auch Menages Kritik der Liebe als haltlos mit dem Argument, daß dessen gezielte Invektiven gegen die Liebe auf der intimen Kenntnis der galanten Liebe aufbauen, ohne die seine Argumentation keine Basis habe: Qu'ainsi ne soit, vous en demeurez d'accord vous meme, puisque, dans l'endroit de votre discours ou vous occupez les galants ä debaucher et ä pervertir la conscience de nos dames, vous les blämez de ne se pas contenter de l'union des cceurs et des volontes; par oil il parait que vous reconnaissez, aussi bien que moi, un honnete Amour, qui se peut souvent limiter lä, et que ceux qui passent ces bornes avec exces, comme nous avons pose dans les fondements de notre reponse, corrompent l'Amour et n'en sont pas corrompus. 5 4

Die Wahl der Partner wird von Chapelain gemäß den Gesetzen und Gepflogenheiten seiner Zeit allerdings einseitig als eine Wahl der Frau durch den Mann gesetzt, in der sich die .naturgegebene' männliche Herrschaft manifestiert.55 Des weiteren wird dieser Liebe eine philosophische Dignität zugewiesen, die eine bemerkenswerte Wendung enthält: Der moderate Gebrauch der Lüste folgt einem philosophischen Prinzip, dem aktualisierten Epikureismus, der die Liebe bzw. die Wollust als eigentliches Ziel jedes distinguierten Individuums in der Gesellschaft fordert. D.h. zum einen, daß der Philosoph sich nicht aus der Gesellschaft zurückziehen darf, sondern in dieser zu leben und fur diese zu wirken habe, was Sarasin insbesondere in seinem Discours de Morale sur Epicure hervorhebt,56 und zum anderen, daß die wahre Distinktion in der Liebe, wie

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Jean-Francois Sarasin: Dialogue, S. 201. Jean-Franfois Sarasin: Dialogue, S. 217. Pierre Bourdieu: La domination masculine suivi de Quelques questions sur Ie mouvement gay et lesbien. Edition augmentee d'une preface. Paris 2002. Programmatisch lautet die Forderung Sarasins an den modernen Epikureer: „Ne fuyons done point le monde, ne fuyons point la cour; ne nous cachons point au desert, d'oü la philosophie retira les premiers hommes. Possedons les richesses; ne refusons pas d'entrer dans les charges publiques. Si nous sommes sages, nous jouirions de ces choses sans aueun danger, nous naviguerons heureusement parmi ces ecueils, nous regardons tout cela avec un visage indifferent; et si Ton nous l'öte, nous temoignerons, en n'y rejetant pas les yeux,

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Sarasins Dialogfigur Chapelain hervorhebt, durch die geregelte, weil philosophische Praxis der Liebe erfolgt. Die allgemeine Notwendigkeit der Liebe für die und ihre positive Wirkung in der Gesellschaft erläutert Chapelain anschließend anhand eines gelehrten Exkurses über die Darstellung der Liebe in den mittelalterlichen Romanen, vorzugsweise anhand des eingangs genannten Roman de PerceforeV, dadurch wird ein weiterer effet de riel eingeführt, da der reale Chapelain eine ebensolche Abhandlung unter dem Titel De la lecture des vieux romans veröffentlicht hatte.57 Nur wer liebe, so läßt sich die Ausführung Chapelains zusammenfassen, könne wahrhaft und tatkräftig für sich und die Gesellschaft wirken, was sich besonders an den Rittern zeige, deren Beste immer die Verliebten waren. Dieser Befund ermöglicht es Chapelain, auch das letzte Argument von Menage zu entkräften. Die von letzterem behauptete schädliche Wirkung der Liebe, die entweder in der Korrumpierung der Sitten oder in der Effeminierung der Männer bestehe, sei nur insoweit richtig, als es sich um die vulgäre Variante der Liebe handle und nicht um deren positives Komplement. Chapelain beendet seine Ausführungen, die auch das Gesprächsende einleiten, mit einem Ausblick auf die Möglichkeiten der Liebe, die es erlauben, auf die Frage nach der Neuheit der Liebe um 1700 zurückzukommen. Er beschließt seine Widerlegung des dritten Punktes von Menage mit einem Hinweis auf die Konzeption der Liebe in der heterosexuellen Paarbeziehung: Die Liebe kann sich allein auf die Verbindung der Herzen beschränken, doch muß sie dies nicht. Echte, d.h. geregelte Liebe kann auch die körperliche Dimension einschließen, wodurch die Liebe eher vollendet als beschädigt wird: [...] j'ai dit que l'Amour se peut limiter ä l'union des cceurs, mais non pas qu'il le doit; et ä mon avis, il peut passer plus avant, pourvu qu'il ne nous mene pas dans le desordre. Ce qui me confirme meme ä ne pas blämer votre jugement, c'est que je tiens que la nature du parfait Amour est teile qu'il s'augmente par la possession de ce qu'on aime, n'etant pas possible ä un cceur genereux de recevoir de nouvelles graces sans en etre touche et sans en augmenter sa passion. Ainsi done, quand je vous aurai accorde que 1'Amour tend ä la jouissance j e vous dirai en meme temps que le bon y tend par les bonnes voies de l'honneur, de la vertu et des belles qualites, qui rendent un homme aimable et que nous tächons d'acquerir quand nous aimons de cette sorte.

Und weiter:

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que nous les meprisons et que nous n ' y etions pas attaches." (Jean-Francois Sarasin: Discours de morale sur Epicure, in: ders.: CEuvres, S. 37-74, hier: S. 43-44). Verwiesen sei auf auf nachstehende Ausgabe: Jean Chapelain: De la lecture des vieux romans. Presentation, notes et etablissement du texte par Jean-Pierre Cavaille. Paris 1999; sowie die Studien von Renate Baader: Ein „moderner" Ancien: Jean Chapelains Dialog De la lecture des vieux romans (1647), in: Reinhold Grimm (Hg.), Mittelalter-Rezeption. Zur Rezeptionsgeschichte der romanischen Literaturen des Mittelalters in der Neuzeit. Heidelberg 1991, S. 75-88; und Jean-Pierre Cavaille: Galanterie et histoire de „l'antiquite moderne". Jean Chapelain, De la lecture des vieux romans, 1647, in: XVIT sieclc 200 (1998), S. 387^116.

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Jörn Steigerwald Car, quoique je vous avoue que le corps fasse une partie de l'objet que se propose l'Amour, cela ne veut pas dire que cet Amour soit deregle, comme vous pensez. Au contraire, cela le rend plus accompli, et la possession de la beaute est un lien qui l'attache et plus fortement et plus doucement. Mais c'est quand on en sait bien user, et qu'on ehoisit avant que d'aimer. 5 8

Gerade hier wird die Auswahl des Mannes bedeutungsvoll, da er zu bedenken hat, daß er sich eine femme forte, eine .starke Frau' zur Partnerin wählt, die sowohl seinen Ansprüchen als auch denjenigen der richtigen Liebe genügt, da allein diese zur belle galanterie fähig sei: Je parle pour les femmes qu'on appelle fortes, qui ont les sentiments elevees et nobles, un en mot pour des femmes qui ne sont point faites comme Celles que vous [Menage] nous avez depeintes. Ce sont pourtant des dames qui peuvent souffrir la belle galanterie. Nous croyons qu'il ne leur est pas messeant de faire d'illustres esclaves, et nous n'oserions etre plus severe que Plutarque, qui conseille ä I'honnete femme de sacrifier ä l'Amour. II s'agit done de savoir si l'on trouve beaueoup de ces dames. 5 9

Das Hohelied auf die Frau, das Chapelain anzustimmen gesonnen ist, kann folglich nur unter bestimmten Prämissen als solches angesehen werden: Die Distinktionen der Frau, die dafür nötig sind, werden klar markiert und in der Geschlechterkonstruktion zum Ausdruck gebracht: Während der effeminierte Mann das Afterprodukt einer vulgären Liebe ist, kann die starke, d.h. maskulinisierte Frau als Edelprodukt der wahren Liebe gefaßt werden, die sie zur vollkommenen Liebe qualifiziert.60 So faßt Chapelain seine Widerlegung Menages abschließend zusammen: [...] j'ose esperer, dit-il [i.e. Chapelain, Ergänzung des Verfassers], s'adressant ä M. Menage, que vous demeurez maintenant fort persuade que ces difficultes n'ont regarde que l'Amour du vulgaire, et qu'il y a une extreme difference entre cet Amour et celui des honnetes gens. Ce qui me reste ä prouver, c'est qu'il revient une grande utilite ä ceux qui sont assez heureux pour etre de nos amants et qui ont l'äme elevee au point d'aspirer ä plaire aux excellentes personnes de l'autre sexe. 61

Der hiermit eingeleitete Abschluß der Diskussion, der einen vierten Argumentationsschritt vorstellt, wodurch Chapelain im Dialog siegreich gegenüber Menage hervortritt, zeigt indes die Problematik der in Anspruch genommenen Neuheit der Liebe um 1700 auf. Chapelain propagiert die positiven Wirkungen 58 59 60

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Jean-Franipois Sarasin: Dialogue, S. 219. Jean-Franpois Sarasin: Dialogue, S. 221. Die Epitre Menages an Madeleine de Scudery, die den Werken Sarasins vorangestellt ist, präsentiert in der Person Scuderys eine Frau, die als ideales Subjekt der Galanterie angesehen werden kann: Siehe: „le n'estime pas seulement, i'admire encore la beaute de vostre genie, la vivacite de vostre imagination, la solidite de vostre iugement, les charmes de vostre entretien, & ce nombre infini de rares eonnoissances que vous possedez si eminemment. Mais si j ' a y de l'estime & de l'admiration pour les qualitez de vostre Esprit, j ' a y du respect & de la veneration pour Celles de vostre Arne, pour vostre bonte, pour vostre douceur, pour vostre tendresse, pour vostre generosite, pour votre candeur, & sur tout pour cette incomparable modestie, qui au lieu de cacher vostre merite le fait eclater davantage." (Gilles Menage: Epitre, in: Les Oeuvres de Monsieur Sarasin, o. S.). Jean-Fran?ois Sarasin: Dialogue, S. 224—225.

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der Liebe für die Gesellschaft anhand dreier Beispiele: Der Wirkung der Liebe im Bereich des Militärs, der Rhetorik und der ,civilite'. In allen drei Bereichen produziert die Liebe positive Effekte auf den Mann, da sie seine Kampfeskraft genauso anregt, wie sein Talent zur Kommunikation und damit verbunden, zur sozialen Interaktion in der höfischen Gesellschaft. In allen drei Fällen aktiviert die Liebe im Mann ein Begehren, sich positiv auszuzeichnen und somit vorbildlich in der und für die höfische Gesellschaft zu wirken. 62 Die Liebe, so könnte man sagen, entfacht in ihm den Trieb, die soziale Praxis vorbildlicher höfischer Personen nachzuahmen, sie zu übertreffen und damit selbst zum nachahmungswürdigen Vorbild zu werden, wobei seine ihm eigene Vorbildlichkeit gerade in seinem individuellen Gebrauch der Lüste besteht: Hier greift folglich der Diskurs in die reale Gegenständlichkeit ein, und es emergiert ein Modell, das zur Nachahmung in der sozialen Praxis der höfischen Gesellschaft anleitet. Die dafür notwendige moderate Regulierung der Lüste, die im umfassenden Sinne der alteuropäischen ,(Economie' zugeordnet werden kann, ist allerdings nur nachahmbar und nicht lehrbar, wie sie auch vorwiegend männlich konnotiert und somit nur starken Frauen zugänglich ist.63 Damit sind wir noch weit vom Ideal der gleichberechtigten ,Liebe um Liebe' entfernt, das Luhmann als ,romantische Liebe' bezeichnet. Doch bliebe zu fragen, ob die von Sarasin ausgestellte männliche Liebe nicht vielleicht ein neueres Modell der Liebe darstellt, als wir gerne wahrhaben möchten, da etwa die endogene Partnerwahl keineswegs ein Relikt vergangener Zeiten darstellt und auch der Anspruch des männlichen Geschlechts auf Herrschaft in unserer Gesellschaft keineswegs ungebrochen ist.64 Vielleicht besteht die Pointe der Kulturgeschichte ja gerade darin, daß die sogenannte romantische Liebe eher über ,weibliche Leichen' geht, als daß sie eine gleichberechtigte Liebe ermöglicht, 65 während die galante Liebesethik ein Modell anbot, das die interpersonale Liebe erstmals in einem umfassenden Regelsystem ausfaltete, das den beiden Partnern Orientierungsmuster für eine freundschaftliche, eheliche und damit

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Gerade die von Chapelain vorgelegten antiken Beispiele belegen eindrücklich, wie die Aktualisierung eines antiken „lieu de memoire" zur Fabrikation eines eigenen, d.h. französischen „lieu de memoire" fuhrt. Siehe beispielhaft: „Or, je prends volontiers des exemples grecs, parce qu'il faut avouer que cette nation a mieux connu et plus estime l'Amour que pas une autre nation. Mais, pourtant, je n'en sache aucune qui n'ait eu de braves amants, et oil la valeur ne doive beaucoup ä l'Amour." (Jean-Franpois Sarasin: Dialogue, S. 226). „Cependant, pour l'ordinaire, les jeunes gens ne prennent ce dessein de plaire que pour se rendre agreable aux femmes, parce qu'elles leur donnent de l'amour, car ni l'ambition ni l'avarice ne les portent guere ä cela; je [Chapelain] crois que vous me l'accorderez encore. Accordez-moi done, en meme temps que de cet amour nait dans l'esprit des jeunes gens la qualite la plus necessaire ä la vie civile, qui est de savoir parfaitement et sans peine s'accomoder ä la maniere et aux sentiments des autres. Et, sans doute, cette douceur d'esprit est tellement un effet d'amour que les Thebains n'ordonnerent les amours, qui se pratiquaient publiquement parmi eux, qu'ä dessein d'adoucir et de ployer leurs meeurs, trop grossieres et trop dures." ( J e a n - F r a n c i s Sarasin: Dialogue, S. 230). Siehe Pierre Bourdieu: La domination masculine. So die bekannte Rekonstruktion der ,romantischen Liebe' von Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Weiblichkeit und Ästhetik. München 1994.

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auch legitimierte körperliche Liebe gab, ohne jedoch in eine Diskursivierung der Sexualität zu münden. Die Liebesethik der Galanterie präsentierte ein Modell sozialer Selbstdarstellung, das in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts indentitätsstiftend wirkte und das zugleich eine Perspektive eröffnete, die ihr eigenen Qualitäten in einem lieu de memoire zu aktualisieren, so daß eine dritte, d.h. historische Form der Emergenz der Galanterie hervorgetrieben wurde. Durch die mit dem Beginn der Aufklärungszeit allmählich einsetzende Selbstermächtigung des Bürgertums wurde das Modell der galanten Liebe indes in mehrfacher Weise überlagert, so daß es nicht mehr deutlich zum Vorschein kommen konnte. Zum einen wurde das Modell der ,Liebe um Liebe' als genuin bürgerliches Modell proklamiert, während die höfische Liebe vorzugsweise auf den Libertinage reduziert wurde. Zum anderen führte die Selbstermächtigung des Bürgertums, wie Michel Foucault und diejenigen, die ihm darin gefolgt sind, umfänglich gezeigt haben, über die Diskursivierung der Sexualität und nicht über die von der Galanterie präferierten Modelle der Subjekttechnologie, zu denjenigen Dispositiven, die anstelle einer natürlichen Liebe eine normale Liebe produzieren. Das System der ,feinen Unterschiede' sowie das Ideal der heterosexuellen Interaktion, das auf der Verbindung von Freundschaft und Liebe aufbaut, bleibt hingegen bis heute im Namen der Galanterie dem ,Kulturgedächtnis' erhalten.

Anne

Amend-Söchting

„Qui veut faire l'ange fait la bete" Das Paradoxon der Leidenschaften in Pascals Pensees

Zwar sind die berühmten, oftmals edierten und auf verschiedene Weise geordneten,1 ab 1657 im Entstehen begriffenen und 1670, acht Jahre nach Pascals Tod, erstmals veröffentlichten Pensees in erster Linie ein apologetisches Großprojekt, entstanden in der Abgeschiedenheit einer Studierstube, deren Vorzüge Jean-Philippe Toussaints Protagonist rund 330 Jahre später in der Badewanne 2 nicht nur mit ironischen Untertönen zelebriert. Und obwohl sich Blaise Pascal in der Tat mit dem vorgesehenen Titel, Apologie de la vie chretienne, in entsprechende theologische Traditionen einordnet, ist inzwischen hinreichend bekannt,3 daß die in insgesamt drei Manuskripten überlieferten Gedankenfragmente nicht nur die Signatur des weitabgewandten jansenistischen Denkers tragen. Schon allein mit seinen prägnanten, oftmals mit Paradoxa einhergehenden Argumentationsstrategien begibt sich Pascal mitten in die Welt des absolutistisch-höfischen 17. Jahrhunderts hinein. Er visiert seine Zeitgenossen, u.a. Spieler und leichtfertige Höflinge, deren Beobachtung nicht nur die Idee zum berühmten pari zu verdanken ist, sondern auch ein fundamentaler Diskurs über Leidenschaften und eine ,neue Liebe', die aus den höfischen Strategien des Mittelalters erwächst, sich ebenso am Neoplatonismus der Renaissance orientiert und sich im gleichen Zuge von ihnen distanziert. Für den Prozeß der Subjektkonstitution in der Moderne ist Pascal von seiner Bedeutung her Montaigne an die Seite zu stellen, mit dem er sich in den Pensees immer wieder auseinandergesetzt hat.4 Im Gegensatz zu Montaigne jedoch ist es für Pascal wesentlich, immer wieder eine Rückkopplung an theologische Fragestellungen und damit verbunden eine Art hermeneutischen Zirkelschlag vorzunehmen, der vom deus absconditus zur Welt hin und wieder zurück führt.

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Vgl. grundlegend dazu Jean Mesnard: Les Pensees de Pascal. Paris 1976, S. 13-50; und die Ausgabe, die für die folgenden Überlegungen gewählt wurde: Pascal: Pensees, ed. Michel Le Guem. Paris 1977 (folio classique), S. 21-31. Vgl. Jean-Philippe Toussaint: La salle de bain. Paris 1985. Vgl. z.B. Jean Mesnard: Les pensees de Pascal; und vor allem die breite Palette von Beiträgen in Rudolf Behrens, Andreas Gipper, Viviane Mellinghoff-Bourgerie (Hgg.): Croisements d'anthropologie. Pascals Pensees im Geflecht der Anthropologien. Heidelberg 2005. Vgl. Philippe Sellien Pascal et Montaigne: le filtre augustinien, in: Rudolf Behrens, Andreas Gipper, Viviane Mellinghoff-Bourgerie (Hgg.), Croisements d'anthropologie. Pascals Pensees im Geflecht der Anthropologien. Heidelberg 2005, S. 3-16.

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Anne Amend-Söchting

Mit dem Blick auf eine Welt, die es zu missionieren gilt, bedient sich Pascal persuasiver Methoden und macht gleichzeitig eine Reihe von Zugeständnissen an die Menschen ebendieser Welt, denen es im Gegensatz zu den Philosophen nicht gelingen kann, sich zu disziplinieren und Begierden abzutöten. Beides zusammengenommen bietet, gebettet auf das christliche, im engeren Sinne jansenistische Grundgerüst, einen grandiosen, wenn auch ungemein kryptischen Weltentwurf, in dem sich insofern die Spuren einer ,neuen Liebe' finden lassen, als Pascal nicht selten eine eigenwertige und eigenwillige Dynamik der Affekte betont und damit all jene anthropologischen Instanzen anspricht, die individuell bestimmt sind und sehr dazu neigen, sich der rationalen Kontrolle zu entziehen. Ohne jeden Zweifel ist Pascal einer der ersten Literaten und Philosophen, der, avant la lettre, an einer modernen Subjektmodellierung partizipiert. Das Leben und Werk des genialen Mathematikers, Theologen und Philosophen steht unter dem Vorzeichen antithetischer Spannung, die sich zu Gegensätzen verfestigt oder zur Ambivalenz hin auflöst. Alle Versuche, im Bereich der ethischen und/oder affekttheoretischen Reflexionen Eindeutiges zu finden, sind zum Scheitern verurteilt und, um es mit Pascal auf den Punkt zu bringen: „L'homme n'est ni ange ni bete, et le malheur veut que qui veut faire l'ange, fait la bete" (572/370). 5 So gilt es, sich auf das Gegensätzliche einzulassen, eine dynamische Theorie der menschlichen Gefühlswelt nachzuzeichnen, die aus einer wohl ideologisch klar definierten, dennoch aber hochgradig flexiblen Ideenwerkstatt des 17. Jahrhunderts stammt, in der sich trotz aller Abgeschiedenheit des Verfassers das geistesgeschichtliche Klima der Epoche spiegelt. Da Pascal sein Werk nicht vollenden konnte, erweisen sich die Pensees auf den ersten Blick, trotz aller postumen Systematisierungsversuche und der apologetischen Super-Perspektive, als tendenziell ungeordnetes Werk, das die Leser zwingt, ,gegen den Strich' zu lesen und Sinnelemente gerade im Opaken und Hypothetischen aufzuspüren. Eine endgültige Ausgabe der Pensees sei unmöglich - so Michel Le Guern - , es gehe vielmehr darum, einen „etat dernier" zu präsentieren, der nicht mit einem „etat definitif' verwechselt werden dürfe, sondern als „etape de la trajectoire creatrice de l'ecrivain" 6 gewürdigt werden müsse. Theologie und Anthropologie gehen in den Pensees ineinander über. Dabei mag es heuristisch hilfreich erscheinen, von einer ersten und zweiten Anthropologie zu sprechen, einer theologisch orientierten, abstrakten einerseits und einer kommunikativ ausgerichteten, das gesellschaftliche Leben fokussierenden andererseits. 7 Die ,zweite Anthropologie' nimmt die erste in sich auf, sie gerät nach

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Ausgabe Michel Le Guem (Pascal: Pensees, hg. von Michel Le Guern. Paris 1977 (folio classique), die linke Zahl bezeichnet im folgenden jeweils das Fragment, die rechte die Seitenzahl. Pascal: Pensees, S. 29. Vgl. dazu Vincent Carraud: Bemerkungen über die zweite Anthropologie, in: Rudolf Behrens, Andreas Gipper, Viviane Mellinghoff-Bourgerie (Hgg.), Croisements d'anthropologie. Pascals Pensees im Geflecht der Anthropologien. Heidelberg 2005, S. 161-182, insbesondere S. 166f. und S. 171.

Das Paradoxon der Leidenschaften in Pascals Pensees

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der Konstitution des soziologisch orientierten Aufbaus nicht in Vergessenheit, sondern bleibt gerade im Umkreis einer neuen Liebeskonzeption wirkmächtig, anders gesagt: Pascals theologisches, apologetisches Modell, das einen Gott der Liebe, liebenswürdig und liebend, in den Mittelpunkt stellt, ist auf Muster der weltlichen, rein menschlichen Liebe transferierbar. Der folgende Beitrag bietet eine Lektüre, die Begriffe im Umkreis von Affekten und Leidenschaften sowie deren Tragweite für eine ,neue Liebe' zu deuten versucht, dies vor dem Hintergrund eines kurzen Blicks auf die oft und extensiv gewürdigte penseefigurative8 bei Pascal.

1. Bilder und Paradoxa Pascal gilt ganz zu Recht als einer der größten rhetorischen Meister der französischen Literaturgeschichte. Seine große Sensibilität für alle Facetten der Redekunst ist bereits den Lettres provinciates (1656) und De l'art de persuader (1658) eingeschrieben. Am Anfang steht das deutungsbedürftige Wort. Erst aus ihm heraus erwächst ein Sinn, der nur bedingt präverbal fixiert ist. Die Gestalt selbst gebiert Gehalt und verleiht diesem Würde. „Un meme sens change selon les paroles qui l'expriment. Les sens refoivent des paroles leur dignite au lieu de la leur donner" (654/400). Die in den Pensees dominierende Denkfigur ist das Paradoxon, in dem Gegensätze antithetisch und ambivalent verortet werden können. Im ambivalent angelegten Paradoxon bleibt im Gegensatz zur eigentlichen Antithese immer eine Verbindung, eine ,Kommunikation' der Prämissen bestehen, die zu einer ambivalent strukturierten Einheit hinführen kann. Daneben bedient sich Pascal einiger Bilder, die in hohem Maße prägnant und einprägsam sind. Drei Beispiele verdeutlichen ganz besonders die Macht der Imagination und die Kraft der Leidenschaft: „Deux visages semblables, dont aucun ne fait rire en particulier, font rire ensemble par leur ressemblance" (11/70) - die Ähnlichkeit macht den Wert des Einzelnen zunichte, Lachen wird nicht durch partikulare Physiognomie hervorgehoben, sondern gründet sich allein auf das Band dazwischen, ist also lediglich ein pures Kopferzeugnis des Betrachters. Mit „Un bout de capuchon arme 25000 moines" (16/71) ruft Pascal einen langjährigen Streit über die Form des zum Priestergewand passenden „capuchon" in Erinnerung und bezieht sich gleichzeitig auf eine Passage aus Montaignes Essais, in der das menschliche Zusammenleben als Farce, die auf Äußerlichkeiten beruht, entlarvt wird. Pascal unterstreicht nicht nur hier das Fege-

Vgl. zuletzt Margot Kruse: Figuratives Denken und anthropologische Reflexion in Pascals Pensees, in: Rudolf Behrens, Andreas Gipper, Viviane Mellinghoff-Bourgerie (Hgg.), Croisements d'anthropologie. Pascals Pensees im Geflecht der Anthropologien. Heidelberg 2005, S. 143-159.

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feuer der Eitelkeiten, das vom Wesentlichen ablenkt und selbst kirchliche Würdenträger nicht verschont. An drei Stellen der Pensees9 erwähnt Pascal Cleopatras Nase, 10 eine Projektionsfläche spätantiker Leidenschaften, Sinnbild für les effets de l'amour, für eine Kraft, die, wenn sie außer Kontrolle gerät und epidemisch wird, die ganze Welt verändert. Pascals Fazit zur Nase lautet: „Le nez de Cleopätre, s'il eüt ete plus court, toute la face de la terre aurait change" (392/243). Pascal sei, so Niklas Luhmann, einer der wenigen Denker des 17. Jahrhunderts, der in einer Kultur der Rationalität und der Eindeutigkeit paradoxe Denkformen schätze.11 Nahezu alle Ausführungen Pascals zur conditio humana sind paradox konstelliert. Damit hält er einerseits der menschlichen Natur und ihrem unablässigen Balancieren zwischen den Gegensätzen einen rhetorischen Spiegel vor, andererseits fuhren Paradoxa die Widersprüche zu einer höheren Einheit12 der Gleichwertigkeit. Diese ist nicht als Entität gesetzt, sondern an ihr gilt es immer wieder aufs neue zu arbeiten. Somit erweist sich die Synthese als Provisorium, in dem Ordo und Chaos rhetorisch gegeneinander ausgespielt und formal zu einer inhaltlich nicht haltbaren Einheit gehoben werden. Es ist ein Ort der Statik und Dynamik gleichermaßen, Ort auch der Selbstorganisation neuer Qualitäten, die ihr Innovationspotential aus der steten Reibung der Gegensätze schöpfen. Symptomatisch fur die ambivalente höhere Einheit der Aussage, vermutlich auch ein Spiegel der Pascalschen Arbeitsweise, ist die Liasse VII zu „Contrarietes", deren Fragmente als groß angelegtes Paradoxon zu lesen sind, die das noch größere Paradoxon, die Pensees in ihrer Gesamtheit, spiegeln. Paradoxa bilden auch einen wesentlichen Teil der figuralen Bibelexegese Pascals, sie verdeutlichen die existentielle Unsicherheit und lassen gleichzeitig Sicherheit erahnen: „Figure porte absence et presence, plaisir et deplaisir. Chiffre ä double sens. Un clair et oü il est dit que le sens est cache" (248/183).13 Die für die theologischen Überlegungen hervorzuhebende „Vereinigung von Gegensätzen, die einander logisch ausschließen", 14 gilt ebenso für alle Bereiche der Anthropologie, insbesondere für das menschliche Erkenntnisvermögen: „II n'y a rien de si conforme ä la raison que ce desaveu de la raison" (171/146) ist in erster Linie bezogen auf den Glauben, doch auszuweiten auf alle Aspekte des

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Vgl. die Fragmente 42, 183 und 392. Die große Tragweite der Schönheit Cleopatras, ihre politische Konsequenz, wird in Corneilles La Morl de Pompee thematisiert, das um die Hauptfigur Cleopatra kreist. Pascals Überlegungen gehen vermutlich darauf zurück. Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M. 1982, S. 68. Vgl. nach wie vor grundlegend dazu Hugo Friedrich: Pascals Paradox. Das Sprachbild einer Denkform, in: Zeitschrift ffir romanische Philologie 1936, S. 322-370. Vgl. Margot Kruse: Figuratives Denken und anthropologische Reflexion in Pascals Pensees, S. 144f. Ebd, vgl. zusätzlich u.a. 665/408: „Incomprehensible que Dieu soit et incomprehensible qu'il ne soit pas; que l'äme soit avec le corps, que nous n'ayons point d'äme; que le monde soit cree, qu'il ne soit pas, etc.; que le peche originel soit et qu'il ne soit pas."

Das Paradoxon der Leidenschaften in Pascals Pensees

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menschlichen Zusammenlebens, auf den Umgang mit den Affekten ebenso wie auf die Stellung des Menschen im Universum.

2. „Combien de royaumes nous ignorent!" (39/76) - so lautet die Formel eines Weltbildes, in dem der Mensch seine Mittelpunktstellung verloren hat und somit in die Verantwortung genommen wird. Die ,Königreiche', auch das göttliche, kommen zwar ohne den Menschen aus, der Mensch hingegen soll von ihnen wissen. Vor diesem Hintergrund ist aus den Pensees in dreifacher Hinsicht - kosmologisch (2.1), ontologisch (2.2) und epistemologisch (2.3) - eine Topographie, eine Verortung des Menschen im Universum, zu extrapolieren, eine in den Pensees implizierte, hierarchisch strukturierte Standortbestimmung des Menschen, die unabdingbar ist für das Verständnis von Pascals Affekttheorie und somit für seinen Beitrag zur ,neuen Liebe'.

2.1.

Pascal denkt nicht nur eine Unendlichkeit, einen transzendentalen Raum, der sich nicht mehr mit der menschlichen Sinnenwelt erschließen läßt, sondern für ihn existiert die unendliche Ausdehnung des Raums im großen und im kleinen. So ist der Mensch nicht mehr - wie noch in der Renaissance - als Mikrokosmos zu deuten, der den Makrokosmos spiegelt, sondern er ist allenfalls ein Mikrokosmos zwischen dem Makrokosmos und einem noch kleineren Mikrokosmos eine psychosomatische Totalität zwischen zwei Unendlichkeiten, einer „double infinite" (185/256) der göttlichen Schöpfung: Car enfin qu'est-ce qu'un homme dans la nature? Un neant ä Fegard de l'infini, un tout ä l'egard du neant, un milieu entre rien et tout, infiniment eloigne de comprendre les extremes. La fin des choses et leurs principes sont pour lui invinciblement caches dans un secret impenetrable. Egalement incapable de voir le neant d'oü il est tire et l'infini oil il est englouti, que fera-t-il done, sinon d'apercevoir quelque apparence du milieu des choses dans un desespoir eternel de connaitre ni leur principe ni leur fin? Toutes choses sont sorties du neant et portees jusqu'ä l'infini. Qui suivra ces etonnantes demarches? L'auteur de ces merveilles les comprend. Tout autre ne le peut faire. (185/155)

Die Unendlichkeit entspricht dem von Gott geschaffenen Raum, umfaßt alle sichtbaren und unsichtbaren Wunder der Natur, ist jedoch bedroht vom Nichts, bedroht vom „neant", das identisch ist mit einem luftleeren Raum, der sich im physikalischen Experiment erschaffen läßt. Nur durch dieses ist die hier angesprochene Intermediärposition des Menschen zwischen Unendlichkeit und Nichts zu verstehen.

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Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen lehnt Pascal jegliche „spirituelle Raumtheorie"15 ab und versucht in der Nachfolge des Galilei-Schülers Evangelista Torricelli zu beweisen, daß die Natur kein horror vacui kenne und daher leere Räume zulasse. Verschiedene Experimente, die Pascal und sein Schwager im Jahre 1648 durchführten, untermauern diese These, mit der die gesamte physikalische Tradition in Frage gestellt wurde.16 Pascals Versuche zeigen zum einen, daß die Perzeption der Welt zwischen den Unendlichkeiten von den menschlichen Sinnen abhängig ist und somit eine induktive Erkenntnis favorisiert wird. Zum anderen wird deutlich, daß man von der Beobachtung der Welt aus auf das Unendliche schließen kann17 und vor allem darauf, daß es einen leeren Raum im Abseits des Lichts der göttlichen Schöpfung gibt, ein Bereich, in dem Gott abwesend ist, eine Stufe zwischen Nichts und Unendlichkeit. So ist der kosmologische Ort des Menschen empirisch zu begründen. Das Experiment weist dem Menschen einen Platz zwischen zwei Extremen zu, der nichts mehr von anthropozentrischer Bequemlichkeit übriggelassen hat. Der homo sapiens nimmt wohl eine Zwischenstellung, doch keine Mittelpunktposition ein. Er ist .geworfen in das Sein' - in einem nahezu präexistentialistischen Dogma wird er mit allen Freiheiten in die Pflicht genommen. Er ist für sein Tun selbst verantwortlich und erfahrt dabei die conditio humana als existentiellen Drahtseilakt: „Condition de l'homme: inconstance - ennui - inquietude" (22/72). Das topographische Unbehagen weitet sich darüber hinaus zu einem chronologischen Unbehagen aus, denn „nous ne nous tenons jamais au temps present. Nous anticipons l'avenir comme trop lent ä venir, comme pour hater son cours, ou nous rappelons le passe pour l'arreter comme trop prompt [...]" (43/81).

2.2.

Das prekäre Gleichgewicht der menschlichen Welt zwischen den Unendlichkeiten ist in ontologischer Hinsicht dreifach zu gliedern. Pascals „trois ordres" umfassen „l'ordre des corps" (an anderer Stelle „l'ordre du coeur"), „Γordre des esprits" und „l'ordre de la charite".18

15

16 17

18

Vgl. dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Blaise Pascal. München 1999 (becksche reihe denker), S. 37. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Blaise Pascal, S. 39. Es handelt sich dabei evtl. um eine Art physikotheologischer Gottesbeweis, wie Wilhelm Schmidt-Biggemann ausführt, vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Blaise Pascal, S. 41. Vgl. dazu auch die Habiliationsschrift von Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft. Literarische Strategien naturwissenschatlicher Vulgarisierung in Frankreich. München 2002. Vgl. ausfuhrlich zur Bedeutung der dreistufigen Ordnung bei Pascal Jean Mesnard: La theorie des figuratifs dans les Pensees de Pascal, in: Revue d'histoire de la philosophic et d'histoire generale de la civilisation 35 (1943), S. 219-253.

Das Paradoxon der Leidenschaften in Pascals Pensees

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Die berühmte Lehre von den drei Seinsordnungen ist eindeutig klimaktisch strukturiert. Sie beinhaltet keine Abwertung des „ordre des corps", obwohl sie den Aufstieg hin zum Zielpunkt der „charite" vorsieht.19 Le coeur a son ordre, l'esprit a le sien qui est par principe et demonstration. Le coeur en a un autre. On ne prouve pas qu'on doit etre aime en exposant d'ordre les causes de l'amour; cela serait ridicule. (280/204)

Während sich die ersten beiden ,Ordnungen' auf die conditio humana beziehen, sich daraus im weitesten Sinne „instinct et raison" und damit die „marques de deux natures" (103/106) ableiten, ist die dritte Ordnung der Exklusivbereich für Heilige, für auratische Ausnahmemenschen, deren Galionsfigur Christus heißt. Auf der materiellen Grundlage des „corps" wirken „coeur" und „esprit" gemeinsam in einer höheren Synthese mit eschatologischer Perspektive. Aus der Beobachtung der beiden weltimmanenten „ordres" leitet Pascal die Existenz einer höheren göttlichen Ordnung ab. Für den Menschen resultiert daraus das Gebot, nach dieser Ordnung zu streben, wohlwissend, daß sie nur wenigen vorbehalten ist, es nur wenigen gelingt, ihr Tun und Trachten in diese Richtung zu lenken. Als im engeren Sinne jansenistischer Aspekt kommt die Gnadenwahl mit ins Spiel: nur wenige Menschen sind auserwählt, Einzug in das göttliche Reich zu halten. Zwar sollte sich jeder so verhalten, als ob er ausersehen sei, doch Pascal verdeutlicht immer wieder, daß alle weltimmanent Orientierten mit dem Balanceakt zwischen Instinkt und Vernunft genug zu tun hätten. Aus dieser Doppelbestimmung resultieren Chaos und Ordo, aber auch das Unbehagen am Dasein. Dieses Bewußtsein wird mit vielerlei Strategien des divertissement ausgeblendet, mit einer umtriebigen und ziellosen Geschäftigkeit zwischen den Unendlichkeiten und zwischen den beiden „ordres". Dieses Treiben weist auf den letzten, den epistemologischen Bereich, der eng mit dem zweiten, dem eben skizzierten ontologischen, verflochten ist und dessen Dynamisierung vorantreibt. Erst durch die direkte Bezugnahme auf die menschliche Sinnenwelt wird die ontologische Qualität der Pensees greifbar, wird Ratio durch Emotion zu einer ganzheitlichen Perspektive, zu einem vollständigen Blick auf den Menschen ergänzt.

2.3.

In Anlehnung an Descartes und gleichzeitig in Opposition zu ihm20 stimmt auch Pascal das Loblied auf die grundlegende Reflexionsfähigkeit des Menschen an. Er nimmt dies zum Anlaß, auf die Fragilität des Daseins hinzuweisen, und er

" 20

Vgl. 290/206. Vgl. dazu ausfuhrlich Helene Bouchilloux: Le cartesianisme et l'anti-cartesianisme de l'anthropologie pascalienne, in: Rudolf Behrens, Andreas Gipper, Viviane MellinghoffBourgerie (Hgg.), Croisements d'anthropologie. Pascals Pensees im Geflecht der Anthropologien. Heidelberg 2005, S. 132-142, insbesondere S. 140.

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stellt klar, daß sich die Kraft des Denkens nur dann wirklich entfalten kann, wenn der Mensch in sich selbst „la capacite de Dieu et de l'infini" 21 entdeckt. Die Würde des Menschen besteht in der Fähigkeit zum Denken. Für Pascal ist sie humane Pflicht und existentielle Notwendigkeit, weniger - so wie für Descartes - eine grundlegende ontologische Bestimmung. Das berühmte Bild des .denkenden Rosenstocks' faßt Pascals Konzeption der menschlichen Würde und Moral zusammen (186/161). Raum und Zeit entziehen sich dem Menschen, allein die Aktivität der Reflexion hebt ihn aus anderen Teilen der Schöpfung empor. Obwohl die Ergebnisse aller Denkprozesse niemals absolute Sicherheit bieten und sich alles vermeintliche Wissen endgültiger Festschreibung entzieht, bildet das Denken an sich die Grundfeste der Ethik und die Möglichkeit der elevation hin zum eschatologisch motivierten Zielort. Die Konzeption des Lebens als Drahtseilakt zwischen den Extremen und als Ort des vorläufigen Wissens impliziert eine Absage an die bereits im 17. Jahrhundert im ,Kulturgedächtnis' verankerten Normen der Klassik und entläßt den Glauben an weltliche Werte, die das Zeitliche überdauern. So muß sich der Mensch in die Relativität aller Werte schicken und erkennen, daß alle absoluten Kategorien nicht von dieser Welt sind (185/157f.). Sprachlich bravourös bringt Pascal die prekäre Balance auf den Punkt, die Erkenntnis, daß „rien ne peut fixer le fini entre les deux infinis qui l'enferment et le fuient" (ebd.). Die rhetorische Prägnanz fordert gleichsam auf zur anthropologischen Akzeptanz des Vorläufigen. In vielerlei Hinsicht wird die Kraft des Denkens bedroht, nicht nur wegen der Relativität aller Erkenntnis, sondern auch wegen der Frage, ob man sich mit den menschlichen Sinnen zumindest auf diese Relativität verlassen kann. Traum und Wirklichkeit sind die Komponenten einer für Pascal wesentlichen Dichotomie: eigentlich ist es nicht sicher, ob wir leben oder träumen, im Leben träumen oder einen Traum leben. De plus que personne n ' a d'assurance hors de la foi s'il veille ou s'il dort, vu que durant le sommeil on croit veiller aussi fermement que nous faisons. On croit voir les espaces, les figures, les mouvements, on sent couler le temps, on le mesure, et enfin on agit de meme qu'eveille. De sorte que, la moitie de la vie se passant en sommeil, par notre propre aveu ou quoi qu'il nous en paraisse, nous n'avons aucune idee du vrai, tous nos sentiments etant alors des illusions. Qui sait si cette autre moitie de la vie oil nous pensons veiller n'est pas un autre sommeil un peu different du premier, dont nous nous eveillons quand nous pensons dormir? (122/112)

Mit der Überlegung, daß die Umkehr des Verhältnisses von Traum und Wirklichkeit möglich ist,22 erweist sich Pascal nicht nur als modern, sondern nachgerade subversiv. Mit der Aufwertung des Traums geht ebenfalls eine positive Konzeption der Illusion und der Imagination einher. Neben der raison gelten sie

21

22

Helene Bouchilloux: Le cartesianisme et l'anti-cartesianisme de l'anthropologie pascalienne, S. 140. Vgl. dazu auch 662/406, eine Passage, die Paul Maar zu Beginn seines bekannten Jugendbuchs Lippeis Traum auf deutsch zitiert.

Das Paradoxon der Leidenschaften in Pascals Pensees

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als wesentliche Erkenntnisinstrumente. 23 Als Kategorien der Relativität treten sie neben das Denken, das bereits den Absolutheitsanspruch früherer Zeiten verloren hat. Was vordergründig bleibt, ist der Mensch als Schimäre, als Chaos, als „sujet de contradictions". 24 Doch gerade dies ist eine Voraussetzung für die Entstehung einer ,neuen Liebe', in der Imaginationskraft und Illusionierung ihren festen Platz finden werden. Sie gehen mit den Leidenschaften, die sich der Vernunft entziehen, einher und tragen im Rahmen eines ganzheitlichen Denkens zum Erkenntnisgewinn bei. Pascals Aufforderung des „travaillons a bien penser" (186/161) umfaßt nicht nur die Reflexionsfahigkeit an sich, sondern weitet sich aus zu einem Kreislauf, in dessen Dynamik alle emotionalen Instanzen genauso wie alles empirisch nicht Überprüfbare der Vernunft gleichberechtigt gegenüber steht. Dem Traum entsprechen „imagination", „instinct" und „passions", letztendlich all das, was sich mit,präreflexiver Spontaneität' fassen ließe. Der Wirklichkeit sind, sozusagen als ,postspontane Reflexion', „raison" und „esprit" zugeordnet. Somit teilen sich die spezifischen dynamischen und von der Wurzel des „roseau pensant" abhängigen Erkenntnisinstanzen in Pascals Epistemologie in die Instanzen „cceur" und „esprit", die sich wiederum homolog zu „passions" und „raison" verhalten. Trotz einer hierarchischen Standortbestimmung, in der „cceur" eindeutig auf „esprit" folgt, geht es Pascal um die Gleichwertigkeit der Kategorien und ihrer Interdependenz, die er mit dem bekannten Paradoxon „Le cceur a ses raisons que la raison ne connait point" (392/251) auf den Punkt bringt oder mit dem Diktum „Instinct et raison, marques de deux natures" (103/106) unterstreicht. Beide Bereiche der zentralen Dichotomie „cceur" („instinct") und „esprit" („raison"), die es in sich zu differenzieren gilt, sind also paritätisch und dynamisch aufeinander bezogen. Und mehr noch: trotz der höheren Valenz des „esprit" ist die Reihenfolge der Erkenntnis anders. Gerade damit hebt sich Pascal von seinen Vorgängern, insbesondere von Montaigne und Descartes, ab. Im Rahmen einer induktiven und intuitiven Vorgehensweise sind Affekte (zusammengefaßt mit „cceur") die erste Instanz: Nous connaissons la verite non seulement par la raison mais encore par le cceur. C ' e s t de cette derniere sorte que nous connaissons les premiers principes et c ' e s t en vain que le raisonnement, qui n ' y a point de part, essaie de les combattre. [...] Car la connaissance des premiers principes, c o m m e qu'il y a espace, temps, mouvement, nombres, [est] aussi ferme q u ' a u c u n e de Celles que nos raisonnements nous donnent, et c'est sur ces connaissances du coeur et de l'instinct qu'il faut que la raison s'appuie et qu'elle y fonde tout son discours. Le cceur sent q u ' i l y a trois dimensions dans l'espace et que les nombres sont infinis et la raison demontre ensuite q u ' i l n ' y a point deux nombres carres dont l ' u n soit double de l'autre. Les principes se sentent, les propositions se

23

24

Vgl. Rudolf Behrens: Theoretische und literarische Modellierung der Imagination in der französischen Frühaufklärung, in: ders. (Hg.), Ordnungen des Imaginären. Theorien der Imagination in funktionsgeschichtlicher Sicht. Beiheft der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. H a m b u r g 2002, S. 117-140. Vgl. 122/113.

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concluent et le tout avec certitude quoique par differentes voies. Et il est aussi inutile et aussi ridicule que la raison demande au cceur des preuves et des premiers principes pour vouloir y consentir, qu'il serait ridicule que le cceur demandät ä la raison un sentiment de toutes les propositions qu'elle demontre pour vouloir les recevoir. (101/104f.)

Am Anfang steht also „cceur", das Gefühl, das den Menschen die Kenntnis über die Beschaffenheit ihrer Welt vermittelt. Mit der parallelistischen Verpackung der Antithese und den zusätzlichen Personifikationen von Herz und Verstand bedient sich Pascal bekannter rhetorischer Kunstgriffe, mit denen hier alles gesagt ist und die Bedeutung des Philosophen für die allmähliche Durchsetzung der ratiobestimmten Klassik mit Elementen der Emotion deutlich wird. Würde der Verstand das Herz nach Beweisen für gefühlte Wahrheiten fragen, wäre dies genauso absurd wie eine Frage des Herzens nach Gefühlen für rational erschlossene Wahrheiten. Während „cceur" für die intuitive Schau der Wahrheit zuständig ist, fallen in den Bereich der „imagination" Lüge und Wahrheit, ist sie die „seconde nature" des Menschen, deren Kraft er sich nicht widersetzen kann. C'est cette partie dominante dans l'homme, cette maitresse d'erreur et de faussete, et d'autant plus fourbe qu'elle ne Γ est pas toujours, car eile serait regle infaillible de verite si eile l'etait infaillible du mensonge. [...] Cette süperbe puissance ennemie de la raison, qui se plait ä la contröler et ä la dominer, pour montrer combien eile peut en toutes choses, a etabli dans l'homme une seconde nature. (41/76)

„Imagination" verändert die Dinge nach ihrem Belieben: L'imagination grossit les petits objets jusqu'ä en remplir notre äme par une estimation fantasque, et par une insolence temeraire eile amoindrit les grandes jusqu'ä sa mesure, comme en parlant de Dieu. (476/339)

Imagination als Kraft, die Wahrheiten transformiert und Lügen generieren kann, gehört zum Menschsein. Sie läßt sich nicht der „raison" unterordnen oder gar ausschalten. Faßt man die epistemologische Spurensuche in den Pensees sehr knapp zusammen, ergibt sich ein klar hierarchisch strukturiertes Bild: der Mensch hat die Pflicht zu denken, denn nur so kann er sich Glanz und Elend seines Daseins nachhaltig vor Augen führen. Als stete Antriebskraft und Energie zeigt die Arbeit am Denken die menschliche Fragilität, um sie gleichzeitig zu überwinden. Innerhalb der Konzeption des „roseau pensant" bildet „cceur" die erste Erkenntnisinstanz, die nahezu intuitive Wesensschau auch naturwissenschaftlicher Wahrheiten, der erste Schritt eines induktiven procedere, das später von rationaler Erkenntnis untermauert wird. Damit ist Pascal empirisch zu erlangendem Wissen verpflichtet, und Lockes Maxime des „nihil est in intellectu quod non ante fuerit in sensu" scheint nahe zu sein. Doch abgesehen davon, daß Pascal nicht mit den Schriften Lockes vertraut war, ist „coeur" mehr als die bloß sinnliche Erkenntnis, nicht zuletzt deshalb, weil sich seine epistemologische Tragweite auch und gerade an der Schau transzendentaler Dinge zu erweisen hat. Erst kommt „cceur", dann „esprit" und schließlich „imagination", die -

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ähnlich wie die Grundlage der Reflexionsfähigkeit - beides eint, die des weiteren genauso an Traum und Wirklichkeit wie an Lüge und Wahrheit partizipiert und vielleicht auch eine Art Vexierbild des Denkens formt, seine dunkle Seite betont, die besonders glanzvoll und faszinierend erscheint. Die folgende schematische Darstellung zeigt „cceur", „sentiment", „instinct" einerseits und „raison" bzw. „esprit" andererseits im Spannungsfeld von Reflexion und Imagination. Zu sehen ist dies im Kontext des „ordre du cceur" und des „ordre de l'esprit", die übergeordnete Synthese des „ordre de la charite" liegt außerhalb. Oben und unten bewegen sich zusätzlich die beiden „infinis", und alles ist eingehüllt in die Frage, ob man sich denn im Traum oder in der Wirklichkeit befindet. L'infini - l'espace Thomme: ordre des corps ordre du cceur roseau pensant, cceur/ sentiment/ „travaillons done ä instinct bien penser" => Ο

ordre de l'esprit raison/ esprit

ordre de la charite

„faculte imaginante" Ludwig XIV. Ludwig XIV. 23, 75, 165, 170, 171, 173 Lukian 47 Lukrez 43 Malandain, Pierre 128 Malebranche, Nicolas 105 Marivaux, Pierre Carlet de Chamblain de 99-104, 106, 108-112,114-116, 135, 136, 143, 144, 146, 148, 150, 151, 168, 174 Marot, Clement 75 Mazarin 43, 229 Milton, John 159 Moliere, d.i. Jean-Baptiste Poquelin 27, 108, 136, 143, 146, 147, 149, 150, 165-174, 176-181,202, 209, 264 Montaigne, Michel de 29, 55, 57, 63,245254, 256-261,306 Montemayor, Jorge de 303,311 Montesquieu, Charles de Secondat, baron de la Brede et de 26, 30, 120, 127-131,281, 283-297 Morus, Thomas 287 Naude, Gabriel 229 Nicole, Pierre 105, 304, 305 Nietzsche, Friedrich 306

Ovid 88, 231 Pascal, Blaise 25, 55-73, 80, 102, 104, 111, 115, 116, 304 Paulus 272 Pellison, Paul 33, 3 8 ^ 0 , 48 Perrault, Charles 81 Petrarca 28,46, 211-224, 227, 236-238, 241 Piaton 45 Pompignan, Jean-Jacques Lefranc, marquis de 216, 221,223 Racine, Jean 86, 88,90, 101, 114, 118, 119, 130, 136, 139-143, 146, 149, 150, 155, 188,264, 299,305 Richardson, Samuel 313 Richelet, Pierre 198 Richelieu, Armand Jean Du Plessis, cardinal de 219 Romet, Nicolas 216, 223, 224 Ronsard, PietTe 213, 214, 216, 222 Rose, Toussaint 75 Rossets, Francois de 198 Rousseau, Jean-Jacques 29, 30, 80, 92, 147, 285,301,306,307,309 Sade, Donatien Alphonse Francois, comte de 224 Sable, Madeleine de Souvre, marquise de 70 Sainte-Beuve, Charles Augustin 219, 221 Saint-Pierre, Bernardin de 276 Sallust 43, 44 Sannazaro, Jacopo 30, 301-303 Sarasin, Jean-Franfois 24, 33, 34, 36-44, 50, 51,53,227, 233,237, 239,242 Scarron, Paul 229,312 Scudery, Madeleine de 34, 37-39, 41, 42, 81, 85, 153-155, 184, 185, 198, 216-221, 277,311 Seguier, Pierre 229 Seneca 43 Sevigne, Marie de Rabutin-Chantal, marquise de 91, 231 Shakespeare, William 138 Sorel, Charles 302 Stendhal, d.i. Henri Beyle 306, 314 Theokrit 28, 220, 223 Thomasius, Christian 35 Torricelli, Evangelista 60 Toussaint, Jean-Philippe 55 Tronchet, Etienne du 227 Vade, Jean-Joseph 28, 199, 200, 202, 203, 205, 207, 208 Valliere, Louise de la 173

345 Vega, Lope de 311 Vergil 28, 220, 222, 223 Voiture, Vincent 227, 228, 231-233, 2 3 7 243

Zola, Emile 314

Index Rerum

Amor 1,45, 46,48, 82, 131, 185, 187, 237, 303 amoralisch 314 amour de soi -> Liebeskonzeptionen amour-propre —» Liebeskonzeptionen Agape 4, 10, 25, 30, 263-265, 270-272, 276,278-282,289 Ausdifferenzierung 3, 10, 170, 186, 263, 289,293, 296

coeur sensible 157, 162 cogito 78, 257, 259 commerce 102, 245, 246, 251, 252, 255, 257, 259,294, 304 commercium mentis et corporis 99 concupiscentiae 80, 82 conditio humana 58, 60, 61, 67, 68, 85 constance 257, 259 crainte 14, 125, 290

Bewußtsein, kollektives 289,294,295 Beziehung, intersubjektive 245, 246, 250, 299 Beziehung, nicht standesgemäße 265 bienseance 43, 89, 123, 176, 191, 243, 275 Blick, fremder 26, 128,237 Blick, verbotener 127 Blindheit, anthropologische 296 bon sens 93, 255 bukolisch 219, 220, 222, 223, 301, 303, 312

Dauer 26, 242, 248, 267, 312 depit amoureux 170, 172, 177 Despotimus, orientalischer 118, 121, 126 deus absconditus 25, 55, 70 devoir 137, 138, 156, 160, 163 Dichotomie 62, 63, 89 Differenz 5-7, 1 1 , 2 1 , 2 2 , 2 8 , 3 0 , 4 4 , 1 4 0 , 164, 220, 245, 261, 268, 287, 306 Dignität, philosophische 50 Diskurse - Anthropologie, negative 100, 116, 260 - Antipetrarkismus 212, 214 - antipetrarkistisch 28, 215, 223 -antiplatonisch 178, 179 - Diskursgeschichte der Liebe 167 - Diskursivierung der Sexualität 36, 54 - Diskurspraxis, höfische 76, 115 -epikureisch 38, 81,239 - Epikureismus 50, 78 - Ethik 26, 35, 38, 39, 43, 44, 62, 251, 260, 270, 296,297 - E t h i k , galante 33, 3 7 , 4 3 , 5 3 - Ethik, neue 262 - Ethik, transzendente 35 - ethisch 7, 10, 11, 25, 26, 56, 70, 246, 247, 251,256, 258, 282, 297 - eudämonistisch 270 - Freundschaftsdiskurs 247, 251, 254, 260 - libertin 224 - Libertin 222, 224, 309,314 - Libertinage 47, 54, 180, 305 - libertinage erudit 229 - Libertinismus 91 - libertinistisch 194, 238, 302, 305 - libertins 90, 197, 202, 207, 212-216, 219, 220, 222, 228, 237, 239, 243

Caritas ordinata 271, 272, 280, 281 carte de tendre 153, 154, 184, 185, 188, 216 cartesianisch 4, 106, 276 cartesisch 4 Cartesianismus 100 causa amoris 187 chaine amoureuse 156, 158, 160 chaine secrete 129 Chaos 4 5 , 5 8 , 6 1 , 6 3 , 7 2 Charakterprobe 145 charite 60, 61, 65 civilite 24,44, 46, 53, 89, code de la sensibilite 159, 164 Code der Liebe, neuer 186,208 Code der Zärtlichkeit 240 code sensible 157, 160 code tendre 155, 157, 163, 164 Code, neuer 165 Codierung 110, 165-167, 208 cceur 26, 39, 51, 57, 60, 61, 63-65, 67, 68, 70-72, 73, 94, 99, 101-103, 105, 106, 109, 111, 113, 115, 116, 124, 145, 148,156, 163, 173-175, 179, 188,201, 205-208, 221, 222, 235, 237, 280, 281, 304,305,308

348 - Liebesdiskurs 12, 26-29, 100, 111, 114, 116, 117, 153-155, 166, 178, 184, 185, 197, 202, 204, 212-220, 222, 223, 227, 228, 232, 233, 235, 236, 238-244, 247, 281 - Liebesdiskurs, galanter 111, 166 - Liebesdiskurs, neo-petrarkistischer 29 - Liebesdiskurs, neuer 228 - Liebesethik 25, 187 - Liebesethik, galante 24, 53 - Moraldiskurs, christlicher 189 - moralisch 83, 85, 87, 100, 106, 120, 121, 153, 154, 173, 179, 183, 185, 186, 188191, 193, 194, 207, 208, 251, 255, 262, 275,280, 281,287,313 - neo-epikureisch 81, 82 - Neoepikureismus 43 - Neo-Petrarkismus 227 - Neoplatonismus 55, 238 - neoplatonisch 1, 179, 311 -pathologisch 167, 258 - Petrarkismus 117,213,214,218 - petrarktistisch 214, 223, 227, 232, 233, 236,242,244 - Tugend 48-50, 86, 159, 161, 163, 173, 189, 190, 250, 251,260,311,313 - Tugend, christliche 190 Dissimulation 11, 12, 100, 154, 205, 222, 252, 255, 262 dissimulation 187, 262 dissimulieren 216 Distinktion 24, 34,40, 43, 50, 52 Distinktivum 131 divertissemment 61, 68, 69, 70, 93, 116, 126, 308 doctrine classique 28, 90, 97 douceur du foyer 79, Du, privilegiertes 272 dynamisch 5, 14, 19, 20, 23, 30, 56, 63, 65, 73, 265 Dynamik 185, 198, 241, 267, 282, 295 Egoismus 72, 73 egozentrisch 4, 253 Ehe 1, 2, 36, 101, 129, 144, 145, 150, 161, 163, 164, 171, 172, 175, 188,217,218, 256, 257,265, 273, 299, 302, 308, 310313 Ehe aus Neigung 151 Ehebruch 122, 147, 176, 279-281 Ehelosigkeit 217, 218 Ehesystem 281 Ehevollzug 176 Ehezustimmung 176

Ehre 137,139,140,143, 146, 147,267, 301, 302 Ehrmodell 147, 204 Eifersucht 121, 129, 130, 139, 141, 156158, 160, 165, 170-172, 175, 187, 190, 202, 205,267, 275, 302, 303, 305,307, 308 eifersüchtig 143, 147, 165-167, 169, 172, 308 Eifersüchtiger 169 Eigendynamik Eigengesetzlichkeit 185, 186, 249, 250 Eigenliebe —> Liebeskonzeptionen eigenwertig 25, 56 Einbildungskraft-» Imaginationskraft 100, 103, 105, 115 Einzigartigkeit 36 Eitelkeit 58, 107, 115, 116, 122,310 έΐέναύοη 62 Emergenz 1-3,6-11,17, 18, 20-24,29,33, 34, 54, 100, 150, 166, 169, 180,244, 277 -emergiert 11, 13, 19,21,26, 37,38, 46, 53, 272, 278 - emergent 8, 11, 16, 22-27, 30, 267, 280282 - Liebe als Emergenz 136 - Liebesphänomen, emergentes 33-35, 46 - Phänomene, emergente 24, 27, 30, 281 - Verarbeitungsnotwendigkeit, emergente 34 Emotion 8, 11, 12, 15, 16, 61, 64, 100, 102, 108, 111, 197,206 Emotion, doppelt codierte emotional 63, 82, 100, 102-106, 108-110, 116, 267, 292 Emotionalität 288, 295 Emotionsforschung 267 Emotionsgeschichte 266, 280 Emotionswissen 206 Empathie 252 Engagement 254 Entäußerung 248 Episteme der Repräsentation 25, 76 Erfahrung, ästhetische 15, 108, 116 Erfahrungswissen 101 Erfüllung der Liebe 184, 193, 203, 213, 220, 222,223 Erkenntnisformen, emotionale 105 Erkenntnisinstrument 63 Erkenntnisprozeß, emotionaler 101 Eros 4, 10, 179,247 Eroslehre 37 Erotik 123, 179 Erotik, körperliche 179 erotisch 38, 47, 123, 124, 127, 129, 143, 185,242, 278, 281

349 esprit 30, 39, 6 0 , 6 1 , 6 3 - 6 5 , 101, 104, 125, 173, 174, 198, 213, 221, 224, 236, 240, 283, 284, 288, 294, 304, 305, 308 esprit de finesse 102, 104, 109 esprit de geometrie 104 esprit general 289, 294, 295 estime 39, 71, 137-141, 146, 154, 163,217, 234 Ethos 95, 255 Eunuch 129, 130 Exzeß der Leidenschaften 72 Exzeß, sprachlicher 87, 239 Fabrikation 35, 38, femme savante 125 Fetischisierung 240 Feuer 1,58, 258, 266 Feuermetaphorik 241 Fiktion 3, 7, 10, 14, 33, 37, 41, 103, 106, 108,116, 129, 130, 145, 152, 186,194, 264, 273, 274 fiktional 2, 3, 7, 13, 34, 35, 42, 43, 45, 100, 101, 103, 152, 186, 197-200, 204, 222, 233, 268, 269, 273, 280, 284, 313 Fiktionalität 108, 116, 200, 273 fiktiv 41, 44, 85, 128, 228, 232, 233, 243, 245, 264, 265 fingieren 30, 33, 42, 100, 110, 241, 264, 273 Fleischeslust 185 Fortpflanzungstrieb 286 Freiheit 27, 30, 60, 120, 147, 176, 186, 217, 239, 269, 274, 275, 281-292, 297, 303 Freiheitsbegriff 30, 291, 292, 294, 295 Freiheitsdrang 171 Freiraum 76, 185 Freundschaft 2, 10, 35, 37, 39, 54, 81, 82, 154, 158, 229, 245-260, 272, 277, 281 - amicitia 270, 272 - amitii amoureuse 184 - amitie tendre 19, 39, 158, 266, 270, 277 - amitie, v0ritable 253, 254, 259, 277 -amitite 10, 19, 25, 39, 68, 81, 83, 84, 154, 184, 242, 248, 251-255, 257, 258 - Freundschaft, souveräne 249, 250 - freundschaftlich 29, 37, 38, 45, 53, 81, 83, 84 - Freundschaftsliebe 270 - Freundschaftsmodell 4, 28, 29, 159, 253, 254, 260 -Leidenschaftsdiskurs 193, 195 - nouvelle-amitie 184, 185 -parfaite amitite 29, 247, 250, 253-255 - Tugendfreundschaft 248, 251 frivol 242 Fürsorge 29, 252, 253, 259

Gabe 39, 142, 247, 249, 250, 257 galant 24, 25, 69, 104, 111, 124, 129, 131, 144, 147, 148, 153, 155, 165-171, 173180, 183, 185, 187, 188, 1 9 1 , 2 0 1 , 2 0 2 , 208, 216, 217, 227, 228, 231, 241-243, 258 Galanterie 2, 10, 18, 19, 24, 26, 33-39, 43, 44, 54, 66, 101, 126, 153, 179, 187, 188, 190, 191, 206, 231, 241, 243, 256, 264 galanterie 2, 19, 52, 90, 91, 96, 109, 129, 161, 187, 190 Galanterie, codierte 179 Ganzes, homogenes 48 Gatte, künftiger 200, 215, 216, 219 Gattung 2, 4, 5, 9, 10, 11, 12, 23, 24, 26-29, 35, 77, 79, 85, 92, 96, 100, 101, 109, 136, 142, 152, 153, 162-164, 166, 167, 172, 176, 178, 180, 183, 184, 2 0 0 , 2 1 5 , 2 3 0 , 233, 227, 243, 244, 256, 263-268, 311 - E h r e n d r a m a 139-141 - lettre galante 231, 241 - Liebesbrief 29, 91,191, 230, 232, 233, 243 263, 266, 269, 274, 277 - Liebesdrama 144 - Liebesgedicht 213, 227 - L i e b e s k o m ö d i e 135, 142-144, 146 - Liebeslied 202, 206 - Liebeslyrik 117 - Liebesroman 92, 135, 172, 1 8 6 , 3 0 8 , 3 1 1 -Liebestragödie 135, 136 Gebrauch der Liebe 49, 50 Gebrauch der Lüste 37, 48, 50, 53 Gedächtniskonzepte 17, 19 - Gattungsgedächtnis 215 - Gedächtnis der Texte 19,215 - Gedächtnisdialekte 99 - G e d ä c h t n i s f o l i e 109 - Kulturgedächtnis 1, 3, 5 - 8 , 10, 11, 17-22, 24, 26, 28-30, 36, 54, 99, 100, 114, 194, 228, 230, 231, 247, 248, 264, 270, 277 - lieu(x) de memoire 18, 24, 36, 54, 231 Gefangener 160, 239 Gefühl 14, 64, 65, 67, 70, 79, 81, 88-95, 100, 104, 107, 109, 111, 112, 114, 124, 135, 144, 148, 149, 150, 153, 154, 156161, 163, 164, 172, 177, 185-188, 190, 191, 193, 197, 198, 201, 202, 204-208, 237, 238, 242, 248, 259, 264, 275-278, 280, 304, 308 Gefühl, innerliches 135 Gefühl, neues 144 Gefühlsbegeisterung 93 Gefühlsdissimulation 205 Gefühlshandlung, intersubjektive 198 Gefühlskonstanz 26, 101

350 Gefuhlsökonomie 126 Geist, libertinistischer 194 Geifer-Repräsentation 119 Gerechtigkeit 30, 250, 251, 280 Geschichtskonstruktion, naturrechtliche 285 Geschlechterdichotomie 243 Geschlechterhierarchie 118 Geschlechterordnung 128 Geschlechterrolle 242, 293 Geschlechterverhältnis 118 Geschmack 23, 105, 123 Geschwisterliebe 129 Gesetz 50, 66, 76, 77, 83,90, 123, 137, 160, 173, 180, 184, 190, 194, 250, 255, 256, 259, 280, 2 8 7 , 2 8 8 - 2 9 0 , 292-295 Glaubensdogmatik, katholische 184, 192 Glück des Augenblicks 219, 248 gnadenlos 79, 80 Gnadenwahl 61, 71 Gott 25, 57, 59, 60, 70, 70-73, 76, 77, 80, 82-84, 192, 238, 270-272, 287 Gottesbeweis 71 Gotteserlebnis, mystisches 72 göttlich 25, 5 9 - 61, 72, 73, 84, 279 Grenzüberschreitung 195 Habitus 40, 43 Habitusform 42 Haltung 43, 83, 99, 109, 116, 239, 245, 262, 279,313 Handlungskonstellation 135, 151 Handlungsraum 15, 186 Handlungsspielraum, individueller 189 Happy ending 28, 168, 202, 203, 208 Harem 120-122, 127, 128 Haremskonstellation 26, 117-122, 124, 128, 130, 131 Heiratspläne 156, 202 Heiratsordnung 142 Heiratspolitik 142, 143 Herz —> caeur 28, 51, 64, 70, 73, 101, 103107, 109, 116, 119, 121, 173, 174, 151 Herzenssprache 111, 116 Herzensstellvertreter 201 Herzraub 207 Hierarchisierung 270 Homosexualität 2, 45 honnete homme 29, 38, 42, 44, 103, 115, 168, 208, 243,247, 2 5 5 , 2 5 6 honnetes gens 49, 50, 52, 113, 246, 251, 254-256,259 honnetete 105, 154, 164, 203, 205, 247, 260, 262 honneur 175, 207, 237-240, 249, 275, 290, 296,302,310

Idealkonzept 2 7 2 , 2 7 7 Illusion 62, 63, 108,306, 309 Illusionierung 63, 70 Imaginäre, das 18, 19, 25, 33, 103, 108, 268 Imagination 25, 26, 57, 62-65, 79, 82, 88, 115, 118, 120, 178, 193,237, 257,306 Imaginationskraft —> Vorstellungs-, Einbildungskraft 63 Improvisation 92 inclination 154, 161, 184, 188, 190 inclination naturelle 82 inconstance 60, 253, 259 In-der-Welt-Sein 70, 73 Indiskretion 128 Infektion des Herzens 174 Innerlichkeit 26, 101, 109, 135, 254 Innovationspotential 25, 58 inquietude 60, 80, 83 insensibilite 176, 238 Instanzen, emotionale 63, 221 Instinktgebundenheit 291 Interaktion, heterosexuelle 54 Interaktionsstruktur 27, 135-137, 148, 149 interet 252, 254, 255, 290, 304 Intertext 6, 16, 19-21, 200, 215, 228,247, 270,281,282 Intimität 116, 193,259 Intimität, private 259 inzestuös 122, 150 ironisch 5, 42, 4 7 , 5 5 , 112-115, 179, 200, 238 Jansenismus 25, 80 jansenistisch 25, 55, 56, 61, 70, 304 Je ne sais quoi 5, 66, 206 jouissance 51,213 juste milieu 243 Kampf der Leidenschaften 66, 208 Kapital, symbolisches 35 karitativ 281 Kastration, symbolische 124 Keusch 150, 211, 212, 217, 220, 224 Klima 56, 289, 292 Klimatheorie 292, 293, 294 Kodifizierung 185 kokett 111, 113, 146, 147, 171,203 Kommunikationscode 100, 117 Kommunikationsmedium 186 Komplexitätssteigerung 9, 10, 163, 204 Konfiguration, paradoxe 48 Konfliktmodell 138 Konfliktualität, innere 137 Konkurrenzkampf 79, 80, 232, 307 Konvention 27, 130, 207, 267, 275, 276, 280

351 Körperlichkeit 89 Körpersprache 110, 116 Korrektiv 124 Korrumpierung der Sitten 51 krank 124, 168 krankhaft 151,266 Krankheit 88, 1 5 2 , 2 0 1 , 2 5 8 Krankheit, unheilbare 258 Kritik der Liebe 50, 80, 213, 305 Kuß 45 Leerstelle 33, 34, 118, 131, 261 Leidenschaft 12, 14, 25, 27, 55, 57, 58, 63, 65-73, 79-81, 83-87, 90, 95, 101, 106, 123, 124, 130, 139, 163, 172, 173, 183, 185, 191-194, 221, 232, 240, 241, 243, 253, 257, 258, 307, 308 Leidenschaft, fatale 124 Leidenschaft, individuelle 130, 191, 193 Leidenschaft, zerstörerische 157, 163,258 Leidenschaften, niedere 142, 152 Leidenschaftlichkeit 73, 243, 244 Leser 1 2 , 2 1 , 2 8 , 38, 56, 79, 92, 106, 119, 124, 126, 127, 129-131, 199, 200, 205, 207, 208, 220, 222-224, 247, 261, 262, 267, 268, 273, 277, 282 liberie Freiheit 39, 174, 221, 255, 261, 275,281,291-293,302 Libido 257 Libido amandi 80 Libido dominandi 80 Libido sciendi 80 Liebe als Passion 1, 3, 5, 9, 27, 117, 135, 166, 172, 173, 177, 215, 247, 263, 299 Liebe im Orient 131 Liebe in der Ehe 144, 163, 218 Liebe um Liebe 35, 36, 53-54 Liebende, inzestuöse 122 Liebender, platonisch 1, 28, 218, 220 Liebesabenteuer 187, 190 Liebesallegorie 48 Liebesaskese 44 Liebesbegehren 171, 205, 267 Liebesbegreifen 1-5, 7-11, 18, 20-23, 27, 28 Liebesbegriff 273, 292, 294, 297 Liebesbeteuerung 130, 201 Liebesbeweis 145, 179, 205 Liebesbeziehung 38, 96, 99, 101, 131, 190, 2 1 1 , 2 1 7 , 2 2 0 , 265,269, 274 Liebesbezug 271 Liebescodierung 3, 10, 27, 67, 167, 170, 178, 180 Liebesehe 30, 265, 281, 282, 309, 310 Liebeserfahrung 80, 82, 184

Liebeserfullung 203, 213, 220, 222, 223 Liebeserkenntnis 26, 101 Liebeserklärung 114,179,201, 213 Liebeserlebnis 220 Liebesformen 18, 23, 277 - Liebe, enttäuschte 141 - Liebe, gerechte 280 - Liebe, glückliche 122, 124, 128 - Liebe, keusche 211 - Liebe, leidenschaftliche 25, 85, 96, 139, 140, 152, 173, 177 - Liebe, narzißtische 106 - Liebe, natürliche 54, 147, 208, 302, 303, 314 - Liebe, neue 25, 55-57, 59, 63, 65, 70, 72, 73, 136, 142, 146, 165, 212, 227, 228, 232, 244 - Liebe, paradoxe 167 - Liebe, tabuisierte 192 - Liebe, unerfüllte 136, 158, 217, 220 - Liebe, unsterbliche 234 - Liebe, verbotene 130 - Liebe, vulgäre 49, 52 - Liebe, wahre 49, 52, 96, 148, 151, 159, 160, 202, 276 - Liebe, wahrhafte 159, 276 - N ä c h s t e n l i e b e 2, 2 7 1 , 2 7 8 - Schwesternliebe 278 - Seelenliebe 37 Liebesgalanterie 187, 188, 191 Liebesgebot 120, 270 Liebesgeständnis 114, 148 152, 170, 179, 205, 277 Liebeshandel 256, 257 Liebeshandlung 168, 161, 172 Liebesheirat 142, 143, 162, 163, 203, 280 Liebeshochzeit 145, 199, 200 Liebesideal 26, 29, 101, 244, 264, 266, 267, 269, 270, 272, 273, 278-282 Liebesideal, höfisches 234, 235 Liebesinszenierung 198, 199, 242 Liebeskasuistik 17, 184, 312 Liebeskommerz 175 Liebeskonzeptionen 1, 2, 4, 19, 24-27, 35, 3 6 , 5 7 , 89, 90, 100, 101, 117, 118, 123, 129, 131, 146, 150, 153, 264, 268, 270, 272, 275, 277-279, 282 - amour amitie 25, 83, 84 - amour celeste 49, 50 - amour d'inclination 161 - amour de soi -> Selbstliebe 4, 80, 264, 271,281 - amour faux 95 -amour galant 96, 153, 155, 183, 184, 186, 194, 241

352 - amour naissant 110 - amour-passion Eigenliebe 19, 26, 66, 95, 96, 120, 123, 124, 128, 129, 131, 139, 146, 183, 186, 191, 192, 194, 215, 221, 266 - amour propre 4, 68, 76-79, 100, 106, 107, 252, 254-256, 259, 271, 290, 304-306 - amour pur 4, 10,212 - amour tendre SO, 81, 154, 156, 157, 163, 216,217,219, 221 - amour veritable 238, 243, 259 - amour, honnete 50, 218 - amour-estime 138-141, 146 - Eigenliebe —> amour-passion 10, 80, 255, 258, 304 - Empfindsamkeit 4, 100, 109, 115,281 -fin'amor 185 - Fremdliebe 272, 279, 282, 282 - Gottesliebe -> Agape 2, 270, 271 - Konzept, neues 6, 8, 25, 26, 36, 57, 163, 150 - Konzepte der Liebe 5, 13, 136 - Liebe Gottes -» Agape 73, 270, 271 - Liebe, bürgerliche 30, 203, 264, 280, 282, 297 - Liebe, eheliche 53 - Liebe, empfindsame 26, 101, 106 - Liebe, erotische 185, 278 - Liebe, freundschaftliche 29, 37, 83, 84, 252 - Liebe, galante 18, 153, 155, 165, 166, 168, 170, 171, 173, 177, 180 - Liebe, himmlische 24, 49 - Liebe, höfische 54, 234, 235, 243, 265, 273, 299, 300, 305, 306 - Liebe, homosexuelle 2, 45 - Liebe, legitimierte körperliche 54, - Liebe, moderne 27, 136, 137, 146-150, 302, 304 - Liebe, partnerschaftliche 35, - Liebe, platonische 28, 45, - L i e b e , romantische 53, 136, 163, 299 - Liebe, sinnliche 214, 311 - Liebe, standesunabhängige 145 - Liebe, typisch orientalische 26, 121 - Liebeskonzept 1, 2, 4, 6, 8, 19, 24-28, 89, 90, 100, 101, 123, 129, 131, 153, 264, 268, 270, 272, 275, 277-279, 282 - Liebeskonzept, altes 28, 117, 146 - Liebeskonzept, neues 6, 8, 25, 26, 36, 57, 57, 150 - Liebeskonzeption, christliche —> Agape 282 - Liebeskonzeption, exotische 118 - Liebe zu Gott Agape 70, 72, 73, 271

- Selbstliebe —• amour de soi 2, 10, 29, 30, 242, 249, 250, 264, 268, 271, 276, 278281 Liebeskommunikation 28, 165, 200, 204, 205 Liebeskristallisation 174, 243 Liebesleidenschaft 86, 90, 139, 183, 188, 190, 192, 193 Liebesmodell 1, 3, 5, 8, 11, 18, 19, 22, 24, 29, 30, 37, 154, 165, 167, 213, 244, 257, 279, 280,281 Liebesneigung 184 Liebesobjekt 25, 104, 279, 280 Liebesobsession 180 Liebesprobe 146, 150 Liebesrhetorik 28, 104,206-208 Liebesschmerz 172, 193,204 Liebesschwur 276 Liebessemantik 2, 9-11, 15, 16, 27, 29, 30, 100, 109, 116, 166, 181, 198,208,260, 263,266,300,301,314 liebessemantisch 30, 278 Liebessprache 15, 16, 207 Liebessubjekt 198, 279 liebessymbolisch 273 Liebessystem 217 Liebestod 121,237, 240, 299 Liebestopographie 184 Liebestöten 124 Liebesverhalten 102, 104 Liebesverzicht 76, 153, 154, 161 Liebes wähl 120 Liebeswerbung 148, 184, 190, 200, 237 Liebeswert 271 Liebeswettstreit 170 Liebeswort 178 Liebeszeichen 170, 208 locus amoenus 220 Lust 14, 79, 129, 173, 177, 251, 257 Lüste 37, 43, 48, 50, 53, Machtstruktur 76, 120 marivaudage 111, 113, 116 Maßlosigkeit 93, 257 medial 108, 109, 116, 227, 233, 239, 241 Medialität 108, 116 Medien 7, 28, 101, 165, 244, 254, 268, 272 Medium 20, 92, 106, 109, 200,227,228, 239, 240, 253, 254, 261, 263, 272 Menschenbild 4, 5, 25, 30, 65, 107, 260, 263, 264, 269, 273, 275, 282 merite 39, 163, 170, 174, 178, 234, 253, 281 mesalliance 143, 201 misogyn 242 Misogynie 122

353

Miteinander, intersubjektives 254 Mitleid Empathie 83, 84 Modell der Liebe 18, 35, 37, 53, 54, 70, 72, 136, 154, 165, 167, 279 Modell der Schönheit 104 Modell von Innerlichkeit 135 Modelle der Galanterie, (sozio-kulturelle) 109 Modellierung von Liebe 38, 185, 197, 230, 307 modern 3, 5, 25-28, 30, 56, 62, 67, 73, 118, 136, 137, 142, 143, 145-150, 167, 176, 178, 180, 202, 255, 263, 269, 273, 275, 287, 295, 300, 302, 304, 309 Moralistik 26, 29, 100, 102, 103, 106, 109, 116, 2 5 6 , 3 0 4 , 3 0 5 Naivität 28, 115, 147, 148, 150, 2 0 3 , 2 0 6 Narzißmus 115 narzißtisch 106, 252, 303-305 Natur, menschliche 58, 204, 254, 255, 288, 296 Naturbegriff 293, 300, 313, 314 Natürlichkeit 40, 42, 115, 116, 161, 208, 302,306,310,314 Naturrecht 30, 130, 280, 288-290, 293 naturrechtlich 30, 268, 2 7 1 , 2 7 8 - 2 8 0 , 282, 285 Naturrechtslehre 30, 284, 287 Naturzustand 284-26, 301, 307 Neigungsehe, (moderne) 142, 145, 151 Neuartigkeit 228, 233, 242 Neuformulierung 2 8 , 2 1 6 Neuheit 35, 36, 38, 51, 52 Norm 62, 86, 87, 89, 90, 168, 191, 194, 195, 200, 201, 203, 256, 260, 275, 288, 292, 293 normativ 44, 137, 165, 180, 283 Normbruch 25, 85 Normkonstante 293 Normverletzung 194 obstacle 76, 172 (Economie der Lüste 37, 43, Ökonomie 27, 29, 30, 84, 173, 292 Ökonomie der Gabe 29, 247, 249, 257 Ökonomie sexuellen Begehrens 292 Ökonomie, freundschaftliche 249, 250, 254, 257, 260 ökonomisch 96, 118, 171, 172, 174, 175, 180, 181,257,280, 289 295 Optimismus, moralischer 100 Ordnung der Liebe 27, 271, 279, 302 Ordnung, göttliche 61, 279 Ordnung, tugendhafte 278

Ordo 58, 61 ordre du coeur 60, 65, 111, 113, 116 Orientalismus 119, 127, 131 Orientalismus, latenter 131 Ort, kosmologischer 60 Paideia 48 Paradigma 3, 10, 29, 35, 36, 86, 96, 103, 248,257,299,310 paradigmatisch 5, 24, 29, 183, 187, 313 Paradigmenwechsel 1, 214, 215, 223, 299, 313 Paradoxie 27, 30, 120, 169, 173, 180, 249, 290, 299 Paradoxierung 27, 246, 299 Paradoxon 55, 57, 58, 63, 70, 71 Paradoxon der Leidenschaften 55, 70 Partnerwahl 53, 100, 135, 137, 144, 146, 147, 151 Partnerwahl, freie 137, 151, 265 Passion 1, 3, 5, 9, 27, 67, 68, 117, 123, 124, 135, 165, 166, 167, 169, 172, 173, 175177, 180, 185, 186, 190, 193, 215, 247, 258, 263, 266, 267, 275, 288-290, 301, 305 passion 2, 14, 19, 26, 49, 51, 63, 66-71, 76, 80, 89, 90, 92, 94-96, 103, 146, 1 5 4 , 1 5 6 159, 163, 169, 173, 175, 177, 178, 183, 184, 186, 187, 190-192, 198, 212, 215, 216, 221, 237, 241, 242, 244, 258, 266, 288,289, 3 0 1 , 3 0 5 passion, dangereuse 183, 184 Passion, individuumsbezogene 180 Passion, komplizierte 167, 180 Pastoralmacht 77, 83 pathetisch 111,236, 2 4 2 , 2 4 4 Pathos 191,241 Performanz 34, 37, 177 Perversion 28, 118-122, 128-130 Phantasmen, sexuelle 119 philia - > Freundschaft 4, 10, 247, 249, 250 Physiognomie 57, 106 plaisir 27, 43, 58, 69, 70, 81, 84, 85, 104, 166, 171, 179, 180, 192, 193, 220, 240, 254, 255, 257, 266, 304, 306, 310 plaisir d'amour 104 plebejisch 28, 197, 199, 202, 204, 206 poelique amoureuse 237 poelique du regard 237 poissard28, 197, 200, 203, 207, 208 politesse 44, 46, 207 Polygamie 120 pornographisch 123 Potlatsch 175 Praktik, lesbische 129

354 Präsenz der Liebe 194 Praxeologie 34, Praxis, soziale 24, 39, 40,48, 53, 185, 188, 267, 281 preciosite 24, 33, 47, 96, 164, 241, 273 preciseuses 90, 161, 166, 180 preziös 19, 90, 166, 167, 174, 205, 258, 267, 268, 273, 276, 277 Preziöse 169,277 Preziösentum 91 Preziosität preciosite 180 Privatinteresse 273 Privilegierung (des Ich) 28, 269 Problemhorizont, neuer 286 Prozeß, cartesianischer 90, 95 Prozeßhaftigkeit 27, 186 Prozessualität 285 psychologisch 17, 101, 139, 178,289 Psychologisierung 232, 256, 299 Qualität, neue 5, 6, 9, 58, 191, 266 Qualität, selbstreferentielle 262 questions d'amour 86, 103 raison Vernunft 44, 46, 58, 61-69, 71, 72, 89, 90, 93-96, 103, 107, 154, 156, 158, 172, 178, 218, 221, 255, 261, 275, 287, 291 rapt 176 Raum, normfreier 137 Rede, gestaute 149 repos 66, 69, 194 Repräsentation 7, 8, 15, 25, 28, 34, 76-80, 82,84, 117, 206, 234 Resemantisierung des Liebesbegreifens 257 Reziprozität 204,249,254,257, 287, 303 Rollenspiel 41^13, 106, 107, 165 Roilenzuschreibung 135, 214, 235, 237, 239 roseau pensant 63-65, Ruhe -> repos 69, 72, 277, 281, 307 sadistisch 122 Schmerz 14, 95, 177, 204 science du coeur 26, 99, 101-103, 105, 106, 109, 115 - Subjekt, erotisches 143 - Subjekt, selbstsorgendes 36, - Subjektivität 246, 256, 297, 300 - Subjektkonstitution 21, 28, 55, 241,244, 262 - Subjektwerdung, modeme73 Subversion 194 sündhaft 116, 185,272 surprise de 1'amour 100, 101 science du caeur humain 101, 102

seduction —> Verfuhrung 267 Seele in zwei Körpern 248, 250 Seelen verschmelzen 248 Seelenfrieden 189 Seelengemeinschaft 249, 257 Seelenkundler 109 Selbstliebe -» Liebeskonzeptionen Selbstreferentialität 248 Selbstreflexion 1, 24, 234, 263, 269, 273 selbstreflexiv 3, 5, 264,267,268, 269,275, 282 Selbstreflexivität 6,274 Semantik 2-4, 8-11,13,15, 16, 23, 27, 29, 30, 72, 175, 180, 181, 185, 186, 191, 197, 208,263,280 Semantik, ökonomische 181 sensibilite 2, 10, 19, 93, 153-155, 159, 161, 163, 164, 175,203,238 sensuel 212 Sentimentalisierung der Liebe 136 Sexualität 2, 10, 35, 36, 54, 77, 120, 201, 212, 215, 219, 290, 292, 297, 300 Sexualitätsdispositiv 35 Sexualmoral 291 Sexualverhalten 293 Simulation 11,12, 23, 28, 100, 206-208, 252, 263 sincerite 154, 159, 188, 255, 256 Singularität 247, 248 Sitte 47, 51, 118, 184,290, 297, 304 Sittenlehre, sozial geordnete 35 Sklave 79, 122, 234, 239, 291, 292 Spontaneität 63, 72, 92,93, 111,115, 116, 297 Spontaneität, leidenschaftliche 72 Sprache der Liebe, moderne 180 Sprache, exzessive 89 Standesgrenze 144, 151 Standesregel 143 Standesübergreifend 112 Standesunterschied 107, 312, 313 Standes Vermischung 170 Steuerungszentrum, eigendynamisches 295 style poissard 28, 199, 200, 207 Subjektmodellierung 2, 5, 11, 25, 56, - Eigeninteresse 252 -Individualismus 194, 310 - Individualität 185, 186,251,264,275 - individuell 17, 19, 27, 53, 56, 78,90, 104, 122, 130, 153, 167, 168, 185, 186, 189, 191, 193, 194, 249, 256, 264, 269, 272, 273,280-282,287,288, 296,297,299 - Individuum 27, 37, 43, 50, 86, 176, 180, 186, 194, 197, 245, 255, 257, 259, 261,

355

-

263, 269, 274, 276, 281, 285, 288, 295, 297, 300, 301 Individuum, modernes 263,269,273 Selbst, explizites 275 Selbst, implizites 274, 275 Selbst, individuelles 296, 297 Selbst, neues 69 Selbst-Affizierung 242 Selbstbegründung, autonome 296 Selbstbeobachtung 268, 274 Selbstbeobachtungspraxis 268 Selbstbespiegelung 232,234 selbstbewußt 29, 30, 202, 263, 268, 269, 272-275, 278, 282 Selbstbewußtsein 264, 268, 272-276, 278281,282, 297 Selbstdarstellung 34, 40, 42, 54, 255 Selbstdisziplin 84 Selbstentfremdung 67, 70 Selbstenthüllung 194 Selbstentwurf 264, 267 Selbsterhaltung 286, 291, 292 Selbsterkenntnis 106, 198, 268, 275 Selbsterwägung 269 Selbstfindung 25, 70, 72 Selbstinszenierung 227, 233-237, 239-242 Selbstkontrolle 154, 193, 255, 273, 312 Selbstpräsenz 245, 268 Selbstreferenz 178 Selbstschau 268 Selbstsorge 35, 38 Selbstwahrnehmung 274 Selbstwerterleben 282 Selbstzwang 273, 275, 279 Selbstzwänge 273, 275, 279 Subjekt, autonomes 297

Tauschbeziehung 141, 142 Tauschgeschäft 252 Tauschverhältnis 259 tendresse 2, 10, 81, 82, 145, 148, 154, 157, 159, 163, 173, 177, 184, 185,279 Theorie, cartesianische 78, Theorie, dynamische 56 Toleranz 70 Topik der Liebe 174 Topos 87,88,91,94,114, 119, 121, 124, 128, 130, 206, 207, 212, 237, 239, 306 Transgression 122, 172 Transparenz der Zeichen 276 Traum 62, 63, 65, 217, 221, 223, 309 Treue 122, 140, 149, 177, 188 Trieb 53, 61, 64, 68, 69, 285, 313 Trieb, kontrollierbarer 86 Triebkraft 290

Triumph der Liebe 124 Tugendbegriff 154 Tugendhaftigkeit 159, 161, 163,217 Typologie, soziologische 290 Typus von Macht 77 Übergangssemantik 3, 10, 23, 30, 247, 265, 275, 280, 301 Umschlagspunkt 150 unaufrichtig 179, 191 Unaufrichtigkeit 188, 205, 213 Unberechenbarkeit 247, 250, 257 Unberührtheit, sexuelle 149, 150 Unbewußte, das 103 Unerfullbarkeit 217 unio mystica 68, 72 Unmittelbarkeit 92 Unordnung 92, 93, 261, 293, 310 Unordnung der Briefe 88 Unsagbarkeit 16, 263 Unsagbarkeitstopos 206, 276 Unterwerfung 77, 119, 239 Untreue 47, 122, 147, 149, 189, 190,209, 313 Untreue, eheliche 189 Unvernunft 45, 93 vanitas 66 Venus Anadyomene 216,217 Venus Urania 216 Veranlagung des Liebens, natürliche 104 verantwortlich 60, 66, 95, 204, 292 Verdopplung 170, 252, 261, 274 Verdopplung des Ichs im Anderen 249 Verfügbarkeit, sexuelle 119 verführen 95, 150 Verführen, das 191 Verführung 95, 125, 143, 214, 238, 267, 305 Verführung, erotische 125 Verführungskünste 308 Verhaltenscode 168 Verhaltenskodex, gesellschaftlicher 27, 191 Verhältnis, außergesellschaftliches 27, 79, 137 Verlust der Identität 88 Vernunft raison 25, 61, 63, 66, 72, 73, 76, 86, 95, 111, 107, 126, 172,205, 250, 251, 258, 260, 281, 285, 287, 288, 291, 295,313 Vernunftdenken 185 Verschleierungstaktiken 68 Verstellung Dissimulation 107, 109, 112, 116, 144, 146, 148, 245, 246, 253,262 Vertrauen, Vertraute 150, 152, 172, 174, 207, 232, 252, 261,264, 282

356 Vertraulichkeit 27, 151, 152 vertu 39, 51, 73, 76, 155, 163, 173, 175, 191, 208,218, 2 2 2 , 2 9 0 Vervollkommnung 164, 249, 252 Vexierbild des Denkens 65 vita activa 69 vita beata 272 voluptas 131 volupte, douce 211-223 Vorstellung 3, 4, 5, 13, 17-21, 24-26, 29, 30, 75, 77-79, 81-84, 86, 88, 94, 117, 142, 146, 151, 155, 163, 218, 247, 249, 254, 256, 258, 259, 264, 270, 272, 278, 279, 281, 282, 299, 300, 302, 304, 306, 311 Vorstellungskraft —> Einbildungskraft, Imagination 118, 194 Voyeur 126 Voyeur, imaginierender 127

Voyeurismus 118 voyeuse 127 Wahl, freie Wandel 101, 136, 135, 153, 183, 186, 215, 241,244, 245,246, 248,310 Wandel des Selbstverständnisses 245 Wandlungsprozeß 185 Weiblichkeit 85, 91, 94, 95, 97 werben 188, 191, 201, 232, 234, 248, 309 Wille, moralischer 86 Willensfreiheit 258 Witwe,junge 142, 143, 147, 151 Zuneigung 4, 82, 99, 100, 107, 112, 253, 305 Zurechtweisung 95 Zuschauer, affiziert 70, 235 Zweckfreiheit