Liberale Theologie in Jena: Ein Beitrag zur Theologie- und Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts 3110247801, 9783110247800, 9783110247817, 2010034795

Die liberale Theologie in Jena im ausgehenden 19. Jahrhundert ist als eigenständige Form liberaler Theologie im Sinne ei

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Liberale Theologie in Jena: Ein Beitrag zur Theologie- und Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts
 3110247801, 9783110247800, 9783110247817, 2010034795

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
1. Liberale Theologie – Herkunft und Ausprägung eines vieldeutigen Begriffs
1.1 Zum Begriff und zur Begriffsgeschichte
1.2 Wurzeln, Initiations- und Haftpunkte liberaler Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert
2. Liberale Theologie in Jena
2.1 Vorbemerkungen zu einer fakultätsgeschichtlichen Standortbestimmung
2.2 Zum Theologieverständnis und zur Exegese – Anlage und Ziel der Untersuchung
3. Aspekte zur gegenwärtigen Debatte um liberale Theologie
II. Zur Vernetzung einer theologischen Richtung und zur Ausdifferenzierung des Fächerkanons
1. Person, Werk, theologiegeschichtlicher Ort
1.1 Richard Adelbert Lipsius (1830-1892)
1.2 Otto Pfleiderer (1839-1908)
1.3 Adolf Hilgenfeld (1823-1907)
1.4 Ludwig Diestel (1825-1879)
1.5 Adalbert Merx (1837-1909)
1.6 Eberhard Schrader (1836-1908)
2. Zur Vernetzung einer theologischen Richtung
3. Interdisziplinäre Forschungs- und Lehrtätigkei t
4. Herausbildung der fünf Nominalprofessuren in Jena
5. Zusammenfassung
III. Zum Theologieverständnis – Grundlagen und geistesgeschichtliche Verortung
1. Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie
1.1 Richard Adelbert Lipsius: Religiöse Erkenntnistheorie auf der Basis des Neukantianismus
1.1.1 Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung
1.1.2 Die Metaphysik der Grenzbegriffe
1.1.3 Folgerungen für eine religiöse Erkenntnistheorie
1.1.4 Der Zusammenhang von Philosophie und Theologie am Beispiel der Gotteslehre
1.2 Otto Pfleiderer: Synthese von Theologie und Philosophie im religiös-idealen Daseinsverständnis
1.2.1 Die natürliche Bestimmtheit des Menschen zur Religion
1.2.2 Die Universalität der Gottesidee
1.2.3 Genetisch-spekulative Religionsphilosophie und Religionsgeschichte
1.3 Adolf Hilgenfeld: Die innere Wesensverwandtschaft von Theologie und Philosophie
1.3.1 Das Christentum als Religion des Geistes und die neuere Philosophie des Geistes
1.3.2 Die Bedeutung des Rationalismus für die Theologie
1.4 Zusammenfassung
2. Die religionspsychologische und (religions-)geschichtliche Verankerung der Theologie
2.1 Der religionsphilosophische Ausgangspunkt der Theologie bei Richard Adelbert Lipsius
2.1.1 Begriff, Ursprung und Wesen der Religion
2.1.1.1 Religion als psychisches Phänomen
2.1.1.2 Der metaphysische Religionsbegriff
2.1.1.3 Das dogmatische Religionsverständnis
2.1.2 Religionspsychologie als empirische Wissenschaft
2.1.3 Die Psychologie der religiösen Erfahrung und die Theorie der religiösen Erkenntnis
2.1.4 Offenbarung und Religion als Wechselbegriffe
2.1.5 Die (Entwicklungs-)Geschichte der Religion
2.1.6 Die Aufgabe und die Wissenschaftlichkeit der Dogmatik
2.2 Die religionsphilosophische und religionsgeschichtliche Grundlegung der Theologie bei Otto Pfleiderer
2.2.1 Religion auf der Basis der Psychologie
2.2.2 Ausdifferenzierung der Religionsphilosophie und ihre Bedeutung für die Theologie
2.2.3 Konzeptionen religionsgeschichtlicher Grundlegung der Theologie
2.2.3.1 Das Christentum als die Verwirklichung des Begriffs der Religion
2.2.3.2 Religionsgeschichte als Offenbarungs- und Geistesgeschichte
2.2.3.3 Religionsgeschichte als fortschreitende Annäherung an den wahren Inhalt der Gottesidee
2.2.4 Religionsgeschichte und Dogmatik
2.3 Die Theologie als Geschichtswissenschaft bei Adolf Hilgenfeld
2.3.1 Das Wesen des Christentums
2.3.2 Entwicklung und Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie
2.4 Zusammenfassung
3. Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie
3.1 Die Religion als Phänomen des menschlichen Geisteslebens und die Psychologie als Propädeutik bei Richard A. Lipsius
3.1.1 Das unmittelbare Selbstbewusstsein als „Urdatum aller Wirklichkeit“ und Präsenz des transzendenten Grundes
3.1.2 „Praktische Nötigungen“ als psychischer Ursprung der Religion
3.1.3 Das anthropologische Recht der Theologie
3.2 Die anthropologischen Konstanten in Religion und Geschichte bei Otto Pfleiderer
3.2.1 Religion als Befriedigung des menschlichen Grundtriebes
3.2.2 Anthropologische Konstanten als Grundlage der Religionsgeschichte
3.2.3 Die Deduktion der Gottesidee aus der menschlichen Vernunft
3.3 Zusammenfassung
IV. Prinzipien und Standortbestimmung von Exegese und Hermeneutik
1. Zur Exegese und zum Schriftverständnis bei Richard A. Lipsius
1.1 Die Historisierung des Ursprungs des Christentums und seiner Schriften
1.2 Die Unterscheidung zwischen geschichtlicher Betrachtung und religiöser Bedeutung
1.3 Der ethische Kern und die „Doppelseitigkeit“ der alttestament-lichen Religion
2. Exegese und Hermeneutik in der Tradition der Tübinger Schule bei Otto Pfleiderer
2.1 Der Paulinismus und die Geschichte des Urchristentums
2.2 Die Person Jesu und das Offenbarungsverständnis
2.3 Die partikularistische Beschränkung der mosaischen Religion und ihre Aufhebung in der Religionsgeschichte Israels
2.4 Der genetische Zusammenhang von Altem und Neuem Testament
3. Tendenzkritik und Literarhistorie bei Adolf Hilgenfeld
3.1 Der Rückbezug auf die Bauer‘sche Tendenzkritik
3.2 Literarhistorische Exegese
3.3 Die jüdische Apokalyptik als Vorgeschichte des Christentums
3.4 Kritische und literargeschichtliche Einleitung in Altes und Neues Testament
3.5 Die Vorrangstellung der historischen Theologie
4. Exegetische Prinzipien und Hermeneutik bei Ludwig Diestel
4.1 Historisch und religiös orientierte Exegese im Anschluss an Johann Salomo Semler
4.2 Zum Verhältnis von Philosophie und Exegese
4.3 Die Grundprinzipien einer Hermeneutik des Alten Testaments
4.5 Religiöses und geschichtliches Prinzip der Schriftauslegung
5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei Adalbert Merx
5.1 Forschungsansätze zur Pentateuchkritik
5.2 Prinzipien der Exegese am Beispiel der Joel-Prophetie
5.3 Hermeneutik als Wissenschafts- und Kunstlehre
5.4 Die Hermeneutik als neue Fundamentalwissenschaft und das Verhältnis von Exegese und Dogmatik
6. Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei Eberhard Schrader
6.1 Die historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments
6.2 Der Weg vom Alttestamentler zum Assyriologen
6.2.1 Religionsgeschichtliches Verständnis des Alten Testaments
6.2.2 Der Diskurs um die Wissenschaftlichkeit der Assyriologie
6.2.3 Die Grundlegung des Babel-Bibel-Streits bei E. Schrader
6.3 Theologische Grundlegung und Zielsetzung der religionsgeschichtlichen Exegese
7. Zusammenfassung
V. Ertrag und Ausblick
1. Liberale Theologie in Jena – Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Richtung
2. Das Verständnis der Theologie als Wissenschaft und das Verhältnis von historischer und systematischer Theologie
3. Liberale Theologie in Jena als historische Etappe und als andauerndes Sachproblem der Theologie
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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Markus Iff Liberale Theologie in Jena

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von Friederike Nüssel und Christoph Schwöbel

Band 154

De Gruyter

Markus Iff

Liberale Theologie in Jena Ein Beitrag zur Theologie- und Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts

De Gruyter

ISBN 978-3-11-024780-0 e-ISBN 978-3-11-024781-7 ISSN 0563-4288 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Iff, Markus. Liberale Theologie in Jena : ein Beitrag zur Theologie- und Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts / Markus Iff. p. cm. - (Theologische Bibliothek Töpelmann, ISSN 0563-4288 ; Bd. 154) Includes bibliographical references (p. ) and index. ISBN 978-3-11-024780-0 (hardcover : alk. paper) 1. Liberalism (Religion) - Germany - Jena - History - 19th century. 2. Universität Jena. Theologische Facultät - History - 19th century. 3. Jena (Germany) - Church history - 19th century. I. Title. BR858.J46I55 2010 2301.044094322-dc22 2010034795

Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

” 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Paula, Aaron, Emily und Josephine

Vorwort Karl Heussi markiert in seinem Werk zur Geschichte der Theologischen Fakultät in Jena in der Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine Zäsur, die neben einer fakultätsgeschichtlichen auch eine wissenschafts- und theologiegeschichtliche Relevanz beinhaltet: „Die zweite Hälfte der Ära Hase unterscheidet sich von der ersten durch eine wesentlich schärfere theologische Tonart, die in der Hauptsache durch die Berufung von Pfleiderer und von Lipsius in Jena zur Geltung kam ... Jena wurde nun für einige Jahrzehnte eine Hochburg der sogenannten ‚liberalen‘, d.h. entschieden historisch-kritisch und philosophisch orientierten Theologie ... Wenn je, dann kann man in dieser Periode von einer Jenaer Theologie sprechen“ (Karl Heussi, Geschichte der Theologischen Fakultät, Weimar 1954, 281). Ausgehend von der These Karl Heussis hat sich für die vorliegende Arbeit die Zielsetzung ergeben, die Jenaer Theologie liberaler Prägung in ideen- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive zu erfassen. Lässt sich eine spezifische Jenaer Theologie im Sinne einer theologischen Richtung in der Selbstwahrnehmung der Beteiligten und in der Außenwahrnehmung im ausgehenden 19. Jahrhundert erkennen und wenn ja, wie ist sie wissenschaftsgeschichtlich und systematischtheologisch zu verorten? Was sind die Grundlagen zum Theologieverständnis und zur Hermeneutik sowie den exegetischen Prinzipien? Ist es angemessen und weiterführend, die liberale Jenaer Theologie als eigenständige theologische Richtung zu fassen? Welche innere Logik liegt ihr zugrunde und welchen Beitrag kann sie zur Erschließung aktueller theologischer Fragestellungen und Problemlagen leisten? Diese Leitfragen für die vorliegende Arbeit erfordern in heutiger Perspektive und Terminologie eine interdisziplinäre Anlage der Untersuchung, da in historischer Perspektive systematisch-theologische Fragestellungen mit Grundfragen der Exegese und Hermeneutik verbunden bzw. diese aufeinander bezogen werden. Der Fokus der Arbeit liebt auf dem theologischen Proprium liberaler Theologie in Jena, ohne dass die wechselseitige Bezogenheit zwischen theologischem und kirchlichem, religiösem und politischem Liberalismus ausgeblendet wird.

VIII

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im Herbst 2008 von der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommenen Dissertation. Dass meine Dissertation in diese Publikation mündet, ist Anlass, einigen Menschen zu danken. An erster Stelle danke ich herzlich Prof. Dr. Jürgen van Oorschot, der die interdisziplinär angelegte Beschäftigung mit der liberalen Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert angeregt und mein Projekt engagiert, zielstrebig und ermutigend betreut hat. Besonders dankbar erinnere ich die gemeinsamen Forschungsseminare zum Verhältnis von Philosophie und Exegese und zur religionspsychologischen Verankerung der Theologie. Mein aufrichtiger Dank gilt auch Prof. Dr. Volker Leppin, der die kirchengeschichtlichen Bezüge und Fragestellungen des Themas, insbesondere die Untersuchung der Vernetzung der an der liberalen Jenaer Theologie Beteiligten gefördert hat. Mein besonderer Dank gilt schließlich Prof. Dr. Johannes von Lüpke, der die Entstehung der Arbeit in ihrer systematisch-theologischen Ausrichtung durch viele Gespräche zur religionsphilosophischen Verankerung der Theologie, zur Philosophie- und Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts sowie zur Wissenschaftstheorie begleitet hat. Zu danken habe ich Dr. Johannes Wischmeyer, der mir freundlicherweise seine sozial- und metalitätsgeschichtlichen Untersuchungen zur protestantischen Universitätstheologie in Jena im Zeitraum von 1850 bis 1870 zur Verfügung gestellt hat, auf die ich mich in meiner ideengeschichtlich angelegten Arbeit vielfach beziehen konnte. Mein Dank gilt Frau Prof. Dr. Friederike Nüssel und Herrn Prof. Dr. Christoph Schwöbel, die als Herausgeber meine Arbeit in die Reihe ‚Theologische Bibliothek Töpelmann‘ aufgenommen haben. Ebenso danke ich Herrn Dr. Albrecht Döhnert vom DeGruyter-Verlag für seine Vermittlung und Frau Sabina Dabrowski für die Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage. Dem Verein zur Förderung der Theologie im Bund Freier evangelischer Gemeinden (K.d.ö.R.) und seinem Vorsitzenden Michael Schröder sei an dieser Stelle herzlich gedankt für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses zur Veröffentlichung meiner Arbeit. Danken möchte ich aber vor allem meiner Familie, meinen Nichten und meinem Neffen, denen das Buch gewidmet ist, und besonders meiner Frau Cornelia, die das neben dem Lehrdeputat am Theologischen Seminar Ewersbach verfolgte Dissertationsprojekt in Jena großherzig und geduldig unterstützt hat.

Willich, im November 2010

Markus Iff

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung .......................................................................................................

1

1.

Liberale Theologie – Herkunft und Ausprägung eines vieldeutigen Begriffs ................................................................................... 1 1.1 Zum Begriff und zur Begriffsgeschichte .............................................. 1 1.2 Wurzeln, Initiations- und Haftpunkte liberaler Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert .......................................................... 11

2.

Liberale Theologie in Jena ......................................................................... 21 2.1 Vorbemerkungen zu einer fakultätsgeschichtlichen Standortbestimmung .............................................................................. 21 2.2 Zum Theologieverständnis und zur Exegese – Anlage und Ziel der Untersuchung ................................................................................... 28

3.

Aspekte zur gegenwärtigen Debatte um liberale Theologie ................ 30

II. Zur Vernetzung einer theologischen Richtung und zur Ausdifferenzierung des Fächerkanons .................................... 35 1.

Person, Werk, theologiegeschichtlicher Ort ........................................... 35 1.1 Richard Adelbert Lipsius (1830-1892) ................................................. 35 1.2 Otto Pfleiderer (1839-1908) .................................................................... 42 1.3 Adolf Hilgenfeld (1823-1907) ................................................................ 47 1.4 Ludwig Diestel (1825-1879) ................................................................... 54 1.5 Adalbert Merx (1837-1909) .................................................................... 57 1.6 Eberhard Schrader (1836-1908) ............................................................. 60

2.

Zur Vernetzung einer theologischen Richtung ...................................... 65

3.

Interdisziplinäre Forschungs- und Lehrtätigkeit ................................... 75

4.

Herausbildung der fünf Nominalprofessuren in Jena .......................... 80

5.

Zusammenfassung ..................................................................................... 87

X

Inhaltsverzeichnis

III. Zum Theologieverständnis – Grundlagen und geistesgeschichtliche Verortung ........................................................... 93 1.

Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie 1.1 Richard Adelbert Lipsius: Religiöse Erkenntnistheorie auf der Basis des Neukantianismus ............................................................ 93 1.1.1 Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung ............................. 93 1.1.2 Die Metaphysik der Grenzbegriffe ............................................ 100 1.1.3 Folgerungen für eine religiöse Erkenntnistheorie ................... 105 1.1.4 Der Zusammenhang von Philosophie und Theologie am Beispiel der Gotteslehre ........................................................ 106 1.2 Otto Pfleiderer: Synthese von Theologie und Philosophie im religiös-idealenDaseinsverständnis ................................................ 108 1.2.1 Die natürliche Bestimmtheit des Menschen zur Religion .......................................................................................... 109 1.2.2 Die Universalität der Gottesidee ................................................ 112 1.2.3 Genetisch-spekulative Religionsphilosophie und Religionsgeschichte ...................................................................... 114 1.3 Adolf Hilgenfeld: Die innere Wesensverwandtschaft von Theologie und Philosophie .................................................................... 117 1.3.1 Das Christentum als Religion des Geistes und die neuere Philosophie des Geistes ........................................... 117 1.3.2 Die Bedeutung des Rationalismus für die Theologie .............. 119 1.4 Zusammenfassung .................................................................................. 120

2.

Die religionspsychologische und (religions-)geschichtliche Verankerung der Theologie ..................................................................... 128 2.1 Der religionsphilosophische Ausgangspunkt der Theologie bei Richard Adelbert Lipsius ................................................................ 128 2.1.1 Begriff, Ursprung und Wesen der Religion .............................. 129 2.1.1.1 Religion als psychisches Phänomen ................................... 130 2.1.1.2 Der metaphysische Religionsbegriff ................................... 131 2.1.1.3 Das dogmatische Religionsverständnis .............................. 133 2.1.2 Religionspsychologie als empirische Wissenschaft ................. 133 2.1.3 Die Psychologie der religiösen Erfahrung und die Theorie der religiösen Erkenntnis ............................................. 136 2.1.4 Offenbarung und Religion als Wechselbegriffe ...................... 141 2.1.5 Die (Entwicklungs-)Geschichte der Religion ........................... 142 2.1.6 Die Aufgabe und die Wissenschaftlichkeit der Dogmatik ....................................................................................... 145

Inhaltsverzeichnis

XI

2.2 Die religionsphilosophische und religionsgeschichtliche Grundlegung der Theologie bei Otto Pfleiderer ............................... 149 2.2.1 Religion auf der Basis der Psychologie ................................... 149 2.2.2 Ausdifferenzierung der Religionsphilosophie und ihre Bedeutung für die Theologie ............................................ 153 2.2.3 Konzeptionen religionsgeschichtlicher Grundlegung der Theologie ................................................................................ 161 2.2.3.1 Das Christentum als die Verwirklichung des Begriffs der Religion ............................................................................ 161 2.2.3.2 Religionsgeschichte als Offenbarungs- und Geistesgeschichte ................................................................................... 162 2.2.3.3 Religionsgeschichte als fortschreitende Annäherung an den wahren Inhalt der Gottesidee ................................. 166 2.2.4 Religionsgeschichte und Dogmatik ........................................... 167 2.3 Die Theologie als Geschichtswissenschaft bei Adolf Hilgenfeld ..... 170 2.3.1 Das Wesen des Christentums ..................................................... 170 2.3.2 Entwicklung und Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie ....................................................................................... 173 2.4 Zusammenfassung .................................................................................. 176 3.

Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie ...... 188 3.1 Die Religion als Phänomen des menschlichen Geisteslebens und die Psychologie als Propädeutik bei Richard A. Lipsius ........... 188 3.1.1 Das unmittelbare Selbstbewusstsein als „Urdatum aller Wirklichkeit“ und Präsenz des transzendenten Grundes ...... 189 3.1.2 „Praktische Nötigungen“ als psychischer Ursprung der Religion ................................................................................... 192 3.1.3 Das anthropologische Recht der Theologie .............................. 194 3.2 Die anthropologischen Konstanten in Religion und Geschichte bei Otto Pfleiderer .................................................................................. 196 3.2.1 Religion als Befriedigung des menschlichen Grundtriebes ................................................................................. 196 3.2.2 Anthropologische Konstanten als Grundlage der Religionsgeschichte ...................................................................... 198 3.2.3 Die Deduktion der Gottesidee aus der menschlichen Vernunft ........................................................................................ 199 3.3 Zusammenfassung .................................................................................. 201

XII

Inhaltsverzeichnis

IV. Prinzipien und Standortbestimmung von Exegese und Hermeneutik .............................................................................. 207 1.

Zur Exegese und zum Schriftverständnis bei Richard A. Lipsius ....... 208 1.1 Die Historisierung des Ursprungs des Christentums und seiner Schriften ........................................................................................ 210 1.2 Die Unterscheidung zwischen geschichtlicher Betrachtung und religiöser Bedeutung ............................................................................... 212 1.3 Der ethische Kern und die „Doppelseitigkeit“ der alttestamentlichen Religion ......................................................................................... 214

2.

Exegese und Hermeneutik in der Tradition der Tübinger Schule bei Otto Pfleiderer ............................................................................................ 216 2.1 Der Paulinismus und die Geschichte des Urchristentums ................ 218 2.2 Die Person Jesu und das Offenbarungsverständnis ........................... 220 2.3 Die partikularistische Beschränkung der mosaischen Religion und ihre Aufhebung in der Religionsgeschichte Israels .................... 223 2.4 Der genetische Zusammenhang von Altem und Neuem Testament ................................................................................................. 226

3.

Tendenzkritik und Literarhistorie bei Adolf Hilgenfeld ...................... 230 3.1 Der Rückbezug auf die Bauer‘sche Tendenzkritik ............................. 232 3.2 Literarhistorische Exegese ..................................................................... 235 3.3 Die jüdische Apokalyptik als Vorgeschichte des Christentums ....... 241 3.4 Kritische und literargeschichtliche Einleitung in Altes und Neues Testament ..................................................................................... 245 3.5 Die Vorrangstellung der historischen Theologie ................................ 247

4.

Exegetische Prinzipien und Hermeneutik bei Ludwig Diestel ............ 248 4.1 Historisch und religiös orientierte Exegese im Anschluss an Johann Salomo Semler ..................................................................... 249 4.2 Zum Verhältnis von Philosophie und Exegese .................................. 254 4.3 Die Grundprinzipien einer Hermeneutik des Alten Testaments ..... 259 4.4 Kritische und literargeschichtliche Einleitung in Altes und Neues Testament 4.5 Religiöses und geschichtliches Prinzip der Schriftauslegung ........... 261

5.

Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei Adalbert Merx ............................................................................................ 264 5.1 Forschungsansätze zur Pentateuchkritik ............................................. 265 5.2 Prinzipien der Exegese am Beispiel der Joel-Prophetie ..................... 269

Inhaltsverzeichnis

XIII

5.3 Hermeneutik als Wissenschafts- und Kunstlehre .............................. 276 5.4 Die Hermeneutik als neue Fundamentalwissenschaft und das Verhältnis von Exegese und Dogmatik................................................ 280 6.

Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei Eberhard Schrader ............................................................................................. 282 6.1 Die historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments ............. 282 6.2 Der Weg vom Alttestamentler zum Assyriologen ............................ 290 6.2.1 Religionsgeschichtliches Verständnis des Alten Testaments .................................................................................... 291 6.2.2 Der Diskurs um die Wissenschaftlichkeit der Assyriologie .................................................................................. 293 6.2.3 Die Grundlegung des Babel-Bibel-Streits bei E. Schrader ...... 297 6.3 Theologische Grundlegung und Zielsetzung der religionsgeschichtlichen Exegese ......................................................................... 299

7.

Zusammenfassung ..................................................................................... 301

V. Ertrag und Ausblick ..................................................................................... 313 1. 2. 3.

Liberale Theologie in Jena – Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Richtung .......................................................... 313 Das Verständnis der Theologie als Wissenschaft und das Verhältnis von historischer und systematischer Theologie ................. 333 Liberale Theologie in Jena als historische Etappe und als andauerndes Sachproblem der Theologie .................................................. 341

Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................................. 359

Personenregister ................................................................................................ 397

Sachregister ........................................................................................................ 403

I. Einleitung 1. „Liberale Theologie“ – Herkunft und Ausprägung eines vieldeutigen Begriffs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1.1 Zum Begriff und zur Begriffsgeschichte1 Eine Spurensuche in Jena als rekonstruktiver Gang zum historischen und systematischen Begriff ‚liberale Theologie‘ will hinter die vielzitierte Unbestimmtheit und Undeutlichkeit dessen zurückgehen, was im neueren Protestantismus, aber auch im Katholizismus und im Judentum heute als ‚liberale Theologie‘ gilt.2 Die Wurzeln des Begriffs reichen zurück bis zu Johann Salomo Semler (1725–1791), der 1773, also im Erscheinungsjahr des dritten Bandes der „Abhandlung von freier Untersuchung des Canon“, ein lateinisch geschriebenes Werk vorlegte, das seine hermeneutischen und exegetischen Prinzipien in Gestalt eines Handbuchs der Exegese des Alten Testaments auf alle alttestamentlichen Bücher anwenden sollte. Dieses Werk trug den Titel „Apparatus ad liberalem Veteris Testamenti interpretationem“3. Der Terminus „liberalis theologia“ begegnet erstmals in Semlers Schrift „Institutio ad doctrinam Christianam liberaliter discendam“4 von 1774. Damit be1

2

3 4

Die Aspekte zur Begriffsgeschichte sind auf die Ausdrücke „liberale Theologie“ und „theologischer Liberalismus“ bezogen, da sie im Unterschied zu verwandten Begriffsbildungen wie „kirchlicher Liberalismus“, „religiöser Liberalismus“ oder „liberales Christentum“ als theologische Richtungsbezeichnungen gebraucht wurden – auch wenn die Grenzen des Gebrauchs diesbezüglich unscharf sind. Zur Geschichte des Begriffs innerhalb und ausserhalb des Protestantismus vgl. H.-J. BIRKNER, „Liberale Theologie“, in: Kirchen und Liberalismus im 19. Jahrhundert, hg. v. M. SCHMIDT/G. SCHWAIGER, Göttingen 1976, 33–42; F. W. GRAF, Liberale Theologie, in: EKL Bd. 3 (1991), Sp. 86–98. Zur theologischen Problematik im Katholizismus vgl. K. HECKER, Liberalismus und liberale Theologie, in: Sakramentum mundi, Bd. II (1969), Sp. 224–234. Zum Judentum vgl. T. RENDTORFF, Das Verhältnis von liberaler Theologie und Judentum, in: Theologie in der Moderne, Gütersloh 1991, 59–71. J. S. SEMLER, Apparatus ad liberalem Veteris Testamenti interpretationem, Halle 1773. J. S. SEMLER, Institutio ad doctrinam christianam liberaliter discendam, auditorum usui destinata, Halle 1774.

2

I. Einleitung

zeichnet er eine dogmatisch ungebundene, strikt historische Erforschung des Neuen Testaments, die der Vervollkommnung des Christentums und der Rechtfertigung eines praktisch-vernünftigen Privatchristentums im Unterschied zum kirchlichen Christentum dienen soll. Wenn Semler in diesem Kontext von einer Historisierung der Exegese spricht, dann ist damit in erster Linie eine intendierte Einordnung der in den Texten bezeugten Ereignisse und Aussagen in ihren historischen Zusammenhang gemeint. Friedrich D. E. Schleiermacher (1768–1834) hingegen hat den Begriff ‚liberale Theologie‘ nicht gebraucht, obwohl er in der Theologiegeschichtsschreibung vielfach als Urheber liberaler Theologie gilt.5 Im Sinne einer theologischen Positionierung, einer Schule oder Gruppe entsteht der Begriff erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Zuvor begegnet er lediglich bei spätrationalistischen Theologen wie Heinrich G. Tzschirner (1778–1828) und Karl G. Bretschneider (1776–1848), die einen entscheidenden Anteil an der Formierung der frühliberalen politischen Opposition in Deutschland haben. In einem 1820 veröffentlichten Aufsatz unter dem Titel „Die Ultra’s und die Liberalen in der Theologie“6 macht Bretschneider auf eine in seinen Augen bestehende Parallele zwischen der Erneuerung der vorkritischen Kirchlichkeit und dem restaurativen Zeitgeist aufmerksam und plädiert dafür, den politischen Begriff ‚liberal‘ als theologische Programmvokabel zu adoptieren für das Konzept des theologischen Rationalismus. Sowohl Tzschirner als auch Bretschneider verwenden den Begriff im Zusammenhang der Konzeption eines christlichen Rationalismus, der „keine formulierte Dogmatik, sondern eine theologische Denkart“ ist, „ein System gewisser Grundsätze über die christliche und biblische Offenbarung“ und deshalb auch in der Lage, die „Versöhnung der kirchlichen Trennung

5 6

Vgl. F. COURTH, Das Wesen des Christentums in der Liberalen Theologie, Frankfurt a. M. 1977, 1–34. K.-G. BRETSCHNEIDER, „Die Ultras und die Liberalen in der Theologie“, in: Ders., Kirchenpolitische Zeitfragen, Leipzig 1847, 1–7. „Statt dieser schwankenden Namen sollte man lieber die Supranaturalisten die theologischen Ultra’s, die Rationalisten aber die theologischen Liberalen nennen ... Die Namen ... Ultra‘s und Liberale haben einen sehr bestimmten Sinn und bezeichnen eine fest ausgeprägte, entgegengesetzte Denkart der Politik, welche dem, was man in der Theologie Supranaturalismus und Rationalismus nennt, Zug für Zug so genau entspricht, daß die Adoption jener Namen für beide theologische Parteien ganz passend erscheint. Die theologischen Ultra’s wollen ... der Vernunft in Sachen der Religion durchaus keine Stimme gestatten. So verhasst ist diesen die Philosophie und die Wissenschaft als die Repräsentantin der Vernunft.“ Ebd., 2.

1. Herkunft und Ausprägung des Begriffs „Liberale Theologie“

3

der Christen“7 herbeizuführen. Der Vorschlag Bretschneiders, den politischen Begriff des Liberalismus als theologische Programmvokabel zu adoptieren, ist aber nur bedingt aufgenommen worden. Bei David Friedrich Strauss (1808–1874) findet sich 1848 ein ähnlicher Gebrauch des Begriffs auf der Schnittstelle zwischen Politik und Theologie. In seinem Aufsatz „Der politische und der theologische Liberalismus“ verwendet er den Begriff „theologischer Liberalismus“ zur Benennung der Konzeption einer „Fortbildung des Christentums zum reinen Humanismus“8, die sich dem politischen Liberalismus als Partner empfiehlt. Das häufigere Vorkommen des Begriffs als theologische Richtungsbezeichnung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht in unmittelbarem Zusammenhang mit kirchenpolitischen Richtungsbezeichnungen.9 In diesem Kontext spielt der 1863 gegründete Protestantenverein10 eine zentrale Rolle, dessen führende Vertreter wie Richard Rothe (1799–1867) oder Daniel Schenkel (1813–1885) von Zeitgenossen als liberale Theologen bezeichnet werden. Allerdings dürfte dies zuerst 7

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Ebd., 303. Der christliche Rationalismus BRETSCHNEIDERS impliziert ein Geschichtskonzept, das eine linear fortschreitende religionspolitische Aufhebung der Ungleichzeitigkeit der religiösen Vorstellung in der aufgeklärten Frömmigkeit erwartet, die Offenbarung und Geschichte, Glaube und Erfahrung, das protestantische und das katholische Prinzip so miteinander zu verbinden vermag, dass sie füreinander erschlossen sind und auch bleiben. Dieses protestantische Geschichtsmodell findet sich bereits bei H. G. TZSCHIRNER in seinen Schriften „Protestantismus und Katholicismus aus dem Standpuncte der Politik betrachtet“, Leipzig 1822, und „Das Reactionssystem“, Leipzig 1824. Er stellt darin der politischen Religion katholischer Restauration das aufgeklärte Christentum protestantischer Reform und Entwicklung entgegen, welches eine liberal-protestantische bürgerliche Gesellschaft impliziert. „Diese Fortbildung des Christenthums zum reinen Humanismus, oder vielmehr die Herausbildung des letzteren aus dem gesamten Boden der modern-europäischen Cultur, in welchem das Christenthum nur einen Bestandteil ausmacht, ist nun zugleich der einzige Weg, um über den Gegensatz im Katholicismus und Protestantismus hinaus zu kommen: es arbeitet also hierin der theologische Liberalismus dem politischen in die Hände, welcher jene Spaltung, die er im Interesse des deutschen Vaterlandes beklagt, auf seinem Wege vergeblich auszugleichen sucht. Dessen ungeachtet nimmt der letztere keinen Anstand, den ersten als Radicalismus, der alle häusliche und politische Moral zersetze, von sich zu weisen.“ D. F. STRAUSS, Der politische und der theologische Liberalismus, Halle 1848, 15f. „Dass der Ausdruck ‚liberale Theologie’ in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts allmählich häufiger vorkommt, das geht nicht auf programmatische Verwendung durch einzelne Theologen zurück. Es scheint vielmehr damit zusammenzuhängen, dass ‚liberal‘ zur kirchenpolitischen Richtungsbezeichnung geworden war.“ H.-J. BIRKNER, „Liberale Theologie“, 36. Vgl. dazu Kapitel I, 16f., und Kapitel II, 66ff.

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I. Einleitung

auf ihre kirchenpolitische Aktivität und weniger auf ein theologisches Programm bezogen worden sein.11 Hans-Joachim Birkner problematisiert den Sachverhalt, dass der Begriff ‚liberale Theologie‘ im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Selbstbezeichnung im Sinne eines theologischen Programms oder einer theologischen Richtung nicht gebräuchlich war, jedenfalls nicht zu den markanten Programmvokabeln und theologischen Richtungsbegriffen gehörte – im Unterschied zu den Leitbegriffen ‚Rationalismus‘ und ‚Supranaturalismus‘ bzw. Richtungsnamen wie ‚spekulative Theologie‘ oder ‚positive Theologie‘.12 Weiterhin hat Birkner aufgezeigt, dass die Theologen der Ritschl-Schule im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht als liberal bezeichnet werden, obwohl sie im frühen 20. Jahrhundert im Urteil der dialektischen Theologie als Wortführer liberaler Theologie angesehen werden.13 Angesichts dieser Problematik konstatiert auch Erich Foerster in seiner Rezension des Buches „Geschichte des religiösen Liberalismus“ von Walter Nigg14: „Liberalismus scheint mir kein geeigneter Begriff zu sein, um theologische Erscheinungen des 19. Jahrhunderts auf einen Nenner zu bringen, kein geeigneter Leitfaden, an dem man sie aufreihen könnte; und ich meine deshalb, dass wir gut täten, Wortbildungen wie ‚religiöser Liberalismus‘ und ‚liberale Theologie‘ endgültig den Abschied zu geben.“15

Es lassen sich jedoch veritable Gründe dafür anführen, dass der Begriff ‚liberale Theologie‘ ab den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts als theologischer Richtungsname und Programmvokabel in Gebrauch war. Zunächst ist festzuhalten, dass der Begriff als Selbstbezeichnung einer

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R. ROTHES praktisch-organisatorische und publizistische Mitwirkung an der 1863 erfolgten Gründung des Protestantenvereins entsprach seiner Grundauffassung der Verwirklichung des Christentums im sittlich-kulturellen Staate. Vgl. dazu F. WAGNER, Theologische Universalintegration. Richard Rothe, in: Ders. (Hg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1, Gütersloh 1990, 265–286. Vgl. H.-J. BIRKNER, „Liberale Theologie“, 35f. Signifikant ist der Hinweis, dass der Begriff liberale Theologie in A. E. BIEDERMANNS programmatischer Schrift „Die freie Theologie oder Philosophie und Christentum in Streit und Frieden“, Tübingen 1844, nicht vorkommt, und dass O. PFLEIDERER in seinem Werk zur Theologiegeschichte den Begriff liberale Theologie als Richtungsbezeichnung oder gar als Kapitelüberschrift nicht verwendet. BIEDERMANN wird im Kapitel „Spekulative Theologie“, LIPSIUS im Kapitel „Vermittlungstheologie“ behandelt. Vgl. O. PFLEIDERER, Die Entwicklung der protestantischen Theologie in Deutschland seit Kant und in Grossbritannien seit 1825, Freiburg i. Br. 1891, 128ff.193ff. H.-J. BIRKNER, „Liberale Theologie“, 37. W. NIGG, Geschichte des religiösen Liberalismus, Zürich u.a. 1937. E. FOERSTER, Die Aufklärung in der Theologie des 19. Jahrhunderts, in: ThR NF 10 (1938), 329–357, hier: 334.

1. Herkunft und Ausprägung des Begriffs „Liberale Theologie“

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theologischen Ausrichtung bei Alois E. Biedermann (1819–1885) vorkommt.16 Auch in Jena wurde der Begriff in diesem Sinne verwendet. In der Einleitung der ersten Auflage seines Lehrbuchs der evangelischprotestantischen Dogmatik von 1876 beschreibt Richard A. Lipsius (1830–1892) ein Anliegen seines Werkes mit den Worten: „Wenn man der liberalen Theologie nicht selten den Vorwurf eines trügerischen Spieles mit kirchlich klingenden Ausdrücken macht, die sie in völlig anderem Sinne gebrauche, so soll man meinem Buche keine Zweideutigkeit nachsagen dürfen.“17

1893 löste in Jena die vom Kuratorium angestrebte Besetzung des Ordinariats von Lipsius durch Max Reischle (1858–1905) und dann, nach dessen Absage, durch Hans Hinrich Wendt (1853–1928), die beide als Ritschl-Schüler galten, heftige Proteste aus, die über Jena hinaus wahrgenommen und kommentiert wurden.18 Die Berufung eines Theologen aus der Ritschl-Schule wurde von Lipsius-Schülern als Verstoß gegen die liberale Tradition Jenas befehdet. Wie hingegen unter den Voraussetzungen der Ritschl-Schule liberale Theologie theologiegeschichtlich und historisch eingeordnet wurde, ist in Ferdinand Kattenbuschs Werk „Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher“ erkennbar. Kattenbusch unterscheidet für die Zeit zwischen Schleiermacher und Ritschl drei Schulen, die sie als die „liberale, konfessionelle und Vermittlungstheologie“ bezeichnet. Als Hauptvertreter des theologischen Liberalismus werden Ferdinand Christian Baur (1792–1860) und Alois E. Biedermann behandelt, Richard A. Lipsius und Otto Pfleiderer werden als „Nachhut“19 eingestuft. Liberale Theologie als theologischer

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Das apostolische Glaubensbekenntnis und die schweizerische Predigerversammlung in Zürich. 23. Juli 1845, in: A. E. BIEDERMANN/D. FRIED (Hg.), Die Kirche der Gegenwart, 1 (1845), 333–347. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, Braunschweig 1876, V. So schreibt M. RADE in der Christlichen Welt Nr. 48, vom 24.11.1892: „Wie schwer mag man in Jena einen tüchtigen Nachfolger für Lipsius finden, Ritschlianer soll er nicht sein – mit gutem historischen Recht – und jüngere tüchtige Dogmatiker der Jenaischen Richtung gibt es kaum.“ DERS., ChW 6 (1892), Sp. 1116. Der Verlauf und die Details der Auseinandersetzung sind von F. NIPPOLD, dem Nachfolger K. HASES als Kirchenhistoriker in Jena, ausführlich beschrieben worden, allerdings in erkennbar tendenziöser Perspektive. Ders., Die theologische Einzelschule im Verhältnis zur evangelischen Kirche, Bd. 2, Braunschweig 1893, 108ff. Vgl. auch die Ausführungen dazu in Kapitel II, 71 ff. F. KATTENBUSCH, Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher, Gießen 41924, 36.41.60. „Ich habe ... die Theologie in der Fortbewegung ‚von Schleiermacher zu Ritschl‘ und als dreifach ‚schulmäßig‘ gegliedert und meine, das sei richtig ... Die drei Schulen nenne ich in der Kürze, ohne die landläufig gewordenen Ausdrücke

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I. Einleitung

Richtungsbegriff begegnet im Jena des ausgehenden 19. Jahrhunderts aber nicht nur in der Auseinandersetzung um die Nachfolge von Lipsius. Bei Lipsius selber lässt sich der Gebrauch des Begriffs „Altliberalismus“20 im Sinne einer theologischen Ausrichtung nachweisen. Als weiterer Beleg zur Verwendung des Begriffs als theologische Programmvokabel kann Otto Pfleiderers Brief an Adolf Hilgenfeld21 im August 1869 gelten, in welchem er um Rat und Vermittlung bei seiner Bewerbung auf die vakante Stelle des Oberpfarrers in Jena bat. „Ich denke mir, dass man dazu einen Theologen von liberaler Richtung, wie er allein nach Jena passt, wünscht, und das bewog mich zu dem kühnen Gedanken, ob hier etwas für mich zu machen wäre? Meine Richtung, welche aus meinem Buch über die Religion zu ersehen ist, würde wohl den dortigen Wünschen konveniren.“22

Neben der Debatte, ob die Bezeichnung liberale Theologie als Benennung einer theologischen Richtung für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Selbst- oder eine Fremdbezeichnung ist, muss bei einer begriffsgeschichtlichen Orientierung der reichhaltige und divergierende theologiegeschichtliche Verwendungsmodus aus der Perspektive des mittleren und ausgehenden 20. Jahrhunderts einbezogen werden. Hier wird der Begriff einerseits in einem weiten Sinn gebraucht, so dass liberale Theologie eine theologische Richtung bezeichnet, die sich durch das gesamte 19. Jahrhundert verfolgen lässt. 23 Legt man diesen weiter gefassten Begriff zugrunde, dann erscheint liberale Theologie als Resultat neuzeitlicher protestantischer Theologieentwicklung überhaupt und nicht, wie es zum ausgehenden 19. Jahrhundert der Fall ist,

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auf die Goldwaage zu legen, die liberale, konfessionelle und Vermittlungstheologie.“ Ebd., 41. Am 7. November 1858 schrieb LIPSIUS an HILGENFELD: „Theuerster Freund! Also das neue Ministerium ist fertig, Herr v. Raumer hat das Feld geräumt, Manteuffel ist zum Teufel, die Kreuzzeitungsleute kirschen, die Lutheraner jammern, und der ‚Altliberalismus‘ triumphiert.“ Veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld und das Ende der Tübinger Schule, Teil IV, Briefe und Register, Erlangen 1962, 200. A. HILGENFELD gehörte von 1866 bis 1872 als Mitglied dem Vorstand der Jenaer Kirchengemeinde an und stand seit 1866 mit Pfleiderer im Briefkontakt. Außerdem hatte er als Herausgeber der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie bereits mehrere Aufsätze von Pfleiderer veröffentlicht. Vgl. dazu H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil I, Hilgenfelds wissenschaftlicher Weg und seine Stellung in der zeitgenössischen Forschung, Erlangen 1962, 169. Brief vom 24. August 1969, veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 315. „Das 19. Jahrhundert gilt allgemein als das liberale Jahrhundert“. W. NIGG, Geschichte, 245.

1. Herkunft und Ausprägung des Begriffs „Liberale Theologie“

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als eine theologische Position oder Richtung. 24 Andererseits wird der theologische Liberalismus im Gegenüber zur ‚restaurativen‘ Theologie und der ‚Vermittlungstheologie‘ als die dritte Hauptrichtung in der Theologie des 19. Jahrhunderts gesehen, wobei innerhalb des theologischen Liberalismus wiederum unterschiedliche Epochen angesetzt werden. Nach der Einschätzung von Hans Grass in der dritten Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart kann allerdings die Grenzlinie zwischen liberaler Theologie und Vermittlungstheologie nicht immer eindeutig gezogen werden. Auch lasse sich eine liberale Theologie in systematisch–theologischer Perspektive nicht eindeutig fassen. Grass kennt drei Epochen der liberalen Theologie. Die erste sei durch das Erbe Hegels bestimmt und habe ihre Hauptvertreter in Hegel und Baur. Die zweite sei philosophisch Kant verpflichtet und stehe unter dem Einfluss Ritschls. Die dritte schließlich sei geprägt durch die ‚Religionsgeschichtliche Schule‘. Ihr Anliegen sei vor allem im Denken Troeltschs zusammengefasst.25 In der zweiten Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart hatte zuvor Friedrich Traub in seinem Artikel zur liberalen Theologie zwischen Alt- und Jungliberalen unterschieden. Zu den Altliberalen rechnete er die Vertreter der spekulativen Theologie: Karl Scharz, Alois E. Biedermann, Otto Pfleiderer, Richard A. Lipsius, Alexander Schweizer, August Dorner, Hermann Lüdemann. Jungliberale sind für ihn Ritschl und seine Schüler, an ihrer Spitze Ernst Troeltsch – David F. Strauss und Ferdinand Chr. Baur nennt er nicht. 26 Solche Ver24

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Dieses weit gefasste Verständnis begegnet beipielsweise bei M. HUBER. Die Reihe der Vertreter geht von SCHLEIERMACHER bis BURI. Er unterscheidet dabei zwischen der „liberalen Vermittlungstheologie“, wozu er SCHLEIERMACHER, STRAUSS und SCHWEITZER zählt, der „liberalen, spekulativen Theologie“ mit den Vertretern BIEDERMANN, LIPSIUS, LÜDEMANN und der „liberalen Theologie der Gegenwart“ mit NEUENSCHWANDER, TILLICH, und BURI. M. HUBER, Jesus Christus als Erlöser in der liberalen Theologie, Winterthur 1956. „Der Liberalismus bildet neben der restaurativen und der Vermittlungstheologie die dritte Hauptrichtung in der Theologie des 19. Jahrhunderts. Man kann im theologischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts drei Epochen unterscheiden: Für die erste sind die radikale Kritik und die philosophische Spekulation im Anschluß an Hegel bezeichnend; die zweite steht unter dem Einfluß Albrecht Ritschls, der philosophisch Kant verpflichtet ist; in der dritten übernimmt die Religionsgeschichtliche Schule die Führung in der liberalen Theologie.“ H. GRASS, Art. Liberalismus, III. Theologischer und kirchlicher Liberalismus, in: ³RGG, Bd. IV (1960), Sp. 351–355, hier: 355. Drei Epochen der liberalen Theologie kennt auch R. SCHÄFER, Liberale Theologie, in: Evangelischer Glaube im Wandel der Zeit, 1967, 125–152. Die erste umfasst die Tübinger D. F. STRAUSS und F. CHR. BAUR, die zweite A. RITSCHL und die dritte die Ritschl-Schule, vor allem W. HERRMANN, A. VON HARNACK und J. WEISS. F. TRAUB, Art. Liberale Theologie, in: ²RGG, Bd. III (1929), Sp. 1612. Auch M. JACOBS unterscheidet in seinem Artikel Altliberalismus und Neuliberalismus. Während er

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I. Einleitung

suche einer äußeren Eingrenzung und Zuordnung, mit der man die bestimmenden Theologieansätze des 19. Jahrhunderts in eine konservativ-konfessionelle, eine mehr vermittelnde und eine liberale Richtung einteilt, erweisen sich als grobmaschig, unscharf und damit problematisch.27 Doch ist unter diesen Richtungsbezeichnungen, die der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts zugeschrieben wurden, die liberale Theologie unverkennbar diejenige, welche die stärkste Beharrungskraft bewiesen hat im Vergleich zur Wirkungsgeschichte der Richtungsbezeichnungen ‚Vermittlungstheologie‘ oder ‚positive Theologie‘. Dabei lässt sich für den Begriff ‚liberale Theologie‘ gleichermaßen eine polemische Verwendung – aus der Benennung einer theologischen Richtung wird der Titel einer theologischen Verfehlung28–, wie eine programmatisch-affirmative Verwendung29, nachweisen. In diesen Kontext ist auch die Debatte zu verorten, den Begriff liberale Theologie als Spiegelung des Selbstverständnisses der dialektischen Theologie zu verstehen. Die dialektische Theologie sah sich an einem Wendepunkt der Geschichte stehen bzw. eine neue theologische Epoche einleiten. Aus diesem Selbstverständnis heraus wäre dann der Begriff liberale Theologie als theologische Gegenbezeichnung entstanden. Der Begriff diente der Selbstdefinition der dialektischen Theologie und wäre aus der Vorstellung eines Epochenbruches erwachsen, die alle Theologie auf der anderen Seite des Grabens als einheitlich liberal erscheinen ließ, d.h. im scharfen Sinne von Bultmanns Vorwurf: als Nicht-Theologie.30 Wenn unterdessen der Aufbruch der dialektischen Theologie selbst

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den Altliberalismus in enger Verknüpfung zur Entstehung des Protestantenvereins verortet, setzt er den Beginn des Neuliberalismus mit der Entstehung der religionsgeschichtlichen Fragestellungen und religionsgeschichtlichen Schule an und zählt als Vertreter neben der Ritschl-Schule A. VON HARNACK, W. HERRMANN und E. TROELTSCH. Vgl. Ders., Art. Liberale Theologie, TRE 21, 47–68. So verzichtet E. HIRSCH in seinem Werk zur Geschichte der neueren evangelischen Theologie auf die Bezeichnung liberale Theologie. Vgl. DERS., Geschichte der neuern evangelischen Theologie V, Gütersloh 41968. Vor allem die Wortführer der frühen dialektischen Theologie haben in der Auseinandersetzung mit den eigenen theologischen Vätern die liberale Theologie als Paradigma verkehrter Theologie dargestellt. „Der Gegenstand der Theologie ist Gott, und der Vorwurf gegen die liberale Theologie ist der, daß sie nicht von Gott, sondern von Menschen gehandelt hat.“ R. BULTMANN, Die liberale Theologie, in: Glauben und Verstehen I, Göttingen 71972, 1–25, hier: 2. U. NEUENSCHWANDER, Die neue liberale Theologie, Bern 1957. „Ich habe es während meiner ganzen Jugend nicht anders gekannt, als dass alles ‚Liberale’ als äußerst bedenklich galt. Vielfach wurde ‚liberal’ und ‚ungläubig’ einfach gleichgesetzt.“ M. SCHIANS, Kirchliche Erinnerungen eines Schlesiers, Tübingen 1972, 2.

1. Herkunft und Ausprägung des Begriffs „Liberale Theologie“

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wiederum Theologiegeschichte geworden ist, liegt es nahe, die theologischen Ansätze, die in diesem Sinne mit dem Namen ‚liberale Theologie‘ bedacht wurden, noch einmal in den Blick zu nehmen. 31 HansJoachim Birkner kommt in seiner begriffsgeschichtlichen Untersuchung zu dem Urteil, dass der Begriff ‚liberale Theologie‘ bei historischer Prüfung seiner Verwendungsgeschichte „unversehens eine neue Funktion“ gewonnen habe. Für die theologiegeschichtliche Orientierung des zeitgenössischen Protestantismus umfasse er „diejenigen Entwicklungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in denen die gegenwärtige protestantische Theologie ihre Herkunftsgeschichte erkennen muss“ 32. In der neueren Theologiegeschichtsschreibung wird im Anschluss an Alois Emanuel Biedermann die Bezeichnung ‚freie Theologie‘33 bevorzugt. Eckhard Lessing will mit diesem Begriff den so genannten theologischen Altliberalismus als theologische Richtung kennzeichnen, die zumeist auch in einem politisch-progressiven Sinn vertreten wird, während er den Begriff ‚liberale Theologie‘ als eine zusammenfassendere Form des dem theologischen Konservatismus gegenüberstehenden Denkens versteht. Die ‚freie Theologie‘ ist somit für ihn eine Form der liberalen Theologie unter anderen. Lipsisus, Pfleiderer und Hilgenfeld kennzeichnet er als „freie Theologen“34. Jan Rohls will in seiner Theologiegeschichte, ausgehend vom epochalen Ereignis der französischen Revolution, die Modernisierungsfähigkeit der Theologie unter Beachtung des politischen und kulturellen Hintergrundes sowie in Verbindung zur Wissenschaftsgeschichte aufweisen. Er konzentriert 31

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Diese Forderung wird auch von K. BARTH in einem seiner späteren Werke erhoben. Damit stellt er seine frühere Kritik an der liberalen Theologie in Frage, trotz Beibehaltung der fundamentalen theologischen Differenz. „Es ist heute geboten – es ist heute aber auch leichter – jener früheren Theologie und der ganzen in ihr kulminierenden Entwicklung größere historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als es uns damals in der Heftigkeit des ersten Aufbruches und Zusammenstoßes möglich und tunlich erschien.“ K. BARTH, Die Menschlichkeit Gottes, Zürich 1956, 4. H.-J. BIRKNER, „Liberale Theologie“, 175. BIEDERMANN bevorzugt diesen Begriff, um falschen politischen Assoziationen zu wehren und das zentrale Anliegen zu kennzeichnen, nämlich ein Denken frei von den Fesseln der Tradition und der sie akklamierenden Institutionen. Ders., Die freie Theologie, Vorwort. H. STEPHAN und M. SCHMIDT differieren die Entwicklung der theologischen Richtungen im 19 Jahrhundert zwischen den Polen SCHLEIERMACHER und RITSCHL aus mit den Begriffen „Vermittlungstheologie“, „restaurative Theologie“ und „freie Theologie“. LIPSIUS, PFLEIDERER, DORNER und LÜDEMANN werden als späte Vertreter der freien Theologie gekennzeichnet. Vgl. dazu H. STEPHAN/M. SCHMIDT, Geschichte der evangelischen Theologie in Deutschland seit dem Idealismus, Berlin/New York ³1973, IX–XII. 320ff. E. LESSING, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Bd. 1: 1870 bis 1918, Göttingen 2000, 23f.65f.171f.

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I. Einleitung

sich dabei auf die theologischen Theoriebildungen und spricht in diesem Kontext von der freien Theologie bei Lipsius, Biedermann und Pfleiderer.35 Wolfhart Pannenberg wiederum verwendet den Begriff ‚liberale Theologie‘, wenn er in seiner Problemgeschichte der neueren Theologie in Deutschland einen Entwicklungsgang von der spekulativen zur liberalen Theologie aufzeigt und die Ausrichtung der Theologie von Biedermann, Lipsius und Pfleiderer unter die Überschrift stellt: „Die Theologie der Immanenz und die Entstehung der liberalen Theologie.“36 Das Sammelwerk zum neuzeitlichen Protestantismus von Friedrich Wilhelm Graf steht unter der thematischen Vorgabe, solche Theologen ausgewählt zu haben, die für „die Frage nach den kulturellen und kirchlichen Kontexten, innerhalb deren eine bestimmte Theologie entstanden ist, und das Interesse am impliziten politischen Gehalt einer Theologie“37 aufschlussreich sind. Bei ihm treten sozialgeschichtliche Fragestellungen in den Vordergrund und dementsprechend wird die Bezeichnung ‚liberale Theologie‘ verstärkt durch die kirchlichen, politischen und kulturellen Aspekte bestimmt. In der vorliegenden Arbeit wird bei dem Versuch, die eigenständige Gestalt Jenaer Theologie liberaler Prägung im ausgehenden 19. Jahrhundert zu erfassen, trotz der dargestellten Unschärfe im Gebrauch des Begriffs unter Rückbezug auf die Jenaer Theologen und deren Selbstbezeichnungen der Begriff ‚liberale Theologie‘ beibehalten.

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J. ROHLS, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1, Tübingen 1997, 859ff. W. PANNENBERG., Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen 1997, 11.305ff. F. W. GRAF, Protestantische Theologie und die Formierung der bürgerlichen Geselschaft, in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1, 9.

1. Herkunft und Ausprägung des Begriffs „Liberale Theologie“

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1.2 Wurzeln, Initiations- und Haftpunkte liberaler Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert38 Eine eigen geprägte Form liberaler Jenaer Theologie kann in geistesbzw. ideengeschichtlicher Perspektive nicht ohne ihre wissenschaftsund allgemeinhistorische sowie ihre theologie- und philosophiegeschichtliche Verortung erfasst werden. Daher soll zunächst auf wesentliche Wurzeln sowie auf zentrale Initiations- und Haftpunkte liberaler Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert aufmerksam gemacht werden. In seinem Werk zur Geschichte der neuesten Theologie von 1856, dem ein ideengeschichtliches Interpretationsmodell der Theologiegeschichte zugrunde liegt, kennzeichnet Karl Schwarz (1812–1885) die Situation der Theologie nach der Mitte des 19. Jahrhunderts unter Rückbezug auf Alexander Schweizer (1808–1888) mit den Worten: „Will man die Theologie auf ein einfaches Schlagwort zurückführen, so ist dies ... die moderne Weltanschauung. Der tiefgehende Gegensatz zwischen der modernen Weltanschauung, zwischen den Denkformen der Wissenschaft und Bildung unserer Tage und den dogmatischen Vorstellungen der Kirche, zwischen der immanenten Weltbetrachtung der Gegenwart und

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Vgl. dazu W. ELERT, Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, München 1921; W. HERRMANN, Die Metaphysik in der Theologie (1876), in: Ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie, hg. v. P. FISCHER-APPELT, München 1966, 26–50; H. HOLTZMANN, Ueber den gegenwärtigen Stand der Theologie und ihr Verhältnis zum wissenschaftlichen Bewußtsein der Zeit, Elberfeld 1865; R. KÜBEL, Über den Unterschied zwischen der positiven und liberalen Richtung in der modernen Theologie, Nördlingen 1881; O. PFLEIDERER, Die Geschichte der protestantischen Theologie; R. ROTHE, Gesammelte Vorträge und Abhandlungen Dr. Richard Rothe‘s aus seinen letzten Lebensjahren, Elberfeld 1886; K. SELL, Die Entwicklung der wissenschaftlichen Theologie in den letzten fünfzig Jahren, Bonn 1912; K. SCHWARZ, Zur Geschichte der neuesten Theologie (1856), Leipzig ³1864; E. TROELTSCH, Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft (1908), in: GS II, Tübingen ²1922, 193–226; DERS., Was heisst „Wesen des Christentums“? (1903), in: GS II, 386–451. Aus der Theologiegeschichtsschreibung des 20. und 21. Jahrhunderts vgl. insbesondere: K. BARTH, Möglichkeiten liberaler Theologie heute, in: Schweizerische Theologische Umschau 30 (1960), 95–101; F. COURTH, Das Wesen des Christentums, 11–20; F. W. GRAF, Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs, in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 2/1, Gütersloh 1992, 12–118; M. JACOBS, Art. Liberale Theologie, TRE 21, 47–68; E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 1870 bis 1918; F. MILDENBERGER, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1981; D. RÖSSLER, Positionelle und kritische Theologie, in: ZThK 67 (1970), 215–231.

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I. Einleitung

dem wundergläubigen Supranaturalismus der früheren Zeit ... ist der Ausgangspunkt.“39

Zum Entstehungshintergrund liberaler Theologie gehören somit in wissenschaftshistorischer Perspektive das Aufkommen des neuen Realismus und Naturalismus sowie eine zunehmend größer werdende Distanz zwischen neuzeitlicher Wissenschaftsorientierung und christlicher Frömmigkeit.40 Philosophiegeschichtlich ist in diesem Kontext die neukantianische Phase der Kant-Rezeption von besonderer Bedeutung. Die Bezeichnung ‚Neukantianismus‘41 kann dabei als Sammelbezeichnung für die in Deutschland dominierende philosophische Strömung nach der Mitte des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts verstanden werden, die im zeitgenössischen Klima positivistischen Denkens entsteht und das Ziel verfolgt, die Philosophie als strenge Wissenschaft durch die Grundsätze der kantischen Erkenntnistheorie neu zu fundieren. In Bezug auf die Wissenschafstheorie ist der Zeitraum zwischen 1850 und 1870 als Übergangsperiode zu verstehen, die durch das Aufkommen wissenschaftlicher und politischer Ideologien und eine zunehmende methodische Differenzierung der Wissenschaften gekennzeichnet ist. Zeitgenössische protestantische Theologen sprachen von

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40 41

K. SCHWARZ, Zur Geschichte, 486f. A. SCHWEIZER, Züricher Pfarrer und Professor für Praktische Theologie wird als Vertreter der schweizerischen Vermittlungstheologie gesehen. SCHWARZ betont, dass „der eigentlichste, der bedeutendste und scharfsinnigste Schüler Schleiermachers“ sei. Vgl. K. SCHWARZ, Zur Geschichte, 479. Zu A. SCHWEIZER vgl. M. BAUMGARTNER, Ins Netz verstrickt. Beobachtungen zum Denkmuster des sogenannten Vermittlungstheologen Alexander Schweizer, Zürich 1991; E. HAUSCHILDT, Art. Schweizer, Alexander, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp. 1212–1215; E. HIRSCH, Geschichte der neuern evangelischen Theologie V, 41968, 375ff. Vgl. dazu W. ELERT, Der Kampf um das Christentum, 1–8.140–213. Vgl. W. RITZEL, Art. Kant/Neukantianismus, TRE 17, 581–592. Die Geschichte und die Motive des Neukantianismus sind in den vergangenen Jahren verstärkt erforscht worden, nicht ohne dabei ältere Bewertungen dieser Strömung zu präzisieren oder auch zu revidieren. Vgl. K. C. KÖHNKE, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt a. M. 1993; M. PASCHER, Einführung in den Neukantianismus: Kontext, Grundpositionen, praktische Philosophie. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, München 1997. Zu unterscheiden ist der Badische Neukantianismus mit seinen Schulhäuptern W. WINDELBAND (1848–1915) und H. RICKERT (1863–1936) vom Marburger Neukantianismus mit seinen Hauptvertretern H. COHEN (1842–1918), P. NATORP (1854–1924) und E. CASSIRER (1874–1945). Der eigentliche Beginn des Neukantianismus wird mit den Namen H. V. HELMHOLTZ (1821–1894), F. A. LANGE (1828–1875) und E. ZELLER (1814–1908) verbunden. Vgl. dazu K. ENGELHARD/D. H. HEIDEMANN, Kant und die Gegenwartsphilosophie, in: Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart, Göttingen 2004, 1–13.

1. Herkunft und Ausprägung des Begriffs „Liberale Theologie“

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einer „Zeit der Scheidung“42, in der die bisher noch von Vermittlungsbemühungen zusammengehaltenen gegensätzlichen theologischen Positionen extrem auseinander strebten und um Einfluss auf Kirche und Politik konkurrierten. Die disziplinäre Einheit der protestantischen Theologie wurde bereits seit 1830 durch sich deutlicher ausprägende positionelle Gegensätze zunehmend bedroht. 43 Nachdem der Gegensatz zwischen rationalistischen und supranaturalistischen Theologiekonzeptionen unter dem Einfluss der idealistischen Philosophie, der Romantik und der religiösen Erweckungsbewegung nach 1830 an Schärfe verlor, kam es um 1850 zu einer neuen, pluralen Konstellation von protestantischen Theologiekonzeptionen bzw. theologischen Richtungen.44 Eine Vielzahl von Theologen versuchte sich an neuen theologischen Synthesen, die – nach den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – zwischen den Ansprüchen neuzeitlicher Vernunft, der Autorität biblischer Überlieferung und den protestantischen Bekenntnistraditionen vermitteln sollten.45 In der Mitte des 19. Jahrhunderts lassen sich daher verschiedene Richtungen und Positionen ausmachen, die wiederum Vorläufer der sich herausbildenden Richtungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind. Neben einer religionsphilosophisch-spekulativen Richtung im Anschluss an Hegels Geschichtsphilosophie, umfasst das Spektrum die Tübinger Schule mit ihrer historischen Kritik sowie 42

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K. F. KAHNIS, Der innere Gang des Protestantismus seit Mitte des vorigen Jahrhunderts, Leipzig ³1874, zitiert nach: J. MEHLHAUSEN, Theologie zwischen Politik und Kirche im 19. Jahrhundert, Gütersloh 1991, 22. Für M. KÄHLER markiert die Jahrhundermitte insofern einen Umschwung, als von einer neuen Wendung der Theologie zur kirchlichen bzw. Lebens-Praxis gesprochen werden kann. Ders., Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, hg. v. E. KÄHLER, München 82–85. Zum Terminus ‚Positionalität‘ vgl. D. RÖSSLER, Positionelle und kritische Theologie, in: ZThK 67 (1970), 215–231. Die zunehmende Herausbildung von ‚Schulen‘ in der Mitte des 19. Jahrhunderts stellt U. KÖPF heraus. Vgl. Ders., Die theologischen Tübinger Schulen, in: Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung, Sigmaringen 1994, 9– 51. Die von E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 22, eingeführte Unterscheidung zwischen „öffentlich-kirchlicher Partei“, „theologischer Richtung“ und „wissenschaftsinterner Gruppierung“ ist vor allen Dingen für die Theologiegeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert hilfreich. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird aus der von LESSING vorgeschlagenen Nomenklatur der Begriff ‚Richtung‘ übernommen (Vgl. dazu insbesondere Kapitel II, 2. Zur Vernetzung einer theologischen Richtung, 65ff.), der auch in der zeitgenössischen Publizistik um 1870 Verwendung findet. Zur frühen Phase der sogenannten Vermittlungstheologie vgl. F. VOIGT, Vermittlung im Streit. Das Konzept theologischer Vermittlung in den Zeitschriften der Schulen Schleiermachers und Hegels, Tübingen 2006.

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I. Einleitung

Gruppen von freisinnigen Theologen, denen es um die Bewahrung des Erbes des Rationalismus ging. Dieses Spektrum an theologischen Positionen ist der Bezugsrahmen für die entstehenden theologischen Richtungen im ausgehenden 19. Jahrhundert, wozu die freie Theologie, die liberale Theologie und die Schule Albrecht Ritschls zu zählen sind.46 Mit deren rascher Durchsetzung in der Universitätstheologie sowie der Annäherung von vermittelnden und neukonfessionalistischen Theologen bildete sich in der Anfangszeit des Kaiserreichs eine neue Konstellation, in die auch die liberale Jenaer Theologie einzuordnen ist. Im Zusammenhang mit der zweiten Phase positioneller Theologie im deutschen Protestantismus nach 1850 geht es nicht ausschließlich um individuelle theologische Positionalität, sondern auch um die Positionierung von theologischen Fakultäten im Sinne einer akademischen Korporation. So macht Richard A. Lipsius Anfang der siebziger Jahre den Neukonfessionalismus für die in seinen Augen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmende Distanzierung der preußischen evangelischtheologischen Fakultäten von dem allgemeinen Wissenschaftsanspruch verantwortlich. Erst in jüngster Zeit – so Lipsius – strebe die Theologie aus ihrer Isolation heraus. Während um 1860 einzig die Jenaer Theologie „als geschlossene theologische Corporation ... das Banner der freien theologischen Wissenschaft hochhielt“, seien jetzt Gießen und Heidelberg hinzugekommen.47 Die Zeitgenossen erlebten die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine Abfolge tiefgreifender politischer und sozialer Wandlungen. An das wegweisende Ereignis der gescheiterten Revolution von 1848 schloss sich in den meisten Staaten eine retardierende Periode politischer Reaktion an, der dann eine erneute Belebung auf der politischen Ebene folgte, in die auch die Theologieprofessoren einbezogen waren. Klaus Ries führt in seiner Studie über das politische Professorentum der Universität Jena das politische Engagement der Jenaer Gelehrten (Friedrich Schiller, Gottlieb Hufeland, Johann Gottlieb Fichte, Heinrich Luden, Lorenz Oken und Jakob Friedrich Fried) im frühen 19. Jahrhundert vor Augen, die sich von Beginn an offen zum politischen Liberalismus bekannten und ihn an die studierende Jugend weiter vermittel-

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Einen Überblick über die verschiedenen Entwürfe der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts und deren unterschiedliche Gruppierungen bietet F. NÜSSEL, Theologiegeschichte. Die geschichtliche Realisierung des Themas der Theologie, in: Historiographie und Theologie, hg. v. W. KINZIG/V. LEPPIN/G. WARTENBERG, Leipzig 2004, 203–221. (ANON.) [R. A. LIPSIUS], Ein Stück Hinterlassenschaft des Herrn von Mühler, zur Erwägung für die Folgezeit, Berlin 1872, 3.

1. Herkunft und Ausprägung des Begriffs „Liberale Theologie“

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ten.48 Ries weist die Herausbildung eines politischen Professorentums an der Universität Jena zwischen der Großen Französischen Revolution seit 1789 und den Karlsbader Beschlüssen von 1819 nach, erweitert aber den zeitlichen Rahmen der Studie durch einen im letzten Kapitel vorgenommenen Ausblick auf die Jahrzehnte bis zur Jahrhundertmitte und darüber hinaus.49 Darin zeigt er auf, dass auch die Universitätstheologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts Öffentlichkeit und Politik als Handlungsfelder sahen und nutzten. Im Zusammenhang mit den Äußerungen der Theologen zu politischen Fragen lässt sich keine feste Zuordnung zwischen einer jeweils artikulierten theologischen und kirchenpolitischen Positionalität und der politischen Überzeugung nachweisen.50 Die Mehrzahl der führenden protestantischen Theologen des Nachmärz äußerte sich zu vielen Fragen des politischen Tagesgeschehens und zu langfristigen Tendenzen gesamtgesellschaftlicher Entwicklung. Als beredtes Beispiel dafür kann Otto Pfleiderers Festrede bei der akademischen Feier des Friedensfestes am 18. Juni 1871 in Jena gelten, in der er eine Gesellschaftsordnung für die neue nationale Konstellation in den Blick nahm, die man durch die erreichte Reichseinigung mit dem neuen Kaiserreich kommen sah.51 Zu den historischen Eigentümlichkeiten in der liberalen Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts kann der Versuch gezählt werden, das aufklärerische Erbe mit der Romantik, der politischen Restauration und der Reichsgründungsmentalität auszutarieren und darin eine protestantische Identität erkennbar zu machen. Diese Identität des Protestantismus wird in Erinnerung an die Reformation und in Übereinstimmung mit dem dominierenden Selbstverständnis des deutschen und europäischen Bürgertums im 19. Jahrhunderts darin gesehen, dass sie „wider jederlei Zwangskultur die Freiheit des religiösen Individuums vertritt“52. In der ersten Ausgabe des Protestantenblattes von 1866 werden als Gegner des wahren Protestantismus die Orthodoxie der Kir-

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K. RIES, Wort und Tat, Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 2007. Ebd., 455–483. Vgl. J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas. Rahmenbedingungen, Akteure und Wissenschaftsorganisation protestantischer Universitätstheologen in Tübingen, Jena, Erlangen und Berlin 1850–1870, Göttingen 2008, 254ff. O. PFLEIDERER, Festrede bei der akademischen Feier des Friedensfestes 18. Juni 1871 in der Collegienkirche zu Jena, Jena 1871. M. RADE, Art. Liberalismus III. Kirchlicher Liberalismus, in: ²RGG, Bd. III (1929), Sp. 1626–1629, hier: 1626.

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I. Einleitung

chenleitungen einerseits, und der aufkommende Naturalismus andererseits benannt.53 Das Aufkommen des theologischen Liberalismus ist eng verbunden mit dem seit 1863 aktiven und 1865 offiziell gegründeten Protestantenverein, der deutschlandweite Bedeutung hatte. „Auf dem Grunde des evangelischen Christentums bildet sich unter denjenigen deutschen Protestanten, welche eine Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung unserer Zeit anstreben, ein Verein, der den Namen Deutscher Protestantenverein führt.“54

Die Gründung des Protestantenvereins, in dem Theologen und Laien zusammen agierten, kann mit Jochen-Christoph Kaiser als „Beginn einer bewußten Politisierung des Protestantismus“ 55 gesehen werden. Richard Rothe (1799–1867), Mitbegründer und Senior des Protestantenvereins, formulierte als dessen Zielsetzung die „Versöhnung von Religion und Kultur“56. Die weltlich-kulturelle Entwicklung wird hier als theologische Aufgabe erkannt und die Bewältigung dieser Aufgabe für die christliche Theologie als die Chance ihres Überlebens angesehen. Werner Elert hat in seiner Analyse der Geschichte des Christentums und der Theologie der Zeit um 1870 eine „tiefe Diastase zwischen Christentum und allgemeiner Kultur“ attestiert, „die keineswegs das Ergebnis einer einseitigen Emanzipation der nichtchristlichen Kulturgrößen“ war, sondern auch „die Isolierung des Christentums in der Erweckungsbewegung und der sich anschließenden konfessionellen

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Vgl. PrBl 1 (1866), 4. Der allgemeine deutsche Protestantenverein in seinen Statuten, den Ansprachen seines engeren, weiterern und geschäftsführenden Ausschusses und den Thesen seiner Hauptversammlungen 1865-1888, 1. Mit der dem Verein nahestehenden Protestantischen Kirchenzeitung und den regelmäßig regional stattfindenden Protestantentagen, bildet sich eine Infrastruktur aus. Zum Protestantenverein vgl. W. HÖNING, Der Deutsche Protestantenverein, Berlin 1899; G. HÜBINGER, Nationale Manifestationen. Die Deutschen Protestantentage, in: Ders. (Hg.), Kulturprotestantismus und Polititk, Gütersloh 1993, 164–169; C. LEPP, Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne, Gütersloh 1996; W. NIGG, Geschichte des religiösen Liberalismus, 206–222; W. TRILLHAAS, Vom Schicksal des religiösen Liberalismus, in: ThBl 17 (1938), Sp. 203–207. Zur Rolle des Protestantenvereins für die liberale Theologie in Jena vgl. Kapitel II, 66f. J.-C. KAISER, Die Formierung des protestantischen Milieus, Gütersloh 1996, 277. R. ROTHE, Durch welche Mittel können die der Kirche entfremdeten Glieder hier wieder gewonnen werden? In: Gesammelte Vorträge und Abhandlungen,129–147. Zum programmatischen Charakter der Formel vgl. auch R. SEYDEL, Der deutsche Protestantenverein. Rede zur Eröffnung des Leipziger Protestantenvereins, gehalten am 1. November 1867, Leipzig 1867.

1. Herkunft und Ausprägung des Begriffs „Liberale Theologie“

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und biblizistischen Theologie“57 zur Ursache hatte. Ausgehend von dieser Diastase versucht die liberale Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert das Verhältnis von Christentum und Kultur jenseits der verhängnisvollen Alternative von vorbehaltloser Assimilation an die Kultur und asketischer Weltflucht neu zu bestimmen. Der Bonner Kirchenhistoriker Karl Sell (1845–1914) betont im Hinblick auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Theologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass sie sich „trotz vielfältigen Widerspruchs immer konsequenter ausgewachsen hat zu der psychologisch-historischen Wissenschaft von der christlichen Religion als einer geschichtlich gegebenen Größe des menschlichen Geisteslebens in der Gesamtheit ihrer kultischen, sozialen und politischen Gestaltungen, ihrer sittlichen, intellektuellen und künstlerischen Leistungen, ihrer umfassenden Kulturwirkungen im Leben unseres Geschlechts“ 58.

Theologen verschiedener Ausprägungen eines liberalen Protestantismus sahen eine zentrale Aufgabe darin, die bleibende „Kulturbedeutung des Christentums“59 zu analysieren, und die theologische Arbeit für einen intensiven interdisziplinären Austausch mit anderen Wissenschaften zu öffnen. Die Wurzeln für die Fragestellungen, mit denen sich liberale Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert befasst, liegen in der Vorgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Zu ihnen gehören die Versuche zur Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft, der Diskurs um den historischen Zugriff auf die heiligen Schriften und die damit in Verbindung stehende Unterscheidung des eigentlichen Wesens der Religion von den Formen ihrer Darstellung sowie die Frage nach der anthropologischen Rückbindung von Religion und Theologie. Manfred Jacobs erfasst und differenziert die Wurzeln der liberalen Theologie folgendermaßen: „Einheitlichkeit der Weltgeschichte (im Unterschied zur Heilsgeschichte); die Zuordnung von Glaube und Vernunft angesichts der Einheit der Wirklichkeit; die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion sowie von äußerer Kirchlichkeit und innerer Religiosität; die Historisierung der ‚heiligen‘ Schriften und die damit verbundene Unterscheidung des ‚Wesens‘ der Religion von der Positivität der christlich-kirchlichen Überlieferung; den Antidogmatismus und den Anspruch auf individuell-religiöse Glaubenserfahrung; den Theismus als Ausdruck des providentiellen und 57 58 59

W. ELERT, Der Kampf um das Christentum, 258f. K. SELL, Die Entwicklung, 6. M. RADE, Die Bedeutung der theologischen Fakultät für die heutige Kultur, in: Akademische Rundschau. Zeitschrift für das gesamte Hochschulwesen und die akademischen Berufsstände 1 (1913), 632–650, hier: 647.

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I. Einleitung

teleologischen Weltzusammenhangs; die christologische Reduktion auf Jesus als den Lehrer des Reiches Gottes, der Moral und Religiosität; die Kirche als religiös-sittliche Gemeinschaft von Individuen im Gegensatz zur verfassten, rechtlichen Institution; die Religiosität als anthropologische Struktur.“60

Der konsequent historische Zugang zu den biblischen Schriften führte zur Ausformung einer historisch-kritischen Exegese, die bei der Interpretation der Schrift zu unterscheiden lehrte zwischen der positiven Religion und dem Wesen der Religion wie zwischen Schale und Kern. Sie führte aber auch zu einer Neujustierung exegetischer Prinzipien sowie zur Ausdifferenzierung des Verhältnisses von Philosophie und Exegese.61 Die Kenntnis der historischen Relativität der biblischen Schriften, der Glaubensbekenntnisse und der Dogmen sowie ihre zeitbedingte theologische Deutung initiierten den Diskurs um die absolute Autorität geschichtlicher Zeugnisse und führten unvermeidbar zur Frage nach dem Verhältnis von historischer und systematischer Theologie. Adalbert Merx kennzeichnet die Herausforderung folgendermaßen: „Es hat sich mit der Entwicklung einer hermeneutisch richtigen Methode, der entsprechend die Theorie der Schriftbenutzung einer Umbildung hätte unterworfen werden müssen, die sie noch nicht erfahren hat, eine Kluft zwischen der historischen und systematischen Theologie aufgetan, die unter allen Umständen geschlossen werden muss und werden wird, obwohl sich die Konsequenzen, welche dieser Prozess für die Lehraufstellung nach sich ziehen wird, noch keineswegs übersehen lassen“.62

Damit in Verbindung stehen die von Positionalität geprägten Auseinandersetzungen um die Universitätstheologie zwischen Wissenschaftsfreiheit und kirchlichem Praxisbezug. Friedrich Wilhelm Graf hat darauf hingewiesen, dass seit den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts heftig geführte Diskurse über Begriff und Aufgabe der Theologie, über ihren Ort innerhalb der Universität sowie ihr Verhältnis zur Kirche und dem überlieferten kirchlichen Bekenntnis geführt werden.

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M. JACOBS, Art. Liberale Theologie, TRE 21, 48. Vgl. dazu L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche, Jena 1869, 778–781. A. MERX, Eine Rede vom Auslegen insbesondere des Alten Testaments, Halle 1879, 14. Vgl. dazu Kapitel Teil IV, 278ff. Zum Diskurs um die Verhältnisbestimmung von historischer und systematischer Theologie vgl. E. TROELTSCH, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1900), in: GS II, Tübingen ²1922, 729–753; W. PANNENBERG, Wissenschaftstheorie und Theologie (stw 676), Frankfurt a. M. 1987, 349–383.

1. Herkunft und Ausprägung des Begriffs „Liberale Theologie“

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„Die Liberalen verstanden sich als Repräsentanten freier wissenschaftlicher Forschung, traten für die Legitimität historisch-kritischer Schriftforschung ein und folgten mehr oder weniger strikt einer ‚historischen Methode‘. In dieser Öffnung der Theologie für den Historismus sahen die Konservativen nur methodischen Unsinn: Die radikale Historisierung theologischer Reflexion führe bloß dazu, alle tradierten Verbindlichkeiten geschichtlich zu relativieren und so den Geltungsanspruch der alten Glaubenswahrheiten aufzulösen. Die Konservativen setzten deshalb auf eine ‚dogmatische Methode‘, durch die eine übergeschichtlich allgemeine Verbindlichkeit des überlieferten kirchlichen Bekenntnisses erwiesen werden sollte.“63

Die Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft und die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie ist ein wesentlicher Ansatzpunkt der liberaler Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die damit verbundenen Leitfragen lauten: Inwieweit sind für die Theologiekonzeption religionsphilosophische Fragestellungen im Sinne einer Propädeutik aufzunehmen? Welche Ansätze zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Theologie in Anlehnung an den Neukantianismus sind dem Gegenstand der Theologie angemessen? Wie steht es um die Möglichkeit einer metaphysischen Grundlegung der Theologie Hegelscher Provinienz? 64 In Bezug auf die religionsphilosophische Verankerung der Theologie wird die Absicht erkennbar, über die alternativen Schulrichtungen in der Nachfolge von Schleiermacher und Hegel hinauszugehen. Einerseits wird die Spur verfolgt, die gegensätzlichen kategorialen Grundannahmen Schleiermachers und Hegels in Bezug auf den Religionsbegriff65 miteinander zu verbinden. Dabei wird Schleiermachers basale Überzeugung im Unterschied zu Hegels Religionstheorie darin gesehen, dass man die in der Religion gemeinte Synthese nicht über den Begriff Gottes rekonstruieren und mit der synthetischen Kraft des Begriffs selbst identifizieren kann. Es muss dagegen mit einem

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F. W. GRAF, Protestantische Theologie, 69ff. Zur Diskussion um die Universitätstheologie zwischen Wissenschaftsfreiheit und kirchlichem Praxisbezug vgl. J. WISCHMEYER, Theologiae Fakultas, 281ff. Religionsphilosophie ist als vergleichsweise junge philosophische Disziplin nach dem Zusammenbruch der theologia naturalis und der metaphysischen Theologie im 18. Jahrhundert im Gefolge KANTS philosophisch an deren Stelle getreten. Vgl. dazu W. JAESCHKE, Art. Religionsphilosophie, in: HWP 8, 748–763; H. ROSENAU, Art. Christliche Religionsphilosophie, TRE 28, 749–761. G. F. W. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1, hg. v. W. JAESCHKE (PhB 459), Hamburg 1993; Teil 3, hg. v. W. JAESCHKE (PhB 461), Hamburg 1995. Vgl. dazu J. DIERKEN, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus, 1996; Ders., Zwischen Innen und Außen, Relativem und Absolutem. Dimensionen des Religionsbegriffs, in: KuD 49 (2003), 180–209.

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I. Einleitung

Versetztsein in eine nichthergestellte, übersynthetische Einheit gerechnet werden, von der lediglich eine solche Darstellung gegeben werden kann, die von dieser Einheit zehrt und die stets auf sie zurückverweist.66 Neben diesem Versuch, gegensätzliche kategoriale Annahmen miteinander zu vermitteln, wird in der Ritschl-Schule das Programm einer biblisch-religiösen Konstruktion der Sittlichkeit entworfen, um auf diesem Grund die gegenläufigen religionstheoretischen Optionen der klassischen Moderne im Gefolge von Schleiermacher und Hegel miteinander zu verbinden.67 Als Initiationspunkt für die liberale Theologie muss auch die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit theologischer Theoriebildung in historischer und prinzipieller Hinsicht angesehen werden.68 Dabei wird eine Form subjektorientierten Denkens als Grundzug von Theologie erkennbar, die mit neuzeitlichen philosophischen Ansätzen subjektorientierten Denkens konvergiert. Die neuzeitliche Philosophie, sofern sie Subjekt und Subjektivität thematisiert, kennzeichnet verschiedene Argumentationsweisen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert werden in der liberalen Theologie vornehmlich der Systemgedanke Hegels mit dem Kernsatz vom Wahren als dem Ganzen, welches Subjektives und Objektives in sich begreift, ohne entweder die Freiheit oder die Wahrheit in einem einseitigen Verhältnis aufzuheben, und die transzendentale Logik Kants, die um den Aufweis der aller Kenntnis vorausliegenden subjektiven Formen von Erkenntnis überhaupt bemüht war, rezipiert.69 Damit geht einerseits eine Abwendung von den klassischen Theologumena objektiver Heilsereignisse und deren Bedingungen und die Hinkehr zu jener Subjektivität einher, die in der reformatorischen Rechtfertigungslehre ihre frühe Ausprägung erfuhr. Andererseits erscheint dort, wo die Subjektivität grundlegende Bedeutung für die Konstruktion der Theologie erhält, diese nicht nur selber im Modus von Positionalität, sondern auch in der Form eines Gegenübers zur ins66

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F. SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. G. MECKENSTOCK, Berlin/New York 1999; Ders., Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1833), hg. v. A. ARNDT (PhB 387), Hamburg 1988; Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt (²1830), hg. v. M. REDEKER, Berlin 71960. Vgl. dazu D. KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion, Tübingen 2005, 89–106; W. PANNENBERG, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 143ff. Vgl. dazu E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 35-42.80ff. „Das notwendige Streben nach fester Gründung auf dem eigenen Boden … gaben ihr das entsprechende Gepräge.“ H. STEPHAN/M. SCHMIDT, Geschichte der evangelischen Theologie, 260. Vgl. dazu K.–F. GEYER, Philosophie und Theologie, in: NZSTh 18 (1976), 1–21.

2. Liberale Theologie in Jena

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titutionalisierten Religion und zur kirchlichen Lehre, das theologisch verantwortet werden muss.70 Letztlich hat Friedrich Schleiermacher die für das 19. Jahrhundert und insbesondere die liberale Theologie maßgebliche Problemstellung erarbeitet, indem er den christlichen Glauben in den Horizont eines in der Transzendentalphilosophie gewonnenen Wirklichkeitsverständnisses als ursprünglicher Bewusstseins- und Freiheitswirklichkeit hineinstellt. Damit hat er auch in der Theologie das Verstehen von Wirklichkeit aus der Alternative von vorgängiger autoritärer Anerkennung und nachträglicher rationaler Bearbeitung befreit, und zwar dadurch, dass er die fides qua des christlichen Glaubens auf ihren Ort im Freiheitsbewusstsein hin befragt.

2. Liberale Theologie in Jena 2.1 Vorbemerkungen zu einer fakultätsgeschichtlichen Standortbestimmung71 1829 wurde Karl August von Hase (1800–1890) als außerordentlicher Professor der Theologie nach Jena berufen und 1836 zum ordentlichen Theologieprofessor ernannt.72 In diesem Jahr gehörten der Fakultät als Ordinarien Friedrich Otto Baumgarten-Crusius (1788–1843), der Jenaer Superintendent Johann Karl Friedrich Schwarz (1802–1870) sowie der 70

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Vgl. D. RÖSSLER, Positionelle und kritische Theologie, in: ZThK 67 (1970), 215–231; T. RENDTORFF, Theologie in der Moderne. Über Religion im Prozeß der Aufklärung, Gütersloh 1991, 9–25. Vgl. zu den folgenden Ausführungen insbesondere: S. GERBER, Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation im 19. Jahrhundert. Der Jenaer Pädagoge und Universitätskurator Moritz Seebeck, Köln 2004; M. STEINMETZ (Hg.), Geschichte der Universität Jena 1548/58–1958, Bd. I: Darstellung, Jena 1958, 424ff.491ff.; K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 280–347; B. JAEGER, Nationalliberale Geschichtstheologie. Karl August von Hase (1800–1890), in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. I/2, 118–145; H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil I; J. WISCHMEYER, „Das Geschichtliche auszuschließen sei doch gegen das christl. Gefühl“ – Karl von Hases Jenaer Seminar 1850–1883 als Tradierungsort liberaler Bürgertheologie, Protokollbücher des theologischen Seminars, in: ZNThG 13 (2006), 227–240; Ders., Edition: Protokollbücher des theologischen Seminars, dogmatisch-historische Klasse, der Jenaer theologischen Fakultät unter der Leitung Karl von Hases (1850– 1883), Erster Teil: SS 1850, in: ZNThG 13 (2006), 241–250; Zweiter Teil: WS 1850/51– SS 1866, in: ZNThG 14 (2007), 101–144; Dritter Teil: WS 1866/67–SS 1883, in: ZNThG 15 (2008), 260–311; Ders., Theologiae Facultas. Vgl. hier insbesondere die Ausführungen zur ‚Positionalität‘ 277–296.306–316. Vgl. B. JAEGER, Nationalliberale Geschichtstheologie, 118–145.

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I. Einleitung

Orientalist und Alttestamentler Andreas Gottlieb Hoffmann (1796– 1864) an. Nachdem 1844 der für Dogmatik und neutestamentliche Exegese zuständige Ordinarius Leopold Immanuel Rückert (1797–1871) als Nachfolger des verstorbenen Baumgarten-Crusius berufen wurde, blieb die personelle Zusammensetzung der Fakultät zwanzig Jahre gleich. Karl Hase erlangte innerhalb der Fakultät eine führende Stellung und wurde zur dominierenden Figur des Lehrkörpers. In seinem Selbstbild sieht er sich als Dogmatiker ebenso wie als Kirchenhistoriker, zusätzlich gibt es von ihm einige Beiträge zur neutestamentlichen Wissenschaft.73 Während seiner gesamten Ordinarienzeit liest Hase neben der Kirchengeschichte auch Dogmatik. Seine dogmatischen Überblickswerke, der „Hutterus redivivus“ und die „Evangelischprotestantische Dogmatik“ begründeten seinen Ruf, ein Dogmatiker der Generation nach Schleiermacher zu sein. 74 Zeitgemäße protestantische Dogmatik ist für Hase auch Protestantismustheorie, worin sich seine spätaufklärerischen Wurzeln spiegeln. Er steht für ein historisch reflektiertes, religionstheoretisch begründetes und religionsphilosophisch anschlussfähiges Protestantismuskonzept.75 Insbesondere die Protokollbücher des dogmatisch-historischen Seminars unter der Leitung von Hase, erweisen sich als „Tradierungsort liberaler Bürgertheologie“76, an dem eine bestimmte theologische und kirchliche Haltung eingeübt wurde. Damit waren eine enge Verflechtung von theologischem und kirchlichem Liberalismus und eine gegenüber neueren geisteswissenschaftlichen und zeithistorischen Strömungen offene Mentalitätsprägung geben. 29mal hatte Hase bis 1883 das Amt des Dekans inne. Nach Hoffmanns Tod wurde er mit 64 Jahren Senior der Fakultät und es begann – in der Unterscheidung Karl Heussis – die so genannte zweite Hälfte der Ära Hase.77 In dieser Phase kam es 1870 zur Berufung von Otto Pfleide73 74

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Vgl. dazu J. WISCHMEYER, Karl von Hases Jenaer Seminar, 228f. HASE würdigt F. SCHLEIERMACHER in seinem „Sendschreiben an Lücke“ in ambivalenter Weise. Vgl. dazu B. JAEGER, Karl von Hase als Dogmatiker, Gütersloh 1990, 22f. So distanzierte er sich in den dreißiger Jahren von einem antimetaphysischen Rationalismus, da dieser „die historische Bedeutung des Christenthums verkenne, die Innigkeit des religiösen Lebens verflache und den philosophischen Ernst der Wissenschaft vermeide“. K. HASE, Der neue Hutterus und seine Gegner, in: Theologische Streit- und Zeitschriften, Bd. 2, 1892, 58. Vgl. auch K. NOWAK, Karl von Hase – liberales Christentum zwischen Jena und Rom, in: DERS., Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär, hg. v. J. CHR. KAISER, Stuttgart 2002, 80–100. J. WISCHMEYER, Karl von Hases Jenaer Seminar, 238f. K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 280. Die liberale Mentalität und Positionalität der Jenaer Theologischen Fakultät in dem Zeitraum zwischen 1850

2. Liberale Theologie in Jena

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rer (1839–1908) als Professor für Praktische Theologie, mit den zusätzlichen Lehraufträgen in den Bereichen Systematische Theologie und Neues Testament, und 1871 zur Berufung von Richard Adelbert Lipsius (1830–1892) als Professor für neutestamentliche Exegese und Dogmatik, die als bedeutendste Vertreter einer eigen geformten Jenaer Theologie liberaler Prägung im ausgehenden 19. Jahrhundert zu gelten haben.78 Insbesondere Lipsius hat der Theologischen Fakultät in den siebziger und achtziger Jahren die Prägung gegeben, da er – nach seinen Professuren in Wien und Kiel – nun bis zu seinem Tod in Jena lehrte, während Pfleiderer bereits 1875 einem Ruf nach Berlin folgte. Neben Lipsius und Pfleiderer wurde das liberale Profil der Theologischen Fakultät in Jena von dem seit 1850 als außerordentlicher Professor mit den Forschungs- und Lehrgebieten Patristik, Dogmengeschichte, jüdische Apokalyptik und Neues Testament wirkenden Adolf Hilgendfeld (1823–1907) geprägt. Hilgenfeld gab seit 1858 die „Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie“ heraus, die jährlich in vier Heften erschien und die insbesondere im Ausland lange Zeit als Organ historisch-kritischer Jenaer Theologie Beachtung fand.79 Mit der Herausgabe der Zeitschrift wollte Hilgenfeld einerseits Baurs Tübinger ‚Theologische Jahrbücher‘ weitergeführen, andererseits sollte aber auch eine klar definierte theologische ‚Richtung‘ von Jena aus verbreitet werden. „(Sie soll) das Princip der Wissenschaftlichkeit in der Theologie vertreten, aber im Einklang mit den Principien des Christenthums und des Protestantismus und mit möglichster Berücksichtigung der praktisch-kirchlichen Zeitfragen in ihrer Beziehung zur wissenschaftlichen Theologie“80.

Die Prinzipien der Exegese und die Grundsätze der Hermeneutik in der liberalen Theologie in Jena sollen insbesondere im Bereich der alttestamentlichen Exegese erfasst werden. Dazu werden drei Alttesta-

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und 1870 hat J. WISCHMEYER erforscht und dargestellt. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass kaum eine andere deutsche Universität sich im 19. Jahrhundert in ihrer ideellen Grundausrichtung derart geschlossen positionierte wie die Jenaer. Vgl. Ders., Theologiae Facultas, 277ff.306ff. Einen Unterschied in der Ausprägung des theologischen Liberalismus zwischen HASE und seinen jüngeren liberalen Kollegen PFLEIDERER und LIPSIUS hebt auch J. WISCHMEYER hevor, wenn er formuliert, dass die „Mentalitätsschranke gegenüber dem neukonfessioalistischen Lager und dem konservativen ‚positiven‘ bzw. lutherischen Mehrheitsprotestantismus“ bei HASE „sicher nicht so unüberwindlich“ wie bei PFLEIDERER und LIPSIUS war. Vgl. J. WISCHMEYER, Karl von Hases Jenaer Semiar, 239. K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 277; H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil I, 135f.176–179. Etwa die Hälfte der abgesetzten Exemplare ging ins Ausland – die Mehrzahl nach Holland, gefolgt von der Schweiz, England und Frankreich. A. HILGENFELD, Ankündingungen, beigebunden in: ZwTh 1 (1858), 1.

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I. Einleitung

mentler in die Untersuchung einbezogen, die an der Theologischen Fakultät in den späten sechziger und siebziger Jahren lehrten und forschten. Von 1866 bis 1872 war Ludwig Diestel (1825–1879) Professor für alttestamentliche Exegese in Jena. In dieser Zeit veröffentlichte er das klassische theologiegeschichtliche Werk zum Alten Testament mit dem Titel „Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche“ und leistete einen wichtigen Beitrag zur Semler-Rezeption bzw. SemlerForschung.81 Als sein Nachfolger wurde 1872 Eberhard Schrader (1836– 1908) berufen, der zuvor den alttestamentlichen Lehrstuhl in Gießen inne hatte und als Begründer der Assyriologie gilt.82 Er begann seine Jenaer Lehrtätigkeit mit dem Sommersemester im April 1873, erhielt allerdings bereits Ende April 1875 einen Ruf als Professor für semitische Sprachen und als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften nach Berlin. Mit dem Wechsel nach Berlin vollzog er auch den Wechsel von der theologischen in die philosophische Fakultät. Während seiner Lehrtätigkeit in Jena initiierte er nicht nur weitere Schritte zur disziplinären Verselbstständigung der Assyriologie in Deutschland bzw. zum Ausbau der Assyriologie als einer neuen religions- und kulturwissenschaftlichen Disziplin, sondern übte auch tief greifenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der alttestamentlichen Wissenschaft aus.83 Bereits 1865 hatte sich Adalbert Merx (1838–1909) in Jena für alttestamentliche Exegese habilitiert, angeregt und betreut von Adolf Hilgenfeld. Merx wirkte von 1865 bis 1869 als Privatdozent für Altes Testament in Jena, bevor er 1869 einen Ruf in das Ordinariat für orientalische Sprachen in Tübingen annahm, und danach 1873 als Nachfolger Schraders, nach dessen Wechsel nach Jena, Ordinarius für Altes Testament in Gießen wurde. Merx begann seine akademische Tätigkeit in Jena im Sommersemester 1865 mit einer Vorlesung zur Prophetie des Joel. Diese Vorlesung veröffentlichte er 1879 und legte damit seine exe81 82

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L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testaments; Ders., Zur Würdigung Semlers, in: JDTh 12 (1867), 471–498. E. SCHRADER hatte 1869 in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft einen Aufsatz unter dem Thema „Die Basis der Entzifferung der assyrischbabylonischen Keilinschriften“ veröffentlicht. Dieser methodologisch Bahn brechende Aufsatz gilt als einer der klassischen Texte der frühen deutschen Assyriologie. DERS., Die Basis der Entzifferung der assyrisch-babylonischen Keilinschriften, in: ZDMG 23 (1869), 337–374. Im Laufe des Sommers 1873 führte SCHRADER den jungen Theologiestudenten F. DELITZSCH (1855–1922) in die Keilschrift ein. Er bereitet mit seiner religionsgeschichtlichen Exegese den späteren Babel-Bibel-Streit vor. Vgl. dazu F. DELITZSCH, Babel und Bibel, 1902, und die Ausführungen in Kapitel II, 60ff., und in Kapitel IV, 295ff.

2. Liberale Theologie in Jena

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getischen Prinzipien und eine Hermeneutik des Alten Testaments dar, die er explizit unter Bezugnahme auf Ludwig Diestel, Adolf Hilgenfeld und Karl Siegfried entwickelt hatte.84 Karl Adolf Siegfried (1830–1903), seit 1875 der Nachfolger Eberhard Schraders als Professor für alttestamentliche Exegese in Jena, wird mit seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit sowie seinen Veröffentlichungen nicht explizit Gegenstand dieser Untersuchung sein. Da er aber im Anschluss an Eberhard Schrader bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts Alttestamentler in Jena war, werden seine Prinzipien der Exegese und Hermeneutik unter Rückbezug auf seine Hauptwerke im Verlauf der Arbeit einbezogen.85 In die Phase der liberalen Theologie in Jena gehört die Gründung der „Jahrbücher für protestantische Theologie“, die besonders Richard A. Lipsius schon länger als Organ für die „spezifisch Jenaische Theologie“86 geplant hatte. Von 1875 bis 1892 gaben Lipsius, Pfleiderer, Schrader und Hase die Jahrbücher heraus mit der Zielsetzung, das „Gesamtgebiet der theologischen Wissenschaften“ zu bearbeiten und „dem Fachmanne wie dem praktischen Geistlichen Gelegenheit (zu) bieten, den Stand der wissenschaftlichen Arbeit auf den einzelnen Gebieten der Theologie stetig verfolgen und den inneren Zusammenhang der verschiedenen theologischen Arbeitsfelder ... im Auge behalten zu können“87.

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A. MERX, Die Prophetie des Joel. Vgl. darin die Widmung an die theologische Fakultät zu Jena im Vorwort. Vgl. dazu Kapitel II, 70f., und Kapitel IV, 305ff., insbesondere auch Anm. 364. Zu den Werken von K. A. SIEGFRIED vgl. Ders., Spinoza als Kritiker und Ausleger des Alten Testaments. Ein Beitrag zur Geschichte der alttestamentlichen Kritik und Exegese, Berlin 1867; Ders., Rezension: Adalbert Merx, Das Gedicht von Hiob, in: ZwTh 15 (1872), 431–433; Ders., Philo von Alexandria als Ausleger des Alten Testaments, Jena 1875 (Neudruck Aalen 1970); Ders., Rezension: August Kayser, Das vorexilische Buch der Urgeschichte Israels und seine Erweiterungen. Ein Beitrag zur Pentateuchkritik, 1874, in: ZwTh 18 (1875), 585–587; Ders., Die Aufgabe der Geschichte der alttestamentlichen Auslegung in der Gegenwart. Akademische Antrittsrede, Jena 1876; Ders., Die theologische und historische Betrachtungsweise des A.T’s. (= Alten Testaments), in: Zeitschrift für praktische Theologie 12 (1890), 97–120. Zur Person, zum Werk und zur wissenschafts- und theologiegeschichtlichen Verortung Ort von K. A. SIEGFRIED vgl. B. BAENTSCH, Zum Gedächtnis Karl Siegfried‘s, in: ZwTh 46 (1903), 580–589; F. W. GRAF, Art., Siegfried, Karl Adolf, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp. 173–232. Vgl. dazu H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil I, 1. H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil I, 177. Immer wieder haben prominente Mitarbeiter der Zeitschrift für wissenschaftlichen Theologie wie PFLEIDERER, BIEDERMANN und LIPSIUS HILGENFELD gemahnt, sich in der Zeitschrift nicht zu einseitig den Fragen der historisch-kritischen Bibelwissenschaft zu widmen und mehr religionsphilosophisch-dogmatische Beiträge aufzunehmen. So schreibt PFLEIDERER in einem Brief

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I. Einleitung

Bereits 1874 hatten Jenaer Professoren verschiedener Fakultäten ein neues Rezensionsorgan gegründet, die ‚Jenaer Literatur-Zeitung‘. Schrader übernahm das Amt des Redakteurs der Abteilung für theologische Literatur. Indem er befreundeten Theologen jeweils bestimmte Neuerscheinungen zur Rezension empfahl und selbst einen Großteil der alttestamentlichen Rezensionen schrieb, wurde auch über dieses Organ theologiepolitischer Einfluss ausgeübt und Jenaer Theologie verbreitet.88 Die Jenaer Theologie liberaler Prägung kann nicht allein im Kontext der Fakultätsgeschichte erfasst, sondern muss auch in ihrem Bezug zur Universitätsgeschichte, zum Wissenschaftsverständnis und zur Wissenschaftsorganisation im ausgehenden 19. Jahrhundert verortet werden.89 Die theologisch-positionellen Auseinandersetzungen sind eingebunden in eine zunehmende institutionelle Wissenschaftsdifferenzierung und werden mitbestimmt durch den wissenschaftspolitischen Zugriff bzw. die politische Einflussnahme des Staates auf die Stellenbesetzungen in den verschiedenen Fakultäten. So weist Stefan Gerber in seiner Biografie des Jenaer Pädagogen und Universitätskurators Moritz Seebeck (1805–1884) nach, dass es zwischen 1851 und 1877 kaum eine Personalentscheidung an der Jenaer Universität bzw. den einzelnen Fakultäten gab, die nicht über den Schreibtisch des Kurators gegangen war.90 Marita Baumgarten zeigt in ihrer Studie zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler, dass die Laufbahn der Universitätstheologen im 19. Jahrhundert zunehmend reguliert und professionalisiert wurde.91 Johannes Wischmeyer arbeitet die soziohistorischen Faktoren und institutionellen Bedingungen für die Laufbahn der Universitätstheologen von der Mitte des 19. Jahrhunderts als Bezugsrahmen für die zeitprägenden theologisch-positionellen Ausein-

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an HILGENFELD vom 14. Juli 1869: „Dürfte ich bei dieser speciellen Gelegenheit einen allgemeinen Wunsch Ihnen ausdrücken, sowäre es der, dass Sie die Spalten ihrer Zeitschrift, der einzigen, die für wirklich wissenschaftliche Theologie zugänglich ist, nicht bloss (oder fast bloss) Gegenständen der historischen und literarischen Kritik, sondern auch solchen der systematischen Theologie und Religionsphilosophie öffneten.“ Veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 313. In einem Brief an L. DIESTEL vom 26. März 1874 schreibt LIPSIUS: „Mit unserer Literaturzeitung, deren theologischen Teil Schrader redigirt, bin ich recht wohl zufrieden. Die Theologie hat jedenfalls der des Centralblatts den Rang abgelaufen…“. Nachlass L. DIESTEL, Universitäts-Bibliothek Tübingen. Vgl. dazu insbesondere M. BAUMGARTEN, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert; S. GERBER, Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation; J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas. S. GERBER, Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation, 434–524. M. BAUMGARTEN, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert.

2. Liberale Theologie in Jena

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andersetzungen, die auch um den Wissenschaftscharakter des Fachs geführt wurden, heraus.92 Die spezifische Gestalt der Jenaer Theologie liberaler Prägung ist auch auf dem Hintergrund der allgemeinen Wissenschaftskonzeption des ausgehenden 19. Jahrhunderts auszumachen. Diese spiegelt sich an der Universität in Jena beispielhaft in der Auseinandersetzung um eine mögliche Berufung des Berliner Nationalökonomen und Philosophen Karl Eugen Dühring (1833–1921) 1872. In dem Streit zwischen Philosophischer Fakultät und Senat, in den auch die Theologische Fakultät durch ihren Vertreter Richard A. Lipsius verwickelt war, ging es unter anderem auch um die grundlegende Frage nach einer materialistischen Ausrichtung der Philosophie und der Wissenschaft insgesamt.93 Die Formierung der liberalen Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert ist nicht zuletzt mitbedingt durch die interdisziplinäre Forschungs- und Lehrtätigkeit der Professoren, und hängt unmittelbar zusammen mit der Wissenschaftsorganisation in der Ausdifferenzierung des Fächerkanons.94 Obgleich in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits ein weitgehender Konsens über die Einzeldisziplinen vorhanden war, die in den Bereich der protestantischen Theologie fielen, verbanden sich diese Disziplinen meistens noch nicht fest und ausschließlich mit den Lehrstühlen bzw. Ordinarien an den jeweiligen Theologischen Fakultäten.95 In Jena wurde erst am 1. Oktober 1890 das System der fünf Nominalprofessuren etabliert. Um 1870 hatte man lediglich vier Ordinarien96, einen Alttestamentler (Ludwig Diestel), einen Neu92 93

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J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas. So erwartete Beispielsweise der Zoologe E. HAECKEL (1834–1919), der sich die Verbreitung der der Darwinschen Evolutionstheorie in Deutschland zur Aufgabe gemacht, 1868 in seiner populären „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ die mechanistische Entwicklung des „von selbst“ verstandenen Lebens von den kleinsten Einheiten bis zum Menschen als gesetzmäßig nachgezeichnet hatte, von der Berufung K. E. DÜHRINGS eine stärkere philosophische Unterstützung für seine monistischmaterialistischen Theoreme. Vgl. dazu J. HIRSCHBERGER, Geschichte der Philosophie, Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart, 141991, 489–492. Vgl. auch die Darstellung der Auseinandersetzung um die Berufung von K. E. DÜHRING in Kapitel II, 38. K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 335f. Dazu insbesondere W. RÜEGG, Theologie und Geisteswissenschaften, in: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 3, 327–377, insbesondere: 335ff. Vgl. auch J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas, 29–40. In dem Antrag, zur Einrichtung einer fünften Professur, den die Fakultät 1890 stellt, wird darauf hingewiesen, dass „in allen theologischen Fakultäten deutscher Universitäten ... mindestens 5 ordentliche Professoren je einer für eines der fünf Hauptfächer der theologischen Wissenschaft“ vorhanden ist und dass in Jena mit seinen nur vier Ordinarien R. A. LIPSIUS sowohl die Systematische Theologie als auch die neutestamentliche Exegese vertrete. UA Jena, Bestand J, Nr. 117, 61–62, hier: 61.

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I. Einleitung

testamentler und Dogmatiker (Richard A. Lipsius), einen Kirchengeschichtler und Dogmatiker (Karl Hase) und einen Praktischen Theologen (Otto Pfleiderer), der zudem systematisch-theologische und neutestamentliche Lehrveranstaltungen durchzuführen hatte. Die ordentlichen und eigenständigen Nominalprofessuren waren erst vollständig eingerichtet, als Adolf Hilgenfeld am 28. August 1890 die Ernennung zum Ordinarius für Neues Testament erhielt, und Richard A. Lipsius, der bis dahin die Systematische Theologie und die neutestamentliche Exegese vertrat, als Fachgebiet die Systematische Theologie behielt.

2.2 Zum Theologieverständnis und zur Exegese – Anlage und Ziel der Untersuchung Ausgangspunkt der vorliegenden Studie ist die von Karl Heussi festgestellte Zäsur in der Fakultätsgeschichte zur Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts und die damit verbundene These, dass man in Bezug auf den folgenden Zeitraum von 1865 bis 1895 eine eigen geprägte liberale Theologie in Jena ausmachen kann. Der erste Zugriff auf diese spezifische Jenaer liberale Theologie erfolgt in historischer Perspektive, so dass im zweiten Kapitel der Arbeit die Ausgangslage an der Theologischen Fakultät in Jena dargestellt wird. Nach einem Überblick zu Vita, Werk und theologiegeschichtlicher Verortung der in die Untersuchung einbezogenen Theologen, wird nach ihrer Vernetzung und Interaktion gefragt bzw. untersucht, ob man von der Vernetzung einer theologischen Richtung und einer akademischen Korporation sprechen kann. Zudem wird die ausgeprägte interdisziplinäre Forschungs- und Lehrtätigkeit der Beteiligten und das darin sich spiegelnde Verständnis von Theologie als Wissenschaft erfasst und erörtert. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Herausbildung der fünf Nominalprofessuren in Jena werden schließlich Aspekte zur Wissenschaftsorganisation eingeblendet mit der Frage nach der Einheit der Theologie in der Vielfalt ihrer Disziplinen. Die von Karl Heussi vorgenommene knappe Präzisierung der eigen geprägten liberalen Theologie in Jena als „entschieden historischkritisch und philosophisch orientiert“97 wirft die Frage nach dem Theologieverständnis, insbesondere dem Verhältnis von Theologie und Philosophie, auf und verlangt eine Sichtung der exegetischen Prinzipien und hermeneutischen Grundlagen der liberalen Jenaer Theologie. Die97

K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 281.

2. Liberale Theologie in Jena

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sen Fragen soll im Rahmen der Arbeit nachgegangen werden, dass die spezifische Gestalt liberaler Theologie in Jena herausgearbeitet, dargestellt und ihre theologiegeschichtliche und wissenschaftstheoretische Verankerung und Verortung aufgezeigt wird. Im dritten Kapitel geht es dabei zunächst um die Grundlagen und die geistesgeschichtliche Verortung des Theologieverständnisses von Richard A. Lipsius, Otto Pfleiderer und Adolf Hilgenfeld. Im Vordergrund stehen die Suche nach Konvergenzlinien und eine geistes- bzw. theologiegeschichtliche Einordnung der Jenaer Positionen in Bezug auf die in der Einleitung skizzierten Wurzeln und Initiationspunkte liberaler Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert. In diesem systematischtheologischen Teil der Arbeit werden die Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie, die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie sowie die anthropologische Rückbindung der Theologie thematisiert. Daran schließt sich mit dem vierten Kapitel die Erfassung und Darstellung der exegetischen Prinzipien und der Grundlagen der Hermeneutik an. Bei den Einzeldarstellungen zu Richard A. Lipsius, Otto Pfleiderer und Adolf Hilgenfeld steht die neutestamentliche Forschungsgeschichte im Mittelpunkt. Bei Ludwig Diestel, Adalbert Merx und Eberhard Schrader – die Ansätze von Karl Siegfried, dem Nachfolger Schraders, werden im Zusammenhang mit der Darstellung der Positionen von Merx und Schrader erörtert – geht es um die Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments. Neben der wissenschafts- bzw. forschungsgeschichtlichen Einordnung der jeweiligen Positionen der Neu- und Alttestamentler geht es auch in diesem Teil der Arbeit um erkennbar werdende Konvergenzlinien, die die Gestalt einer spezifischen Jenaer Theologie liberaler Prägung sichtbar machen. Im fünften und letzten Kapitel wird eine Zusammenschau der Einzelteile und Ergebnisse vollzogen. Die Gestalt der liberalen Theologie in Jena im ausgehenden 19. Jahrhundert wird in ihrer inneren Logik dargestellt und ihre theologiegeschichtliche und wissenschaftstheoretische Verortung in Grundzügen skizziert. Damit soll begründet werden, dass man von der liberalen Jenaer Theologie als einer eigenständigen theologiegeschichtlichen Richtung sprechen kann. Die Untersuchung will somit die theologische Eigenart, die Legitimität und die Grenzen der liberalen Theologie in Jena aufzeigen, und damit ihren Beitrag zur Erforschung der liberalen Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert leisten. Abschließend wird in Auseinandersetzung mit der These HansJoachim Birkners, dass die gegenwärtige protestantische Theologie in der liberalen Theologie des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhun-

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I. Einleitung

derts einen Teil ihrer Herkunftsgeschichte erkennen muss98, erörtert, inwiefern die liberale Jenaer Theologie einerseits als historische Etappe der Theologiegeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts anzusehen ist, andererseits aber auch andauernde Sachfragen der Theologie bearbeitet. Damit wird die Frage in den Blick gerückt, welchen Beitrag die liberale Jenaer Theologie zum heutigen Diskurs um die theologische Relevanz philosophischer, historischer und kulturgeschichtlicher Ansätze zum Theologieverständnis und zur Exegese sowie um die Funktion und Aufgabe von Theologie zu leisten vermag.

3. Aspekte zur gegenwärtigen Debatte um die liberale Theologie Die Beschäftigung mit der liberalen Theologie ist in historischer und in systematisch-theologischer Perspektive im ausgehenden 20. Jahrhundert und frühen 21. Jahrhundert vermehrt aufgenommen worden.99 Die Leitfragen der Forschung zielen auf theologiegeschichtliche Genauigkeit und sind von der Einsicht bestimmt, dass sich die Theologie zum Ende des 20. Jahrhunderts mit Fragestellungen konfrontiert sieht, die schon in der liberalen Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts virulent waren, und deren Beantwortung heute nicht allein aus dem Fundus der dialektischen Theologie vollzogen werden kann.100 Dazu gehört die Frage, wie angesichts der historischen Bedingtheit der Ausdrucksgestalten des Christentums die Wahrheit des christlichen Glaubens so auszusagen ist, dass sie ihre historisch relativen Äußerungsformen übergreift und die Universalität der christlichen Heilsbotschaft 98 99

Vgl. H.–J. BIRKNER, „Liberale Theologie“, 182f. Vgl. J. LAUSTER, Liberale Theologie. Eine Ermunterung, in: NZSTh 49 (2007), 291– 307; F. COURTH, Das Wesen des Christentums; F. W. GRAF (Hg.), Liberale Theologie. Eine Ortsbestimmung (Troetsch-Studien, Bd. 7), Gütersloh 1996; F. NÜSSEL, Theologie als Kulturwissenschaft? In: ThLZ 130 (2005), 1153–1168; H. WAGENHAMMER, Das Wesen des Christentums. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, Mainz 1973. Vor allem W. HERRMANN und E. TROELTSCH sind wieder in den Vordergrund des Interesses gerückt. Vgl. dazu T. RENDTORFF, Wenn Kontroversen alt werden, stellen sich ihre Fragen neu, in: Liberale Theologie, 11–15. 100 Die Unausweichlichkeit der Aufnahme dieser Fragestellungen, werden von dem amerikanischen Systematiker G. D. KAUFMANN beschrieben: „The great critical questions posed by liberalism and humanism about cultural relativity, the relation of Christianity to the other worl religions, >mythological< versus >scientific< thinking and so forth – questions that wer more less ignored or overlooked during the neoorthodox-period – have come into view once again and are demanding attention”. Ders., God the Problem, ²1973, hier: 4.

3. Aspekte zur gegenwärtigen Debatte

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nicht der Partikularität eines bestimmten kulturellen Kontextes preisgegeben wird. Man kann die Polarität zwischen dem nicht darstellbaren Wahrheitsgrund und seinen in der Zeit der Geschichte unabschließbaren Gestaltungen als ein konstantes Motiv liberaler Theologie bis in die Gegenwart hinein verstehen.101 Auch in der Debatte um die theologische Interpretation der Religion und die christliche Theologie als eine Kulturwissenschaft der Religion des Christentums, spiegeln sich Denkansätze der liberalen Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Damit verbunden ist die Frage, ob das Christentum im Horizont und mit Hilfe des Religionsbegriffs zu deuten ist und ob der Weg, die Theologie einem Funktionsbereich der Gesellschaft (Religion) zuzuordnen, überzeugend ist.102 In dem Bemühen, christlichen Glauben zu verstehen und auszulegen, bedenkt christliche Theologie seit ihren Anfängen mehr oder minder ausdrücklich auch die Frage nach ihrem eigentlichen Gegenstand, nach ihrer Aufgabe und ihrer Bedeutung für den Glauben. Zur Eigenart neuzeitlicher Theologie gehört es jedoch, die Frage nach dem eigenen Selbstverständnis in dem Bewusstsein zu stellen, dass sich die Bedeutung der Theologie für die Kirche und ihre führende Rolle unter den universitär betriebenen Wissenschaften keineswegs mehr von selbst versteht. Keine Wissenschaft ist durch die Umformungsprozesse, welche Renaissance und Humanismus, die abendländische Kirchenspaltung und schließlich die Aufklärung in Gang gesetzt haben, so sehr zur kritischen Reflexion und Transformation des eigenen Selbstverständnisses genötigt worden wie die Theologie. Die kritische Nachfrage nach Sinn und Notwendigkeit des eigenen Tuns ist zu einem konstitutiven Element theologischer Selbstbesinnung geworden. Das zeigt die gegenwärtige Diskussionslage in der Theologie, wobei auch die bereits seit dem 18. Jahrhundert virulente Frage nach der einen Aufgabe der Theologie in der Vielfalt ihrer Disziplinen zur Debatte steht.103 Mit der Klärung der Frage nach der theologischen Aufgabe in der Vielfalt der Disziplinen wird auch über das Verständnis der Theologie als Wissenschaft entschieden. Nach der langen Unterbrechung des Diskurses um die Theologie als Kulturwissenschaft, bedingt durch die Fokussierung auf das Wort Gottes als exklusiven Grund und Gegenstand der Theologie in der dialektischen Theologie, nahm Wolfhart Pannen101 H. RUDDIES, Liberale Theologie. Zur Dialektik eines komplexen Begriffs, in: Liberale Theologie, 176–203, hier: 199. 102 Vgl. dazu die markant gegenläufigen Positionen von D. KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube, und I. U. DALFERTH, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis, ThLZ.F 11/12 Leipzig 2004. 103 Vgl. K. STOCK, Art. Theologie III. Enzyklopädisch, TRE 33, 323–343.

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I. Einleitung

berg in seiner Arbeit über Theologie und Wissenschaftstheorie 1973 die Aufgabe in Angriff, den Wahrheitsanspruch theologischer Aussagen zu begründen.104 Gerhard Ebeling gab mit einem Plädoyer für eine evangelische Fundamentaltheologie zur Wahrnehmung der enzyklopädischen und apologetischen Aufgaben der Theologie einen Impuls zur Verständigung über die Theologie als Wissenschaft, der in den Debatten um Grund und Grenze einer Fundamentaltheologie aufgenommen wurde.105 Auch Trutz Rendtorff beförderte mit seinem Programm der Christentumstheorie als grundlegende Auseinandersetzung mit der Soziologie die weitere Selbstverständigung der Theologie über ihre Bestimmung und Aufgabe im universitären, gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext.106 Die kontroverse Debatte um die liberale Theologie kristallisiert sich in systematisch-theologischer Perspektive an der Frage, ob sich die Theologie am Maß einer für allgemein erklärten Vernunft – sei sie erkenntniskritisch, moralisch oder historisch gestimmt – orientieren kann, oder ob diese Orientierung an der Vernunft nicht die Spuren oder gar die Gewalt einer Auslieferung der Theologie an eine fremde Macht anzeigt. Diese Frage wird insbesondere von der positiven und dialektischen Theologie an die unterschiedlichen Ausprägungen liberaler Theologie gestellt. Der Einwand verweist zurecht darauf, dass die Vernunft nicht ungebrochen zum Rekursfundament oder zum Orientierungsrahmen der Theologie werden darf. Theologie kann sich zwar mit Vernunft zu Wort melden, aber eben nicht aus der Vernunft, sondern aus dem Hören auf das Evangelium oder aus der Erfahrung der Religion.107 Zugespitzt begegnet die Kritik an liberaler Theologie in dem Vorwurf, dass liberale Theologie das Faktum der Neuzeit zur essentiellen Voraussetzung ihres Christentumsverständnisses mache108 104 Vgl. W. PANNENBERG, Wissenschaftstheorie und Theologie, 266–302. 105 G. EBELING, Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, in: ZThK 67 (1970), 479–524. Vgl. M. PETZOLDT (Hg.), Evangelische Fundamentaltheologie in der Diskussion, 2004. 106 Vgl. dazu M. LAUBE, Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs, Tübingen 2006. 107 W. SPARN, Vernünftiges Christentum, in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, hg. v. R. VIERHAUS, Göttingen 1985, 18–57, hier: 19f.; B. GOLDSCHMITT, Kirchlicher Liberalismus in konservativer Beleuchtung, in: Christliche Freiheit, 17. Jg. Nr. 5, 29. Januar 1911, Sp. 74–76; H.-G. GEYER, Die dialektische Theologie und die Krise des Liberalismus, in: Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, hg. v. R. VON THADDEN, Göttingen 1978, 155–170. 108 L. IHMELS, Die christliche Wahrheitsgewißheit, ihr letzter Grund und ihre Entstehung, Leipzig ³1914, 160ff.; K. BARTH, Kirchliche Dogmatik (KD) IV, 3.1 § 69.1, Zürich-Zollikon 1959, 18–40. In diesem „Neuzeitkapitel“ der Kirchlichen Dogmatik re-

3. Aspekte zur gegenwärtigen Debatte

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und somit ein dem Wesen der Neuzeit gleichgeschaltetes Christentum offeriere. Damit schwäche liberale Theologie die christliche Religion, indem sie die Neuzeit als Prinzip theologischer Reflexion und nicht nur als Gegenstand derselben stark mache. Bei einer solchen Theologiekonzeption aber werde die christliche Religion zu einem Prädikat an der historischen Substanz.109 Als Fazit ist an dieser Stelle festzuhalten, dass in dem, was gegenwärtig als liberale Theologie verstanden und was ihr vorgeworfen wird, Frage- und Problemstellungen begegnen, mit denen die Theologie seit dem 18. und 19. Jahrhundert bleibend konfrontiert ist. Im Kern geht es dabei um die theologische Relevanz des Historismus und um die Frage nach dem Gewicht historischer und religionsphilosophischer Begründungen für die Theologie. Im Verlauf der Arbeit soll dargestellt werden, wie die liberale Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert in diesen Frage- und Themenstellungen Problemlagen positioniert ist, und welchen Beitrag sie zur Erschließung und Bearbeitung derselben liefern kann.

flektiert BARTH theologisch prinzipiell auf den Umstand, dass das Faktum „Neuzeit“ Konsequenzen für die Theologie hatte, weil erst in der Neuzeit der „Ausbruch der Gemeinde in die Welt“ konzipiert und veranstaltet wurde; gleichwohl sind der Ort der Neuzeit und das Wort der Kirche streng zu unterscheiden, weil es keine Fremdkonstitution von Kirche geben darf. 109 Vgl. dazu H.-G. GEYER, Christlicher Glaube zwischen Absterben und Anpassung, in: Disputation zwischen Christen und Marxisten, hg. v. M. STÖHR, München 1966, 209– 234. Vgl. auch H. RUDDIES, Protestantische Identität zwischen Krise und Aufbau. Überlegungen zum Recht und zur Form des Einspruchs der dialektischen Theologie Karl Barths gegen die liberale Theologie, in: Protestantische Identität heute, hg. v. F. W. GRAF/K. TANNER, Gütersloh 1992, 161–175.

II. Zur Vernetzung einer theologischen Richtung und zur Ausdifferenzierung des Fächerkanons 1. Die Ausgangssituation: Person, Werk, theologiegeschichtlicher Ort Die folgenden Darstellungen zu den Personen, ihren Werken und ihrer theologiegeschichtlichen Verortung beziehen sich schwerpunktmäßig auf das Wirken in Jena und versuchen diejenigen soziohistorischen und theologischen Aspekte zu berücksichtigen, die für die Fragestellungen dieser Arbeit relevant sind. Es wird jeweils bei der Einzeldarstellung vermerkt, welche Literatur für eine ausführliche und vollständige Übersicht heranzuziehen ist.

1.1 Richard Adelbert Lipsius (1830-1892)1 Richard Adelbert Lipsius (1830–1892) wurde am 14.2.1830 in Gera geboren und studierte in Leipzig Theologie. Er wurde dort von Vermittlungstheologen wie Georg B. Wiener (1789–1858) und Karl Th. A. Liebner (1806–1871) geprägt und 1853 mit einer Arbeit über die paulinische Rechtfertigungslehre promoviert.2 1855 habilitierte er sich mit einer kirchenhistorischen Arbeit über den ersten Clemensbrief.3 Von diesem Zeitpunkt an wirkte er als Privatdozent in Leipzig.

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Zu Vita, Werk, theologie- und wissenschaftsgeschichtlicher Verortung vgl. J. ALWAST, Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Bd. 2, Kiel 1988, 78– 83.167–171; Ders., Art. Lipsius, Richard Adelbert, in: BBKL Bd. 5 (1993), 118–119; H.J. BIRKNER, R. A. Lipsius, in: NDB 14 (1985), 676; G. RICHTER/ F. NIPPOLD, R. A. Lipsius. Zwei Gedächtnisreden, Jena 1893; W. ELERT, Der Kampf um das Christentum, 266ff.; M. HÜTTENHOFF, Erkenntnistheorie und Dogmatik. Das erkenntnistheoretische Problem der Theologie bei I. A. Dorner, Fr. H. R. Frank und R. A. Lipsius, Bielefeld 1991, 140–230; E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 71–78; W. PANNENBERG, Problemgeschichte, 311ff.; O. PFLEIDERER, Die Entwicklung, 241ff. R. A. LIPSIUS, Die paulinische Rechtfertigungslehre, Leipzig 1853. R. A. LIPSIUS, De Clementis Romani epistola ad Corinthios priore disquisitio, Leipzig 1855.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

Während dieser Zeit bildete sich ein freundschaftliches Verhältnis zu Christian Hermann Weisse (1801–1866) heraus, der als spätidealistischer Epigone und Hauptvertreter eines spekulativen Theismus galt, und dessen Ansatz einer religiösen Philosophie für Lipsius zeitlebens grundlegend blieb. Weisse vertrat die Überzeugung, dass eine auf dem Boden des Bekenntnisses entwickelte Dogmatik sehr wohl einer philosophischen Grundlegung bedürfe. Daher ging er beispielsweise in seiner Gotteslehre von der philosophischen Entwicklung des Gottesbegriffs aus. Die Gottesbeweise, die bei ihm ähnlich wie bei Schelling die Unterscheidung von Essenz oder Möglichkeit und Existenz oder Wirklichkeit Gottes voraussetzen, bilden in seinen Augen zugleich die philosophische Begründung des trinitarischen Dogmas, da der Gedanke der Urmöglichkeit auf die Annahme der Person des Vaters führt.4 1858 verlieh die Theologische Fakultät der Universität Jena Lipsius anlässlich ihrer Feierlichkeiten zum dreihundertjährigen Bestehen eine Ehrenpromotion. 1859 wird er zum Extraordinarius in Leipzig ernannt und 1860 veröffentlichte er seinen ersten Artikel zum ‚Gnosticismus‘, der in der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste erschien.5 Lipsius verband in seiner Untersuchung des Phänomens der Gnosis die historisch-genetische mit der systematischen Perspektive und vermied jegliche polemische Wertungen. Für ihn waren das Judentum und die griechische Philosophie der Boden, aus dem die gnostischen Systeme erwachsen, die dann in ihrer christlichen Form zu spekulativen Weltdeutungssystemen geworden seien. 1861 folgte Lipsius einem Ruf als ordentlicher Professor für Systematische Theologie an die evangelisch-theologische Fakultät in Wien. 1865 folgte die Berufung auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie

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Der spekulative Theismus WEISSES wird in dessen Offenbarungsverständnis greifbar, auf das sich LIPSIUS bezieht. Die göttliche Offenbarung ist für WEISSE die durch den Prozess der geschichtlichen Entwicklung zur Erfahrung des menschlichen Geschlechts gesteigerte religiöse Erfahrung. Dieser religionsgeschichtliche Prozess wird als Offenbarung Gottes verstanden, die in der Menschwerdung Gottes kulminiert. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel III, 107–123. Vgl. auch die ausführliche Besprechung von WEISSES „Philosophischer Dogmatik“ durch LIPSIUS, in: ThStKr 38 (1865), 541–590. Zur Person, zum Werk, zur theologie- und wissenschaftsgeschichtlichen Verortung von CHR. H. WEISSE vgl. K.- G. WESSELING, Art. Weisse, Christian Hermann, in: BBKL, Bd. 13 (1998), Sp. 684–690; A. HARTMANN, Der Spätidealismus und die Hegelsche Dialektik (1937), Berlin ²1968; E. HIRSCH, Geschichte der neueren evangelischen Theologie V, 41968, 509–510.551.574; J. ROHLS, Protestantische Theologie, Bd. I, 504–506.523–525.653–656. R. A. LIPSIUS, Der Gnosticismus, sein Wesen, Ursprung und Entwicklungsgang, Leipzig 1860.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel.6 In der Zeit seines Wirkens in Kiel bis 1871 umfasste seine Lehrtätigkeit nicht nur die systematisch-theologischen Lehrveranstaltungen, sondern erstreckte sich auch auf das Neue Testament und die Geschichte des Urchristentums. Bevorzugt behandelte er den Römer- und den Galaterbrief und die Geschichte des apostolischen Zeitalters.7 Während seiner Kieler Zeit galt er als der Wortführer des freien Protestantismus gegenüber dem Bischof Wilhelm Heinrich Koopmann, der einen lutherischen Konfessionalismus verfocht. Aufsätze, die im Zusammenhang mit diesem kirchenpolitischen Streit entstanden waren, gab Lipsius unter dem Titel „Glaube und Lehre. Theologische Streitschriften“ im Jahr 1871 heraus. In den Auseinandersetzungen um die Kirchenverfassung versuchte Lipsius zu erreichen, dass „unsere künftige Kirchenverfassung liberalen Grundsätzen Raum gibt“ 8. Hier wird erkennbar, dass und wie bei Lipsius theologischer und kirchlicher Liberalismus aufeinander bezogen sind. In den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen ging es um die Unionsfrage und die SchleswigHolsteinische Landeskirche. In den Augen von Lipsius hatte der Streit aber eine über den provinzialkirchlichen Rahmen hinausgehende theologische Bedeutung, da er die Situation im Protestantismus insgesamt widerspiegele. Lipsius fasste die strittigen Themen als Zugänge zu der ihnen zu Grunde liegenden Frage nach dem Verhältnis von subjektivem Glauben und objektiv-theoretisch-lehrhafter Reflexionsform auf. In diesem Kontext betonte er in seinen Ausführungen zum Offenbarungsbegriff und zum Schriftverständnis die subjektive menschliche Vermittlung aller religiösen Vorstellungen, auch der biblischen, und wies ausdrücklich – unter Rückgriff auf Schleiermacher und Kant – auf die Unmöglichkeit transzendenten Wissens hin. Er unterschied dabei die wissenschaftlich vermittelte Erkenntnis von der unmittelbaren Glaubensgewissheit. Diese Ansätze sind und bleiben grundlegend für seine Erkenntnistheorie. Bereits 1867 hatte Lipsius den Ruf nach Heidelberg auf den Lehrstuhl Richard Rothes erhalten, den er allerdings abgelehnt hatte mit der Begründung, „im preussischen Staate und im norddeutschen Bund“ 9 6 7 8

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Zur Berufung, zum Wirken und zur wissenschaftlichen Arbeit in Kiel vgl. J. ALWAST, Geschichte der Theologischen Fakultät, Bd. 2, 77–82.167–171. Ebd., 167–171. Brief von R. A. LIPSIUS vom 1. März 1870, veröffentlicht in: DZA Mers. Rep. 76 Va, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 9, Bd. 1, Bl. 59. J. ALWAST hat die Gründe und die Phasen der Auseinandersetzung zwischen den Konfessionellen um KOOPMANN und der Gruppe um LIPSIUS dargestellt. Vgl. Ders., Geschichte der Theologischen Fakultät, 167–171. DZA Mers. Rep. 76 Va, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 9, Bd. 1, Bl. 5.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

wirken zu wollen. Vier Jahre später, am 15. Juni 1871, erhielt er, vermittelt über Wilhelm Dilthey (1833–1911), aus Berlin die Anfrage, ob er sich vorstellen könne, eine philosophische Professur zu übernehmen. In seinem Brief verwies Dilthey dabei auf die philosophisch-theologischen Doppelprofessuren von Schleiermacher und Twesten und begründete seinen Vorschlag mit der Notwendigkeit, für die Bearbeitung von drängenden Problemen in der gegenwärtigen Philosophie den am besten geeigneten Mann zu finden. „Sie haben Kenntnisse für die wissenschaftliche Grundlegung der Religionsphilosophie wie kein zweiter. Würden sie mit diesen die ganze Breite der Probleme vornehmen, in die Beschäftigung auch mit den anderen Religionen hineinzugehen die Muße finden, in der durchgearbeiteten Psychologie, Ethik etc. überall Mittel der Bearbeitung finden; so wären sie der Mann, Religionswissenschaft um einen wichtigen Schritt weiter zu fördern. Dann stünde ihnen immerhin frei, die Consequenzen für die Dogmatik selber zu ziehen. Ja Sie könnten unter veränderten Verhältnissen in die theologische Fakultät zurückkehren. Für die Philosophie würde so eine wichtige Kraft gewonnen, die eines ihrer fruchtbarsten Gebiete produktiv bearbeiten würde.“ 10

Am 2. Mai 1871 schlug die Theologische Fakultät in Jena in ihrem Vorschlagsbericht über die Wiederbesetzung der Professur für neutestamentliche Exegese und Systematische Theologie an erster Stelle Richard A. Lipsius vor.11 Nach dem plötzlichen Tod des Ordinarius für Systematische Theologie und neutestamentliche Exegese Leopold Rückert am 9. April 1871 hatte am 26. April eine Sitzung der Theologischen Fakultät stattgefunden, an der die Ordinarien Karl Hase, Otto Pfleiderer und Ludwig Diestel teilnahmen. Aus dem Protokoll der Sitzung wird ersichtlich, dass und warum alle drei Richard A. Lipsius als ersten Kandidaten für die Nachfolge Rückerts vorschlugen. Begründet wird der Vorschlag u. a. mit den Worten: „Ein ausgezeichneter neutestamentlicher Exeget und Kenner der altchristlichen Literatur und zugleich ein überaus scharfsinniger und vorurteilsfreier, hervorragender Systematiker“12.

Den Ruf nach Jena nahm Lipsius zu Beginn des Wintersemesters 1871/72 an. Er gab daraufhin der Theologischen Fakultät in Jena in den siebziger und achtziger Jahren die zentrale Prägung als Dogmatiker,

10 11 12

W. DILTHEY, Brief an Richard A. Lipsius vom 15. Juni 1871; veröffentlicht in: M. LIEPMANN, Von Kieler Professoren, Stuttgart und Berlin 1916, 380–382. Vgl. dazu den Denominationsbericht der Theologischen Fakultät, UA Jena, Bestand BA, Nr. 407, 115. Vgl. auch K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 300. UA Jena, Bestand J, Nr. 116, 51–52; vgl. auch 53–55.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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obwohl sein Ordinariat neben der Dogmatik den Schwerpunkt neutestamentliche Exegese beinhaltete. Bereits im Herbst 1872 war Lipsius als Vertreter der Theologischen Fakultät in eine wissenschaftstheoretische und wissenschaftspolitische Auseinandersetzung der Philosophischen Fakultät und des Senats der Universität einbezogen, die ein Schlaglicht auf die von ihm vertretene Theologiekonzeption wirft. Im Zusammenhang mit der Klärung der Nachfolge von Kuno Fischer (1824–1907), wurde von dem Mathematiker Karl Snell, dem Chemiker Anton Greuther und dem Zoologen Ernst Haeckel gegen den Denominationsbericht der Philosophischen Fakultät der Berliner Philosoph Karl Eugen Dühring (1833–1921) mit auf die Berufungsliste der Universität gesetzt.13 Dühring vertrat einen materialistischen Wissenschaftsansatz. Insbesondere Haeckel, der sich die Verbreitung der Darwinschen Evolutionstheorie in Deutschland zur Aufgabe gemacht hatte, verband mit einer Berufung Dührings die Erwartung, stärkere philosophische Unterstützung für seine Überlegungen zu finden, die zum Ende des 19. Jahrhunderts in seine bekannten materialistischen Theoreme und Angriffe auf die kirchliche Religiosität mündeten. Lipsius verfasste zu diesem Vorgang ein Gutachten, das die Berufung Dührings nachdrücklich verwarf, und in dem er sich wissenschaftstheoretisch und wissenschaftspolitisch gegen den aufkommenden Materialismus positionierte. „Je mehr ... gerade gegenwärtig bei einem Theile der Vertreter der Naturwissenschaften die Neigung sich geltend macht, die Geisteswissenschaften mit Geringschätzung zu behandeln und jeder ideellen Weltanschauung zu spotten, desto sorgfältiger gilt es sich vorzusehen, daß nicht ein ähnlicher Ton künftig auch an unserer Universität ... eingeschlagen werde.“ 14

Ebenfalls Anfang der siebziger Jahre äußert sich Lipsius in einer von ihm anonym veröffentlichten Schlüsselschrift zur preußischen Kultuspolitik der sechziger Jahre und zur Stellung der Universitätstheologie zwischen Wissenschaft und Kirche. Er sieht die Universitätstheologie in ihrer wissenschaftlichen Freiheit grundlegend bedroht, da sie in kirchenpolitisch motivierten Parteienstreitigkeiten gefangen sei. Während in den vierziger Jahren der Gesamtzustand der theologischen Wissenschaft befriedigend und die Theologie durch Vermittlungstheologen „wie Neander, Nitzsch, Julius Müller, Tholuck, Zwesten, Dorner, Bleek

13 14

Vgl. Denominationsbericht der Philosophischen Fakultät, 19. November 1872. In: UA Jena, Bestand BA, Nr. 437, 11–19. Seperatvotum von R. A. LIPSIUS, J. G. STICKEL, E. E. SCHMID, A. SCHMIDT, K. NIPPERDEY, C. BURSIAN und M. SCHMIDT, 27. November 1972. In: UA Jena, Bestand BA, Nr. 437, 24–32.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

würdig repräsentirt“ gewesen sei, hebe sich die gegenwärtige Lage grundlegend davon ab, insofern die ‚Bekenntnistreue‘ zum entscheidenden Kriterium für die Förderungswürdigkeit preußischer Theologen geworden sei. Die Fragen der theologischen Wissenschaft wurden „zu kirchlichen und kirchlich-politischen Machtfragen“, und es gehe jetzt um die von konservativer Seite postulierte Unterscheidung von ‚gläubiger‘ und ‚ungläubiger‘ Theologie.15 Ab 1875 gibt Lipsius gemeinsam mit seinen Jenaer Kollegen Hase, Pfleiderer und Schrader die „Jahrbücher für protestantische Theologie“ heraus mit der Zielsetzung, die spezifisch jenaische Theologie literarisch zu verbreiten. 1876 veröffentlichte er sein dogmatisches Hauptwerk, das „Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik“, das 1893 – nach seinem Tod – die durch Otto Baumgarten fertig gestellte dritte Auflage erhielt. In diesem Werk nimmt Lipsius nach eigenem Bekunden theologisch einen Standpunkt zwischen Alois E. Biedermann und Albrecht Ritschl in der Nähe Alexander Schweizers ein. „Wenn man den Unterschied von Biedermann und mir dahin formuliert hat, dass der alte Gegensatz von Hegel und Schleiermacher, wenn auch erheblich gemildert durch die dazwischen liegende Entwickelung, in uns beiden wieder aufgelebt sei, so wüsste ich meinerseits dem nicht zu widersprechen ... In den dogmatischen Beiträgen ist auch mein Verhältnis zu Ritschl eingehend erörtert ... Ist dort aber auf gegebenen Anlass hin vor allem meine Differenz von Ritschl zur Sprache gekommen, so sei hier nochmals meiner zahlreichen Bemühungen mit ihm gerade in dem Punkte gedacht, der mich von den Spekulativen trennt. Am meisten aber weiss ich – wie immer – mit Alexander Schweizer mich einig.“16

Nach der Veröffentlichung der ersten Auflage 1876 sieht sich Lipsius durch die Rezensionen und die Kritik von Wilhelm Herrmann und Alois E. Biedermann an seinen erkenntnistheoretischen, religionsphilosophischen und systematisch-theologischen Grundlagen zur Verteidigung, Überarbeitung und Präzisierung veranlasst.17 Die kritischen An15

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(ANON.) [R. A. LIPSIUS], Ein Stück Hinterlassenschaft des Herrn von Mühler, zur Erwägung für die Folgezeit, Berlin 1872, 7f.15. Auch K. SCHWARZ macht in seinem Beitrag zur Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert den positionellen Gegensatz zwischen kirchennaher Orthodoxie und freien Theologie als sich einander ausschließenden Theologiekonzeptionen geltend. Vgl. K. SCHWARZ, Zur Geschichte der neuesten Theologie, ³1864, 232. Zum kirchenrechtlichen und kultuspolitischen Rahmen für die Theologischen Fakultäten vgl. J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas, 82– 134. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (²1879), VIII. F. TRAUB, Grundlegung und Methode der Lipsiusschen Dogmatik, in: ThStKr 68 (1895), 471–529, hier: 528. Vgl. A. E. BIEDERMANN, Rezension: Die Dogmatik von Lipsius, in: PKZ 24 (1877), 21–32.45–52.65–72.89–96.105–111. W. HERRMANN, Rezen-

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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fragen von Herrmann und Biedermann unterzieht er seinerseits einer ausführlichen Analyse in den 1878 erscheinenden „Dogmatischen Beiträgen“, die er als Verteidigung und Erläuterung der ersten Auflage seines Lehrbuches versteht. Aus der Auseinandersetzung mit Albrecht Ritschl, Wilhelm Herrmann und Alois E. Biedermann gehen u.a. die beiden Aufsatzbände „Philosophie und Religion“ sowie „Glauben und Wissen“18 hervor, die wichtige dogmatische, religionsphilosophische und theologiegeschichtliche Beiträge enthalten. Die Änderungen, die Lipsius aufgrund der Anfragen an die erste Auflage seines Lehrbuchs vorgenommen hat, sind in der dritten Auflage seines Lehrbuchs der Dogmatik von 1893 aufgenommen. Lipsius nahm auch in Jena – wie zuvor in Wien und Kiel – intensiv am kirchlichen Leben teil, arbeitete im Protestantenverein mit, war an der Gründung des Allgemeinen evangelisch-protestantischen Missionsvereins 1884 und an der Enstehung des Evangelischen Bundes 1886 unmittelbar beteiligt.19 Er starb unerwartet am 18. August 1892 in Jena im Alter von nur 62 Jahren. Von theologischer Seite hat man ihn „den klassischen Dogmatiker des Neukantianismus“ genannt, von philosophischer „den ohne Frage schärfsten philosophischen Denker unter den Theologen unserer Zeit“.20 Die „zusammenhängende, mit den Thatsachen der religiösen und aller anderweitigen Erfahrung übereinstimmende Weltanschauung“21 ist der Angelpunkt seiner wissenschaftlich-theologischen Arbeit.

18

19 20 21

sion: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von R. A. Lipsius, 1876, in: ThStKr 50 (1877), 551–554. R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion. Neue Beiträge zur wissenschaftlichen Grundlegung der Dogmatik, Leipzig 1885; Ders., Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897. Vgl. dazu K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 305. A. E. BIEDERMANN, Rezension: Die Dogmatik von Lipsius, 1876, in: PKZ 24 (1877), 21; R. SEYDEL, Religionsphilosophie im Umriss, Freiburg i. Br. 1893, 74. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 16ff.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

1.2 Otto Pfleiderer (1839–1908)22 Otto Pfleiderer wurde am 1. September 1839 in Stetten in Württemberg geboren. Er besuchte die Klosterschule Maulbronn, an der sein Vater, Eduard Karl Pfleiderer, unterrichtete; 1853 wechselte er ans Niedere Seminar Blaubeuren. In den Jahren 1857 bis 1861 studierte Pfleiderer in Tübingen Theologie, wo ihn Ferdinand Christian Baur (1792–1860) prägte, dessen Vorlesungen er 1859/60 hörte. 23 Auf das theologische Examen folgte eine mehrmonatige Stipendienreise nach Norddeutschland, England und Schottland.24 Nach seiner Rückkehr war Pfleiderer Vikar in Eningen und Knittlingen, ab 1864 Repetent und Privatdozent in Tübingen. In den Sommersemestern 1867 und 1868 las er über Religionsphilosophie. Als Ergebnis dieser Vorlesungen legte er in zwei Bänden im November und Dezember 1868 im Alter von 29 Jahren einen Entwurf zur spekulativen Religionsphilosophie mit historischer Rückbindung und anthropologischer Verankerung durch die Aufnahme der psychologischen Phänomene des religiösen Bewusstseins vor. 25 1868 wurde Pfleiderer zum fünften Stadtpfarrer in Heilbronn ernannt, 1869 als Oberpfarrer und Superintendent nach Jena berufen. Dieser Be22

23 24

25

Zu Vita, Werk und theologie- und wissenschaftsgeschichtlicher Verortung vgl. F. W. GRAF, Art. Pfleiderer, Otto, TRE 21, 427–429; W. HERRMANN, Rezension Otto Pfleiderer, Die Ritschl’sche Theologie kritisch beleuchtet, in: ThLZ 17 (1892), Sp. 382–388; E. HIRSCH, Geschichte der neueren evangelischen Theologie V, 41968, 562–571; S. HJELDE, Die Religionswissenschaft & das Christentum. Eine historische Untersuchung über das Verhältnis von Religionswissenschaft&Theologie, Leiden 1994, 67– 86; H. HOLTZMANN, Zum Gedächtnis Otto Pfleiderers, in: ZMR 23 (1908), 227ff.; U. KÖPF, Die theologischen Tübinger Schulen, in: Ders. (Hg.), Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler, Sigmaringen 1994, 9–52; R. LEUZE, Theologie und Religionsgeschichte. Der Weg Otto Pfleiderers, München 1980; R. SEEBERG, Art. Pfleiderer, Otto, in: ³RE, Bd. 24 (1913), 316–323; W. SCHMITHALS, Von der Tübinger zur Religionsgeschichtlichen Schule (Otto Pfleiderer), in: 450 Jahre Evangelische Theologie in Berlin, hg. v. G. BESSIER/CHR. GESTRICH, Göttingen 1989, 309–311; E. SCHOTT, Art. Pfleiderer, Otto, in: ³RGG Bd. V (1965), 312– 313; J. WEBSKY, Zu Otto Pfleiderers Gedächtnis, in: PrM 12 (1908), 329–332; H. WEINEL, Otto Pfleiderers Darstellung des Urchristentums und die Richtungen der freien Theologie, in: ChW 20 (1906), 677–679.697–704. In PFLEIDERERS Schriften finden sich zahlreiche Hinweise für seine persönliche Verehrung BAURS. Vgl. insbesondere O. PFLEIDERER, Die Entwicklung, 278f. Die internationalen Kontakte baute PFLEIDERER insbesondere während seiner Berliner Zeit aus. Er prägte durch seine Veröffentlichungen gemeinsam mit M. RADE, W. HERRMAN, E. TROELTSCH u.a. die theologischen Diskurse und galt – insbesondere in den USA – als prominenter Repräsentant des liberalen Protestantismus. Vgl. dazu F. W. GRAF, Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreiches, in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 2,1, 21–77, insbesondere: 66f. O. PFLEIDERER, Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, 2 Bde., Leipzig 1869.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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rufung geht ein Brief von Pfleiderer an Adolf Hilgenfeld vom 14. Juli 1869 voraus, in dem Pfleiderer Hilgenfeld um Rat ob einer möglichen Bewerbung seinerseits auf die ausgeschriebene Stelle des Oberpfarrers in Jena bittet.26 In diesem Brief skizziert er sein eigenes theologisches Profil mit den Worten: „Ich denke mir, dass man dazu einen Theologen von liberaler Richtung, wie er allein nach Jena passt, wünscht, und das bewog mich zu dem kühnen Gedanken, ob hier etwas für mich zu machen wäre? Meine Richtung, welche aus meinem Buch über die Religion zu ersehen ist, würde wohl den dortigen Wünschen konveniren.“27

Bereits 1870 erfolgte die Berufung zum Universitätsprediger und zum ordentlichen Professor der Praktischen Theologie. Die Gründe für seine Berufung gehen zunächst aus dem Vorschlagsbericht der Fakultät hervor. Dieser sieht nach dem Tod von Johann Karl F. Schwarz (1802– 1870) für die Wiederbesetzung der Schwarzschen Professur den „Oberpfarrer Dr. Otto Pfleiderer“ als ersten Vorschlag vor, wegen seiner „freie(n) wissenschaftliche(n) Bildung und ungewöhnliche(n) Lehrbefähigung“ und weil „(s)eine hervorragende philosophische und systematisch-theologische Gelehrsamkeit ... zweifellos bezeugt“ ist. 28 Aber auch das Protokoll über die Sitzung der Theologischen Fakultät vom 3. Juni 1870 dokumentiert, dass und warum sich Karl Hase, Leopold Rückert und Ludwig Diestel auf Otto Pfleiderer als ersten Nachfolger geeinigt hatten. Pfleiderers „hervorragende philosophische und systematisch-theologische Gelehrsamkeit“ und seine „freie Gesinnung“ werden ebenso betont wie die „Gründlichkeit“ und „anregende Lebendigkeit“ seines akademischen Vortrags- und seines Predigtstils.29

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A. HILGENFELD war zu dieser Zeit außerordentlicher Professor für Patristik, neutestamentliche Exegese, Dogmengeschichte und jüdische Apokalyptik an der Theologischen Fakultät in Jena. Er hatte als Herausgeber der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie bereits einige Beiträge PFLEIDERERS veröffentlicht und stand mit diesem seit 1866 in schriftlichem Kontakt. Vgl. H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil I, 169. Vgl. auch die Ausführungen zur Vita, zum Werk und zur theologiegeschichtlichen Verortung von A. HILGENFELD in Kapitel II, 46ff. Brief vom 24. August 1969, veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 315. Vgl. dazu auch Kapitel I, 6. UA Jena, Bestand J, Nr. 116, 38–41, hier: 38. Vgl. zur Berufung des Jenaer Stadtdekans O. PFLEIDERERS auch UA Jena, Bestand BA, Nr. 407, 95–106. PFLEIDERER musste nach seiner Berufung zum Ordinarius 1870 wegen eines Einspruchs des Jenaer Pfarrgemeinderates sein Amt als Jenaer Stadtpfarrer und Dekan aufgeben, wurde aber offiziell zum Universitätsprediger ernannt. Vgl. das Protokoll über die Sitzung der Theologischen Fakultät vom 3. Juni 1870, UA Jena, Bestand J, Nr. 116, 43–44.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

Zu seinen Aufgaben in Jena gehörten neben den praktischtheologischen Lehrveranstaltungen Vorlesungen im Bereich der Systematischen Theologie und der Exegese des Neuen Testaments. Umgehend nach dem Antritt seines akademischen Lehramts wurde Schrader in den Kirchenrat des Großherzogtums Sachsen-Weimar berufen. Während der Zeit in Jena befreundete sich Pfleiderer mit dem Alttestamentler Eberhard Schrader und dem 1871 nach Jena berufenen Richard A. Lipsius. Mit dem Senior der Fakultät Karl Hase und dem außerordentlichen Professor für Neues Testament und älteste Kirchengeschichte Adolf Hilgenfeld initiierte er 1872/73 die ‚Jenenser Erklärung‘, die auch von Ludwig Diestel, dem Vorgänger Schraders auf dem Lehrstuhl für alttestamentliche Exegese unterstützt wurde.30 In seiner Jenaer Zeit veröffentlichte Pfleiderer sein zweites grosses Hauptwerk, eine Studie über den Paulinismus mit der er seinen Anspruch dokumentierte, in Anlehnung an Ferdinand Chr. Baur eine integrative Gesamtanschauung der Entwicklungsgeschichte des Christentums und seines Wesens zu erfassen.31 Im Januar 1875 erhielt Pfleiderer den Ruf nach Berlin auf eine Professur für Exegese des Neuen Testaments und Systematische Theologie. Im WS 1875/76 trat er die Professur mit einer Vorlesung über die deutsche Religionsphilosophie und ihre Bedeutung für die Theologie der Gegenwart an.32 Bereits im Sommersemester 1876 wechselte Pfleiderer als Nachfolger von August D. Chr. Twesten (1789–1876) auf dessen Lehrstuhl für Systemtische Theologie und Exegese und damit hatte er den Schleiermacher-Lehrstuhl inne. 1877 wurde dieser Lehrstuhl ausschliesslich auf die Systematische Theologie begrenzt, als mit Karl Ph. B. Weiss (1827–1918) ein weiterer Neutestamentler nach Berlin berufen worden war. In Berlin wirkte Pfleiderer bis zu seinem Tod am 18. Juli 1908. Seine wichtigsten wissenschaftlichen Werke der Berliner Zeit führen die Hauptgedanken der frühen Werke fort bzw. differenzieren die religionsphilosophischen Ansätze weiter aus. Im Jahr 1878 veröffentlichte Pfleiderer eine „Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage“, die seit der stark erweiterten zweiten Auflage von 1883/84 in

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Vgl. dazu die Ausführungen zur Person, zum Werk und zur theologiegeschichtlichen Verortung von L. DIESTEL, Kapitel II, 53ff. O. PPFLEIDERER, Der Paulinismus. Ein Beitrag zur Geschichte der urchristlichen Theologie, Leipzig 1873, ²1890. O. PFLEIDERER, Die deutsche Religionsphilosophie und ihre Bedeutung für die Theologie der Gegenwart, Berlin 1875.

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zwei Bänden erschien.33 Für die dritte Auflage von 1893 wurde das Werk tiefgreifend überarbeitet in der Perspektive der vergleichenden Religionswissenschaften.34 Um dieses Hauptwerk zur Religionsphilosophie sammeln und gruppieren sich verschiedene Aufsätze und Studien Pfleiderers zur Philosophie- und Theologiegeschichte sowie zur Religionswissenschaft und auch die Streitschrift über die Theologie von Albrecht Ritschl von 1891.35 Die zentralen Gedanken aus seinem Werk über den Paulinismus nahm Pfeiderer in verschiedenen Studien über die Genese und Durchsetzung des Christentums im Rahmen der antiken Religionsgeschichte auf, wie beispielsweise in seinem dogmengeschichtlichen Werk über das Urchristentum und seine Schriften von 1887.36 Auch in seiner Vita zeigt sich eine wechselseitige Bezogenheit von theologischem und kirchenpolitischem Liberalismus. Pfleiderer engagierte sich im Protestantenverein sowie im Allgemeinen protestantischen Missionsverein und galt trotz der von ihm vertretenen religionsgeschichtlichen Verankerung und Ausrichtung der Theologie als Vertreter des Missionsgedankens im Altliberalismus.37 Politisch zählte Pfleiderer zu denjenigen protestantischen Universitätstheologen, die durch zahlreiche Vorträge in den Ortsvereinen des Evangelischen Bundes, des Protestantenvereins und in Kulturbünden die Propagierung des Reichsglaubens vorantrieben und die Zielsetzung verfolgten, den „sittlichen Gesamtwillen der Nation“38 zu bilden. Pfleiderer knüpfte in

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O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage, 2 Bde., I. Geschichte der Religionsphilosophie von Spinoza bis auf die Gegenwart, Berlin 1883; II. Genetisch-spekulative Religionsphilosophie, Berlin 1884. Vgl. dazu die Ausführungen zur religionsgeschichtlichen Grundlegung der Theologie bei O. PFLEIDERER in Kapitel III, ff. O. PFLEIDERER, Die Ritschl’sche Theologie kritisch beleuchtet, Braunschweig 1891. Als Kompendium für Theologiestudenten publizierte PFLEIDERER 1880 einen Grundriss der Glaubenslehre und Ethik, der bis 1898 sechs Auflagen erreichte. Ders., Grundriss der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, 1880, ²1882; dritte, verbesserte Auflage = Grundriss der christlichen Glaubens- und Sittenlehre als Compendium für Studierende und als Leitfaden für den Unterricht an höheren Schulen 1886, 41888, 51893, sechste und verbesserte Auflage 1898. O. PFLEIDERER, Das Urchristenthum, seine Schriften und Lehren in geschichtlichem Zusammenhange beschrieben, Berlin 1887. Vgl. dazu R. SEEBERG, Art. Pfleiderer, Otto, in: ³RE, Bd. 24 (1913), 317 und CHR. SCHWÖBEL, Martin Rade. Das Verhältnis von Geschichte, Religion und Moral als Grundproblem seiner Theologie, Gütersloh 1980, 149f. O. PFLEIDERER, Der deutsche Volkscharakter im Spiegel der Religion, Deutsche Rundschau 80 (1894/III), 187–213. Vgl. dazu auch O. PFLEIDERER, Das deutsche Nationalbewußtsein in Vergangenheit und Gegenwart (1895), in: Ders., Reden und Auf-

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

seiner Berliner Zeit verstärkt Kontakte zu niederländischen, englischen und amerikanischen Religionswissenschaftlern und fand mit seiner religionsgeschichtlich orientierten Theologie dort große Resonanz.39 Was die Quantität seiner Publikationen betrifft, so gehörte Pfleiderer zu den produktivsten der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wirkenden Theologen. Sein breit angelegtes, der neutestamentlichen Theologie, der Christentums- und Theologiegeschichte, der Religionsphilosophie und Religionsgeschichte, der Systematischen Theologie und der Kirchenpolitik gewidmetes Werk ist weitgehend unbekannt, so dass es auch in den meisten neueren Theologiegeschichten nicht mehr berücksichtigt ist.40

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sätze, München 1909, 68–94. Zu den kirchen- und reichspolitischen Ansätzen PFLEIDERERS vgl. F. W. GRAF, Protestantische Theologie, 36 ff. So hielt er beispielsweise in London und Oxford 1885 Lectures on the Influence of the Apostel Paul on the Development of Christianity im Rahmen der Hibbert Lectures. Seine Kontakte in die USA brachten ihm Einfluss in dem International Council of Unitarian and other Liberal Religious Thinkers and Workers. R. LEUZE hat PFLEIDERERS religionsphilosophische und religionsgeschichtliche Verankerung der Theologie in ihrer Genese dargestellt, und damit einen Teil des Lebenswerkes PFLEIDERERS in Erinnerung zu rufen. LEUZE fragt nach den jeweiligen Einflüssen philosophischer, psychologischer, theologischer und religionswissenschaftlicher Provinienz, die für Pfleiderers Religionsphilosophie und ihre fortlaufenden Neufassungen bestimmend geworden sind und skizziert die Veränderungen in Bezug auf den Religionsbegriff und das Verständnis der Religionsgeschichte. Am Ende hält LEUZE an seiner schon gegenüber dem Erstlingswerk adressierten Kritik fest: PFLEIDERER gelinge es nicht, eine religionsgeschichtlich orientierte Theologie „in einer systematischen stringenten Weise“ zu entwickeln, weshalb Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion der Konzeption PFLEIDERERS vorzuziehen seien. Vgl. R. LEUZE, Theologie und Religionsgeschichte, 437.

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1.3 Adolf Hilgenfeld (1823–1907)41 Adolf Bernhard Christoph Christian Hilgenfeld wird am 2. Juni 1823 in Stappenbeck bei Salzwedel als Sohn eines Pfarrers geboren. Am 21. April 1841 nimmt er das Theologie-Studium in Berlin auf, wo insbesondere Wilhelm Vatke (1806–1882) als Alttestamentler und Religionsphilosoph Einfluss auf ihn ausübt. Gegen Ende seiner Berliner Studienzeit befasst er sich intensiv mit der ersten Auflage von Schleiermachers Glaubenslehre. Er findet, wie er in einem Brief an seinen Vater vom 3. November 1842 schreibt, bei Schleiermacher „die wahre Theologie wie die wahre Philosophie, vor allem die richtige Auffassung von der Religion“42. Im Frühjahr 1843 wechselt Hilgenfeld von Berlin nach Halle, wo der Kirchenhistoriker Johann Karl Thilo (1794–1853) sein Lehrer und Förderer wird. Unter seiner Anleitung beginnt Hilgenfeld im WS 1844/45 sich in die pseudoclementische Literatur einzuarbeiten. Die Clementinen seien eine Schrift, berichtet er seinem Vater in einem Brief am 31.3.1845, die erst in der neuesten Zeit beachtet würde und ein ganz anderes Licht auf die älteste Geschichte des Christentums werfen würde. „Sie stehen im grellsten Widerspruch gegen den Paulinismus und zeigen, daß der Apostel Paulus mit seiner Lehre von der Aufhebung des Gesetzes und vom allein rechtfertigenden Glauben ganz vereinzelt dastand und

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Zu Vita, Werk, theologie- und wissenschaftsgeschichtlicher Verortung von A. HILGENFLED vgl. Lebensskizzen der Professoren der Universität Jena seit 1558 bis 1858, 49f.; K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 276f.285ff.292ff.; H. HILGENFELD (Hg.), Verzeichnis der von Adolf Hilgenfeld verfassten Schriften, Leipzig 1906 (Dem Verzeichnis der Schriften ist eine Übersicht der Daten aus dem Leben Hilgenfelds beigegeben); Ders., Nachträge, in: ZwTh 50 (1907), 19–23; Ders., Der Fall Hilgenfeld in Osterburg 1856, in: ZwTh 50 (1908), 297-323; U. KÖPF, Die theologischen Tübinger Schulen; O. PFLEIDERER, Die Entwicklung, 292–297; H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil I, Hilgenfelds wissenschaftlicher Weg und seine Stellung in der zeutgenössischen Forschung; Teil II, Hilgenfelds Beitrag zur Erforschung des Urchristentums; Teil III, Hegelscher Geist und Tübinger Geschichtsbild von Baur bis Holtzmann (im Rahmen der Dissertation nicht ausgeführt); Teil IV, Briefe und andere ungedruckte Dokumente, Erlangen 1962; Die Briefe HILGENFELDS sind größtenteils veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, (danach werden die Briefe in dieser Arbeit zitiert). Zum spannungsvollen und problematischen akademischen Werdegang von HILGENFELD an der Theologischen Fakultät in Jena vgl. die nur für seine akademische Vita angelegte Akte der Theologischen Fakultät. „Acta der Theologischen Facultät betreffend. Die Habilitation des Dr. Adolph Bernhard Christoph Christian Hilgenfeld und seine Ernennung zum a.o. Professor und zum ord. Honorarprofessor betreffend, 1847–1869“, UA Jena, Bestand J, Nr. 111. A. HILGENFELD, Brief an den Vater vom 3. November 1842, in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 36.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

nicht sowohl mit den Juden, als vielmehr mit den Judenchristen zu kämpfen hatte, zu welchen mehr oder weniger alle früheren Christen gehörten. ... Als ausgemachte Sache kann man es betrachten, daß wenigstens im ersten Jahrhundert der Paulinismus, von welchem die meisten unserer neutestamentlichen Schriften herrühren, die unterdrückte Partei war und erst im zweiten Jahrhundert siegte.“43

Hier zeigen sich bei Hilgenfeld Grundzüge des Geschichtsbildes der ‚Tübinger Schule‘ und ihres Gründers Ferdinand Christian Baur44, und es deutet sich an, warum Hilgenfeld zu seiner Zeit ebenso wie in der späteren Theologiegeschichtsschreibung als Vertreter der ‚Tübinger Schule‘ gesehen wird.45 Obwohl Hilgenfeld nie in Tübingen studiert hatte, zählte Baur ihn zu seinen Anhängern.46 Nach dem im November 1845 in Halle bestandenen Examen will Hilgenfeld eine Arbeit über Schleiermachers theologisches System im Verhältnis zur Philosophie Baruch Spinozas schreiben. Es geht ihm darum, die Schleiermachersche Modifikation des Spinozismus herauszuarbeiten und Schleiermacher durch Spinoza zu kommentieren, denn „der einzige Weg, um Schleiermacher zu verstehen, ist das Studium

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Brief an den Vater, 31.3.1845, veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 43. Vgl. dazu F. CHR. BAUR, Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, in: TZTh 4 (1831), 61–206. Mit dieser Arbeit hatte BAUR erstmals seinen Grundsatz zur Erforschung des Urchistentums, bei dem er von der Grundanschauung einer doppelten Urkirche – einer juden- und einer heidenchristlichen – ausging, die in einem schroffen Gegensatz zueinander standen, veröffentlicht. Zur Genese des Begriffs, zur inhaltlichen Charakterisierung und zum Umfang der Tübinger Schule vgl. U. KÖPF, Die theologischen Tübinger Schulen. H. PÖLCHER hat das Verhältnis von HILGENFELD und BAUR eingehend beleuchtet, auch die scharfen und prinzipiellen Auseinandersetzung markiert und dabei den regen Briefverkehr zwischen den beiden einbezogen. Vgl. dazu Ders., Adolf Hilgenfeld, Teil I, 1–17.40– 90. Zur Rezeption und Abgrenzung von BAURS Prinzipien der Exegese vgl. Kapitel IV, 228ff. O. PFLEIDERER weist in seiner Darstellung zur Entwicklung der protestantischen Theologie darauf hin, dass HILGENFELD zwar seine Differenzen zur Tübinger Schule betone, gleichwohl aber als Anhänger derselben zu gelten habe. Vgl. Ders., Die Entwicklung, 292f. F. W. GRAF stellt in einem Artikel über R. SEYERLEN (1831–1906), den Nachfolger PFLEIDERERS als Ordinarius für Praktische Theologie in Jena, fest: „Gemeinsam mit Theologen wie Pfleiderer und Hilgenfeld repäsentierte er die letzte Generation der Tübinger Schule.“ F. W. GRAF, Art. Seyerlen, Rudolf, in: BBKL, Bd. 9 (1995), 1537–1567, hier: 1559. In seiner Antwort an K. HASE von 1855 hob er ihn unter seinen „jüngere(n) Mitarbeiter(n)“ besonders hervor, und dies, obwohl HILGENFELD seine Auffassung der Evangelien bereits 1854 klar von derjenigen BAURS abgegrenzt hatte. Vgl. dazu F. CHR. BAUR, An Herrn Dr. Karl Hase. Beantwortung des Sendschreibens ‚Die Tübinger Schule‘, 1855, 59; A. HILGENFELD, Die Evangelien, nach ihrer Entstehung und geschichtlichen Bedeutung, Leipzig 1854, Vorwort.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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der spinozistischen Philosophie“47. Mit einem Teil dieser Untersuchungen, zusammengefasst in der Inaugural-Dissertation „Spinozae systema exponitur et dijudicatur“ promovierte er im Mai 1846 an der Philosophischen Fakultät in Halle. Danach widmet er sich intensiv dem Studium der Pseudoclementinen. Im Mai 1847 reicht er einen Teil dieser Studien als Habilitationsschrift an der Theologischen Fakultät in Jena ein.48 Im Herbst 1847 beginnt er im Alter von 24 Jahren in Jena Vorlesungen zur Dogmengeschichte, zur apologetischen und philosophischen Theologie zu halten. In den folgenden Jahren zeichnet sich in der Forschungs- und Lehrtätigkeit bei Hilgenfeld eine Schwerpunktverlagerung zur historisch-kritischen Exegese bzw. zur literarhistorischen Analyse ab, wobei es ihm besonders um die Rekonstruktion der Grundlinien der urchristlichen Religionsgeschichte geht. Ende 1851 schreibt er im Vorwort zu seiner Arbeit über den Galaterbrief: „So oft ich schon das Gebiet des Urchristentums unmutig verlassen wollte, so ist es mir doch bis jetzt noch nicht möglich gewesen, mich von einer Forschung zu trennen, in welcher ich vielleicht den mir zugewiesenen Beruf erkennen darf.“49

Anfang 1848 erscheint sein Werk über die clementinischen Recognitionen und Homilien, das seinen Ruf in der Fachwelt begründet.50 So rühmt beispielsweise Karl Schwarz die literarhistorischen Analysen an diesem schwierigen Stoff als vorbildlich und bahnbrechend.51 Das Neue an seinen Untersuchungen ist, dass er gegenüber der mehr oder weniger unkritischen oder summarischen Verwendung dieser Texte – beispielsweise zur Aufhellung der urchristlichen Parteienverhältnisse bei Baur – entschlossen den Schritt zur literarhistorischen Fragestellung tut. „Man kann mit Sicherheit behaupten, daß nur eine solche Ansicht von der Entwicklung des Urchristentums jede Probe bestanden hat, welcher es gelungen ist vollkommen in die Werkstätte einzudringen, aus welcher diese Schriften hervorgegangen sind.“52

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Brief an den Vater vom 16.11.1845, veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 38. A. HILGENFELD, De origine recognitionum et homiliarum Clementis, Jena 1847. A. HILGENFELD, Der Galaterbrief, übersetzt, in seinen geschichtlichen Beziehungen untersucht und erklärt, Leipzig 1852, Vorwort. A. HILGENFELD, Die Clementinischen Recognitionen und Homilien nach ihrem Ursprung ind Inhalt dargestellt, Jena 1848. K. SCHWARZ, Zur Geschichte (³1864), 173f. A. HILGENFELD, Die Clementinischen Recognitionen, 1.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

Mit der religionsgeschichtlichen Deutung und Einordnung dieser Texte als Urkunden eines entwicklungsfähigen Judenchristentums sind Positionen bezogen, die er zwar noch in Einzelheiten ausbaut und verändert, im Ganzen aber nicht mehr preisgibt. Für seine Arbeit in den folgenden Jahren stellt dieses Werk eine Art Programmschrift dar. 1853 veröffentlicht Hilgenfeld eine Arbeit über „Die apostolischen Väter“53, in der er die Grundzüge und das Anliegen seiner literarhistorischen Ansatzes kennzeichnet. Es geht ihm darum, „in den einzelnen Hauptschriften des rätselvollen Zeitraums selbst so viel als möglich feste Anhaltspunkte zu gewinnen, um für eine sichere Grundlegung der noch so schwankenden Gesamtauffassung einen Beitrag zu liefern“54.

Im Mai 1855 tritt Hilgenfeld mit dem sieben Jahre jüngeren Richard A. Lipsius in Verbindung. In einem langen Antwortbrief erklärt sich Lipsius einig mit Hilgenfelds wissenschaftlichen Grundprinzipien einer literarhistorischen Analyse und dankt ihm für das, was er im Vorwort zu seinem Werk über die apostolischen Väter zum „Verhegeln“ der Geschichte gesagt hat.55 Aus dem ersten Kontakt erwächst eine Freundschaft, die sich in 95 Briefen von Lipsius an Hilgenfeld äußert, aber auch in vielen wohlwollend-kritischen wechselseitigen Rezensionen niedergeschlagen hat. Die Freundschaft überstand auch die Belastung überstanden, dass Lipsius 1871 als Ordinarius für neutestamentliche Exegese und Dogmatik die Vertretung des neutestamentlichen Faches übernahm, womit er Hilgenfeld den Zugang zur Fakultät für lange Zeit versperrte.56 Seinen ersten größeren Beitrag über die jüdische Apokalyptik veröffentlicht Hilgenfeld 1857. Nach einer allgemeinen Einleitung über Wesen und Begriff der jüdischen Apokalyptik behandelt er das Danielbuch als Prototyp der Apokalypsen überhaupt, dann die

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A. HILGENFELD, Die apostolischen Väter, Untersuchungen über Inhalt und Ursprung der unter ihrem Namen erhaltenen Schriften, Halle 1853. Ebd., IV. „Es scheint mir überhaupt auch auf dem Gebiet der urchistlichen Geschichtsforschung der geschlossene, sozusagen spinozistische Monismus der Gesamtauffassung einer Ergänzung durch einen monadischen Individualismus, durch eine Vertiefung in das volle, eigenthümliche Leben der einzelnen Erscheinung zu bedürfen.“ Ebd., IV. Brief von LIPSIUS an HILGENFELD vom 20. Mai 1855, veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 154–162. Vgl. dazu H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil I, 112f.; Teil IV, 165–172; K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 300ff.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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Sibyllinen, das Buch Henoch, IV. Esra und schließlich den Essäismus, in dem er den Ausläufer der jüdischen Apokalyptik sieht.57 1858 schließlich gründete Hilgenfeld die „Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie“ mit der Zielsetzung, einer klar definierten ‚Richtung‘ Jenaer Theologie weitere Verbreitung zu ermöglichen. Die Zeitschrift soll von Jena aus „das Princip der Wissenschaftlichkeit in der Theologie vertreten, aber im Einklang mit den Principien des Christenthums und des Protestantismus und mit möglichster Berücksichtigung der praktisch-kirchlichen Zeitfragen in ihrer Beziehung zu der wissenschaftlichen Theologie“. Da kurz zuvor die „Tübinger Theologischen Jahrbücher“ (1842–1857) eingestellt worden waren, trat Hilgenfelds Zeitschrift in gewisser Weise deren Nachfolge an. Baur hat daher auch an den drei Jahrgängen der neuen Zeitschrift, die er noch erlebte, regelmäßig mitgearbeitet. Allerdings – so Hilgenfeld – sollte die Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie im Unterschied zu den Tübinger Jahrbüchern regelmäßig „Erörterungen brennender kirchlicher Zeitfragen enthalten“ und auf diese Weise „wirklich den Stand der wissenschaftlichen Theologie in theoretischer und praktischer Hinsicht allseitig darstellen“.58 In der Vorankündigung zum Erscheinen der Zeitschrift formuliert Hilgenfeld als deren Leitgedanken, dass „das Christenthum als die wahre Geistes-Religion und der Protestantismus als die Herstellung der reinen Geistigkeit des Christenthums“ den Theologen zu vorurteilsfreier wissenschaftlicher Erforschung der Wahrheit des Christentums antreiben und befähigen solle.59 Die Zeitschrift wurde von Hilgenfeld bis zu seinem Tod geleitet. Die Inhalte wurden in weiten Teilen von Hilgenfelds eigenen Arbeiten zu den spezifischen Fragen der urchristlichen Religionsgeschichte dominiert, damit aber

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A. HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik in ihrer geschichtlichen Entwickelung. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Christentums nebst einem Anhange über das gnostische System des Basilides, Jena 1857. A. HILGENFELD, Ankündigungen (S. 1–4), beigebunden in: ZwTh 1 (1858), 1. Vgl. auch den Ankündigungsprospekt von 1857 und das Register zur Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, Anhang und Register. Der programmatische Einleitungsaufsatz von HILGENFELD steht unter dem Thema: „Die wissenschaftliche Theologie und ihre gegenwärtige Aufgabe.“ Vorwort des Herausgebers, in: ZwTh 1 (1858), 1–21. ADOLF HILGENFELD, Ankündigungen, 2. Vgl. dazu das Verzeichnis seiner Vorlesungen in: ZwTh 50 (1907), 19ff. und die Ergänzungen bzw. Korrekturen von H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil I, 72, Anm. 203. HILGENFELD hat neben einigen exegetischen Vorlesungen und der hebräischen Sprache die ‚Biblische Theologie des Alten und Neuen Testaments‘ von 1858-1864 in sechs Wintersemestern angezeigt.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

auch in der Breite wissenschaftlicher Forschung begrenzt und redaktionell verengt. In den sechziger Jahren kam es im Zusammenhang mit der Berufung von August Köhler (1835–1897) als Nachfolger des Alttestamentlers Andreas Gottlieb Hoffmann (1796–1864), der am 16. März 1864 verstorben war, zu einem fakultätsinternen Streit, der einerseits die Problematik um die wissenschaftliche Laufbahn Hilgenfelds in Jena spiegelt und andererseits zeigt, wie geschlossen sich die Jenaer Theologische Fakultät in ihrer ideellen Grundausrichtung positionierte. Hilgenfeld hatte seit 1859 neben Vorlesungen zum Neuen Testament, zur Dogmen- und Kirchengeschichte auch alttestamentliche Vorlesungen gehalten und nach dem Tod Hoffmanns auf eine Ernennung zum Ordinarius für Altes Testament gehofft.60 Mit der Berufung August Köhlers nach Jena, so hebt die Protestantische Kirchenzeitung (PKZ) hervor, „besitzt denn Jena, was es seit hundert Jahren nicht besessen, einen orthodoxen, konfessionellen Theologen“, wohingegen Hilgenfeld in seiner Zeitschrift kritische Rezensionen des Züricher Pfarrers Dr. Carl Egli zu den neuesten Schriften von August Köhler und Eduard Riehm unter dem Titel „Der Rückschritt im Alten Testament, beleuchtet an zwei neuesten Schriften von Riehm und Köhler“ veröffentlicht, und damit einen theologiepolitischen und fakultätsinternen Streit vom Zaun bricht.61 Dieser war neben sachlichen Gegebenheiten und persönlichen Verwerfungen (u.a. mit Karl von Hase) mit ausschlaggebend dafür, dass ihm ein Ordinariat in der Theologischen Fakultät bis ins hohe Alter verschlossen blieb.62 Im März 1869 wurde Hilgenfeld allerdings zum ordentlichen Honorarprofessor der Theologie ernannt.63 Als Mitglied des Jenaer Kirchenvorstandes, dem er von 1866 bis 1872 angehörte, wirkte Hilgenfeld 1870 an der Berufung des 30jährigen Heilbronner Stadtpfarrers Otto Pfleiderer zum Oberpfarrer und Superintendenten nach Jena mit. Er stand bereits seit 1866 im Briefwechsel 61 62

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(ANON.), Jena, in: PKZ (1864), Nr. 39, (24. September), 845f.; ZwTh 10 (1864). HILGENFELD schreibt in einem Brief an seinen Sohn Rudolf vom 20.12.1885: „Solange Hase lebt, kann selbst der Kurator für mich nichts durchsetzen.“ Veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 172. LIPSIUS weist in einem Brief an BIEDERMANN vom 24.8.1871 auf die theologisch-sachlichen, aber auch die persönlichen Gründe für das fehlende Vorankommen HILGENFELDS in seiner wissenschaftlichen Karriere in Jena hin. Vgl. R. A. LIPSIUS, Brief an Alois Emanuel Biedermann vom 6.4.1873, in: ThZ 6 (1950), 144ff. In einem Brief an seinen Vater vom 16. Juli 1869 schreibt HILGENFELD: „Seine Königliche Hoheit der Großherzog hat im Einverständnis mit den Herzögen von Sachsen Hoheiten allergnädigst geruht, den außerordentlichen Professor der Theologie Dr. A. Hilgenfeld zum ordentlichen Honorarprofessor bei der theologischen Fakultät zu ernennen ... “. Veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil I, 159.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

53

mit Pfleiderer und dieser hatte ihn um Vermittlung und Fürsprache gebeten.64 1884 veröffentlichte Hilgenfeld als Ergebnis seiner langjährigen Studien zu Gnostizismus und Patristik sein letztes zusammenfassendes Hauptwerk, eine „Ketzergeschichte des Urchristentums“65. Diese Arbeit zeigt in typischer Weise die intensive, an den Quellen orientierte Forschungsarbeit Hilgenfelds. Sie ist im Grunde genommen keine Ketzergeschichte, sondern ein Quellenbuch zur Häreseologie der alten Kirche in den ersten beiden Jahrhunderten. Nach dem Tod Karl Hases im Januar 1890 beantragten Fakultät und Senat unverzüglich und einstimmig die Einrichtung einer fünften ordentlichen theologischen Professur und ihre Übertragung an Hilgenfeld.66 Zum 1. Oktober 1890 erfolgte die Ernennung Hilgenfelds zum Professor für Neues Testament und älteste Kirchengeschichte.67 Hilgenfeld wirkte dann noch eine Zeit als ordentlicher Professor und hatte auch das Amt des Dekans inne, bevor er am 12. Januar 1907 in Jena starb. So bescheiden Hilgenfelds Erfolge als akademischer Lehrer waren, so fruchtbar war seine literarische Arbeit als theologischer Schriftsteller. Dabei ist nicht nur die Vielzahl der Arbeiten beachtlich, sondern auch die interdisziplinäre Ausdehnung der von ihm bearbeiteten Fragen und Problemstellungen. Seine historischen Interessen umfassen einen Zeitraum von etwa 800 Jahren. Er hat sich ebenso mit den Wurzeln der jüdischen Apokalyptik in der ausgehenden Prophetie des Alten Testaments und im nachexilischen Judentum wie etwa mit der Religionspolitik der letzten römischen Kaiser befasst. Dazu kommen Beiträge zur Dogmengeschichte des Mittelalters und der Reformationszeit, zur Theologiegeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts sowie zu systematisch-theologischen Fragen. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht aber die Geschichte des Urchristentums einschließlich seiner spätjüdischen Voraussetzungen und seiner griechisch-gnostischen Beeinflussung.68 64

65 66 67

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Vgl. dazu Kapitel I, 5, Anm. 22, wo der erwähnte Brief zitiert wird. Zuvor hatte HILGENFELD in der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie bereits einige Aufsätze von PFLEIDERER veröffentlicht, so beispielsweise eine Rezension zur Dogmatik von BIEDERMANN. Vgl. ZwTh 13 (1870), 1ff. A. HILGENFELD, Die Ketzergeschichte des Urchristentums. Urkundlich dargestellt, Leipzig 1884. Vgl. dazu die Ausführungen zur Herausbildung der fünf Nominalprofessuren in Jena, Kapitel II, 80ff. So die Bezeichnung seines Ordinariats in dem Fakultätsantrag für seine Ernennung zum ordentlichen öffentlichen Professor vom 14. Januar 1890. UA Jena, Bestand J, Nr. 117, 65. Vgl. dazu H. HILGENFELD, Verzeichnis der von Adolf Hilgenfeld verfassten Schriften, Leipzig 1906.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

1.4 Ludwig Diestel (1825–1879)69 Ludwig Diestel wurde am 28. September 1825 in Königsberg geboren. Er begann nach dem Besuch des Collegiums Fridericianums 1844 das Studium der Theologie in Königsberg und bestand am 22.10.1847 das examen pro licentia concionandi. Bis März 1848 setzte er das Theologiestudium in Berlin fort, ab April 1848 in Bonn. Im Frühjahr 1850 legte er in Koblenz das theologische Kandidaten-Examen ab, und promovierte im Jahr darauf in Bonn zum Licentiaten der Theologie. Dabei war Richard Rothe sein Promotor. Nur kurze Zeit später, im März 1851, habilitierte sich Diestel an der evangelisch-theologischen Fakultät in Bonn und war danach zunächst bis 1858 als Privtdozent tätig, bevor er von 1858 bis 1862 eine außerordentliche Professur innehatte. In seiner Zeit als Privatdozent in Bonn entwickelte sich eine enge freundschaftliche Beziehung zu Albrecht Ritschl (1822-1889).70 Diestel erhielt im Frühjahr 1862 eine ordentliche Professur für Altes Testament in Greifswald und nahm dort am 12. Januar 1867 den Ruf als Professor für alttestamentliche Exegese nach Jena an.71 1872 wurde Diestel Nachfolger Gustav Friedrich Oehlers (1812– 1872) in Tübingen. Eine spätere Berufung nach Heidelberg schlug er

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Zu Vita, Werk, theologie- und wissenschaftsgeschichtlicher Verortung von L. DIESTEL vgl. H. FAULENBACH (Hg.), Das Album Professorum der EvangelischTheologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 18181933, Bonn 1995, 78f.; A. JEPSEN, Ludwig Diestel als Greifswalder Theologe, in: Ders., Herr ist Gott. Aufsätze zur Wissenschaft vom Alten Testament, Berlin 1978, 241-253; E. KAUTZSCH, Art. Diestel, Ludwig, in: ³RE, Bd. 4 (1898), 647–650; Ders., Diestel, Ludwig, ADB, Bd. 47 (1903), 685ff.; H. MULERT, Art. Diestel, Ludwig, in: ²RGG, Bd. 1 (1927), Sp. 1934; R. SMEND, Das Alte Testament in Greifswald, in: Ders., Bibel und Wissenschaft, Tübingen 2004, 130–140. Einen kurzen Abriss seines Lebens gibt DIESTEL selbst im Greifswalder Dozentenalbum, in das er seine autobiografischen Notizen eingetragen hat. Vgl. A. JEPSEN, Ludwig Diestel, 252, Anm. 1. Vgl. dazu den Briefwechsel von L. DIESTEL mit A. RITSCHL. 28 Briefe im Original befinden sich in der Universitätsbibliothek Tübingen. Dieser Briefwechsel gibt nicht nur Auskunft über die Greifswalder Jahre, sondern auch über das Verhältnis der beiden Freunde zueinander. Vgl. dazu A. JEPSEN, Ludwig Diestel, 141ff. Der Denominationsbericht zur Wiederbesetzung der Professur für alttestamentliche Exegese vom 23. November 1866 schlägt an erster Stelle A. SIMSON aus Königsberg, an zweiter Stelle L. DIESTEL vor, der als „ein geistvoller Mann in der Schrift“ bezeichnet wird, dessen Schriften ein „lebendiges Zeugnis sind in dem Geist der alttestamentlichen Offenbarung“. UA Jena, Bestand J, Nr. 116, 26–27. Zur Berufung nach Jena vgl. auch ThStA Altenburg, GehM Nr. 1129, Berufung und Personalangelegenheiten Diestel (1866–1872).

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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aus.72 In Tübingen starb Diestel nach einer schweren Krankheit im Alter von nur 54 Jahren am 15. Mai 1879. Ludwig Diestel versucht in seinen Werken und seinem Wirken wissenschaftliche Theologie und kirchliches Leben zu vereinen. Dabei tritt er mehrfach für eine freie wissenschaftliche Forschung der Theologie ein, arbeitet im Protestantenverein mit und bekundete sein Engagement für die Freiheit und Unabhängigkeit der Forschung durch seine Beteiligung an der ‚Jenenser Erklärung‘ von 1872/73, die sich im Zusammenhang mit einem Lehrzuchtverfahren gegen die Berliner Pfarrer Lisco und Sydow für die protestantische Lehrfreiheit aussprach.73 Von Diestel liegen mehrere Abhandlungen und Aufsätze zu den Fachgebieten Altes Testament und altorientalische Religionsgeschichte vor, aber auch Arbeiten zu dogmatischen bzw. dogmengeschichtlichen Fragestellungen.74 Als Diestel 1867 von Greifswald nach Jena wechselt, hat er weite Teile seines Hauptwerks zur Geschichte des Alten Testaments bereits fertiggestellt. Während seiner Zeit in Jena veröffentlicht Diestel dann 1869 das bis heute klassische forschungsgeschichtliche Werk zum Alten Testament. Es trägt den charakteristischen Titel „Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche“75. Historiographisch repräsentierte dieses Werk im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Novum, denn

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Die Berufung nach Heidelberg erwähnt der ohne Verfasserangabe gedruckte Nekrolog auf L. DIESTEL, in: PKZ 21 (1879), Sp. 437–439. Die Berufung DIESTELS nach Tübingen bedeutete die erste Berufung eines nichtwürttembergischen Theologen seit langer Zeit und galt als besonders ehrenvoll, wie der Jenaer Universitätskurator M. SEEBECK festellte: „Denn in Württemberg ist man gewohnt, hinaus an andere Universitäten Theologen zu liefern, nicht aber solche von daher sich zu holen.“ (Schreiben des Universitätskurators SEEBECK an das Altenburgische Ministerium vom 11. Mai 1872; StA Altenburg, GesM 1129). Vgl. E. KAUTZSCH, Art. Diestel, Ludwig, ³RE, Bd IV (1898), Sp 648. Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel II, 56f. sowie die Literaturhinweise in Anm. 135. E. REUSS nennt L. DIESTEL in einem Brief an K. H. GRAF vom 30.05.1867 einen „Liberalen“. Ders., Briefwechsel mit seinem Schüler und Freunde Karl Heinrich Graf, hg. v. K. BUDDE/H.-J. HOLTZMANN, Gießen 1904, 582. Vgl. dazu die bei KAUTZSCH angeführten Werke und Veröffentlichungen DIESTELS. E. KAUTZSCH, Art. Diestel, Ludwig, in: ³RE, Bd. IV (1898), 647ff. L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche, 1869. Wie das Werk entstanden ist, lässt sich aus seinen Briefen an A. RITSCHL erkennen. Als DIESTEL 1867 als Professor für alttestamentliche Exegese von Greifswald nach Jena übersiedelte, hatte er das Werk weitgehend fertiggestellt. Vgl. L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, III-X (Vorrede); A. JEPSEN, Ludwig Diestel, 242–249. Zur jüngsten forschungsgeschichtlichen Einordnung des Werkes und zu seiner wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung vgl. M. SAEBO, Zur neueren Interpretationsgeschichte des Alten Testaments, in: ThLZ 130 (2005), Sp. 1033–1044.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

zuvor hatte es keine Darstellung gegeben, in der die ganze Geschichte der Auslegung und Erforschung des Alten Testaments in so umfassender Breite und Materialfülle erfasst worden war. Dass Ludwig Diestel als junger Alttestamentler ein wissenschafts- und theologiegeschichtliches Werk dieser Art, weithin auf seine Quellenstudien gegründet, mit einer eindrucksvollen Gründlichkeit und Kohärenz innerhalb eines Zeitraumes von nur etwa zehn Jahren verfassen konnte, belegt seine breite theologische Gelehrsamkeit. Diestel beschränkt sich in der Erfassung und Darstellung der Auslegungsgeschichte insofern er die jüdische Auslegung der hebräischen Bibel gänzlich ausklammert. Was das von ihm bevorzugte Forschungsgebiet, das Alte Testament in der christlichen Kirche, betrifft, so formuliert er für die Stoffauswahl drei Ziele, nämlich wie das Alte Testament „wissenschaftlich behandelt, theologisch aufgefasst und praktisch verwertet worden ist“76. Während sich die ersten beiden Ziele auf die konkrete exegetische Auslegung und auf die theologische und hermeneutische Auffassung des Alten Testaments durch die Kirche, also auf dessen wechselhafte christlich-theologische Rezeptionsgeschichte, beziehen, geht es bei der dritten Zielsetzung um die Wirkungsgeschichte des Alten Testaments auch außerhalb der Kirche. Hierbei richtet Diestel sein besonderes Augenmerk nicht nur auf „den Einfluss des AT auf das Leben der Kirche, auf Verfassung, Cultus und Lehre“, sondern darüber hinaus auch auf „die Verwendung alttestamentlicher Stoffe in der Kunst und die Verwertung alttestamentlicher Normen im Rechtsleben“77. Dieser dritte Aspekt kommt aber in seiner Darstellung nicht in demselben Ausmaß zum Tragen wie die beiden ersten, die den größten Raum einnehmen, so dass Wellhausens Urteil nachvollziehbar ist: „Diestel gibt mehr eine Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft.“78 Diestel teilt sein Werk in drei ‚Bücher‘ ein, die den üblichen Einteilungen in Frühzeit, Mittelalter und Neuzeit entsprechen. Die ‚Bücher‘ wiederum sind in insgesamt sieben ‚Perioden‘ eingeteilt, von denen die zwei letzten – von 1600 bis etwa 1850 – den allergrößten Raum einnehmen, wobei klar erkenntlich wird, dass seine Geschichte ihren Schwerpunkt in der neuesten Zeit hat, in der die moderne und historisch geprägte Wissenschaft des Alten Testaments durch „Kampf“ mit der Orthodoxie und durch „Lösung der Gegensätze“ zur Vorherrschaft

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L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, III (Vorrede). Ebd., III. F. BLEEK, Einleitung in das Alte Testament, hg. v. J. WELLHAUSEN, Berlin 41878, 644, Anm. 1.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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gelangt ist. Diestel war der Meinung, dass die Zeit von 1600 bis 1750 „der eigentliche Mutterschoss ist, aus der unsere gesamte neuere Wissenschaft des A.T. geboren ist“79.

1.5 Adalbert Merx (1837–1909)80 Adalbert Merx wurde am 2. November 1838 in Bleicherode geboren. Bereits in seiner Schulzeit in Schulpforta legte er den Grund für seine hebräischen, syrischen und arabischen Sprachkenntnisse. Merx fasste nach eigenem Bekunden bereits in seiner Schulzeit den Wunsch, „Sprachwissenschaft zu studieren“, sah aber, „daß diese Studien allein ein zu unsicherer Boden wären“ und entschloss sich daher, „die Theologie mitzustudieren, die durch die Anwendung orientalischer Sprachkenntnisse auf das Alte Testament notwendig gewinnen muß“.81 Ab dem Sommersemester 1857 begann er mit dem TheologieStudium an der Philipps-Universität in Marburg. Er blieb dort für drei Semester und wechselte anschließend nach Halle und von dort nach Breslau. 1862 wurde er in der Philosophischen Fakultät in Breslau promoviert mit einer Arbeit über die Ignatianischen Briefe. 82 Merx hielt alle unter dem Namen des Ignatius stehenden Schriften für unecht und wies in Bezug auf die in syrischer Sprache erhaltenen drei Briefe nach, dass eine vollständige Übersetzung aller sieben grossen Sendschreiben vorhanden gewesen und somit die uns jetzt erhaltene syrische Übersetzung eine aus jener verkürzte sein müsse. In den Jahren 1862 bis 1864 studierte Merx in Berlin, wo er sich 1864 mit einer (ungedruckten) Arbeit über Tendenz und Komposition des Hiobbuches die Licentiatenwürde erwarb. Auf Anregung Adolf Hilgenfelds wurde Merx am 2. Mai 1865 an der Theologischen Fakultät in Jena mit der Schrift „Cur in libro Danielis iuxta hebraeam aramaea adhibita sit dialectus explicatur“ promoviert.

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L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testaments, VIf. Zu Vita, zum Werk, zur theologie- und wissenschaftsgeschichtlicher Verortung von A. MERX vgl. zunächst seine eigenen Angaben in: UA Jena, Bestand J, Nr. 115, 15–17. Vgl. außerdem G. BEER, Art. Merx, Adalbert, in: ³RE, Bd. 12 (1903) 88–90; O. HERRIGEL, Zum Gedächtnis von Adalbert Merx, in: Protestantische Monatshefte 14 (1910), 41–50.89–103. Darin enthalten ist eine Bibliographie der Werke und Schriften, ebd., 101–103. K. MARTI, Ein kurzes Gedächtniswort, in: A. MERX, Der Messias oder Ta’eb der Samaritaner, Gießen 1909. Zit. nach O. HERRIGEL, Zum Gedächtnis, 43. A. MERX, Meletemata Ignatiana. Critica de epistolarum Ignatianarum versione syriaca commentatio, Halle 1862.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

Seine akademische Tätigkeit in Jena begann Merx im SS 1865 mit einer Vorlesung über Joel.83 Als es 1866 um die Neubesetzung der Professur für alttestamentliche Exegese geht, wird neben Ludwig Diestel und weiteren Kandidaten im Denominationsbericht auf Betreiben des Dekans Karl Hase auch der soeben in Jena habilitierte Adalbert Merx erwähnt und in die Überlegungen zur Nachfolgeregelung einbezogen.84 Bereits 1865 hatte sich Merx in der Pentateuchfrage zu Wort gemeldet und in einem Aufsatz in der Protestantischen Kirchenzeitung „Aphoristische Bemerkungen über die Pentateuchkritik“ anonym veröffentlicht, zu denen er sich nachträglich in einem Nachwort zum Genesis-Kommentar von Friedrich Tuch bekannte.85 1867 begann Merx unter dem Titel „Archiv für wissenschaftliche Erforschung des Alten Testaments“86 die erste Fachzeitschrift für das Alte Testament erscheinen zu lassen. Das Archiv stellte sich die Aufgabe, die folgenden Gebiete zu behandeln: 1. Grammatik und Lexikographie der hebräischen Sprache, 2. Exegese, Textkritik und alte Übersetzungen, 3. höhere (historische) Kritik, 4. Geografie, Geschichte und Altertümer Palästinas, 5. die theologische Seite des Alten Testaments, 6. die Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft in ihrer Entwicklung, Geschichte der hebräischen Grammatik und der Exegese, der Kritik und der theologischen Auffassung. 1869 wurde Merx in Jena zum außerordentlichen Professor ernannt. Im Zuge des Ernennungsverfahrens verfasst Ludwig Diestel am 15. Februar 1869 ein Gutachten über die exegetische Arbeit bzw. die literarischen Werke von Merx. Er hebt in diesem Gutachten die „gründliche philologische“ Erforschung des Alten Testaments sowie die Gründung des Archivs zur wissenschaftlichen Erforschung desselben durch Merx hervor.87 Noch im selben Jahr erhielt Merx einen Ruf als ordentlicher 83

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Vgl. dazu die Widmung an die theologische Fakultät zu Jena, in: A. MERX, Die Prophetie des Joel, Vorwort. Für das WS 1865/66 kündigte er an: Jesajanische Weissagungen, Hebräische Grammatik nach Gesenius, schwierige syrische Schriftsteller und alttestamentliche Sozietät. In der Folgezeit las er in Jena über Psalmen, Hiob, Rabbinische Kommentare, Genesis, Daniel, Arabisch, Neupersisch und Äthiopisch. Vgl. dazu O. HERRIGEL, Zum Gedächtnis, 49. In den Akten der Theologischen Fakultät sind die Habilitation und die Ernennung zum außerordentlichen Professor dokumentiert. Vgl. UA Jena, Bestand J, Nr. 115. UA Jena, Bestand J, Nr. 116, 27. A. MERX, Aphoristische Bemerkungen über die Pentateuchkritik, in: PKZ 12 (1865), 377-388. J. CHR. F. TUCH, Commentar über die Genesis, 2. Aufl. besorgt von A. ARNOLD nebst einem Nachwort von A. MERX, 1871, LXXVIII–CXXII. Archiv für wissenschaftliche Erforschung des Alten Testaments, begründet und herausgegeben von A. MERX, Leipzig I (1867)–VI (1872). UA Jena, Bestand J, Nr. 115, 15–17.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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Professor für orientalische Sprachen an die Philosophische Fakultät nach Tübingen. Im Februar 1873 nahm Merx einen Ruf als ordentlicher Professor für Altes Testament und damit als Nachfolger Eberhard Schraders an die Universität in Gießen an, und trat wieder in eine Theologische Fakultät ein. Im April 1875 schließlich erhielt er den Ruf als Nachfolger Ferdinand Hitzigs in Heidelberg, wo er bis zu seinem Tod am 4. August 1909 wirkte. Seine Arbeit als Exeget des Alten Testaments war geprägt von den außergewöhnlichen philologischen Fähigkeiten – er beherrschte die semitischen und andere orientalische Sprachen in herausragender Weise88 – und seinem regen Interesse an den grundlegenden Fragen zur Hermeneutik. Merx entzifferte phönizische, hebräische und aramäische Inschriften, gab eine syrische Grammatik und ein neusyrisches Lesebuch heraus, editierte samaritanische und arabische Texte.89 In den beiden Werken über die Prophetie des Joel und die Hermeneutik des Alten Testaments von 1879 legte Merx unter explizitem Rückbezug auf Adolf Hilgenfeld, Ludwig Diestel und Karl Siegfried, den Nachfolger Schraders als Ordinarius für Altes Testament in Jena ab 1875, seine exegetischen und hermeneutischen Grundsätze dar.90

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Vgl. dazu K. MARTI, Ein kurzes Gedächtniswort. Vgl. dazu die Bibliographie der Veröffentlichungen von MERX bei O. HERRIGEL, Zum Gedächtnis, 101–103. A. MERX, Die Prophetie des Joel; Ders., Eine Rede vom Auslegen, insbesondere des Alten Testaments, Halle 1879.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

1.6 Eberhard Schrader (1836–1908)91 Eberhard Schrader wurde am 5. Januar 1836 in Braunschweig geboren. 1854 bestand er am dortigen Obergymnasium die Reifeprüfung und begann im Collegium Carolinum das Studium der semitischen Sprachen, wobei er sich insbesondere mit der hebräischen und der arabischen Sprache befasste. 1856 immatrikulierte er sich in Göttingen und wurde dort Schüler des Alttestamentlers und Altorientalisten Heinrich G. A. Ewald (1803–1875)92, unter dessen Leitung er sich auf das Studium des Alten Testaments und der hebräischen Sprache konzentrierte. Die anderen semitischen Sprachen nimmt Schrader zunächst nur in der Perspektive in den Blick, dass sie Aufschlüsse über die Geschichte Israels vermitteln bzw. die religiös-kulturelle Umwelt des Alten Testaments erhellen. Seine erfolgreiche Beschäftigung mit diesen Sprachen beweist er durch Lösung einer von Ewald bzw. der philosophischen Fakultät in Göttingen formulierten Preisaufgabe zum Charakter des Äthiopischen. Mit seiner Arbeit „De linguae Aethiopicae cum cognatis linguis comparatae indole universa“93 gewann er den ersten Preis und 91

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Zu Vita, Werk, theologie- und wissenschaftsgeschichtlicher Verortung von E. SCHRADER vgl. K. BEZOLD, Eberhard Schrader, in: ZA 2 (1909), 355–365; Ders., Verzeichnis der meisten Schriften Eberhard Schraders, in: ZA 2 (1909), 365–385; Ders., Eberhard Schrader. Eine Lebensskizze nebst einem Verzeichnis seiner meisten Schriften, Berlin 1909; F. KUNZE, Eberhard Schrader, in: Braunschweigisches Magazin 1908, 127–131; F. WILHELM GRAF, Art. Schrader, Eberhard, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp. 826–879 (vgl. auch die dortigen Literaturhinweise); E. MEYER, Gedächtnisrede auf Eberhard Schrader, in: Abhandlungen der königlich-preussischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1909, Philosophisch-historische Klasse, Berlin 1909, 1–15; DERS., Schrader, Eberhard, in: Biographisches Lehrbuch und deutscher Nekrolog, hg. v. Anton Bettelheim, Bd. XIII, 1910, 156–163; J. RENGER, Die Geschichte der Altorientalistik und der vorderasiatischen Archäologie in Berlin von 1875–1945, in: Berlin und die Antike, 1979, 151–192; H. ZIMMERN, Worte zum Gedächtnis an Eberhard Schrader, in: Berichte über die Verhandlungen der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 60 (1908), 195–205. H. EWALD gilt mit seinem Hauptwerk „Geschichte des Volkes Israel“ als Mitbegründer der historisch-kritischen Geschichtsschreibung. Dabei will EWALD die Geschichte der Herausbildung der vollkommenen, wahren Religion nachzeichnen. Historische Forschung hat den konstruktiven Sinn, zwischen Vergänglichem und Bleibendem zu unterscheiden und den zeitübergreifenden religiösen Kern des Alten Testaments freizulegen. Zu H. EWALD vgl. H.-J. KRAUS, Geschichte der historischkritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen 1956, 182–190; L. PERLITT, Heinrich Ewald: Der Gelehrte in der Politik, in: Theologie in Göttingen, hg. v. B. MOELLER, Göttingen 1987, 157–212; J. WELLHAUSEN, Festschrift zur Feier des 100 jährigen Bestehens der Kgl. Ges. der Wissenschaften zu Göttingen, Göttingen 1901, 61ff. E. SCHRADER, De linguae Aethiopicae cum cognatis linguis comparatae indole universa sricsit Eberhardus Schrader Brunsvicensis, Göttingen 1860.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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wurde 1860 zum Dr. phil. promoviert. 1862 erhielt er eine Berufung als besoldeter Privatdozent an die Universität Zürich.94 Im Alter von nur 26 Jahren trat er dort die Nachfolge des Alttestamentlers Ferdinand Hitzig (1807–1875) an, der nach Heidelberg berufen worden war. Ostern 1863 wurde Schrader in Zürich zum ordentlichen Professor für Altes Testament ernannt. Neben exegetischen Vorlesungen hielt er Lehrveranstaltungen über Arabisch, Koptisch und Äthiopisch und veröffentlichte mehrere Arbeiten zur Exegese des Alten Testaments. 95 Literarisch trat Schrader während dieser Jahre besonders durch eine umfassende Neubearbeitung des einflussreichen Lehrbuchs der historischkritischen Einleitung in das Alte Testament von Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849) hervor, das er 1869 in achter, aktualisierter und veränderter Auflage herausgab.96 Während seiner Lehrtätigkeit in Zürich ergab sich eine tiefgreifende Veränderung in der Forschungstätigkeit Schraders. Dem Züricher Museum bzw. der Antiquarischen Gesellschaft 97 war eine Anzahl keilschriftlicher Denkmäler geschenkt worden, verschiedene assyrische Steinreliefs, die in Nimrod-Ninive gefunden worden waren. Schrader wurde auf Bitten des Archäologen Ferdinand Keller (1800–1881) von der Gesellschaft aufgefordert, sie zu katalogisieren. Dadurch musste er

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Die Züricher Fakultät wollte SCHRADER als Ordinarius berufen. Er wurde jedoch zunächst nur als Privatdozent mit einem Lehrauftrag angestellt, da nicht genügend veröffentlichte Schriften zur Beurteilung seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten vorlagen. Zu SCHRADERS Berufung nach Zürich und sein dortiges Wirken vgl. E. CAGLIARDI/J. STROHL, Die Universität Zürich 1833–1933, in: Die Universität Zürich 1833–1933 und ihre Vorläufer: Bearbeitet von E. CAGLIARDI, H. NABHOLZ und J. STROHL, Zürich 1938, 536f. E. SCHRADER, Studien zur Kritik und Erklärung der biblischen Urgeschichte Gen. Cap. I–XI. Drei Abhandlungen [I. Die Composition der biblischen Schöpfungsgeschichte Gen. I, 1–2,4; II. Ueber Sinn und Zusammenhang des Stückes von den Söhnen Gottes Gen 6,1–4; III. Die sogenannten jahvistischen Abschnitte der biblischen Urgeschichte Gen. cap. 1–11 in ihrem Verhältnisse zu einander von Neuem untersucht]. Mit einem Anhange: Die Urgeschichte nach dem Berichte des annalistischen und nach dem des prophetischen Erzählers, Zürich 1863; Ders., Die Dauer des zweiten Tempelbaus, zugleich ein Beitrag zur Kritik des Buches Esra, in: ThStKr 40 (1867), 460–504; Ders., Zur Textkritik der Psalmen, in: ThStKr 41 (1868), 629–651. Darüber hinaus veröffentlichte er als Mitherausgeber des Bibel-Lexions von D. SCHENKEL zahlreiche Beiträge. Vgl. dazu die Verzeichnisse der Schriften und Werke SCHRADERS bei K. BEZOLD, in: ZA 22 (1909), 366–370, und bei F. W. GRAF, Art. Schrader, Eberhard, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp 855ff. W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen Bücher des Alten Testamentes (1817), in achter, aktualisierter und tiefgreifend veränderter Auflage hg. v. E. SCHRADER, Berlin 1869. Vgl. dazu E. CAGLIARDI/JEAN STROHL, Die Universität Zürich, 537.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

sich in die Keilschriftforschung einarbeiten, die von Georg Friedrich Grotefend (1775–1853) zu Beginn des 19. Jahrhunderts begründet und seitdem vor allem in Frankreich und Großbritannien weiterentwickelt worden war.98 Schrader erkannte in der Keilschriftforschung die Möglichkeit, die kultur- und religionsgeschichtliche Umwelt des Alten Testaments sehr viel genauer zu erkunden als bisher. 1869 veröffentlichte er als Ergebnis seiner Arbeit in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft einen Aufsatz über die Basis der Entzifferung der assyrisch-babylonischen Keilinschriften. Dieser bahnbrechende Aufsatz gilt als einer der klassischen Texte der frühen Assyriologie.99 1870 nahm Schrader die Berufung als Ordinarius für Altes Testament nach Gießen an, wurde aber bereits 1872 auf Betreiben Karl Hases als Professor für alttestamentliche Exegese nach Jena berufen. Aus dem Berufungsprotokoll der Theologischen Fakultät vom 30. Mai 1872 und dem Vorschlagsbericht der Fakultät vom 3. Juni 1872 geht hervor, dass und warum sich von Hase, Lipsius, Pfleiderer und Diestel auf Schrader als ersten Vorschlag zur Nachfolge Diestels einigten. Dabei spielte neben seiner explizit erwähnten historisch-kritischen Arbeit zum Alten Testament der Hinweis auf seine assyriologischen Forschungen eine Rolle.100 In dem Vorschlagsbericht vom 3. Juni 1872 heißt es auch, dass Schrader „unbestritten unter den jüngeren Gelehrten seines Fachs die erste Stelle“ 101 einnehme. Noch im Jahr seiner Berufung nach Jena veröffentlichte Schrader das Buch „Die Keilinschriften und das Alte Testament“102, das ihn in der akademischen Welt über die Grenzen der Theologie hinaus bekannt machte.

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Vgl. dazu J. RENGER, Die Geschichte der Altorientalistik, 151f. E. SCHRADER, Die Basis der Entzifferung der assyrisch-babylonischen Keilinschriften, in: ZDMG 23 (1869), 337–374. „Klar und gemeinverständlich sind hier die Grundlagen der Entzifferung und die Mittel dargelegt und an gut gewählten Beispielen erläutert, durch die es gelungen war, die zahlreichen im Charakter der Schrift liegenden Schwierigkeiten zu überwinden.“ E. MEYER, Schrader, Eberhard, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog, Bd. XIII, 1910, 157. 100 UA Jena, Bestand J, Nr. 116, 57–59. 101 Ebd., 58. 102 E. SCHRADER, Die Keilinschriften und das Alte Testament, Gießen 1872. „In praktisch angelegter, bequem zu benutzender Form hat Schrader hier in fortlaufendem engen Anschluss an die einzelnen Bücher und Kapitel des Alten Testaments all das niedergelegt, was im damaligen Zeitpunkt an Bemerkenswertem aus den Keilinschriften für das Alte Testament beizubringen war. Als besonders willkommen wurde es allseitig empfunden, dass er darin die für die Geschichte Israels hauptsächlich in Betracht kommenden Partien der assyrischen Königsinschriften in ihrem vollständigen Wortlaute in Umschrift und Übersetzung nebst sprachlichen Erläuterungen und Glossar mitteilte.“ H. ZIMMERN, Worte zum Gedächtnis, 200f.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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In Jena hielt Schrader zum ersten Mal Vorlesungen über das Assyrische und bekam in Friedrich Delitzsch (1855–1922), Sohn des Leipziger Alttestamentlers Franz Delitzsch (1813–1890), seinen ersten Schüler, der sich mit Begeisterung der Assyriologie zuwandte. Friedrich Delitzsch wurde 1899 Schraders Nachfolger auf dessen Lehrstuhl für Assyriologie in Berlin sowie als Direktor der Vorderasiatischen Abteilung der Königlichen Museen, und initiierte mit seinem Vortrag zum Thema ‚Babel und Bibel‘ vor der Deutschen Orientgesellschaft 1902 den sogenannten ‚Babel-Bibel-Streit‘ und damit die religionspolitische Kontroverse um die Bewertung des Quellenwertes der biblischen Texte.103 Schrader veröffentlicht 1872 ein weiteres umfassendes Werk über die assyrisch-babylonischen Keilinschriften, eine erneute und erweiterte Untersuchung der Entzifferung der Keilschriftgattung. Er prüfte nochmals die Hilfsmittel zur Entzifferung und die systematische Darlegung des Charakters der entzifferten Sprache nebst der Grammatik mit eingehender kritischer Begründung.104 Nach dem Erscheinen dieses zweiten grundlegenden Werkes zur Assyriologie gelang es Schrader, Widerstände gegen die Keilschriftforschung zu überwinden. Diese hatten sich insbesondere dadurch ergeben, dass die ersten Entzifferungsversuche vielfältige Fehler und Widersprüche aufwiesen und ein Bild der alt-orientalischen Geschichte vermittelten, das tiefgreifende Differenzen gegenüber dem bisherigen Verständnis der Geschichte Israels in biblisch-theologischer Perspektive erkennen ließ. In der Jenaer Zeit konzentrierte sich seine publizistische Tätigkeit mehr und mehr auf die Keilinschriften, zu denen er zahlreiche Aufsätze und Rezensionen anfertigte. Ein gutes Beispiel seines eindringenden Studiums in die religiöse Literatur der Babylonier und Assyrer ist die Studie „Die Höllenfahrt der Istar. Ein altbabylonisches Epos“105, die er 1874 veröffentlichte. Im selben Jahr übernahm Schrader das Amt des Redakteurs der Abteilung für theologische Literatur in der neugegründeten „Jenaer Literaturzeitung“ und ab 1875 gab er gemeinsam mit Ha-

103 F. DELITZSCH kam im Frühjahr 1873 als Student von Leipzig nach Jena und wurde im Sommer 1873 von SCHRADER in die Entzifferung der Keilschrift eingeführt. Vgl. dazu F. CUNZE, Eberhard Schrader, in: Braunschweigisches Magazin 1908, 129. Zu F. DELITZSCH vgl. K. JOHANNING, Der Bibel-Babel-Streit, Frankfurt a. M. 1988, 21–32; R. G. LEHMANN, Friedrich Delitzsch als Hebraist, in: ZAH 3 (1990), 24–39; Ders., Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit, Göttingen u.a. 1994, 55–58.409–418; H. ZIMMERN, Friedrich Delitzsch und Karl Bezold, in: ZDMG 77 (1923), 121–136. Zum Verhältnis von SCHRADER und DELITZSCH vgl. auch Kapitel IV, 295ff. 104 Im Herbst 1872 zunächst veröffentlicht in: ZDMG 26 (1872), 1–393, dann auch separat erschienen. 105 E. SCHRADER, Die Höllenfahrt der Istar. Ein altbabylonisches Epos, Gießen 1874.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

se, Lipsius und Pfleiderer die „Jahrbücher für protestantische Theologie“ heraus. So setzte er nun die in den Theologischen Studien und Kritiken begonne Veröffentlichung einer Artikelserie unter der Rubrik „Assyrisch-Biblisches“ in den Jahrbüchern für protestantische Theologie fort.106 1872 wurde Eberhard Schrader, Professor für alttestamentliche Exegese in Jena, Großherzoglich Sächsischer Kirchenrat und Ehrenmitglied der Society of Biblical Archaeology London, nach Berlin berufen. Eduard Meyer berichtet darüber in seinem Nachruf auf Schrader: „Inzwischen war in Berlin durch Roedigers Tod die Professur für semitische Sprachen frei geworden, und die philosophische Fakultät beantragte in einer Eingabe vom 31. Juli 1874, dieselbe für die Zukunft in eine Professur für mohammedanische Literatur und eine für semitische Sprachen zu teilen; für die letztere wurde an erster Stelle Nöldeke, an zweiter Schrader vorgeschlagen. Gleichzeitig hatte die Akademie an das Ministerium den Antrag gerichtet, Schrader für Berlin zu gewinnen ... In dem von Olshausen verfassten Antrag – unterzeichnet ist er außer von diesem von Lepsius, Mommsen, Droysen, Duncker – wird Schrader bezeichnet als ‚ein Mann von eisernem Fleiß, von gründlicher und vielseitiger Gelehrsamkeit, von durchaus gesunder Kritik, frei von Illusionen wie von Vorurteilen‘ und ‚als Schüler Ewalds, aber nicht dessen Nachbeter‘“107.

Eberhard Schrader wurde am 14. Juni 1875 zum Ordinarius für semitische Philologie in der philosophischen Fakultät und ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin ernannt.108 Der besonderen Bestimmung seines Lehrstuhls entsprechend beschränkte Schrader seine Berliner Lehrtätigkeit konsequent auf die Assyriologie und hielt keine alttestamentlichen Lehrveranstaltungen mehr. Ein Jahr nach seinem Wechsel von Jena nach Berlin entbrannte ein Streit um die Wissenschaftlichkeit der Assyriologie, in den Schrader persönlich verwickelt war, da die Angriffe auf die neue Disziplin auch auf ihn persönlich gerichtet waren. 109 Der Streit wurde durch einen Artikel des Orientalisten Alfred Freiherr von Gutschmid (1831–1887) entfacht, den dieser 1876 veröffentlicht hatte.110 Schrader reagierte seiner106 E. SCHRADER, Assyrisch-biblisches, in: ThStKr. 47 (1874), 324–353; Ders., Assyrischbiblisches. Zweiter Artikel, in: JPTh 1 (1875), 321–342. 107 E. MEYER, Schrader, Eberhard, 159. 108 „Damit war zugleich die neue Wissenschaft der Assyriologie als ihren älteren Schwestern ebenbürtig anerkannt und unter die an deutschen Hochschulen vertretenen Fächer aufgenommen.“ Ebd., 159. 109 Der Diskurs um die Wissenschaftlichkeit der Assyriologie mit Hinweisen zur Genese und den Hauptargumenten wird in Kapitel IV, 293ff. dargestellt. 110 A. FREIHERR VON GUTSCHMID, Neue Beiträge zur Geschichte des Alten Orients, Berlin 1876, auch veröffentlicht in: ThLZ 1 (1876), 534–538.

1. Person, Werk und theologiegeschichtlicher Ort

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seits erst 1878 mit der Veröffentlichung eines umfangreichen Werkes unter dem Titel „Keilinschriften und Geschichtsforschung. Ein Beitrag zur monumentalen Geographie, Geschichte und Chronologie der Assyrer“, in dem er sich mit den Vorwürfen auseinandersetzte.111 Als Berliner Ordinarius veröffentlichte Schrader über hundert kleinere assyriologische Studien, vor allem in den Abhandlungen der Berliner Akademie, der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft und der 1885 von ihm mitbegründeten Zeitschrift für Assyriologie.112 Neben der Assyriologie im weiteren Sinne galt sein Interesse auch den anderen semitischen Sprachen. Er lehrte Arabisch, BiblischAramäisch, Sabäisch und mit einer besonderen Vorliebe Äthiopisch, das er seit dem Sommersemester 1887 bis zum Sommersemester 1892 regelmäßig jedes Semester unterrichtete.113 Im Alter von 59 Jahren erlitt Schrader im Februar 1895 einen Schlaganfall und konnte seine Lehrtätigkeit und Forschungsarbeit nur noch eingeschränkt ausüben, bevor er sie 1899 ganz einstellen musste. Mit der Neubearbeitung der zweiten Auflage seines Hauptwerkes über die Keilinschriften und das Alte Testament beauftragte er Hugo Winckler (1863–1913) und Heinrich Zimmern (1862–1931), die unter dem alten Titel nach der Jahrhundertwende ein in weiten Teilen neues Werk veröffentlichten.114 Am 8. Juli 1908 verstarb Eberhard Schrader in Berlin.

2. Zur Vernetzung einer theologischen Richtung Orientiert man sich an der Selbstwahrnehmung der Beteiligten ist es angemessen, eine eigenständige Jenaer Theologie liberaler Prägung im ausgehenden 19. Jahrhundert anzunehmen. Damit stellt sich die Frage, ob und wie die Beteiligten dieser theologischen Richtung in soziohistorischer und ideengeschichtlicher Perspektive miteinander vernetzt waren, und wie die Interaktion der Gelehrten verlief. Bevor die geistesge 111 Vgl. W. BAUDISSIN, Rezension: Eberhard Schrader, Keilinschriften und Geschichtsforschung, in: ThLZ 4 (1879), 369–372. 112 Vgl. dazu K. BEZOLD, Verzeichnis der meisten Schriften Eberhard Schraders, in: ZA 2 (1909), 365–385. 113 Zu der Forschungs-, Lehr- und Vortragstätigkeit SCHRADERS in Berlin vgl. insbesondere F. W. GRAF, Art. Schrader, Eberhard, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp. 849f.; J. RENGER, Die Geschichte der Altorientalistik, 155f. 114 Die Keilinschriften und das Alte Testament von Eberhard Schrader. Dritte Auflage, mit Ausdehung auf die Apogryphen, Pseudepigraphen und das Neue Testament neu bearbeitet von H. ZIMMERN und H. WINCKLER, Berlin 1901 bzw. 1903.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

schichtlichen Verbindungen durch gemeinsame theologischen Anschauungen, Fragestellungen und Methoden sowie die Konvergenzen in Positionierung zu zentralen wissenschaftlichen Herausforderungen im dritten und vierten Kapitel der Arbeit in das Blickfeld gerückt werden, wird zunächst nach der Vernetzung in soziohistorischer Perspektive gefragt. Dabei werden die zuvor dargestellten Aspekte zu den Personen, ihren Werken, ihrer theologie- wissenschaftsgeschichtlichen Verortung in Bezug auf die Frage nach der Vernetzung und Interaktion der Gelehrten ausgewertet. Als wesentliches historisches Bindeglied sowie gemeinsames kirchliches Handlungsfeld ist der deutsche Protestantenverein anzusehen.115 Richard A. Lipsius, Otto Pfleiderer, Adolf Hilgenfeld, Ludwig Diestel und Adalbert Merx sind nachweislich für eine Zeit Mitglieder des Protestantenvereins gewesen und haben dessen Hauptziele, „eine Erneuerung der protestantischen Kirche im Geistes evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung unserer Zeit“116 anzustreben, bejaht und unterstützt. Eberhard Schrader war zwar kein Mitglied des Protestantenvereins, wird aber von Friedrich Cunze beschrieben als „treuer Sohn der protestantischen Kirche, liberal, wenn er auch nicht zum Protestantenverein gehörte“ 117. Für den ersten Protestantentag 1865 in Eisenach hatte der Heidelberger Theologe und Mitbegründer Richard Rothe das Ziel der Vereinsgründung auf die Formel „Versöhnung von Religion und Kulur“118 gebracht und diese Versöhnung als eine wechselseitige Bewegung konzipiert: der Umformung des Christlichen sollte eine religiös inspirierte Umgestaltung der modernen Kultur korrespondieren. 119 Unter der Leitung des Gothaer Hofpredigers Karl Schwarz wurde der Beschluss gefasst, dass die Grenzen der Lehrfreiheit weder durch die Bekenntnisschriften noch durch den Wortlaut der biblischen Texte gesetzt sei, 115 Zum Protestantenverein vgl. auch die Ausführungen im Rahmen der Darstellung der Wurzeln, der Initiations- und Ansatzpunkte liberaler Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert in Kapitel I, 11ff. 116 Vgl. dazu Anm. 54 in Kapitel I, 16, sowie die weiteren dortigen Literaturhinweise zum Protestantenverein. 117 F. CUNZE, Eberhard Schrader, 130. 118 R. ROTHE, Durch welche Mittel können die der Kirche entfremdeten Glieder hier wieder gewonnen werden? In: Gesammelte Vorträge und Abhandlungen, 129–147. 119 Der allgemeine deutsche Protestantenverein in seinen Statuten, den Ansprachen seines engeren, weiteren und geschäftsführenden Ausschusses und den Thesen seiner Hauptversammlungen 1865–1888. Zusammengestellt vom ständigen Bureau des Protestantenvereins, Berlin 1899. Zum Beschluss über die Lehrfreiheit vgl. Der erste Deutsche Protestantentag, gehalten zu Eisenach am 7. und 8. Juni 1865. I. A. des Ausschusses redigierter Bericht, 1865.

2. Zur Vernetzung einer theologischen Richtung

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sondern allein durch die Anerkennung des Christentums Jesu Christi sowie des Evangeliums der Liebe und der Gotteskindschaft. Ebenfalls auf kirchenpolitischer Ebene ist die gemeinsame Initiierung und Durchsetzung der sogenannten ‚Jenenser Erklärung‘120 zu verorten. 1872/73 wurde diese Erklärung durch Otto Pfleiderer, Karl Hase und Adolf Hilgenfeld verfasst, an der auch Ludwig Diestel beteiligt war, obwohl er mittlererweile in Tübingen lehrte. Mit dieser Erklärung bezog man Stellung für den Berliner Pfarrer Karl Leopold Adolf von Sydow (1800–1882), der sich am 12. Januar 1872 in einem Vortrag kritisch zur Jungfrauengeburt geäußert hatte. Dies führte dazu, dass er vom Konsistorium wegen Verletzung der Amtspflichten von seinem Amt enthoben wurde, dann aber nach heftigen Gegenprotesten im Juli 1873 lediglich einen Verweis erhielt. Die Jenaer Fakultät protestierte 1873 im Zusammenhang des Verfahrens gegen von Sydow gegen jede Beschränkung protestantischer Lehrfreiheit.121 Auch das sogenannte ‚Eisenacher Attentat‘122, das auf die Thüringer kirchliche Konferenz im Mai 1881 in Eisenach zurückgeht, weist auf ei-

120 Vgl. dazu E. KAUTZSCH, Art. Diestel, Ludwig, in: ³RE, Bd. IV (1898), 648. 121 Zum Streit um A. VON SYDOW, die ‚Jenenser Erklärung‘ und den damit verbundenen ‚Apostolikumsstreit‘ um den Kölner Pfarrer K. JATHO (1851–1913) vgl. F. W. GRAF, Protestantische Theologie, 60–63. 122 Am 3. Mai 1881 fand eine Thüringer kirchliche Konferenz in Eisenach statt, an der Pfarrer der theologisch „positiven“ Richtung teilnahmen. Die „positiven“ Theologen und Pfarrer sahen vor allen Dingen die zunehmende historisch-kritische Arbeit an den biblischen Schriften und eine in ihren Augen zunehmend Historisierung des Christentums insgesamt als Selbstzerstörung von Theologie und Kirche an. Signifikant für die Überzeugungen und die Ausrichtung kann eine Schrift des lutherischkonfessionellen Pfarrers H. JOHANN BESTMANN von 1892 angeführt werden, in der dieser feststellt, dass „(k)ein Freund der Theologie, dieser herrlichsten aller Wissenschaften ... ihren tiefen Verfall in unseren Tagen“ verfolgen kann. „Die eigentliche wahre Schuld an dieser Decrepidität trägt ... die liberale (Theologie) ... deren Vertreter oft nur darin einig gewesen sind, jede Erinnerung an den heiligen Charakter der Urkunden und die Geschichte des Evangeliums wie alle Poesie mit Stangen auszutreiben.“ H. J. BESTMANN, Die Aufgaben der Kirche und ihrer Theologie in unserer Zeit, 1892, 22f. Zur sogenannten ‚positiven Theologie‘ und deren Wortführer H. CREMER (1834–1903) und M. KÄHLER (1835–1912) in der Perspektive der neueren Theologiegeschichtsschreibung vgl. E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 43ff. (vgl. auch die dortigen Literaturhinweise); F. MILDENBERGER, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie, 151-165. Zum „Eisenacher Attentat“ vgl. zunächst die anonym (Herausgeber war A. H. BRAASCH) erschienene Broschüre „Das Eisenacher Attentat auf die theologische Fakultät der Universität Jena im Jahre des Heils 1881“, Jena 1881. Vgl. ferner: Orthodoxe Hetzereien gegen die theologische Fakultät zu Jena, in: PKZ 28 (1881), 217f.457f.496f.546f.673f.689f. K. HEUSSI stellt die wichtigsten Aspekte des Ereignisses in seiner Geschichte der Theologischen Fakultät Jena dar. Vgl. Ders.,

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

ne Vernetzung der Jenaer Theologen liberaler Prägung hin und zeigt, wie geschlossen die Jenaer Theologische Fakultät in ihrer ideellen Grundausrichtung positioniert war.123 Die Konferenz in Eisenach gipfelte in der Forderung, einen namhaften Vertreter der ‚positiven Theologie‘ nach Jena zu berufen, und kann als Versuch lutherischneukonfessioneller Kräfte, das Lehrmonopol der liberalen Jenaer Ordinarien durch die Berufung mindestens eines Konservativen zu brechen, gewertet werden. Der Weimarer Pfarrer Hunnius sprach in seinem Plädoyer für die Einrichtung einer fünften Professur und die Besetzung der Stelle durch einen Vetreter der ‚positiven Theologie‘ von der Jenaer Theologie als einer „vorzugsweise liberalen und negierenden theologischen Richtung“. Im Juli 1881 wurde dann von der Thüringer kirchlichen Konferenz offiziell die Forderung erhoben, „dem Bedürfnis, der vorherrschenden liberalen, kritisch-spekulativen Richtung eine Vertretung der evangelisch-lutherischen Theologie durch Berufung namhafter evangelisch-lutherischer Theologen zu ordentlichen resp. außerordentlichen Professoren an die Seite zu stellen“ 124 nachzukommen. Die gemeinsame Zurückweisung dieses Ansinnens, die in dem Antwortschreiben des Dekans Karl Hase an die Konferenz dokumentiert ist, zeigt beispielhaft die feste Verbindung der liberalen Jenaer Theologie im Sinne einer theologischen Richtung und kann in theologiehistorischer Perspektive als Indiz gelungener Rezeption einer homogenen akademischen Korporation in regionalem Rahmen verstanden werden.125 Die Vernetzung der an der liberalen Jenaer Theologie Beteiligten und ihre geschlossene ideelle Grundausrichtung wird zudem im Zusammenhang mit der Berufungspolitik der Theologischen Fakultät in dem Zeitraum von 1865 bis 1893 erkennbar. Dabei ist zunächst darauf zu verweisen, dass in Jena in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutende strukturelle Faktoren die Berufungspolitik bestimmten, in die auch die Berufungen an der Theologischen Fakultät eingebunden

Geschichte der Theologischen Fakultät, 320ff. Vgl. außerdem M. STEINMETZ (Hg.), Geschichte der Universität Jena, Bd. I, 491–494. 123 Die Geschlossenheit der Jenaer Theologischen Fakultät in ihrer ideellen Grundausrichtung zeigt J. WISCHMEYER in seiner Studie zu den Rahmenbedingungen, den Akteuren und der Wissenschaftsorganisation in Jena auf. Vgl. Ders., Theologiae Facultas, 306ff. 124 (ANON.) [A. H. BRAASCH, Hg.], Das Eisenacher Attentat (1881), 41.53f. 125 Ebd., 54–64. Auch R. A. LIPSIUS, Nachfolger K. HASES als Dekan, wies das Ansinnen scharf zurück. Vgl. dazu: PKZ 28 (1881), 1041–1044.

2. Zur Vernetzung einer theologischen Richtung

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waren.126 Zu diesen Faktoren gehören die institutionelle Gestaltung des Berufungsverfahrens, die Frage nach den Professorengehältern und ein zunehmend sich verfestigendes System der Bestimmung von Karrierewegen der Hochschullehrer an deutschsprachigen Universitäten. Damit hing die Zuordnung mehrerer Theologen zum Lehrkörper einer Theologischen Fakultät von einer Vielzahl externer Faktoren und Interessen ab, die nur eingeschränkt von den Fakultäten selbst steuerbar waren. 127 Allerdings spielten auch theologisch-positionelle Aspekte und persönliche Motive im Kontext der Jenaer Theologischen Fakultät in die berufungspolitische Praxis hinein. Die bei der Darstellung der Vita der Beteiligten unter 1.1 bis 1.6 angeführten Berufungsprotokolle und Vorschlagsberichte der Theologischen Fakultät dokumentieren, dass die Vertreter der liberalen Jenaer Theologie an der Berufung ihrer Kollegen oder Nachfolger mitwirkten. Sie zeigen auch, welche leitenden Fragestellungen die Wiederbesetzung der Stellen mitbestimmten. Dabei zeichnet sich ab, dass im Zusammenhang mit den Berufungen von Otto Pfleiderer und Richard A. Lipsius deren „freie Gesinnung und freie wissenschaftliche Bildung“, die „hervorragend philosophische und systematische-theologische Gelehrsamkeit“ sowie die „scharfsinnige Geschichtsforschung“ und damit die interdisziplinär ausgerichtete Forschungstätigkeit eine ausschlaggebende Rolle spielten.128 Als Otto Pfleiderer bereits im Januar 1875 einen Ruf aus Berlin erhielt, den er auch bald annahm, wirkte er – gemeinsam mit Lipsius, Schrader und von Hase – entscheidend an der Berufung seines Nach-

126 Vgl. dazu M. BAUMGARTEN, Vom Gelehrten zum Wissenschaftler. Studien zum Lehrkörper einer kleinen Universität am Beispiel der Ludoviciana Gießen (1815– 1914), Gießen 1988; Dies., Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert; S. GERBER, Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation im 19. Jahrhundert. Der Jenaer Pädagoge und Universitätskurator Moritz Seebeck, Köln–Weimar–Wien 2004. 127 Vgl. dazu insbesondere S. GERBER, Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation, 434–524. Als L. DIESTEL 1872 einen Ruf nach Tübingen erhielt, bedeutete das für ihn nahezu eine Verdoppelung seiner Bezüge. Vgl. dazu das Schreiben des Universitätskurators ans Altenburgische Ministerium vom 11. Mai 1872 (ThStA Altenburg, GesM 1129, unpag.). J. WISCHMEYER arbeitet die institutionellen Rahmenbedingungen für die innere Organisation der Fakultäten, die akademische Laufbahn der Universitätstheologen sowie den kirchenrechtlichen und kultuspolitischen Rahmen für die Theologische Fakultät im Rahmen seiner Studie zur Wissenschaftsorganisation protestantischer Universitätstheologie zwischen 1850 und 1870 heraus. Vgl. Ders., Theologiae Facultas, 29ff.63ff.83ff. 128 Vgl. das Protokoll über die Sitzung der Theologischen Fakultät vom 3. Juni 1870. UA Jena, Bestand J, Nr. 116, 43–44.51–52.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

folgers Karl Rudolf Seyerlen (1831–1906)129 mit, möglicherweise hatte er ihn selber vorgeschlagen. Seyerlen hatte in Tübingen Theologie und Philosophie studiert und war dort von Ferdinand Chr. Baur entscheidend geprägt worden130, wie zuvor auch Otto Pfeiderer. 1859 übernahm Seyerlen das Amt eines Repetenten am evangelischen Stift in Tübingen, 1862 wurde er Diaconus in Crailsheim, 1869 Archidiaconus in Tübingen. Während der drei Jahre als Stiftsrepetent trat Seyerlen in eine enge Beziehung zu Baur, die er darüber hinaus aufrecht erhielt und die sich auch in seiner literarischen Arbeit niederschlug.131 Am 16. Februar 1875 legte die Theologische Fakultät dem Universitätskurator die Liste132 zur Wiederbesetzung der Stelle Pfleiderers, die neben dem Lehrstuhl für Praktische Theologie und dem Amt des Universitätspredigers auch die Verpflichtung enthielt, alle zwei Semester im Wechsel mit dem Dogmatiker eine Vorlesung über die christliche Moral zu halten. Genannt wird zunächst der Gothaer Konsistorialrat und Oberhofprediger Karl Schwarz, wohl wissend, dass es faktisch unmöglich war, einem der Förderer der Universität den ersten Theologen seines Landes zu nehmen. Danach steht an eigentlich erster Stelle Karl Rudolf Seyerlen, an zweiter Stelle der Heidelberger Alttestamentler, Systematiker und Praktische Theologe Hermann Schultz (1836–1903). Nach dem Bericht von Heussi gaben der Kurator Seebeck und die Regierung in Weimar den Ausschlag, dass Seyerlen den Ruf erhielt. Pfleiderer dürfte allerdings nicht unwesentlich daran mitgewirkt haben. Am 3. Januar 1875, noch vor der endgültigen Annahme des Rufes nach Berlin, schrieb er an den mit ihm befreundeten Eduard Zeller (1814–1908), den Schwiegersohn Ferdinand Chr. Baurs, nach Tübingen: „Nun noch eine Frage. Wir haben in der Fakultät hypothetisch bereits über die Wiederbesetzung meiner hiesigen Stelle berathen, um, wenn sie wirklich 129 Zu R. SEYERLEN vgl. F. W. GRAF, Art. Seyerlen, Rudolf, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp. 1537–1567; K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 312f.; A. HILGENFELD, Rudolf Seyerlen, in: ZwTh 36 (1906), 287–288. 130 Vgl. dazu die Rede, die R. SEYERLENS anlässlich einer akademischen Feierstunde der Theologischen Fakultät am 21. Juni 1892 zu F. CHR. BAURS einhundertstem Geburtstag hielt. Ders., Ferdinand Christian Baur als akademischer Lehrer und Mensch, ein akademischer Vortrag am 21. Juni 1892, in: ZwTh 36 (1893), 244–254. 131 1874 veröffentlichte Seyerlen einen 1873 in Tübingen gehaltenen Vortrag über die Entstehung und den Weg der Christengemeinde in Rom, in dem er – im Sinne von BAURS programmatischen Analysen des Gegensatzes zwischen Judenchristen und Heidenchristen – die spezifische religiöse Bedeutung des römischen Judenchristentums nachzuweisen versuchte. Vgl. R. SEYERLEN, Die Entstehung und ersten Schicksale der Christengemeinde in Rom. Eine kirchengeschichtliche Monographie, Tübingen 1874. 132 UA Jena, Bestand BA, Nr. 409, 1–3.

2. Zur Vernetzung einer theologischen Richtung

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nöthig wird, sogleich in bestimmter Weise vorgehen zu können. Da haben wir nun u. A. auch an Archidiakonus Seyerlen gedacht. Seine wissenschaftliche Tüchtigkt (=Tüchtigkeit) kenne ich noch von der Zeit her, wo er als Stiftsrepetent uns vortreffliche Repetitionen und Loci hielt. Ueber seine praktische Geschicklichkt (=Geschicklichkeit), namentlich die Art seines Predigens, bin ich weniger orientiert, da ich mich kaum erinnere ihn einmal gehört zu haben.“133

Seinen Fakultätskollegen gegenüber hebt Pfleiderer „die Klarheit und tief anregende Energie seines (=Seyerlens) Unterrichts“ hervor, durch die er „bei schon äußerlich imponierender Haltung mächtig zu wirken vermocht habe“ 134. Den Ausschlag zugunsten Seyerlens dürfte seine Verwurzelung in der Schule Baurs in Kombination mit seiner praktisch-theologischen Wirksamkeit gegeben haben. Im Zusammenhang mit der Besetzung des Lehrstuhls für alttestamentliche Exegese wird sowohl bei der Berufung von Eberhard Schrader zum Nachfolger von Ludwig Diestel 1872, als auch bei der Berufung von Karl Adolf Siegfried (1830–1903)135 zum Nachfolger von Eberhard Schrader 1875 auf deren historisch-kritische Exegese und Ansätze zur vergleichenden Religionsgeschichte verwiesen. In der Frage nach der Besetzung des Lehrstuhls für alttestamentliche Exegese in der Nachfolge von Ludwig Diestel einigen sich Richard A. Lipsius, Otto Pfleiderer, Karl von Hase und Ludwig Diestel auf Eberhard Schrader als ersten Nachfolge-Kandidaten. Im Berufungsprotokoll und im Denominationsbericht, den Diestel noch als Dekan selbst verfasste, wird Schraders „historisch-kritische und assyriologische“ Arbeit hervorgehoben bzw. sein Ansatz, eine Restriktion der Forschung auf den alttestamentlichen Kanon zu überwinden, ohne in der historischen Relativierung theologische Normativität preiszugeben. Nach dem Weggang Schraders nach Berlin 1875 wird Karl Adolf Siegfried zu seinem Nachfolger berufen. Der Denominationsbericht, der vom Dekan Richard A. Lipsius verfasst wurde, nennt an erster Stelle den ordentlichen Professor für Altes Testament in Greifswald Julius Wellhausen, „sodann, aber ohne ihn gegen den Erstgenannten zurückstellen zu wollen“ den Professor und zweiten Geistlichen an der traditionsreichen königlichen Landesschule Pforta Karl Siegfried. Vermutlich gab der Kurator Moritz Seebeck Karl Siegfried den Vorrang, da er kaum Hoffnung hatte, Wellhausen für Jena gewinnen zu können. Sieg133 Brief von O. PFLEIDERER an E. ZELLER vom 3. Januar 1875, in: Nachlass Eduard Zeller, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Tübingen, erstmals veröffentlicht von F. W. GRAF, Art. Seyerlen, Karl Rudolf, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp. 1543f. 134 Zitiert nach K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 312. 135 Zur Person, zum Werk, zur theologie- und wissenschaftsgeschichtlichen Verortung vgl. F. W. GRAF, Art. Siegfried, Karl Adolf, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp. 173–232.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

fried rechnete sich selber zu den entschiedenen Verteidigern einer historischen Bibelforschung. Seine Dissertation mit dem Thema „De sacrificiorum Hebraeorum, Graecorum, Romanorum et originis et rituum similitudine“136 war einem Ansatz der vergleichenden Religionsgeschichte verpflichtet. Ein weiterer historischer und theologisch-positioneller Aspekt zur Vernetzung der Beteiligten, sowie ein Beleg für die geschlossene ideelle Grundausrichtung der Jenaer Theologischen Fakultät, ist die Auseinandersetzung um die Wiederbesetzung des Ordinariats von Richard A. Lipsius. Dieser Konflikt zwischen Kuratorium und Theologischer Fakultät setzte 1892 nach dem plötzlichen Tod von Lipsius ein und fand auch über die über die Grenzen Jenas hinaus Beachtung. 137 Im Kontext dieser Auseinandersetzungen ist mehrfach dezidiert von der „freien und liberalen Jenaer Theologie“ die Rede, sowohl in der Selbstwahrnehmung innerhalb der Theologischen Fakultät, als auch in der Außenwahrnehmung an anderen Theologischen Fakultäten und auf landespolitischer Ebene. Adolf Hilgenfeld hatte als Dekan den sehr ausführlichen Denominationsbericht der Theologischen Fakultät vom 17. September 1892 verfasst, der insgesamt fünf Vorschläge zur Nachfolge von Lipsius enthielt.138 Bevor Hilgenfeld die einzelnen Kandidaten in seinem Bericht vorstellt, verweist er auf die herausragende Stellung von Lipsius als Vertreter eine eigenständigen Jenaer Theologie und betont im Hinblick auf den Zuschnitt des zu besetzenden Lehrstuhls den Schwerpunkt der Systematischen Theologie. Als Kandidaten werden dann August Dorner, Hermann Lüdemann, Georg Runze, August Baur und Paul Mehlhorn genannt, wobei besonders hevorgehoben wird, dass die zuerst genannten Dorner und Lüdemann einem wiederholt ausgesprochenen Wunsch von Lipsius selber entsprechend an die Spitze des Denominationsberichtes gesetzt wurden. 139 Unter Übergehung aller fünf Kandidaten der Theologischen Fakultät schlug der Kurator den Giessener Systematiker und Ritschl-Schüler Max Reischle (1858–1905)140 als Kandidaten vor, an zweiter Stelle Hans Hinrich Wendt (1853–1928)141 aus Heidelberg. Die Fakultät leistete gegen diese 136 K. SIEGFRIED, De sacrificiorum Hebraeorum, Graecorum, Romanorum et originis et rituum similitudine, Halle 1859. 137 Vgl. UA Jena, Bestand BA, Nr. 409, 124ff; Bestand J, Nr. 117, 95–141. 138 UA Jena, Bestand BA, Nr. 409, 125–131. 139 Ebd., 128. 140 Zur theologiegeschichtlichen Verortung von M. REISCHLE in der Ritschlschule vgl. E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 80–115. 141 Zur theologiegeschichtlichen Verortung von H.-H. WENDT in der Ritschl-Schule vgl. E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 114–115.185–186.

2. Zur Vernetzung einer theologischen Richtung

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Vorschläge erbitterten Widerstand. Reischle selbst erklärte, dass er nur mit Zustimmung der Fakultät nach Jena kommen wolle. So verhandelte der Kurator mit Hans Hinrich Wendt, der zum 1. Oktober 1893 den Ruf nach Jena annahm, trotz des einstimmigen Widerspruchs der Theologischen Fakultät.142 Die Fakultät war sich einig in dem Bestreben, ihre Einheitlichkeit zu wahren und somit keine Anhänger der RitschlSchule aufzunehmen. In den von der Theologischen Fakultät erhobenen Einspruch gegen die Berufung von Reischle oder Wendt wurde auch der Kommentar von Martin Rade aus der „Christlichen Welt“ vom 24. November 1892 eingefügt, der die Außenwahrnehmung einer eigenständigen Jenaer Theologie liberaler Prägung erkennen lässt. „Wie schwer mag man in Jena einen tüchtigen Nachfolger für Lipsius finden. Ritschlianer soll er nicht sein – mit gutem historischen Recht und jüngere tüchtige Dogmatiker von Jenaischer Richtung gibt es kaum.“ 143

Beredtes Beispiel für die Vernetzung einer theologischen Richtung ist in diesem Kontext auch eine von Studierenden an die Theologische Fakultät eingereichte Petition vom 24. Februar 1893, in der darauf hingewiesen wird, dass die Besetzung des Lipsiusschen Lehrstuhles durch einen Ritschlianer „sowohl a) mit den Interessen der liberalen Theologie im Allgmeinen, als auch b) mit den Traditionen der Jenenser Theologie im Besonderen in Widerspruch“144 stünde. Ebenso aufschlussreich ist der Bericht in der Protestantischen Kirchenzeitung vom 28. Juni 1893 über die Ereignisse im Gothaischen Landtag. Der Finanzrath Doebel stellt im Zusammenhang mit der erfolgten Berufung von Hans Hinrich Wendt fest, dass „die Tradition Jenas: eine Vertreterin der wahrhaft liberalen Theologie zu sein, nicht gewahrt worden sei, da Prof. Wendt ... zu einer Richtung gehöre, die nicht wie die liberale Theologie im Stande sei, die jungen Theologen so zu bilden, daß sie einer von dem Zeitbewußtsein geforderten Harmonie der religiösen und der intellectuellen Interessen dienen würden“145.

Wird in diesen Vorgängen bereits die Herausbildung einer theologischen Richtung in der Eigen- und Fremdwahrnehmung greifbar, so spiegeln die von den Beteiligten angeführten Begründungen noch einmal das Selbstverständnis einer liberalen Jenaer Theologie in historischer Perspektive. Friedrich Nippold (1838–1918), seit 1888 der Nach142 Vgl. dazu das Antwortschreiben der Theologischen Fakultät an das Großherzogliche Staatsministerium vom 13. März 1893. UA Jena, Bestand BA, Nr. 409, 145. 143 M. RADE, ChW 6 (1892), Sp. 1116. Vgl. dazu die Ausführungen zur Begriffsgeschichte und Begriffsklärung in Kapitel I, 3, Anm. 18. 144 UA Jena, Bestand J, Nr. 117, 120–121. 145 Bericht über den Landtag in Gotha vom 26. Juni 1893, in: PKZ 26 (1893).

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

folger Karl Hases, schildert in seinem Werk über die theologische Einzelschule im Verhältnis zur evangelischen Kirche von 1893146, durchaus polemisch, die Vorgänge in Jena und kommt zu dem Ergebnis: „Die Einheitlichkeit der Jenaer Fakultät gehört nunmehr der Vergangenheit an. Mit der Zerstörung des historischen Charakters Jena’s ist zugleich an den Universitäten des deutschen Reiches die dogmatische Vertretung derjenigen Richtung beinahe mundtodt gemacht, die gerade in Lipsius ihren hervorragenden Wortführer gehabt hat“147.

Nippold markiert dann noch einmal die zentralen Einzelstreitpunkte zwischen der „Ritschlschule“ und der „Lipsius-Richtung“, die seiner Meinung nach „in der Erkenntnistheorie“, im Streit „über den Offenbarungsbegriff“ und in der Frage nach dem „mystische(n) Element in der Religion“ liegen.148 Karl Siegried hält in einem Entwurf eines von ihm verfassten Antwortschreiben an das Kuratorium der ‚Ritschlschule‘ „Verdeckung des rationalistischen Standpunktes durch eine Hülle orthodoxer Formeln“ vor, während die Jenaer Theologie stets bestrebt gewesen sei, „unter Festhaltung des Wesentlichen des christlichen Glaubens dem letzteren in neuen Denkformen den adäquten Ausdruck zu geben“. Adolf Hilgenfeld, neben Friedrich Nippold federführend an den Auseinandersetzungen beteiligt, bleibt vor allen Dingen skeptisch gegenüber den Versuchen, „die Philosophie aus der Theologie auszuschließen, die Werturteile an die Stelle der Sachurteile zu setzen“ und sieht in der ‚Ritschlschule‘ „am Ende doch nur eine geschickte und geglückte, freilich andersartige Wiederholung der Schleiermacherschen Vermittlungstheologie“. 149 Die angeführten Aspekte zur soziohistorischen und theologischen Vernetzung der an der liberalen Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert Beteiligten belegen, dass man von einer homogenen theologischen Richtung und einer akademischen Korporation sprechen kann. Es erscheint als lohnendes weiteres Forschungsziel, die liberale Jenaer Theologie in sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive in der Phase des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Blick zu nehmen sowie die Zielsetzungen und Wirkungen des Jenaer akademischen Lehrbetriebes und seiner Institutionen durch die Vernetzung aller greifbaren Quellen plastisch nachzuzeichnen. Diese Forschung hat Johannes Wischmeyer in seiner Arbeit zu den Rahmenbedingungen, den Akteu-

146 F. NIPPOLD, Die theologische Einzelschule im Verhältnis zur evangelischen Kirche, Braunschweig 1893, 108–136. 147 Ebd., V (Vorwort). 148 Ebd., VI. 149 Vgl. UA Jena, Bestand J, Nr. 117, 131; A. HILGENFELD, in: ZwTh 38 (1900), 495.

3. Interdiziplinäre Forschungs- und Lehrtätigkeit

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ren und der Wissenschaftsorganisation protestantischer Universitätstheologie für den Zeitraum von 1850 bis 1870 durchgeführt. 150 Die vorliegende Arbeit wird im weiteren Verlauf darauf beschränkt, die geistesgeschichtliche Vernetzung anhand der Hauptwerke der Gelehrten aufzuzeigen.

3. Interdisziplinäre Forschungs- und Lehrtätigkeit Seit sich in der Theologie eine Differenzierung theologischer Disziplinen etabliert hat, gehört die enzyklopädische Frage nach Einheit und Aufgabe der Theologie in der Unterschiedenheit ihrer Fächer zum Dauerprojekt theologischer Selbstbesinnung. Auf diesem Hintergrund ist es umso markanter, dass sich bei den Beteiligten der liberalen Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert eine aus heutiger Sicht stark ausgeprägte interdisziplinäre Forschungs- und Lehrtätigkeit feststellen lässt.151 Für alle gilt, dass sie sich als Theologen im umfassenden Sinne des Wortes, und d.h. von einer spezifischen Aufgabenstellung her verstehen, nicht nur als Fachgelehrte. Dies spiegelt sich in der Bandbreite ihrer Lehrveranstaltungen ebenso wie in der Vortragstätigkeit und den literarischen Werken. Kennzeichnen für die interdisziplinäre Ausrichtung sind zudem die Übergänge von Theologischen in Philosophische Fakultäten und die spezifischen Zuschnitte der von ihnen besetzten Ordinariate bzw. Lehrstühle, womit die Interdisziplinarität auch institutionalisiert ist. Für Richard. A. Lipsius und Otto Pfleiderer ist die Interdisziplinarität von Forschung und Lehre durch den Zuschnitt ihrer Ordinariate institutionell verankert, während sich in der wissenschaflichen Laufbahn von Adalbert Merx und Eberhard Schrader die Übergänge in die Philosophischen Fakultäten in Tübingen und Berlin mit den Schwerpunkten semitische Sprachen und Assyriologie finden. Richard A. Lipsius wurde mit einer neutestamentlichen Arbeit über die paulinische Rechtfertigunslehre promoviert. Er habilitierte sich mit einer kirchenhistorisch angelegten Arbeit über den ersten Clemensbrief. Während seiner Kieler Zeit arbeitete er überwiegend an der Erforschung der ältesten Kirchengeschichte, wofür die Schrift „Die 150 J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas. 151 Zur gegenwärtigen Debatte um die Einheit und Aufgabe der Theologie vgl. I. U. DALFERTH (Hg.), Eine Wissenschaft oder viele? ThLZ.F 17, 2006; K. STOCK, Art. Theologie III. Enzyklopädisch, TRE 33, 323-343. Zu den institutionellen Aspekten der interdisziplinären Ausrichtung sowie zur inneren Organisation der Fakultäten in der Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas, 29–40.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

Papstverzeichnisse des Eusebius und der von ihm abhängigen Chronisten“ von 1868 das Programm enthielt. In Jena vertrat er bis zum Ende seiner akademischen Laufbahn die Fächer Dogmatik und neutestamentliche Exegese, aber auch der kirchen- und dogmengeschichtlichen Arbeit blieb er zeitlebens verbunden. Zwei Jahre vor seinem Tod schloß er sein, von der zeitgenössischen Forschung stark beachtetes, vierbändiges Werk „Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden“ (1883–1890) ab. In einem Brief von Lipsius an Adolf Hilgenfeld vom 20. Mai 1855 wird deutlich, wie Lipsius die historisch-exegetische und die dogmatische Perspektive aufeinander bezieht. Er plädiert für ein „grösseres Ineinandergreifen der verschiedenen Zweige der Wissenschaft“ und versteht sich selber als Historiker, der in der exegetischen Arbeit von der philologisch-historischen Kritik profitiert, aber eben auch als Dogmatiker, denn „cum grano salis sind wir dies doch alle“.152 Zu Otto Pfleiderers Aufgaben als Ordinarius für Praktische Theologie in Jena gehörten auch Vorlesungen zur Ethik und zur Religionsphilosophie, zudem hielt er Vorlesungen zur Exegese des Neuen Testaments ab. Als er Anfang November nach Berlin berufen wurde, bezog sich die Berufung zunächst auf eine Professur für Exegese und Praktische Theologie. Pfleiderer selber konnte die Umwidmung auf eine „Professur für exegetische und (sekundär) dogmatische Theologie“153 durchsetzen. Kurze Zeit später wechselte er als Nachfolger August Twestens auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie. Während er – obwohl in den ersten Jahren seiner akademischen Tätigkeit Inhaber eines Lehrstuhls für Praktische Theologie – keine praktisch-theologischen Arbeiten veröffentlichte, umfasste die Bandbreite seiner Veröffentlichungen die Gebiete Religionsphilosophie und Religionsgeschichte, Neues Testament und Dogmengeschichte sowie Theologie- und Philosophiegeschichte. Als durchgehendes Movens dieser umfassenden Forschungs- und Lehrtätigkeit kann bei Pfleiderer der Versuch ausgemacht werden, eine integrative Gesamtanschauung der Entwicklungsgeschichte des Christentums und seiner Stellung in der Religionsgeschichte zu bieten. Pfleiderer will den vernunftbezogenen Wahrheitsanspruch des Christentums rechtfertigen, eine Form der natürlichen Theologie etablieren und einen von idealistischer Grundausrichtung

152 Brief von R. A. LIPSIUS an A. HILGENFELD vom 20. Mai 1855, veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 155. 153 Vgl. dazu den Brief O. PFLEIDERERS an E. ZELLER vom 31.12.1875, in: Nachlass Eduard Zeller, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Tübingen.

3. Interdiziplinäre Forschungs- und Lehrtätigkeit

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geprägten Protestantismus zu einer praxisorientierten Weltanschauung formen. Adolf Hilgenfelds Forschungs- und Lehrtätigkeit ist interdisziplinär ebenfalls weit ausgedehnt. Er hat sich in Lehrveranstaltungen und seinen Veröffentlichungen mit den Wurzeln der jüdischen Apokalyptik in der ausgehenden Prophetie des Alten Testaments und im nachexilischen Judentum befasst, aber auch mit der Religionspolitik der letzten römischen Kaiser. Dazu kommen Beiträge zur Dogmengeschichte des Mittelalters und der Reformationszeit, zur Theologiegeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts und zu systematisch-theologischen Fragen. Das Verzeichnis seiner Vorlesungen und Seminare weist aus, dass er neben neutestamentlichen und kirchenhistorischen Lehrveranstaltungen für weite Teile der alttestamentlichen Einleitungswissenschaft und Theologie verantwortlich war.154 Dieser weitgespannten Forschungs- und Lehrtätigkeit liegt die von Ferdinand Chr. Baur aufgenommene geschichtliche Auffassung des Christentums und der Theologie zugrunde, sowie die Überzeugung, dass es die Aufgabe der historischen Theologie sei, „den eigentlichen Tatbestand“, d.h. den geschichtlichen Ursprung des Christentums „als der für alle Zeiten bleibenden, unerschöpflichen Lebensmacht durch sorgfältige Erforschung der Schriften ... nach seiner inneren Entwicklung immer klarer zu erkennen“ 155. Was Ludwig Diestels wissenschaftliche Tätigkeit betrifft, so unterstreichen verschiedene Aussagen in seinen Briefen156, was auch seine literarischen Studien und Veröffentlichungen erkennen lassen, dass er sich als Theologe im umfassenden Sinn des Wortes verstand, nicht auf das Altes Testament begrenzt. Es war nicht nur Verlegenheit, dass man ihn während seiner Zeit in Greifswald um neutestamentliche Vorlesungen bat.157 Hatte er hier schon neutestamentliche Lehrveranstaltungen abgehalten, so hielt man in Kiel und Bonn seine Berufung auf einen neutestamentlichen Lehrstuhl für möglich, wobei in Bonn zusätzlich noch systematisch-theologische Kollegs zu seinem Aufgabenbereich gehört hätten.158 Diestel selber hatte nicht nur die Verbindung eines Stadtpfarramtes mit dem eines Universitätsprofessors für vereinbar gehalten, sondern auch überlegt, ob er nicht seine Bonner Predigten ver154 Vgl. dazu das Verzeichnis über die Lehrveranstaltungen von A. HILGENFELD, veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, Anhang. 155 A. HILGENFELD, Die Göttingische Polemik gegen meine Forschungen, in sittlicher und wissenschaftlicher Hinsicht gewürdigt, Leipzig 1851,7f. 156 Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen L. DIESTEL und A. RITSCHL, den A. JEPSEN ausgewertet hat. Ders., Ludwig Diestel, 241–253. 157 Ebd., 241–253. 158 Ebd., 243.247.

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öffentlichen solle, um sich dadurch einen Ruf in eine praktischtheologische Professur zu ermöglichen.159 Sein Hauptwerk zur Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche ist nicht nur eine forschungsgeschichtliche, sondern auch eine theologiegeschichtliche und kirchenhistorische Studie. Von Diestel liegen neben Abhandlungen und Aufsätzen zu den Fachgebieten Altes Testament und altorientalische Religionsgeschichte vielfältige Arbeiten zu wissenschaftsgeschichtlichen Einzelthemen vor, Studien zur Kirchengeschichte und Untersuchungen zur Kirchen- und Schulpolitik. Der Vielfalt seiner Forschung und Lehre liegt neben seinem Interesse an religions- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen ein geschichtliches Verständnis des Christentums und der Theologie zugrunde. In dieser Grundperspektive versteht er einerseits die Geschichte der Religion Israels als Vorgeschichte des Christentums. Andererseits nimmt die Theologie als hermeneutische Disziplin in den Blick und fragt nach der Geschichte der Auslegung. In dem umfangreichen philologisch-historischen und theologischen Werk von Adalbert Merx spiegelt sich sein breites geisteswissenschaftliches Interesse und seine phänomenale Gelehrsamkeit auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft.160 Er entzifferte phönizische, hebräische und aramäische Inschriften, gab eine syrische Grammatik und ein neuassyrisches Lesebuch heraus, kollationierte den armenischen Eusebius, edierte samaritanische und arabische Texte. Seine herausragende Kenntnis der orientalischen Sprachen brachten ihm den Ruf als Professor für semitische Sprachen ein, und damit auch den vorübergehenden Wechsel von der Theologischen in die Philosophische Fakultät. Neben seinen vielfältigen Studien zu seinem eigentlichen Fachgebiet, dem Alten Testament, zeigen seine Vorträge zu verschiedenen Gebieten und Fragestellungen, dass es ihm in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Theologe darauf ankam, die Spezialuntersuchungen in eine grössere Zusammenschau zu integrieren. Signifikante Beispiele für seinen universalgeschichlichen Denkansatz sind der Vortrag „Der Einfluß des Alten Testamentes auf die Bildung und Entwicklung der Universalgeschichte“, den er auf dem Orientalistenkongress 1902 in Hamburg hielt, und seine zusammenfassenden Darstellungen bzw. Reden aus dem gleichen Jahr mit den Themen „Idee und Grundlinien einer allgemeinen Geschichte der Mystik“ sowie „Die Ideen von Staat und Staatsmann im Zusammenhange mit der geschichtlichen Entwicklung der 159 Ebd., 247. 160 Vgl. dazu insbesondere die Bibliografie der Veröffentlichungen in: O. HERRIGEL, Zum Gedächtnis von Adalbert Merx, PrM 14 (1910), 101–103.

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Menschheit“.161 Wie sehr ihm daran lag, in seinen Spezialschriften auf universalgeschichtliche Zusammenhänge einzugehen, zeigt seine Erklärung der Prophetie des Joel162 ebenso wie sein religionsgeschichtliches Volksbuch über die Bücher Mose und Josua von 1907 163, dem er eine Einleitung über die weltgeschichtliche Stellung der mosaischen Bücher voranstellte. Wie Heinrich Ewald, Ferdinand Hitzig oder Julius Wellhausen dehnte Merx seine Forschungsarbeit auch auf das Neue Testament aus, lieferte eine bahnbrechende Untersuchung über den 1892 gefundenen Sinaisyrer und veröffentlichte 1887 eine Reihe über die Evangelien. In der interdisziplinären Ausweitung seiner Forschung und Lehre deutet sich bei Merx ein Verständnis von Theologie als Geschichtswissenschaft an, die mit Hilfe von historisch-philologischen Kenntnissen und Methoden die Geschichte der religiösen Bewegungen insgesamt erfasst. Die Religion Israels und diejenige des Christentums werden in diesen Zusammenhang eingestellt. Starker Beleg dafür ist das Werk „Der Messias oder Taeb der Samaritaner“ von 1909, in dem Merx nicht nur eine Einzeluntersuchung abliefert und neues Forschungsmaterial vorlegt, sondern eine Gesamtentwicklung der Religionsgeschichte in den Blick nimmt, wenn er behauptet, dass „der Samaritanismus als Faktor in der Geschichte der religiösen Bewegungen zur Zeit, als das Christentum seine Lehren formierte, eingestellt werden muß“164. Zudem wirft Merx die Frage nach der inneren Gliederung der Theologie auf, wenn er den hermeneutischen Charakter der Theologie insgesamt in den Blick nimmt und die Hermeneutik als neue Fundamentaldisziplin im Fächerkanon der Theologie fordert.165 Eberhard Schrader wird bereits durch seinen Lehrer, den Orientalisten und Alttestamentler Heinrich Ewald an eine über das spezielle Fachgebiet des Alten Testaments hinausgehende Forschungs- und Lehrtätigkeit herangeführt, der seine exegetische wie altorientalische Forschung allerdings konsequent „im Geiste und im Dienst des Christentums“166 durchführte. Von Anfang seiner Tätigkeit als Professor für Altes Testament zunächst in Zürich, dann in Gießen und Jena erstreck161 A. MERX, Der Einfluß des Alten Testamentes auf die Bildung und Entwicklung der Universalgeschichte; Heidelberg 1892; Ders., Die Ideen von Staat und Staatsmann im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit, Heidelberg 1902. 162 A. MERX, Die Prophetie des Joel. Vgl. dazu Kapitel IV, 163 A. MERX, Die Bücher Moses und Josua. Religiöse Volksbücher. 164 A. MERX, Der Messias oder Ta’eb der Samaritaner, 25. 165 Vgl. dazu die Untersuchung zu den Prinzipien und der Standortbestimmung von Exegese und Hermeneutik bei A. MERX in Kapitel IV, 274ff.278ff. 166 L. PERLITT, Heinrich Ewald, 175.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

te sich Schraders Lehrtätigkeit neben den Exegetica auch auf den Sprachunterricht im Arabischen, Äthiopischen und Koptischen. In seiner Forschung widmete er sich zunehmend der Keilschrift und der Assyriologie, die er als Alttestamentler mitbegründete. Schrader sieht in dieser, das eigentliche Fachgebiet und die Theologie insgesamt übergreifenden kritischen Erforschung der außerchristlichen religiösen Überlieferung sowie in der für ihn damit verbundenden historischkritischen Untersuchung der alttestamentlichen Überlieferung einen Weg, die Bedeutung und Geltung der christlichen Religion darzustellen. Hier zeigt sich ein Konnex zum religonsgeschichtlichen Verständnis der Theologie bei Otto Pfleiderer, mit dem Schrader seit der gemeinsamen Zeit in Jena befreundet war.167 Der Übergang von der Theologischen Fakultät in Jena zur Philosophische Fakultät in Berlin und die damit verbundene Institutionalisierung der Assyriologie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin vollzog sich für Schrader auf der Basis seiner Überzeugung, dass die historische Erschließung alter Hochkulturen eine notwendige Bedingung für den religiös-sittlichen Fortschritt der Menschheit sei, insbesondere die Erforschung der assyrischen bzw. babylonischen Kultur. Schrader entwickelt dabei als Theologe ein ursprüngliches Randgebiet in der Erforschung der Geschichte Israels zu einer selbstständigen wissenschaftlichen Disziplin, und dies in der ihm eigenen Grundannahme, dass das Alte Testament durch den Aufweis vielfältiger religionsgeschichtlicher Parallelen und Dependenzen weder an religiösem Gehalt noch an Gegenwartsrelevanz für die christlichen Gemeinden verliert.

4. Herausbildung der fünf Nominalprofessuren in Jena Für die Organisation der wissenschaftlichen Theologie ist die Trennung in die fünf „klassischen“ Disziplinen Altes Testament, Neues Testament, Historische Theologie, Systematische Theologie und Praktische Theologie kennzeichnend. Diese Aufteilung ist Ergebnis einer historischen Entwicklung der institutionellen Verselbstständigung der theologischen Disziplinen, die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts anbahnt. An den verschiedenen Fakultäten wird die Aufteilung bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein vollzogen, was zu einer tiefgreifenden Veränderung durch die Spezialisierung der Unterrichtszweige führt. Obgleich in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits seit einiger Zeit Konsens über die Einzeldisziplinen vorhanden war, die in den Bereich 167 Vgl. dazu F. W. GRAF, Art. Schrader, Eberhard, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp. 835.

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der protestantischen Theologie fielen, verbanden sich diese Disziplinen zumeist noch nicht statisch und ausschließlich mit den einzelnen Lehrstühlen bzw. Ordinarien. Leitender Gesichtspunkt bei der Organisation der akademischen Lehre an den Theologischen Fakultäten war die Sicherstellung eines als Minimum geforderten Lehrangebotes, das es den Studierenden ermöglichte, innerhalb eines bestimmten Zeitraums die sogenannten ‚Hauptkollegien‘ zu hören. 168 Die Zuteilung der Materien zu den einzelnen Ordinarien hatte sich auch in Jena zu verschiedenen Konstellation verfestigt, wie die Kombinationen ‚Neues Testament und Dogmatik‘ (R. A. Lipsius), ‚Kirchengeschichte und Dogmatik‘ (K. Hase) oder ‚Praktische Theologie und Ethik‘ (O. Pfleiderer) zeigen.169 Die spezifische Situation in Jena ist darin zu sehen, dass es bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts lediglich vier Ordinarien bzw. Lehrstühle gab, die zwar jeweils mit einer fachlichen Schwerpunktsetzung verbunden waren, die aber nicht den klassischen Einzeldisziplinen entsprachen. Als die Theologische Fakultät und der Senat der Universität 1890 die Einrichtung eines fünften theologischen Ordinariats beantragten, machten sie damit noch einmal auf die besondere Situation in Jena aufmerksam.170 Die Gründe für die spezifische Organisation der akademischen Lehre an der Jenaer Theologischen Fakultät und die Herausbildung der fünf Nominalprofessuren sind viefältig. Ein inhaltlicher Grund geht aus einem am 21. April 1812 von Johann Philipp Gabler (1753–1826) verfassten Vorschlagsbericht der Theologischen Fakultät hervor, in dem er explizit davon spricht, dass und warum es in Jena keine eigentlichen Nominalprofessuren gebe.

168 Zu der inneren Organisation verschiedenen Fakultäten um die Mitte des 19. Jahrhunderts und zu den an der Theologischen Fakultät vertretenen Fächern vgl. J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas, 29–62. WISCHMEYER spricht in Bezug auf die Organisation der akademischen Lehre an den Theologischen Fakultäten von einem „Primat des Curriculums“. Zur Situation in Jena vgl. auch: Statuten der Universität Jena, 1883, 104f. Zur Organisation der Theologie als wissenschaftliches Universitätsfach vgl. W. RÜEGG, Theologie und Geisteswissenschaften, in: Geschichte der Universität in Europa, Bd. III, München 2004, 325–378, insbesondere: 335–342. 169 Zum Konsens über die Art und Einteilung der hauptsächlichen Materien für die Hauptkollegien vgl. die von J. WISCHMEYER erstellte Synopse zu den Theologischen Fakultäten in Tübingen, Jena und Berlin. Ders., Theologiae Facultas, 37ff. 170 In dem Antrag wird noch einmal darauf hingewiesen, dass „in allen theologischen Fakultäten deutscher Universitäten ... mindestens 5 ordentliche Professoren je einer für eines der fünf Hauptfächer der theologischen Wissenschaft“ vorhanden ist und dass in Jena mit seinen nur vier Ordinarien R. A. LIPSIUS sowohl die Systematische Theologie als auch die neutestamentliche Exegese vertrete. UA Jena, Bestand J, Nr. 117, 61–62, hier. 61.

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„Die hiesige theologische Fakultät hat zwar keine eigentliche Nominalprofessuren, wahrscheinlich deswegen, weil keiner für einen gelehrten Theologen gelten kann, der nicht das ganze Feld der Theologie überschaut, und eben deswegen bleibt auch kein protestantischer Theolog in Deutschland in seinen Vorlesungen bei einem Fach allein stehen. Aber jeder gelehrte Theolog hat doch ein Hauptfach, worin er ganz einheimisch ist, folglich darin sich auch auszeichnet und in Deutschland Ruf hat.“171

Ein weiterer zentraler Faktor im Zuge der Herausbildung der klassischen Nominalprofessuren in Jena ist die Idee und die Formierung eines geschlossenen theologischen Profils der Jenaer Theologischen Fakultät. Immer wieder verwies man auf die Gemeinschaft in einer „compacten Einheit, als welche fast nur die hiesige theologische Facultät in unserer zerrissenen und in Gegensätze zerfallenen Zeit sich darstellt.“172 Beredtes Beispiel für den Einfluss dieser geschlossenen ideellen Grundausrichtung und akademischer Korporation auf den Prozess der Herausbildung der Nominalprofessuren ist die konsequente Zurückweisung des von dem Kurator Moritz Seebeck unternommenen Versuches die Einrichtung einer fünften Professur zu erreichen, um damit einen ‚positiv‘ ausgerichteten Theologen nach Jena berufen zu können und die positionelle Einheitlichkeit der Theologischen Fakultät aufzubrechen. Bereits Anfang 1853 hatte Seebeck im Rahmen seiner Anträge zu einer Reform der Universität Jena ein umfassendes Gutachten zur Situation der Theologischen Fakultät erstellen lassen, dass zu dem Schluss kam, eine fünfte, hauptsächlich der Dogmatik oder Systematischen Theologie gewidmete ordentliche Professur sei in Jena unabdingbar.173 In seinem Generalbericht wiederholte Seebeck 1854 diese Forderung und verlangte, dass der neu zu errichtende Lehrstuhl mit einem dezidiert ‚positiven‘, d. h. der erweckungstheologischen oder konfessionell-neulutherischen Richtung nahestehenden Theologen besetzt werden solle.174 Damit könne ein Ausgleich zu den in Jena vorherrschenden liberalen und vermittelnden Tendenzen erreicht werden. Seebeck beklagte, dass die Systematische Theologie, „in welcher das gesamte theologische Studium erst seinen völlig zusammenfassenden Abschluß findet, und in welcher von jeher das evangelische Bekenntnis

171 Zitiert nach K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 336. 172 Schreiben der Fakultät an den Universitätskurator vom 19. Juni 1853. UA Jena, Bestand J, Nr. 113, 4–6, hier: 5. 173 Vgl. K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 267f. 174 Generalbericht von M. SEEBECK an die Ministerien der Erhalterstaaten, Jena, 7. März 1854. In: ThStA Gotha, Staatsministerium, Dep. I, Loc. 6 t, 26, Vol. 1, 12–88, insbesondere: 60–61.

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sein innerstes Wesen ganz aufzuschließen und offenbar zu machen gesucht hat“ an der thüringischen Universität keinen eigentlichen Vertreter habe und das Studium damit an dieser Stelle trotz der dogmatischen Lehrveranstaltungen Karl Hases und Leopold Immanuel Rückerts defizitär sei.175 In Zusammenarbeit mit dem altenburgischen Staatsminister Alfred von Larisch bemühte sich Seebeck in den folgenden Jahren darum, die Berufung eines „tüchtigst bewährten Vertreters der Dogmatik und Dogmengeschichte“176 zu erreichen. Die Theologische Fakultät allerdings wandte sich unter der Führung von Karl Hase 177 gegen die Berufung eines ‚positiv‘ gerichteten Theologen nach Jena und begründete dies damit, dass die Fakultät in Jena „kein Prisma aller vorhandenen theologischen Farben und ihrer mannigfachen Nuancen“ sein könne, sondern ihre Kräfte auf die eigentliche Aufgabe konzentrieren müsse und somit ein geschlossenes theologisches Profil bzw. eine homogene akademische Korporation benötige. „Hier gilt es vielmehr, dass jeder einzelne im engsten Verband mit dem andern der Bestimmung nachkomme, ‚im Geist der protestantischen Kirche‘ nicht nur die gelehrte Bildung zu befördern‘, sondern auch ‚tüchtige Männer für die christlichen Lehrämter heranzubilden‘ (Statut der Theologischen Fakultät § 1).“178

Es ging der Theologischen Fakultät mit diesen Kriterien für die Berufungen darum, ihren Charakter als einer entschieden liberal ausgerichteten Ausbildungsstätte zu wahren und damit die religions- und kulturpolitischen Konflikte zwischen ‚Liberalen‘ und ‚Positiven‘ zu verhindern, die die anderen evangelisch-theologischen Fakultäten im

175 Er beanstandete, dass K. HASE hauptsächlich Dogmengeschichte lese und kritisiert, dass die Inhalte, die L. RÜCKERT „nach dem ersten Bande seiner neuerlich edirten ‚Theologie‘ als Dogmatik“ vortrage, „wieviel Gutes auch darin enthalten sei, doch mehr nur eine beliebig geflochtene Kette subjectiver Reflexionen über das Christentum überhaupt ist, die nirgends an den kirchlichen Lehrbegriff ... irgendwie anknüpft.“ Generalbericht von M. SEEBECK an die Erhalterstaaten, Jena, 7. März 1854. In: ThStA Gotha, Staatsministerium, Dep. I, Loc. 6 t, 26, Vol. 1, 12–88, hier: 60f. 176 Brief von M. SEEBECK an A. VON LARISCH, 3. November 1854. In: ThStA Altenburg, Geheimes Ministerium Nr. 1603. 177 Vgl. dazu auch eine Notiz in den Annalen K. HASES, in der er SEEBECKS Bemühungen um die Einrichtung der fünften Professur und deren Besetzung durch einen Theologen der ‚positiven‘ Richtung mit den Worten kommentiert: „Seebeck ... zog ... umher nach einem ‚gläubigen Theologen‘, den soll sich Altenburg haben versprechen lassen für die Zulassung von Kuno Fischer, dem in Heidelberg die venia docendi als wegen Pantheismus genommen worden war.“ K. HASE, Annalen meines Lebens, Leipzig 1891, 122. 178 Bericht der Theologischen Fakultät vom 12. Juni 1843, wiederholt am 10. Juni 1853, zitiert nach K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 261.

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Kaissereich prägten.179 Der Streit um die Einrichtung der fünften Professur mit der Besetzung eines positiven Theologen brandete durch das sogenannte ‚Eisenacher Attentat‘ im Mai 1881 neu auf. Wie bereits an anderer Stelle dargestellt180, wurde die Forderung von der Theologischen Fakultät geschlossen zurückgewiesen. Allerdings führt dieser Streit deutlich vor Augen, dass für die Besetzung der Lehrstühle in Jena die Bevorzugung theologisch-positionell begründeter Personalprofessuren die Herausbildung der eigentlichen Nominalprofessuren überlagerte. Nach dem Tod Karl Hases im Januar 1890 kam es schließlich zur Besetzung der fünften Professur durch die Ernennung von Adolf Hilgenfeld zum Ordinarius. Mit dem Tod Karl Hases war dessen persönliche Blockade gegen die Übernahme eines Ordinariats durch Adolf Hilgenfeld gelöst. Die vier bisherigen Ordinarien Lipsius, Seyerlen, Nippold und Siegfried wie auch der Senat der Universität, beantragten unverzüglich und einstimmig die Einrichtung eines fünften theologischen Ordinariats und seine Übertragung an Adolf Hilgenfeld.181 Der Kurator empfahl allerdings der Weimarer Regierung, zunächst von auswärts einen außerordentlichen Professor der Theologie zu berufen. Die Fakultät nutzte den von ihr geforderten Denominationsbericht für die Ernennung eines außerordentlichen Professors um nochmals die Ernennung Hilgenfelds zu fordern.182 Der Großherzog entschied am 28. Mai 1890 den Lic. Otto Baumgarten (1858–1934) für die neu zu errichtende außerordentliche Professur zu berufen und empfahl für den 1. Oktober 1890 die Ernennung Hilgenfelds als Ordinarius für Neues Testament und älteste Kirchengeschichte. 183 Dies implizierte, dass die Professur von Lipsius nun ganz als Ordinariat für die Systematische Theologie zugeschnitten wurde. Die Genese der Nominalprofessuren in Jena beginnt damit, dass sich zunächst die alttestamentliche, die praktisch-theologische und die 179 Vgl. dazu W. RÜEGG, Theologie und Geisteswissenschaft, 339–342. 180 Vgl. dazu Kapitel II, 67f. und die Literaturhinweise in Anm. 122. 181 In dem Antrag wird noch einmal darauf hingewiesen, dass „in allen theologischen Fakultäten deutscher Universitäten ... mindestens 5 ordentliche Professoren je einer für eines der fünf Hauptfächer der theologischen Wissenschaft“ vorhanden ist und dass in Jena mit seinen nur vier Ordinarien R. A. LIPSIUS sowohl die Systematische Theologie als auch die neutestamentliche Exegese vertrete. UA Jena, Bestand J, Nr. 117, 61–62, hier: 61. 182 Für die außerordentliche Professur umfasste die Liste die Namen HUSENCLEVER, BAUMGARTEN und HUMMEL. Vgl. UA Jena, Bestand J, Nr. 117, 65f. 183 So die Bezeichnung seines Ordinariats in dem Fakultätsantrag für seine Ernennung zum ordentlichen öffentlichen Professor vom 14. Januar 1890. Vgl. UA Jena, Bestand J, Nr. 117,62. Vgl. auch K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 333f.

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kirchenhistorische Professur herauskristallisierten. Die Reihe der Nachfolger von Andreas Gottlieb Hoffmann, der Ordinarius mit dem Schwerpunkt Altes Testament war bzw. dessen Lehrveranstaltungen überwiegend der alttestamentlichen Exegese und den orientalischen Sprachen galten, August Köhler, Ludwig Diestel, Eberhard Schrader und Karl Siegried waren alttestamentliche Exegeten und hatten typische ‚systemimmanente‘ Karriereverläufe. Ludwig Diestel wurde von Greifswald nach Jena berufen und ging von hier an die als Zentrum der Theologie geltende Universität Tübingen. Eberhard Schrader kam von Gießen und erreichte über die Station in Jena seine akademische Endstation in der Reichshauptstadt Berlin. Anders stellt dich der Werdegang des als Nachfolger von Eberhard Schrader berufenen Karl Adolf Siegfried dar, der zuvor Lehrer an der Fürstenschule in Schulpforta gewesen war. Er blieb bis zur Emeritierung in Jena, was nicht untypisch für aus dem Schuldienst an die Universität gewechselte Gelehrte war. Die kirchenhistorische Nominalprofessur wurzelte in der Tätigkeit Karl Hases, der neben seinen kirchengeschichtlichen Vorlesungen allerdings auch Vorlesungen zur Dogmatik hielt.184 Mit seinem Nachfolger Friedrich Nippold wurde ein Kirchenhistoriker berufen, der im Rahmen seiner Berufungsverhandlungen darauf verwies, dass er sich nicht für geeignet hielt, auch die Dogmatik zu vertreten, die im Lehrstuhlzuschnitt mit vorgesehen war. 185 Stattdessen bevorzugte er mit der Kirchen- und Dogmengeschichte in ihrem ganzen Umfang das ganze Feld eines Kirchenhistorikers. Otto Pfleiderer, der neben der Praktischen auch die Systematische Theologie und neutestamentliche Exegese vertrat, folgte 1875 Rudolf Seyerlen, der mit seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit bis zu seiner Emeritierung nahezu ausschliesslich im Bereich der Praktischen Theologie blieb, obwohl die praktisch-theologischen Fächer in seiner Hand weniger gut aufgehoben waren als zuvor bei Pfleiderer.186 „Das Ordinariat für praktische Theologie war nun

184 Vgl. dazu K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 337f. 185 Ebd., 330f. 186 Allerdings erhielt er auch einen Lehrauftrag für das Gebiet der systematischen Theologie. Vgl. F. W. GRAF, Art. Seyerlen, Karl Rudolf, in: BBKL Bd 9 (1995), Sp. 1545. In der Jenaer fakultätsgeschichtlichen und universitätsgeschichtlichen Literatur findet SEYERLENS Wirken eine ausgesprochen negative Würdigung. „Seyerlen war zwar ein gründlich durchgebildeter Systematiker, aber die praktisch-theologischen Fächer waren in seiner Hand weniger gut aufgehoben.“ Geschichte der Universität Jena 1548/58-1958, Bd. I, 494. Im Frühjahr 1879 berichtet der Kurator FREIHERRR VON TÜRCKE nach Weimar von der geringen Wirksamkeit SEYERLENS. Vgl. K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 313.

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dreißig Jahre lang mit einem Manne besetzt, dessen Abstand von seinem Vorgänger sehr deutlich in die Augen fiel.“187 Differenzierter muss die Herausbildung der Ordinariate für Systematische Theologie und Neues Testament bewertet werden. Richard Lipsius war Ordinarius für Systematische Theologie und neutestamentliche Exegese. Mit der Ernennung von Adolf Hilgenfeld zum Professor für Neues Testament und älteste Kirchengeschichte vollzog sich die Umwidmung seines Lehrstuhles zum Lehrstuhl für Systematischen Theologie. Karl Heussi sieht die neutestamentliche Professur in der akademischen Wirksamkeit von Otto Baumgarten-Crusius (1788–1843) begründet, der mit seinen Vorlesungen wie mit seinem literarischen Werk das Neue Testament, die Dogmengeschichte und die Systematische Theologie abzudecken versuchte. Seine Nachfolger aber Leopold I. Rückert (1797–1871) und eben Richard A. Lipsius seien, so Heussi, allerdings in erster Linie als neutestamentliche Exegeten berufen worden.188 Diese These lässt sich in Bezug auf die Berufung von Lipsius aus dem Berufungsprotokoll vom 26. April 1871 und dem daraus hervorgehenden Denominationsbericht nicht eindeutig belegen. 189 Allerdings spricht die Liste der weiteren Kandidaten Karl Theodor Keim (1825– 1878) und Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910), die einen Arbeitsschwerpunkt in der Erforschung des Urchristentums und der neutestamentlichen Theologie hatten, für die These von Heussi. Dies gilt auch für den zuvor erwähnten Generalbericht des Kurators Moritz Seebeck von 1854, in dem er betont, dass Jena keine eigentliche Professur für Systematische Theologie habe. Dass für Lipsius selber in seiner Jenaer Lehrtätigkeit das Neue Testament ein Schwerpunkt bleibt, wird durch zwei Indizien gestützt. Zum einen erhält Rudolf Seyerlen als Nachfolger Otto Pfleiderers einen Lehrauftrag für Bereiche der Systematischen Theologie, zum anderen wird das Fach Dogmatik bis zu dessen Emeritierung auch von Karl Hase vertreten, was aus den Berufungsverhandlungen mit dessen Nachfolger Friedrich Nippold hervorgeht, der diesen Sachverhalt problematisierte.190 Daher spricht einiges dafür, dass die Professur für Systematische Theologie die letzte der Nominalprofessuren gewesen ist, die sich durch das Einrücken von Hilgenfeld in eine ordentliche Professur für 187 M. STEINMETZ (Hg.), Geschichte der Universität Jena, Bd. I, 494. 188 K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 337f. 189 „Ein ausgezeichneter neutestamentlicher Exeget und Kenner der altchristlichen Literatur und zugleich ein überaus scharfsinniger und vorurteilsfreier, hervorragender Systematiker.“ UA Jena, Bestand J, Nr. 116, 51–52.53–55, hier: 51. 190 Vgl. dazu die Ausführungen zur Entstehung der kirchengeschichtlichen Professur bei K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 328–333.337f.

5. Zusammenfassung

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Neues Testament und älteste Kirchengeschichte und die dadurch bedingte ausschliessliche Widmung der Professur von Lipsius für die Systematische Theologie ergeben hat. Allerdings muss auch in diese Überlegungen einbezogen werden, dass Lipsius vor seiner Berufung nach Jena in Kiel und Wien Professor für Systematische Theologie war. Zudem wurde er während seiner Jenaer Zeit in Bezug auf die Wirkung seiner literarischen Tätigkeit191 und seiner Vortragstätigkeit ohne Zweifel als der Dogmatiker der Jenaer Theologie angesehen.192 Damit hat er seinem Lehrstuhl eine andere Prägung gegeben – eine dezidiert systematisch-theologische –, als der eigentliche Zuschnitt des Lehrstuhls dies vorsah. In dieser Perspektive wäre dann doch durch die entsprechende Berufung Hilgenfelds das Neue Testament die jüngste Nominalprofessur in Jena.

5. Zusammenfassung Der auf die Personen, Aspekte zu ihrer Vernetzung und Interaktion, ihre interdisziplinäre Forschungs- und Lehrtätigkeit sowie die Herausbildung der Nominalprofessuren in Jena im ausgehenden 19. Jahrhundert bezogene historische Zugriff hat gezeigt, dass in der Selbstwahrnehmung der Beteiligten in Jena eine eigengeprägte Gestalt liberaler Theologie im Zeitraum von 1865 bis 1895 identifizierbar ist. Die Vernetzung der an dieser theologischen Richtung Beteiligten und ihre Interaktion spiegeln sich in verschiedenen Kontexten. Auf der kirchen- und theologiepolitischen Ebene zeichnet sich eine Vernetzung durch die Mitwirkung im deutschen Protestantenverein und bei den Protestantentagen ab, ebenso wie eine Interaktion der Beteiligten in der gemeinsamen Initiierung der ‚Jenenser Erklärung‘ 1872/73 bzw. dem dadurch ausgedrückten Protest gegen jede Beschränkung protestantischer Lehrfreiheit im Zusammenhang des Verfahrens um die Berliner Prediger Emil G. Lisco und Karl L. A. Sydow. Insbesondere in der gemeinsamen Abwehr der verschieden gelagerten Versuche an der Theologischen Fakultät die Besetzung einer fünften Professur mit einem Theologen der positiven, d.h. der erweckungstheologischen oder konfessionell-neulutherischen Richtung, zu erreichen, 191 Vgl. dazu die von O. BAUMGARTEN zusammengestellte Bibliografie der Werke von LIPSIUS, die den Schwerpunkt seiner systematisch-theologischen Arbeit dokumentiert, in: R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 870–883. 192 Vgl. dazu die Darstellung der Auseinandersetzungen um seine Nachfolge in Kapitel II, 72ff. In diesem Kontext wird sichtbar, dass LIPSIUS als der Dogmatiker der liberalen Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert wahrgenommen wurde.

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um damit einen Ausgleich zu der „vorzugsweise liberalen und negierenden theologischen Richtung“ 193 zu schaffen, wird eine geschlossene ideelle Grundausrichtung und akademische Korporation erkennbar. Damit verhinderten die liberalen Jenaer Theologen seit 1853 die Aufstockung der Ordinariate durch Obstruktion und demonstrierten ihre Homogenität in der theologischen Grundausrichtung. Auch die Auseinandersetzung um die Besetzung des Ordinariats für Systematische Theologie nach dem Tod von Lipsius ist ein signifikantes Beispiel für diese Form der Vernetzung und geschlossenen Positionierung in der Selbst- und Außenwahrnehmung. Die Kommentierung der Vorgänge um die Nachfolge von Lipsius durch Martin Rade, der die Ausrichtung und die Problematik der eigen geformten Jenaer Theologie in die Worte fasste: „Ritschlianer soll er nicht sein – mit gutem historischen Recht und jüngere tüchtige Dogmatiker von Jenaischer Richtung gibt es kaum“, aber auch die Vorgänge im Landtag in Gotha sind klare Belege dafür.194 Die Vernetzung der an der liberalen Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert Beteiligten spiegelt sich nicht zuletzt auf der Ebene der Berufungspolitik der Theologischen Fakultät in dem Zeitraum von 1865 bis 1893 bzw. in deren Versuchen, ihren Einfluss bei den anstehenden Berufungen gegenüber dem Universitätskurator geltend zu machen. Die bei der Darstellung der Vita der Beteiligten unter 1.1 bis 1.6 angeführten Berufungsprotokolle und Vorschlagsberichte der Theologischen Fakultät zur Besetzung der jeweiligen Ordinarien dokumentieren, dass und inwiefern die Beteiligten an der Berufung ihrer Kollegen oder Nachfolger mitwirkten, und was die leitenden Fragestellungen bei der Wiederbesetzung der Stellen waren. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die endgültige Berufung auf eine ordentliche Fakultätsstelle von einer Vielzahl externer Faktoren und Interessen abhing, die nur begrenzt von der Theologischen Fakultät steuerbar waren. 195 Hier ist auf die strukturellen Voraussetzungen wie die rechtlichen und finanziellen Bestimmungen, auf den sich in den Jahren 1850 bis 1870 an deutschen Universitäten vollziehenden Wandel von der „Lokal193 Thesen zum Vortrag von HUNNIUS am 3. Mai 1881, in: Das Eisenacher Attentat, 41. 194 M. RADE, in: ChW 6 (1892), Sp. 1116. Vgl. dazu in Kapitel I die Ausführungen zur Begriffsgeschichte, 3, insbesondere Anm. 18. 195 Vgl. die ausführliche Darstellung zur akademischen Laufbahn der Universitätstheologen, die Skizzierung der kirchenrechtlichen und kultuspolitischen Rahmenbedingungen für die Theologischen Fakultäten und den wissenschaftspolitischen Zugriff des Staates auf die Berufungen durch seinen Kurator ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bei S. GERBER, Universtätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation, 222ff. 247ff.434ff. und bei J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas, 63–134.

5. Zusammenfassung

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Regional-Auslese zur neuen disziplinbezogenen und sprachgebietsweiten Auslese“ sowie eine Etablierung von Universitätshierarchien zu verweisen.196 Auch der wissenschaftspolitische Zugriff des Staates auf die Berufungen durch seinen Kurator spielt eine wichtige Rolle in den Berufungsvorgängen.197 Gleichwohl versuchte die Theologische Fakultät ihren Einfluss auf die Berufung geltend zu machen und durch die entsprechenden Berufungen ihr geschlossenes theologisches Profil zu wahren. Aus den Berufungsprotokollen und den Denominationsberichten lassen sich ansatzweise theologische Kriterien ableiten, die neben den oben genannten strukturellen, kirchenpolitischen und persönlichen Faktoren ausschlaggebend waren. In Bezug auf die Exegese ist dies zum einen die Betonung eines historisch-kritischen Zugangs zu den alt- und neutestamentlichen Überlieferungen. Zum anderen geht es um die Forderung einer religionsgeschichtlich orientierten Exegese. Einigkeit herrscht allerdings darin, dass die historische Relativierung der Überlieferungen nicht zur Aufgabe ihrer theologischen Normativität führe. In dogmatischer Perspektive spielt die grundsätzlich religionsphilosophische Verankerung der Theologie mit Anschlussfähigkeit zum Neukantianismus, wie die Berufung von Lipsius und der Streit um seine Nachfolge zeigen einerseits, und zur kritisch-spekulative Schule Ferdinand Chr. Baurs, wie besonders die Berufungen von Pfleiderer und dessen Nachfolger Seyerlen zeigen andererseits, eine zentrale Rolle. Dabei wird mit den Berufungen, sofern sie von Seiten der Theologischen Fakultät überhaupt steuerbar wahren, die Zielsetzung verfolgt, ein in der ideellen Grundausrichtung geschlossenes Profil der Theologischen Fakultät zu wahren. Damit wollte man die religions- und kulturpolitischen Konflikte verhindern, die andere evangelisch-theologischen Fakultäten im Kaiserreich prägten. Die Forschungs- und Lehrtätigkeit der für die liberale Theologie in Jena stehenden Professoren ist auf signifikante Weise interdisziplinär ausgerichtet. Für alle gilt, dass sie sich als Theologen im umfassenden Sinne des Wortes verstehen. Dies spiegelt sich in der Bandbreite ihrer Lehrveranstaltungen ebenso wie in der Vortragstätigkeit und den literarischen Werken. Die Motive für die interdisziplinäre Forschungsund Lehrtätigkeit der liberalen Jenaer Theologen sind darin zu sehen,

196 P. MORAW, Humboldt in Gießen. Zur Professorenberufung an einer deutschen Universität des 19. Jahrhunderts, in: GG 10, 1984, 47–71, hier: 70. Vgl. auch M. BAUMGARTEN, Professoren und Universitäten, 221–225. 197 Vgl. S. GERBER, Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation, 222f.247f. 437ff.

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dass man eine integrative Gesamtanschauung der Entwicklungsgeschichte des Christentums und seiner Stellung in der Religionsgeschichte verbinden und den vernunftbezogenen Wahrheitsanspruch des Christentums plausibilisieren wollen. Darin deutet sich ein Verständnis von Theologie als Geschichtswissenschaft an, die mit Hilfe von historisch-philologischen Kenntnissen und Methoden die Geschichte der religiösen Bewegungen und speziell der Religion Israels, des Judentums und Christentums herausstellt. In der kritischen Erforschung der außerchristlichen religiösen Überlieferung sowie in dem damit verbundenden historisch-kritischen Zugang zu den biblischen Überlieferungen wird ein Weg gesehen, die Bedeutung und Geltung der christlichen Religion aufzuzeigen bzw. das Christentum als vollkommenste Gestalt der Religion zu erweisen. Otto Pfleiderer spricht in einer Festrede zur Ehre Karl Hases am 15. Juli 1879 von „der Jenenser Theologie“ und kennzeichnet „charakteristische Grundzüge“, die sich bei allen Beteiligten finden. „Gleichmäßig teilen ja doch die verschiedenen Richtungen der Schule die charakteristischen Grundzüge, die ich als geschichtliche Pietät, moderne Kritik und practisch-kirchlichen Sinn bezeichnen möchte. Verschiedenartig ist nur das Mischungsverhältnis dieser Elemente bei den Einzelnen ... Alle aber sind in den drei Sachen einig: Daß vom Geschichtlichen ausgegangen, dieses durch rationelle Kritik mit dem modernen Bewußtsein vermittelt und schließlich auf den Endzweck aller Theologie, auf die kirchliche Brauchbarkeit ihrer Resultate abgezielt wird.“198

Damit wird die Universitätstheologie zwischen Wissenschaft und kirchlichem Praxisbezug verortet, und in der Konzeption der Theologie werden unterschiedliche Ausrichtungen der Theologie zusammengeführt: eine wissenschaftlich-theologische, ein religions- und kulturtheologische sowie eine kirchlich-praktische Ausrichtung. Diese verschiedenen Ausrichtungen in der Universitätstheologie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich wechselseitig.199

198 O. PFLEIDERER, Zum Ehrentag der Jenenser Theologie, in: PKZ 26 (1879), Sp. 655–661, hier: 660f. 199 R. A. LIPSIUS sieht die Entwicklung der Universitätstheologie Anfang der siebziger Jahre insofern problematisch, als das Grundmotiv des Handelns vieler Universitätstheologen in seinen Augen unwissenschaftliche „Bekenntnistreue“ und eine unangemessene Gegenüberstellung von „gläubiger“ und „ungläubiger“ Theologie sei. Demgegenüber gelte es nun, die Theologie als Wissenschaft an die „Anforderungen heutiger Wissenschaft“ heranzuführen und davor zu bewahren, dass die Fragen der theologischen Wissenschaft „zu kirchlichen und kirchenpolitischen Machtfragen“ werden. Ders., Ein Stück Hinterlassenschaft des Herrn von Mühler, 7f.13f. A. HILGENFELD verwies darauf, „dass die freie Kirche auch mit der freien Wissen-

5. Zusammenfassung

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Die Ausdifferenzierung der Theologie in die unterschiedlichen theologischen Disziplinen versteht sich nicht von selbst, sondern ist unter unter neuen Gesichtspunkten immer wieder zum Gegenstand der theologischen Erörterung geworden.200 Leonhard Hell kommt in einer neueren Untersuchung zur Entstehung und Entfaltung der theologischen Enzyklopädie zu dem Ergebnis, dass die unterschiedlichen Disziplinen ihre disparate Herkunft wie ihre divergierenden Zielsetzungen widerspiegeln. „Wie in anderen Wissenschaften, so liegt auch in der Theologie eine eben nicht nur sachlich und methodisch, sondern zugleich funktional irreduzible Pluralität von Disziplinen vor, die ihr historisch aus unterschiedlichen Bereichen zugewachsen sind und die sowohl diese disparate Herkunft wie divergierende Zielsetzungen spiegeln.“201

Für die Ausdifferenzierung des Fächerkanons in Jena im ausgehenden 19. Jahrhundert ergibt sich ein differenziertes Bild. Prinzipiell herrschte in Jena die Vorstellung, der Träger eines theologischen Doktorgrades müsse in der Lage sein, Lehrveranstaltungen aus dem Gesamtgebiet der Theologie anzubieten.202 Die Ausdifferenzierung und Institutionalisierung des Fächerkanons wird einerseits durch die zunehmende Spezialisierung und Regulierung der Forschungsgebiete sowie der akademischen Laufbahnen der Universitätsprofessoren gefördert und auch gefordert, andererseits aber durch die Idee eines geschlossenen Profils einer Theologischen Fakultät bzw. eine gemeinsame theologischpositionelle Grundrichtung überlagert und auch blockiert.203 Die Herausbildung der Nominalprofessuren in Jena ist somit keineswegs als organischer Entwicklungsprozess vorzustellen, in dem planvoll eine

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schaft verbündet ist“. Ders., Rückblick auf das letzte kirchliche Jahrzehnt Deutschlands, in: ZwTh 2 (1859), 1–38, hier: 10. Die Arbeit an der Ausdifferenzierung der Theologie in die unterschiedlichsten theologischen Disziplinen wird sogar zu den „dringendsten Aufgaben des gegenwärtigen theologischen Diskurses“ gerechnet. K. STOCK, Art. ‚Theologie‘ III, in: TRE 23, 232–243, hier: 232. Vgl. auch M. ROTH, Die Ausdifferenzierung der theologischen Wissenschaft als Problemstellung, in: Evangelische Fundamentaltheologie in der Diskussion, Leipzig 2004, 73–94. G. EBELING hat bereits 1970 festgestellt, dass das „Bedürfnis nach einer Erfassung von Einheit und Ganzheit der Theologie“ in ein akutes Stadium getreten ist. Vgl. Ders., Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, in: ZThK 67 (1970), 479–524, hier: 488. L. HELL, Entstehung und Entfaltung der theologischen Enzyklopädie, Mainz 1999, 214. Das Recht dazu bestand in Jena. Vgl. dazu Statuten der theologischen Fakultät, § 10, in: Statuten der Universität Jena, 107. Vgl. insbesondere J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas, 35–40.295ff.

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II. Vernetzung einer theologischen Richtung

Arbeitsteilung der theologischen Disziplinen nach einem bestimmten Sachgrund vollzogen wurde. Für die gegenwärtige Frage- und Problemstellung der Ausdifferenzierung der Theologie in die unterschiedlichen Disziplinen204 ist festzuhalten, dass der Versuch, durch eine Untersuchung der historischen Genese der institutionellen Verselbstständigung der theologischen Disziplinen, das Sachkriterium für die Ausdifferenzierung der theologischen Disziplinen namhaft zu machen, nicht gelingen wird, da höchst unterschiedliche Gründe anzutreffen sind. Geht man von der Situation an der Theologischen Fakultät in Jena im ausgehenden 19. Jahrhundert aus, erscheint die Frage nach der Aufgabe der Theologie als verbindendes Element der Disziplinen sowie nach dem ausgeprägt theologischen Charakter derselben vielversprechender.

204 Vgl. dazu M. ROTH, Die Ausdifferenzierung der theologischen Wissenschaft als Problemstellung evangelischer Theologie, in: Evangelische Fundamentaltheologie in der Diskussion, 73–94; I. U. DALFERTH (Hg.), Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen, ThLZ.F 17, 2006.

III. Zum Theologieverständnis – Grundlagen und geistesgeschichtliche Verortung 1. Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie 1.1 Richard Adelbert Lipsius: Religiöse Erkenntnistheorie auf der Basis des Neukantianismus 1.1.1 Genese und Gestalt der Erkenntnistheorie von Richard A. Lipsius1 Eduard von Hartmann kennzeichnet die Erkenntnistheorie von Lipsius mit den Worten: „Wenn ich die Theologie von Lipsius als neukantisch bezeichnet habe, so geschah es nicht etwa inbezug auf die kantsche Religionsphilosophie, sondern inbezug auf ihr Fussen in der neukantischen Erkenntnistheorie“ 2.

Lipsius hat sich die Zuordnung zu einem erkenntnistheoretischen Neukantianismus gefallen lassen, allerdings großen Wert darauf gelegt, dass man ihm die „empiristisch-sensualistische Wendung, welche der transcendentale Idealismus bei verschiedenen Neukantianern genommen hat, ebenso wenig imputieren möge, als jenen schroffen Dualismus zwischen der Welt der Wirklichkeit und der Welt der Werte oder Ideen, wie ihn nicht bloss Albert Lange, sondern auch Herrmann vertritt“ 3.

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2 3

Vgl. dazu M. HÜTTENHOFF, Erkenntnistheorie und Dogmatik; 140–230; A. NEUMANN, Grundlagen und Grundzüge der Weltanschauung von R. A. Lipsius, Braunschweig 1896; W. REU, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Richard Adelbert Lipsius, Diss. Göttingen 1968; K. RUB, Die Erkenntnistheorie von R. A. Lipsius, Karlsruhe 1893; F. TRAUB, Grundlegung und Methode der Lipsiusschen Dogmatik, in: ThStKr 68 (1895), 471–529. E. VON HARTMANN, Die Krisis des Christentums in der modernen Theologie, Leipzig ²1888, 87. R. A. LIPSIUS, Philosophie u. Religion, 3; Ders., Rezension: Otto Pfleiderers christlicher Glaubens- und Sittenlehre, in: PKZ 27 (1880), 1012. LIPSIUS bekennt sich in der Vorrede zu seinem Erstlingswerk – einer Arbeit über die paulinische Rechtfertigungslehre – zu einer der spekulativen Vermittlungstheologie angehörenden und dem Spätidealismus nahestehenden Theologiekonzeption und hebt „Neander, Nitzsch, Lücke, Ullamann, Twesten, Liebner, Dorner, Martensen u.A.“ als „die Be-

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III. Zum Theologieverständnis

Die Arbeit an der religiösen Erkenntnistheorie führt Lipsius zum Bruch mit dem Spätidealismus und der spekulativen Vermittlungstheologie und zur Rückkehr „zu den verlassenen Pfaden Kants und Schleiermachers“. „Nach langen beschwerlichen Umwegen ist die heutige Philosophie wieder zu den verlassenen Pfaden Kants und Schleiermachers zurückgekehrt. Die Theologie wird gezwungen sein, diesem Beispiele zu folgen, wenn sie noch als wirkliche Wissenschaft zählen will.“4

Er sieht darin den einzig gangbaren Weg, die Stellung der Theologie im Gesamtorganismus der Wissenschaften behaupten zu können.5 Und es ist die entscheidende Frage, ob „die Theologie, die ihrer Natur nach Glaubenswissenschaft ist und sein will, sich Gesetzen wissenschaftlicher Erkenntnis fügen (kann), die für alle anderen Wissensgebiete in Geltung stehen oder nicht?“6 Die Frage beantwortet sich für Lipsius, wenn man den erfahrungsbezogenen Charakter religiöser Erkenntnis ins Auge fasst und – wie Schleiermacher – nicht das gegenständliche Dasein Gottes an sich, sondern das menschliche Gottesbewusstsein wie es auf unser Selbstbewusstsein bezogen ist, als Gegenstand der Theologie als Glaubenswissenschaft begreift.7 Damit verbunden unternimmt

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gründer einer neuen Theologie“ hervor. R. A. LIPSIUS, Die paulinische Rechtfertigungslehre, XIII. Wie sehr LIPSIUS den den Spätidealisten CHR. H. WEISSE schätzte, lassen die drei Rezensionen zu WEISSES Werken erkennen, die er in den Jahren 18571865 veröffentlichte. Vgl. dazu R. A. LIPSIUS, Rez. Chr. H. Weiße’s neueste Schriften, in: Blätter für literarische Unterhaltung, 1857, 542–551.685– 694; Ders., Rez. Chr. H. Weiße, Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christentums, in: Literarisches Centralblatt für Deutschland 11, 1860, 625–631. Vgl. dazu die Ausführungen zur Vita, zum Werk und der theologiegeschichtlichen Verortung von LIPSIUS in Kapitel II, 35ff. R. A. LIPSIUS, Zu Hegels hundertjährigem Geburtstag, in: Schleswig-Holsteinisches Kirchen- und Schulblatt, 1870, 469–474, hier: 473. „Aber die freie protestantische Theologie hat noch immer den Kampf ums Dasein zu kämpfen: den Kampf um ihr Recht in der evangelischen Kirche, den Kampf um ihr Recht in der Wissenschaft.“ R. A. LIPSIUS, Die Stellung der Theologie im GesamtOrganismus der Wissenschaften. Antrittsrede, gehalten in der Aula zu Jena am 13. Dezember 1871, in: Glauben und Wissen, 437–467, hier: 439. Auf dem Weg des spekulativen Denkens HEGELSCHER Provenienz wird dies nicht gelingen. „Der schöne Traum von dem ewigen Frieden zwischen ‚Glauben‘ und ‚Wissen‘, den die Hegel‘sche Philosophie zu bringen verhieß, ist heute zerronnen.“ R. A. LIPSIUS, Zu Hegels hundertjährigem Geburtstag, 470. R. A. LIPSIUS, Glauben und Wissen. Vortrag, gehalten im Berliner Unionsverein 1871, in: Glauben und Wissen, 1–29, hier: 19. „Seit Schleiermacher uns gelehrt hat, im unmittelbaren Selbstbewusstsein des Frommen den Quellpunkt der religiösen Vorstellungen aufzusuchen, hat auch hier ein unabsehbares weites Gebiet für die wissenschaftliche Forschung sich aufgetan.“ R. A. LIPSIUS, Die Stellung der Theologie, 448.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

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Lipisus den Versuch, im Rahmen einer neukantianischen Erkenntnistheorie die Möglichkeit einer religiösen Erkenntnis zu rechtfertigen. Dabei bezieht er sich auf die Vorläufer des Neukantianismus, Hermann Helmholtz (1821–1894)8 und insbesondere Friedrich Albert Lange (1828–1875)9, deren Kantrezeption auf Lipsius einen prägenden Einfluss ausübte. Im Zentrum der Erkenntnistheorie von Lipsius steht die Einsicht Kants, dass zu wirklicher Erkenntnis Begriff und Anschauung zusammengehören.10 Da es für uns nur die raumzeitliche Anschauung gibt, folgert Lipsius aus diesem Grundsatz, „dass unsere Erkenntnis nur soweit reicht, als das Gebiet unserer räumlich-zeitlichen Anschauung“11. Wir können im spekulativen Gebrauch der Vernunft nicht hinaus 8

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Zum Neukantianismus vgl. die Ausführungen in Kapitel I, 12, und die Literaturhinweise in Anm. 41. Zu den Anfängen des Neukantianismus kann ein 1855 von H. HELMHOLTZ gehaltener Vortrag mit dem Thema „Ueber das Sehen des Menschen“ gerechnet werden. Darin äußert er sich kritisch gegenüber der spekulativen Philosophie, die vorgibt entdeckt zu haben, dass man Resultate, zu denen die Erfahrungswissenschaften auf empirischen Wege gelangen müssten, im Voraus auch ohne Erfahrung durch das reine Denken finden zu können. Vgl. H. HELMHOLTZ, Ueber das Sehen des Menschen. Vortrag gehalten zu Königsberg am 27. Februar 1855, in: Vorträge I, 85–117, hier: 89. Und HELMHOLTZ fährt fort: „Kants Philosophie beabsichtigte nicht, die Zahl unserer Erkenntnisse durch das reine Denken zu vermehren, denn ihr oberster Satz war, dass alle Erkenntnis der Wirklichkeit aus der Erfahrung geschöpft werden müsse, sondern sie beabsichtigte nur, die Quellen unseres Wissens und den Grad seiner Berechtigung zu untersuchen, ein Geschäft, welches immer der Philosophie verbleiben wird, und dem sich kein Zeitalter ungestraft wird entziehen können“. Ders., Ueber das Sehen des Menschen, 88. Zum neukantianischen Urteil über Helmholtz vgl. H. COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin ³1918, III; A. RIEHL, Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant, in: Kantstudien 9 (1904), 261–285. F. A. LANGES erkenntnistheoretische Kritik des Materialismus ermöglichte ihm, die Spekulation und die Religion als berechtigt und wertvoll anzuerkennen, aber er sprach ihnen jeden Erkenntniswert ab. Religion, Kunst und Metaphysik gehören zusammen. Die Ideen, auf die sie sich beziehen, sind Dichtungen; ihr Wert liegt nicht darin, dass sie unsere Erkenntniss erweitern, sondern besteht „in ihrem Verhältnis zum Wesen des Menschen, und zwar zu seinem vollkommenen, idealen Wesen“. Doch alle Dichtungen und Offenbarungen sind „einfach falsch, sobald man sie nach ihrem materiellen Inhalt mit dem Maßstabe der exakten Erkenntnis prüft“. LANGE unterschied daher streng zwischen der „Welt des Seienden“ und der „Welt der Werte“. Vgl. dazu Ders., Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Bd. 2, 613–623.936–988. LIPSIUS selber weist auf die grundlegende Bedeutung LANGES für seinen erkenntnistheoretischen Ansatz hin. Vgl. R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 151. „Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ R. A. LIPSIUS, Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre, im Umrisse dargestellt, Braunschweig 1889, 1. Ebd., 1f.

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III. Zum Theologieverständnis

kommen aus dem Bereich möglicher Erfahrung. 12 Eine Erfahrung wiederum entsteht aus unseren Wahrnehmungen, und zwar durch deren durchgehende kategoriale Verknüpfung, und ist zusammengesetzt aus einem subjektiven und einem objektiven Faktor. Der Unterschied zwischen Erfahrung und Wahrnehmung ist darin zu sehen, dass die Wahrnehmungen erst zur Erfahrung werden, indem sie sich durch die kategoriale Bestimmtheit zu einem wissenschaftlich, d.h. kausal erkennbaren Zusammenhang, ordnen. Eine wissenschaftliche Erkenntnis basiert darauf, dass man Ordnung und Zusammenhang in der Erscheinungswelt nachweist oder einen Tatbestand in seinem Kausalzusammenhang auffasst.13 Durch den objektiven Faktor der Erfahrung wird uns der Wahrnehmungsstoff gegeben, der den besonderen Inhalt einer Wahrnehmung bestimmt. Im Unterschied zu Kant nimmt Lipsius in diesem Kontext an, dass uns „nicht blos der Stoff überhaupt“, sondern dass er uns „zugleich in bestimmten von unserer Subjektivität unabhängigen Verhältnissen gegeben“14 ist. Der subjektive Faktor bestimmt die allgemeine Form der Erfahrung. Wir fassen den gegebenen Stoff „in die Form unserer räumlich-zeitlichen Anschauungen und logischen Kategorien, wodurch derselbe überhaupt erst zu einem Gegenstande unsrer Erkenntnis wird“15. Der subjektive Faktor der Erfahrung ist zentral für die Erkenntnistheorie, da das unmittelbare Selbstbewusstsein der lebendigen Person das Urdatum aller Wirklichkeit ist, die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption. Sie wird erlebt, nicht erkannt.16 Jede Wirklichkeit ist uns nur gewiss, sofern sie in der Erfahrung für das sich selbst erlebende Subjekt ist. Das gilt auch für die ob-

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Erst die Sinnlichkeit realisiert den Verstand, wie F. A. LANGE es ausdrückt. Vgl. Ders., Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 48. Man muss, so LIPSIUS, KANT folgen, wenn er formuliert, dass es notwendig sei, „seine Begriffe sinnlich zu machen“ wie „sich seine Anschauungen verständlich zu machen, d.i., sie unter Begriffe zu bringen“. Vgl. I. KANT, Kritik der reinen Vernunft (1781), B 195, Werkausgabe hg. v. W. WEISCHEDEL, Bd. III, ³1977, 200. Die Erfahrung „ist nicht gleichbedeutend mit der zufälligen Summe von Wahrnehmungen, sondern bezeichnet die Wahrnehmungen in ihrer logischen Verknüpfung. Den auf Grund der Empfindungsreize uns zugänglich gewordenen, in der Form räumlich-zeitlicher Anschauung von uns aufgefassten Wahrnehmungsstoff verarbeiten wir bewusst oder unbewusst durch die Formen (Kategorien) unseres Denkens und stellen so einen inneren Zusammenhang unsrer Vorstellungen her.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 12. R. A. LIPSIUS, Philosophie u. Religion, 8. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 12. „Meine Selbstthätigkeit als solche = ich denke, kenne ich als meine Selbstthätigkeit, sofern ich ihrer unmittelbar bewusst bin oder sie erlebe.“ I. KANT, Kritik der reinen Vernunft (1781), B 195, Werkausgabe, hg. v. W. WEISCHEDEL, Bd. III, 53, vgl. auch 31.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

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jektive, wissenschaftlich erklärbare Wirklichkeit. Sie ist „nur insofern gewiss, als sie an der Gewissheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins teilnimmt“17. Zur Klärung der Frage nach den Erkenntnisformen des Subjekts benötigen wir eine Theorie der im Subjekt liegenden und aller Erfahrung vorausgehenden Apriori.18 Denn jenes eigentümlich bestimmte, mannigfaltige Materiale, welches wir in der Empfindung wahrnehmen, wird vom Subjekt durch die Synthesis der Apperzeption, die räumlichzeitliche Anschauung und die logischen Kategorien subjektiviert. 19 „Durch diesen Apparat wird das nach Stoff und Verhältnissen gegebene Wahrnehmungsobjekt zu einem Objekt meiner Erkenntnis. Ich weis von diesen Objekten nur, sofern sie meine Vorstellungen (d.h. von mir vorgestellte Objekte) sind, und ich vermag die Objekte nur so zu erkennen, wie ich zu ihrer Erkenntnis sinnlich und intellektuell organisiert bin. Zu Objekten meiner Erkenntnis werden sie überhaupt erst durch meine Apperzeption.“20

Alle Anschauungs- und Denkformen sind in unserer psychophysischen Struktur begründet. Die Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis ist dadurch gegeben, dass wir die Erfahrungswelt unseren Erkenntnisformen entsprechend konstituieren und ihr so eine unserem Denken korrespondierende Gesetzmäßigkeit einprägen.21 Da die Gesetzmäßigkeit der Erfahrungswelt somit auf der Konstitutionsleistung des Subjektes beruht, kann ihre Erkenntnis lediglich eine phänomenalobjektive Geltung beanspruchen und nicht eine real-objektive. Lipsius verwirft Kants Lehre von den zwei Stämmen der Erkenntnis. Dabei bezieht er sich auf einen bei Kant selbst begegnenden Hinweis, dass die beiden Stämme aus einer Wurzel entspringen könnten. 22 Lipsius führt nun die beiden Stämme konsequent auf eine Wurzel zurück, indem er eine Priorität der räumlichen Synthesis begründet bzw. 17 18

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Ebd., 120. M. HÜTTENHOFF fasst die Grundlagen der Erkenntnistheorie von LIPSIUS in drei Punkten zusammen: 1. Das eigentliche Apriori aller Erfahrung ist unsere Psychophysische Organisation; 2. Lipsius lehrt eine Priorität der räumlichen Synthesis gegenüber den zeitlichen und kategorialen; 3. Die komplizierteren Kategorien wie die der Kausalität und die der Substanz entwickeln sich aus den einfacheren. Vgl. M. HÜTTENHOFF, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 145–151. Vgl. dazu R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 149. Unter „Empfindung“ versteht LIPSIUS „das psychische Phänomen des Innewerdens eines Reizes“. Ders., Philosophie und Religion, 36f. „Insofern sind alle Gegenstände, als von mir appercipirte, Erscheinungen.“ R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 8f. R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 146f. I. KANT, Kritik der reinen Vernunft (1781), B 29, Werkausgabe Bd. III, 66.

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III. Zum Theologieverständnis

die Kategorien und die Gesetze des Denkens der räumlichen Synthesis unterordnet, und davon ausgeht, dass diese in der psychophysischen Organisation gründen. „Die räumliche Synthesis in der Anschauung ist die ursprüngliche Weise wie überhaupt die Verbindung eines Mannichfaltigen zur Einheit entsteht, und damit zugleich die Wurzel aller Kategorien. Letztere sind also keine ‚reinen Verstandesbegriffe‘, sondern setzen die Form der Anschauung immer schon voraus, weisen also auf eine verborgene Einheit unserer Sinnlichkeit und unseres Verstandes zurück.“23

Daraus deduziert Lipsius die einfachsten Kategorien wie Raum, Zeit und Zahl, Einheit und Vielheit, Bewegung und Ruhe, Position und Negation, Werden und Vergehen24 und stellt fest, dass sich die komplizierteren Kategorien wie die der Kausalität und die der Substanz aus den einfacheren entwickeln, indem „in ihnen allen die Anschauung räumlicher Objecte durch die unmittelbare Anschauung des empirischen Ich als des anschauenden Subjects interpretirt wird“ 25. Lipsius schließt sich Kant dahingehend an, dass es ihm nicht fraglich ist, dass uns die Objekte unserer Erkenntnis wirklich gegeben sind. Sie liefern das Material zu unseren Empfindungen und Wahrnehmungen. Das vorstellende Subjekt produziert seine Vorstellungen nicht willkürlich und in willkürlicher Reihenfolge. Vielmehr unterscheiden wir willkürliche, zufällig erzeugte Vorstellungen von denjenigen, bei deren Bildung wir einem unentrinnbaren Zwang unterliegen. Jedenfalls scheiden wir in unserem Bewusstsein streng zwischen der Gesetzmäßigkeit in der dinglichen Welt und unserer zufälligen Perzeptionsfolge. 26 „Aber diese Schranken setzt das Ich nur insofern sich selbst, als es sie vorstellt, oder dieser seiner Beschränktheit sich bewusst wird. Damit es sie setzen oder vorstellen könne, müssen sie ihm vielmehr gesetzt oder gegeben sein; wenigstens sieht sich das Ich, wenn es sich nicht etwas Willkürliches vormachen will, zu der Vorstellung gezwungen, dass diese Schranken ihm gegeben sind, dass es sie also nicht etwa durch seine eigene Lebensthätigkeit, rein aus sich selbst, wenn auch immer notwendigerweise erzeugt.“27

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R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 152. Zur Lehre, dass die räumliche Synthesis der Ursprung alles Apriorischen ist, vgl. auch F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 482f.574. „Alle übrigen Kategorien sind nur komplizierte Formen, die sich aus den einfachen Stammbegriffen entwickeln lassen.“ R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 153f. Ebd., 154. R. A. LIPSIUS, Philosophie u. Religion, 13. Ebd., 7.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

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Daher betont Lipsius wiederholt, die menschliche Erkenntnis sei immer „das Produkt zweier in Beziehung zu einander tretender Faktoren, eines objektiven und eines subjektiven Faktors“28. Aber er geht über Kant hinaus, wenn er folgert, dass der Stoff bzw. die Materialien auch von unserer Subjektivität unabhängige Verhältnisbestimmungen mitbringen.29 Angeregt durch die Kantinterpretation von Albrecht Krause30 greift Lipsius die Unterscheidung zwischen dem Ding an sich im physischen oder empirischen Sinn und dem Ding an sich im transzendentalen Sinn auf.31 Die Dinge außer uns, so Lipsius, darf man nicht mit den Dingen an sich verwechseln. „In Raum und Zeit sind Gegenstände oder Dinge ausser uns, aber nicht Dinge an sich.“32 Durch einen unwillkürlichen Kausalschluss lösen sich von unseren Vorstellungen die vorgestellten Objekte ab. Sie sind nun aber eben nicht allein Produkte des Subjekts, sondern subjektivierte Objekte.33 Der empirische Gegenstand ist das Korrelat der objektiven Erkenntnis. Doch da der empirische Gegenstand unseren Anschauungsformen unterworfen ist, ist er im transzendentalen Sinn selbst nur Erscheinung. Abstrahieren wir von unseren Anschauungsformen und denken den Gegenstand als Ding, das auch unabhängig davon, dass wir es wahrnehmen, existiert, dann erhalten wir den Begriff des Dings an sich im transzendentalen Sinn, „ein ganz unbestimmte(r) Gedanke eines Etwas überhaupt, das mir erscheint“34. Demgegenüber ist das Ding außer uns der objektive Faktor, der uns den Wahrnehmungsstoff „in bestimmten, von unsrer Subjectivität un28 29

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R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 147; Ders., Philosophie u. Religion, 44. Dies bringt LIPSIUS in der Auseinandersetzung mit A. E. BIEDERMANN zur Sprache: „Ich bestreite keinen Augenblick, dass in den Dingen ausser uns eine objektive Nötigung liegt, unsere Vorstellungen von ihnen in einer bestimmten, von unserem subjektiven Belieben unabhängigen Weise zu ordnen.“ R. A. LIPSIUS, Philosophie u. Religion, 37. A. KRAUSE, Immanuel Kant wider Kuno Fischer zum ersten Male mit Hülfe des verloren gewesenen Kantischen Hauptwerkes: Vom Übergang von der Metaphysik zur Physik vertheidigt, Lahr 1884, 87–90.97–100. Auf die Abhängigkeit haben R. SEYDEL und W. REU in ihren Arbeiten zur Religionsphilosophie und zur Grundlegung der Dogmatik als Wissenschaft bei LIPSIUS hingewiesen. Vgl. R. SEYDEL Ders., Religionsphilosophie im Umriss, 82ff.; W. REU, Grundlegung, 62. R. A. LIPSIUS, Philosophie u. Religion, 10f. Vgl. dazu I. KANT, Kritik der reinen Vernunft (1789), Werkausgabe Bd. III, 76–78.89f. R. A. LIPSIUS, Philosophie u. Religion, 14. „Das Ding ausser steht als ein im Raum gegebenes Objekt dem empirischen, mit dem äusseren Sinne sich selbst im Raume erfassende Ich real gegenüber.“ Ebd., 15. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (²1879), 70. Vgl. dazu B. PÜNJER, Geschichte der christlichen Religionsphilosophie seit der Reformation, Bd. II, Braunschweig 1883, 334. R. A. LIPSIUS, Philosophie u. Religion, 15.

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III. Zum Theologieverständnis

abhängigen, theils beharrlichen theils wechselnden Verhältnissen oder Beziehungen“35 gibt. Wir können diese Verhältnisse zwar nur so auffassen, wie es unseren Erkenntnisformen entspricht, aber dass dieses Auffassen gelingt, zeigt, dass „die Gesetzmässigkeit, welche unser Anschauen und Denken beherrscht, der Gesetzmässigkeit in den Verhältnissen der Dinge ausser uns correspondirt“36. Lipsius nimmt somit eine Korrespondenz zwischen der Gesetzmäßigkeit der Dinge außer uns und der Gesetzmäßigkeit unserer Erkenntnis an, weist aber den Versuch einer Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit der Dinge an sich entschieden zurück.37 Das Fazit für Lipsius ist, dass eine Erkenntnis der Dinge außer uns und ihrer Beziehung möglich ist, da uns der Wahrnehmungsstoff in Verhältnissen gegeben ist, die von unserer Subjektivität unabhängig sind und wir die Verhältnisse in ihnen entsprechenden Formen auffassen. Eine darüber hinaus gehende Erkenntnis der Dinge an sich, wie sie abgesehen davon, dass wir sie erkennen, beschaffen sind, ist in seinen Augen nicht möglich. 1.1.2 Die Metaphysik der Grenzbegriffe Lipisus bestimmt Metaphysik als „rein theoretisches Erkennen der letzten Zusammenhänge alles Daseins“38 oder als „Wissenschaft des einheitlichen Abschlusses der theoretischen Welterkenntnis“39 und kommt zu dem Ergebnis, dass eine „transcendente Metaphysik als Wissenschaft ... unmöglich“40 ist. Zwar impliziert das Streben des menschlichen Geistes Einheit in seine Erkenntnisse zu bringen die Notwendigkeit zum metaphysischen Fragen und Denken bzw. „das Verlangen nach einer einheitlichen Weltanschauung“41, allerdings folgt daraus nicht, dass dies auch möglich ist. „Nur das empirische Erkennen, dessen Gebiet sich durch neue Entdeckungen täglich erweitern kann, ist grenzenlos; die metaphysische Spekulation, soweit sie strenge Wissenschaft zu sein beansprucht, hat ihre unübersteig-

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Ebd., 8.12.34; DERS., Lehrbuch (³1893), 12. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 12; Ders., Philosophie und Religion, 12.34. „Aber man kann nicht fragen, wie sich die Gesetzmässigkeit der Erscheinungen, d. h. der Objekte unserer Erfahrung, zu der Gesetzmässigkeit dieser selben Objekte verhalte, sofern dieselben keine Erkenntnisobjekte für uns sind.“ R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 14. R. A. LIPSIUS, Philosophie u. Religion, 190. Ebd., 115. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 14; Ders., Philosophie und Religion, 142. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 21. 9.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

101

baren, in unserer psychophysischen Organisation begründeten Schranken.“ 42

In der Erfahrung, auf die sich die theoretischen Wissenschaften richten, ist „eine höchste Einheit … ebensowenig anzutreffen als das Weltganze, das Unendliche und Ewige“. Die strenge Wissenschaft kennt nach Lipsius nur eine „Metaphysik der Grenzbegriffe“.43 Sie sind die letzten Begriffe, die von unserem wissenschaftlichen Erkennen erreicht werden. Die Erfahrung stellt uns in der Verbindung von einzelnem mit anderem einzelnen vor einen progressus in infinitum. Andererseits können wir in jedem einzelnen Falle einer Erfahrung, die in jedem gegebenen Moment eine unübersehbare Vielfalt von Erscheinungen des äußeren und inneren Sinnes vor uns ausbreitet, die statistische Kausalität nur bis zu einem zufälligen Endpunkt verfolgen. Dadurch entstehen dem reflektierenden Geist die metaphysischen Begriffe oder transzendentalen Vernunftideen des Absoluten, des Universums, der Seele und des Weltganzen. Die Grenzbegriffe sind also durch den Einheitstrieb des Geistes veranlasst. Diese Begriffe oder Ideen sind nichts anderes als „die bis zum Unbedingten erweiterten oder … die hypostasierten Kategorien“44. Die Ausbildung der Grenzbegriffe erschließt uns – so 42 43

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R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 98. Den Terminus ‚Grenzbegriff‘ verwendet LIPSIUS in zweifachem Sinn. Zunächst übernimmt er den Begriff von KANT („Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche.“ I. KANT, Kritik der reinen Vernunft, B 310, Werkausgabe Bd. III, 277), bezieht ihn aber auf das Noumenon im positiven Sinn, d.h. versteht darunter „das wahre intelligible Wesen der Erscheinungsobjekte“, gedacht als Objekt einer nicht sinnlichen Anschauung. Damit unterscheidet er sich von F. A. LANGE oder H. COHEN, die den Ausdruck auf das Noumenon im negativen Sinn beziehen. Vgl. dazu R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 20; F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 498; H. COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, 252. LIPSIUS versteht dann aber unter Grenzbegriff auch den „Grenzbegriff unseres Erkennens“. Vgl. Ders., Philosophie und Religion, 24. Ein Grenzbegriff in diesem Sinn bezeichnet „den Punkt ... bis zu welchem unsere Erkenntniss vorschreiten, den sie aber nicht überschreiten kann“. Ders., Philosophie und Religion, 98; Ders., Lehrbuch (³1893), 13.199f.229. Diese Verwendung des Begriffs schließt vermutlich an SCHLEIERMACHERS Verwendung des Begriffs „Denkgrenze“ an. LIPSIUS nimmt den Begriff in seinen Studien über die Dialektik Schleiermachers auf und weist darauf hin, dass der Gebrauch des Begriffs bei SCHLEIERMACHER oszilliere. Dies sei darin begründet, „dass Schleiermacher den Ausdruck Denkgränze bald von dem jenseit alles Denken liegenden Absoluten, bald von dem letzten erreichbaren Begriff oder Urtheil (Begriffsgränze, Urtheilsgränze) zu brauchen scheint.“ R. A. LIPSIUS, Studien über Schleiermacher’s Dialektik, in: ZwTh 12 (1869), 46, Anm. 1. LIPSIUS‘ eigenes Verständnis der Grenzbegriffe entspricht der zweiten bei Schleiermacher nachgewiesenen Verwendung. R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 104.

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III. Zum Theologieverständnis

Lipsius – nicht ihr objektives Korrelat, obgleich es ein solches geben mag, sondern lässt uns einzig die Grenzen unseres Erkennens erfassen.45 Wenn Metaphysik, Religion und Theologie gleichwohl über die Grenze der Erfahrung hinausgehen und einen letzten Grund aller Erscheinungen annehmen, dann handelt es sich nicht um Erkenntnis, sondern um bildende Anschauungskraft und Phantasie. Die produzierende Anschauung dringt in die Metaphysik ein, weil uns die Metaphysik der Grenzbegriffe keine wirkliche, inhaltlich bestimmte Erkenntnis des Wesens und der Beschaffenheit des Übersinnlichen gewährt. Da wir ein bloß kategorial bestimmtes Sein nicht vorstellen können, ergänzt die Metaphysik den Mangel, indem sie sich mit Hilfe der „Phantasie“46 und „durch einen Act producirender Anschauung“47 Anschauungsbilder des Übersinnlichen entwirft. Die Phantasie überträgt mit Notwendigkeit die Formen der sinnlichen Anschauung auf das Übersinnliche, da sie ihre Bilder nur in Analogie zur sinnlichen Anschauung entwerfen kann. Michael Hüttenhoff48 hat nachgewiesen, dass Lipsius‘ Ausführungen zur Metaphysik der Grenzbegriffe in seinen späteren Schriften, unter dem Einfluss Biedermanns, ausdrücklich das „wissenschaftliche Recht“ eines „exakt-logischen Schlussverfahren(s) von der erfahrungsmässigen Weltwirklichkeit auf deren einheitlichen Grund“49 anerkennen. Allerdings – und darin zeigt sich eine Unschärfe in Lipsius‘ Wissenschaftsverständnis und seiner Argumentation –, schließt für Lipsius die Widerlegung der Metaphysik Biedermanns die Widerlegung der logizistischen bzw. der transzendentalen Metaphysik überhaupt ein.50 Für Biedermann gehören zu jedem Bewusstseinsinhalt zwei Grundelemente. Zunächst ist in jedem Bewusstsein „zweierlei Sein gegeben“, einerseits ein materielles, dingliches Sein, andererseits ein immaterielles, geistiges, ideelles Sein. Und zweitens ist uns dieses Sein „existentiell ungetrennt, keins von beiden als Subsistenz für sich

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„Aber ich bestreite, daß die Wissenschaft hier weiter kommt, als die Grenzen unserer Erkenntnis abzustecken.“ R. A. LIPSIUS, Vorwort zu einem Vorwort (der Dogmatik), in: PKZ 23 (1876), 641–651, hier: 645. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876 u. ²1879), 9; Ders., Philosophie und Religion, 86. R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 164. M. HÜTTENHOFF, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 166. R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 86. Die Auseinandersetzung mit der Metaphysik BIEDERMANNS ist für LIPSIUS deshalb so zentral, weil für ihn „der einzige Weg, der zu einem metaphysischen Wissen führen kann, der von Biedermann eingeschlagene ist“. Vgl. Ders., Philosophie und Religion, 83.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

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gegeben“51. Die Metaphysik muss nun sowohl „die Realität ihres subsitentiellen Zusammenseins“ als auch die „ihres Essenzgegensatzes“ zur Geltung bringen. Biedermann bezeichnet seine Metaphysik als „concreten Monismus“52. Sie ist monistisch, weil sie nicht zwei Arten von Substanzen, eine ideelle und eine materielle, kennt, und weil sie das Verhältnis des Weltgrundes zur Welt nicht als Verhältnis zweier Dinge vorstellt. Sie ist konkret-monistisch, weil sie sich durch die substantielle Einheit der beiden Seinsweisen nicht verleiten lässt, den Unterschied zwischen dem ideellen und materiellen Sein aufzuheben und weil sie daran festhält, dass der Weltgrund bzw. Gott von der Welt essentiell unterschieden ist, obgleich sie ihn nicht wie ein neben, über oder hinter der Welt existierendes Ding vorstellt. 53 In einem Schema des konkreten Monismus, welches das substanzielle Zusammensein und den essentiellen Gegensatz des ideellen und des materiellen Seins verbindet, denkt Biedermann auch das Verhältnis Gottes zur Welt. Gott und Welt bilden unbeschadet ihres essentiellen Gegensatzes eine subsistentielle Einheit. Damit will Biedermann sowohl gegenüber jedweder Form des Pantheismus das Anderssein Gottes als auch gegen den Deismus die Immanenz Gottes wahren. Lipsius kritisiert an Biedermanns metaphysischen Ansatz, dass das Identitätsverhältnis zwischen unseren Denkgesetzen und den Gesetzen des äußeren Daseins notwendig voraussetzt wird, um die letzten Zusammenhänge des Alls denkend zu umspannen. Biedermann nehme eine doppelte Identifikation vor, indem er sowohl die Substanz des Geistes mit dem Logischen, als auch die Substanz der Welt mit der des Geistes und dadurch ebenfalls mit dem Logischen identifiziere und sich somit nur akzidentiell, aber nicht essentiell von Hegels Metaphysik unterscheide.54 „Nicht die aprioristische Methode … sondern der logische Formalismus, welcher das Wesen des ‚Geistes‘, und weiterhin freilich auch das Wesen der ganzen Welt, in reinen Denkbestimmungen glaubt ausdrücken zu können, ist mir immer als die charakteristische … Einseitigkeit der Hegel’schen Philosophie erschienen.“55

Lipsius kommt zu dem Ergebnis, dass auch die immanente Metaphysik Biedermanns als „transcendente zu bezeichnen“ ist, und zwar insofern, „als auch sie das Gebiet der Erfahrung und damit der exakten For51 52 53 54 55

A. E. BIEDERMANN, Christliche Dogmatik, Bd. I, § 15. Ebd., § 15. Ebd., §§ 16.58. Vgl. dazu R. A. LIPSIUS, Rez. Biedermann’s Dogmatik, in: PKZ 32 (1885), 353-359. R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 64.

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III. Zum Theologieverständnis

schung durch dogmatische Sätze transcendiert“56. Biedermann selber sieht in der von ihm vertretenen Metaphysik „einfach die Wissenschaft von den logisch zu erfassenden Prinzipien der in der einen und alleinigen Welt immanent vorhandenen Gesetzmässigkeit“, und vindiziert ihr „die Möglichkeit eines exakten Wissens so gut wie irgend einer speziellen Wissenschaft, da jede gerade erst durch die richtige Anwendung der metaphysischen Prinzipien auf ein spezielles Erfahrungsgebiet wirkliche Wissenschaft wird“57.

Biedermann nimmt zwar nicht an, dass das Logische die Substanz der Welt ist, aber er setzt voraus, dass der Geist wesentlich logisches Sein ist. Nur deshalb können wir sein Wesen mit Hilfe logischer Kategorien begreifen.58 Aber genau diese Voraussetzung ist nach Lipsius zu problematisieren, da wird die Bewusstseinsvorgänge als ein ideelles Sein erfahren, das sich zeitlich, aber nicht räumlich vollzieht. Die Ansetzung eines zeitlos seienden Subjektes lässt sich nicht aus der Erfahrung begründen. Dies impliziert in den Augen von Lipsius, dass wir den Gedanken eines zeitlosen Subjektes nur bilden können, wenn wir es in Analogie zu unserem sich zeitlich vollziehenden Bewusstsein tun. Für den Gottesbegriff hat dies zur Konsequenz, dass wir ihn entweder „als bewusstseinsanaloge Subjektivität oder als subjektlosen Gedanken“59 verstehen. Gott als subjektlosen Gedanken zu verstehen würde allerdings der religiösen Gotteserfahrung in keiner Weise gerecht, da Gott hier als lebendiges Subjekt erlebt wird. Somit erreichen wir den Gehalt der religiösen Gottesidee nur, wenn wir den Begriff des ideellen Weltgrundes durch die Analogie unseres zeitlichen Bewusstseins auslegen und damit den Bereich der wissenschaftlichen Metaphysik verlassen, da ein solches Verständnis besondere Erfahrung des religiösen Subjektes positionell bedingt ist.60

56 57 58 59 60

R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 6. A. E. BIEDERMANN Rezension der Lipsiusschen Dogmatik, in: PKZ 24 (1877), 23. Zur Auseinandersetzung zwischen LIPSIUS und BIEDERMANN vgl. M. HÜTTENHOFF, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 169–175. R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 87. „Soll der einheitliche Weltgrund, wie ja auch Biedermann will, als in sich seiender Geist, als lebendige Subjektivität gedacht werden, so haben wir dafür keine andere Anaologie als das menschliche Bewusstsein.“ R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 90.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

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1.1.3 Folgerungen für eine religiöse Erkenntnistheorie61 Lipsius hat in einer Rezension über die „Philosophische Dogmatik“ von Christian H. Weisse 1865 erstmals eine religiöse Erkenntnistheorie als Teil einer theologischen Prinzipienlehre gefordert, die zeigen soll, dass „derselbe speculativ zu durchdringende Stoff“ 62 in der theologischen Wissenschaft unter einem anderen Gesichtspunkt behandelt werden muss als in der Philosophie gefordert. Die theologische Behandlungsweise könne jedoch nur relativ verschieden sein, weil die Theologie nur „insofern sie der philosophischen Behandlungsweise sich annähert, ihren Gegenstand in die Form objectiver Wissenschaft zu erheben vermag“63. Dabei ist für Lipsius das Ziel einer solchen religiösen Erkenntnistheorie, die Genese, die Form und die Geltung der religiösen Erkenntnis zu bestimmen. Die religiöse Erkenntnis ist für ihn jederzeit subjektive Erkenntnis, nicht objektive. „Hiermit ist nicht bloss die subjektive Bedingtheit der religiösen Erkenntnis gemeint; denn dies gilt von der wissenschaftlichen irgendwie auch; sondern dieses, dass das religiöse Erkennen seinem Wesen nach ein Selbsterkennen, ein Wissen um uns selbst in einer bestimmten Relation des Objektes auf das menschliche Selbstbewusstsein ist.“64

Wir haben es bei der religiösen Erkenntnis unmittelbar mit Tatsachen des menschlichen Bewusstseins bzw. mit inneren Vorgängen des subjektiven Geisteslebens des Menschen zu tun, die vom Subjekt nicht abgetrennt werden können. Denn unmittelbar wissen wir im religiösen Bewusstsein nur um uns selbst, wie wir auf Gott bezogen sind, und damit zugleich um Gott, wie er auf uns bezogen ist. Gott wird nicht an sich erkannt, sondern nach seiner den Menschen unmittelbar innerlich affizierenden Wesenheit. Grundlage einer so gearteten religiösen Erkenntnis ist die „bildende Anschauung“65 oder die produktive Einbildungskraft, die überall tätig ist, wo die direkte Erfahrung überschritten werden muss. Das bedeutet, dass das religiöse Erkennen sich in Bildern vollzieht und auch eine noch so starke Vergeistigung der religiösen Vorstellung niemals zur völligen Elimination der Bilder führt. Aller61

62 63 64 65

Die Theorie der religiösen Erkenntnis bei LIPSIUS wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels ausführlich dargestellt, vgl. 116ff. Es hier zunächst nur um diejenigen Aspekte der religiösen Erkenntnis, die sich aus der allgemeinen Erkenntnistheorie ergeben. R. A. LIPSIUS, Rezension: Philosophische Dogmatik von Chr. H. Weisse, in: ThStKr 38 (1865), 541–590, hier: 545. Ebd., 549. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 57. Ebd., 54.

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III. Zum Theologieverständnis

dings gehört zur Grundlage des religiösen Erkennens eine innere Erfahrung, durch die „innere Thatsachen des Glaubenslebens“ und „reale Verhältnisse zwischen Gott und Mensch“66 unmittelbar gewiss werden. Obwohl sich diese Tatsachen im menschlichen Geistesleben verwirklichen, erlebt der Glaubende in ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch Gott, insofern dieser in Beziehung zum Glaubenden steht. „Das Gerede von den ‚leeren Phantasieergüssen‘, hinter denen ‚gar nichts objectiv Wirkliches‘ ist“67, weist Lipsius als unvernünftig zurück. Da die Phantasietätigkeit von einer Erfahrung des Göttlichen ausgeht, erschließen uns die inneren Anschauungsbilder wirklich „die Sphäre des übersinnlichen Seins“68. 1.1.4 Der Zusammenhang von Philosophie und Theologie am Beispiel der Gotteslehre Der wissenschaftliche Charakter der Dogmatik besteht für Lipsius „in dem systematischen Aufbau einer einheitlichen Weltanschauung“69. Dazu gehört der Nachweis, dass eine christlich-religiöse Weltanschauung nicht in Widerspruch zu den gesicherten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung gerät, sondern das Recht ihrer religiösen Grundvoraussetzungen vor der Wissenschaft vertreten kann. 70 Das bedeutet, dass die Theologie unabdingbar auf die Philosophie angewiesen ist, um ihre Wissenschaftlichkeit erweisen zu können. Diese Verknüpfung wird in der Anlage und Durchführung der Gotteslehre greifbar. Lipsius versucht, die Aufgaben der dogmatischen Gotteslehre in drei Schritten zu lösen: 1. die Darstellung der religiösen Gottesidee; 2. die Entwicklung des philosophischen Begriffs des Absoluten; 3. die

66 67 68 69 70

R. A. LIPSIUS, Glaube und Lehre (1871), 56.110.116. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 54. Ebd., 54. R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 276; Ders., Lehrbuch (³1893), 16. In der ersten Auflage seines Lehrbuchs fordert LIPSIUS: „Die Glaubenslehre muss den festen Boden der Wissenschaft unter den Füssen behalten; sie bewährt das Recht ihrer religiösen Lebensansicht nur dadurch, dass sie auf den erfahrungsmässig festgestellten Thatsachen weiterbaut ... Indem sie ferner die Thatsachen der religiösen Erfahrung den Gesetzen aller wirklichen Erfahrung unterwirft, sichert sie den Zusammenhang des religiösen Lebensgebietes mit allen anderweiten Erkenntnisgebieten und baut so eine einheitliche Weltanschauung auf, deren Zusammenstimmung mit allen gesicherten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung auch das gute Recht ihrer religiösen Grundvoraussetzungen vor der Wissenschaft legitimirt.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 8.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

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dogmatische Lehre von Gott, in der die religiöse Gottesidee und der Begriff des Absoluten aufeinander bezogen werden.71 Die Identität des Objekts der Ausdrücke ‚das Absolute‘ und ‚Gott‘ ermöglicht die Einheit der Weltanschauung. Indem sich der Begriff des Absoluten als Grenzbegriff der wissenschaftlichen Erkenntnis ergibt und die religiöse Gottesidee seiner bedarf, um die Weltüberlegenheit Gottes zu wahren, schließt der Begriff die beiden verschiedenartigen Sphären der theoretischen und der religiösen Erkenntnis zu einer Einheit zusammen. Der sich offenbarende Gott, der sich zum Menschen in das Verhältnis setzt, das sich subjektiv in der Religion verwirklicht, ist das Thema der Gotteslehre.72 Die Übernatürlichkeit und Weltüberlegenheit dieses in der religiösen Erfahrung persönlichen Gottes stellt die Dogmatik vor die Aufgabe, Gott als persönliche, sich selbst bestimmende Ichheit und als absolut zu denken. „Indem die denkende Betrachtung die im religiösen Verhältnisse erfahrene Abhängigkeit im Wechselverkehre des Menschen mit seiner Welt als eine schlechthin andersartige erkennt, schreitet sie notwendig dazu fort, die höhere Macht, von welcher der Fromme sich abhängig fühlt, über alle Wechselbeziehung endlicher Freiheit und endlicher Abhängigkeit hinauszuverlegen, mithin die Vorstellung von ihr zu dem Begriffe des Absoluten zu vollenden.“73

Die Ausdrücke ‚das Absolute‘ und ‚Gott‘ beziehen sich somit auf dasselbe Objekt, aber eben auf unterschiedliche Weise74. Die religiöse Gottesidee bezeichnet die Geistesmacht, die dem Menschen hilft, sein persönliches Leben gegenüber der Natur zu behaupten. Der Begriff des Absoluten entspringt dem theoretischen Einheitsbedürfnis und befriedigt es, weil in ihm die letzte Ursache und die höchste Einheit alles Daseins überhaupt gedacht wird. Als positives Endresultat der philosophischen Bestimmung des Absoluten formuliert Lipsius: „Seinem positiven Gehalte nach ist daher der Begriff des unendlichen Geistes die lebendige, mit dem raum-zeitlichen Dasein zugleich alles in Raum und Zeit sich entwickelnde Geistesleben begründende, selbst aber raumund zeitfreie, in sich selbst geschlossene und selbstmächtige Kausalität, welche als solche zugleich das absolute Prinzip und das absolute Urbild al-

71 72

73 74

R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), §§ 231-284. „Im religiösen Verhältnisse tritt daher Gott dem persönlichen Menschengeiste gegenüber, verhält sich also zur menschlichen Persönlichkeit als wirkliches Ich zum wirklichen Du.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 171. Ebd., 184. „Die Gottesidee ist der höchste Inhalt aller Glaubenserkenntnis; die Idee des Absoluten ist ein transcendentales Postulat der wissenschaftlichen Erkenntnis.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 199.

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III. Zum Theologieverständnis

les vernünftigen Selbstbewusstseins und aller freien Selbstbestimmung des unendlichen Geistes ist“75.

Die philosophischen Aussagen über die Absolutheit Gottes dienen nicht nur dem wissenschaftlichen Interesse, sondern auch dem religiösen, dem es darum geht, „alle Unvollkommenheiten des endlichen Geisteslebens von dem unendlichen Geiste fernzuhalten, alle den Begriff des Geistes konstituierenden Merkmale aber wirklich auf ihn zu übertragen“76. Der Begriff des Absoluten als Grenzbegriff der wissenschaftlichen Erkenntnis und die religiöse Gottesidee bedürfen einander, um die Weltüberlegenheit Gottes zu wahren. Nur in der Verbindung der Begriffe besteht eine Einheit der verschiedenartigen Bereiche der theoretischen und religiösen Erkenntnis. Da der Glaubende Gott als weltüberlegene Macht erkennt und vorstellt, ist es notwendig, „auf die religiöse Gottesidee den philosophischen Begriff des Absoluten zu übertragen“77. In der Differenz der Ausdrücke ‚das Absolute‘ und ‚Gott‘ liegt es begründet, dass die Einheit nur als Weltanschauung und nur approximativ zu erreichen ist.78 1.2 Otto Pfleiderer: Synthese von Theologie und Philosophie im religiös-idealen Daseinsverständnis Die Hegelsche Philosophie hat in den Augen von Otto Pfleiderer der Theologie das Problem hinterlassen, dass die Religion das, was zu denken ist, nur in Form der Vorstellung erfasst. Soweit in dieser These eine Depotenzierung der Religion enthalten ist, widerspricht Pfleiderer Hegels religionsphilosophischer Konzeption. Er hebt unter Rückbezug auf Schleiermacher hervor, dass die Religion eine vom reflektierenden Denken und vom sittlichen Leben zu unterscheidende eigentümliche Bedeutung habe. So nimmt sich Pfleiderer in seinem Erstlingswerk über das Wesen der Religion und ihre Geschichte von 1869 der religionsphilosophischen Aufgabe an, die Religion als Form des geistigen Lebens, und zwar zunächst als „subjektives Verhalten des Menschen, 75

76 77 78

R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 211. M. HÜTTENHOFF stellt die Entwicklung der dreifachen Grundbestimmung des Begriffs des Absoluten bei LIPSIUS ausführlich dar und belegt den mehrfachen Gebrauch des Begriffs. Vgl. Ders., Erkenntnistheorie und Dogmatik, 219–221. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 210f. Ebd., 198. „Wer sich weigert, den Gott des christlichen Glaubens wirklich als absolut d.h. als über die räumlichzeitliche Welt erhaben zu setzen, der macht ihn damit zum Weltwesen, also erst recht zum heidnischen Götzen.“ Ebd., 198.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

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als psychologische Thatsache“79 zu untersuchen. Gleichwohl hält er daran fest, dass die theologische Arbeit nicht allein vom Gefühl aus ihre Gestalt finden darf. Ihr Metier bleibt das Denken, die klare Erfassung und Rechtfertigung der im Gefühl enthaltenen Gedanken. Auch über seine erkenntnistheoretischen Grundlagen legt Pfleiderer in seinem Erstlingswerk Rechenschaft ab. Hier schließt er sich zunächst an Kant an, dessen Grundsatz, dass Begriffe ohne Anschauungen leer, Anschauungen ohne Begriffe dagegen blind seien, Pfleiderer als „formalen Kanon aller neueren Wissenschaft“ anerkennt und nun auch für das Studium der Religion „massgebend“ sein lassen möchte. 80 Dieser Ausgangspunkt muss gegenüber einer rein spekulativ geführten Religionswissenschaft und Theologie, „die nie über einen leeren Begriffsformalismus hinauskommen, nie zu einer wirklichen materialen Erkenntnis der Religion führen“81 kann, zur Geltung gebracht werden. Die Religionswissenschaft muss Anschauungen haben, wenn sie es zu einem Inhalt bringen soll. Allerdings stellt Pfleiderer neben die erkenntnistheoretische Rückbindung an Kant, die Verbindung zu Hegels Religionsphilosophie her, wenn er betont, dass nur eine spekulative Theorie, die letzte Einheit alles Differenten erschließen könne. Die Voraussetzungen eines einheitlichen Weltgrundes als gemeinsamer Basis von Philosophie und Theologie spiegelt sich bei Pfleiderer in der natürlichen Bestimmtheit des Menschen zur Religion sowie in der Annahme der Universalität des Gottesgedankens und in der philosophischen Grundlegung der Religionsgeschichte. 1.2.1 Die natürliche Bestimmtheit des Menschen zur Religion Um über das Wesen der Religion zu klaren Einsichten zu gelangen, müssen nach Pfleiderer zwei Aspekte beachtet werden. Zunächst geht es darum, Religion als Form des geistigen Lebens und zwar als eine psychologische Tatsache zu untersuchen, bei der die verschiedenen Kräfte und Triebe des Menschen bei der Hervorbringung religiöser Zustände und Tätigkeiten reflektiert werden. Daneben muss das Wesen der Religion als eines Verhältnisses zwischen Gott und Mensch betrachtet werden. Das psychologische Wesen der Religion bzw. die Frömmigkeit verlegt Pfleiderer weder in ein ausschließliches Freiheitsbewusstsein noch in ein ausschließliches Abhängigkeitsbewusstsein. Vielmehr geht er davon aus, dass der Mensch sich von dem Tier da79 80 81

O. PFLEIDERER, Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, Leipzig 1869, Bd. 1, 3. Ebd., XI. Ebd., Xf.

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durch unterscheidet, dass zu ihm ein unendliches Streben gehört, das der Endlichkeit als der eigenen Schranke nur inne wird, indem er diese mit unendlicher Elastizität stets negiert. „Dieses Unendliche kann aber nichts anderes sein als der Grundtrieb jedes menschlichen Einzelwesens, der Trieb der Selbstheit, der Trieb, selbst zu sein d.h. für sich selbst und durch sich selbst zu sein, oder der Trieb nach Selbstgenuß oder Selbstbethätigung.“82

Die Möglichkeit der Negation aller dem Menschen gesetzten Schranken erklärt Pfleiderer mit der Annahme eines dem Menschen eigenen Unendlichen, nämlich des Grundtriebes jedes menschlichen Einzelwesens, für sich selbst und durch sich selbst zu sein. Die Genese dieses Begriffs nimmt ihren Ausgang bei Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), der in seiner Wissenschaftslehre versucht den für ihn bestehenden Widerspruch zu klären, dass das Ich einerseits Kausalität auf das Nicht-Ich haben soll, andererseits das Ich aber keine Kausalität auf das Nicht-Ich haben könne, „weil das Nicht-Ich dann aufhörte, Nicht-Ich zu sein ... und selbst Ich würde“83. Fichte unterscheidet nun zwei Tätigkeiten des Ich, die reine Tätigkeit und die objektive Tätigkeit, die einen Gegenstand setzt, und fragt, wie sich die beiden Tätigkeiten zueinander verhalten bzw. wie sich der Gegenstand der objektiven Tätigkeit des Ich zur reinen Tätigkeit des Ich verhält. Der Begriff des Gegenstandes impliziert ja eine Tätigkeit des Nicht-Ich, die der unendlichen Tätigkeit des Ich Widerstand bietet. Die diesem Widerstand entsprechende Tätigkeit des Ich bezeichnet Fichte als Streben. „Die reine in sich selbst zurückgehende Tätigkeit des Ich ist in Beziehung auf ein mögliches Objekt ein Streben; und zwar ... ein unendliches Streben. Dieses unendliche Streben ist ... die Bedingung der Möglichkeit alles Objekts: kein Streben, kein Objekt.“ 84

Bei dem Versuch, das Streben präziser zu beschreiben führt Fichte dann den Begriff des Triebes ein mit der Bestimmung: „Ein sich selbst produzierendes Streben aber, das festgesetzt, bestimmt, etwas gewisses ist, nennt man einen Trieb“85. Die so bei Johann Gottlieb Fichte vorbe-

82 83 84 85

O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 68. J. G. FICHTE, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), in: Ausgewählte Werke, Bd. 1, hg. v. F. MEDICUS, Darmstadt 1962, 447. Ebd., 454. Das vollständige Zitat lautet: „Das Streben geht auf Kausalität aus, es muß daher, seinem Charakter nach, gesetzt werden, als Kausalität. Nun kann diese Kausalität nicht gesetzt werden, als gehend auf das Nicht-Ich, denn dann wäre gesetzt reale wirkende Tätigkeit, und kein Streben. Sie könnte daher nur in sich selbst zurückgehen, nur sich selbst produzieren. Ein sich selbst produzierendes Streben aber, das

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reitete, bei Karl Fortlage (1806–1881)86, Immanuel Hermann Fichte (1796–1879)87 und Herman Ulrici (1806–1884)88 weiter entwickelte Lehre von einem Grundtrieb, von dem dann alle einzelnen Triebe abzuleiten sind, dient Pfleiderer dazu, die Identifikation des dem Menschen eigenen unendlichen Trieb mit dem Grundtrieb des Menschen, dem Trieb der Selbstheit, zu erklären. „Jeder dieser einzelnen Triebe ist ein endlicher, einmal weil er sich von anderen koordinierten Trieben durch die Besonderheit und Begrenztheit seines Objekts unterscheidet (durch seinen endlichen Inhalt), und dann weil er in einzelnen Akten sich vollzieht und darum nur einzelne Momente des Lebensverlaufs ausfüllt, während anderer Momente aber cessirt (seine endliche Erscheinungsform). Dagegen ist der Grundtrieb des Menschen in beiderlei Beziehung ein unendlicher; er geht in keinem einzelnen Trieb auf, wird durch keinen einzelnen Genuß, kein endliches Objekt schlechthin und für immer beruhigt und befriedet.“89

Der Grundtrieb des Menschen impliziert daher außer der sich selbst unendlich bejahenden Selbstheit auch deren Gegenteil, nämlich die Abhängigkeit, da er das Unendliche außer sich hat als die Macht, von der abhängt in seiner Selbstverwirklichung. Der Mensch ist natürlicherweise bestimmt von dem Gegensatz von Selbstheit oder Freiheit auf der einen, und Abhängigkeit auf der anderen Seite. Die Lösung dieses im Grundtrieb des Menschen wurzelnden Widerspruchs ist der Grundansatz der Religion. In der dritten Auflage seiner Religionsphilosophie von 1896 90 plädiert Pfleiderer für den Vernunftursprung der Religion und nimmt eine Naturalisierung der Vernunft vor. Hier argumentiert er unter Aufnahme und Abgrenzung von Schleiermachers Gefühlsbegriff für die gegenseitige Bezogenheit von Vorstellung, Wille und Gefühl zur Erschließung des Phänomens der Religion. Der Wille bildet zu seiner eigenen Orientierung und Konstanz Vorstellungsgehalte aus, denen er sich selber zuordnet. Die Vorstellungsgehalte sind nun verantwortlich für eine so oder so bestimmte Gefühlsresonanz. Gott ist somit nicht der Name für das Woher des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit; vielmehr ist das Gefühl selbst durch Gott bestimmt. Mit dieser

86 87 88 89 90

festgesetzt, bestimmt, etwas Gewisses ist, nennt man einen Trieb.“ J. G. FICHTE, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 479. K. FORTLAGE, Genetische Geschichte der Philosophie seit Kant, Leipzig 1852, 116ff. I. H. FICHTE, Psychologie, Teil I, Leipzig 1864. H. ULRICI, Gott und der Mensch, Bd. I: Seele und Leib, Leipzig 1866, 283f. O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 69. O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (³1896), 326–3677.

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III. Zum Theologieverständnis

Positivierung des Gefühlsbegriffs Schleiermachers verknüpft Pfleiderer eine Naturalisierung der Vernunft. „Wie alle Anlagen, so äussert sich auch unsere Vernunftanlage in bestimmten Trieben … sie sind die angeboren (apriorischen) Grundformen der Vernunfttätigkeit.“91

Die Unvermeidlichkeit, die einem als natürlich ausgegebenen Trieb anhaftet, soll nun ein Indiz dafür sein, dass jene Triebkraft ihrerseits nicht nur subjektiv-projektiv verfasst ist, sondern dass ihrem Einheitsstreben ein objektives Korrelat entspricht: „Damit tritt der Gott der religiösen Erfahrung an die Stelle des bloss postulirten aber nie zu erfahrenden Gottes der Kant’schen Philosophie.“ 92

1.2.2 Die Universalität der Gottesidee Unter Bezugnahme auf Hegel sieht Pfleiderer das gesamte geistige, ohne die Beziehung auf die Gottesidee nicht haltbare, Selbst- und Weltverständnis des Menschen in einem geschlossenen Ganzen tragender Grundsätze objektiver Erkenntnis verankert. Die tiefste bedingende Grundeinsicht betrifft das Verhältnis Gottes als des absoluten Geistes zum Menschen als dem endlichen Geist. „Hegel sieht einerseits im Gegensatz zu Fichte die Einheit als das Primitive an, welches den Unterschied erst setze; andererseits im Gegensatz zu Schelling setzt er nicht eine unterschiedslose Einheit voraus, sondern eine solche, die den Unterschied als Moment ihres eigenen Wesens an sich hat. Ebendamit ist dann auch dieses Absolute nicht mehr ein gegen den Geist ... sondern es kann nur der Geist selber sein, denn er allein ist die lebendige Einheit, welche den Unterschied ebenso setzt, als immer wieder in sich aufhebt.“93

Pfleiderer stimmt Hegel zu und betont, dass Gott als Geist notwendigerweise „Unterschiede in sich (setze), als ideale; und darum kann er auch eine reale Vielheit ausser sich setzen“94. Gott, als der absolut geistige Weltgrund, ist der stetig gegenwärtige und trotz Weltüberlegenheit doch in der Welt wirkende Ursprung.95 Pfleiderer verbindet die Gottesidee mit dem Begriff des Ganzen. Sie ermöglicht sowohl individuelle als auch geschichtliche Totalität. Wenn hierbei die Gottesidee als Voraussetzung der Wahrheit des Denkens bezeichnet wird, impliziert 91 92 93 94 95

Ebd., 336. Ebd., 340. O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 216. Ebd., 216. O. PFLEIDERER, Religion und Religionen, ²1911, 8f.

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dies nicht eine Vorordnung der Vernunft. Vielmehr soll die Gottesidee als – freilich auch im Denken zu erfassende – Antriebskraft verstanden werden, die sich im Gottesdienst der Welt bewährt, hierfür auf die Symbole und den Kultus der Religionen zurückgreift und sie in ihrem Gehalt erfasst. In den Rahmen dieses Gottesverständnisses gehört Pfleiderers Bejahung der Metaphysik. Sie erschließt auf begrifflichem Weg den gerade in den Religionen erkennbaren Weltsinn. Auch in seiner Darstellung der Religionsgeschichte greift Pfleiderer auf die metaphysische Grundlegung des Verhältnisses Gottes als des absoluten Geistes zum Menschen als dem endlichen Geist zurück. Pfleiderer versteht die ganze Geschichte als einen Prozess fortschreitender Offenbarung der Gottheit, zu der das religiöse Bewusstsein der Menschen in den Religionen sich verhält. Er wendet sich mit dieser Auffassung gegen den Rationalismus mit seinem „deistischen Zurückdrängen der göttlichen Thätigkeit aus dem Verlauf der Geschichte an deren Anfangsmoment“96. Auch der Supranaturalismus setze diese Auffassung einer Normativität des Anfangs als Grundlage voraus, so dass die Offenbarung in seiner Sicht von außen einbreche in einen rationalistisch konzipierten Weltzusammenhang. Für Pfleiderer ist dagegen Religion ein Leben in realer Beziehung zu Gott, das notwendig „auch eine lebendige, immer gegenwärtige Beziehung Gottes zum Menschen d.h. eine im vollsten Sinn geschichtliche Offenbarung ... im Sinn einer durch die ganze Geschichte sich hindurchziehenden, ebenso gegenwärtigen, wie vergangenen Selbstmittheilung Gottes an die empfängliche Menschennatur impliziert“97.

Pfleiderer setzt sich in diesem Zusammenhang von Hegel ab, bei dem er eine pantheistische Auffassung von einem Werden Gottes in der Geschichte seiner Offenbarung zu finden meinte. Die Welt, so schien es ihm, sei bei Hegel das „Mittel ... für die Selbstverwirklichung der gött-

96 97

O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 367. Ebd., 367. W. PANNENBERG hat darauf aufmerksam gemacht (in: Ders., Problemgeschichte, 311ff.322ff.), dass sich hier eine Nähe zur Anschauung von F. SCHELLING findet, der 1802 in seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums die Menschwerdung Gottes als eine „Menschwerdung von Ewigkeit“ beschrieben hat. Damit verband SCHELLING eine religiöse Konstruktion der ganzen Geschichte als einer fortschreitenden Offenbarung Gottes und vertrat noch in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 und 1814/15 die These, dass Gott selbst nicht „ein mit einem Mal fertiges und unveränderlich vorhandenes“ Wesen sei, sondern selber als ein werdender Gott gedacht werden müsse, „Gott ... ist nicht wirklich, er wird wirklich“. F. W. J. SCHELLING, Sämtliche Werke, Stuttgart/Augusburg 1856– 1861, SW I/5, 298f.521ff. (9. Vorlesung); SW I/5, 287ff. (8. Vorlesung); SW I/7, 432; SW I/8, 308.

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III. Zum Theologieverständnis

lichen Einheit“98. Hegels These, dass der absolute Geist das letzte Ziel in der ganzen Weltentwicklung sei, erfasste Pfleiderer nicht in dem dialektischen Sinn, wonach am Ende das wahrhaft Begründende hervortrete, sodass „der absolute Geist nicht Prinzip, sondern nur Resultat der Weltentwicklung ist“99. Dieser Auffassung gegenüber beharrt Pfleiderer mit dem Theismus auf der Unabhängigkeit Gottes von der Welt. Dementsprechend will er seine eigene These von der durch die ganze Geschichte der Menschheit hindurchgehenden Offenbarung Gottes nicht so verstanden wissen, dass die Wirklichkeit Gottes sich erst in diesem Prozess herausbildet, sondern bei der Offenbarungsgeschichte geht es nur um die Gemeinschaft des Menschen mit Gott.100 1.2.3 Genetisch-spekulative Religionsphilosophie und Religionsgeschichte Das Erstlingswerk Pfleiderers über die Religion von 1869 umfasst eine philosophische und eine historische Untersuchung. Auf der Suche nach echten Anschauungen der Religion sieht sich Pfleiderer vor ein weites Feld der gesamten Religionsgeschichte gestellt. Hinter der Vielfalt der einzelnen Erscheinungen will er aber doch die Einheit des Ganzen überschauen. Eine derartige Sicht der Dinge, die einzige, die ihm eine wissenschaftliche Erkenntnis der Religion verspricht, ist nur zu erreichen, „wenn zu den Anschauungen die Begriffe hinzukommen, wenn das verschlungene Detail des historischen Stoffs vom philosophischen Begriff durchdrungen und durchleuchtet wird, wenn eine philosophisch durchgebildete einheitliche Vernunftanschauung das mannigfaltige der geschichtlich gegebenen Erfahrungstatsachen zu Gliedern und Momenten eines organischen Ganzen zusammenfasst“101.

Darum besteht Pfleiderer, in kritischer Abgrenzung gegen alle positivistischen Tendenzen seiner Zeit, auf dem Recht der religionsphilosophischen Betrachtung nicht nur neben der historischen, sondern auch vor derselben. Da sie von der Selbstanschauung des eigenen Geistes

98 O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 216f. 99 Ebd., 217. 100 „Hieraus erhellt sich von selbst, worin wir das materiale Wesen der Offenbarung werden zu suchen haben: sie ist die innerliche Wirkung Gottes im Menschen zur Aufhebung der Sünde und zur Herstellung der freien Gottesgemeinschaft oder die durch Gott im Menschen bewirkte Erlösung von der Sünde und Versöhnung mit Gott.“ O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 380. 101 O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1 (1869), XIII.

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ausgeht, fällt ihr die Aufgabe zu, das Wesen der Religion zu erfassen.102 In seiner ersten Berliner Vorlesung von 1876 skizziert Pfleiderer das religionsphilosophische Programm, dem er sich verpflichtet sieht.103 Dabei zeichnet er zwei Traditionslinien der deutschen Religionsphilosophie; die eine analytisch-kritisch ausgerichtet, reicht von Lessing über Kant zu Schleiermacher; die andere, historisch-synthetisch angelegt, umfasst Herder, Schelling und Hegel. Die Notwendigkeit der Kombination dieser beiden Linien ergibt sich für ihn aus der Folgegeschichte der beiden Schulen, die sich seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gebildet hatten. „Man kann sich nicht mehr auf den Isolierschemel des frommen Selbstbewusstseins stellen, aber auch nicht um der begrifflichen Konsistenz willen den soliden Boden des exakten Wissens und der besonnenen Induktion ... verschmähen ... Vor diesen beiden Abwegen der großen Schulen wird unsere Wissenschaft sich zu hüten haben; aber behalten und immer mehr lernen wird sie von Schleiermacher die Feinheit der psychologischen Beobachtung und die Schärfe der dialektischen Analyse, von Hegel die Freiheit der geschichtlichen Beobachtung und die Produktivität der spekulativen Synthese.“104

Wie sich Pfleiderer selbst die Durchführung dieses Programms vorgestellt hat, legt er in seinem Hauptwerk zur Religionsphilosophie 105 dar, wobei die einzelnen Auflagen teilweise stark voneinander abweichen. Sein Ziel ist es, die empirischen Materialien der Religionsgeschichte einerseits in ihrer Eigenständigkeit zu würdigen, ohne sich andererseits einer begrifflichen Ordnung zu entziehen. Pfleiderer sieht die Notwendigkeit, Philosophie und Geschichte der Religion so zu verbinden, „dass der philosophische Begriff vom Wesen der Sache auf jedem Punkte aus der Verarbeitung des geschichtlichen Materials selbst resultiert und nichts anderes ist als die unterscheidende und zusammenfassende Erkenntniß der verschiedenen Faktoren und Momente, deren Wechselspiel der Verlauf der geschichtlichen Religion ausmacht“106.

Dass die Religion von der der Geschichte der Religionen aus begriffen werden muss, ist allerdings nur die eine Vorgehensweise, in der sich die stärkere Berücksichtigung der Empirie bei Pfleiderer niederschlägt.

102 Ebd., XIVf. 103 O. PFLEIDERER, Die deutsche Religionsphilosophie und ihre Bedeutung für die Theologie der Gegenwart. Eine Einleitungsvorlesung, Berlin 1875. 104 Ebd., 19f. 105 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage, 1878, 2 Bde. ²1883/1884, ³1896. 106 O.PPFLEIDERER, Religionsphilosophie, Bd. 2 (²1884), V.

116

III. Zum Theologieverständnis

Die andere führt in die Religionspsychologie107, mit deren Hilfe Pfleiderer das Wesen der Religion unter dem Aspekt der Gleichartigkeit des Menschengeschlechts in den Blick nimmt. Seit der zweiten Auflage beachtet Pfeiderer unter diesem Aspekt besonders die Analogien zwischen den Religionen. Sie zeigen in seinen Augen, dass unabhängig von konkreten geschichtlichen Lagen gleichartige religiöse Erfahrungen Wirklichkeit geworden sind. Zur Differenzierung seiner genetisch-spekulativen Methode setzt sich Pfleiderer, wie auch Richard A. Lipsius, insbesondere mit Alois E. Biedermann auseinander.108 Er geht mit Biedermann überein, dass es die zentrale Aufgabe einer Propädeutik der Theologie ist, das Verhältnis des Empirisch-Geschichtlichen zum Geist zu bestimmen. Für Biedermann ist die Geschichte so weit vom Empirisch-Zufälligen bestimmt, dass eine apriorische Deduktion unmöglich wird, und doch wird in seinen Augen die idealistische Position nicht in Frage gestellt. Es ist durchaus möglich, die Geschichte zu verstehen, wenn man enthüllt, dass die Zufälligkeit zwar ein Wesensmerkmal der Geschichte ist, das Wesen des Zufälligen aber gerade darin besteht, nicht wesentlich zu sein. Geschichte ist begreifbar, wenn diese Nicht-Wesentlichkeit des Zufälligen als solches enthüllt, und so das Prinzip des geschichtlichen Verlaufs offenkundig gemacht wird. Für Biedermann kommt es aber nun darauf an, progressiv das durch empirische Analyse aufgefundene Prinzip auch auf den reinen Gedankenausdruck seines Inhalts zu bringen. Dies ist das wesentlich spekulative Moment der wissenschaftlichen Arbeit. Für Pfleiderer ist jene aus der geschichtlichen Erscheinung ermittelte Erkenntnis des Prinzips schon eine zureichende Beschreibung der spekulativen Methode, während er auf den Ansatz der Progression verzichtet.109 Für Hegel impliziert die spekulative Methode, dass mit einer vorhergehenden Theoriebildung der empirische Verlauf der Geschichte erfasst werden kann. Biedermann hält eine solche Theoriebildung nur auf dem Grund einer empirischen Darstellung für möglich. Pfleiderer hingegen setzt an die Stelle der spekulativen Entwicklung des Begriffs die Verarbeitung der Erfahrung nach gesetzmäßigen logischen Prinzipien. 107 Vgl. dazu die Darstellung der religionspsychologische Konzeption PFLEIDERERS und ihre Bedeutung für das Theologieverständnis in Kapitel III, 150ff. 108 Vgl. die Auseinandersetzung zwischen LIPSIUS und BIEDERMANN zur Frage nach der Bedingung und der Bedeutung der Metaphysik in Kapitel III, 102ff. Zu A. E. BIEDERMANN vgl. R. GERMANN-GEHRET, Alois Emanuel Biedermann. Eine Theodicee des gottseligen Optimismus, Frankfurt a. M. 1986; H. HOLTZMANN, Die Entwicklung des Religionsbegriffs in der Schule Hegels, in: ZwTh 21 (1878), 208–227.335–398. 109 Vgl. dazu R. LEUZE, Theologie und Religionsgeschichte, 257.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

117

In der dritten und letzten Auflage seiner Religionsphilosophie von 1896 versucht Pfleiderer bereits im Vorwort die Notwendigkeit der Philosophie für die Theologie deutlich zu machen. „Das bloss historische Wissen liefert noch keine sicheren Gesichtspunkte für die Beurtheilung der leitenden Motive und bleibenden Werthe der Dogmen; dafür bedarf es der objektiven Normen, die nicht unmittelbar in Geschichtsdaten, um deren Beurtheilung es sich eben handelt, zu finden sind, die vielmehr nur aus der Idee der Religion, wie sie unseres Geistes angelegt ist, entnommen werden können. Zur Erkenntnis dieser idealen Normen verhilft die Religionsphilosophie theils durch ihre psychologische Analyse des religiösen Bewusstseins, theils durch ihre vergleichende Zusammenstellung der analogen Erscheinungen aus verschiedenen Religionsgebieten“110.

1.3 Adolf Hilgenfeld: Die innere Wesensverwandtschaft von Theologie und Philosophie Adolf Hilgenfeld hat sich im Rahmen seiner interdisziplinären Forschungs- und Lehrtätigkeit111 insbesondere in zwei Aufsätzen, die er in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie veröffentlichte, zum Verhältnis von Theologie und Philosophie geäußert112. Darauf soll im Folgenden Bezug genommen werden. 1.3.1 Das Christentum als Religion des Geistes und die neuere Philosophie des Geistes Der ersten Ausgabe seiner Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie stellt Hilgenfeld eine theologiegeschichtliche Reflexion und Standortbestimmung voran113, in der er sein Verständnis wissenschaftlicher Theologie darlegt, wenn er fragt: „Was will nun aber die wissenschaftliche Theologie, welche wir nach Kräften vertreten wollen?“ 114 Als philosophie- und geistesgeschichtliche Grundlage sieht Hilgenfeld den

110 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (³1896), Vf. 111 Vgl. dazu die Ausführungen zum Leben, zum Werk und zur theologiegeschichtlichen Verortung von A. HILGENFELD, Kapitel II, 46ff. 112 A. HILGENFELD, Die wissenschaftliche Theologie und ihre gegenwärtige Aufgabe, in: ZwTh 1 (1858), 1–21; Ders., Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts nach ihrer Stellung zu Religion und Christenthum und mit besonderer Berücksichtigung auf Baur’s Darstellung, in: ZwTh 6 (1863), 1–40. 113 A. HILGENFELD, Die wissenschaftliche Theologie, 1. 114 Ebd., 2.

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III. Zum Theologieverständnis

„Rationalismus, die speculative und die Gefühls-Theologie“115. Auch wenn die wissenschaftliche Theologie auf diesen drei Säulen ruht, ist doch Schleiermacher derjenige, der die neuere philosophische Weltansicht, nämlich die Philosophie des Selbstbewusstseins und des Absoluten, gegründet auf den subjektiven Idealismus Fichtes und den objektiven Idealismus Schellings, auf die Religion anwendet. Mit seiner Bestimmung des unmittelbaren Selbstbewusstseins und des Universums macht er die Religion kenntlich als das, „was sie an sich ist, in ihrer wesentlichen unzertrennlichen Beziehung zum Bewusstsein des Menschen überhaupt“116. Das Verhältnis von Theologie und Philosophie sieht Adolf Hilgenfeld im Geistbegriff begründet, der eine „innere Wesensverwandtschaft“ zwischen der „Religion des Geistes“ und der „Philosophie des Geistes“ 117 bedingt. Die neuere Philosophie wie sie von Descartes begründet wird118, hat sich – so Hilgenfeld – „nach ihrem Ursprunge genau an die lebendige Entwickelung des Christenthums“ angeschlossen, denn das Christentum ist die Religion des Geistes, d. h. ein ewig lebendiges geistiges Prinzip.119 Philosophie und Theologie gehören beide zu ein und demselben Rationalitätstypus. Beide sind Weisen menschlicher Reflexionstätigkeit, beide tragen zur Ausbildung unseres reflektierten Selbstbewusstseins bei, beide haben sie das unmittelbare Selbstbewusstsein mit all seinen Implikaten zum gegebenen Grund und Gegenstand. Unter Rückbezug auf Friedrich Schleiermacher kommt Hilgenfeld zu dem Fazit, dass die Philosophie unter denselben transzendentalen Bedingungen steht wie die Theologie. 120 In ihrer Be-

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Ebd., 11. A. HILGENFELD, Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, 23. Ebd., 8. „Das, worin er (Descartes) die beiden Pole des Idealen und des Realen prinzipiell zusammenfasste, war also der Grundbegriff des Geistes überhaupt, in welchem Denken und Sein, Subject und Object ursprünglich Eins sind.“ A. HILGENFELD, Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, 7f. 119 Ebd., 7. „Nachdem der Protestantismus die ursprüngliche Selbstgewissheit des Christenthums erneuert, durch den grundsätzlichen Bruch mit der äussern Auctorität sich den Weg zu der innern Selbstgewissheit des Glaubens gebahnt und in derselben seine religiöse Befriedigung gefunden hatte, schlug auch die Philosophie ganz die entsprechende Bahn ein. Bei Cartesius beginnt sie mit einer neuen Selbstgewissheit des Geistes, welche dem innersten Wesen des Christenthums und des Protestantismus entsprach.“ Ebd., 7f. 120 In seiner Einführung in die SCHLEIERMACHER-Interpretation weist H.-J. BIRKNER darauf hin, dass die Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie bei SCHLEIERMACHER orientiert ist an der von ihm vorausgesetzten Wissenschaftssystematik. Vgl. dazu H.-J. BIRKNER, Theologie und Philosophie. Einführung in die Prob-

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

119

zogenheit auf das transzendentale Selbstbewusstsein hat die Philosophie „wie wir schon an Kant sehen, eine ganz andre Stellung des denkenden Bewusstseins zu der positiven Religion eingeführt, die tiefsten Grundgedanken des Christenthums, inwiefern sie eben in dem religiösen Selbstbewusstsein wurzeln, wieder zu Ehren gebracht“ 121.

1.3.2 Die Bedeutung des Rationalismus für die Theologie Die wissenschaftliche Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts ruht für Hilgenfeld wie bereits erwähnt auf den drei Säulen des Rationalismus, der spekulativen Theologie und der Gefühlstheologie. Allerdings kommt dem Rationalismus das Verdienst zu, der Theologie und hier insbesondere der Bibelwissenschaft eine höhere kritische Unbefangenheit im Umgang mit Bibeltexten respektive den Heiligen Schriften ermöglicht zu haben. Denn er hat eine „geschichtlich-kritische Theologie“ und ein „wahrhaft freies, aber geistig gebundenes Verhältnis zu den heiligen Schriften des Christenthums“122 ermöglicht. Hilgendfeld verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung Lessings für die wissenschaftliche Theologie. Dessen „Hinweisung auf ein innerliches, von dem dogmatischen und äusserlich – historischen unabhängiges Christenthum, seine Andeutung eines inneren Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung, seine Anerkennung von Vernunft auch in der Offenbarung“123

habe den Weg zur Versöhnung der Theologie mit der Philosophie gewiesen. Damit wurde der drohende Bruch des Vernunftglaubens mit seiner geschichtlichen Grundlage vermieden. leme der Schleiermacher-Interpretation, in: Schleiermacher-Studien, Gütersloh 1996, 157–192. SCHLEIERMACHER verortet das Wissen im Zusammenhang des Ganzen der Gemütsfunktionen; so schon in den Reden, dann ebenso im transzendentalen Teil der Dialektik, in der Psychologie und in der Einleitung der Glaubenslehre. Vgl. F. SCHLEIERMACHER, Reden über die Religion. Reden über die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799); Ders., Dialektik (1814/15); Ders.,Einleitung zur Dialektik (1833); Ders., Psychologie. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen; Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt (²1830). Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie und ihrer gemeinsamen Grundlage im reflektierten Selbstbewusstsein bei SCHLEIERMACHER vgl. E. HERMS, Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins, in: Menschsein im Werden, Tübingen 2003, 400–426. 121 A. HILGENFELD, Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, 8. 122 A. HILGENFELD, Die wissenschaftliche Theologie, 19. 123 Ebd., 4f.

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III. Zum Theologieverständnis

Hilgenfeld kennzeichnet eine Traditionslinie der deutschen Religionsphilosophie, die nach seiner Sicht von Lessing über Kant zu Schleiermacher führt und die es der Bibelwissenschaft ermöglicht, „die Macht der geschichtlichen Thatsachen und Beweise“ zu präferieren und damit die Geschichtsforschung als wahren „Mittelpunkt der Theologie unserer Zeit“124 zu erkennen. 1.4 Zusammenfassung Das Verhältnis von Theologie und Philosophie ist von den Anfängen christlicher Theologie bis in die Gegenwart als ein ambivalentes und damit nicht als einfach vorgegebenes, sondern zu bestimmendes Verhältnis begriffen worden.125 Die Auffassungen, die in Bezug auf das Verhältnis von Theologie und Philosophie vertreten werden, schlagen sich in kontroversen Sichtweisen des Verhältnisses von Systematischer Theologie und Religionsphilosophie nieder.126 Lipsius, Pfleiderer und Hilgenfeld gehen übereinstimmend von einem affirmativen Verhältnis von Theologie und Philosophie aus und kennzeichnen den Grund und die Grenze der gegenseitigen Bezogenheit. Richard A. Lipsius vollzieht eine erkenntnistheoretischen Grundlegung der Theologie, auf die Richard Rothe noch verzichtete und die sich in Ansätzen erstmals bei Christian H. Weisse in dessen Dogmatik findet, in Anlehnung an den physiologischen Neukantianismus von Friedrich Albert Lange und die Dialektik von Friedrich Schleiermacher.127 Die beiden Erkenntnissphären des Subjekts, die der wissenschaftlichen Welterkenntnis und die der religiösen Erkenntnis, können aufgrund der Einheit des Subjektes nicht auseinander oder gar in einen Gegensatz treten. Lipisus geht es um „den Zusammenhang des religiösen Lebensgebietes mit allen anderweiten Erkenntnisgebieten“ 128. Eine Theorie der religiösen Erkenntnis bezieht sich zwar auf den anderen Gehalt derselben, aber die Gestalt der religiösen Erkenntnis ist strukturanalog zum theoretischen Welterkennen verfasst. Damit trägt Lip124 A. HILGENFLED, Die wissenschaftliche Theologie, 16. 125 Vgl. dazu K.-F. GEYER, Philosophie und Theologie, in: NZSTh 18 (1976), 1–21. 126 Zur gegenwärtigen Debatte um das Verhältnis von Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie und der hinter ihr stehenden Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie vgl. insbesondere I. U. DALFERTH, Fundamentaltheologie oder Religionsphilosophie? In: Evangelische Fundamentaltheologie in der Diskussion, 171–193. 127 Vgl. CHR. H. WEISSE, Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christenthums, Bd. 1, Leizig 1855, §§ 22–36. 128 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 8.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

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sius bei der Behandlung der fundamentaltheologischen Fragestellungen einem sich verändernden wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Kontext Rechnung. Der Neukantianismus, der für die Philosophie forderte, dass sie vorrangig Theorie der empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnis sein müsse, wird für Lipsius der philosophische Bezugspunkt für fundamentaltheologische Aussagen.129 Die Theologie muss ernst damit machen, dass sich ihre Form der Erkenntnisgewinnung an den dafür im Gesamtbereich der Gattung geltenden identischen Bedingungen zu orientieren hat. Sie strebt nach Wissen, das sich den aus der Natur des Wissens ergebenden Regeln unterwirft, die für alle Vernunftwesen gleich sind. Damit gewinnt sie den Status einer Wissenschaft. In dieser Hinsicht stehen Theologie und Philosophie unter einer gemeinsamen Vorgabe und gehören zu ein und demselben Rationalitätstypus. Die Grundlage jeder Gewissheit ist die Selbstgewissheit des Subjekts. Das Subjekt konstituiert seine Erfahrungswelt, indem es den ihm gegebenen Stoff seinen Erkenntnisformen entsprechend auffasst. Alle wirkliche Erkenntnis bezieht sich auf die Erfahrung, weil nur sie die Einheit von Anschauung und Begriff ermöglicht, die zur wirklichen Erkenntnis gehört. Die Wurzel der Erkenntnisformen ist die räumliche Synthesis, der Grund für die Notwendigkeit der räumlichen Anschauungsform ist die psychophysische Organisation, denn sie ist das eigentliche Apriori aller Erfahrung. Da die Erkenntnisformen in der psychophysischen Organisation gründen, ermöglichen sie uns keine real-objektive, sondern nur eine phänomenal-objektive Erkenntnis. Der empirische Gegenstand der Erkenntnis ist das ‚Ding außer uns‘, das von seinen Erscheinungsweisen unterschiedene Ding an sich im empirischen Sinn. Wenn wir das Ding außer uns als ein Ding denken, das abgesehen davon, dass wir es erkennen, existiert, erhalten wir den Begriff des Dings an sich im transzendentalen bzw. das Noumenon im negativen Sinn. Das Ding an sich im transzendentalen Sinn ist seinem Begriff entsprechend unerkennbar. Denken wir das Ding an sich als Gegenstand einer nichtsinnlichen Anschauung bilden wir den Grenzbegriff des Noumenon im (ersten) positiven Sinn. Von diesem unterscheidet Lipsius die letzten Ursachen aller Realität als Noumena in einem zweiten positiven Sinn. Sie sind die Grenzbegriffe des wissenschaftlichen Erkennens, die notwendigerweise gebildet werden, ohne dass es zu einer wirklichen Erkenntnis des in ihnen gedachten Seins

129 Vgl. dazu die Ausführungen zu den Wurzeln, Initiations- und Haftpunkten liberaler Theologie im 19. Jahrhundert in Kapitel I, 8f., und insbesondere die dortigen Literaturhinweise zum Neukantianismus in Anm. 41.

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III. Zum Theologieverständnis

kommt, da uns die Anschauung dieses Seins unmöglich ist. Das Ding an sich oder das Noumenon im positiven Sinne als Grund allen Denkens und Daseins ist wissenschaftlich weder beweisbar noch erkennbar. Für Lipsius sind die Grenzbegriffe des wissenschaftlichen Erkennens Gegenstand der wissenschaftlichen Metaphysik, wie sie im Rahmen einer Erkenntnistheorie möglich und notwendig ist. Das Wissen der Metaphysik der Grenzbegriffe ist rein kategorial bzw. formal. Wie das in den Grenzbegriffen gedachte Sein real möglich ist, kann die Metaphysik nicht erfassen, da die Begriffe uns keine wirkliche Erkenntnis des in ihnen gedachten Seins vermitteln. Das erlebende Subjekt reduziert die wissenschaftliche Metaphysik auf eine formale Metaphysik der Grenzbegriffe, die Lipsius – und darin liegt die Spezifik seiner Erkenntnistheorie – sowohl im Rückbezug auf Kants Kritik der Metaphysik als auch auf Schleiermachers Dialektik und dessen Verwendung des Begriffs der „Denkgrenze“130 ausbildet. Allerdings darf die Theologie die Metaphysik nicht aufgeben, weil zum einen ausschließlich nicht metaphysische Aussagen dem religiösen Interesse nicht genügen, und zum anderen die Theologie damit die Weltüberlegenheit Gottes preisgeben würde. Auch wenn die Metaphysik der Grenzbegriffe uns keine wirkliche Erkenntnis des in ihnen gedachten Seins ermöglicht, kann das erlebende Subjekt religiöse oder sittliche Erfahrungen machen, die es veranlassen, die fehlende sinnliche Anschauung durch eine produzierende Anschauung zu ersetzen. Damit können die formalen Begriffe in Analogie zur sinnlichen Selbst- und Welterfahrung ausgelegt werden, womit allerdings die Grenzen der wissenschaftlichen Metaphysik überschritten sind und man sich im Bereich der Weltanschauung bewegt. Für Lipsius ist die Dogmatik von der Religionsphilosophie dadurch unterschieden, dass sie die objektive Realität des religiösen Verhältnisses voraussetzt. Es ist allerdings notwendig, „zur Sicherung des wissenschaftlichen Charakters der Dogmatik die notwendigsten Lehnsätze aus der Religionsphilosophie vorauszuschicken“131. Damit soll allerdings weder die Geltung der Religion für das Subjekt erklärt werden noch ihre Wahrheit bewiesen.132 130 Dass aus der Notwendigkeit einer Metaphysik noch nicht deren Möglichkeit folgt, formuliert er im Anschluss an I. KANT und dessen Kritik der reinen Vernunft. Den Begriff der „Denkgrenze“ nimmt er in seiner Studie über SCHLEIERMACHERS Dialektik auf und entwickelt ihn weiter zum „Grenzbegriff“. Vgl. R. A. LIPSIUS, Studien über Schleiermachers Dialektik, in: ZwTh 12 (1869), 46, Anm. 1. 131 R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 63. 132 Damit weist LIPSIUS eine Kritik von W. HERRMANN zurück, der behauptet hatte, LIPSIUS wolle mittels der Religionsphilosophie den Wahrheitsgehalt des christlichen

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

123

Otto Pfleiderer vertritt eine metaphysisch orientierte Konzeption von Theologie, die von einer Einheit des Weltgrundes ausgeht. In diesem religiös-idealen Daseinsverständnis haben Theologie und Philosophie ihren gemeinsamen Bezugspunkt.133 Auch Pfleiderer schließt sich in erkenntnistheoretischen Fragen zunächst an Kant an, dessen Grundsatz, dass Begriffe ohne Anschauung leer, Anschauungen ohne Begriffe dagegen blind seien, Pfleiderer als „formalen Kanon aller neueren Wissenschaft“ anerkennt und für Theologie und Religionswissenschaft „massgebend“ sein lassen möchte.134 Eckpfeiler seines religiös-idealen Daseinsverständnisses sind für Pfleiderer die Gottesidee, die er mit dem Begriff des Ganzen verbindet, die primäre Bestimmung der Geschichte durch die Ideen, und die natürliche Bestimmtheit des Menschen zur Religion, die sich in einem Grundtrieb bzw. Vernunfttrieb zur Religion äußert. Die Gottesidee ist „die Voraussetzung der Wahrheit alles unseres Denkens, der Grund des Zusammenhangs unseres ganzen Weltbildes“135 und ermöglicht sowohl individuelle als auch geschichtliche Totalität. In den Rahmen dieses Gottesverständnisses gehört Pfleiderers Bejahung der Metaphysik. Diese spricht das gesamte geistige, ohne die Beziehung auf die Gottesidee als Einheit des Weltgrundes nicht haltbare, Selbst- und Weltverständnis des Menschen in einem geschlossenen Ganzen136 letzter tragender Grundsätze objektiver Erkenntnis aus, und vermeidet dabei Grenzüberschreitungen über das als Grundlage unseres Bewusstseins hinaus Gegebene. Gott als der absolut geistige Weltgrund ist der stetig gegenwärtige sowohl der Welt überlegene als auch in ihr wirkende Initiator eines Werde- und Entwicklungsprozesses. Dieser gestaltet sich so, dass jedes einzelne Werden und Geschehen, trotz einer empirisch-zufälligen Bestimmung der Geschichte, als Mani-

133

134 135 136

Glaubens sichern, und damit den wissenschaftlichen Charakter der Theologie behaupten. Vgl. W. HERRMANN, Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, 1879, 276. W. HERRMANN fordert mit seiner Ablehnung der Metaphysik eine Abkehr von einer solchen Konzeption von Theologie, die sich auf eine wie immer gegebene Einheit des Weltgrundes meint positiv beziehen zu können. Eine längere kritische Passage über Pfleiderers Werk zu Wesen und Geschichte der Religion von 1869 ist daher auch Teil seiner Ausführungen. Vgl. W. HERRMANN, Die Metaphysik in der Theologie, in: Schriften zur Grundlegung der Theologie, Bd. 1, 26–50. O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, Xf. O. PFLEIDERER, Religion und Religionen (²1911), 8f. Der Systemgedanke findet bei HEGEL seinen Ausdruck in dem Kernsatz vom Wahren als dem Ganzen, welches Subjektives und Objektives in sich begreift, ohne entweder die Freiheit oder die Wahrheit in einem einseitigen Verhältnis aufzuheben. Vgl. G. W. F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes (1807), Werke Bd. 3, 21.

124

III. Zum Theologieverständnis

festation und Durchgangsmoment in der Selbstoffenbarung des göttlich Absoluten zu verstehen ist, und damit ein natürlich sich vermittelndes Glied eines geschlossenem Begreifen zugänglichen Lebenszusammenhangs. Allerdings will Pfleiderer nicht um der begrifflichen Konsistenz willen, „den soliden Boden des exakten Wissens und der besonnenen Induktion ... verschmähen“137 und verzichtet daher im Unterschied zur spekulativen Theologie Biedermannscher Provenienz auf einen eindeutigen Gottesbegriff. Die Bewusstseinsgestalten in denen der endliche Geist seiner konstitutiven Abhängigkeit vom absoluten Geist bewusst wird bzw. dessen progressive Selbstentfaltung erfasst, bilden das Gravitationszentrum der kulturellen Entwicklung und somit ist die Geschichte der Philosophie und Theologie gleichermaßen die Mitte der Geistesgeschichte, denn hier kommt es zu rationalen Formen der Selbsterschließung des absoluten Geistes im endlichen Geist. Die von Pfleiderer vorgenommene Bestimmung eines einheitlichen Weltgrundes im religiös-idealen Daseinsverständnis als gemeinsamer Basis von Theologie und Philosophie, und die Einordnung des Christentums in die Religionsgeschichte, implizieren eine Rehabilitierung der natürlichen Theologie. Dies ist für Pfleiderer unverzichtbar, weil sich aus der Geschichte die Bedeutung der Religion erschließt und diese deshalb als Anlage der menschlichen Gattung verstanden werden muss. Adolf Hilgenfeld kennzeichnet das Verhältnis von Theologie und Philosophie als „innere Wesensverwandtschaft“, die impliziert, „dass auf die christliche Religion des Geistes die neuere Philosophie als die Philosophie des Geistes gefolgt ist“138. Theologie und Philosophie gehen überein darin, dass sie Weisen der menschlicher Reflexionstätigkeit sind und unter denselben transzendentalen Bedingungen stehen. Ebenso haben beide das unmittelbare Selbstbewusstsein zum gegebenen Grund und Gegenstand. Hilgenfeld stellt insbesondere die Bedeutung der Philosophie für die Exegese heraus. Speziell der Rationalismus Lessings und Kants hat der Bibelwissenschaft sowohl eine höhere kritische Unbefangenheit im Umgang mit Bibeltexten respektive Heiligen Schriften ermöglicht, als auch die Präferierung der „Macht der geschichtlichen Thatsachen und Beweise“ bedingt, und damit die Geschichtsforschung als wahren „Mittelpunkt der Theologie unserer Zeit“ verankert.139

137 O. PFLEIDERER, Die deutsche Religionsphilosophie (1875), 19. 138 A. HILGENFELD, Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, 8. 139 A. HILGENFELD, Die wissenschaftliche Theologie, 16. In diesem Punkt will HILGENFELD das Tübinger Geschichtsbild vom Urchristentum gegen den Vorwurf

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

125

Die notwendige Unterscheidung bzw. die Grenze zwischen Philosophie und Theologie ergibt sich durch die Bestimmung ihres Gegenstandes, ihrer Aufgabe und ihrer Voraussetzungen. Die Theologie, speziell die Dogmatik, ist „die wissenschaftliche Darstellung des christlichen Glaubens aus und für die Genossen dieses Glaubens, zum Zwecke gemeinsamer Verständigung über den Inhalt desselben und über den diesem Inhalte angemessenen gedankenmässigen Ausdruck“140.

Und die Dogmatik, so Pfleiderer, „ist nun einmal wesentlich, nach Stoff und Zweck, eine positive Disciplin und die Religionsphilosophie ist dies in keiner Hinsicht“141. Im Unterschied zur Philosophie geht die Dogmatik „von der Objectivität des religiösen Verhältnisses als von der Grundvoraussetzung aller religiösen Weltansicht aus“142. Die Dogmatik respektive die Theologie erhebt auch nicht den Anspruch auf „philosophische Begründung ihrer Sätze, wenn man darunter einen wissenschaftlichen Beweis für ihre religiöse Grundanschauung versteht; ... gerade die letzten Räthselfragen des Lebens sind doch von der Wissenschaft nicht zu beantworten“143.

Damit ist die Grenze der Beziehung zwischen Theologie und Philosophie gezogen. Es kommt nicht zu einer Integration der Religionsphilosophie in die Systematische Theologie – als praeambula fidei beispielsweise –, und damit zu einer philosophischen Theologie, in der es im Prinzip unklar ist, ob die Kriterien der Wirklichkeitsinterpretation, die sie verwendet, theologischen oder philosophischen Charakter haben. Der Grund wiederum für die untrennbare Verbindung von Theologie und Philosophie ist die „einheitliche Weltanschaung“144 bzw. der eine Wirklichkeitsgrund als gemeinsamer Bezugspunkt. Von diesem einheitlichen Wirklichkeitsgrund ausgehend, vergleicht und kontras-

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philosophisch-spekulativer Konstruiertheit zu verteidigen. Daher hat er oft und nachdrücklich auf J. S. SEMLER als den wichtigsten Vorläufer für F. CHR. BAUR hingewiesen. SEMLER habe gegen den dogmatischen Begriff des Kanons das neue Programm einer Theologie als Erfahrungswissenschaft evoziert, die am Offenbarungsgedanken festhält, aber das historische Interesse dem dogmatischen vorordnet. Vgl. A. HILGENFELD, Der Kanon und die Kritik des neuen Testaments in ihrer geschichtlichen Ausbildung, Halle 1863, 112; Ders., Historisch-kritische Einleitung in das Neue Testament, Leipzig 1875, 193; Ders., Die Ketzergeschichte des Urchristentums. Urkundlich dargestellt, Leipzig 1884, V.445. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 1. O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), X. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 6. Ebd., 7. R. A. LIPSIUS, Philosophie u. Religion, 276.307.

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III. Zum Theologieverständnis

tiert die Religionsphilosophie die religiösen Wirklichkeitsverständnisse mit philosophischen Theorien der Wirklichkeit sowie der Art und Weise, wie Wirklichkeit überhaupt erfasst und bezeichnet werden kann. In der Religionsphilosophie werden somit einerseits alle Fragen der philosophischen Selbstaufklärung der menschlichen Interaktion mit der Wirklichkeit virulent. Andererseits betrachtet die philosophische Untersuchung der Religion ein bestimmtes religiöses Wirklichkeitsverständnis als eine besondere Form der menschlichen Interaktion mit der Wirklichkeit und wendet allgemeine Kriterien, die aus philosophischer Perspektive auf jedes Wirklichkeitsverständnis angewendet werden können, auch auf das religiöse Wirklichkeitsverständnis an. 145 Diese spezifische Verbindung von Philosophie und Theologie darf aus theologischen Gründen nicht aufgegeben werden, weil – wie Lipsius in der Auseinandersetzung mit Wilhelm Herrmann betont – die Dogmatik ihre Aufgabe, den religiösen Gehalt des christlichen Glaubens darzustellen, nur erfüllen kann, wenn sie eine einheitliche Weltanschauung aufbaut, welche die Erkenntnis der empirischen Wissenschaften und der wissenschaftlichen Metaphysik einbezieht und so die Teleologie und Kausalität in der Weltbetrachtung verbindet. Dogmatik muss, wenn sie beispielsweise das Verhältnis Gottes zur Welt oder das Verhältnis des Christen zur Welt denkt, von der Kausalitätskategorie Gebrauch machen, denn Gott kann nur dann die zwecksetzende Willensmacht sein, wenn er kausale Macht über die Welt hat.146 Otto Pfleiderer hebt hervor, dass die Suche nach echten Anschauungen in der Religion147 nur gelingen kann, „wenn zu den Anschauungen die Begriffe hinzukommen ... wenn eine philosophisch durchgebildete einheitliche Vernunftanschauung das Mannigfaltige der geschichtlich gegebenen Erfahrungstatsachen zu Gliedern und Momenten eines organisch Ganzen zusammenfasst“148.

Darum besteht Pfleiderer, in kritischer Abgrenzung gegen alle positivistischen Tendenzen seiner Zeit, auf dem Recht der Philosophie zur Grundlegung von Religionswissenschaft und Theologie. Das „bloss historische Wissen“ liefert „noch keine sicheren Gesichtspunkte für die 145 LIPSIUS sieht darin den Weg, wie die christliche Glaubenslehre den „festen Boden der Wissenschaft“ unter den Füßen behält, dass sie „die Thatsachen der religiösen Erfahrung den Gesetzen aller wirklichen Erfahrung unterwirft“, um so „den Zusammenhang des religiösen Lebensgebietes mit allen anderweiten Erkenntnisgebieten“ zu sichern. Vgl. Ders., Lehrbuch (1876), 8. 146 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 17. 147 „Also Anschauungen muß die Religionswissenschaft haben, wenn sie es zu einem Inhalt bringen soll.“ O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1 (1869), XI. 148 Ebd., XIII.

1. Zum Verhälnis von Theologie und Philosophie

127

Beurtheilung der leitenden Motive und bleibenden Werthe der Dogmen“149. Vorausgehen muss die Philosophie. Nur eine spekulative Theorie, die eine letzte Einheit des Differenten erschließt und den Dualismus in einen Monismus aufhebt, kann die vielfältigen Entzweiungen des Lebens überwinden und neue substantielle Gemeinschaft herbeiführen. Solche philosophische Spekulation ist unumgänglich auf die Religion bezogen und erschließt das religiöse Bewusstsein in Mythen, Symbolen und Vorstellungen durch eine letzte, allumfassende Einheit, der man sich allerdings nur annähern kann. Wird die Theologie aus ihrem wesentlichen Verhältnis zur Philosophie abgetrennt, und eben dies kritisieren Lipsius und Pfleiderer an Albrecht Ritschl und seinen Schülern, dann ist sie in der Gefahr, das Band zwischen Glauben und Wissen, zwischen Theologie und Welterkennen zu zerschneiden. Albrecht Ritschl lehnte die Prolegomena der Dogmatik und insbesondere den religionsphilosophischen Bezug der Theologie als „Vorhof der Heiden“ ebenso ab, wie den Versuch, die Geschichte des Christentums und die Methode der Theologie in Anlehnung an Hegels Geschichtsphilosophie zu bestimmen.150 Damit aber werden in der Sicht der liberalen Jenaer Theologen die Glaubensüberzeugungen, die die Theologie vertritt, für Menschen außerhalb der Glaubensgemeinschaft inkommunikabel und der Zeugnischarakter des christlichen Glaubens, der in seinem Wahrheitsanspruch begründet ist, wird falsifiziert. Vor allen Dingen wird die Wissenschaftlichkeit der Theologie bzw. der wissenschaftlichen Charakter der Dogmatik gefährdet, und die Theologie bringt dich selber um die Möglichkeit, ihren wesentlichen religiösen Gehalt zu präzisieren. Der wissenschaftliche Charakter der Dogmatik besteht in den Augen von Lipsius und Pfleiderer nicht im Gebrauch der Philosophie, aber ohne sie ist eine wissenschaftliche Dogmatik nicht möglich.

149 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (³1896), Vf. 150 M. RADE kennzeichnet Ritschl‘s Ansatz mit den Worten: „Es ging nicht erst durch das Tor einer Philosophie. Die Hegelei hatte Ritschl von sich abgestoßen. Kant wurde erst allmählich sein Helfershelfer, mehr fast als Christ denn als Philosoph. Man kam durch Ritschl sofort in rem.“ DERS., Unkonfessionelles Luthertum, in: ZThK N.F. 18 (1937), 133. Zum Bruch A. RITSCHLS mit F. CHR. BAUR vgl. P. WRZECIONKO, Die philosophischen Wurzeln der Theologie Albrecht Ritschls. Ein Beitrag zum Problem des Verhältnisses von Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert, 1964, 22–24.

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III. Zum Theologieverständnis

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie151 2.1 Der religionsphilosophische Ausgangspunkt der Theologie bei Richard Adelbert Lipsius Die Religionsphilosophie ist für Lipsius der Ausgangspunkt der theologischen Prinzipienlehre, da „in dem eigenthümlich religiösen Verhältnisse des Christenthums das allgemeine religiöse Verhältnis mitgesetzt ist“152. „(D)die Principienlehre hat zuerst das Wesen der Religion überhaupt zu untersuchen und dieselbe im Gegensatze ebensowol zu äußerlich - supernaturalistischen Voraussetzungen wie zu transcendent-metaphysischen Deductionen als Thatsache des menschlichen Geisteslebens zu betrachten.“153

Signifikant für die Religionsphilosophie von Lipsius ist, dass er seine Religionstheorie auf die Psychologie gründet und das entscheidende Gewicht auf eine Analyse der religiösen Strukturen sowie eine Theorie der religiösen Erkenntnis legt.154

151 Zur Genese, zur inhaltlichen Bestimmung und zur Funktion des Religionsbegriffs in der protestantischen Theologie vgl. J. DIERKEN, ‚Religion‘ als Thema Evangelischer Theologie, in: NZSTh 43 (2001), 253–264; E. FEIL, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Begriffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Göttingen 2001; W. PANNENBERG, Wissenschaftstheorie und Theologie, 303–329; F. WAGNER, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in seiner Geschichte und Gegenwart, Gütersloh ²1991, 19–163; J. WALLMANN, Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt, Göttingen 1961, 58ff. Zur Übernahme der Religion als Leitbegriff für positionelle Religionstheologien und die Herausbildung verschiedener religionstheologischer Typen vgl. F. WAGNER, Art. Religion, II. Theologiegeschichtlich und Systematisch-theologisch, TRE 28, 513–545. 152 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 25. 153 Ebd., 25. 154 W. REU hält die Theorie der religiösen Erkenntnis von LIPSIUS für seine wichtigste Leistung auf systematisch-theologischem Gebiet. Vgl. dazu Ders., Die Grundlegung der Dogmatik als Wissenschaft.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

129

2.1.1 Begriff, Ursprung und Wesen der Religion155 Die Grundlage für das Religionsverständnis von Lipsius ist sein Ansatz, die Resultate des theoretischen Welterkennens und die Urteile der sittlich-religiösen Erfahrung miteinander zu einer einheitlichen Weltanschauung zu verbinden und nicht wie Albrecht Ritschl mit seiner Unterscheidung von Seins- und Werturteilen zwischen theoretischem Welterkennen und sittlich religiöser Gewissheit zu trennen. „Ritschl geht davon aus, dass Religion und theoretisches Erkennen ‚entgegengesetzte Thätigkeiten‘ seien ... und kann nicht stark genug gegen die Einmischung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Religion protestiren. Wenn er nun von dem theoretischen Erkennen ‚in der Philosophie wie in den einzelnen Wissenschaften‘ erklärt, dasselbe richte sich auf die allgemeinen Gesetze des Erkennens und Daseins von Natur und Geist ..., dieses Interesse aber als ein anderes bezeichnet, als welches die Religion verfolge, so vermisse ich hier die Anerkennung, dass auch die Theologie als Wissenschaft ein theoretisches Welterkennen erstrebt, dass also ihr Interesse nicht ohne Weiteres in dem der Religion aufgeht.“ 156

Lipsius hält demgegenüber eine „einheitliche Weltanschauung“157 für möglich und notwendig aufgrund der persönlichen Einheit des Ich, das

155 LIPSIUS entwickelt seine Religionstheorie insbesondere durch den Rückbezug auf F. SCHLEIERMACHER, wobei er sich vor allem auf die „Dialektik“ und die erste Auflage der „Reden über die Religion“ bezieht, die er ausführlich rezipiert und interpretiert. Vgl. R. A. LIPSIUS, Studien über Schleiermachers Dialektik, in: ZwTh 12 (1868), 1– 61.113–154; Ders., Schleiermachers Reden über die Religion, in: JPTh 1 (1875), 134– 184.269– 315. Als Sekundärliteratur zur Religionsbegründung und zum Religionsbegriff SCHLEIERMACHERS vgl. J. DIERKEN, Das zwiefältige Absolute. Die irreduzible Differenz zwischen Frömmigkeit und Reflexion im Denken Schleiermachers, in: ZNThG1 (1994), 17–46; D. KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube, Tübingen 2005,62ff.; J. RINGLEBEN, Schleiermachers Wiederentdeckung von „Religion“, in: Ders., Arbeit am Gottesbegriff, Bd. 2, Tübingen 2005, 275–293. 156 R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 41f. Er kritisiert vor allen Dingen RITSCHLS Unterscheidung von Seins- und Werturteilen. Vgl. dazu A. RITSCHL, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3, Bonn 41895, 197: „Das religiöse Erkennen im Christentum besteht in selbstständigen Werturteilen, indem es sich auf das Verhältnis der von Gott verbürgten und von dem Menschen erstrebten Seligkeit zu dem Ganzen der durch Gott geschaffenen und nach seinem Endzweck geleiteten Welt richtet. Das wissenschaftliche Erkennen sucht die Gesetze der Natur und des Geistes aus Beobachtung und unter der Voraussetzung, dass die Beobachtung und die Ordnung derselben gemäß den erkannten Gesetzen des menschlichen Erkennens selbst vorgenommen wird.“ 157 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 2; DERS., Philosophie und Religion (1885), 276.307. In der ersten und zweiten Auflage des Lehrbuchs wird der Begriff „Weltanschauung“ bereits im einleitenden Paragraphen eingeführt. Allerdings meint er dort nicht die

130

III. Zum Theologieverständnis

die Welt einerseits theoretisch erkennt und andererseits als Mittel zur Realisierung seiner sittlich-religiösen Zwecke ansieht. Die theoretische Betrachtung der Welt ordnet die Erfahrung kausal, die sittlich-religiöse bezieht sie hingegen teleologisch auf das sittliche Ich. Als Wurzel bzw. Ursprung der Religion versteht Lipsius somit, anders als Schleiermacher158, nicht das Abhängigkeitsgefühl als solches, sondern das Bewusstsein des Gegensatzes, der zwischen der inneren Freiheit des Menschen und seiner äußeren Abhängigkeit von dem Naturzusammenhang besteht.159 Denn der theoretischen Welterkenntnis zufolge sind wir in den kausalen Mechanismus der Natur integriert, während unsere sittliche Wesensbestimmung die Freiheit impliziert. In der dritten Auflage seines Lehrbuchs der Dogmatik von 1893 hat Lipsius sein Religionsverständnis dahingehend ausdifferenziert, dass er von einer empirisch-wissenschaftlichen, einer metaphysischen und einer dogmatischen Begründung der Religion spricht.160 2.1.1.1 Religion als psychisches Phänomen Für Lipsius muss die Religion als „Thatsache des menschlichen Geisteslebens“ empirisch-psychologisch untersucht, und d.h. zunächst als Phänomen des menschlichen Geisteslebens erfasst werden. Lipsius rückt daher als empirisches Motiv und als Ursprung der Religion das Selbstbehauptungsbedürfnis des Menschen in den Vordergrund. 161 Auf diesem Weg kommt er zu dem Ergebnis, dass „Religion in allen ihren Erscheinungsformen ein persönliches Verhältnis des Hilfe begehrenden Menschen zu einer überweltlichen und übernatürli-

158

159 160 161

einheitliche, mit wissenschaftlichen Methoden aufgebaute Weltanschauung, sondern die vorwissenschaftliche religiöse Weltanschauung. „Mit demselben Rechte wie von einer schlechthinnigen Abhängigkeit könnte man auch von einer schlechthinnigen Freiheit reden. Gemeint ist die im geistigen Wesen des Menschen gelegene Freiheit, vermöge derer er sich über seine endliche Bestimmtheit als Naturwesen … zu erheben vermag.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 28. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), §§ 16–30. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), §§ 18–33, §§ 34–40, §§ 120–127. „Dieser Glaube erwächst also aus praktischen Nöthigungen des persönlichen Subjektes und dient dem praktischen Zwecke der Behauptung und Förderung seines persönlichen Lebens.“ R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 207. LIPSIUS betont mehrfach, dass die Frage nach dem psychologischen Ursprung der Religion nicht identisch ist mit der Frage nach ihrem Wesen. Vgl. Ders., Philosophie und Religion (1885), 199.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

131

chen Macht (ist), mittelst dessen er der begehrten Hilfe theilhaftig zu werden, sein Leben zu schützen und zu behaupten sucht“162.

In allen Arten, Formen und auf allen Entwicklungsstufen der Religion sieht Lipsius drei kennzeichnende Merkmale: „1) der hilfesuchende Mensch, 2) der Glaube an eine übernatürliche Macht, von welcher der Mensch Hilfe erwartet, 3) das eigenthümliche (sei es nun wirkliche, sei es eingebildete) Verhältnis des Menschen zu dieser Macht und das Erlebnis des Menschen in diesem Verhältnisse“163.

Der Grund dafür, dass der Mensch bei einer übernatürlichen Macht Hilfe sucht, liegt „in dem Widerspruche, der zwischen dem Anspruch des Menschen auf Leben ... und seinem Verflochtensein in den Naturzusammenhang“164 besteht. Der Mensch empfindet eine „praktische Nöthigung“165, den das Leben bedrohenden und behindernden Widerspruch zu überwinden. Lipsius führt die Religion somit auf den Anspruch auf Leben bzw. das Streben nach Selbstbehauptung zurück und grenzt seine Religionstheorie damit gegenüber Ritschl ab, dem er vorwirft, „den Ursprung der Religion lediglich auf das sittliche Bewusstsein zu gründen“166 aber auch gegenüber Schleiermacher, bei dem Lipsius die Religion aus „einem einseitig ästhetischen Interesse“ 167 heraus begründet sieht. In dem psychischen Vorgang, durch den sich die Religion verwirklicht, verbinden sich ein rezeptives und ein aktives Moment, das Innewerden des göttlichen Wirkens und der Abhängigkeit, die Frömmigkeit, und die Erhebung des Ich über die Naturbestimmtheit zur Gemeinschaft mit Gott, der Glaube. 2.1.1.2 Der metaphysische Religionsbegriff Von den empirischen Motiven oder Nötigungen als Grund bzw. Ursprung der Religion ist deren innerer Wesensgrund zu unterscheiden. Während die psychologische Betrachtung nur die psychische Erscheinung und den Ursprung der Religion erreicht, bestimmt die metaphysische Betrachtung ihr überempirisches, intelligibles Wesen. Der metaphysische Religionsbegriff ergibt sich als „begriffliche Zusammenfassung des Resultats einer methodischen Untersuchung über den psycho-

162 163 164 165 166 167

R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 26f. Ebd., 27. Ebd., § 23. Ebd., 30. Ebd., 28f. Ebd., 29.

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III. Zum Theologieverständnis

logischen Ursprung der Religion“168, obwohl der metaphysische Religionsbegriff außerhalb der psychologischen Untersuchung der Religion liegt. Er zeigt an, dass die Religion als empirisches Phänomen über sich hinaus weist und in die Metaphysik der Grenzbegriffe gehört.169 Der Übergang von der psychologischen zur metaphysischen Betrachtung vollzieht sich dort, wo die psychologische Untersuchung zu einem Punkt führt, an dem sie über sich hinausweist und um des Verständnisses der Religion willen intelligible Realitäten als Grenzbegriffe postuliert werden müssen.170 Die psychologische Betrachtung der Religion, die den Ursprung der Religion auf den Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Leben und der Verflechtung des Menschen in den Naturzusammenhang zurückführt, kann nicht erklären, warum der Mensch die Nötigung empfindet, die Überwindung des Widerspruchs mit Hilfe einer übernatürlichen Macht zu erstreben. Das Bewusstsein einer intelligiblen Freiheit ist etwas Metaphysisches, sofern sie eine Realität ist, „die in der Reihe empirischer Objekte nicht angetroffen werden kann, weil sie für alle empirischen Freiheitsakte die Voraussetzung bildet“171. Die intelligible Freiheit kann sich nur in der intelligiblen Abhängigkeit von Gott vollziehen, da der Mensch nur in der Abhängigkeit von Gott seine Freiheit von der Welt behaupten kann. Daraus ergibt sich der metaphysische Religionsbegriff, der das Wesen der Religion in einer intelligiblen Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch findet. „Ihrem metaphysischen Wesen nach ist daher die Religion die Erhebung über die empirische Abhängigkeit in der Welt zur intelligibeln Freiheit über sie in der transcendentalen Abhängigkeit von Gott.“ 172

168 R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 213. 169 Vgl. dazu die Ausführungen zur Metaphysik der Grenzbegriffe in Teil Kapitel III, 100ff. 170 „Man muss die intelligible Freiheit etwas Metaphysisches nennen, in demselben Sinne, in welchem nach Kant das ‚Intelligible‘ dem ‚Empirischen‘ gegenüber steht ... Die intelligible Freiheit ist eine Realität, die erlebt, aber nicht im Zusammenhange endlicher Ursachen und Wirkungen erklärt werden kann.“ R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 237. 171 R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 237. 172 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 43.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

133

2.1.1.3 Das dogmatische Religionsverständnis173 Der dogmatische Aspekt im Religionsbegriff führt über die metaphysische Betrachtung hinaus, da er das Verhältnis zwischen göttlichem und menschlichem Geist in einer konkreten Bestimmtheit betrachtet. Hier geht es um die Verwirklichung des Wesens der Religion in einer bestimmten Religion, die nicht auf dem Standpunkt der Wissenschaft, sondern ausschließlich auf dem Standpunkt des jeweiligen Glaubens erfasst werden kann. „Die transcendentale Abhängigkeit von Gott, in welcher allein die intelligible Freiheit wirklich behauptet werden kann, verwirklicht sich ihrer Form nach als ein persönliches Wechselverhältnis zwischen Gott und Mensch.“174

Der dogmatische Aspekt führt die eigentümliche Bestimmtheit des religiösen Verhältnisses auf eine Begründung durch Gott zurück. Der die Religion begründende Akt Gottes ist die Offenbarung, die Religion als Vorgang im menschlichen Geistesleben ist ihr subjektives Korrelat. In einem geistigen Vorgang sind also zwei real unterschiedene Geistesakte, ein göttlicher und ein menschlicher, untrennbar vereinigt. In dieser persönlichen Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott „erlebt der Mensch thatsächlich sein höchstes Gut und wird damit zugleich der Wahrheit seiner Religion persönlich gewis“175. Das Wie dieser Gemeinschaft oder „die Art und Weise des persönlichen Eintretens des göttlichen Geistes ins menschliche Geistesleben“ bleibt „für die empirischpsychologische Forschung ein Mysterium“176. Die erlebbare, aber nicht erklärbare Realität des religiösen Verhältnisses ist und bleibt das Mysterium der Religion. 2.1.2 Religionspsychologie als empirische Wissenschaft In der ersten Auflage seines Lehrbuchs der Dogmatik von 1876 schließt Lipsius aus, dass die Religionspsychologie als empirische Wissenschaft über die Wahrheit der Religion urteilen kann. Er geht allerdings davon aus, dass die Religionspsychologie das „Recht der Religion als ... ein im Wesen des Menschengeistes nothwendig gegründetes Phänomen“177 173 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel III, 2.1.4 Offenbarung und Religion als Wechselbegriffe, 141f. 174 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 44. 175 Ebd., 44. 176 Ebd., 44. 177 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 6; 19.

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III. Zum Theologieverständnis

nachweisen kann. Dabei legt Lipsius eine bestimmte Vorstellung der empirischen Psychologie als Wissenschaft von dem kausalen Zusammenhang psychischer Phänomene zugrunde.178 Die psychischen Phänomene bilden einen Bereich der Erfahrungswelt, der von dem Bereich der äußeren Dinge charakteristisch unterschieden ist.179 Die inneren Erfahrungen unterscheiden sich von den äußeren dadurch, dass in ihr die Vorstellung nicht auf eine räumliche Substanz, sondern auf die beharrliche Einheit des transzendentalen Selbstbewusstseins bezogen wird. Da die psychischen Phänomene aber der – wenn auch inneren – Erfahrungswelt angehören, können sie der kausalen Betrachtung unterworfen werden. Die Eigentümlichkeit der inneren Erfahrung rechtfertigt, dass dies nicht nur in Gestalt der physiologischen Psychologie geschieht, welche die psychischen Phänomene aus den Bewegungen der Materie zu erklären versucht, sondern in einer eigenständigen Wissenschaft vom kausalen Zusammenhang der psychischen Ereignisse. „Die Verknüpfung des Einzelnen mit anderm Einzelnen erfolgt hier ebenso wie beim Naturerkennen nach logischen Gesetzen; im Vorstellungswechsel ebenso wie in der Umsetzung der Gefühle in Vorstellungen und der Vorstellungen in Willensantriebe ist ein ebenso strenger Causalzusammenhang nachweisbar wie in den ‚materiellen‘ Veränderungen der äussern Natur.“180

Lipsius verweist gegen Herrmann, der die erklärende empirische Psychologie auf die physiologische reduzieren will, und sich dafür auf F. A. Lange (1828–1875), W. Wundt (1832–1920) und W. Windelband (1848–1915) beruft, seinerseits auf Langes Lehre vom Vorstellungswechsel.181 Lange erkennt das Recht einer Psychologie an, die den Vorstellungswechsel untersucht. „Man ist aber, indem man sie (die psychologische Untersuchung) anwendet, keineswegs genötigt, die körperlichen Vorgänge als den letzten Grund des Psychischen oder gar als das eigentlich allein Vorhandende zu betrach178 R A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 43-49; Ders., Philosophie und Religion, 45-52; Ders., Lehrbuch (³1893), 12f. 179 „Die Welt der inneren Erfahrung bildet eine eigene Gruppe der Wirklichkeit.“ R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 117. 180 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 13. 181 Vgl. dazu W. HERMANN, Rezension: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von R. A. Lipsius, in: ThStKr 50 (1877), 528. F. A. LANGE veröffentlichte 1873 und 1875 eine erweiterte Fassung seines Hauptwerkes zur Geschichte des Materialismus, das sich nun in Bd. 1 „Geschichte des Materialismus bis auf Kant“ und Bd. 2 „Geschichte des Materialismus seit Kant“ aufteilt. Vgl. dazu Anm. 9. Im dritten Abschnitt des zweiten Bandes setzt sich LANGE mit den Naturwissenschaften und der naturwissenschaftlichen Psychologie auseinander. Vgl. Ders., Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 818-849.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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ten, wie dies der Materialismus tut ... Man kann nämlich die Lehre vom Vorstellungswechsel, d. h. vom Einflusse vorhandener oder neu ins Bewußtsein getretener Vorstellungen auf die nachfolgenden nicht nur theoretisch entwickeln, sondern auch ... auf Experiment und Beobachtung stützen, ohne sich um die physiologische Grundlage weiter zu kümmern.“ 182.

Allerdings urteilt Lange erheblich vorsichtiger als Lipsius und äußert Zweifel daran, ob ein geschlossener kausaler Zusammenhang ohne Berücksichtigung der physiologischen Bedingungen aufgewiesen werden könne. Doch so weit kausale Zusammenhänge aufgezeigt werden können und „die Lehre vom Vorstellungswechsel wirklich empirisch begründet werden kann, hat sie auch Anspruch als Wissenschaft zu gelten“183. Die Psychologie ist somit für Lipsius als Wissenschaft vom Zusammenhang der unmittelbaren inneren menschlichen Erfahrungen eine Disziplin der Geisteswissenschaft. Die Religionspsychologie kann die subjektive Geltung und die objektive Wahrheit des religiösen Lebensverhältnisses zwischen Gott und Mensch so wie die religiösen Urteile nicht erklären oder begründen. 184 Sie kann auch nicht erklären, warum ein Subjekt ein religiöses Urteil als geltend anerkennt. Wenn Lipsius in der der ersten Auflage der Dogmatik fordert, die Religionspsychologie habe zu zeigen, dass die Religion notwendig im Wesen des menschlichen Geistes gegründet sei, kann das auch nicht bedeuten, sie solle den „Geltungswerth“ für das Subjekt „durch eine psychologische Deduction begründen, welche die Nothwendigkeit der Religion aus dem menschlichen Vorstellungswechsel erweise“185. Da der Geltungswert religiöser Urteile nur im Erleben einsichtig wird, kann die Religionspsychologie die Geltung religiöser Urteile nicht logisch erzwingen. Dieser erkenntnistheoretischen Bestimmung der Grenzen der Religionspsychologie steht eine apologetische Bestimmung der Funktion der Religionspsychologie zur Seite. Sie soll den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens rechtfertigen, indem sie nachweist, „dass die vom Christenthum begründete teleologische Weltanschauung mit dem causalen Welterkennen nicht in Widerspruch steht, sondern dass beide einander gegenseitig ergänzen und fordern“ 186. Sie plausibilisiert, dass 182 F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 835. 183 Ebd., 835-842. 184 Es ist unmöglich, „die objective Wahrheit der religiösen Vorstellungen für alle Denkenden zu deduciren.“R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 286. 185 Ebd., 191. 186 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 3. Vgl. dazu auch seine Ausführungen in der ersten Auflage von 1876, wo er die apologetische Funktion der Psychologie bereits hervorhebt: „Gegenüber der modernen Religionsverachtung hat die Psychologie zu zeigen,

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III. Zum Theologieverständnis

der Mensch nur in der christlichen Religion sein Wesen als persönlicher Geist behaupten kann. Denn obwohl sich die subjektive Geltung und die objektive Wahrheit der Religion nur dem erlebenden Subjekt erschließen, kann die Religion zum Objekt theoretischer Erkenntnis gemacht werden, weil sie sich nur als „psychisches Phänomen“ und d.h. in psychischen Vorgängen, die „Objekte der inneren Wahrnehmung“ sind, verwirklichen kann. Zwar besteht der Wert einer religiösen Erfahrung oder Vorstellung nur für das Subjekt, aber „die Vorstellung von diesem Werthe als empirisches Motiv des Handelns ist eine erkennbare Thatsache des menschlichen Geisteslebens“187, und somit ein Faktum, das wissenschaftlich betrachtet werden kann. Die Religionspsychologie kann und soll den psychischen Ursprung der Religion aufzeigen, die Gesetzmäßigkeiten der psychischen Vorgänge, in denen sich Religion verwirklicht, beschreiben und nachweisen, dass sie sich widerspruchslos in den Zusammenhang des menschlichen Geisteslebens einfügen. 2.1.3 Die Psychologie der religiösen Erfahrung und die Theorie der religiösen Erkenntnis Die religiöse Gewissheit gründet in inneren Erfahrungen, in denen reale Verhältnisse zwischen Gott und Mensch unmittelbar gewiss werden. Den religiösen Charakter erhalten die inneren Erfahrungen durch ihre Beziehung auf die Selbstgewissheit des Subjekts. Zur Eigentümlichkeit der religiösen Erfahrung gehört, dass sich in ihr zwei Faktoren verbinden, von denen der eine die Beziehung auf die persönliche Selbstgewissheit und den religiösen Charakter, und der andere die Tatsächlichkeit und Bestimmtheit der religiösen Erfahrung sichert. Der erste Faktor ist der religiöse Trieb, das Erlebnis praktischer Nötigung, sich um der Selbstbehauptung willen über den Naturzusammenhang zu erheben. Der Mensch wagt es, „über die gegenwärtige Erfahrung hinauszugehn und die Überzeugung von einer über das thatsächlich Erfahrene hinausliegenden religiösen Wahrheit sich anzueignen, ...“ 188. Da der Mensch seine Selbstbehauptung als Person gegenüber der Natur nicht aus eigener Kraft durchsetzen kann, braucht er Hilfe, „und zwar übernatürliche, über den ihm bekannten Causalzusammenhang in der Welt

dass der Mensch als ‚endlicher Geist‘ ... sich eben nur durch Religion als ein Ganzes in sich oder als Selbstzweck gegenüber den Hemmungen der Natur, welche er erfährt, aufrechtzuerhalten vermag.“ Ders., Lehrbuch (1876), 31. 187 R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 158. 188 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 48.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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hinausgreifende Hilfe“189. Nur weil der Mensch dieses Hilfsbedürfnis kennt, kann er bestimmte Erfahrungen als Wirkungen einer übernatürlichen, göttlichen Macht identifizieren. Allein durch die praktische Nötigung kann religiöse Gewissheit aber nicht entstehen, weil das Bedürfnis und Streben nach übernatürlicher Hilfe noch nicht die Erfahrung der Hilfe selbst ist. Der religiöse Trieb betätigt sich zwar in der Erhebung zu einer übernatürlichen Macht, aber damit wirkliche religiöse Erfahrung und Gewissheit entsteht, muss der religiöse Trieb durch von ihm unterschiedene Erfahrungen zur Ruhe gebracht und bestimmt werden. Erst dadurch entstehen die „inneren Erfahrungen im religiösen Verhältnisse“190. Sie sind von den praktischen Nötigungen unterschieden, aber ohne sie nicht möglich. Der zweite Faktor der religiösen Erfahrung kann sich an jedem Gegenstand entzünden. In der Terminologie Schleiermachers formuliert Lipsius: „Jedes einzelne Endliche, jede besondere Wahrnehmung ... kann sich zu einem Bilde des Universums entwickeln“ 191. Für die Bestimmtheit einer Religion ist allerdings nicht gleichgültig, worin das Göttliche erfahren wird. Das christliche Prinzip, das „religiöse Verhältnis der Sohnschaft bei Gott“192, kann nur in einem Selbstbewusstsein offenbar und die sittliche Gemeinschaft des Gottesreiches nur durch eine Person gestiftet werden. Im Wort und in der Tat bzw. im Wort und im Bild Jesu erfährt der Christ Gott als seinen Vater. 193 „Indem wir Christum anschauen, schauen wir in Gottes Herz hinein, schauen in ihm leibhaftig und persönlich die ewige Liebe.“ 194 Der zweite Faktor der religiösen Erfahrung hält auf dem Standpunkt der Religionsphilosophie die Möglichkeit offen, dass der Mensch in der religiösen Erfahrung tatsächlich in einer Beziehung zum Göttlichen steht, denn durch den zweiten Faktor geht etwas vom Subjekt Verschiedenes in die religiöse Erfahrung ein. Wenn der religiöse Trieb durch eine Erfahrung bestimmt wird, wird diese Bestimmung in das unmittelbare Selbstbewusstsein reflektiert und als Bestimmtheit des Selbstbewusstseins gefühlt, als bestimmte Förderung oder Behinderung der Selbstbehaup189 Ebd., 33. 190 R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 210.234.290. 191 R. A. LIPSIUS, Schleiermachers Reden über die Religion, in: JPTh 1 (1875), 169. „Anschauen des Universums entsteht, sobald sich der Trieb über alles Endliche hinauszugehen und das Unendliche zu ergreifen mit der Anschauung irgendeines Einzelnen, Besonderen verbindet.“ Ebd., 168. 192 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 160. 193 Ebd., §§ 669-671; §§ 646.654.680. 194 R. A. LIPSIUS, Die Bedeutung des Historischen im Christentume, in: Glauben und Wissen, 111-142, hier: 131.

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III. Zum Theologieverständnis

tung des persönlichen Geistes. Diese innere Anschauung ist keine unmittelbare Wahrnehmung des Göttlichen, denn wir erfahren das Göttliche nur durch Vermittlung eines Endlichen. Daher entstehen die inneren Anschauungen erst durch einen Akt der Phantasie, der „bildenden Anschauung“195, die das anregende Erlebnis bzw. das Endliche, das uns die Erfahrung des Göttlichen vermittelt, zum „Symbol“ 196 des Göttlichen verarbeitet. Da die Phantasietätigkeit von einer Erfahrung des Göttlichen ausgeht, „erschliessen uns“ die „inneren Anschauungsbilder doch wirklich die Sphäre des übersinnlichen Seins“197. Das Gefühl, das unmittelbare Bewusstsein, und die Anschauung, das gegenständliche Bewusstsein, stehen im religiösen Bewusstsein nicht nebeneinander, sondern bilden eine unmittelbare Einheit. Die Anschauung ist ein Moment des Selbstbewusstseins, weil erst durch die Anschauung des Göttlichen, dessen Wirkung das Subjekt erlebt, das Selbstbewusstsein seine eigentümlich religiöse Bestimmtheit erhält. Das Selbstbewusstsein ist ein Moment der Anschauung, weil Gott im ursprünglichen religiösen Bewusstsein nicht an sich, sondern in seiner Beziehung auf das Subjekt angeschaut wird. Wenn das Wesen des religiösen Bewusstseins im Gefühl aufginge, könnten die religiöse Vorstellung und deren Aussagen nur aus Reflexionen über das religiöse Bewusstsein hervorgehen. So führt Schleiermacher in der zweiten Auflage der Glaubenslehre selbst die Gottesvorstellung, die er als „die ursprünglichste Vorstellung ... mit welcher wir es hier zu tun haben“ 198 bezeichnet, auf eine Reflexion – allerdings auf die unmittelbarste Reflexion – über das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl zurück. Doch da für Lipsius im religiösen Bewusstsein mit dem Gefühl eine Anschauung verbunden ist, treten die „Abstractionen aus den religiösen Anschauungen“ als zweiter Ursprung der religiösen Vorstellungen neben die „Reflexionen über die frommen Gefühle“.199 Objekt der religiösen Vorstellung und der religiösen Aussage ist die Relation, in welcher das Selbstbewusstsein zum Gottesbewusstsein und durch dieses zum

195 „Jedes religiöse Gefühl ist daher immer zugleich von einer religiösen Anschauung oder von einem Acte der bildenden Phantasie, als unmittelbarer innerer Bethätigung des religiösen Triebes begleitet.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 53. 196 Ebd., 53, 60. 197 Ebd., 54. 198 F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube (²1830), § 4.4, 30. 199 R. A. LIPSIUS, Schleiermachers Reden über die Religion, in: JPTh 1 (1875), 274. „Jedes religiöse Gefühl ist daher immer zugleich von einer religiösen Anschauung oder von einem Acte der bildenden Phantasie, als unmittelbarer innerer Bethätigung des religiösen Triebes begleitet.“ Ders., Lehrbuch (³1893), 53.

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Weltbewusstsein steht. Das subjektive Element darin kann nie eliminiert werden, ohne dass ihr spezifischer Charakter verloren würde. Das religiöse Erkennen ist somit „seinem Wesen nach ein Selbsterkennen, ein Wissen um uns selbst in einer bestimmten Relation, und ein objektives Erkennen nur in der Relation des Objektes auf das menschliche Selbstbewusstsein“200. Die religiöse Vorstellung entsteht dadurch, dass die religiöse Anschauung von der ursprünglichen Einheit mit dem religiösen Gefühl getrennt wird. In dieser Trennung vom religiösen Gefühl liegt der Grund für die Inadäquatheit der religiösen Vorstellung. „In der unmittelbaren Einheit von Anschauungsbild und Gefühlsbestimmtheit ist jenes immer ein subjectiv angemessener Ausdruck einer thatsächlichen religiösen Erfahrung und insofern vollkommen wahr, aber auch nur so lange, als beides voneinander nicht losgelöst, also die Gemüthsbestimmtheit des frommen Subjects im religiösen Verhältnis noch nicht zu einer theoretischen Aussage über das religiöse Object für sich ausgeprägt ist.“201

In der unmittelbaren Anschauung ist Gott für den Menschen derjenige, der jetzt auf diese Art und Weise zu ihm in Beziehung tritt. Die Anschauung ist Ausdruck der jeweiligen Beziehung zwischen Gott und Mensch, sie nimmt Gott wahr, wie er in dieser Beziehung ist. „Seine bestimmte Gestalt und Farbe erhält dieses Anschauungsbild aber immer durch den bestimmten Moment, in welchem das religiöse Bewusstsein des Menschen erregt ist; es drückt also einen bestimmten Moment der religiösen Erfahrung des Subjects aus … Werfe ich nun aber diese Beziehung auf das Subject und auf den bestimmten Moment seiner religiösen Erfahrung hinaus und fixiere das Anschauungsbild in der Erinnerung für sich, so wird es nothwendig inadäquat. Es gilt dann als Bild eines übersinnlichen Gegenstandes für sich, während es doch ursprünglich nur die Anschauung bezeichnet, welche dem Subject in einem bestimmten Moment seines Lebens von der Art und Weise entstand, wie es von diesem Gegenstande afficiert wurde.“ 202

Die Vorstellung verallgemeinert die Anschauungen zu Aussagen über Gott an sich, was bzw. wie er ewig, schlechthin und abgesehen von seiner Beziehung zum Menschen ist. Wird Gott vom Menschen im religiösen Erlebnis als persönlicher Gott erfahren, stellt er sich dem Menschen in seinen Wirkungen als Person dar. Wenn der Mensch sich in dieser Erfahrung die Anschauung von Gott als Person bildet, ist das angemessen. Die Angemessenheit wird nach Lipsius erst dann aufgehoben, 200 R. A. LIPSIUS Lehrbuch (³1893), 57. 201 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 69. 202 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 60.

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wenn sie sich in eine Vorstellung von Gott an sich verwandelt, denn dann entsteht ein Widerspruch zwischen der Geistigkeit und Unendlichkeit Gottes auf der einen und der Sinnlichkeit und Endlichkeit des Bildes auf der anderen Seite. Gott wird nicht in seinem An-sich-Sein erkannt, sondern nach seiner den Menschen unmittelbar innerlich affizierenden Wesenheit. Wenn somit religiöse Aussagen nur Gottes Wirkungen auf uns, wie sie sich in unserem Bewusstsein abspiegeln, ausdrücken, muss jedoch berücksichtigt werden, dass Gottes Wirkungen in seinem Wesen begründet sind. Insofern verweisen die religiösen Aussagen indirekt auf das An-sich-Sein, in dem die Wirkungen Gottes und seine Beziehung zu uns begründet sind. Vollzogen werden diese religiösen Vorstellungen und Erkenntnisse durch die bildende Anschauung oder die produktive Einbildungskraft, die überall tätig ist, wo die direkte Erfahrung überschritten werden muss. Religiöse Erkenntnis hat immer einen symbolischen, bildlichen Charakter und bringt doch zugleich die innere Erfahrung eines Übersinnlichen zum Ausdruck, deren Stempel sie trägt. Solange die unmittelbare Einheit von Gefühlsbestimmtheit und Anschauungsbild andauert, haben wir in dieser Anschauung immer einen subjektiv angemessenen Ausdruck der religiösen Erfahrung, sobald sie sich aber voneinander lösen und das eigentümlich tingierte Bild in der Erinnerung als theoretische Aussage für sich auftritt, ist es in Bezug auf den gemeinten übersinnlichen Gegenstand notwendigerweise inadäquat. Der Widerspruch zwischen dem geistigen, unendlichen Gehalt und der sinnlichen, endlichen Form, der die religiöse Vorstellung, die aus der Einheit mit dem religiösen Gefühl herausgelöst ist, charakterisiert, weckt das Bedürfnis nach einer Läuterung und Vergeistigung, um den geistigen Gehalt der religiösen Vorstellung angemessener zur Geltung bringen zu können. Mit „Läuterung“ ist die kritische Seite des Prozesses hervorgehoben bzw. die approximative Beseitigung der sinnlichen Form betont. Der Begriff „Vergeistigung“ stellt den positiven, spekulativen Aspekt heraus und vollzieht die approximative Reformulierung des geistigen Gehalts in geistiger Form. Die Läuterungs- und Vergeistigungsprozesse sind in die Entwicklung des geistigen Lebens überhaupt eingebunden, da bestimmte Widersprüche erst zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung erkannt werden. Zudem kann eine veraltete Vorstellungsform auf die Dauer nicht gegen die geistige Entwicklung festgehalten werden.203 Allerdings darf die Differenz zwischen dem geistigen Gehalt und der sinnlichen Form der religiösen Vorstellung nicht restlos beseitigt, und ihre Bildlichkeit nicht vollständig auf203 Vgl. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), §§ 26 und 74.

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gehoben werden, wenn man sich nicht mit den leeren Formeln der wissenschaftlichen Metaphysik, die den wirklichen Gehalt der religiösen Vorstellungen nicht erreichen, begnügen will.204 Die Läuterung und Vergeistigung gelingt nur approximativ. Auch die wissenschaftliche Explikation der religiösen Vorstellung kann sich von der Bildlichkeit nicht lösen. Wenn sich die Dogmatik nicht in unauflösliche Aporien verstricken will, muss sie sich der Bildlichkeit ihrer Aussagen bewusst bleiben und sich davor hüten, die Bilder wie Begriffe und die bildlichen Aussagen wie adäquat theoretische zu behandeln.205 Wenn die religiösen Vorstellungen und Erkenntnisse die in ihnen enthaltene notwendige Bildlichkeit und das notwendige subjektive Element reflektieren, kann es dahin kommen, dass ganz derselbe religiöse Gehalt, der in überlieferten Formen zum Ausdruck kam, sich in das Bewusstseinsmaterial einer neuen Weltanschauung hineinarbeitet. 2.1.4 Offenbarung und Religion als Wechselbegriffe Das dogmatische Verständnis einer bestimmten Religion führt die eigentümliche Bestimmtheit des religiösen Verhältnisses mitsamt der religiösen Erfahrung und Erkenntnis auf eine Begründung durch Gott zurück. Der die Religion begründende Akt Gottes ist die Offenbarung, die Religion selber hingegen als Vorgang im menschlichen Geistesleben ist ihr subjektives Korrelat. „Die Religion ist der Erkenntnisgrund der Offenbarung, die Offenbarung der Realgrund der Religion.“ 206 Für Lipsius stellt sich somit die Religion als eine Wechselbeziehung des göttlichen und menschlichen Geistes dar. Ein göttlicher Geistesakt, die Offenbarung als Selbstbeziehung Gottes auf den Menschen, und ein menschlicher Geistesakt, die Religion als Selbstbeziehung des Menschen auf Gott, sind in ein und demselben geistigen Vorgang im menschlichen Geistesleben miteinander vereint. Dabei bleibt es eine offene Frage, wie genau die Unterscheidung und Vereinigung des göttlichen und menschlichen Geistesaktes gedacht werden können. 204 „Diese durchgängige Bildlichkeit aller unserer Aussagen über transcendentale Objekte ist die charakteristische Form aller unserer religiösen Erkenntnis.“ R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 303. 205 „Demgegenüber müssen wir uns immer bewusst bleiben, dass wir über die Bildlichkeit alles unseres Vorstellens übersinnlicher Wahrheiten niemals hinauskommen.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch, ³1893, 61. Wo mit dem Bildlichen so umgegangen wird wie mit Begriffen und theoretischen Aussagen, macht die Dogmatik einen Fehler, der auch zu dogmatischen Meinungsstreitigkeiten führt. Vgl. dazu Ders., Philosophie und Religion, 303. 206 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 96.

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„Das Problem aber, welches die strenge Fassung der religiösen Bewusstseinsaussage uns aufgiebt: ein göttlicher Geistesact und ein menschlicher Geistesact, beide real unterschieden und doch beide in Einem und demselben geistigen Vorgange im menschlichen Geistesleben untrennbar vereinigt, dies ist das Grundproblem des religiösen Vorgangs überhaupt oder das religiöse Mysterium.“207

Offenbarung und Religion sind somit Wechselbegriffe, die nur miteinander Realität haben und ein und dasselbe Verhältnis innerhalb menschlichen Geistesleben nach zwei verschiedenen Seiten hin bezeichnen. Die Offenbarung ist der objektiv-göttliche Grund, die Religion die subjektiv-menschliche Folge. Von Offenbarung kann „ohne jene innere Nöthigung zur religiösen Erhebung“208 nicht gesprochen werden. Alles, was in Natur und Geschichte an Gottesoffenbarungen vorkommt, hat seinen „specifischen Geltungswerth immer erst auf Grund einer Selbstbeurkundung Gottes im Gemüthsleben des Frommen, welche ihm das Verständnis jener äussern Offenbarung erschliesst und durch die Macht, welche sie über das Gemüth des Gläubigen ausübt, ihm die Wahrheit jener Offenbarungen verbürgt“209.

Daraus ergibt sich für Lipsius die sachliche Priorität der inneren Offenbarung vor der äußeren. In seinem Verständnis der Wechselseitigkeit von Offenbarung und Religion innerhalb des religiösen Vorgangs spiegelt sich die generelle Problemlage einer Verhältnisbestimmung von Natur und Geist. Es wird deutlich, dass Lipsius diese beiden Größen wechselseitig aufeinander bezogen sehen möchte und darin den Weg sieht, dass jeweilige Offenbarungsverständnis des Supranaturalismus und des Rationalismus zu überwinden.210 2.1.5 Die (Entwicklungs-)Geschichte der Religion Die Aufgabe der Religionsphilosophie als fundamentaltheologischer Disziplin fixiert Lipsius auf das psychologische Verständnis der Gesetze des religiösen Lebens und seiner geschichtlichen Entwicklung. Die religionspsychologische Betrachtung muss durch die religionsgeschichtliche ergänzt werden, weil das Christentum als die wirkliche Religion ein Gemeinschaftsphänomen ist bzw. weil „alle Religionen zugleich die Überzeugung eines nicht blos für den Einzelnen, sondern

207 208 209 210

R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 95. Ebd., 93. Ebd., 93. Ebd., 94.

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allgemein gültigen Verhältnisses des Menschen zu Gott und allgemein giltiger göttlicher Ordnungen, welche dieses Verhältnis regeln, in sich schliesst“211. Wie die Religionsgeschichte sich äußerlich entwickelt, von den Familien- und Stammesreligionen zu den Volksreligionen, so gibt es auch eine innere Entwicklung.212 Von der Naturreligion führt die Entwicklung über die mythologische Religion zur ethischen Religion und zum Glauben an die Geistigkeit Gottes. „Die geschichtlich gegebene Verschiedenheit religiöser Entwicklungsstufen ist aus dem Wesen der Religion selbst oder aus einer verschiedenen Bestimmtheit des inneren Verhältnisses des Gottesbewusstseins zu dem Selbst- und Weltbewusstsein des Menschen zu erklären.“213

Der anfängliche Polydämonismus geht über in einen Polytheismus und Monotheismus, und von dem bloßen Bewusstsein der göttlichen Macht kommt es zur Anerkennung der Intelligenz und sittlichen Vorbildlichkeit und schließlich zum Vertrauen auf die Erlösung und Versöhnung Gottes. Die psychologische Erfassung der Religion als Phänomen des menschlichen Geisteslebens bzw. als Versöhnung von Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl, führt zu einem Verständnis der Religionsgeschichte als Entwicklungsgeschichte. Das religiöse Verhältnis zu Gott ändert sich dementsprechend und gipfelt in Vertrauen und Liebe sowie im Streben nach Gemeinschaft mit Gott. Das grundlegende Prinzip des Christentums als Höhepunkt der religionsgeschichtlichen Entwicklung ist für Lipsius das religiöse Verhältnis der Sohnschaft bei Gott, in dem an die Stelle des Gegensatzes zwischen Gott und Mensch die Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott als unmittelbar persönliche Gegenwart des göttlichen Geistes im menschlichen Geist getreten ist.214 211 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), §§ 110–111. 212 Ebd., §§ 144–145. LIPSIUS orientiert sich bei der Skizzierung der Entwicklung u.a. an PFLEIDERERS Erstlingswerk über die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte (1869), an der zweiten Auflage von PFLEIDERERS Religionsphilosophie (1884), sowie an den Vorlesungen über den Ursprung und die Entwicklung der Religion des Religionswissenschaftlers M. MÜLLER (Vorlesungen über den Ursprung und die Entwickelung der Religion, Deutsche Ausgabe, Strassburg 1880). Vgl. dazu auch die weiteren Literaturhinweise, die LIPSIUS im Rahmen seiner Überlegungen zur Religionsgeschichte in § 144 der dritten Auflage seines Lehrbuchs der Dogmatik (1893) gibt. 213 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 85. 214 Im Zusammenhang mit der Christologie betont LIPSIUS „die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu als solcher und des in ihm verkörperten religiösen Prinzips …“, das allerdings nicht, wie er bei BIEDERMANN zu erkennen meint, an die Stelle Jesu treten dürfe, so dass nicht mehr die Christologie, sondern die Lehre von den Gnadenmitteln im Mittelpunkt stehe. Vgl. dazu R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 547.

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In enger Beziehung zum königlichen Amt Christi wie zur Rechtfertigungslehre ist für Lipsius das „eigentümliche religiöse Prinzip des Christentums ... das vollkommene Verhältnis der Sohnschaft oder Kindschaft bei Gott“, wobei die christliche Religion aufgrund „der versöhnenden und erlösenden Gnade“, „den Charakter der vollkommenen Versöhnungs- und Erlösungsreligion erhält“.215 Als solche schließt sie zugleich die Zugehörigkeit zum Gottesreich in sich. Somit ist das christliche Prinzip die Vollendung der religiösen Idee des Menschen als eines über seine endliche Naturbestimmtheit in der Welt zur Freiheit über sie in die Gottesgemeinschaft gelangenden Wesens. In der Liebeseinheit mit Gott weis sich der Mensch zugleich dem überweltlichen Gottesreich zugehörig und betätigt sich aufgrund der Gewissheit dieser Zugehörigkeit an der Verwirklichung des Liebeswillens Gottes in der Welt durch sittliche Arbeit am Reich Gottes.216 Lipsius will das christliche Prinzip und seine Wirksamkeit keinesfalls nur zufällig und äußerlich mit Christi Person und Werk verbunden wissen, so als wäre Jesus nur der zufällige erste Vertreter des Prinzips oder sein Wirken nur der äußere Anlass zur symbolischen Darstellung der allgemeinen Wirksamkeit dieses Prinzips in der Menschheit. Die religiöse Bedeutung der Person Jesu liegt nach Lipsius darin, dass er nicht nur das erste Individuum ist, welches das neue religiöse Verhältnis der Gottessohnschaft realisiert, sondern zugleich das persönliche Haupt der christlichen Gemeinde, das die Einzelnen in die Gemeinschaft seines Verhältnisses zum Vater aufnimmt und sie dadurch zur Einheit eines von seinem Geist bestimmten Gesamtlebens verbindet. Als Kerngedanke der religionsgeschichtlichen Überlegungen bei Lipsius ist aber auch auszumachen, dass er die grundlegende Positivität des Christentums betont. „Das Christentum als geschichtliche Religion ist der Glaube an die geschichtliche Offenbarung Gottes in Jesus Christus, dem Sohne Gottes und Erlöser der Menschen.“217

Dieses wird ohne den Glauben nicht aus der religionsgeschichtlichen Entwicklung fassbar, so dass die Theologie nicht in Religionsgeschichte überführt werden darf.

215 Ebd., 587.589. 216 „Sein Sohnschaftsverhältnis zum himmlischen Vater vermittelt also der Gemeinde der Gläubigen die Verwirklichung ihrer eigenen sittlich-religiösen Bestimmung, das Reich Gottes immer vollkommener darzustellen.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 128. 217 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 124.

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2.1.6 Die Aufgabe und die Wissenschaftlichkeit der Dogmatik In der Aufgabenstellung der Dogmatik spiegelt sich für Lipsius eine grundlegende Bipolarität in der Aus- und Zielrichtung der Theologie. „Die christliche Dogmatik ist die wissenschaftliche Darstellung des christlichen Glaubens vom Standpunkte des christlichen Glaubens aus und für die Genossen dieses Glaubens, zum Zwecke gemeinsamer Verständigung über den Inhalt desselben und über den diesem Inhalt angemessensten gedankenmässigen Ausdruck.“218

Die Theologie soll einerseits ihre Selbstständigkeit als theologische Wissenschaft begründen und im Wissenschaftskanon verankert sein, andererseits hat sie die Darstellung des christlichen Glaubens vom Standpunkt des Glaubens aus zu leisten. Um diese doppelte Aufgabenstellung zu erfüllen, muss die Dogmatik eine einheitliche religiöse Weltanschauung aufbauen, die zudem durch das Interesse an der Einheit der Erkenntnis sowie den praktischen Nötigungen des sittlichen und religiösen Bewusstseins gefordert ist. Der Charakter dieser einheitlichen religiösen und wissenschaftlichen Weltanschauung wird insofern durch Positionalität mitbestimmt, als die praktischen Nötigungen und die religiösen Erlebnisse als Ausgangspunkt der Gesamtsicht anerkannt oder verworfen werden können, wie beispielsweise durch eine rein materialistische Weltanschauung. Die wissenschaftliche Form der einheitlichen Weltanschauung besteht darin, dass diese die logischen Regeln beachtet und sich in einen Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Erkenntnis setzt. Ein solcher Anknüpfungspunkt sind die Grenzbegriffe der wissenschaftlichen Erkenntnis. Eine rein materialistische Weltanschauung versteht die letzten Zusammenhänge „dem blinden Mechanismus der Erscheinungen analog“. Dieser Annahme tritt wissenschaftlich mit völlig gleichem Recht der Glaube gegenüber, „dass dieselben in Analogie mit der persönlichen Thätigkeit des lebendigen Ich zu verstehen, also auf ein zwecksetzendes Prinzip zurückzuführen seien“. Eine religiös-sittliche Weltanschauung legt somit die Grenzbegriffe in Analogie zur persönlichen Tätigkeit bzw. zum persönlichen Bewusstsein aus, wenn sie nicht bei den logischen Formeln stehen bleibt und diese zum Subjekt hypo218 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 1. M. HÜTTENHOFF arbeitet den Gebrauch des Begriffs „Weltanschauung“ und dessen inhaltliche Ausdifferenzierung bei LIPSIUS heraus. Ders., Erkenntnistheorie und Dogmatik, 202ff. Er weist allerdings nicht darauf hin, dass LIPSIUS diesen Begriff von K. SCHWARZ und A. SCHWEIZER übernimmt. SCHWARZ stellt in seiner Studie zur Theologiegeschichte des frühen 19. Jahrhunderts die Herkunft und den Gebrauch des Begriffs der „Weltanschauung“ bei SCHWEIZER dar. Vgl. dazu K. SCHWARZ, Zur Geschichte (³1864), 479ff.

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stasiert. Insofern hat der „materialistische Monismus … keine Ursache, sich über den teleologischen Glauben zu erheben“. 219 Für eine einheitliche religiöse Weltanschauung ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass sie in praktischen Nötigungen gründet und die letzte Ursache in Analogie zum menschlichen Bewusstsein versteht, die Vereinigung kausaler und teleologischer Betrachtung. Es sind „dieselben empirischen Objekte, welche wir das einmal auf Grund religiöser Nöthigungen unter den teleologischen Gesichtspunkt stellen, das anderemal im Dienste der Wissenschaft in ihren causalen Beziehungen auffassen“ 220. Die Notwendigkeit, die teleologische und kausale Betrachtung miteinander zu verknüpfen, ergibt sich aus der Einheit des Ich, der Einheit des Geisteslebens und der in dieser Einheit begründeten Einheit der Erfahrungswelt. Lipsius betont insbesondere in seinem Diskurs mit Wilhelm Herrmann, dass die Dogmatik ihre Aufgabe, den religiösen Gehalt des christlichen Glaubens darzustellen, nur erfüllen kann, wenn sie eine einheitliche Weltanschauung aufbaut. Das Kernargument in der Auseinandersetzung ist für Lipsius, dass eine Dogmatik, die sich auf die teleologische Perspektive beschränkt, nur den „Geltungswerth“ der religiösen Vorstellungen „für den Frommen“ darstellen kann. Doch dieser Wert bzw. die Werturteile beruhen ihrerseits auf Seinsurteilen, die wiederum auf den Gebrauch der Kategorien der Kausalität nicht verzichten können. Soll das Verhältnis Gottes zur Welt oder das Verhältnis des Christen zur Welt gedacht werden, muss von der Kausalitätskategorie gebracht gemacht werden, da Gott nur dann die zwecksetzende Willensmacht sein kann, wenn er kausale Macht über die Welt hat.221 Die Verknüpfung der beiden Sichtweisen wird dadurch ermöglicht, dass die Grenzbegriffe beiden Sphären angehören. In der rein wissenschaftlichen Erkenntnis werden sie formal bestimmt, in der religiösen unter Gebrauch der Phantasie in Analogie zum menschlichen Bewusstsein. Da das Absolute, die unbedingte Ursache, in der religiösen Erkenntnis als zwecksetzend vorgestellt wird, gewinnen diese Begriffe „hier noch eine ganz andere Bedeutung als für das rein theoretische Erkennen“222. Zu der Verknüpfung der teleologischen und kausalen Betrachtung gehört auch, dass die Zwecksetzung sich nicht außerhalb der kausalen Beziehungen verwirklicht, sondern in ihnen als immanente 219 R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 111. 220 Ebd., 124. 221 R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 113-198, insbesondere: 168 und 192; Ders., Dogmatische Beiträge, 30–59. Vgl. dazu W. HERRMANN, Rezension: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von R. A. Lipsius, in: ThStKr 50 (1877), 521– 554. 222 R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 127.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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Teleologie. Die Zweckmäßigkeit muss als der Welt immanent gedacht werden. Das Ganze ist einem Zweck untergeordnet, dem die kausalen Beziehungen des einzelnen dienen. „Die causalen Zusammenhänge gewinnen theologische Bedeutung, ohne dass darum der Causalzusammenhang geleugnet oder die teleologische Weltbetrachtung einfach an die Stelle der causalen gesetzt würde.“223

Die Annahme einer immanenten Teleologie kann allerdings „vom Standpunkt exacter Forschung nur den Charakter einer wenn auch sehr wahrscheinlichen Hypothese beanspruchen“ 224. Sehr wahrscheinlich deshalb, weil nach der Überzeugung von Lipsius jede Gesamtauffassung des Naturzusammenhangs, insbesondere des Organischen, fast unvermeidlich zu den metaphysischen Grenzbegriffen führt und damit auch zu theologischen Begriffen.225 Die Dogmatik hat, im Unterschied zur Religionsphilosophie, der grundlegenden Positivität des christlichen Glaubens Rechnung zu tragen, und setzt „die objective Realität des religiösen Verhältnisses und die maassgebende Geltung der christlich-religiösen Weltanschauung für die kirchliche Gemeinschaft“ 226 voraus. Sie vollzieht die Darstellung des christlichen Glaubens in einer „wissenschaftliche(n) Verarbeitung des Dogma(s)“, und ihre Aufgabe ist die „Erhebung des unmittelbaren Glaubensbewusstsein der Kirche durch kritische Verarbeitung ihrer Lehrüberlieferung in die Form wissenschaftlich durchgebildeter Glaubenserkenntnis“227. In seiner Theorie der religiösen Erkenntnis hat Lipsius gezeigt, dass das Wesentliche am Dogma sein religiöser Gehalt ist, der von der Gestalt bzw. Form zu unterscheiden ist. Diesen religiösen Gehalt hat die Dogmatik darzustellen.228 Dabei sind in Bezug auf den religiösen Gehalt ein geschichtliches und ein ideelles Moment zu unterscheiden, die allerdings nicht voneinander getrennt werden dürfen. Die geschichtliche Seite im religiösen Gehalt liegt in der Beziehung des Glaubens auf die Offenbarung und ursprüngliche Verwirklichung des christlichen Prinzips in Jesus Christus. Die ideelle Seite ist das christliche Prinzip, „das dem Christentum eigene religiöse Grundver-

223 Ebd., 127. 224 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 206. 225 LIPSIUS gebraucht in diesem Kontext vor allem den Begriff ‚Entwicklung‘. „Ueberall, wo man von Entwicklung redet, ist, auch wenn man diesen Begriff rein mechanisch zu fassen versucht, die ausschliesslich mechanische Weltanschauung thatsächlich aufgegeben.“ Vgl. Ders., Lehrbuch (³1893), 206. 226 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 8. 227 Ebd., 7. 228 Vgl. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 206; (²1879), 210; (³1893), 248.

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III. Zum Theologieverständnis

hältnis zwischen Gott und Mensch“ 229. Der ideelle Gehalt des christlichen Prinzips darf nicht von der geschichtlichen Seite abgelöst werden. Zum einen wird die Erkenntnis des christlichen Prinzips nur durch die geschichtliche Grundtatsache vermittelt. Zum anderen ist geschichtliche Grundtatsache auch Gegenstand der Darstellung in der Dogmatik, da sie wesentlich zum Glauben der christlichen Gemeinschaft hinzu gehört. Zudem geht die Verwirklichung des christlichen Prinzips von der geschichtlichen Offenbarung in Jesus Christus und der ursprünglichen Verwirklichung des Prinzips in ihm aus. Die Wissenschaftlichkeit der Dogmatik ist dadurch gegeben, dass sie die formale Logik auf Begriffe, Aussagen und deren Verknüpfungen anwendet.230 Auf dieser Basis prüft sie die überlieferten Lehrsätze, „ob und inwieweit sie auch ein richtiger und treuer Ausdruck der religiösen Antriebe und Erfahrungen sind, auf denen sich der Glaube erbaut“ sind und beurteilt sie nach „dem in ihnen ausgedrückten religiösen Grundverhältnisse oder religiösen Principe“.231 Dies impliziert auch die materiale Kritik und die Reformulierung des Inhalts des christlichen Glaubens als Dienst für die Kirche und die Gläubigen.232 Die Dogmatik kann ihre wissenschaftliche Aufgabe nicht vollenden, sondern sich nur einer Vollendung annähern, weil der Widerspruch zwischen den formalen metaphysischen und den bildlichen religiösen Aussagen nicht restlos beseitigt werden kann. Die Bildlichkeit religiöser Vorstellungen und dogmatischer Aussagen steht in einem letztlich unaufhebbaren Gegensatz zur Geistigkeit und Übersinnlichkeit ihres Inhaltes. 233 Doch die Dogmatik kann und darf weder das Bildliche noch das Metaphysische aufgeben. Wenn sie die dogmatischen Aussagen von allen bildlichen Momenten reinigte und nur die metaphysischen festhielte, ginge die Fülle des religiösen Geistes verloren. Im umgekehrten Falle gäbe sie die Weltüberlegenheit Gottes auf, wenn sie die metaphysischen Mo229 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 127. Inhaltlich bestimmt LIPSIUS die Beziehung als „Verhältnis der Sohnschaft mit Gott“, „Gotteskindschaft“ oder die „reale Lebensund Liebeseinheit des Menschen mit Gott“. Ebd., §§ 160. 566. 684. 230 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 2. 231 Ebd., 2; 70. 232 Der Inhalt des Glaubens ist „auf seinen treuesten und reinsten Ausdruck zu bringen, also diesen Glauben nicht blos in seinem vollständigen Zusammenhange zu entwickeln, sondern auch in die seinem geistigen Gehalte entsprechende Form zu kleiden, und dadurch auf jeder Stufe geistiger Gesamtentwickelung sich seines Besitzes immer aufs neu zu versichern.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 3. 233 „Die Lösung dieser Antinomie ist bei der Uebersetzung der religiösen Erfahrungstatsachen in Verstandesbegriffe überhaupt nur annäherungsweise erreichbar. Diese Begriffe müssen stets incongruent bleiben, weil der Verstand immer nur mit endlichen Grössen zu rechnen vermag.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 95f.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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mente ausschiede. Daher muss die Dogmatik einen annäherungsweisen Ausgleich dieses Gegensatzes suchen und ist als approximative Wissenschaft zu begreifen und zu bezeichnen.234 2.2 Die religionsphilosophische und religionsgeschichtliche Grundlegung der Theologie bei Otto Pfleiderer Für Otto Pfleiderer ist die Religionsphilosophie „die Quintessenz des deutschen Protestantismus auf theoretischem Gebiet, die legitime Tochter der deutschen Reformation“235. Daher muss die Theologie religionsphilosophisch verankert werden. Er nimmt zwei Grundlinien der deutschen Religionsphilosophie an, eine analytisch-kritische, die von Lessing, Kant und Schleiermacher bestimmt wird, und eine historischsynthetische, die von Herder, Schelling und Hegel geprägt ist. Beide müssen zusammengeführt werden. Es gilt von Schleiermacher „die Feinheit der der psychologischen Beobachtung und die Schärfe der dialektischen Analyse, von Hegel die Freiheit der geschichtlichen Betrachtung und die Produktivität der spekulativen Synthese“236 aufzunehmen. Diese wesentliche Aufgabe der Theologie hatte nach Pfleiderer bereits Schelling erkannt, der ebenfalls die Verbindung der spekulativen und historischen Konstruktion des Christentums verlangte. 237 2.2.1 Religion auf der Basis der Psychologie In seinem ersten Werk über das Wesen und die Geschichte der Religion von 1869 sieht sich Pfleiderer zunächst vor die Aufgabe gestellt, die Religion als Form des geistigen Lebens, als „psychologische Thatsache“ 238 zu verstehen. In Analogie zu Lipsius geht er von einer psychologischen

234 LIPSIUS lässt in seinen Studien zur Dialektik von SCHLEIERMACHER erkennen, dass er diesem das approximative Wissenschaftsverständnis verdankt. Vgl. dazu R. A. LIPSIUS, Studien über Schleiermacher’s Dialektik, in: ZwTh 12 (1869) 7.42f.145f.154. 235 O. PFLEIDERER, Die deutsche Religionsphilosophie, 5. „Das Gemeinsame, was allen diesen Religionstheorien zu Grunde liegt, ist es nicht offenbar eben jener Kerngedanke des Luther’schen Tiefsinns, daß der Glaube unser Leben in Gott und Gottes Leben in uns sei?“ Ebd., 9. 236 O. PFLEIDERER, Die deutsche Religionsphilosophie, 20. 237 „Was schon zu Anfang dieses Jahrhunderts der jugendliche Schelling als die allein wahre Idee der Theologie erkannte: ‚Verbindung der spekulativen und der historischen Construktion des Christenthums‘ genau das ist durch den ganzen seitherigen Gang unserer Wissenschaft, … als ihre wesentliche Aufgabe in der Gegenwart erwiesen worden.“ O. PFLEIDERER, Die deutsche Religionsphilosophie, 20. 238 O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, XI.

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III. Zum Theologieverständnis

Grundlegung der Religionsphilosophie aus, wie auch der Aufriss seines Werkes belegt. Der erste Teil trägt die Überschrift: „Das Wesen der Religion als eines menschlichen Verhaltens (Psychologie der Religionsphilosophie)“239. Zentraler Aspekt seiner Bestimmung des psychologischen Wesens der Religion ist, dass er weder ein ausschließliches Freiheitsbewusstsein noch ein ausschließliches Abhängigkeitsbewusstsein zur Grundlage machen will, wie er es einerseits bei Fichte und Feuerbach, und andererseits bei Schleiermacher zu finden meint.240 Seine eigene Lösung sieht vor, die beiden Seiten gleichmäßig zu berücksichtigen und miteinander zu verbinden. Er bestimmt Religion als die Befriedigung des menschlichen Grundtriebes, die Versöhnung des in den Grund des menschlichen Wesens hinab reichenden Gegensatzes zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, Freiheit und Abhängigkeit. Der Mensch ist mithin gekennzeichnet durch den Gegensatz von Selbstheit oder Freiheit auf der einen und Abhängigkeit auf der anderen Seite. Bei diesem Ansatz wird der Anschluss an Karl Hase241 sichtbar, für den das Streben des Menschen nach dem Unendlichen immer unerfüllt bleibt, da es „schlechthinnige Verneinung“ des Endlichen ist. Es ist also „im Widerspruch mit sich selbst, weil es auch nach seinem Anfangspunkte sich widerspricht, denn wir müssen hinsichtlich unserer Endlichkeit die Freiheit selbst als etwas Unfreies, nicht durch eigne Kraft und Entschluss Gewordenes, anerkennen“242. Für Pfleiderer ist Hases Feststellung dieses Widerspruches von zentraler Bedeutung, denn von daher lässt sich plausibilisieren, dass der Prozess der Lösung dieses im Grundtriebe des Menschen wurzelnden Widerspruchs die Religion ist.243 Pfleiderer stimmt mit Hase darin überein, dass die Funktion der Religion darin besteht, den das Menschsein in grundlegender Weise kennzeichnenden Widerspruch zu versöhnen. Während bei Hase diese Funktion auf einer inhaltlichen Bestimmung der Religion ruht, das „Verhältnis des Menschen zum Unendlichen … die Liebe des Men-

239 Ebd., 5.411. 240 Vgl. O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 68. 241 K. HASE, Lehrbuch der Evangelischen Dogmatik, 1826 (= Evangelisch-protestantische Dogmatik), Leipzig 51860. Im ersten Teil der Ontologie verhandelt HASE die Anthropologie, und will in der Bestimmung des Wesens der Menschheit Freiheit und Unendlichkeit zusammenbringen. „Die Freiheit (der Menschheit) wäre nicht möglich ohne eine Theilnahme am Unendlichen, denn trüge sie das Gesetz in sich, irgendwo ihr selbst eine absolute Schranke zu setzen, so hätte sie diese absolute Beschränkung vom Anfang in sich gehabt und wäre niemals frei gewesen.“ Ders., Evangelisch-protestantische Dogmatik, 38. 242 Ebd., 37. 243 O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 71.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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schen zu Gott“ ist das „Wesen der Religion“244, fallen für Pfleiderer Funktion und Wesen der Religion zusammen, wenn er das Wesen der Religion als ein Vermittlungsgeschehen zwischen dem Bewusstsein von Abhängigkeit und Freiheit definiert. „Und der Prozess der Lösung dieses im Grundtriebe des Menschen wurzelnden Widerspruchs ist die Religion; sie ist also die Befriedigung des menschlichen Grundtriebs, die Versöhnung des in den Grund des menschlichen Wesens hinab reichenden Gegensatzes zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, Freiheit und Abhängigkeit.“245

Mit dieser Definition des Religionsbegriffs knüpft Pfleiderer an Eduard Zeller246 an, der seine Darstellung wiederum eng an die Ausführungen zum Religionsbegriff bei Alois E. Biedermann 247 angelehnt hat. Für Zeller ist es „nicht ein Wissen oder Handeln, worin das Wesen der Religion liegt, aber es ist auch nicht blos ein Gefühl, sondern vielmehr dieses bestimmte Verhältnis des Wissens und Handelns zum Gefühl, dass einerseits das Vorstellen am Gefühl des Göttlichen seinen Zweck, und das Handeln an eben demselben seine Quelle hat, andererseits das Gefühl durch die Vorstellung des Verhältnisses zur Gottheit erzeugt ist, und auf jenes Verhältnis bezügliche Handlungen erzeugt, die Religion ist nicht blos Sache des persönlichen Selbstbewusstseins, sondern diese bestimmte Beziehung desselben auf’s Gottesbewusstsein“248.

Pfleiderer greift mit seiner Definition der Religion auf Biedermanns und Zellers Religionstheorien zurück, grenzt sich allerdings in der Bestimmung des Ortes der Religion von beiden ab. Er will es mit Schleiermacher dabei belassen, dass die „spezifische Erscheinungsform

244 K. HASE, Evangelisch-protestantische Dogmatik, 37. 245 O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 71. 246 E. ZELLER, Über das Wesen der Religion, in: Eduard Zellers kleine Schriften, hg. v. O. LEUZE, Berlin 1910, Bd. III. 247 A. E. BIEDERMANN hatte in seinem Werk „Die freie Theologie“ von 1844 betont, dass zwei Momente die religiöse Tätigkeit des Geistes charakterisieren: „ 1) die Vermittlung der reinen Allgemeinheit des Ich mit sich selbst, d.h. mit seinem allgemeinen Wesen – theoretisches Bewusstsein … und 2) die Vermittlung des Ich in seinem unmittelbaren concreten geistigen Dasein mit der reinen, für sich abstracten Allgemeinheit des Ich – unmittelbares Selbstbewusstsein, Gefühl.“ Ders., Die freie Theologie, 40f. Die Religion definiert BIEDERMANN als eine Tätigkeit in der Einheit der Momente, sie ist „die Reflexion der mit dem Inhalt des Bewusstseins vom Allgemeinen erfüllten Allgemeinheit des Ich in die individuelle Bestimmtheit des unmittelbaren geistigen Zustandes“. Ebd., 41. Sie ist wie BIEDERMANN in Abgrenzung von SCHLEIERMACHER bestimmt „weder ein Gefühl noch ein Wissen, noch endlich auch ein Thun, anders als alles Geistige von vorn herein ein Thun ist“. Ebd., 41. 248 E. ZELLER, Über das Wesen der Religion, 127f.

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III. Zum Theologieverständnis

der Frömmigkeit das Gefühl ist“249, d.h. das Gefühl ist für Pfleiderer der spezifische Ort des religiösen Empfindens. In der dritten Auflage seiner Religionsphilosophie von 1896 nimmt Pfleiderer die integrative Funktion Religionsbegriffs in erweiterter Perspektive in Anspruch und grenzt sich deutlich von Schleiermachers Privilegierung des Gefühlsbegriffs zur Verortung der Frömmigkeit ab. Der Fromme findet seinen Willen „geeinigt … mit dem allgemeinen Willen, der seine ganze Welt, d.h. seinen Gemeinschaftskreis und seine Naturumgebung beherrscht“250. Es ist die Religion, die die Voraussetzung des Sittlichen in sich enthält, „dass über dem Gegensatz des Individuums und der Gesellschaft, der Menschen und der Natur eine ursprüngliche Einheit sei, welche die Einigung der Gegensätze verbürge“251. Die Religionsphilosophie gewinnt die Einsicht in die religiöse Vereinigung dieser tiefgreifenden Differenzen, indem sie einen Zirkel aufbaut zwischen einer intellektuellen Verankerung des Gefühls und einer affektiven Verwurzelung der Vernunft. Gegen Schleiermachers Privilegierung des Gefühlsbegriffs für die Erschließung der Frömmigkeit argumentiert Pfleiderer hier für eine wechselseitige Bezogenheit von Vorstellung, Wille und Gefühl. Der Wille, so meint er, bilde zu seiner eigenen Orientierung und Konstanz Vorstellungsgehalte aus, denen er sich selbst zuordne. Eben diese Vorstellungsgehalte aber seien nun verantwortlich für eine so oder so bestimmte Gefühlsresonanz. Dabei ist die Pointe dieser Gedankenführung darin zu sehen, dass es gerade die Gehalte sind, die das Gefühl bewirken. Gott ist nicht der Name für das Woher des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit; vielmehr ist das Gefühl selbst durch Gott bestimmt. Der reinen Heterono249 O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 78. Dabei stellt er einen Zusammenhang von Gefühl und Trieb her, wenn er formuliert: „Besteht das Wesen der Religion in der Befriedigung des menschlichen Grundtriebes durch Versöhnung des ihm anhaftenden Widerspruchs, so wird ihre psychologische Form keine andere sein können als die, in welcher wir überhaupt der Triebe, ihrer Befriedigung und Nichtbefriedigung inne werden, nehmlich das Gefühl.“ Ebd., 77. Bereits die Annahme eines „Grundtriebs“ zur Religion führt zu J. G. FICHTE zurück. Dieser geht davon aus, dass das Ich einerseits danach strebt, „die Unendlichkeit auszufüllen“, andererseits aber „das Gesetz und die Tendenz“ hat, „über sich selbst zu reflektieren“. Vgl. J. G. FICHTE, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), in: Ausgewählte Werke, hg. v. F. MEDICUS, Bd. 1, Darmstadt 1962, 480. „Es kann nicht über sich reflektieren, ohne begrenzt zu sein, und zwar in Rücksicht des Triebes durch eine Beziehung auf den Trieb begrenzt zu sein.“ So wird das Ich durch den Trieb „weiter hinausgetrieben“, durch die Reflexion aber „wird es angehalten, und hält sich selbst an. Beides vereinigt, gibt die Äußerung eines Zwanges, eines Nicht-Könnens, und diese Äußerung des NichtKönnens im Ich heißt ein Gefühl.“ Ebd., 480. 250 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (³1896), 331. 251 Ebd., 334.

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mie, die in dieser Denkfigur droht, versucht Pfleiderer dadurch entgegenzutreten, dass er die Vorstellungen für willensinduziert ansieht. Allerdings wird man auch gegenüber dieser Erläuterung nicht vergessen dürfen, dass es der Objektivitätsgehalt der Vorstellungen sein soll, der die Gefühlsbestimmung vollzieht. Damit ist der Gefühlsbegriff gegenüber seiner Bestimmung bei Schleiermacher deutlich verändert. Er ist nicht mehr ein vermögenstheoretisch gefasster anthropologischer Ort von Erfahrung ermöglichendem Rang, sondern ein Fall so oder so bestimmter Erfahrung geworden. Neben den gegenüber Schleiermacher neu bestimmten Gefühlsbegriff tritt eine Naturalisierung der Vernunft. „Wie alle Anlagen, so äussert sich auch unsere Vernunftanlage in bestimmten Trieben …; sie sind die angeborenen (apriorischen) Grundformen der Vernunfttätigkeit.“252

2.2.2 Die Ausdifferenzierung der genetisch-spekulativen Religionsphilosophie und ihre Bedeutung für die Theologie In der ersten Auflage seiner Religionsphilosophie von 1878 führt Pfleiderer in die Bestimmung des psychologischen Wesens der Religion den Gottesbegriff als konstitutives Moment ein. 253 Er geht nun davon aus, dass das Ich im Gottesglauben eine notwendige Stütze seiner Freiheit gegenüber der Welt findet, und der Gottesglaube dadurch entsteht, dass sich dem Ich in der Welt eine erhebende Macht offenbart. Der Widerspruch zwischen Selbstbewusstsein und Weltbewusstsein wird gelöst im Kultus, durch den das Ich mit Gott in Gemeinschaft tritt, um in der Einheit mit ihm als der ordnenden Macht der Welt seine Freiheit gegenüber der Welt zu erlangen. Pfleiderer bestimmt den religiösen Akt als die übernatürliche Wirkung des den endlichen Geist über seine bloße Natürlichkeit hinaushebenden absoluten Geistes. Die Einbeziehung des Gottesbegriffs in die Religionstheorie ist vor allen Dingen auf Pfleiderers Auseinandersetzung mit den Religionstheorien von Biedermann, Ritschl und Lipsius zu sehen, die im Zeitraum von 1869 bis 1876 veröffentlicht wurden, und auf die sich Pfleiderer bezieht.254 Biedermann hatte an Pfleiderers Bestimmung der Religi252 Ebd., 336. 253 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), XVI. 254 A. E. BIEDERMANN, Christliche Dogmatik, 23–35; A. RITSCHL, Die Christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3, Bonn 41895, 170–178; R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876). PFLEIDERER stellt die religionsphilosophischen Ansätze von LIPSIUS und BIEDERMANN in seiner Religionsphilosophie dar. Vgl. dazu O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 244–250. A. RITSCHL erwähnt er in der ersten Auflage seiner Religionsphilosophie nicht, setzt sich aber mit dessen Religionsphilosophie und Er-

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on in dessen Erstlingswerk kritisiert, dass bei Pfleiderer „das psychologische Wesen der Religion, der religiöse Act, spezifisch auf eine Gefühlsfunktion fixirt“ werde und so die Religion nicht „aus dem blos Subjectiven“ hinauskomme.255 Damit hätten – so Biedermann – „die Aussagen über das objective Verhältniss, das sie als Gefühl zum Inhalt hat, die Aussagen über das Object, dessen Beziehung auf das Subject ihre objective Voraussetzung bildet, … für die Religion nur den Charakter von Postulaten, die nicht sie selbst, sondern die der Geist durch seine Erkenntnisfunctionen, für sie vollzieht“256.

Dieser erste Differenzpunkt über die psychologische Form der Religion führe „auf den zweiten, in Betreff ihres Inhaltes zurück“ 257. Während Pfleiderer in der Religion ein „subjectiv menschliches Verhalten“, eine „Gemüthsbestimmtheit“ sehe, „welche die sie bedingende Beziehung Gottes auf den Menschen wohl zur Voraussetzung, aber nicht als Moment in sich selbst hat“258, sei „die Religion selbst als die Wechselbeziehung zwischen Gott als unendlichem und dem Menschen als endlichem Geist“259 zu verstehen. Für Biedermann ist der Gottesbegriff somit konstitutiv für die Religionstheorie, denn „die Religion ist Beziehung des Menschen auf Gott“. Dies differenziert Biedermann weiter aus, wenn er formuliert, dass das Wesen der Religion nicht allein „als menschliche, auf Gott als Object gerichtete Geistesthätigkeit“ sondern als „Beziehung des Menschen auf Gott, auf Grund der Beziehung Gottes auf den Menschen“260 zu verstehen ist. Beide Momente, das subjektive, der Glaube, und das objektive, die Offenbarung, „gehören zum Wesen der Religion und machen ihren Begriff aus“261. Die konstitutive Bedeutung des Gottesbegriffs für die Religionstheorie impliziert auch eine andere Bestimmung des Verhältnisses von

255 256 257 258 259

260 261

kenntnistheorie in drei Aufsätzen auseinander, die im April und im Dezember 1889 sowie im Juni 1891 in den Jahrbüchern für protestantische Theologie veröffentlicht wurden und 1891 als Separatabdruck erschienen. O. PFLEIDERER, Die Ritschl’sche Theologie kritisch beleuchtet, Braunschweig 1891. A. E. BIEDERMANN, Eine Bilanz der rationellen Grundbegriffe in der Theologie, in: ZwTh 14 (1871), 5f. Ebd., 5f. Ebd., 7. O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd.1, 77. A. E. BIEDERMANN, Eine Bilanz, 7. BIEDERMANN beschreibt den Unterschied zwischen seiner und PFLEIDERERS Position mit den Worten: „Ihm ist der Gottesbegriff ein von der Religion gestelltes und von der Religionswissenschaft nur bestimmtes zu formulierendes Postulat; mir ist er ein in der Religion selbst enthaltenes und von der Religionswissenschaft zu lösendes Problem“. Ebd., 10. A. E. BIEDERMANN, Die christliche Dogmatik, 23. 35. Ebd., 35.

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Freiheit und Abhängigkeit, in dem bei Pfleiderer die Religion ihren Ort hat. Für Biedermann beschreibt dieses Verhältnis ausschließlich den Bereich der Welt, bzw. des „Weltverbandes“, innerhalb dessen der Mensch „in jedem Moment in relativer Abhängigkeit“ lebt, aber in jedem Moment „zugleich auch in correlativer Selbstständigkeit“ 262. Der spezifische Inhalt des religiösen Aktes ist davon zu unterscheiden, denn es handelt sich um eine „Abhängigkeit über den natürlichen Weltverband hinaus“, um eine „unendliche Abhängigkeit“263. In diesem Ansatz rückt die Erhebung des Menschen über die Welt in den Blick, worin Biedermann und Ritschl in ihrem Religionsverständnis konvergieren.264 Die Divergenzen liegen darin, dass bei Biedermann die Welt in Anlehnung an Schleiermacher als der Bereich gesehen wird, in dem relative Abhängigkeit und relative Selbstständigkeit zusammenwirken, während Ritschl in Anlehnung an Kant die Welt als Naturzusammenhang versteht, in dem Freiheit nicht vorkommt. Die Religion entspringt für Ritschl „aus dem Contrast, in welchen sich die Menschen ursprünglich hineingestellt sehen, daß sie gemäß ihrer natürlichen Ausstattung unselbstständige Theile der Welt sind, abhängig und gehemmt von anderen Wesen, welche auch nur Theile der Welt sind, und daß sie gemäß ihrer geistigen Kraftausstattung sich von aller Natur unterscheiden, und sich zu einer übernatürlichen Bestimmung angelegt fühlen“265. Die Gottesidee ist notwendig, um „dem Menschen über den Contrast zwischen seiner natürlichen Lage und seinem geistigen Selbstgefühl hinweg zu helfen, und ihm eine Erhabenheit oder Freiheit über die Welt … zu sichern“266.

Wie Biedermann, Ritschl und auch Lipsius geht Pfleiderer in der ersten Auflage seiner Religionsphilosophie von dem Gegensatz zwischen Selbst- und Weltbewusstsein aus. Damit präzisiert er den in seinem Erstlingswerk ausgeführten Gegensatz von Abhängigkeits- und 262 263 264 265 266

Ebd., 31. Ebd., 32. A. RITSCHL, Die Christliche Lehre, Bd. 3. Ebd., 173. Ebd., 174. Denselben Ausgangspunkt wie RITSCHL nimmt auch LIPSIUS in der 1876 erschienenen ersten Auflage seines Lehrbuchs der Dogmatik ein, wenn er formuliert, dass der Mensch, der „dem blinden Ungefähr, dem todten Mechanismus gegenüber, dem er als Naturwesen unterworfen ist“, um sich „als selbstbewusstes Ich behaupten zu können“ eine geistige Macht postuliert, „welche die schädlichen oder förderlichen Einflüsse des äusseren Lebens, oder höher hinauf den gesamten und kommt zu dem Ergebnis, dass die „Religion als Thatsache des menschlichen Geisteslebens das Verhältnis“ ist, „in welchem das Selbstbewusstsein und das Weltbewusstsein des Menschen zu seinem Gottesbewusstsein, jene beiden aber durch Vermittelung von diesem zueinander stehen.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 26.

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Freiheitsbewusstsein und zwar so, dass dieses dem Selbst-, jenes dem als Bewusstsein der Notwendigkeit verstandenen Weltbewusstsein zugeordnet wird. Die Religion ist nach wie vor der Prozess der Versöhnung der beiden entgegengesetzten Momente, aber nun durch die Thematisierung des Gottesbegriffs. „So muß also wohl die Versöhnung des Zwiespalts zu finden sein in einem Dritten über Ich und Welt, in der Einheit also, in welcher der Gegensatz von Ich und Welt, von Freiheit und Notwendigkeit seinen Grund und sein Ziel hat, aus welcher er hervorgeht und in welcher er sich wieder aufhebt, und dies ist Gott.“267

Der Gottesbegriff dient Pfleiderer dazu, die schroffe Dualität von Freiheit und Notwendigkeit, Selbst- und Weltbewusstsein zu überbrücken. In Differenz zu Biedermann setzt allerdings der Gottesbegriff bei Pfleiderer nicht ein qualitativ anderes Abhängigkeits- bzw. Freiheitsbewusstsein voraus, sondern er bestimmt das an sich schon vorhandene Abhängigkeits- bzw. Freiheitsbewusstsein in qualitativ anderer Weise.268 Pfleiderers erste Auflage der Religionsphilosophie wird von zwei gegenläufigen Tendenzen bestimmt, die er mit der Bezeichnung „genetisch-spekulativ“ zu fassen und zu verbinden versucht. Pfleiderer sieht die Notwendigkeit, Philosophie und Geschichte der Religion so ineinander zu verarbeiten, „dass der philosophische Begriff der Religion vom Wesen der Sache auf jedem Punkte aus der Verarbeitung des geschichtlichen Materials selbst resultiert und nichts anderes ist, als die unterscheidende und zusammenfassende Erkenntnis der verschiedenen Faktoren und Momente, deren Wechselspiel den Verlauf der geschichtlichen Religion ausmacht“269.

Einerseits versucht Pfleiderer somit zugunsten der empirischen Geschichte auf jede apriorische Begriffskonstruktion zu verzichten, weil der abstrakt-idealistische Weg, der mit einer apriori festliegenden Begrifflichkeit den Verlauf der Religionsgeschichte zu erfassen sucht, in

267 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 257. 268 Einerseits weiß ich „meine endliche Freiheit im unendlichen Willen Gottes mit allem anderen Endlichen zusammenbefaßt und schlechthin unterworfen dem allgemeinen Gesetz des Ganzen … Aber andererseits weiß ich zugleich meine Freiheit in dieser Einheit mit dem Willen Gottes erhalten und von ihrer hemmenden Schranke befreit, denn ich weiß mich … auch als positiv berechtigtes und werthvolles Etwas mit aufgenommen in den das Ganze ordnenden Willen“ und erst beides zusammen, „sich in Gott wissen und Gott in sich, in Gott eins mit der Weltordnung und durch Gott frei von der Weltschranke“ ist „das Wesen der Religion“. O. PLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 258. 269 Ebd.,V.

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seinen Augen nicht gehbar ist. Die Religion muss von der Geschichte der Religionen aus begriffen werden. Das bedingt, dass von Religion nur unter angemessener Berücksichtigung ihrer geschichtlichen Gestalten und Entwicklungen gesprochen werden kann. Dem trägt Pfleiderer im Aufbau seiner Religionsphilosophie Rechnung, insofern er bei der Erörterung jedes Themas mit einer Zusammenstellung religionsgeschichtlicher Fakten einsetzt. Andererseits geht es Pfleiderer nicht bloß um die empirische Beschreibung der religiösen Erscheinungen als solcher, denn dann wäre die Religionsphilosophie eben Religionsgeschichte.270 Als Religionsphilosophie will sie aber „vielmehr das allgemeine Wesen, das innere Prinzip der Religion, sie will den religiösen Geist und nicht blos seine Formen und Hüllen erkennen“271. Das sich hier andeutende spekulative Element begegnet in Pfleiderers Religionsphilosophie zunächst in der betonten Unterscheidung von den Verwirklichungsformen des Geistes und dem Geist selber, aber auch dort, wo die Fakten der Religionsgeschichte mit den Daten des religiösen Selbstbewusstseins in Verbindung gebracht werden.272 Ziel der „genetisch-spekulativen“ Religionsphilosophie ist für Pfleiderer die Erkenntnis des religiösen Geistes, der „ebenso der objektiven geschichtlichen Religion als deren treibendes Prinzip und leitendes Gesetz inne (wohnt), wie er dem einzelnen Subjekt in seinem unmittelbaren religiösen Leben sich erschließt“ 273. Diese beiden Wirkungsweisen sind analog aufeinander bezogen und erklären sich gegenseitig.274 Pfleiderer nimmt eine Verstärkung des objektiven Elementes in der Religionsphilosophie vor, wenn er der Religionsphilosophie die Aufgabe zuweist, „die objektive Vernunft der Sache aus den Zufälligkeiten der Erscheinung ‚herauszuwickeln‘“ und feststellt, dass das Spekulative als Resultat des objektiven Verlaufs der Geschichte erscheint.

270 Ebd., 307. 271 Ebd., 307. 272 Bezeichnenderweise beginnt er seine Religionsphilosophie mit dem SCHILLER-Zitat „Unter der Hülle aller Religionen liegt die Religion selbst“. Vgl. O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), Titelblatt. 273 Ebd., 307. 274 „Zum Verständnis jener mittelbaren Äußerungen desselben in der Geschichte bedarf es … des Schlüssels der Analogie aus der unmittelbaren Erscheinung desselben im religiösen Selbstbewusstsein, und zum richtigen Verständnis des religiösen Selbstbewusstseins bedarf es wieder des erweiternden und klärenden Blickes auf die objektive Geschichte seiner Aeußerungsformen.“ O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 308.

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„Nicht blos die Kritik der einzelnen Vorstellungen wird auf’s einfachste durch den Prozeß der Geschichte selber vollzogen werden, auch der Wahrheitskern derselben wird aus einer vergleichenden Darstellung ihrer analogen Genesis in verschiedenen Religionen wie von selbst hervortreten, so daß für das spekulative Resultat kaum noch mehr zu geschehen braucht, als nur einfach die dem geschichtlichen Entwicklungsprozeß selbst innewohnende Logik der Sache selbst herauszuheben und in begrifflicher Formulierung an’s Licht zu stellen.“ 275

In der zweiten Auflage der Religionsphilosophie von 1884 hat nicht mehr die Religionspsychologie, sondern die Religionsgeschichte die leitendende Funktion für die Bestimmung des Wesens der Religion. Im Aufbau der zweiten Auflage zeigt sich dies darin, dass die Entwicklung des religiösen Bewusstseins vom Inhalt desselben unterschieden, und ein knapper Verlauf der religionsgeschichtlichen Entwicklung geboten wird.276 Das Wesen der Religion ergibt sich nun für Pfleiderer nicht mehr aus einer Analyse des menschlichen Bewusstseins, die vor jeder Betrachtung der konkreten Religion liegt, sondern setzt bereits den Vergleich der verschiedenen Religionen voraus, da sie auf das Gemeinsame aller Religionen zielt, das aus dieser Verschiedenheit abstrahiert wird. Die Definition der Religion wird nun im ersten Hauptstück des Abschnitts über die Entwicklung des religiösen Bewusstseins im Rahmen der Behandlung der Frage nach dem Ursprung der Religion geboten. Die Relevanz der Frage nach dem Ursprung der Religion begründet Pfleiderer damit, dass das „Wesen einer geistigen Erscheinung, wie der Religion“ sich nur „im Ganzen seines geschichtlichen Entwicklungsprozesses“ entfaltet, und sich nur verstehen lässt, wenn man „diesen Prozeß bis an seinen Ursprung verfolgt und seine Quellen bloßlegt“277. Die Anfänge der Religion sind deshalb besonders wichtig, weil man hier der religiösen Anlage des Menschen am leichtesten auf die Spur kommt. Um allerdings zu klaren Einsichten zu gelangen, muss man die verschiedenen Kräfte und Triebe der menschlichen Seele bei der Hervorbringung der religiösen Zustände und Tätigkeiten miteinander in Beziehung setzen, was nicht mehr durch historische, sondern

275 Ebd., 308f. Und PFLEIDERER präzisiert: „So schließt gewissermaßen die genetische Entwicklung schon auch die spekulative Schlußziehung in sich; oder eigentlich: die Spekulation besteht viel weniger in der subjektiven logischen Dialektik des Religionsphilosophen, als vielmehr im einfachen Zuschauen derselben, wie in der objektiven Logik der Geschichte der religiöse Geist der Menschheit an sich selbst den Prozeß der dialektischen Reinigung zur Wahrheit durchgemacht habe.“ Ebd., 309. 276 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (²1884), V–VII. 277 Ebd., 3.

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nur durch psychologische Analyse erfolgen kann. Damit steht man in den Augen von Pfleiderer auf philosophischem Boden. Denn will man die Reflexion auf die Erfahrungen des eigenen und des umgebenden religiösen Lebens für solche allgemeinen Erkenntnisse fruchtbar machen, so setzt das Identität der Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Geisteslebens aller Zeiten voraus. Die Religionspsychologie hat somit für Pfleiderer weiterhin eine Schlüsselfunktion für Philosophie und Theologie – nur ist sie jetzt integriert in die Religionswissenschaft –, weil es diese Disziplin ist, die den Vergleich der Religionen untereinander ermöglicht.278 Eine genetische Untersuchung der Religion darf somit nicht zu dem Irrtum verführen, die Wahrheit der Religion liege in ihren Anfängen. An dieser Überschätzung des Primitiven ist Feuerbach nach Pfleiderers Meinung gescheitert.279 Erst eine Zusammenschau aller historischen Religionen kann einen wissenschaftlichen Begriff vom religiösen Bewusstsein überhaupt vermitteln. Diese Zusammenschau ergibt sich durch die Universalität des Gottesgedankens. In der Religion handelt es sich somit um „die Vernunft schlechthin, die allumfassende weltordnende Vernunft Gottes als solche, welche sich des menschlichen Herzens bemächtigt“280. Mit dieser gegenüber der ersten Auflage veränderten Bestimmung der spekulativen Methode nimmt Pfleiderer Aspekte der Kritik von Wilhelm Herrmann und Abraham Kuenen auf, die diese gegenüber der spekulativen Methode Pfleiderers in dessen Religionsphilosophie von 1878 vorgebracht hat-

278 „So ist es die genetische Religionswissenschaft, welche dadurch, daß sie die psychologischen Quellen der religiösen Vorstellungen aufschließt, die dogmatischen Vorstellungen alter und neuer Scholastik überflüssig macht.“ O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (²1884), 663. 279 Gegenüber der Auflage seiner Religionsphilosophie von 1878, in der sich PFLEIDERER auf FEUERBACHS Religionstheorie bezieht, wendet er sich in der zweiten Auflage von diesem ab, und erwähnt ihn bei der Bestimmung des Wesens und des Ursprungs der Religion nicht mehr. In der ersten Auflage hatte sich PFLEIDERER an der von FEUERBACH 1857 veröffentlichten Schrift zur Theogonie orientiert. Vgl. L. FEUERBACH, Theogonie nach den Quellen des classischen, hebräischen und christlichen Alterthums, 1857. PFLEIDERER interpretiert FEUERBACHS Theorie dabei in eigenwilliger Weise, indem er eine angeblich „objektive Seite“ in der Religionstheorie FEUERBACHS intendiert sieht. „Aber dies subjektive Bedürfnis des Gemüths nach Ergänzung seines Mangels ist doch auch nach Feuerbach nur die eine der beiden Wurzeln des Gottesglaubens, zu welcher sich eine ganz andere von objektiver Seite her gesellt.“ Die Götter sind doch keine „bloßen Wunschwesen“, sie sind zugleich „Naturwesen“. O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 321. 280 O. Pfleiderer, Religionsphilosophie (²1884), 31.

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ten.281 Herrmann hatte Pfleiderers Theologie als einen „Sieg des vermeintlich Allgemeinvernünftigen über das Geschichtspositive, als offenes Hervortreten des theologischen Rationalismus“ 282 bezeichnet. Und Kuenen sah in Pfleiderers genetisch-spekulativer Methode den unberechtigten Versuch, die Fragen nach der Wirklichkeit des Glaubens wissenschaftlich zu bearbeiten.283 Pfleiderer betont zwar weiterhin, dass er die metaphysische Spekulation durchaus als „Abschluß der Religionswissenschaft“ verstehe, hebt aber auch hervor, „dass wir beim Suchen nach den letzten metaphysischen Gründen mehr als irgendwo uns vor den Illusionen des absoluten Wissens zu hüten haben. Wenn die religiöse Spekulation vielfach gemeint hat, weil uns Gott im unmittelbaren Bewusstsein gegeben sei, so könne man ihn auch in unmittelbarer Intuition denkend begreifen und beschreiben, so war das ein Irrtum“284.

Die Sätze, zu denen die metaphysische Spekulation führt, haben immer nur den Charakter von Hypothesen. Einer durch metaphysische Spekulation gewonnenen Hypothese kommt „nur soviele theoretische Wahrscheinlichkeit zu, als sie geeignet ist, die Bewußtseinsthatsachen nicht bloß unseres religiösen, sondern unseres gesamten Bewußtseins aller Zeiten zu erklären“. Nun gehört es für Pfleiderer zur Aufgabe der Religionswissenschaft, „die Unmöglichkeit eines absoluten Wissens zum wissenschaftlichen Bewußtsein zu bringen“ und festzuhalten, dass die aus der Weltanschauung resultierende Gewissheit „stets nur ein approximatives Ideal, eine werdende und bedingte, nie eine fertige und absolute sein“ kann.285 Damit markiert Pfleiderer seinen geistesgeschichtlichen Standort in Übereinstimmung mit Lipsius, der den dogmatischen Aussagen „zunächst nur den Werth von vorläufigen Hypothesen“ zugesteht, und im Unterschied zu Biedermann davon ausgeht, dass „die exacte Wissen281 Vgl. dazu W. HERRMANN, Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, Halle 1879; A. KUENEN, Otto Pfleiderers Religionsphilosophie, in: Theologisch Tijdschrift 1879, 541–562. 282 W. HERRMANN, Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen, 291. Für HERRMANN verbindet sich mit der Anwendung metaphysischer Argumentation das Verlangen, „das religiöse Verständnis der Geschichte, welches nur in der geschichtlich gewordenen Gemeinde gepflegt werden kann, durch geschichtslose Wahrheiten zu ersetzen, die jedem erkennenden Geiste zugänglich sind.“ Ebd., IV. Vgl. auch W. HERRMANN, Die Metaphysik in der Theologie. 283 Bei PFLEIDERER entstehe der Eindruck, „alsof hij het subjectief karakter der religieuse gewisheid voorbijzag“. A. KUENEN, Otto Pfleiderers Religionsphilosophie, in: Theologisch Tijdschrift 1879, 556. 284 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (²1884), 664. 285 Ebd., 664. 666.

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schaft niemals über den Bereich des endlichen Causalzusammenhangs hinaus“ kommt und „in ihrem Bereich ebensowenig den Begriff der letzten Ursache wie den des Weltganzen“286 kennt. Daraus ergibt sich für Lipsius und Pfleiderer der approximative Charakter der Theologie bzw. der Dogmatik. Während Lipsius zur Begründung dieses Verständnisses vor allen Dingen darauf verweist, die Theologie habe es mit einem Bereich zu tun, der jede Erfahrung transzendiere, betont Pfleiderer zur Begründung die nicht Überschaubarkeit und nicht Abgeschlossenheit des universellen menschlichen Bewusstseins aller Zeiten und verweist damit auf die Geschichte. 2.2.3 Konzeptionen religionsgeschichtlicher Grundlegung der Theologie Die Originalität der Religionsphilosophie Pfleiderers liegt vor allem in der Einbeziehung der Religionsgeschichte in die Erörterung über das Wesen der Religion.287 Das Eigentümliche bei Pfleiderer ist, dass er verschiedene Konzeptionen religionsgeschichtlicher Entwicklung nebeneinander stellt, ohne die Problematik zu reflektieren, die sich daraus ergibt. Eine am Logos-Begriff orientierte Konzeption der Religionsgeschichte, die im Christentum die Erfüllung aller früheren Offenbarung sieht, steht unvermittelt neben einer Betrachtungsweise, welche die Religionsgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungsfähigkeit der einzelnen Religionen betrachtet. 2.2.3.1 Das Christentum als die Verwirklichung des Begriffs der Religion In seinem Frühwerk über das Wesen der Religion von 1869 legt Pfleiderer eine Definition der Religion als Versöhnung des Gegensatzes von Freiheit und Abhängigkeit der Rekonstruktion der Religionsgeschichte zu Grunde. Die beiden Momente der Freiheit und Abhängigkeit finden sich in jeder Form der Religion sowie auf jeder Stufe der religiösen Entwicklung der Menschheit und des Einzelnen. Je höher eine Religionsstufe steht, desto mehr wird eine Versöhnung des Gegensatzes angestrebt und dargestellt, wobei die absolute Versöhnung jedoch erst im Christentum erreicht ist.

286 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 6.9. 287 Vgl. dazu E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 72; R. LEUZE, Theologie und Religionsgeschichte, 435ff.

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Es gibt verschiedene Grade und Stufen der Religionen, die dadurch bestimmt werden, wie weit der Mensch sich über das NatürlichSinnliche zum Geistig-Sittlichen erhoben hat. Pfleiderer sieht im Judentum die erste monotheistische Religion und will klären, wie es dazu kam, dass der in seiner reinen Geistigkeit und unbeschränkten Unendlichkeit erkannte Gott zu dem bestimmten einzelnen Volk Israel in jene einzigartige und ausschließliche Beziehung gesetzt wurde, wie sie dem Glauben Israels als charakteristisches Merkmal zukomme.288 Durch die Bindung Gottes an die Geschichte erhebe sich Israel zwar über die Naturreligion. Doch zugleich liege darin, dass das ganze Verhältnis zwischen Gott und Mensch hier nur auf einer äußerlich geschichtlichen Tatsache basiert, die Schranke dieses religiösen Verhältnisses. Es sei weder im Wesen Gottes noch im Wesen des Menschen begründet, und daher ein rein äußerliches, zufälliges Verhältnis. Für Pfleiderer ist demgegenüber das Christentum die vollkommene Religion und die Verwirklichung des Begriffs der Religion, weil Freiheit und Abhängigkeit in ihrem vollkommenen „In-einander-sein“ gleichermaßen absolut zur Verwirklichung kommen.289 Pfeiderer unternimmt hier den Versuch, die religionsphilosophischen Ansätze Schleiermachers und Hegels für die Religionsgeschichte aufeinander zu beziehen. Die von einer Analyse des frommen Selbstbewusstseins ausgehende Bestimmung der Religionsgeschichte ist Schleiermacher verpflichtet. Der Anspruch, die einzelnen Religionen aus dem Begriff der Religion abzuleiten und die Konstruktion der Religionsgeschichte als eine Stufenfolge, die im Christentum als Verwirklichung des Begriffs der Religion gipfelt, ist auf Hegels religionsphilosophischen Grundansatz zurückzuführen. 2.2.3.2 Religionsgeschichte als Offenbarungs- und Geistesgeschichte In seiner Religionsphilosophie von 1878 bestimmt Pfleiderer die Religionsgeschichte als Entwicklungsgeschichte religiösen Erkennens, die ihren Ausgangspunkt bei der mythenschaffenden Phantasie nimmt. Diese wiederum wird zuabstrakt sinnlichen Vorstellungen entwickelt, die schließlich vom Verstand im Dogma fixiert werden. Um das Christentum zu verstehen, darf man nicht nur auf seine eigene geschichtliche Entwicklung zurückgehen, sondern muss das religiöse Leben der Menschheit in dem Gesamtverlauf der Geschichte einbeziehen. Diese Geschichte versteht Pfleiderer als einen Prozess fortschreitender Offenbarung der Gottheit bzw. als Offenbarung der göttlichen Wirklichkeit, 288 Vgl. dazu O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 2, 268–350. 289 Ebd., 400–490.

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zu der sich das religiöse Bewusstsein der Menschen in den Religionen der Menschheit verhält. Pfleiderer meint, dass „wirkliche Offenbarung Gottes an den Menschen“ in „jedem religiösen Akt“290 stattfindet, und weitet den Offenbarungsbegriff auf den Religionsbegriff aus, um ihn als universales Phänomen fassen zu können. Die Fokussierung auf den als „religiösen Akt“ bezeichneten Vorgang impliziert allerdings eine Verengung des Begriffs auf die Ebene des religiösen Bewusstseins. Jede Form von Religion ist Erhebung des Menschen über seine endliche Bestimmtheit zur Gemeinschaft mit Gott und insofern auf Offenbarung, d.h. auf wahrhaft göttliche Selbstmitteilung und Selbsterschließung zur Lebenseinheit mit sich, gegründet. Diese göttliche Offenbarung kann stets als psychologisch, natürlich vermittelt, und an die Form unseres geistig-vernünftig bestimmten Lebens gebunden angesehen werden. Sie ist aber zugleich stets ein überraschendes und befreiendes inneres Erleben von letzter Ursprünglichkeit, die im Verhältnis Gottes als des absoluten Geistes zum Menschen als dem endlichen Geist begründet ist. Offenbarung ist somit das Offenbarwerden des göttlichen Geistes im menschlichen Bewusstsein überhaupt und als solche in jeder Religion erlebbar. Obwohl sie als ein allgemeines Geschehen im Inneren des Menschen das religiöse Bewusstsein bedingt und trägt, hat sie doch, entsprechend der Art des göttlichen Verhältnisses zur Welt und zum Menschen überhaupt, ihre Geschichte. In den drei Stufen der Naturreligion, der Religionen des Volksgesetzes und der auf Stifter zurückgehenden Erlösungsreligionen oder Geistesreligionen steigt das religiöse Bewusstsein allmählich zur christlichen Religion empor, welche mit dem Bewusstsein der Gotteskindschaft das die Religion vollendende neue Prinzip in die Menschheit einführt und damit der alle Offenbarung in sich schließende bleibende Grund der weiteren geistigen und religiösen Entwicklung wird. In der objektiven Logik der Geschichte macht demnach der religiöse Geist der Menschheit an sich selbst den Prozess der dialektischen Reinigung zur Wahrheit durch. Für die Entwicklungsgeschichte des Gottesglaubens, die für Pfleiderer im christlichen Gottesbegriff kulminiert, spielt die alexandrinische Religionsphilosophie Philos eine entscheidende Rolle. Denn in ihr wird die Transzendenz des jüdischen Theismus mit der griechischen Lehre 290 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 594. PFLEIDERER ist bei dieser Bestimmung von BIEDERMANN beeinflusst, für den Offenbarung „der specifische Ausdruck für die göttliche Bethätigung an der Religion“ ist. Vgl. A. E. BIEDERMANN, Christliche Dogmatik, 37. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass BIEDERMANN durch den Offenbarungsbegriff ausschließlich die göttliche Wirksamkeit bezeichnet, während PFLEIDERER den „wahrhaft gottmenschlichen Charakter der Offenbarung“ betont. Vgl. O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 595.

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vom Logos, der sich aufgrund seiner metaphysischen Zwischenstellung zum religiösen Mittler eignet, verbunden. 291 Damit erweist sich der christliche Gottesbegriff, der die abstrakte Transzendenz überwindet, als Kind der Vermählung des hellenistischen und des hebräischen Gottesbewusstseins. Die einzigartige Stellung des Christentums in der Geschichte ergibt sich in der zweiten Auflage seiner Religionsphilosophie von 1884 aus der Vereinigung der semitischen und indogermanischen Religiosität. 292 Diesem Ansatz entspricht Pfleiderers Deutung des johanneischen Logosbegriffs, mit dem er belegt, dass „das Christenthum als die Erfüllung aller früheren Gottesoffenbarung und somit als die über Judenthum und Heidenthum gleichsehr erhabene vollendete Religion der Menschheit“293 zu verstehen sei. Der Logos ist aber auch vor- und ausserchristliches Offenbarungsprinzip und das bedeutet, „dass die christliche Religion bei all‘ ihrer Neuheit doch nicht völlig unvermittelt, nicht grund= und zusammenhanglos in die Welt hereingebrochen, sondern daß sie die Verwirklichung der religiösen Anlage unserer Gattung, die höchste Entwicklungsstufe des in der Menschheit immer und überall vorhandenen und wirksamen göttlichen Vernunfttriebes ist“294.

Die christliche Religion ist nicht die Offenbarungsreligion im ausschließenden Sinne. Sie ist aber als Religion auf der Grundlage des

291 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 369ff. Hier tritt deutlich zu Tage, dass PFLEIDERER diese Konzeption im Anschluss an F. CHR. BAUR gewonnen hat. BAUR hatte bereits in seinem Werk über die christliche Gnosis und deren geschichtliche Entwicklung von 1835 die Schlüsselstellung der Religionsphilosophie Philos herausgestellt, da es durch ihn zur Verschmelzung jüdischer und hellenistischer Vorstellungen gekommen sei. Vgl. F. CHR. BAUR, Die christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1835. 292 PFLEIDERER hat die religionsgeschichtliche Darstellung in der zweiten Auflage seiner Religionsphilosophie von 1884 gegenüber der ersten von 1878 erweitert, und diese Erweiterung unter die signifikante Überschrift „Die Entwicklung des religiösen Bewusstseins“ gestellt. Vgl. Ders., Religionsphilosophie (²1884), 3–326. Der Konzeption dieser religionsgeschichtlichen Darstellung liegt die von dem als Begründer der Religionswissenschaft geltenden M. MÜLLER vorgenommene Einteilung der Religionen zugrunde. Vgl. Ders., Vorlesungen über den Ursprung und die Entwickelung der Religion, 1880. Im Allgemeinen bestimmt man die Vorlesung MÜLLERS zum Thema „Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft“ aus dem Jahr 1870 zum Anfangspunkt der modernen Religionswissenschaft. Vgl. Ders., Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft. Vier Vorlesungen im Jahr MDCCCLXX an der Royal Institution in London gehalten, ²1876. Zur Entstehung der Religionswissenschaft und ihrem Verhältnis zum Christentum vgl. S. HJELDE, Die Religionswissenschaft & das Christentum, 1–16. 293 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (²1884), 466. 294 Ebd., 466.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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Neuen Testaments die Vollendung der Offenbarungsgeschichte. Das Christentum ist als Vollendung und Ziel der außerchristlichen Religionsgeschichte zugleich Erfüllung und Aufhebung aller Offenbarung. Mit seinem Offenbarungsverständnis grenzt sich Pleiderer klar von Albrecht Ritschl und seinen Schülern ab. 295 Deren Intention bestand darin, Offenbarung nicht als einen Vorgang zu begreifen, der sich ausschliesslich im Innern des religiösen Gemüts vollzieht, sondern ihren Bezug zu den äusseren Geschichtsereignissen geltend zu machen. Für Wilhelm Herrmann ist Offenbarung ein Ereignis, „von welchem sich der Mensch, sofern er auf Grund desselben an Gott glaubt, unterscheidet, sie ist also für ihn in dieser Beziehung ein äußeres Ereignis“ 296. Für Julius Kaftan ist es der schwerwiegende Irrtum Pfleiderers, anzunehmen „es sei die überall wirksame Offenbarung, welche sich auf vollendete Weise in den Tiefen des menschlichen Gemüths vollzieht, während alles geschichtliche stets nur als Symbol oder Vorbild in Betracht komme“297. Diese Auffassung Pfleiderers ergibt sich nach Kaftan aus dem Verständnis, „es gebe nur eine einheitliche Religion, auf die sich alle geschichtliche Religionen zurückführen ließen: die mystische Frömmigkeit des religiösen Naturtriebs“298. Pfleiderer hingegen betont, „dass nicht in den äußeren Geschichtsereignissen für sich allein schon die Offenbarung liegt“, sondern dass in ihnen der Impuls für den religiösen Trieb und das religiöse Bewusstsein gegeben wird, „ein neues religiöses Weltbild und Lebensideal“ hervorzubringen.299 Er versucht somit Offenbarung und menschliche Religiosität als zwei selbstständig aufeinander wirkende Komponenten zu verstehen, und ihre wechselseitige Bedingtheit herauszustellen, ein Ansatz, der ihn mit Lipsius verbindet.300

295 PFLEIDERER erwähnt im Vorwort seines Werkes zur Theologie A. Ritschls, dass er sich bei der Auseinandersetzung nicht nur auf die Werke RITSCHLS bezieht, sondern sich „an die drei hervorragendsten Systematiker der Schule: Herrmann, Kaftan und Bender“ und deren Veröffentlichungen halten will. O. PFLEIDERER, Die Ritschl’sche Theologie, V (Vorwort). Vgl. dazu W. HERRMANN, Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen, 305ff.; J. KAFTAN, Das Wesen der christlichen Religion, Basel 1881, 181ff. 296 W. HERRMANN, Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen, 305. 297 J. KAFTAN, Das Wesen der christlichen Religion, 181. 298 Ebd., 182. 299 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (²1884), 425. 300 Vgl. dazu die Ausführungen über Offenbarung und Religion als Wechselbegriffe bei R. A. LIPSIUS in Kapitel III, 141f.

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III. Zum Theologieverständnis

2.2.3.3 Religionsgeschichte als fortschreitende Annäherung an den wahren Inhalt der Gottesidee In der dritten Auflage seiner Religionsphilosophie von 1896 hat Pfleiderer bedeutsame Änderungen an seiner religionsgeschichtlichen Konzeption vorgenommen. Er beginnt jetzt nicht mehr mit einer Religionspsychologie, sondern mit einem Abriss der Religionsgeschichte von ihren Anfängen bis zum Christentum. Dann erst wird die Frage nach dem Wesen der Religion gestellt. Pfleiderer findet hier in „der teleologisch geordneten Entwicklung des sittlich-religiösen Bewusstseins der Menschheit im Fortschritt der Religions- und Sittengeschichte ... die höchste göttliche Offenbarung“. Die gesamte Religionsgeschichte gilt „als die überall natürlich vermittelte Offenbarung Gottes in Form des menschlichen Gottesbewusstseins“. Mit dieser Auffassung wendete sich Pfleiderer gegen den Dualismus von natürlicher und geoffenbarter Religion. Dagegen heißt es bei ihm, diese beiden Seiten seien in der Religionsgeschichte durchgängig vereint, „die eine das göttliche Princip und die andere die menschliche Erscheinung bezeichnend“.301 Die Religionsgeschichte versteht Pfleiderer nun als eine Entwicklung, die in der Herausbildung der wahren Gottesidee kulminiert bzw. als fortschreitende Annäherung symbolisierender Formen an den wahren Inhalt der Gottesidee. Das Spezifische an der Gottesidee ist, dass sie sich in zeitbedingte Vorstellungen kleidet, was zu einer Unangemessenheit der jeweiligen Vorstellungen führt. „Da diese Vorstellung immer nach den Erscheinungen des endlichen, begrenzten Daseins gebildet und auf den Anfangsstufen sogar aus den niedersten Daseinskreisen entnommen ist, so steht sie natürlich zu dem wahren Inhalt der Gottesidee, diesen absoluten Ideals der Vernunft in einem Missverhältnis, das auf den frühesten Stufen am gröbsten ist, mit dem Fortschritt der religiösen Entwicklung und allgemeinen Bildung sich zwar immer mehr ausgleicht, doch niemals ganz verschwindet.“ 302

Dieses Missverhältniss gibt uns das „volle Recht, zwischen der jeweiligen Form der konkreten Gottesvorstellung und der dadurch veranschaulichten Gottesidee selbst zu unterscheiden“303. Während Pfleiderer in seinem Erstlingswerk den Fortschritt der Religionsgeschichte durch die jeweilige Unvollkommenheit der Verhältnisbestimmung von Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein motiviert sah, führt hier das Bewusstsein eines unterbestimmten Verhältnisses zwischen dem wah301 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (³1896), 492.497. 302 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (³1896), 343. 303 Ebd., 343.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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ren Inhalt der Gottesidee und ihrer konkreten Verwirklichung über die jeweilige Religion hinaus. Dabei führt Pfleiderer nicht aus, ob die Wandlungen der Religionsgeschichte ausschließlich durch dieses Bewusstsein motiviert sind, und inwiefern man auch im Christentum ein missliches Verhältnis zwischen Idee und Symbolisierung konstatieren muss, so dass die Entwicklung auch über diese Religion hinausgehen müsste.304 2.2.4 Religionsgeschichte und Dogmatik Pfleiderer versucht in seinen religionsphilosophischen Konzeptionen zugunsten der empirischen Geschichte apriorische Begriffs- und Geschichtskonstruktion zu vermeiden, da seiner zunehmenden Überzeugung nach von der Religion nur unter konstitutiver Berücksichtigung ihrer geschichtlichen Gestalten gesprochen werden kann. Damit begründet er auch seinen Einspruch gegen das Religionsverständnis Biedermanns, wenn es diesem darum geht, den Vernunftgehalt in der religiösen Erscheinungswelt zu erkennen und der Religionsgeschichte keine konstitutive Bedeutung für die Erfassung des Wesens der Religion einzuräumen.305 Pfleiderer hingegen will dezidiert geschichtliche Verwirklichungsformen der Religion erfassen, um auf diesem Weg das Wesen der Religion in den Blick zu bekommen. Es fehlt bei ihm die Gewissheit des Gedankens, also dasjenige, was die Spekulation ur304 R. LEUZE hat in seiner Untersuchung der religionsgeschichtlichen Konzeptionen PFLEIDERERS auf diese fehlenden Reflexionen aufmerksam gemacht. Außerdem weist er nach, dass PFLEIDERERS vorgetragenes Verständnis der Religionsgeschichte als fortscheitende Herausbildung des Gottesbewusstseins seinem eigenen religionsgeschichtlichen Aufriss entgegensteht. Denn für diesen Aufriss ist die Auffassung maßgebend, die die Religionen nach den beiden Völkergruppen der Indogermanen und Semiten gliedert, und das Christentum als Vereinigung beider Entwicklungen erscheinen lässt. Wenn es um die Herausbildung des Gottesbewusstseins geht, müssten die drei monotheistischen Religionen Judentum, Islam und Christentum die religionsgeschichtliche Entwicklung beschließen. Stattdessen behandelt PFLEIDERER Judentum und Islam im zweiten und das Christentum im fünften Kapitel – eine Anordnung, die gegenüber dem leitenden Gesichtspunkt des Gottesbewusstseins unangemessen ist. Vgl. R. LEUZE, Theologie und Religionsgeschichte, 397ff. 305 Vgl. A. E. BIEDERMANN, Rez. Pfleiderer’s Religionsphilosophie, in: PKZ 25 (1878), 1029–1039.1066–1073.1101–1109. Für BIEDERMANN hat die Religionsgeschichte nicht die Funktion, die Religionsphilosophie zu korrigieren und d.h., die von der Religionsphilosophie aufgestellten Hypothesen müssen nicht an der Religionsgeschichte geprüft werden. In diesem Kontext bezeichnet BIEDERMANN die These PFLEIDERERS, „dass die Religionsphilosophie darauf angewiesen sei, sich selbst erst durch die Fortschritte der Religionsgeschichte genetisch fortzuentwickeln“ als „empiristischen Aberglauben“. Ebd., 1107.

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III. Zum Theologieverständnis

sprünglich auszeichnete. Pfleiderer versucht allerdings – und damit deuten sich die ideellen Voraussetzungen an, die seiner Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage zugrundeliegen –, die Gottesidee in der menschlichen Vernunft zu verorten und zugleich als Endziel der religionsgeschichtlichen Entwicklung zu plausibilisieren.306 Die Gewissheit des Gedachten ergibt sich dabei von der unterstellten Vollendung der Geschichte her. Die Gottesidee ist „nicht bloss die Voraussetzung, sondern auch der Endzweck aller Vernunftbethätigung im Erkennen und Handeln, kurz das A und O aller geschichtlichen Kulturentwicklung“307. An die Stelle der Protologie im Sinne Biedermanns tritt bei Pfleiderer die Eschatologie. Eine durch die verschiedenen religionsphilosophischen Konzeptionen Pfleiderers durchlaufenden Konvergenzlinie lässt ist die prinzipiell religionsgeschichtliche Verankerung der Theologie, auch wenn er dies nicht in systematisch stringenter Weise begründet. Tritt man allerdings mit der von Pfleiderer favorisierten Kombination „genetisch-spekulativ“ an die Religionsgeschichte heran, kann man eine einzelne Religion nicht mehr als Wahrheitsträger isolieren.308 Ausgehend von diesem Ansatz ist eine historische Deutung des Christentums im Kontext der allgemeinen Religionsgeschichte die „grossartigste und solideste Apologie des Christentums, die sich denken läßt“309. Die komparatistische, religionsgeschichtliche Sicht soll das Christentum als vollkommenste Gestalt der Religion erweisen. Pfleiderer etabliert mit seinem Verständnis von Offenbarung als Offenbarwerden des göttlichen Geistes im menschlichen Bewusstsein, einem Vorgang, der prinzipiell in jeder Religion erlebbar ist, und der Einordnung des Christentums in die Religionsgeschichte bewusst eine Form der natürlichen Theologie, in deziedierter Gegenposition zur Ritschl-Schule. 306 Vgl. O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (³1896), 336-344. „In der ganzen religionsgeschichtlichen Entwicklung ist das treibende Princip immer dasselbe: der Grundtrieb der Vernunft nach seiner Einheit über dem Ich und seiner Welt, einer Einheit, die, als Voraussetzung des Gegensatzes die den Menschen und seine Welt beherrschende Macht sein muss; verschieden aber ist die Form, in der diese göttliche Macht vorgestellt wird, entsprechend dem jeweiligen Inhalt des Selbst- und Weltbewusstseins.“ Ebd., 343f. 307 Ebd., 341. 308 „Die vergleichende Religionsgeschichte macht uns nicht nur duldsam gegen die fremden Religionen, indem sie zeigt, dass der göttliche Logos überall in der Menschheit die Samenkörner des Wahren und Guten ausgestreut hat, sie lehrt uns auch die eigene Religion besser zu verstehen, das Wesentliche und Zufällige, das Bleibende und Vergängliche an ihr klarer zu unterscheiden.“ O. PFLEIDERER, Religion und Religionen, 51. 309 O. PFLEIDERER, Das Urchristentum (²1902), VII.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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„Sehe ich recht, so liegt der Nerv ihres Gegensatzes (sc. der Ritschl’schen Schule) zu uns Anderen in ihrer unbedingten Verwerfung dessen, was sie selbst … die natürliche Religion zu nennen pflegen, worunter sie das verstehen was man sonst die religiöse Anlage der menschlichen Natur, den apriorischen Grund und Keim der religiösen und sittlichen Entwickelung, das anerschaffene Gottesebenbild oder die natürliche Gottesoffenbarung im menschlichen Wesen genannt hat.“310

Diese Form der natürlichen Theologie ist in seinen Augen auch geboten, weil sich aus der Geschichte die Bedeutung der Religion erschließt und diese deshalb als Anlage der menschlichen Gattung verstanden werden muss. Pfleiderer stellt diesen Punkt so in den Vordergrund, dass die spezifische Positivität der christlichen Religion, wie auch diejenige anderer Religionen, unterbestimmt in den Hintergrund tritt. Zu dem Ansatz eine natürlicher Theologie zu etablieren, gehört auch Pfleiderers Versuch, eine „religionsgeschichtliche Dogmatik“311 zu konzipieren und zu verfassen. Eine solche religionsgeschichtlich arbeitenden Dogmatik muss in seinern Augen darauf basieren, dass bei der Lehrbildung der einzelnen Religionen vergleichbare Fragestellungen und Problemlagen auftreten; im Rahmen der Soteriologie beispielsweise die Ansätze eines vollzogenen Versöhnungsgeschehens durch Mittlerwesen bzw. Mittlerbedeutungen.312 Pfleiderer inauguriert mit seinem nach einzelnen dogmatischen Themen wie „Der Gottesglaube“, „Der Schöpfungsglaube“, „Der Erlösungs- und Mittlerglaube“313 geordneten Werk eine Konzeption, die man deshalb als religionsgeschichtliche Dogmatik bezeichnen könnte, weil die Themen der christlichen Dogmatik nicht mehr gesondert behandelt, sondern in Beziehung auf analoge Themen- und Fragestellungen anderer Religionen erörtert werden. Diese Zusammenstellung der Themen christlicher Dogmatik mit den entsprechenden Themen anderer Religionen geschieht bei Pfleiderer auf der – zu problematisierenden – Grundlage, dass das Christentum letztgültige Antworten auf ein auch in anderen Religionen aufgegebenes Problem gibt und jene nur vorläufige und damit überbietbare Antworten zu formulieren imstande sind.

310 O. PFLEIDERER, Die Ritschl’sche Theologie, 77. 311 PFLEIDERER selber betont, dass die Dogmatik als positive Disziplin konsequent von der Religionsphilosophie zu unterscheiden sei. Vgl. Ders., Religionsphilosophie (1878), X. 312 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 621ff. 313 Ebd.,XVI – XIX. 312-722.

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III. Zum Theologieverständnis

2.3 Die Theologie als Geschichtswissenschaft bei Adolf Hilgenfeld Die Verankerung der Theologie als Geschichtswissenschaft ergibt sich für Adolf Hilgenfeld durch die Aufnahme und Verbindung der zwei alternativen Schulrichtungen zur Religionstheorie in der Nachfolge Schleiermachers und Hegels. In seinem Aufsatz „Die wissenschaftliche Theologie und ihre Aufgabe“ von 1858 betont er, dass die Unterschiede der Schulen bereits zurückgetreten seien, und versucht die beiden philosophie- und theologiegeschichtlichen Traditionsströme additiv miteinander zu verbinden. Unter Rückgriff auf Jacob F. Fries und Friedrich D. E. Schleiermacher gilt es, „das bleibende Recht der Religion auf das Gefühl als das unmittelbare Selbstbewusstsein im Unterschiede von Wissen und Tun“ zu gründen. Ferdinand Chr. Baur hat aus der „Schleiermacher’schen Schule … den Geist kritischer Forschung in die Hegel’sche hinüber(genommen), und in seinem Schüler Dav. Strauss … vereinigt sich der Einfluss der Hegel‘schen Spekulation mit der Anregung Schleiermacher’s und der rationalistischen Schriftbehandlung“.314

Ebenso ist es Baur gewesen, „welcher … die speculative Auffassung der christlichen Lehrentwicklung als eines nicht zufälligen und willkürlichen, sondern notwendigen Verlaufs der Sache selbst, als eines Processes einführte, welcher ‚auf der einen Seite die Notwendigkeit des mit sich selbst vermittelnden Dogma, auf der andern die freie Erhebung des Subjects zur Freiheit seines Selbstbewusstseins ist‘“315.

Damit hat er auch die Geschichtsforschung und eine evolutive Geschichtsbetrachtung als Grundlage der wissenschaftlichen Theologie implementiert. 2.3.1 Das Wesen des Christentums316 Bei der Grundlegung seines Religionsbegriffs lehnt sich Hilgenfeld zunächst an Schleiermacher an, insbesondere an dessen Reden über die Religion.317 Mit der Verankerung in der Bestimmtheit des menschlichen 314 A. HILGENFELD, Die wissenschaftliche Theologie, in: ZwTh 1 (1858), 1-21, hier: 10. 13. 315 Ebd., 16. 316 Vgl. dazu Kapitel III, 1.3.1 Das Christentum als Religion des Geistes und die neuere Philosophie des Geistes, 117f. 317 HILGENFELD bietet in seinem Aufsatz über die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts eine kurze Interpretation zu Schleiermachers Religionsverständnis und bezieht sich dabei auf die Reden, die Dialektik und die Glaubenslehre Schleiermachers. Vgl. Ders., Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, in: ZwTh 6 (1863), 1–40, insbesondere: 19ff.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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Selbstbewusstseins hat Schleiermacher das innere Wesen der Religion, ihre „wesentlich unzertrennliche Beziehung zum Bewusstsein des Menschen“318, hervorgebracht. Die in der Religion intendierte Synthese von Wissen und Handeln kann nicht über den Begriff, auch nicht über den Begriff Gottes, rekonstruiert, sondern nur im religiösen Bewusstsein erfahren werden. Das praktisch-moralische und das theoretisch-spekulative Religionsverständnis Kantscher respektive Hegelscher Provenienz führt Schleiermacher, in der Interpretation von Hilgenfeld, zu einer Einheit zusammen. Und zwar in der Einheit des Selbstbewusstseins, „welche in der Religion die Welt des Wissens und des Handelns zusammenhält“ 319. Nur ist es keine schlechthin unmittelbare Einheit, wie Schleiermacher sie als Gefühl ausdrückte, sondern eine solche, die auch die Vermittlung durch Denken und Handeln in sich aufnimmt. Hilgenfeld argumentiert hier gegen Schleiermachers Privilegierung des Gefühlsbegriffs zur Erschließung der Religion und für eine gegenseitige Bezogenheit von Vorstellung, Wille und Gefühl.320 Aber mit seinem Grundaxiom, einer alle innere Differenz versöhnenden Einheit des geistigen Lebens als Quelle der Religion und eines religiösen Bewusstsein der Gemeinschaft mit dem Ewigen und Unvergänglichen im innersten unseres Wesens, dringt Schleiermacher – so Hilgenfeld – am tiefsten „in das innerste Wesen der Religion“321 ein. Damit sind für Hilgenfeld die religiösen Inhalte nicht mehr durch eine übernatürliche Offenbarung äußerlich vorgegeben. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um Momente des religiösen Bewusstseins des Menschen. Als grundlegende Denkfigur gehört dazu die Vorstellung einer Idee der Religion des Geistes, die jegliche einzelnen Erscheinungen in der Geschichte bedingt. Das Christentum ist in seinem Wesen die Religion des Geistes, als das geistige Prinzip schlechthin die treibende Macht der Geschichte. „Die Geschichte zeigt und überall, in der alttestamentlichen Religion, wie in dem Protestantismus, eine Entwickelung, durch welche das geistige Princip selbst, welches die treibende Macht der Geschichte ist, seine innere Fülle in verschiedenen, theils nach einander auftretenden Gestaltungen offenbart. Dieses allgemeine Gesetz der geschichtlichen Entwickelung würde

318 A. HILGENDFELD, Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, 23. 319 Ebd., 28. 320 A. HILGENFELD, Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, 28f. Dieser Ansatz, eine gegenseitigen Bezogenheit von Vorstellung, Wille und Gefühl gegenüber SCHLEIERMACHERS Privilegierung des Gefühlsbegriffs zur Geltung zu bringen, begegnet auch bei O. PFLEIDERER. Vgl. dazu Kapitel III, 114–116. 321 A. HILGENFELD, Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, 37.

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III. Zum Theologieverständnis

geradezu aufgehoben, wenn der Ursprung des Christenthums eine Ausnahme machen sollte.“322

Mit dem idealistischen Verständnis des Christentums als geistiges Prinzip, das in Bezug auf Ursprung und Gestalt dem Gesetz der geschichtlichen Entwicklung unterworfen ist, geht Hilgenfeld mit Ferdinand Chr. Baur überein.323 Baur bestimmt das Wesen des Christentums als veranschaulichende Darstellung der vollen geistigen Wirklichkeit der menschlichen Gattung. Das Christentum ist „der reinste Universalismus, es ist die Befreiung des Geistes von allem Partikulären, das dem Geist in allen bisherigen Formen seiner Existenz immer noch anhing; nur in dem Allgemeinen, Absoluten, das das Prinzip des Christentums ist, weiß sich das Selbstbewußtsein des Geistes mit sich selbst eins“324.

Die hier erkennbare Beeinflussung durch die Religionsphilosophie Hegels zeichnet sich bei Baur noch stärker in seinen großen dogmengeschichtlichen Studien ab.325 Er versteht die Dogmengeschichte als einen geistigen Prozess, in dem sich, weil das Dogma selbst geistiger Natur ist, das Wesen des universalen Geistes offenbart. Für Baur besteht die christliche Lehrentwicklung nicht in kontingenter Abfolge einzelner Meinungen, wie es die pragmatische Dogmengeschichtsschreibung der Aufklärung annahm, sondern ein in sich sinnvoller, also vernünftiger und daher notwendiger Prozess.

322 A. HILGENFELD, Die wissenschaftliche Theologie, 18. 323 F. Chr. BAUR versucht im Anschluss an HEGEL, das Christentum auf einer ideellen Ebene als absolute Religion zu bestimmen. „Gott und Mensch sind eins, im Selbstbewusstsein des Geistes, und Gott ist der sich selbst wissende und in diesem wissen mit sich selbst identische Geist.“ Ders., Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes, Bd. I, 1841, 80. Zu Vita, Werk und theologiegeschichtlicher Verortung von F. CHR. BAUR vgl. E. BARNIKOL, F. Chr. Baur als rationalistischkirchlicher Theologe, Berlin 1970; F. COURTH, Das Wesen des Christentums, 218-338; W. GEIGER, Spekulation und Kritik. Die Geschichtstheologie Ferdinand Christian Baurs, München 1964; E. HIRSCH, Geschichte der neuern evangelischen Theologie V, 41968, 518–533; J. ROHLS, Ferdinand Christian Baur, in: P. NEUNER/G. WENZ (Hg.), Theologen des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2002, 39–58. 324 F. CHR. BAUR, Vorlesungen über die christliche Dogmengeschichte, Bd. I/1, Leipzig 1865, 91f. 325 BAUR veröffentlichte 1838 sein Werk „Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis auf die neueste Zeit“. 1841 bis 1843 erschien das dreibändige Werk „Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes in ihrer geschichtlichen Entwicklung“. Ein kurzes „Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte“ wurde 1847 publiziert, die Veröffentlichung „Vorlesungen über die christliche Dogmengeschichte“ erfolgte posthum zwischen 1865 und 1867.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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2.3.2 Entwicklung und Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie Das Verständnis der Theologie als Wissenschaft gewinnt Hilgenfeld durch seine ausführliche Auseinandersetzung mit Ferdinand Chr. Baur. Dieser hatte im Diskurs mit Friedrich Schleiermacher hatte Baur zwei Blickrichtungen aufgezeigt, die eine Wesensbestimmung des christlichen Glaubens und der Theologie zu beachten hat: die historisch-kritische Rückbesinnung und die religionsphilosophische Spekulation.326 Mit Hegel sah er dabei in der geschichtlichen Entwicklung immer Entwicklung von Ideen und in der Entwicklung einer Idee das zeitliche Auseinandertreten verschiedener Momente, die aber wesentlich bereits in der Idee enthalten sind. Es liegt, so führt er beispielsweise in seiner dogmengeschichtlichen Monografie über die Versöhnungslehre aus, „die neutestamentliche Lehre in einer großartigen objektiven Einheit vor uns, als einfacher, zwar nach allen Seiten hin noch unbestimmter, aber auch alle subjektive Einseitigkeit ausschließender Ausdruck des religiösen Bewusstseins. Die in dieser Einheit enthaltenen Richtungen nach der Verschiedenheit ihrer Momente hervortreten zu lassen und zum Bewusstsein zu bringen, um das an sich noch Unbestimmte zu seinem bestimmten

326 „Was das Christentum seinem Wesen nach ist, kann, da es selbst in die Reihe der geschichtlichen Erscheinungen gehört, nur auf geschichtlichem Wege erkannt werden.“ F. CHR. BAUR, Vorlesungen über die christliche Dogmengeschichte, Bd. I/1, Leipzig 1865, 1. E. HIRSCH sieht in BAURS Hauptwerken insofern Markensteine der neutestamentlichen Wissenschaft, als dadurch das Verfahren der Quellenkritik Aufnahme in die Bibelwissenschaft gefunden habe. Ebenso seien damit die neutestamentlichen Schriften als selbst der Geschichte angehörende geschichtliche Urkunden zu behandeln. Vgl. Ders., Geschichte der neuern evangelischen Theologie V, 41968, 524ff. BAUR publizierte 1836 den Aufsatz „Über Zweck und Veranlassung des Römerbriefs und die damit zusammenhängenden Verhältnisse in der römischen Gemeinde“. Er bezeichnete die Untersuchung ausdrücklich als „historisch-kritisch“, womit der Name für jene Methode eingeführt war, die BAUR konsequent entwickelt hatte. Jede urchristliche Schrift muss in die Geschichte des Urchristentums hineingestellt, zu den bestimmten in dieser Geschichte wirksamen Richtungen ins Verhältnis gesetzt und auf eine bestimmte in dieser Geschichte entstandene Lage bezogen werden. Darüber hinaus sind die in den verschiedenen urchristlichen Schriften enthaltenen Nachrichten stets von der geschichtlichen Stellung dieser Schrift her und ihren aus dieser sich ergebenden Urteilen und Zielen her zu beurteilen. Zur inhaltlichen Charakterisierung der sogenannten BAUR-Schule vgl. U. KÖPF, Die Theologischen Tübinger Schulen, in: Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung, 9–52, insbesondere: 46ff. Zur Begründung der historisch-kritischen Methode und einer konsequent historischen Theologie durch BAUR vgl. U. Köpf, Ferdinand Christian Baur als Begründer einer konsequent historischen Theologie, in: ZThK 89 (1992), 440–461.

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III. Zum Theologieverständnis

dogmatischen Begriff und Ausdruck zu erheben, musste die Aufgabe des sich entwickelnden Dogmas sein“327.

In seiner Studie über die christliche Gnosis von 1835328 hat sich Baur ausführlich mit Hegels Religionsphilosophie befasst und fortan bezeichnet er das eine identische Subjekt der Geschichte als absoluten Geist oder das Absolute, das sich über das Andere seiner selbst mit sich vermittelt. Erst durch die notwendige Entzweiung hindurch kommt der absolute Geist zum Bewusstsein seiner selbst als der absoluten Wahrheit.329 Die andere Blickrichtung der wissenschaftlichen Theologie ist für Baur die historische Forschung, denn was „das Christentum seinem Wesen nach ist, kann, da es selbst in die Reihe der geschichtlichen Erscheinungen gehört, nur auf geschichtlichem Weg erkannt werden“330. In der Einleitung zu seinem Paulus-Buch betont Baur ausdrücklich die aktuelle geistesgeschichtliche Bedeutung einer Reflexion auf den Anfang und das Wesen des Christentums durch den aufkommenden Historismus als wissenschaftlicher Grundlagendisziplin. Die Theologie reiht sich dann ein in den Wissenschaftskanon, wenn sie zurückschaut „auf die Anfänge und ersten Elemente, in welchem alles schon beschlossen liegt“ 331. In den Augen von Hilgenfeld liegt Baurs bahnbrechendes Verdienst in dieser geschichtlichen Auffassung der urchristlichen Geschichte und der Theologie überhaupt. Und so konstatiert er im Anschluss an Baur, dass „die geschichtliche Frage nach der ursprünglichen Gestalt und Entwickelung des Christenthums ... jetzt die eigentliche Lebensfrage unserer Theologie“332 ist. Allerdings tritt bei Hilgenfeld an die Stelle dialektischer Prozesse im Unterschied zur ‚TübingerSchule‘, wonach jeder Fortschritt auf der Überwindung realer Gegensätze beruht, das Verständnis einer linearen und kontinuierlichen Entwicklung verbunden mit dem Fortschrittsgedanken. Die Bezeichnungen „natürliche Entwicklung“, „sukzessive Fortbildung“ und „stetiger Fortschritt“ begegnen so häufig in Hilgenfelds literarischen Werken, 327 F. CHR. BAUR, Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1839, 8. 328 F. CHR. BAUR, Die christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1835. 329 Vgl. dazu F. COURTH, Das Wesen des Christentums, 232ff.; F. MILDENBERGER, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie, 140ff. 330 F. CHR. BAUR, Vorlesungen über die christliche Dogmengeschichte, Bd. I, 1. 331 F. CHR. BAUR, Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und seine Lehre. Ein Beitrag zu einer kritischen Geschichte des Urchristentums, Stuttgart 1845, 1. 332 Ebd., 17.

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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dass sie als historiographische Leitideen und methodische Hauptbegriffe gelten können.333 Insbesondere sein großes Forschungsinteresse an der jüdischen Apokalyptik verdankt sich nicht zuletzt der Vorstellung, dass diese „die Kluft der prophetenlosen Zwischenzeit ausfüllt und in jedem Falle den geschichtlichen Zusammenhang des Christenthums mit der prophetischen Weissagung des Alten Testaments vermittelt“334. Die jüdische Apokalyptik hat für ihn höchste geschichtliche Bedeutung und diese liegt darin, „dass sie uns durch ihren stetigen Fortschritt auf den Stand der jüdischen Erwartung [wie und wann wird die so lange Zeit von heidnischen Völkern besessene Weltherrschaft endlich auf das Gottesvolk übergehen] hinführt, als das Christenthum in Palästina auftrat.“335

Hilgenfeld ist der Überzeugung, dass die Theologie im Kanon der Wissenschaften nur dann eine Zukunft hat, wenn sie die historische Methode konsequent zur Anwendung bringt, denn sie hat wie jede andere Wissenschaft greifbare Gegenstände der Wirklichkeit zum Objekt, nämlich die Entwicklungsgeschichte des Christentums. So bleibt der historischen Theologie die große Aufgabe, den „eigentlichen Tatbestand“, d.h. den geschichtlichen Ursprung des Christentums „als der für alle Zeiten bleibenden, unerschöpflichen Lebensmacht … durch sorgfältige Erforschung der ganz oder teilweise erhaltenen Schriften und der in den ersten Zeiten unserer Religion verbreiteten eigentümlichen Gedankenwelt … nach seiner inneren Entwicklung immer klarer zu erkennen“336.

Auch wenn die Theologie nur in den historischen Fächern im strengen Sinne des Wortes Geschichtswissenschaft ist, so ist doch die Erkenntnis des geschichtlich Gegebenen die Grundlage aller weiteren Tätigkeit der 333 H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil II, B5. Der Entwicklungsgedanke hat seine geistesgeschichtlichen Wurzeln im Idealismus und begegnet in der Debatte um den Wissenschaftsbegriff bzw. die Frage der Wissenschaftlichkeit der Theologie im Kontext des Diskurses um die Perfektibilität. Es geht bei dieser Debatte um die Frage, ob der unendlichen Vervollkommnungsfähigkeit des Menschengeistes eine unendliche Vervollkommnungsfähigkeit der Offenbarung korresponidert. Vgl. dazu W. ELERT, Der Kampf um das Christentum, 159–167. E. ZELLER referiert in seinem Aufsatz zur Annahme einer Perfektibilität des Christentums u.a. die Positionen von W. M. L. DE WETTE und K. HASE, um dann seine eigene These zu formulieren: „Auch das Christentum macht keine Ausnahme von dem allgemeinen Gesetz der geschichtlichen Entwicklung.“ Vgl. E. ZELLER, Die Annahme einer Perfektibilität des Christentums, in: ThJb(T) 1 (1842), 1–43, hier: 43. Vgl. zur Genese der Perfektibilitätsfrage vgl. auch G. HORNIG, Der Perfektibilitätsgedanke bei J. S. Semler, in: ZThK 72 (1975), 381–397. 334 A. HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik, 2. 335 Ebd., 16. 336 A. HILGENFELD, Die Göttingische Polemik, 187f.

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III. Zum Theologieverständnis

Theologie. Es ist Hilgenfelds grundlegende wissenschaftstheoretische Auffassung, dass die Theologie in allen ihren Disziplinen nur auf dem Boden der historischen Methode als Wissenschaft möglich ist. 2.4 Zusammenfassung Die religionspsychologische und (religions-)geschichtliche Verankerung der Theologie erfolgt bei Lipsius, Pfleiderer und Hilgenfeld in der apologetischen Absicht, die Wissenschaftsfähigkeit der Theologie zu erweisen sowie ihren Platz im Gesamtkanon der Wissenschaften plausibel zu machen. Mit der Übernahme des Religionsbegriffs337 als eines Leitbegriffs für die Theologiekonzeption nehmen Lipsius, Pfleiderer und Hilgenfeld im Anschluss an Semler und Schleiermacher eine programmatische Unterscheidung von Religion und Theologie vor.338 Die gelebte Religion wird der theologischen Theorie vorgeordnet und mit dieser Unterscheidung eine „reflexive Selbstdistanzierung“ 339 in die Binnensicht der christlichen Religion eingeführt. Die liberalen Jenaer Theologen bestimmen Religion als eine in und mit der menschlichen Natur gegebene Anlage, und das Christentum als eine auf dieser natürlichen Grundlage beruhende geschichtliche Erscheinung. Daraus wird erkenntnistheoretisch der Schluss gezogen, dass ein wissenschaftliches Verständnis der Theologie nur so zu gewinnen ist, dass man von dem Religionsbegriff ausgeht, und auf diesem Hintergrund die Eigenart des Christentums sowie dessen Verortung in der allgemeinen Religionsgeschichte nachweist. Die Ausdifferenzierung des Religionsbegriffs und der religionsphilosophischen Konzeptionen erfolgt durch den Versuch einer Synthese von zwei Haupttraditionslinien der deutschen Religionsphilosophie, 337 Zur Übernahme des Religionsbegriffs als Leitbegriff für eine positionelle Religionstheologie und die Herausbildung verschiedener religionstheologischer Typen vgl. J. DIERKEN, ‚Religion‘ als Thema Evangelischer Theologie, in: NZSTh 43 (2001), 253– 264; E. FEIL, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Begriffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Göttingen 2001; F. WAGNER, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff, 19–163; Ders., Art. Religion, II. Theologiegeschichtlich und Systematischtheologisch, TRE 28, 513–545. 338 J. SALOMO SEMLER, Versuch einer theologischen Lehrart, Halle 1777; Ders., Über historische, moralische und gesellschaftliche Religion, Halle 1786. Vgl. dazu insbesondere F. WAGNER, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff, 48ff. F. SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Vgl. dazu insbesondere J. DIERKEN, Das zwiefältige Absolute. Die irreduzible Differenz zwischen Frömmigkeit und Reflexion im Denken Schleiermachers, in: ZNThG 1 (1994), 17–46. 339 J. DIERKEN, Das zwiefältige Absolute, 18.

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der analytisch-kritischen, die von Lessing über Kant zu Schleiermacher führt, und der historisch-synthetisch angelegten, die Herder, Schelling und Hegel umfasst. Pfleiderer urteilt stellvertretend für die liberale Jenaer Theologie, wenn er feststellt, dass man sich nicht mehr „auf den Isolierschemel des frommen Selbstbewusstseins“ stellen könne, aber auch nicht um der begrifflichen Konsistenz willen, „den soliden Boden des exakten Wissens und der besonnenen Induktion … verschmähen“ dürfe. „Vor diesen beiden Abwegen der großen Schulen wird unsere Wissenschaft sich zu hüten haben; aber behalten und immer mehr lernen wird sie von Schleiermacher die Feinheit der psychologischen Beobachtung und die schärfe der dialektischen Analyse, von Hegel die Freiheit der geschichtlichen Beobachtung und die Produktivität der spekulativen Synthese.“ 340

Da die Hegelsche Philosophie die Theologie vor das Problem gestellt hatte, dass die Religion das, was zu denken ist nur in der Form der Vorstellung oder des Vernunftbegriffs erfasst und darin in den Augen der Jenaer Theologen eine Depotenzierung der Religion enthalten ist, heben Lipsius, Pfleiderer und Hilgenfeld unter Rückgriff auf Schleiermacher hervor, dass die Religion eine vom reflektierenden Denken und vom sittlichen Leben zu unterscheidende eigentümliche Bedeutung hat. Gegenüber Schleiermachers Privilegierung des Gefühlsbegriffs zur Erschließung der Frömmigkeit argumentieren Lipsius, Pfleiderer und Hilgenfeld allerdings für eine enge Bezogenheit von Vorstellung, Wille und Gefühl. Man kann den religionstheologischen Entwurf der liberalen Jenaer Theologie als ein zusammengesetztes Verfahren kennzeichnen, das den im religiösen Gemüt zum Ausdruck kommenden Vorstellungen ebenso gerecht zu werden versucht, wie ihren gedanklichen Rekonstruktionen. Auch wenn dieser Versuch eines theoretischen Integrationsprogramms der Zugänge Schleiermachers und Hegels zu den Problemen des Religionsbegriffs eine Reihe von Fragen aufwirft, die Behauptung beispielsweise, dass die durch den Willen ausgebildeten Vorstellungsgehalte verantwortlich für eine Gefühlsresonanz zeichnen und es somit die Gehalte sind, die das Gefühl bewirken, verändert den Schleier-macherschen Gefühlsbegriff nicht nur, sondern nimmt ihm seinen Sinn, ist die Absicht dieser Konstruktion zu würdigen. Man wollte sich durch die Betonung der gegenseitigen Bezogenheit von Vorstellung, Wille und Gefühl der drohenden Subjektivierung entziehen, die man auf den Spuren Schleiermachers kommen sah und eine Intellek-tualisierung verhindern, die im Gefolge der Religionstheorie Hegels möglich schien. Mit der Verknüpfung der religionsphilosophi340 O. PFLEIDERER, Die deutsche Religionsphilosophie, 19f.

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schen Konzeptionen Hegels und Schleiermachers wollte man nicht zuletzt den Vorwurf der Religionskritik entkräften, die Religion sei entweder bloß substanzloses Fühlen oder bloß projiziertes Denken – oder gar beides zusammen. Die empirischen Materialien der Religionspsychologie, der Religions- und Christentumsgeschichte müssen in ihrer Eigenständigkeit gewürdigt werden, ohne dass man sich andererseits einer begrifflichen Ordnung ganz entzieht. Erkenntnistheoretisch impliziert dies für die Jenaer Theologen, dass das Subjekt die Erfahrungswelt konstituiert, indem es den ihm gegebenen Stoff seinen Erkenntnisformen entsprechend auffasst. Eine Metaphysik als Erkenntnis ist unmöglich, aber da die Erscheinungswelt, auf die sich unsere Erkenntnis beschränkt, kein ausschließliches Produkt unseres subjektiven Bewusstseins, sondern Reflex eines objektiven Daseins im Bewusstsein ist, entsteht uns als letzter Grenzbegriff unserer Erkenntnis der Begriff eines Dings an sich. Für die Religion ist somit eine wissenschaftlich-metaphysische Begründung nicht erreichbar, aber sie ist auch nicht vonnöten, da sich die Religion empirisch-psychologisch als Phänomen des menschlichen Geisteslebens und empirisch-geschichtlich von den verschiedenen Religion als Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung erfassen und plausibel machen lässt. So kommt es in der liberalen Jenaer Theologie zur Ausbildung einer mehrschichtigen Religionstheorie. Die psychologische Beschreibung soll den Ursprung des religiösen Bewusstseins im Menschen erfassen, und die metaphysische Beschreibung das Wesen der Religion als eines Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Das metaphysische Wesen der Religion besteht in der intelligiblen Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch, in der Einheit intelligibler Abhängigkeit und Freiheit. Das dogmatische Verständnis der Religion schließlich zielt auf ihre Verwirklichung in einer bestimmten Religion, die nicht auf dem Standpunkt der Wissenschaft, sondern nur auf dem Standpunkt des jeweiligen Glaubens erfasst werden kann. Mit dieser Ausrichtung ist die liberale Jenaer Theologie einerseits gegenüber Albrecht Ritschl bzw. der Ritschl-Schule und deren Versuch, die Theologie in einer biblischreligiösen Konstruktion der Sittlichkeit zu verankern, positioniert. Pfleiderer und Lipsius werfen Ritschl eine unzulässige Vermischung von Religion und Sittlichkeit vor, die beiden ihr Recht nehme, und betonen gegenüber Ritschl die lebenspraktischen Ursprünge der Religion und heben die Mystik in ihrer lebensgestaltenden Kraft als das religiöse Grundphänomen schlechthin hervor. Die Bindung des christlichen Glaubens an die geschichtliche Offenbarung in Jesus Christus darf auch

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keineswegs, wie von Ritschl gefordert und vertreten, zu einer christozentrischen Fokussierung der Theologie bzw. der Dogmatik führen. „Diese höchstens für eine populäre religiöse Darstellung brauchbare Anordnung setzt die völlige Absperrung der Dogmatik gegen die Philosophie, die Ausmerzung alles Allgemein-Religiösen aus der christlichen Lehre, die Geringschätzung der Apologetik und eine rein empiristische Auffassung der Grundtatsache des Christentums … voraus.“ 341

Lipsius und auch Pfleiderer verlangen demgegenüber eine religionspsychologische Grundlegung der Theologie und eine Einordnung der christlichen Religion in die allgemeinen Formen der Religion und die Religionsgeschichte. Andererseits erfolgt eine Abgrenzung gegenüber Alois E. Biedermanns und auch Isaak A. Dorners342 Verankerung der Theologie in der spekulativen Methode und der spekulativen Annahme, dass Begriffe uns wirkliche Erkenntnis des in ihnen gedachten Seins verschaffen und die Erkenntnisformen des Subjekts den Seinsformen der subjektunabhängigen Dinge entsprechen.343 Wenn das exakte Wissen nie über das Gebiet der äußeren und inneren Erfahrung hinausreicht und der von dem Einheitstrieb unseres Geistes geforderte höchste Einheitsgrund von Geist und Natur für die Wissenschaft unerkennbar ist, dann ist es unangemessen zu versuchen, aus den religiösen Erfahrungstatsachen metaphysische Erkenntnisse zu deduzieren. Die explizite Begründung der Religion auf der Basis der Psychologie und die kriteriologische Bedeutung der Psychologie für die theologische Argumentation bei Lipsius und Pfleiderer wirft die Fragen nach dem Verständnis von Psychologie und der Genealogie sowie möglichen Analogien dieses Ansatzes auf.344 Die ausdrückliche Verwendung

341 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 22. 342 Vgl. dazu M. HÜTTENHOFF, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 33–68. 343 In seiner Auseinandersetzung mit BIEDERMANN hält LIPSIUS fest: „Für die Selbstgewissheit des religiösen Bewusstseins trägt es meines Erachtens schlechterdings nichts aus, ob die objektive Realität des im Glauben erlebten Verhältnisses zu Gott sich aus metaphysischen Prinzipien deduciren lässt oder nicht.“ R. A. LIPSIUS, Dogmatische Beiträge, 130. Dass die Gewissheit des religiösen Bewusstseins vom metaphysischen Grund abhänge, war hingegen die Position BIEDERMANNS. Vgl. Ders., Christliche Dogmatik, 42ff.620ff. Auch DORNER betonte, dass die Erkenntnis des Christentums als Wahrheit die Möglichkeit real-objektiver Erkenntnis voraussetzt und nimmt an, dass die Erkenntnisformen des Subjekts den Seinsformen der subjektunabhängigen Dinge entsprechen. Vgl. dazu I. A. DORNER, System der christlichen Glaubenslehre, Bd. I, Berlin ²1886, 45ff. 344 Vgl. dazu D. KEMPER, Art. Religionspsychologie, in: HWP 8 (1992), Sp. 764–768; G. WOBBERMIN, Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode, Bd. 1, Leipzig 1913, 245–275. O. PPFLEIDERER expliziert mehrfach die kriteriologische Bedeutung der Psychologie für theologische und philosophische Theorien. So ist in

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des Psychologie-Begriffs im Kontext religionsphilosophischer Argumentation ist bei Friedrich Schleiermacher und seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte zu verorten. Wilhelm Dilthey urteilt, Schleiermacher habe „die Besinnung über den ganzen Umfang der psychologischen Tatsachen und ihre Beschreibung oder die empirische Psychologie als die allgmeine Grundlage seines Philosophierens betrachtet“345.

Von der Sache her haftet der Begriff der Religionspsychologie an Schleiermachers Aussagen über das Wesen der Religion, denen er die methodische Überlegung voranstellt, wie einerseits das Gemeinsame aller Glaubensweisen, andererseits das Eigentümliche des Christentums zu finden sei. Mit seiner Antwort, dass zu ihrer Erforschung nichts anderes gegeben sei, „als die Seelen, in welchen wir die frommen Erregungen antreffen“346 ist ein Verfahren ins Auge gefasst, dass sich als religionspsychologisches Verfahren bestimmen lässt. In seinen Vorlesungen zur Psychologie347 bekundet Schleiermacher die Überzeugung, dass für die Begründung jeder Konzeption vom systematischen Zusammenhang aller Wissenschaften eine Grundwissenschaft erforderlich sei, in der der organisierende Mittelpunkt allen menschlichen Wissens begriffen und theoretisch dargestellt wird. Gegenstand der Psy-

seinen Augen weder das supranaturalistische noch das rationalistische Verständnis der Offenbarung psychologisch haltbar, „denn daß alle religiöse Erkenntnisse auf dem Wege abstrahierender Reflexion erfunden und ausgedacht werden ... widerspricht aller Psychologie nicht minder als jenes mechanische Eingegossenwerden fertiger Lehrsätze nach supranaturalistischer Theorie“. Ders., Die Religion, Bd. 1, 364. 345 W. DILTHEY, Leben Schleiermachers, in: GS, XIV, 1. Halbband: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, hg. v. M. REDEKER, Göttingen 1966, 465ff. Gleichwohl wird sie in neueren Beschreibungen der SCHLEIERMACHERSCHEN Systemkonzeption entweder nicht erwähnt oder als bedeutungslos eingeschätzt. Vgl. dazu H.-J. BIRKNER, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 30-36; E. HERMS, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Tübingen 1974, 196ff. Allerdings hat HERMS eine Selbstkorrektur seiner Position vorgenommen. Vgl. dazu Ders., Die Bedeutung der ››Psychologie‹‹ für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher, in: Ders., Menschsein im Werden, Tübingen 2003, 171–199, insbesondere: 171f. 346 F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube 1821/22, hg. v. H. PEITER, Berlin/New York 1984, Bd. 1, § 7, I, 26. 347 F. SCHLEIERMACHER, Psychologie, Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. v. L. GEORGE, Berlin 1862 (SW III.6) Vgl. dazu K. HUXEL, Ontologie des seelischen Lebens. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie im Anschluß an Hume, Kant, Schleiermacher und Dilthey, Tübingen 2004, 145–235.

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chologie als dieser Disziplin ist unser Ich als der unhintergehbare Anfang allen Wissens, das wir erreichen können. In diesem Gegenstand ist uns das Leben als Inbegriff aller möglichen Gegenstände unseres Wissens – nicht nur des ethischen, sondern auch des physischen – gegeben. Und zwar in einer Form, die das spekulative und das empirische Wissen in ursprünglicher Vermitteltheit beisammen hält und deren Unterschied erst aus sich hervorgehen lässt. Die Verwendung von Begriffen wie ‚Psychologie‘ oder ‚psychologisch‘ im Kontext der Grundlegung von Religion und Theologie begegnet in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dort, wo von Schleiermacher beeinflusste Theologen sein Religions- und Theologieverständnis rekonstruieren. So betont beispielsweise Karl I. Nitzsch (1787–1868) in seinen Abhandlungen zu akademischen Vorlesungen, Schleiermacher habe die Urform der Religion mit „größerer psychologischer Bestimmtheit“348 bezeichnet. Heinrich Schmid (1811–1865) formuliert in einer Arbeit über die Beziehung von Schleiermachers Glaubenslehre zu den Reden über die Religion, dass dieser seine Idee der Religion psychologisch begründet habe.349 Zentraler gemeinsamer Bezugspunkt für die psychologische Verankerung der Religion bzw. eine religionspsychologische Rückbindung der Theologie ist das Werk von Karl Schwarz, der als erster eine Konzeption der Religionsphilosophie auf der Basis der Psychologie vornimmt und explizit bestimmt, dass das Wesen der Religion „aus einer Analyse des menschlichen Bewusstseins, d.h. psychologisch erklärt werden“350 muss. Die Grundlegung der Religion auf der Basis der Psychologie spiegelt sich bei Schwarz auch in seinen Ausführungen über den Inhalt der Dogmatik. Dieser ist nicht „Gott selbst, nicht die Welt im Ganzen und Großen, sondern das Verhältnis des Menschen zu Gott, das religiöse Verhältniß“ 351. Diese Begrenzung habe, so Schwarz, erst Schleiermacher vorgenommen und mit diesem übereingehend folgert er: „So gehört also die Dogmatik mit

348 K. (C.) I. NITZSCH, System der christlichen Lehre für akademische Vorlesungen, Bonn 61851, 14. NITZSCH spricht davon, dass SCHLEIERMACHER „mit einer selbstständigen Psychologie und demgemäß mit größerer Bestimmtheit“ verfahre. Vgl. Ders., System der christlichen Lehre, § 9. 349 „Er geht von psychologischen Grunderörterungen über den psychischen Ursprung der Religion in dem menschlichen Geist aus und zeigt, durch psychologische Zergliederung der Religion, daß sie ursprünglich weder ein Wissen oder Erkennen, noch ein Thun oder Handeln, sondern ein Fühlen sei.“ H. SCHMID, Über Schleiermacher’s Glaubenslehre mit Beziehung auf die Reden über die Religion, Leipzig 1835, 16. 350 K. SCHWARZ, Das Wesen der Religion, 4. 351 Ebd., 87.

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hinein in die Psychologie, sie ist religiöse Psychologie, die Systematisierung des religiösen Bewußtseins“352. Die religionspsychologische Basis der Theologie von Lipsius und Pfleiderer ist auch dahingehend von Schwarz vorgeprägt, als dieser einen Übergang von der religiösen Psychologie in die Metaphysik der Religion annimmt. In seinen Augen weist die religiöse Psychologie über sich hinaus, „zurück in das absolute Centrum, in dem sie gegründet, dessen Reflex ins menschliche Bewußtsein sie ist“353 und hat damit einen vorgängigen externen Bezugspunkt. Lipsius und Pfleiderer verstehen in Anlehnung an Schleiermacher und die Schleiermacher-Interpretation von Karl Schwarz die Psychologie als eine beide Formen des Wissens, empirisches und spekulatives, sowie beide Gegenstandsbereiche des Wissens, Natur und Geist, vermittelnde Wissenschaft, die als Grundlagenwissenschaft fungiert. Damit stehen sie in dem im ausgehenden 19. Jahrhundert geführten Diskurs zwischen experimentell ausgerichteter und verstehender Psychologie, naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Psychologie.354 In Anlehnung an Friedrich Albert Lange und dessen Lehre vom Vorstellungswechsel355 und in Auseinandersetzung mit Wilhelm Herrmann, der die erklärende Psychologie auf die physiologische reduzieren will356, halten beide an einer Form der geisteswissenschaftlichen Psychologie als eigenständiger Wissenschaft vom kausalen Zusammenhang psychischer Phänomen fest. „Die Verknüpfung des Einzelnen mit anderm Einzelnen erfolgt hier ebenso wie beim Naturerkennen nach logischen Gesetzen; im Vorstellungswechsel ebenso wie in der Umsetzung der Gefühle in Vorstellungen und der Vorstellungen in Willensantriebe ist ein ebenso strenger Causalzusammen-

352 Ebd., 87. SCHWARZ führt sogleich auch die Konsequenzen vor, wenn er fortfährt: „Und es ist durchaus notwendig und berechtigt, alle naturwissenschaftlichen wie alle metaphysichen Sätze, die in dem Convolut der alten Dogmatik neben dem specifisch-religiösen Inhalt sich erhalten haben, mit scharfem critischem Messer wegzuschneiden.“ Ebd. 87. 353 Ebd., 162. 354 Vgl. dazu G. JÜTTEMANN (Hg.), Wilhelm Wundts anderes Erbe: ein Missverständnis löst sich auf, Göttingen 2006. JÜTTEMANN will nachweisen, dass entgegen der bisherigen Überzeugung nicht W. DILTHEY als Begründer eines geisteswissenchaftlichen Psychologie zu gelten, sondern W. WUNDT dieselbe mit seinem Werk zur Völkerpsychologie begründet habe. Vgl. dazu W. WUNDT, Völkerpsychologie, 10 Bde., Leipzig 1900–1920. 355 F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 835–849. 356 W. HERRMANN, Rezension: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von R. A. Lipsius, in: ThStKr 50 (1877), 528.

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hang nachweisbar wie in den ‚materiellen‘ Veränderungen der äussern Natur.“ 357

Mit dieser Fundamentalstellung der empirischen Psychologie für das Wissenschaftssystem wird nicht allein der Anschluss an Schleiermacher vollzogen, sondern auch die Erkenntniskritik Kants aufgenommen. Denn für Kant war die Erhebung der ‚empirischen‘ (rationalen) Psychologie zur Fundamentaldisziplin nicht nur der Ausgangspunkt seiner Erkenntniskritik, sondern ein sich in ihr selbst durchhaltendes Moment.358 Die gesamte Phänomenologie der synthetischen Leistungen des erkennenden Subjekts basiert insofern auf empirischer Psychologie, als es um die Haltung der Selbstanschauung gewonnene Selbsterkenntnis des endlichen Subjekts geht. Die Überzeugung, dass das systembegründende Wissen in nichts anderem bestehen kann, als in dem immer schon vorauszusetzenden aus dem Leben stammenden Wissen des endlichen Bewusstseins um sich selbst, weist auch Analogien zu der Fundamentalstellung auf, die für Hegels Systemkonzeption die „Phänomenologie des Geistes“ besitzt, die er explizit als Psychologie konzipierte.359 Religion hat es einerseits mit der Welt der Kausalitäten, andererseits aber mit der Teleologie zu tun, die sich außerhalb klarer wissenschaftlicher Begründung bewegt. Daraus ergeben sich für die Lipsius und Pfleiderer hermeneutische und wissenschaftstheoretische Konsequenzen. Die teleologische Orientierung der Religion impliziert hermeneutisch, dass die Religion in einer Sprache der Bilder redet, es mit der dichtenden Phantasie zu tun hat und religiöse Vorstellungen aufgrund von religiösen Erfahrungen ausbildet.360 Auch die wissenschaftliche Explikation der religiösen Vorstellung kann sich von dieser Bildlichkeit nicht lösen. Es muss beachtet werden, dass ihre begriffliche Klarheit eine Abstraktion ist. Sie kann die Tatsachen der religiösen Erfahrung nicht zureichend erfassen. Daraus resultiert wissenschaftstheoretisch, dass sich die Theologie, speziell die Dogmatik, auf philosophischer Seite insbesondere die Metaphysik, nicht als strenge Wissenschaf357 R. A. LIPSIUS,Lehrbuch (³1893), 13; Vgl. Ders., Philosophie und Religion, 115. 358 Vgl. M. WUNDT, Kant als Metaphysiker, Stuttgart 1924, 127ff. 359 G. W. F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes (1807), hg. v. J. HOFFMEISTER, Leipzig 61952, 67. Gegenstand der Phänomenologie des Geistes ist „der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckte Stationen, durchwandert“. Die Phänomenologie kann daher auch insgesamt angesprochen werden als „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins“. Ebd., 68.74. 360 „Diese durchgängige Bildlichkeit aller unserer Aussagen über transcendentale Objekte ist die charakteristische Form aller unserer religiösen Erkenntnis.“ R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 303.

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ten entwickeln dürfen. Wenn sich die Dogmatik nicht in unauflösliche Aporien verstricken will, muss sie sich der Bildlichkeit bewusst bleiben und darf Bilder nicht wie Begriffe und die bildlichen Aussagen nicht wie adäquate theoretische behandeln. Werden die Bilder in wörtlichem Sinne genommen, z. B. die Vorstellung Gottes als Person, dann ist ihre Unangemessenheit deutlich, denn zum Personsein gehört z. B. die Endlichkeit als konstitutives Merkmal. Gleichwohl ist der Begriff religiös brauchbar. Er muss allerdings auf die Aspekte reduziert werden, die der Gottheit Gottes gemäß sind und beispielsweise dazu dienen können, die Relation zwischen Gott und Mensch auszudrücken. Die religiösen Vorstellungen sind bildliche Stellvertreter adäquater Begriffe, die uns auf das Sein Gottes verweisen, in dem unsere religiöse Erfahrung ihren unergründlichen Grund hat. Der wissenschaftliche Charakter der Dogmatik und damit die Wissenschaftlichkeit der Theologie überhaupt besteht nun darin, dass sie die unmittelbare Weltanschauung des Glaubens zu einer einheitlichen, die kausale und teleologische Betrachtung verbindende Weltanschauung ausbaut. 361 Die Dogmatik kann ihre wissenschaftliche Aufgabe allerdings nicht vollenden, sondern sich nur einer Vollendung annähern, weil der Widerspruch zwischen den formalen metaphysischen und den bildlichen religiösen Aussagen nicht restlos beseitigt werden kann. Die Bildlichkeit religiöser Vorstellungen und dogmatischer Aussagen steht in einem letztlich unaufhebbaren Gegensatz zur Geistigkeit und Übersinnlichkeit ihres Inhaltes. Die Dogmatik kann auf bildliche Aussagen nicht verzichten, wenn sie den religiösen Gehalt der Dogmen bewahren will. Andererseits kann sie die metaphysischen Elemente bzw. den Begriff des Absoluten und die an ihn geknüpften Aussagen nicht aufgeben, wenn sie die Weltüberlegenheit Gottes zur Geltung bringen will. Die Dogmatik hat daher notwendigerweise einen approximativen Charakter. Wissenschaftlich betrachtet – darin sind sich Lipsius und Pfleiderer einig – können Religionswissenschaft und Theologie nur zu vorläufigen Hypothesen kommen. Die Begründung dieses hypothetischen Charakters verläuft allerdings unterschiedlich. Während Lipsius in diesem Zusammenhang vor allem betont, diese Wissenschaften hätten es 361 An diesem Punkt setzt vor allem die Kritik von W. HERRMANN an, der genau dies bestreitet. Er ist der fundamentalen Überzeugung dass sich auf der gegebenen Differenzierungsstufe der Moderne das Christentum als eine einheitliche Weltanschauung nur dann ausbilden kann, wenn es sich von seiner umfassenden, theoretischtechnisches wie moralisch-praktisches Leben umfassenden Zuständigkeit befreit. „Eine Zerstörung der christlichen Weltanschauung ist die unausbleibliche Folge des konsequent durchgeführten Versuches, ihre einzelnen Momente aus der Einheit des Weltgrundes zu begreifen.“ W. HERRMANN, Die Metaphysik in der Theologie, 45.

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mit einem Bereich zu tun, der jede Erfahrung transzendiere, stellt Pfleiderer die Unübersehbarkeit und Unabgeschlossenheit des menschlichen Bewusstseins aller Zeiten heraus und verweist auf die geschichtlichen Entwicklungsprozesse. Richard A. Lipsius will mit seiner religionsphilosophischen Verankerung der Theologie, in einer Kombination von psychologischer und erkenntnistheoretischer Untersuchung, die Selbstständigkeit des Christentums bzw. seine grundlegende Positivität und die Anschlussfähigkeit im wissenschaftstheoretischen Diskurs erreichen. Die Besonderheit seines Entwurfs liegt in seiner Theorie der religiösen Erkenntnis, die einen Teil der Religionspsychologie bildet. Der Grund der religiösen Gewissheit ist die religiöse Erfahrung, die sich durch das Zusammentreffen des religiösen Triebes mit von ihm unterschiedlichen Erfahrungen ausbildet. Der Trieb wird durch die Erfahrungen bestimmt und die Erfahrungen durch den Trieb als Erfahrungen in einer Beziehung zu uns stehender übersinnlicher Objekte qualifiziert. Das aus dem Zusammentreffen hervorgehende adäquate religiöse Bewusstsein ist die unmittelbare Einheit eines Gefühls und einer Anschauung, des Selbstbewusstseins und des Gottesbewusstseins. Die religiöse Vorstellung bildet sich aus, indem die ursprüngliche Einheit aufgelöst und die religiöse Anschauung zur Vorstellung eines An-sich-Seins objektiviert wird. Das Recht der Objektivierung liegt darin, dass die erfahrene Beziehung Gottes zu uns einen Grund in Gott selbst haben muss. Dennoch ist die religiöse Vorstellung unangemessen, weil sie Gott und sein Verhältnis zu uns in sinnlichen Bildern darstellt, die im Widerspruch zur Geistigkeit des Dargestellten stehen. Die dogmatischen Begriffe und Aussagen teilen die prinzipielle Unangemessenheit, weil auch die wissenschaftliche Theologie an die Form der religiösen Vorstellung gebunden bleibt. Die Unangemessenheit löst einen Prozess der Vergeistigung, der Kritik und der Reformulierung aus, der den religiösen Gehalt der Vorstellungen von ihrer unangemessenen Form unterscheidet und sich bemüht, den Gehalt adäquater auszudrücken. Ein theologischer Unterschied zwischen Lipsius und Pfleiderer wird in der jeweiligen Bestimmung des Christentums fassbar. Lipsius betont in diesem Zusammenhang, dass das dogmatische Denken die grundlegende Positivität des christlichen Glaubens zum Ausgangspunkt hat. So formuliert er zur Bestimmung des Christentums: „Das Christentum als geschichtliche Religion ist der Glaube an die geschichtliche Offenbarung in Jesus Christus, dem Sohne Gottes und Erlöser der Menschen“362. Pfleiderer beginnt seine Erörterungen zum Christentum 362 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 124.

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in der Glaubens- und Sittenlehre mit folgender Bestimmung: „Das Christentum ist die von Jesus Christus ausgegangene und in ihm urbildlich verwirklichte Religion der Gotteskindschaft“ 363. Die Spezifik der religionswissenschaftlichen Grundlegung der Theologie bei Otto Pfleiderer liegt in der konstitutiven Berücksichtigung der geschichtlichen Gestalten für die Bestimmung des Wesens der Religion und der damit verbundenen Einordnung des Christentums in die Religionsgeschichte.364 Dabei ist der religionsgeschichtliche Ansatz Pfleiderers von zwei gegenläufigen Tendenzen bestimmt. Während er einerseits das Eigengewicht der empirischen Religionsforschung betont und bei der Darstellung der Religionsgeschichte auf den allgemeinen Wesensbegriff der Religion als bestimmendes Prinzip verzichtet, legt er dennoch seine Darstellung der Religionsgeschichte auf die Entwicklung der Gottesvorstellung hin an. Im Hintergrund steht dabei der durch Max Müller und Paul Asmus eingebrachte Gedanke einer Zusammenfassung des arischen (durch Indien, Iran und Griechenland repräsentierten) und des semitischen Religionstyps im Christentum.365 Der psychologische Wesensbegriff der Religion und die nun an der empirischen Religionsforschung orientierte Darstellung der Religionsgeschichte sind bei Pfleiderer unabhängig voneinander begründet, aber auf Konvergenz hin angelegt.366 Die komparativ angelegte religionsgeschichtliche Sicht soll das Christentum als vollkommenste Gestalt der Religion erweisen. Wie Baur erkennen auch Pfleiderer und Hilgenfeld stellvertretend für die gesamte liberale Jenaer Theologie, im Christentum „das notwendige Entwicklungsprodukt des religiösen Geistes unserer Gattung, auf dessen Bildung die ganze Geschichte der alten Welt hinstrebte, in dessen Ausgestaltung alle geistigen Erträgnisse des Orients und des Occidents ihre Verwertung und zugleich ihre Veredelung und Harmonisierung gefunden haben“367.

363 O. PFLEIDERER, Grundriß der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, Berlin ³1898, 36. 364 R. LEUZE hat in seiner Monografie zu PFLEIDERERS religionsphilosophischen Entwürfen dessen Entwicklung in der Verhältnisbestimmung von empirischer Geschichte und metaphysischer Spekulation im Rahmen der Definition des Religionsbegriffs dargestellt. Während in den ersten beiden Auflagen das begriffliche Interesse in der Schule HEGELS im Vordergrund steht, wird in der letzten Auflage der Einfluss des Empirismus deutlicher. Vgl. dazu Ders., Theologie und Religionsgeschichte, 381ff. 365 Vgl. dazu R. LEUZE, Theologie und Religionsgeschichte, 260–262.270f. 366 Die umfassende Rezeption und Verarbeitung der zeitgenössischen religionsgeschichtlichen Forschung durch O. PFLEIDERER ist von R. LEUZE eindrucksvoll erfasst und belegt worden. Vgl. Ders., Theologie und Religionsgeschichte, 188–247.260ff. 367 O. PFLEIDERER, Das Urchristentum (²1902), VII.

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Es ist die gemeinsame Grundüberzeugung, dass sich aus der Geschichte die Bedeutung der Religion erschließt und diese deshalb als Anlage der menschlichen Gattung verstanden werden muss. Pfleiderer stellt dies so ausdrücklich heraus, dass darüber die spezifische Positivität der christlichen Religion zurücktritt. Aufgrund der im Christentum erfolgten Zusammenfassung der religiösen Entwicklungsgeschichte bezeichnet Pfleiderer dieses als „Religion der Religionen“368. Während es bei Pfleiderer durch die Übernahme des Entwicklungsbegriffs aus dem Erbe Baurs zu einer Einordnung des Christentums in die Religionsgeschichte kommt und er dabei am Recht der philosophischen Spekulation zur Erschließung des Wesens der Religion festhält, verankert Hilgenfeld die Theologie als Geschichtswissenschaft. Er fordert die genaue Erfassung des Einzelfaktums anstelle einer geschichtsphilosophischen Durchdringung der übergreifenden Zusammenhänge der Geschichte. Nur durch dieses Selbstverständnis und die damit verbundene Methodik kann die Theologie im Kanon der Wissenschaften ihren Platz behaupten im Zeitalter des Historismus.

368 O. PFLEIDERER, Religion und Religionen (1906), 233.

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III. Zum Theologieverständnis

3. Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie Im Rahmen der zuvor erfolgten Darstellung der religionspsychologischen Grundlegung der Theologie hat sich der hohe Stellenwert der Anthropologie in der liberalen Jenaer Theologie abgezeichnet, den man der theologischen Lehrbildung im Gefolge Schleiermachers beigelegte.369 Im Folgenden soll der anthropologische Bezugsrahmen der Theologie bei den Jenaer Theologen ausdifferenzierter erfasst werden. Dies soll auch vor dem Hintergrund des generellen Vorwurfs an jegliche Form liberaler Theologie, sie habe den Gegenstand des Glaubens verloren und die Theologie in Anthropologie überführt, geschehen. 370 3.1 Die Religion als Phänomen des menschlichen Geisteslebens und die Psychologie als Propädeutik bei R. A. Lipsius Lipsius weist der Religionsphilosophie als der wissenschaftstheoretischen Verankerung der Theologie die Aufgabe zu, die Religion als Phänomen des menschlichen Geisteslebens zu erfassen. Eine metaphysische Bestimmung der Religion, die nicht an ihre psychologische Wurzeln und Verwirklichungsformen rückgebunden ist, lehnt Lipsius ab. Daraus ergibt sich für ihn, dass die Psychologie die eigentliche methodische Propädeutik der Theologie ist.371 Das Wesen der Religion kann 369 Vgl. dazu G. SAUTER, Mensch sein – Mensch bleiben. Anthropologie als theologische Aufgabe, in: Anthropologie als Thema der Theologie, hg. v. H. FISCHER, Göttingen 1978, 78–118; W. PANNENBERG, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 11–23. 370 Der psychologische bzw. anthropologische Rückbezug der Theologie wurde bereits von R. BULTMANN und K. BARTH als Preisgabe ihrer eigentlichen Aufgabe, als Verwandlung der Rede von Gottes Selbstoffenbarung in die Rede des sich selbst bespiegelnden Menschen, gewertet. Vgl. dazu Kapitel I, 8f., insbesondere Anm. 28.30. R. BULTMANN wendet gegen eine religionsphilosophische und religionspsychologische Grundlegung der Theologie, wie er sie bei E. TROELTSCH zu finden meint, ein: „Ihr Gegenstand ist nur noch das glaubende Subjekt, dessen Glauben als eine menschliche Haltung verstanden wird.“ R. BULTMANN, Theologische Enzyklopädie, Tübingen 1984, 193; vgl. auch Ders., Die liberale Theologie, in: Glaube und Verstehen I, 1–25. Zu K. BARTHS Einordnung der Anthropologie in den Gesamtzusammenhang seiner Theologie vgl. W. HÄRLE, Sein und Gnade. Die Ontologie in Karl Barths KD, Berlin 1975; E. JÜNGEL, Die Möglichkeit theologischer Anthropologie auf dem Grunde der Analogie, in: EvTh 22 (1962), 535–557. Vgl. auch G. HUMMEL, Theologische Anthropologie und die Wirklichkeit der Psyche, Darmstadt 1972, 5–188. 371 In seiner Abhandlung über Ursprung und Wesen der Religion spricht er von der empirischen Psychologie, mit Hilfe derer der Ursprung der Religion aus einer Analyse des menschlichen Bewusstseins erklärt werden kann und muss. LIPSIUS sieht

2. Die religionspsychologische und geschichtliche Verankerung der Theologie

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nur in Rückbindung an eine Analyse des menschlichen Bewusstseins erfasst werden und wir müssen nach der Analogie zwischen den Affektionen des geistig-seelischen Lebens und den Bedingungen der Möglichkeit einer theologischen Aussage fragen. Eine dazu konvergente anthropologische Fokussierung vollzieht Lipsius in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Signifikant für die religiöse Erkenntnis ist, dass wir es bei ihr unmittelbar und zunächst mit Tatsachen des menschlichen Bewusstseins oder mit inneren Vorgängen des menschlichen Geisteslebens zu tun haben, die vom Subjekt nicht abgetrennt werden können. Anders als beim theoretischen Welterkennen kann das subjektive Element hier nicht eliminiert werden. Denn unmittelbar wissen wir im religiösen Bewusstsein nur um uns selbst, wie wir tatsächlich auf Gott bezogen sind, und damit zugleich um Gott, wie er tatsächlich auf uns bezogen ist. 3.1.1 Das unmittelbare Selbstbewusstsein als „Urdatum aller Wirklichkeit“372 und Präsenz des transzendenten Grundes Das transzendentale Selbstbewusstsein ist das Bewusstsein des identischen Ichs als des Subjekts aller seiner Bewusstseinsakte, seines Vorstellens, Denkens, Wollens und Fühlens. Im transzendentalen Selbstbewusstsein weiß sich das Ich als selbsttätig und als beharrliche Einheit. Das transzendentale Selbstbewusstsein ist ursprünglich das zentrale Moment des unmittelbaren Selbstbewusstseins, da es nicht ein auf ein Objekt ausgerichteter Bewusstseinsakt ist, sondern ein Bewusstsein, das alle anderen Bewusstseinsakte begleitet. Es wird erlebt, aber nicht erkannt. „Dieses Subjekt erlebt sein Dasein in den Akten seiner Selbstthätigkeit, deren Mannichfaltigkeit sich in der Einheit seines Selbstbewusstseins zusammenfasst. Es ist seines Daseins als eines lebendigen Subjectes unmittelbar gewiss, mag man nun diese unmittelbar erlebte Gewissheit, welche alle

sich in diesem Ansatz einig mit K. SCHWARZ, E. ZELLER und insbesondere mit O. PFLEIDERER. „Ganz denselben Weg schlägt … auch Pfleiderer ein, in dem Grundrisse der Glauben- und Sittenlehre ebenso wie in der Religionsphilosophie.“ R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 198-247, hier: 202f. Vgl. dazu K. SCHWARZ, Das Wesen der Religion; E. ZELLER, Ueber Ursprung und Wesen der Religion, in: Vorträge und Abhandlungen. Zweite Sammlung, Leipzig 1877, 1–92. 372 Zur Theorie des Selbstbewusstseins bei LIPSIUS vgl. Ders., Studien über Schleiermacher’s Dialektik, in: ZwTh 12 (1869), 113-142; Ders., Philosophie und Religion, 45–54. 118–131.146–151.

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III. Zum Theologieverständnis

Bewusstseinsakte begleitet, unmittelbares Selbstbewusstsein, Ichgefühl oder ‚Selbstgefühl‘ nennen.“373

Die Selbsttätigkeit und Einheit des transzendentalen Ich, die im unmittelbaren Selbstbewusstsein in allen Bewusstseinsakten erlebbar ist, kann im reflektierten Selbstbewusstsein zum Objekt eines besonderen Denkens gemacht werden. Aber auch auf diesem Weg kann das transzendentale Ich nicht erkannt werden. Man kann das unmittelbare Selbstbewusstsein als Erlebnis der Einheit und Selbsttätigkeit des Ich kennzeichnen. Allerdings wäre das eine Unterbestimmung des unmittelbaren Selbstbewusstseins, da das Subjekt sich nur in Bewusstseinsakten erlebt und diese in das unmittelbare Selbstbewusstsein als deren jeweilige Bestimmtheit eingeschlossen sind. In seinen Bewusstseinsakten baut sich das Subjekt „seine Welt, die Welt seiner Anschauungen und Vorstellungen“ 374 auf. Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist „die unmittelbare Gegenwart unsres ganzen ungetheilten Daseins, das Innewerden unsrer selbst in der Totalität seines Inhalts, in seiner jedesmaligen ganzen, ungebrochenen Bestimmtheit oder Thätigkeit“375. Diese Einheit im Sinne einer Totalität ergibt sich nur dadurch, dass sich das Ich in den Bewusstseinsakten als die identische Einheit erlebt, der alle Bewusstseinsakte angehören. Das Ur- und Grunderlebnis des persönlichen Subjekts ist seine Ichheit selbst, in der es sich die ganze Außenwelt als seine Welt gegenüberstellt. Das Ich kann von jeder Vorstellung abstrahieren, aber nicht von sich selbst.376 Es erlebt und behauptet sich, „indem es sich als lebendiges, selbstthätiges Subjekt dieser seiner Welt als dem Objekt seiner Selbstthätigkeit gegenüberstellt“377. Lipsius bezeichnet in diesem Kontext das unmittelbare Selbstbewusstsein als das „Urdatum der Wirklichkeit“378. Jede Wirklichkeit ist uns nur gewiss, sofern sie in der Erfahrung für das sich selbst erlebende Subjekt ist. Auch die objektive, wissenschaftlich erklärbare Wirklichkeit, deren Erfahrungsmodus sich von dem des Erlebens grundsätzlich unterscheidet, ist „nur insofern gewiss, als sie an der Gewissheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins 373 R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 49. Vgl. Ders., Studien über Schleiermacher’s Dialektik, 132. 374 R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 131. 375 R. A. LIPSIUS, Studien über Schleiermacher’s Dialektik, 116. 376 R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 184. 377 Ebd., 121. 378 LIPSIUS verwendet diesen Ausdruck in Bezug auf das Erleben oder Fühlen, in dem das Subjekt seiner selbst bewusst wird ebenso in Bezug auf das transzendentale Subjekt selbst, wie auf die Tätigkeit des transzendentalen Subjekts. Vgl. dazu Ders., Philosophie und Religion, 45.49.108.120.

3. Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie

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teilnimmt“379. Die Grundlage jeder – auch der religiösen – Gewissheit ist für Lipsius die Selbstgewissheit des Subjekts, denn das Subjekt konstituiert die Erfahrungswelt, indem es den ihm gegebenen Stoff seinen Erkenntnisformen entsprechend auffasst. Alle wirkliche Erkenntnis bezieht sich auf subjektive Erfahrung, weil nur sie die Einheit von Anschauung und Begriff ermöglicht, die zur wirklichen Erkenntnis gehört. Die Wurzel der Erkenntnisformen ist die räumliche Synthesis, der Grund für die Notwendigkeit der räumlichen Anschauungsformen ist die psychophysische Organisation. Diese ist das eigentliche Apriori aller Erfahrung, auf ihr beruhen unsere Anschauungs- und Denkformen, sie ist der Grund der Erkenntnisformen. Da die Gesetzmäßigkeit der Erfahrungswelt auf der Konstitutionsleistung des Subjektes beruht, kann ihre Erkenntnis keine real-objektive, sondern nur eine phänomenal-objektive Geltung beanspruchen. Im religiösen Bewusstsein bilden das unmittelbare Selbstbewusstsein und die Anschauung eine unmittelbare Einheit, denn das religiöse Bewusstsein ist „seiner ursprünglichen Form nach weder ein gegenständliches Bewusstsein für sich noch ein zuständliches Bewusstsein für sich“380. Dem Inhalt nach ist das religiöse Bewusstsein ein „unmittelbares Selbstbewusstsein des Ich in seiner Beziehung zu Gott und in seiner durch diese bestimmten Stellung in der Welt, und mit diesem unmittelbaren Selbstbewusstsein zugleich eine innere Anschauung Gottes in seiner Beziehung auf das Ich und auf dessen Welt“381.

Im Unterschied zum wissenschaftlichen Erkennen ist das religiöse Erkennen stets subjektive Erkenntnis. Damit ist nicht nur die subjektive Bedingtheit der religiösen Erkenntnis gemeint, denn dies gilt von der wissenschaftlichen Erkenntnis auch in bestimmter Hinsicht. Gemeint ist vor allen Dingen, dass das religiöse Erkennen seinem Wesen nach ein Selbsterkennen, ein Wissen um uns selbst in einer bestimmten Relation ist. Ein objektives Erkennen ist immer nur in der Relation des Objekts auf das menschliche Selbstbewusstsein möglich. Das religiöse Bewusstsein ist – hier bezieht sich Lipsius explizit auf Schleiermacher – frommes Selbstbewusstsein, d.h. Bewusstsein von uns selbst in unserer Relation auf Gott, oder Bewusstsein von Gott in seiner Relation auf uns.382

379 380 381 382

R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 120. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 67. Ebd., 57. „Mit Recht bemerkt daher Schleiermacher in der Dialektik (S. 159) von den theologischen Begriffen, sie seien ‚Darstellungen der Art, wie das Bewusstsein Gottes in unserem Selbstbewusstsein ist‘, also nicht unmittelbare Aussagen über Gottes objec-

192

III. Zum Theologieverständnis

3.1.2 „Praktische Nötigungen“ als psychischer Ursprung der Religion Obwohl das Ich die Welt nur aufgrund seiner Konstitutionsleistung erfährt, erlebt es die ihm gegenüberstehende Welt auch als Grenze und Gefährdung seiner selbstbewussten Selbsttätigkeit und Personseins. Es erkennt dadurch die Notwendigkeit, sein Personsein gegenüber der Welt zu behaupten. Der psychische Ursprung der Religion ist somit die Nötigung, den Widerspruch zwischen der Naturbestimmtheit des Menschen und seinem Streben nach Selbstbehauptung zu überwinden. „Indem der Mensch einerseits als Naturwesen in den endlichen Causalzusammenhang verflochten ist, anderseits in seinem Selbstbewusstsein sich innerlich über denselben erhebt, ist ihm zugleich mit diesem ... Widerspruche die Nöthigung auferlegt, denselben denkend und handelnd zu lösen.“383

Dieser Nötigung entspricht er in der Weise, dass er „sein Selbstbewusstsein zu seinem Weltbewusstsein in Beziehung setzt und beides auf eine einheitliche Lebensansicht zurückführt“ 384. So gelangt Lipsius zu seiner Definition, dass die „Religion als Thatsache des menschlichen Geisteslebens das Verhältnis (ist), in welchem das Selbstbewusstsein und das Weltbewusstsein des Menschen zu seinem Gottesbewusstsein, jene beiden aber durch Vermittelung von diesem zu einander stehn“385.

Die Wurzel der Religion sowie der Metaphysik ist für Lipsius der „Einheitstrieb“ des menschlichen Geistes, das „Verlangen nach einer einheitlichen Weltanschauung“386. Der Einheitstrieb veranlasst uns, einen letzten Grund und ein letztes Ziel alles Seins, des geistigen und natürlichen Seins, unseres Seins und des Seins der Welt, anzunehmen. Insofern der Einheitstrieb dem Streben nach Selbstbehauptung entspringt, ist er teleologisch. Er verwirklicht sich jedoch nur, indem er sich mit dem Kausalitätsdrang, der alles aus seinen Ursachen zu erklären strebt, verbindet. In einem Vortrag über die Gottesidee ersetzt Lipsius die religiöse Deutung des Einheitstriebes durch eine theoretische und identifiziert nun den Freiheitstrieb des Menschen als den Ursprung der Religion. In diesem Vortrag will Lipsius gegen die Religionskritik von David Friedrich Strauss und insbesondere gegenüber der Bestreitung des

383 384 385 386

tives Wesen, sondern mittelbare.“ R. A. LIPSIUS, Studien über Schleiermachers Dialektik, 141. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (1876), 20. Ebd., 20f. Ebd., 26. Ebd., 21.

3. Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie

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persönlichen Gottesglaubens durch Pantheismus und Materialismus aufzeigen, dass es eine psychologische Notwendigkeit des Gottesglaubens gibt, die im menschlichen Geistesleben gründet, und somit auch wissenschaftlich nachweisbar ist.387 Trotz dieser Veränderung ist festzuhalten, dass Lipsius bereits in der ersten Auflage seines Lehrbuchs betont, dass die Religion nicht in einem intellektuellen Interesse, sondern in einer praktischen Nötigung gründet. In der dritten Auflage seines Lehrbuches führt er dann die Religion auf den Freiheitstrieb zurück. Der Mensch empfindet eine „praktische Nöthigung“ 388, den Widerspruch, der das Leben behindert und bedroht, zu überwinden. Es ist ein „praktisches Bedürfnis“ des Menschengeistes, „welches ihn immer wieder zu einer religiösen Weltansicht führt … das Freiheitsbedürfnis des Menschengeistes, das Streben nach Selbstbehauptung unserer geistigen Freiheit gegenüber der blinden Naturgewalt“389.

Die praktischen Nötigungen, die Lipsius als Ursprung der Religion identifiziert, beruhen auf dem unmittelbaren Selbstbewusstsein, in dem sich das Ich in seiner Beziehung zur Welt erlebt. Die praktischen Nötigungen allein vergewissern allerdings nicht die Wahrheit einer Religion. Die Wahrheit einer Religion erweist sich in ihrer Relevanz. Diese „erprobt sich für ihre Bekenner vor allem daran, dass sie hält, was sie verspricht, oder daran, dass der Mensch der von seiner Gottheit erbetenen Hilfe wirklich teilhaftig wird“390. Es ist allerdings zu beachten, dass es Lipsius im Hinblick auf die praktischen Wirkungen um die Re387 „Das Streben, eine letzte Ursache der Welt, einen letzten Einheitsgrund für das endliche und geteilte Dasein zu finden, kann sich mit dem religiösen Interesse auf einer bestimmten Entwickelungsstufe verbinden, aber ursprünglich ist es ein philosophisches, kein religiöses.“ R. A. LIPSIUS, Die Gottesidee (1877), in: Glauben und Wissen, 62–83, hier: 73. W. HERRMANN hat in seiner Rezension der ersten Auflage der Dogmatik von LIPSIUS darauf aufmerksam gemacht, dass die religiöse Deutung des Einheitstriebes der programmatischen Ausrichtung der Dogmatik von LIPSIUS widerspreche. Für LIPSIUS gehört zur Wissenschaftlichkeit der Dogmatik, dass sie – die Perspektive des christlichen Glaubens einnehmend – die dogmatischen Aussagen mit der wissenschaftlichen Welterkenntnis zu einer einheitlichen Weltanschauung verbindet. Dagegen wendet HERRMANN ein, dass die Dogmatik nicht „das Recht ihrer religiösen Grundvoraussetzungen vor der Wissenschaft“ nachweisen könne, sondern dass der christliche Glaube lediglich einem religiösen Bedürfnis gerecht werden würde, wenn das Interesse an einer einheitlichen Weltanschauung dem religiösen Trieb entspringen würde. „Man kann nicht beweisen, dass Aussagen des Glaubens außerhalb der Sphäre der Religion gelten, indem man nachweist, dass sie einem religiösen Bedürfnis entsprechen.“ W. HERRMANN, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von R. A. Lipsius, 1876, in: ThStKr 50 (1877), 525. 388 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 30. 389 R. A. LIPSIUS, Die Gottesidee, 74. 390 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 31.

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III. Zum Theologieverständnis

levanz der Wahrheit für die gegenwärtige Situation eines „Bekenners“ geht, und nicht darum, was in der jeweiligen Zeitsituation für relevant gehalten wird. 3.1.3 Das anthropologische Recht der Theologie In dem psychischen Vorgang, durch den sich die Religion realisiert, verbinden sich ein rezeptives und ein aktives Moment, das Innewerden des göttlichen Wirkens und der Abhängigkeit, die Frömmigkeit, und die Erhebung des Ich über die Naturbestimmtheit zur Gemeinschaft mit Gott, der Glaube. Wenn die Religion wie bei Friedrich Schleiermacher als schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl verstanden wird, ist das einseitig, weil diese Kennzeichnung das aktive Moment unterschlägt. An dem religiösen Vorgang nehmen „alle Functionen des menschlichen Geistes genau in derselben Weise Antheil, in welcher sie überhaupt als Momente des einheitlichen Geisteslebens des Menschen zu begreifen sind“391.

Im eigentlichen religiösen Vorgang sind zwei zentrale Momente zu unterscheiden. Zum einen wird uns das göttliche Wirken im Ich und in der Welt bewusst, und zum andern erhebt sich das Ich über seine Endlichkeit zur Gemeinschaft mit Gott. Diese beiden Momente unterscheidet Lipsius als Frömmigkeit und Glaube. In beiden zusammen verwirklicht sich die im Wesen des Menschen als eines endlichen Geistes gegründete unendliche geistige Bestimmung, und diese Verwirklichung äußert sich im unmittelbaren Selbstbewusstsein als Gefühl des geförderten Lebenszwecks oder als Bewusstsein des Heils und der inneren Seligkeit. Das Verständnis der Religion als Wechselbeziehung des göttlichen und menschlichen Geistes impliziert bei Lipsius eine anthropologische Rückbindung der Theologie. „Alles religiöse Denken und Thun bricht daher aus der Innerlichkeit des subjectiven Geisteslebens nothwendig hervor und geht in objective Gotteserkenntnis und Gottesverehrung über, kehrt aber ebenso nothwendig daraus wieder zurück ins unmittelbare Selbstbewusstsein des in der Selbstbeziehung auf Gott seine geistige Bestimmung erfüllenden und darin seines Heils gewissen Subjects.“392

Von einem anthropologischen Recht der Theologie ist zu sprechen, weil in der religiösen Erfahrung dem menschlichen Grundtrieb nach Selbstbehauptung die göttliche Hilfe korrespondiert. Da der Mensch seine Selbstbehauptung als Person gegenüber der Natur nicht aus eigener 391 Ebd., § 52. 392 Ebd., 56.

3. Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie

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Kraft durchsetzen kann, bedarf er einer Hilfe, die ihm nur eine übernatürliche, dem weltlichen Kausalzusammenhang überlegene Macht zu geben vermag. Weil er das Bedürfnis nach einer solchen Hilfe verspürt, kann er bestimmte Erfahrungen als Wirkungen einer übernatürlichen, göttlichen Macht identifizieren. Der religiöse Trieb allein kann die religiöse Gewissheit nicht erzeugen, weil das Streben nach übernatürlicher Hilfe nicht die Erfahrung der Hilfe selbst ist. Damit wirkliche religiöse Erfahrung entsteht, und sich der religiöse Trieb nicht unbefriedigt im Unbestimmten verliert, muss er durch von ihm verschiedene Erfahrungen bestimmt werden. Indem der Mensch die Hilfe erlebt, nach der er um seiner persönlichen Selbstbehauptung willen verlangt, werden ihm bestimmte Erlebnisse zu Erfahrungen des Göttlichen. Wenn der religiöse Trieb durch eine Erfahrung bestimmt wird, wird diese Bestimmung in das unmittelbare Selbstbewusstsein reflektiert und als Bestimmtheit des Selbstbewusstseins gefühlt, als bestimmte Förderung oder Behinderung der Selbstbehauptung des persönlichen Geistes. Andererseits verarbeitet die Phantasie die Bestimmung des religiösen Triebes durch ein Erlebnis, die das religiöse Subjekt als Wirkung einer göttlichen Macht deutet, zu einer inneren Anschauung des Göttlichen. Diese innere Anschauung ist keine unmittelbare Wahrnehmung des Göttlichen, denn wir erfahren das Göttliche nur durch Vermittlung eines Endlichen. Daher entstehen die inneren Anschauungen erst durch einen Akt der Phantasie, der „bildenden Anschauung“, die das anregende Erlebnis, das uns die Erfahrung des Göttlichen vermittelt zum Symbol des Göttlichen verarbeitet. „Alle unsere religiösen Aussagen sind ihrer Natur nach nicht mehr, als Beschreibungen eines bestimmten Momentes unseres Gottesbewusstseins in seinem Verhältnisse zu unserem Bewusstsein um uns selbst und um unsere Welt. Sie sind einerseits innere Anschauungen von der Wirksamkeit Gottes in uns und unserer Welt … sie sind andererseits Beschreibungen frommer Gemütszustände, die als Tatsachen unseres Selbstbewusstseins in der Wechselbeziehung der verschiedenen Faktoren unseres Glaubenslebens entstehen.“393

Religiöse Vorstellungen sind somit anthropologisch indiziert, weil die unmittelbare Bestimmtheit des Subjekts durch das Objekt hier in die vorstellungsmäßige Beschreibung des Objekts mit hineingezogen wird und damit sind die religiösen Vorstellungen in ihrer Beziehung auf das Absolute auch inadäquat. Die religiöse Vorstellung als theologischer Satz, oder als Dogma fixiert, ist rückgebunden an „eine einzelne Aussage des frommen Selbstbewusstseins, welche eine einzelne Beziehung 393 R. A. LIPSIUS, Glauben und Wissen, 19f.

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III. Zum Theologieverständnis

des Göttlichen zum frommen Subject ausdrückt“ 394 und dieselbe zu einer vermeintlich objektiven Aussage über das göttliche Wesen an sich ausprägt. Die Religion ist also in ihrer ursprünglichen Form die Einheit eines Gefühls und einer Anschauung, und jede religiöse bzw. theologische Aussage enthält einerseits eine bestimmte Weise, wie die bildende Anschauungskraft die wirksame Gegenwart Gottes in der Welt und im eigenen Innern erfasst und andererseits eine bestimmte Weise, wie das unmittelbare Selbstbewusstsein in dieser Anschauung sich zugleich innerlich bestimmt und zur Tätigkeit aufgefordert fühlt. Somit hat die Religion einen psychischen Ursprung und beruht auf dem Selbstbewusstsein in seiner Identität mit dem transzendenten Grund. Sie ist in ihrer Erscheinung im menschlichen Geist zugänglich und man kann von einem anthropologischen Recht der Religion sprechen, insofern der Mensch nur in der Religion sein Menschsein im vollen Sinn verwirklichen kann. Allerdings vollzieht sich diese Verwirklichung des Menschseins in der Religion nur durch einen externen Bezug, da jeglicher Trieb zur Religion bzw. einheitlichen Weltanschauung nur durch die von ihm unterschiedene Erfahrung der göttlichen Hilfe selber befriedigt werden kann. 3.2 Die anthropologischen Konstanten in Religion und Geschichte bei Otto Pfleiderer 3.2.1 Religion als Befriedigung des menschlichen Grundtriebes395 In seinem Erstlingswerk von 1869 bestimmt Pfleiderer die Religion als psychologische Tatsache bzw. eine Bestimmtheit des geistigen Lebens des Menschen. Indem er „als allgemein anerkannt“ meint voraussetzen zu dürfen, dass die Religion „wesentlich eine Bestimmtheit des geistigen Lebens des Menschen, eine in erster Instanz innerlichpsychologische Erscheinung“ sei, muss auch eine auf sie gerichtete wissenschaftliche Erkenntnis „von diesem ihrem Quellpunkt im Innern des menschlichen Geistes ausgehen ... also von der Selbstanschauung des religiösen Selbstbewusstseins“396. Hier sieht Pfleiderer den einzigen

394 R. A. LIPSIUS, Studien über Schleiermachers Dialektik, 144. 395 Vgl. dazu auch die Darstellung zur natürlichen Bestimmtheit des Menschen zur Religion bei O. PFLEIDERER im Zusammenhang mit der Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie in Kapitel III, 109–112. 396 O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, XI.

3. Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie

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sicheren Punkt, wo der Religionsphilosoph „festen Fuss fassen“ könne und von dem er darum auch nicht „abstrahiren“ dürfe.397 Der Angelpunkt für seine Wesensbestimmung der Religion ist die Annahme einer anthropologischen Konstante, die er in einem Grundtrieb des Menschen verortet, nämlich dem Grundtrieb für sich selbst und durch sich selbst zu sein.398 An anderer Stelle wurde bereits herausgestellt, dass die Genese des Trieb-Begriffs ihren Ausgangspunkt bei Johann G. Fichte hat, und von Pfleiderer unter Rückbezug auf Hermann Imanuel Fichte, Karl Fortlage und Heinrich Ulrici aufgenommen und neu bestimmt wurde.399 Der unendliche Grundtrieb hat nun als Trieb zugleich das Nichtsein, die Endlichkeit an sich, da jeder Trieb neben seiner positiven Seite, wonach er Streben, Spontanität und Kraft ist, zugleich eine negative Seite einschließt, nämlich einen Mangel, der als Bedürfnis und somit als Leiden empfunden wird.400 Der Mangel besteht in der Endlichkeit, und der unendliche Trieb ist auf die Aufhebung der Endlichkeit ausgerichtet.401 Der Mensch ist gekennzeichnet durch den Gegensatz von Selbstheit oder Freiheit auf der einen und Abhängigkeit auf der anderen Seite. Unter Zugrundelegung dieser Polarität als anthropologischer Konstante, bestimmt Pfleiderer die Religion als Prozess der Lösung dieses im Grundtrieb des Menschen wurzelnden Widerspruchs. Die Religion ist „die Befriedigung des menschlichen Grundtriebes, die Versöhnung des in den Grund des menschlichen Wesens hinab reichenden Gegensatzes zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, Freiheit und Abhängigkeit.“ 402

In seiner Religionsphilosophie von 1878 erweitert Pfleiderer die Bestimmung des Religionsbegriffs, indem er nun den Gottesbegriff als konstitutives Element einführt. Er kommt damit zu einer ähnlichen Definition der Religion wie Lipsius, wenn er die Religion als „Zusammen-

397 Ebd., XII. 398 „Dieses Unendliche kann aber nichts anderes sein als der Grundtrieb jedes menschlichen Einzelwesens, der Trieb der Selbstheit, der Trieb selbst zu sein d. h. für sich selbst und durch sich selbst zu sein, oder der Trieb nach Selbstgenuß und Selbstbesthätigung.“ O. PFLEIDERER , Die Religion, Bd. 1, 68. 399 Vgl. dazu Kapitel III, 1.2.1 Die natürliche Bestimmtheit zur Religion, 109-112, und die Literaturhinweise in den Anm. 83-88. R. LEUZE stellt die Genese des Begriffs von Fichte bis zur Aufnahme und Transformation bei PFLEIDERER ausführlich dar. Vgl. dazu R. LEUZE, Theologie und Religionsgeschichte, 30–62. 400 „So schliesst also der Grundtrieb des Menschen ausser der sich selbst unendlich bejahenden Selbstheit auch das Gegenteil derselben in sich, die Abhängigkeit.“ O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd.1, 71. 401 Ebd., 70f. 402 Ebd., 71.

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III. Zum Theologieverständnis

schluss des Selbst- und Weltbewusstseins im Gottesbewusstsein“403 bestimmt. Auch an dieser Stelle ist eine anthropologische Konstante der entscheidende Rückhalt für das Religionsverständnis, da der Mensch, so Pfleiderer, im Gottesbewusstsein eine Ergänzung in einer höheren Macht sucht. Hier dient ihm der Gottesbegriff dazu, die schroffe Dualität von Freiheit und Notwendigkeit, Selbst- und Weltbewusstsein zu überbrücken. „Es ist das innerste Bewusstsein seines (des Menschen) Selbst … dessen Reaktion gegen die Schranke und den Druck der Welt sich dadurch geltend macht, dass er eine Ergänzung seines gehemmten, machtlosen Willens in der höheren Macht eines unbeschränkten Willens sucht, der nicht ebenso eine Schranke seines Wollens am Können fände, sondern bei dem das Wollen zugleich das Wirken wäre.“404

3.2.2 Die anthropologischen Konstanten als Grundlage der Religionsgeschichte Für Pfleiderer gewinnt im Rahmen seiner religionsphilosophischen Grundlegung der Theologie die Religionsgeschichte zunehmend an Bedeutung. Bereits in der ersten Auflage seiner Religionsphilosophie von 1878 verzichtet er zugunsten der empirischen Geschichte auf eine apriorische Geschichtskonstruktion, und gibt damit das psychologisch bestimmte Religionsschema des Erstlingswerkes auf. In der zweiten Auflage seiner Religionsphilosophie von 1884 soll die Religionswissenschaft darüber entscheiden, was das Wesen der Religion ist. Und doch sind es auch hier wieder religionspsychologische Analogien, die es ermöglichen, die Religionen zueinander in Beziehung zu setzen. Diese Relationen können hergestellt werden, weil die „Gleichartigkeit der menschlichen Naturanlage durch die ganze Gattung hindurch mit unserer eigenen Erfahrung“405 die Voraussetzung jeglicher religionswissenschaftlichen Tätigkeit ist. Das Wesen der Religion ist „nicht Gegenstand der äusseren Erfahrung, von der die Geschichte berichtet, sondern gehört zu den Tatsachen der inneren Erfahrung … deren genauere wissenschaftliche Erkenntnis daher mittelst einer psychologischen Analyse gewonnen werden muss“406. 403 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 257. 404 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 259. In seinem Erstlingswerk von 1869 hatte PFLEIDERER das Abhängigkeitsbewusstsein mit dem „Trieb nach Ergänzung des (endlichen) Selbst durch das Unendliche“ bestimmt. DERS., Die Religion, Bd. 1, 70. 405 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (²1884), 658f. 406 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (³1896), 326.

3. Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie

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Man muss die verschiedenen Kräfte und Triebe des menschlichen Geistes bei der Hervorbringung der religiösen Zustände und Tätigkeiten miteinander in Beziehung setzen, was nicht mehr durch historische, sondern nur durch psychologische Analyse erfolgen kann. In der dritten Auflage der Religionsphilosophie führt Pfleiderer in diesem Kontext den Normbegriff ein und geht davon aus, dass zur Erkenntnis der idealen Normen bei der Beurteilung der Religionsgeschichte die Religionsphilosophie verhilft, und zwar „theils durch ihre psychologische Analyse des religiösen Bewusstseins, theils durch ihre vergleichende Zusammenstellung der analogen Erscheinungen aus verschiedenen Religionsgebieten“407.

Norm für die Prüfung und Sichtung des Geschichtlichen liegen im Innern des Subjekts als der zentralen anthropologischen Konstante, die ahistorisch zu verstehen ist.408 3.2.3 Die Deduktion der Gottesidee aus der menschlichen Vernunft Der ganzen religionsgeschichtlichen Entwicklung liegt ein Grundtrieb der Vernunft als konstantes Prinzip zugrunde. Und zwar der Grundtrieb nach einer Einheit über dem Ich und seiner Welt, einer Einheit, die, als Voraussetzung des Gegensatzes, die den Menschen und seine Welt beherrschende Macht sein muss. In dem Grundtrieb der Vernunft wird erkennbar, dass der Gottesgedanke nicht nur ein geschichtlich zufälliger, sondern auch ein notwendiger Teil unseres Bewusstseins ist. Er ist eine Forderung unserer Vernunft, die notwendig „zu einer höchsten Synthesis, zu der Idee Gottes“ gelangt, da erst damit „der Grundtrieb der Vernunft, die nach Einheit schlechthin strebt, zum vollen Abschluss“ kommt.409 Auch wenn gegen die Ansicht von dem wesentlichen Vernunftursprung des Gottesbewusstseins beispielsweise die Tatsache spricht, dass sich die Menschen unvernünftige Gottesvorstellungen gebildet haben410, ist Pfleiderer davon überzeugt, dass die Ableitung des Gottesbewusstseins aus der menschlichen Vernunftanlage sich mit diesem religionsgeschichtlichen Befund vereinbaren lässt.

407 Ebd., Vf. 408 „Wo soll nun die Norm für diese Prüfung und Sichtung des Geschichtlichen zu finden sein, wenn nicht im Inneren des Subjekts, in jenem Grundtrieb der Vernunft nach einer höchsten, das Selbst- und Weltbewusstsein harmonisierenden Einheit, den wir als Quell des Gottesbewusstseins erkannt haben?“ O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (³1896), 488. 409 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (³1896), 341. 410 Ebd., 342.

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III. Zum Theologieverständnis

Denn jede Form des Gottesbewusstseins ist Ausdruck einer gemeinsamen und kongruenten Entwicklung mit dem Selbst- und Weltbewusstsein, so dass „auf jeder Entwicklungsstufe jenes nicht vernünftiger sein kann als dieses, d.h. als der ganze Kulturzustand eines geselligen Kreises“411. In den Kontext seiner Deduktion der Gottesidee aus der der menschlichen Vernunft kann auch der Versuch Pfleiderers eingeordnet werden, den ontologischen Gottesbeweis in einen anthropologischen aus dem „Wesen des menschlichen Geistes überhaupt und schlechthin“ umzufunktionieren.412 Dabei geht Pfleiderer von Hegels Erneuerung des ontologischen Beweises auf die Deutung durch Descartes zurück, und zwar in dem Sinne, dass das Dasein dieses Begriffs in uns an sich selber schon ein Beweis für das Dasein Gottes ist, sofern er letzteres als einzig zureichenden Grund voraussetzt.413 Pfleiderer zieht dann den Hegelschen Geistbegriff heran, um den anthropologischen Gottesbeweis zu erläutern: „Der Widerspruch, der das Wesen des Menschen konstituiert: dass er Geist ist, also Unendliches, und doch wieder endlich, weil individuell beschränkt und zeitlich werdend, ... dieser Widerspruch findet seine einzige Lösung durch die Voraussetzung eines schlechthin unendlichen .... Gottes“ 414.

In der dritten Auflage seiner Religionsphilosophie spricht Pfleiderer von dem Vernunfttrieb als der schlechthinnigen anthropologischer Konstante. Er versteht darunter die Tendenz, Differentes zu synthetisieren. Die Unvermeidlichkeit, die einem als natürlich ausgegebenen Trieb anhaftet, soll ein Indiz dafür sein, dass jene Triebkraft ihrerseits nicht bloß subjektiv-produktiv verfasst ist, sondern dass ihrem Einheitsstreben ein objektives Korrelat entspricht. Indem ein vorstellungshaft bestimmtes Gefühl und ein vernunftgerichteter Trieb zusammentreten, bildet sich der Zirkel aus, der die Realitätsvermutung der Religion beweisen soll. Es ist für die Vernunft „nicht möglich, bei der

411 Ebd., 342. 412 Ebd., 181. In seinem Erstlingswerk von 1869 bestimmt er Aufgabe und Zielsetzung der Gottesbeweise. „Die objektive Wahrheit dieser (Gottes-) Idee nachzuweisen durch reflektirende Rückschlüsse aus der Welt- und Selbstbetrachtung, indem die geforderte Wirklichkeit Gottes als einzig mögliche Voraussetzung zur Erklärung der gegebenen Wirklichkeit des endlichen Seins nachgewiesen wird: das ist die Aufgabe, welche sich die Religionsphilosophie in den Beweisen fürs Dasein Gottes stellt.“ O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 160. 413 O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, 182. „Das Gottesbewusstsein des Menschen ist freilich das Göttliche in ihm, aber dieses Göttliche könnte gar nicht in ihm sein, wenn es nicht eine Wirkung wäre von einem Gott ausser und über ihm.“ Ebd., 182f. 414 Ebd., 184.

3. Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie

201

Zweiheit der Ideale des Erkennens und des Wollens, des Welt- und Selbstbewusstseins stehen zu bleiben“, denn „der Grundtrieb der Vernunft, der nach Einheit schlechthin strebt“ kommt erst in der Idee Gottes „zum vollen Abschluss“415. 3.3 Zusammenfassung Die anthropologische Rückbindung des Religionsbegriffs und des Theologieverständnisses kann als Grundzug liberaler Jenaer Theologie markiert werden. Lipsius, Pfleiderer – aber auch Hilgenfeld416 – verankern in expliziter Anlehnung an Schleiermacher die Religion im Bewusstsein des Menschen, das Präsenzort des transzendenten Grundes ist.417 Lipsius und Pfleiderer betonen, dass die Religion als psychologische Tatsache zu verstehen und empirisch-wissenschaftlich zu untersuchen ist. Die Wurzeln der Religion liegen in den Bedürfnissen des praktischen Lebens, dem Mangel der Endlichkeit, der angestrebten Versöhnung des Gegensatzes von Freiheit und Abhängigkeit, der Selbstbehauptung des persönlichen Lebens gegenüber allen Hemmungen, die die Welt ihm entgegensetzt. Somit erwächst auch der christliche Glaube aus den praktischen Nötigungen des Subjekts und dient der Behauptung und Förderung seines persönlichen Lebens. Entscheidend ist, dass die Religion als Lebensraum durch die Zuordnung zur praktischen Sphäre gewonnen wird. Die Religion stellt eine Lösung des erfahrenen Widerspruchs zwischen der inneren Freiheit des Menschen und der äußeren Abhängigkeit von dem kausalen Naturzusammenhang, eine 415 Ebd., 341. 416 A. HILGENFELD bezieht sich bei seiner Bestimmung des Religionsbegriffs vor allem auf F. SCHLEIERMACHER, der nach seiner Überzeugung „die Religion als das kennen lehrte, was sie an sich ist, in ihrer wesentlichen unzertrennlichen Beziehung zum Bewusstsein des Menschen“. A. HILGENFELD, Die wissenschaftliche Theologie, 10ff. Den zentralen Aspekt, den Schleiermacher „in dem Begriffe der Religion eingeführt hat (ist) ... eben die Macht des Gemüths, in welchem freilich alle höhern und edlern Gefühle zu Hause sind. In dem Gemüthe liegt das wirkliche Gleichgewicht des menschlichen Wesens.“ A. HILGENFELD, Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, 23. „Wenn der Denker die Welt, welche er begreifen will, der thätig Handelnde die Welt, welche er gestalten will, und wäre es im Unterliegen, als vollendet anschaut: so ist es eben das Gemüth, welches seine Macht und seine Rechte geltend macht ... Mit allem Rechte hat Schleiermacher auf die über alle einseitigen Besonderungen hinübergreifende, allen innern Zwiespalt versöhnende Einheit des geistigen Lebens als auf die Quelle der Religion hingewiesen.“ Ebd., 29. 417 „Mit Recht bemerkt daher Schleiermacher in der Dialektik von den theologischen Begriffen, sie seien Darstellungen in der Art, wie das Bewusstsein Gottes in unserem Selbstbewusstsein ist, also nicht unmittelbare Aussagen über Gottes objectives Wesen, sondern mittelbare.“ R. A. LIPSIUS, Studien zu Schleiermachers Dialektik, 141.

202

III. Zum Theologieverständnis

Versöhnung des Freiheitstriebes mit dem Abhängigkeitsgefühl dar. In der Religion geht es um den Anspruch auf Leben oder das „Streben nach Selbstbehauptung“418. „Sie ist diejenige praktische Lebensbeziehung des Menschen zu der weltbeherrschenden Macht oder zu Gott, welche beruht auf dem unmittelbaren und gottgewirkten Lebensgefühl der Lebensverbundenheit an Gott, und durch freiwillige Hingabe an ihn sich erhebt zur Lebensgemeinschaft mit Gott und damit zur gottähnlichen Stellung zur Welt.“419

Die anthropologische Rückbindung des Religionsbegriffs erfolgt bei Lipsius und Pfleiderer mit Hilfe der Konstruktion eines Triebes, der mit Hilfe der empirischen Psychologie aus der Analyse des menschlichen Bewusstseins erfasst wird.420 Die Unvermeidlichkeit, die einem als natürlich ausgegebenen Trieb anhaftet, soll durchaus ein Indiz sein, dass jene Triebkraft nicht bloß subjektiv-produktiv verfasst ist, sondern dass ihrem Einheitsstreben ein objektives Korrelat entspricht. „(D)amit tritt der Gott der religiösen Erfahrung an die Stelle des bloss postulirten aber nie zu erfahrenden Gottes der Kant’schen Philosophie.“421

Das aus der psychologischen Analyse des Bewusstseins gewonnene Religionsverständnis bekommt bei Lipsius und Pfleiderer somit durchaus objektive Dignität. Das religiöse Denken und Tun ist zwar in der Innerlichkeit des subjektiven Geisteslebens zu verorten, hat aber in der Beziehung des göttlichen auf den menschlichen Geist und für den Menschen notwendigen Erfahrung der göttlichen Hilfe, einen externen Bezugspunkt. Dieser wiederum hat seine Rückwirkung ins unmittelbare Selbstbewusstsein des in der Selbstbeziehung auf Gott seine geistige Bestimmung erfüllenden und darin seines Heils gewissen Subjekts. Lipsius begründet diesen Übergang bzw. die Wechselbeziehung von göttlichem und menschlichem Geist in der Religion damit, dass zwar religiöse Aussagen nur Gottes Wirkungen in unserem Bewusstsein spiegeln, jedoch sind diese Wirkungen in seinem Wesen begründet und insofern verweisen die religiösen Aussagen indirekt auf das Ansich-Sein Gottes, in dem die Wirkungen Gottes auf uns und seine Beziehung zu uns begründet sind. Zudem hält er mit der ersten Auflage von Schleiermacher’s Reden über die Religion von 1799 daran fest, dass die religiösen Vorstellungen einen doppelten Ursprung haben, insofern 418 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 23. 419 O. PFLEIDERER, Grundriss (³1898), 12. 420 „Wie alle Anlagen, so äussert sich auch unsere Vernunftanlage in bestimmten Trieben …; sie sind die angeborenen (apriorischen) Grundformen der Vernunfttätigkeit.“ O. PFLEIDERER , Religionsphilosophie (³1896), 336. 421 Ebd., 340.

3. Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie

203

das Wissen um die Beziehung des religiösen Bewusstseins auf Gott nicht erst durch einen sekundären Akt der Reflexion zum ursprünglichen religiösen Bewusstsein hinzutritt, sondern ein konstitutives Moment desselben ist.422 Pfleiderer begründet die objektive Dignität des Gottesbewusstseins als Wirken des transzendentalen Einheitsgrundes im wirklichen Bewusstsein, bzw. durch die Erscheinung der Einheit des Idealen und Realen innerhalb des unmittelbaren Selbstbewusstseins. „Das Gottesbewusstsein in welchem sich der allgemeinste Bewusstseinsgegensatz, der von Selbst und Welt, auflöst, ist eben nichts anderes als das einigende Hereinwirken des transcendentalen Einheitsgrundes in das wirkliche Bewusstsein. … So ist denn die religiöse Thatsache des Gottesbewusstseins … die Erscheinung der vom Denken gesuchten Einheit des Idealen und Realen innerhalb des unmittelbaren Bewusstseins, … der Thaterweis des absoluten Geistes von sich selbst als dem Grund und Ziel des endlichen Geistes.“ 423

Die objektive Dignität der Religion im Rahmen eines Wechselverhältnisses des menschlichen und göttlichen Geistes kann allerdings nur erfasst und postuliert werden unter Einbeziehung des unmittelbaren Selbstbewusstseins des Subjekts als „Urdatum der Wirklichkeit“ und als Ort der Präsenz des transzendenten Grundes. In dieser Hinsicht ist kann man von einer Wechselseitigkeit als Strukturmerkmal der Religion sprechen. Das bedeutet allerdings, dass es bei der religiösen Erkenntnis immer ein subjektives Element gibt, das nicht eliminiert werden kann. Unmittelbar wissen wir im religiösen Bewusstsein nur um uns selbst, wie wir tatsächlich auf Gott bezogen sind, und damit zugleich um Gott, wie er auf uns bezogen ist. In der anthropologischen Rückbindung von Religion und Theologie spiegelt sich philosophiegeschichtlich und wissenschaftstheoretisch der Anschluss der liberalen Jenaer Theologie an die Tradition der Anthropologie und Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts und zwar nicht nur des Empirismus eines David Hume424, sondern auch des Kri422 F. SCHLEIERMACHER, Reden über die Religion (1799). Vgl. dazu W. PANNENBERG, Systematische Theologie, Bd. 1, 151ff.; J. RINGLEBEN, Schleiermacher’s Wiederentdeckung von „Religion“, in: Ders., Arbeit am Gottesbegriff, Bd. II, Tübingen 2005, 275– 293. 423 O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 405f. 424 D. HUMES anthropologische und phänomenologische Begründung der Wissenschaft besteht in ihrem ersten Schritt darin, nichts weiter von der Gegenständen der Erfahrung anzunehmen, als was bzw. wie sie unmittelbar im Bewusstsein gegeben sind und als solche beobachtet werden können. Bei ihm vollzieht sich der Abbruch der Psychologie in ihrer metaphysischen Tradition und ihre Rekonstruktion als Fundamentalwissenschaft eines empirischen Systems der Wissenschaften. Vgl. dazu E.

204

III. Zum Theologieverständnis

tizismus bei Immanuel Kant und Friedrich Schleiermacher. Mit diesem identifiziert die liberale Jenaer Theologie den in der Selbstanschauung zu erfassenden Sachverhalt der bewussten Individualität als den einheitlichen Boden, in dem alle Wissensgebiete gemeinsam wurzeln: die Theorie des endlichen Geistes (also die Theorie seiner Rezeptivität, seines Gefühls und seiner Spontanität, seines Handelns) ebenso wie der endlichen Natur, und schließlich auch die beides zusammenfassende Theorie der Geschichte. Das systembegründende Wissen besteht somit in dem immer schon vorauszusetzenden aus dem Leben stammenden Wissen des endlichen Bewusstseins um sich selbst, das seinerseits in seiner ursprünglichen Verfasstheit als unmittelbares Selbstbewusstsein begründet ist. Mit Schleiermacher und auch Hegel 425 wird der Umkreis der bei Kant noch allein thematisierten Erscheinungen des Physischen ausgeweitet auf die Erscheinungen des Psychischen. Während für Hegel diese erscheinenden endlichen Gestalten des Geistes so aufeinander folgen, dass in ihrem Durchgang schließlich der Geist in seinem Ansich-Sein für sich wird, folgen Lipsius und Pfleiderer Schleiermacher darin, dass der endliche Geist an die Erscheinungen des Lebens für ihn gebunden bleibt, die ihren Ort im unmittelbaren Selbstbewusstsein haben bzw. Bestimmungen des unmittelbaren Selbstbewusstseins sind. Das impliziert die Einsicht, dass die Wahrheit nur so für uns erkennbar ist, dass sie uns erscheint. Wir werden ihrer nur durch ihr Erscheinen im Bestimmtsein unseres unmittelbaren Selbstbewusstsein gewiss und nicht durch das Denken. Die anthropologische Rückbindung der Theologie zeigt sich auch in dem Rechtfertigungsverständnis von Lipsius, wobei er die Rechtfertigungslehre als zentrale Lehre des evangelischen Glaubens versteht. Er stimmt mit Ritschl darin überein, dass die Rechtfertigung nicht analytisch, auf den neuen Lebensgehorsam der Gläubigen gegründet, sondern synthetisch zu verstehen ist, d.h. die Kindschaft bei Gott wird den Gläubigen um Jesu Christi willen zugesprochen. Diese Bestimmung hält Lipsius aber für nicht ausreichend, da es in der Rechtfertigungslehre zuerst um die Frage geht „worauf für den Christen im Gnadenstande die Gewißheit seiner Rechtfertigung ... beruhe“ 426. Rechtfertigung ist in dieser Perspektive die subjektive Aneignung der Versöhnung die aus Gottes freier Gnade in Jesus Christus Wirklichkeit geworden ist, HERMS, David Hume (1711–1786), in: ZKG 94 (1983), 279–312; K. HUXEL, Ontologie des seelischen Lebens. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie im Anschluß an Hume, Kant, Schleiermacher und Dilthey, Tübingen 2004, 23–83. 425 Vgl. dazu G. W. F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes (1807), hg. v. J. HOFFMEISTER, Leizig 61952 67.68.74. 426 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 689ff.

3. Die anthropologische Rückbindung von Religion und Theologie

205

und die als solche ein Liebesverhältnis zwischen Gott und Mensch begründet. „Der göttliche Akt der Rechtfertigung oder der Sündenvergebung ist die Willenskundgebung Gottes, daß der reuige Sünder trotz seiner Schuld von Gottes Vaterherzen nicht getrennt oder von der kindlichen Gemeinschaft mit Gott nicht ausgeschlossen sein soll.“ 427

Das bedeutet, dass der Glaube „die geschichtliche Offenbarung von der Versöhnung in Christus persönlich auf sich“ zieht.428 Weil Rechtfertigung eine Wende der menschlichen Existenz bedeutet, ist sie als Zentrallehre des christlichen Glaubens zu sehen. Nur von ihr her als subjektiver Aneignung der als göttliche Objektivität dem Menschen sich darbietenden Versöhnung, kann Heilsgewissheit begründet und erfasst werden. Mit seiner das Subjekt betonenden Sicht, hebt Lipsius die Gerechtmachung des Menschen besonders hervor, wobei Gerechtmachung für Lipsius vor allem Wiedergeburt meint, „welche an dem in die Liebesgemeinschaft mit Christus Aufgenommenen sich als das Walten des Geistes Christi in ihm betätigt“429. Die unter theologischen Gesichtspunkten wichtigsten Anfragen an die anthropologische Rückbindung des Religions- und Theologieverständnis von Lipsius und Pfleiderer müssen bei der Zuordnung von Welt-, Selbst- und Gottesbewusstsein ansetzen. Damit muss die Theorie des Inhalts möglicher Gotteserkenntnisse und die Art ihrer Begrenzung ebenso problematisiert werden, wie die psychologische Theorie vom Zustandekommen der Gotteserkenntnis im qualifizierten Progress der durch Welterfahrung vermittelten Selbsterfahrung des endlichen Geistes. Ebenso muss der wichtige Hinweis der frühen Dialektischen Theologie zur Sprache gebracht werden, dass religiöse Erfahrungen, worin sie des näheren auch bestehen mögen, jedenfalls nicht auf derselben Ebene lokalisiert werden können wie die übrigen Erfahrungen eines Subjekts bezüglich der es umgebenden raum-zeitlichen Wirklichkeit. Dieser Aspekt ist in der liberalen Jenaer Theologie nicht ausreichend bedacht.

427 Vgl. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 690. 428 Ebd., 690.696f. 429 Ebd., 698.

IV. Prinzipien und Standortbestimmung von Exegese und Hermeneutik Karl Heussis Kennzeichnung der liberalen Jenaer Theologie als „historisch-kritisch und philosophisch orientierte Theologie“1 wirft die Frage nach den exegetischen Prinzipien und hermeneutischen Grundlagen bei den Beteiligten auf. Im Folgenden werden daher anhand jeweils ausgewählter Werke von Richard A. Lipsius, Otto Pfleiderer, Adolf Hilgenfeld, Ludwig Diestel, Adalbert Merx und Eberhard Schrader ihre exegetischen Prinzipien und ihre Hermeneutik erforscht und dargestellt. Dabei geht es gemäß der Leitfragen unserer Arbeit um die sich abzeichnenden Konvergenzlinien, anhand derer die Gestalt liberaler Jenaer Theologie sichtbar wird. Die Aufgabe, gemeinsame Wurzeln und konvergierende Linien der Exegese und Hermeneutik herauszuarbeiten, macht es nicht zwingend erforderlich, die Entwicklung der exegetischen Arbeit bei den einzelnen Theologen darzustellen. Wir beschränken uns einerseits auf einzelne Hauptwerke und anderseits auf bestimmte Themenstellungen, anhand derer eine Darstellung zur Exegese und Hermeneutik im Grundriss erfolgt. Die Ausarbeitungen zu den Beteiligten der liberalen Jenaer Theologie führen uns sowohl in die alttestamentliche als auch in die neutestamentliche Forschungsgeschichte. Ein Gewinn dieser doppelten Ausrichtung ist darin zu sehen, dass neben den markanten Unterschieden zwischen der Forschungslage auf dem Gebiet des Alten und des Neuen Testamentes auch die übereinstimmenden bzw. parallel laufenden Ansätze in den Blick rücken. Rudolf Smend hat in einer forschungsgeschichtlichen Studie zu den Epochen der Bibelkritik nachgewiesen, dass sich die wissenschaftliche Erforschung beider Testamente in mancher Hinsicht parallel und in mehr oder weniger engem Zusammenhang entwickelt, obwohl die fortschreitende Spezialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert die bis dahin häufige Personalunion immer seltener werden ließ.2 1 2

Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel I, 28ff. W. M. L. DE WETTE (1780–1849) und sein Schüler F. BLEEK (1793–1859) beispielsweise waren noch gleichermaßen Atl- und Neutestamentler. Vgl. dazu R. SMEND, Über die Epochen der Bibelkritik, in: Bibel und Wissenschaft, 29–50.

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IV. Exegese und Hermeneutik

1. Zur Exegese und zum Schriftverständnis bei Richard A. Lipsius Bevor sich Lipsius 1855 in Leipzig mit einer Untersuchung über den ersten Clemensbrief und damit einer kirchenhistorischen Arbeit habilitiert hatte3, war er zuvor mit seiner Dissertation über die paulinische Rechtfertigungslehre und einer Abhandlung über den ersten Thessalonicher-brief mit neutestamentlichen Arbeiten hervorgetreten.4 Durch Ferdinand Chr. Baur (1792–1860)5 zur historischen Exegese und Erforschung der Christentumsgeschichte angeleitet, wurde dessen Verständnis der urchristlichen Geschichte für Lipsius zum Eckpfeiler der neutestamentlichen Forschung. Andererseits emanzipierte sich Lipsius von einer in seinen Augen bei Baur zu starken Dominanz der geschichtsphilosophischen Konstruktion auf Kosten der historischen Einzelfakten. In der forschungsgeschichtlichen und exegetischen Arbeit Baurs zeigt sich in den Augen von Lipsius zunehmend der Einfluss von Hegels Auffassung der Geschichte als eines dialektischen Prozesses. Für Baur spiegelt sich dieser dialektische Prozess in dem Gegensatz von petrinischem und paulinischen Christentum, die im nachapostolischen Christentum zum Ausgleich kommen. Die Darstellung des Urchristentums und seiner Geschichte zeigt, so Baur, diesen konstruktiven Zug. Hier ist ein ursprüngliches Judenchristentum anzunehmen, dem der gesetzesfreie 3 4 5

Vgl. dazu die Ausführungen zur Person, zum Werk, zur theologie- und wissenschaftsgeschichtlichen Verortung von R. A. LIPSIUS in Kapitel II, 35ff. R. A. LIPSIUS, Die paulinische Rechtfertigungslehre, 1853; Ders., Ueber Zweck und Veranlassung des 1. Thessalonicherbriefes, in: ThStKr 27 (1854), 905–934. F. CHR. BAUR hatte im Rahmen seiner neutestamentlichen Forschung bereits 1829 in einer Untersuchung über die Stephanusrede der Apostelgeschichte eine doppelte Art apologetischer Reden im Neuen Testament beobachtet, von denen nach seiner Meinung die eine glaubt, das Christentum sei mit den Juden zu versöhnen (Petrus), die andere an der nicht erfolgenden Bekehrung der Juden zu Jesus verzweifelte (Stephanus). Vgl. Ders., De orationis a Stephano Act. Cap. VII consilio, Weihnachtsprogramm, Tübingen 1829, 27f. Zwar hatte bereits J. S. SEMLER auf diese beiden entgegengesetzten Gruppen in der Urchristentheit verwiesen (Vgl. Ders., Abhandlung von freier Untersuchung des Canon IV, Halle 1775, Vorrede), aber BAUR ist als erster mit seiner bahnbrechenden Abhandlung „Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde“ von 1831 dieser Gruppenbildung systematisch nachgegangen, und von da aus zu seiner Grundanschauung über die Geschichte des Urchristentums vorgedrungen. Vgl. F. CHR. BAUR, Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christenthums in der ältesten Kirche, der Apostel Petrus in Rom, in: TZTh 4 (1831), 61–206, insbesondere: 61ff. Vgl. die Darstellung der religionsphilosophischen Konzeption BAURS in Kapitel III, 172ff., und in Kapitel IV, 216f.

1. Exegese und Schriftverständnis bei Richard A. Lipsius

209

Paulinismus entgegensteht. Die weitere Entwicklung ist dann durch die Vermittlung dieser beiden Gestalten des Christentums geprägt. In dem urchristlichen Schrifttum sind dabei die entsprechenden ebionitischen oder paulinischen vermittelnden Tendenzen aufzuweisen (‚Tendenzkritik‘). So verstärken sich die kritischen Urteile im Zusammenhang der Frage nach der Stellung der einzelnen neutestamentlichen Schriften im Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Judenchristentum und Heidenchristentum. In einem Aufsatz über das Zungenreden von 1838 begegnet bei Baur zum ersten Mal die Überzeugung, dass der zeitlich frühere Korintherbrief eine zuverlässigere Quelle für die Kenntnis des Phänomens der Zungenrede sei als die spätere Apostelgeschichte.6 1855 treten Richard A. Lipsius und Adolf Hil-genfeld persönlich miteinander in Verbindung und auch in den fachlichen Diskurs über die wissenschaftlichen Grundprinzipien der historisch-kritischen Forschung. Lipsius legt in einem Schreiben an Hilgen-feld vom 20. Mai 1855 drei zentrale Themen- und Fragestellungen dar, die seine Forschung als Exeget bzw. Neutestamentler und Kirchenhistoriker in den nächsten Jahrzehnten bestimmen. Lipsius betont, dass drei Hauptfragen zu unterscheiden und zu bearbeiten sind, um über die Entstehung und Entwicklung des Christentums im apostolischen und nachapostolischen Zeitalter zu einer begründeten Anschauung zu kommen. Erstens muss die Frage nach der historischen Persönlichkeit Jesu gestellt werden. „Das Hauptgewicht muss auf die Persönlichkeit Jesu fallen: ihr Eindruck muß in der That ein über allen Vergleich gewaltiger gewesen sein, wenn sich die nachfolgende Entwicklung soll begreifen lassen. Jesu Lehre und Wirksamkeit muss den Ausgangspunkt für beide Hauptrichtungen des

6

F. CHR. BAUR , Kritische Übersicht, in: ThStKr 11 (1838), 630.694. In einer im gleichen Jahr erschienenen Arbeit über den Ursprung des Bischofsamtes wird auf der einen Seite festgestellt, dass „alle Judenchristen der ältesten Zeit einen mehr oder minder ebionitischen Charakter an sich tragen“, d.h. dem späteren paulusfeindlichen häretischen Judenchristentum entsprechen. Auf der anderen Seite erscheinen nicht nur die Pastoralbriefe, sondern auch der Philipperbrief und der Hebräerbrief als Versuche der paulinischen Partei, den Gegensatz zu den Judenchristen durch ein Entgegenkommen auszugleichen. Die Apostelgeschichte wird als der apologetische Versuch einer solchen Annäherung gedeutet. Vgl. F. CHR. BAUR, Über den Ursprung des Episcopats in der christlichen Kirche, in: TZTh 9 (1838), 123, 141–143. Vgl. dazu auch F. COURTH, Das Wesen des Christentums, 218-333; F. MILDENBERGER, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie, 140–143; J. ROHLS, Ferdinand Christian Baur. Spekulation und Christentumsgeschichte, in: Theologen des 19. Jahrhunderts, 39–58.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Urchristentumes bieten, im ganzen aber ist festzuhalten, dass die Thatsache über die explicirte Lehre hinausgreift.“ 7

Zweitens ist die Frage nach dem Verhältnis von Judenchristentum und paulinischem Christentum zu klären, wobei Lipsius ebenso wie Hilgenfeld „eine Milderung der Parteiengegensätze“ 8 anstrebt. Auch stimmt er Hilgenfeld in der Einschätzung der Echtheit der kleinen Paulinen gegenüber Baur zu.9 Die dritte Kardinalfrage ist für Lipsius die nach dem Ursprung und der Verortung der Gnosis, wobei Lipsius den Begriff der Gnosis wesentlich weiter fasst als Hilgenfeld, und das alexandrinische wie das späterer rabbinische Judentum, die Essäer, das Griechentum mit Pythagoräismus und Mythensymbolik, ja selbst die Anfänge des Neuplatonismus „auf ungehobene Schätze für die Geschichte der Gnosis“ untersucht wissen will.10 Damit sind die Bahnen angedeutet, in denen sich die weitere exegetische und kirchenhistorische Forschungsarbeit von Lipsius bewegt. 1.1 Die Historisierung des Ursprungs des Christentums und seiner Schriften In seiner Arbeit über den Zweck und die Veranlassung des ersten Thessalonicherbriefes von 1855 sieht Lipsius den „Hauptverdienst der durch Baur begründeten neuen kritischen Schule“ darin, dass „die historische Situation, aus welcher die ältesten christlichen Documente und die neutestamentlichen Schriften insbesondere hervorgegangen sind“ 11 sorgfältiger als bisher erforscht werden. Allerdings behauptet Lipsius, das Baurs Urteil, dem ersten Thessalonicherbrief die Echtheit abzusprechen, eine defizitäre historische Untersuchung des Briefes zugrundeliege, insbesondere habe man bisher „die polemischen Spuren gegen den Judaismus, welche der Brief in reicher Zahl darbietet, noch lange nicht in das gehörige Licht gestellt“12. Ausgehend von diesem Ansatz, der an das Geschichtsbild Baurs zur Geschichte des Urchristentums und dessen Verständnis der Tendenzkritik rückgebunden ist, bietet Lipsius 7

8 9 10 11 12

R. A. LIPSIUS, Brief an Adolf Hilgenfeld vom 20. Mai 1855, veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeldund, Teil IV, 154–162. LIPSIUS betont in diesem Punkt seine Übereinstimmung mit A. RITSCHL. „Sie sehen, dass ich in diesem Punkte ziemlich mit Ritschl zusammenstimme.“ Ebd., 157. Ebd., 158. Zur Frage nach der Echtheit der Paulinen und der Abgrenzung von HILGENFELD gegenüber BAUR vgl. Kapitel IV, 230ff. Ebd., 160f. R. A. LIPSIUS, Ueber Zweck und Veranlassung des 1. Thessalonicherbriefes, 905. Ebd., 907.

1. Exegese und Schriftverständnis bei Richard A. Lipsius

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nun eine Auslegung des ersten Thessalonicherbriefes. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass in Thessalonich „die Opposition gegen den Apostel noch nicht den bestimmt ausgeprägten Charakter trägt, wie in den Korintherbriefen“. Zwar ist „die Parteibildung gegen ihn ... noch nicht erfolgt“, aber – und darin liegt die historische Bedeutung und der eigentliche Zweck des ersten Thessalonicherbriefes – „die Elemente derselben sind schon da, und der Apostel sieht den Sturm gegen sich heranziehen“. Er versucht mit dem Brief, „die von ihm gestiftete Gemeinde vor innerer Zerrüttung zu bewahren“13. Damit lassen sich die kritischen Einwände gegen eine Verfasserschaft durch Paulus zurückweisen, wie beispielsweise der Einwand der geringen Planmäßigkeit des Briefes, oder der Hinweis auf die in 2,17–20 ausgesprochene Sehnsucht, nach Thessalonich zu gehen und die Gemeinde zu besuchen, trotz der erst kurz zurückliegenden Abreise des Apostels aus Thessalonich nach der Gründung der Gemeinde. „Es ist eben dies das unverkennbare Zeichen der angsterfüllten Gemüthsstimmung, die ihn (Paulus) ergriffen hat.“14 Die von Baur und anderen vorgebrachten Einwände gegen die Echtheit des Briefes mit dem Verweis auf die historische Situation weist Lipsius als Fazit seiner Untersuchungen zurück. Er urteilt, dass „so bedeutsam die Baur‘schen Einwendungen auch der bisherigen Apologetik gegenüber sein mussten“15, dennoch die Echtheit des Briefes völlig sicher gestellt sei. Lipsius nimmt in seiner exegetischen Arbeit somit den Grundansatz der Parteiengegensätze zur Erhellung der Geschichte des Urchristentums von Ferdinand Chr. Baur als Eckpfeiler seiner Forschung auf, grenzt sich aber bei den Ergebnissen einer historischen Bearbeitung der Briefe von Baur durchaus ab, da dieser in seinen Augen die historische

13 14

15

Ebd., 917. Ebd., 917. „Hiermit ist der Hauptzweck des Briefes erledigt, und die Vorwürfe wegen Planlosigkeit und Unbestimmtheit fallen, soweit sie die ersten drei Capitel, also gerade den Hauptteil des Briefes betreffen, in sich zusammen.“ Ebd., 917. Ebd., 932. LIPSIUS fasst am Ende seiner Abhandlung die von BAUR vorgebrachten Einwände gegen die Echtheit des Briefes zusammen und stellt dem das Ergebnis seiner Studie gegenüber. „Wir fügen hinzu, daß durch eben dieselbe Erörterung über die historische Situation unseres Briefes der Vorwurf einer behaupteten Unselbstständigkeit und Abhängigkeit von den Korintherbriefen seine Erledigung findet. Denn der verwandte Inhalt wurde durch die verwandten Umstände bedingt, und wie zahlreich die Parallelen zwischen unserem Briefe und den beiden Korintherbriefen immer sein mögen ... so finden die dieselben sämmtlich in der Gleichartigkeit oder doch wenigstens Aehnlichkeit der Situation ihre ausreichende, ja notwendige Erklärung, und sind auch nicht an einer einzigen Stelle von der Art, daß sie ein Abhängigkeitsverhältnis des ersten Thessalonicherbriefes von den Korintherbriefen erwiesen.“ Ebd., 933.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Situation einzelner Briefe zu sehr vom Parteiengegensatz her bestimmt sein lässt, und damit ihre wirkliche historischen Situation nicht zueichend beachtet. Lipsius selber radikalisiert in seiner Exegese die historische Frage nach dem Ursprung des Christentums und nach der Botschaft und dem Leben Jesu und weist ausdrücklich auf die Zeitgebundenheit der jeweiligen Aussagen und Berichte hin. „Für die Erforschung einzelner geschichtlicher Thatsachen als solche gelten keine anderen Gesetze wie für alle Geschichtsforschung überhaupt; und auch für die heilige Geschichte kann keine Ausnahme gemacht werden.“16

Dabei liegt der gesamten exegetischen Arbeit von Lipsius die Überzeugung zugrunde, dass die historisch-kritische Methode eine Konsequenz des reformatorischen Ansatzes ist und der Freiheit der wissenschaftlichen Theologie ebenso dient, wie der Freiheit des Glaubens. 1.2 Die Unterscheidung zwischen geschichtlicher Betrachtung und religiöser Bedeutung17 Zentrale Bedeutung für die Hermeneutik von Lipsius gewinnt die Unterscheidung zwischen einer geschichtlichen Betrachtung der Schrift, die eine konsequent historisch-kritische Untersuchung impliziert, sowie der religiösen Bedeutung derselben. Die empirisch-geschichtliche Betrachtung der heiligen Schrift findet in ihr die fundamentale historische Erkenntisquelle für den christlichen Glauben. „Wie das A. T. die authentische Geschichtsurkunde über das religiöse Bewusstsein des Volkes Israel in seiner religiös lebendigen Zeit, so ist das N. T. die authentische Geschichtsurkunde über das persönliche Lebensbild Jesu und über den urchistlichen Glauben an diesen Jesus als den Christus.“18

Für die religiöse Betrachtung hingegen ist die heilige Schrift zugleich die geschichtliche Urkunde von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und das ursprüngliche Zeugnis von der Heilswirksamkeit dieser Offenbarung bei den ersten Gläubigen. Das Verständnis, dass der heiligen Schrift eine göttliche Offenbarung zugrunde liegt, geht nur aus der religiös-teleologischen Betrachtung hervor. Die religiöse Autorität der heiligen Schrift als Urkunde der göttlichen Offenbarung gründet sich 16 17

18

R. A. LIPSIUS, Die Bedeutung des Historischen im Christenthume (1881), in: Glauben und Wissen, 111–142, hier: 137. LIPSIUS führt diese Unterscheidung und die dazugehörigen Ausdifferenzierungen in seinem Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik im Rahmen seiner Ausführungen über den Protestantismus und seinen Erkenntnisgrund ein. Vgl. dazu: Ders., Lehrbuch (³1893), §§ 196–222. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 159.

1. Exegese und Schriftverständnis bei Richard A. Lipsius

213

somit nicht auf geschichtliche Beweise, sondern auf die Wirksamkeit des in ihr bezeugten Evangeliums. „Als Erkenntnisquelle der göttlichen Heilswahrheit oder als religiöse Autorität, welche Glaubensgehorsam beansprucht, legitimirt sich also die heilige Schrift dadurch, dass sie sich thatsächlich als Quelle des Heilslebens und der Heilserfahrung d. h. als das specifische Gnadenmittel erweist.“19

Die verbindliche Anerkennung der in der Schrift gesammelten Zeugnisse zur Person Jesu Christi und zur Entstehung des Christentums wird erst dann möglich, wenn der Mensch durch alle Zeitbindung hindurch den religiösen Gehalt der Schrift, und mit ihr die religiöse Bedeutung der Person Jesu Christi erfasst. Dazu bedarf es des testimonium spiritus sancti internum. „Wer des Friedens mit Gott, der Seligkeit in Gott, des Trostes und der Kraft des heiligen Geistes nicht im eigenen Innern gewiss geworden ist, für den bleibt das Evangelium von Christus blos ‚Historie‘, die für ihn persönlich keine Bedeutung hat, deren Wahrheit ihm also wenn überhaupt, so doch um mit Lessing zu reden, nur ‚historisch gewiß‘ ist ... Zuletzt ist es doch immer nur das innere Zeugnis des heiligen Geistes, welches wahrhaft göttliche Gewißheit giebt.“20

Ohne das Zeugnis des Heiligen Geistes sind christlicher Glaube und religiöse Erkenntnis der Schrift nicht möglich. Die religiöse Erkenntnis hat jedoch ihren ständigen Bezugspunkt in geschichtlichen Vorgängen, ohne die sie sich nicht konstituiert. Darum ist nicht nur der Begriff des testimonium spiritus sancti internum, sondern auch die historische Rückfrage eine theologische Notwendigkeit. Die historische Rückfrage bewirkt als solche niemals Glauben, aber ohne sie wird der Glauben haltlos. Deshalb betont Lipsius die Notwendigkeit historischer Forschung ebenso wie die Unmöglichkeit, dass daraus unmittelbare religiöse Folgen hervorgehen. Da im Christentum Wirkungen und Erfahrungen des Geistes gleichartig sind, können geschichtliche Vorgänge und Entscheidungen der Christentumsgeschichte von späteren Generationen nachvollzogen werden. So kann der neutestamentliche Kanon nicht durch „äußere Authentie der einzelnen Bücher für uns maßgebend sein“21, da die neutestamentlichen Schriften teilweise nicht apostolisch sind. Aber es erschliesst sich dem späteren bzw. heutigen Betrachter „die innere Authentie“22 dieser Schriften des Neuen Testaments im Hinblick auf die nicht in den Kanon aufgenommenen Schrif19 20 21 22

Ebd., 163. R. A. LIPSIUS, Die Bedeutung des Historischen, 133. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 160. Ebd., 160.

214

IV. Exegese und Hermeneutik

ten. Die „innere Authentie“ des Neuen Testaments gibt in großer Unterschiedlichkeit Zeugnis von dem religiösen Kern des christlichen Glaubens, und ist somit zu Recht die Grundlage der christlichen Predigt. 1.3 Der ethische Kern und die „Doppelseitigkeit“ der alttestamentlichen Religion Das Alte Testament versteht Lipsius als „Geschichtsurkunde über das religiöse Bewusstsein des Volkes Israel in seiner religiös lebendigen Zeit“23 bzw. als Dokument der Religionsgeschichte Israels. Im Rahmen seiner Darstellung zur Religionsgeschichte behauptet er in Anlehnung an die von Hermann Schultz verfasste „Alttestamentliche Theologie“24, 23 24

Ebd., 159. H. SCHULTZ befasst sich in seinem Hauptwerk „Alttestamentliche Theologie“ ausführlich mit dem Verhältnis des Alten und Neuen Testaments. Er hebt eine genetische Zusammengehörigkeit der beiden Testamente und Religionen hervor, die er durch den Offenbarungs- und den Religionsbegriffs absichert. „Das Alte Testament muss ihm (sc. dem Christen) eine Religion der Offenbarung sein, und zwar der Offenbarung des göttlichen Geistes, welcher reinigend, erleuchtend, erlösend, versöhnend zu dem göttlich-menschlichen Leben hinführt, wie es sich in Jesus bleibenden Ausdruck geschaffen hat.“ H. SCHULTZ, Alttestamentliche Theologie. Die Offenbarungsreligion auf ihrer vorchristlichen Entwicklungsstufe, Frankfurt a. M. ²1878, 59f. Das Grundwesen der biblischen Religion kann nach SCHULTZ nur „eines sein, nicht etwa im Alten Testamente ein andres als im Neuen.“ Ebd., 63. Und so ist die alttestamentliche Religion „die Religion des werdenden Gottesreiches ... Das Christenthum ist die Religion des vollendeten Gottesreiches.“ Ebd., 65. Zu H. SCHULTZ vgl. M. WOLFES, Art. Schultz, Hermann, in: BBKL Bd. 17 (2000), Sp. 1254–1258; P. ULRICH, Hermann Schultz‘ „Alttestamentliche Theologie“ im Zusammenhang seines Lebens und Werkes, 1988. W. ZIMMERLI hat gezeigt, wie sehr sich in den fünf Auflagen der Alttestamentlichen Theologie von SCHULTZ die durch die von K. H. GRAF und J. WELLHAUSEN erkannte Vorordnung der Prophetie vor das Gesetz und die dadurch bedingten Veränderungen in der Darstellung der alttestamentlichen Theologie, sowie eine Akzentverschiebung hin zur Religionsgeschichte Israels spiegeln. In der zweiten Auflage und der unveränderten dritten Auflage von 1878 und 1885, auf die sich LIPSIUS und PFLEIDERER beziehen, weist SCHULTZ in den Vorworten auf Arbeiten von A. KUENEN, B. DUHM und J. WELLHAUSEN hin und bekennt sich zu der Überzeugung, „dass die Trennung des Mosaismus und Prophetismus bei der Darstellung des religiösen und sittlichen Materials nicht wohl haltbar sei“ (Vorwort V). Er stellt nach der Einleitung in einem ersten Hauptteil „Die Entwicklung der Religion Israels bis zur Zeit Esras“ (81-186) und die „Die Träger der religiösen Geschichte Israels“ (187–278), unter denen die Propheten den Hauptanteil einnehmen (187–253), dar. Daran schließt sich im zweiten Hauptteil „Das Heilsbewußtsein Israels am Ende der prophetischen Zeit“ (278–439), im dritten Hauptteil „Die religiöse Weltanschauung Israels am Ende der prophetischen Zeit (278-439), im vierten Hauptteil „Die religiöse Weltanschauung Israels am Ende der prophetischen Zeit“ (440–758) an. Ein

1. Exegese und Schriftverständnis bei Richard A. Lipsius

215

dass die Religion Israels „in neuerer Zeit häufig unterschätzt worden sei“ sei, „nicht blos von Schleiermacher, sondern auch von der Hegel‘schen Schule, welche ihren Gegensatz von Transcendenz und Immanenz einfach auf den Unterschied der alttestamentlichen und neutestamentlichen Religion übertrug, und als das Charakteristische der ersteren die abstracte Geistigkeit Gottes, das äusserliche Gegenüberstehen von Gott und Mensch, die juridische Auffassung der Religion als eines äusseren Vetragsverhältnisses und die hierdurch bedingte Gestaltung derselben als blosser Gesetzesreligion zu betrachten pflegte“25.

Lipsius will die jüdische Religion als eine ethische Religion verstanden wissen, die durch eine divergierende Entwicklungstendenz gekennzeichnet ist.26 „Sie trug in ihrem Schoose den Keim ebensowol zu ihrer prophetischen Vergeistigung, als zu ihrer pharisäischen Entartung und vermochte sich

25

26

als Anhang gekennzeichneter Schluss schildert „Die Entwicklung der alttestamentlichen Religion zum Judentum. Levitische Periode (759–831). Die 4. und 5. völlig umgearbeitete Auflage zeigt eine andere Struktur. Auf die gestraffte Einleitung folgt im ersten Hauptteil eine Religionsgeschichte Israels (5. Auflage, 59–309). Ein zweiter Hauptteil (5. Auflage, 310–643) handelt vom „Heilsbewußtsein der Gemeinde des zweiten Tempels“ und der „Religiösen Weltanschauung“. Es wird deutlich erkennbar, wie zwei verschieden strukturierte Teile einer Religionsgeschichte und eines systematischen Aufrisses nebeneinander treten, worin sich auch der aufkommende Diskurs um das Verhältnis einer Religionsgeschichte Israels zur Theologie des Alten Testaments bemerkbar macht. Vgl. W. ZIMMERLI, Art. Biblische Theologie, I. Altes Testament, TRE 6, 426–4544. Ebd., 120. Zum Verständnis des Alten Testaments bei SCHLEIERMACHER vgl. R. SMEND, Die Kritik am Alten Testament, in: Friedrich Schleiermacher. Theologe – Philosoph – Pädagoge, hg. v. D. LANGE, Göttingen 1985, 106–128. E. HERMS hat in einem Aufsatz über SCHLEIERMACHERS Verständnis der Exegese Zweifel an dem Diktum der Theologiegeschichtsschreibung angemeldet, dass SCHLEIERMACHER das Alte Testament kategorisch aus dem Kanon ausgeschlossen haben wollte. Vgl. E. HERMS, Schleiermachers Verständnis der exegetischen Theologie, in: Menschsein im Werden, 427–482, hier: 474. Ein sorgfältig an den Quellen orientiertes und ausdifferenziertes Bild zum Verständnis des Alten Testaments bei SCHLEIERMACHER hat K. BECKMANN in einer neueren Studie vorgelegt. Vgl. Ders., Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002, 34–133. Erst der „ethische Kern, welcher als solcher schlechthin universell ist ... bildet zugleich den lebendigen Keim einer religiösen Entwickelung, welche zwar die nationale Grundlage nirgends durchbrochen hat, wohl aber als letztes Ziel eine universelle Gottesherrschaft über alle Völker der Erde und einen allumfassenden Gottesbund mit der ganzen Menschheit sich steckt“. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 120f.

216

IV. Exegese und Hermeneutik

erst dann zur Weltreligion zu entwickeln, als die innere Consequenz ihrer ethischen Idee gerade ihre charakteristische geschichtliche Form, das specielle Bundesverhältnis Gottes zu Israel, durchbrochen hatte.“27

Von dieser Bestimmung der israelitischen Religion als ethischer Religion her ergibt sich für Lipsius der grundlegende Zusammenhang mit dem Christentum. Aus der Doppelseitigkeit der israelitischen Religion, die sich mit den Begriffen „prophetische Vergeistigung“ und „pharisäische Entartung“ fassen lässt, erklärt sich die Doppelseitigkeit ihres Verhältnisses zum Christentum. Dem ursprünglichen Sinn nach ist das Christentum die Erneuerung und Verwirklichung des prophetischen Ideals, es hat sich aber in der Geschichte herausgebildet durch seinen Gegensatz zum späteren Judentum als Erlösungsreligion gegenüber einer Gesetzesreligion. In der Perspektive des christlichen Glaubens stellt sich das Christentum als vollkommene ethische Religion dar, inklusive der vollkommenen Gottesoffenbarung im religiösen Verhältnis der Sohnschaft bzw. Kindschaft Gottes, die als solche die Zugehörigkeit zum Gottesreich in sich schliesst. Zugleich erkennt der christliche Glaube in der geschichtlichen Kontinuität des Christentums mit der Religion Israels eine Kontinuität der göttlichen Offenbarung. Somit ist der genetische Zusammenhang der beiden Testamente und Religionen offenbarungstheologisch zu fassen. „Nun bildet aber die geschichtliche Continuität der Religion Israels und des Christenthums zugleich eine im Wesen der ethischen Religion selbst gelegene innere Continuität, und eben hieraus ergibt sich uns folglich das Recht, den Begriff der Offenbarung im engeren Sinne eben auf diese Continuität zu übertragen. Der geschichtliche Verlauf dieser Offenbarung im religiösen Bewusstsein Israels und der Messiasgemeinde ist also die Offenbarungsgeschichte im engeren Sinn.“28

Es gibt somit eine stufenweise Enthüllung der göttlichen Heilsordnung und synchron dazu eine stetig sich entwickelnde Heilsgemeinschaft.

2. Exegese und Hermeneutik in der Tradition der Tübinger Schule bei Otto Pfleiderer Für die exegetische Arbeit von Otto Pfleiderer ist – stärker ausgeprägt als bei Lipsius – Ferdinand Chr. Baurs Verständnis der urchristlichen Geschichte die entscheidende Forschungsgrundlage.29 Pfleiderer selber markiert diesen Bezug in seiner Theologiegeschichte und kennzeichnet 27 28 29

Ebd., 121. Ebd., 123. Zum Verhältnis von O. PFLEIDERER zu F. CHR. BAUR vgl. Kapitel II, 42ff.

2. Exegese und Hermeneutik bei Otto Pfleiderer

217

Baurs wissenschaftstheoretischen Ansatz mit dem Hinweis, dass man bei ihm dem konsequent und befriedigend durchgeführten Versuch begegne, „die Entstehung des Christenthums und der Kirche streng geschichtlich, d. h. als einen im Zusammenwirken mannigfacher menschlicher Ursachen naturgemäß sich vollziehenden Entwicklungsprozess des religiösen Geistes unserer Gattung, begreiflich zu machen“.30

Als weiteres Forschungsgebiet der exegetischen Arbeit Pfleiderers sind die Evangelienkritik und die Leben-Jesu-Forschung zu nennen. Hier liefert er eine ausführliche und differenzierte Auseinandersetzung mit David Friedrich Strauss.31 Der Rückbezug auf Baur gilt insbesondere für den von diesem verwandten Begriff der ‚Partei‘ und der damit verbundenen Programmatik, das Urchristentum als eine von Parteigegensätzen bestimmte Größe zu verstehen.32 Von Baur nimmt Pfleiderer auch den Forschungsimpuls auf, zu untersuchen, ob das Christentum überhaupt von der Person Jesu aus zureichend verstanden werden kann, oder ob nicht Paulus eine konstitutivere Bedeutung zugeschrieben werden muss. Mit dieser Fragestellung wird die Einheitlichkeit des Christentums problematisiert. Die sich an Baurs Forschungsergebnisse anschließende exegetische Arbeit der ‚Tübinger Schule‘33 – und darin reiht sich Pfleiderer ein –, gilt vor allem der Weiterführung und der Verteidigung der Theorie von der Entwicklung des frühen Christentums. Es soll erforscht und geklärt werden, ob Baurs Perioden-Schema zutrifft. Baur hatte eine erste Periode des Urchristentums für die Zeit bis zur Zerstörung Jerusalems, die echten Paulusbriefe umfassend angenommen. Danach schließt sich in der Hypothese Baurs eine zweite Periode an, die in das zweite Jahrhundert hineinreicht und die Milderung des ursprünglichen Gegensatzes von Ebionitismus und Paulinismus dokumentiert, greifbar in den synoptischen Evangelien, der Apos30 31

32

33

O. PFLEIDERER, Die Entwicklung, 358. O. PFLEIDERER selber urteilt: „Für die wissenschaftliche Erkenntnis der biblischen Grundlagen des Christenthums ist das Jahr 1835 epochemachend geworden. In demselben erschien das ‚Leben Jesu‘ von David Friedrich Strauss, die Untersuchung der Pastoralbriefe von Ferdinand Christian Baur und die Geschichte der alttestamentlichen Religion von Wilhelm Vatke, drei Werke, in welchen die Anfänge der heutigen alt- und neutestamentlichen Schriftforschung beschlossen waren.“ Ders., Die Entwicklung, 251. Vgl. dazu die kurze Darstellung in Kapitel IV, 208f., und insbesondere Anm 5. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Exegese bei A. HILGENFELD wird ein kurzer Abriss zur Genese der Positionen BAURS geboten. Vgl. Kapitel IV, Der Rückbezug auf Baurs Tendenzkritik, 231ff. Vgl. dazu U. KÖPF, Die theologischen Tübinger Schulen, in: Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung, 9–52.

218

IV. Exegese und Hermeneutik

telgeschichte, den pseudopaulinischen und katholischen Briefen. Schließlich behauptete Baur noch ein dritte Periode, die er ab 140 n. Chr. datierte, und die von der Einigungsparole „Petrus und Paulus“ in den Pastoralbriefen und der johanneischen Literatur ihren literarischen Niederschlag gefunden habe. Neben der Untersuchung und der Auseinandersetzung mit dieser Theorie Baurs stellte sich Pfleiderer in seiner exegetischen Arbeit der Aufgabe, die von Baur nicht im Detail entwickelte Auffassung von der Person und der Lehre Jesu auszuarbeiten. Bei der Erfassung der exegetischen Ansätze und hermeneutischen Grundlagen Pfleiderers ist zudem zu beachten, dass er seine exegetischen Forschungen in deutlich schärferer Form als Richard A. Lipsius in der Auseinandersetzung mit Albrecht Ritschl entwickelt.34 2.1 Der Paulinismus und die Geschichte des Urchristentums Pfleiderer teilt nicht die Auffassung von Albrecht Ritschl, dass zwischen den Berichten vom Stifter der christlichen Religion und solchen, die die Erfahrungen der ersten Gemeinde dokumentieren, so zu unterscheiden ist, dass die Briefliteratur den Evangelien nachzuordnen wäre. Besonders die Bedeutung des Paulinismus wird von Ritschl und seinen Schülern aus Sicht von Pfleiderer nicht zureichend erfasst. Denn es ist – so Pfleiderer – letztlich Paulus bzw. der Paulinismus, der die rein innerliche Religion Jesu objektiviert, die Orientalismen von Jesu Predigt abstreift, und die so entstandenen Vakuen mit griechischen Ideen füllt. Dabei treten diese religionsgeschichtlichen Gesichtspunkte insbesondere im Paulinismus hervor, der „die wesentlichen Resultate des paulinischen Lehrbegriffs“ auf den Boden der „alexandrinischen Weltanschauung“, also des hellenistischen Judentums, überträgt, „um sie von deren Prämissen aus selbstständig zu begründen“ 35. Nur diese Hellenisierung hat die Verbreitung des frühen Christentums und seinen Aufstieg zur welthistorischen Macht ermöglicht. Für Pfleiderer ist das Christentum die Verwirklichung der Religion schlechthin. In der Idee der Gotteskindschaft kulminiert das religiöse Bewusstsein Jesu und der ganzen Menschheit. Das Neue der Verkün34

35

In seinem Aufsatz „Die Theologie Ritschls nach ihrer biblischen Grundlage“ setzt er sich intensiv mit RITSCHLS Exegese auseinander, und zwar im Kontext der folgenden Themen: paulinische Versöhnungs- und Rechtfertigunslehre, Heiligkeit und Zorn Gottes, Erbsündenlehre. Für PFLEIDERER steht die Exegese RITSCHLS „durchweg im Dienste seiner Dogmatik“. O. PFLEIDERER, Die Ritschel’sche Theologie kritisch beleuchtet, 37. O. PFLEIDERER, Der Paulinismus. Ein Beitrag zur Geschichte der urchristlichen Theologie, Leipzig 1873, 325.

2. Exegese und Hermeneutik bei Otto Pfleiderer

219

digung Jesu besteht für Pfleiderer somit in der Vertiefung des religiösen Bewusstseins, bis zur unbedingten Abhängigkeit des ganzen Menschen von Gott. Allerdings ist dieses Neue bei Jesus verknüpft mit den in seiner Zeit und seiner Umgebung vorliegenden religiösen Ideen, wozu vor allem die eschatologische Vorstellung vom Reich Gottes zählt. Die Himmelreichsidee rechnet Pfleiderer zu den zeitbedingten Ideen der Verkündigung Jesu, während er Jesu Vorstellung von Gott als Vater für deren Zentrum hält. Das Unzureichende der Urgemeinde bestand für Pfleiderer darin, dass ihr einziges Dogma der Glaube an die baldige Wiederkunft Jesu war. Denn damit rückt ein Seitenaspekt der Verkündigung Jesu in den Mittelpunkt. War für Jesus der neue religiöse Inhalt, die Gotteskindschaft, das Wesentliche und daher die nationale Vorstellungsform vom Messiasreich Überwiegende, so war es in der Urgemeinde genau umgekehrt. Die Berechtigung und das treibende Motiv des Hinausgehens über das judaistische Urchristentum lag also schon in der Erscheinung Jesu selbst, und zwar zum einen in seiner freieren Stellung zum Gesetz, seiner unmittelbaren Beziehung des Menschen auf Gott als den himmlischen Vater und seiner rein menschlichen Frömmigkeit, zum andern aber in Jesu Ende am Kreuz. Dies gesehen zu haben mache die weltgeschichtliche Mission des Apostel Paulus aus. Und erst Paulus ermöglichte mit seiner Dogmatisierung der christlichen Frömmigkeit die feste Schale für den idealen Kern. Damit ist bei Paulus eine Objektivierung der rein innerlichen Religion Jesu gegeben, die sich vielfach beschränkter Vorstellungen bediente. „Aber dass eben aus der Wurzel des transcendent-eschatologischen Begriffs für Paulus der immanent-ethische sich entwickelte, das ist die originelle und für die christliche Dogmatik so höchst fruchtbare Wendung, die wir in letzter Instanz nichts anderem zu verdanken haben, als jener tief religiösen Glaubensmystik, in welcher Paulus sich schon eins wusste ‚mit dem Sohne Gottes, der ihn geliebt und sich selbst für ihn dargegeben habe‘“.36

In dem Diskurs um die Periodisierung der Geschichte des Christentums nimmt Pfleiderer eine mit Adolf Hilgenfeld und Richard A. Lipsius übereinstimmende Position ein, insofern er den Auseinandersetzungen mit der Gnosis die entscheidende Bedeutung für die schließlich erreichte, besonders im Johannesevangelium dokumentierte Einheit, beimisst. Für Pfleiderer ist nicht das Gegenüber von Heiden- und Judenchristentum und deren zunehmende Vermittlung das Ergebnis der Geschichte des Urchristentums, sondern die Überwindung der Gnosis. Er sieht bereits im Römerbrief eine irenische Tendenz am Wer36

O. PFLEIDERER, Der Paulinismus, 19f.

220

IV. Exegese und Hermeneutik

ke, die aus dem Selbsterhaltungsstreben des Heidenchristentums hervorgegangen sei und später in den Pastoralbriefen ihren klarsten Ausdruck gefunden habe. 2.2 Die Person Jesu und das Offenbarungsverständnis Der Forschungsimpuls, der durch Baurs Rekonstruktion der Geschichte des Urchristentums gesetzt wurde, bezieht sich nicht in gleicher Weise auf das Problem des historischen Jesus. Hier kommen die entscheidenden Anregungen von David Friedrich Strauss (1808–1874)37 und der von der Vermittlungstheologie geprägten Leben-Jesu-Forschung, die vor allen Dingen die Frage nach den historischen Erkenntnismöglichkeiten in Bezug auf die Person Jesu aufwirft. Strauss hatte in der Vorrede seines Hauptwerkes über das Leben Jesu seinen Standpunkt in der Leben-Jesu-Forschung als eine „mythischen“ bezeichnet und diesen dem altkirchlichen und rationalistischen Standpunkt gegenübergestellt. „Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Voraussetzung ausgieng, dass in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche, enthalten sei; wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur umso fester an der ersteren zu halten, dass in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf diesem halben Weg die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es muss auch die andere Voraussetzung fallen gelassen und erst untersucht werden, ob und in wieweit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen.“38

Strauss will an Stelle der supranaturalen und natürlichen Betrachtungsweise der Geschichte Jesu eine mythische setzen, da in den Evangelien, abgesehen von einem einfachen Gerüst des Lebens Jesu, durchgehend die mythischen, d. h. für Strauss die vor allem messianischen Vorstellungen des Alten Testaments auf Jesus übertragen worden seien. Die Evangelien sind somit für Strauss nichts anderes als „geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der ab-

37

38

D. F. STRAUSS, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet, 2 Bde., Tübingen 1835, ²1837. Zu D. F. STRAUSS vgl. E. BARNIKOL, Das ideengeschichtliche Erbe Hegels bei und seit Strauss und Baur im 19. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Zeitschrift 10 (1961), 281– 328; K. BARTH, David Friedrich Strauß als Theologe, Zürich 1948; F. W. GRAF, Kritik und Pseudospekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982; W. G. KÜMMEL, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Freiburg i. Br./München 1958, 147–156. D. F. STRAUSS, Das Leben Jesu, Bd. I (²1837), III.

2. Exegese und Hermeneutik bei Otto Pfleiderer

221

sichtslos dichtenden Sage“39. Er will keinen historischen Kern oder den geschichtlichen Jesus aus der Schale der Evangelien herausarbeiten, sondern die im christologischen Mythos sich verbergenden ewigen Wahrheiten durch philosophische Interpretation erheben. Pfleiderer rezipiert in seiner Darstellung der Entwicklung der protestantischen Theologie ausführlich und kritisch die Position von Strauss.40 Er stimmt Strauss darin zu, dass in den Evangelien Sinnbilder idealer Wahrheiten begegnen, beispielsweise in den Wundererzählungen. Der Fehler von Strauss liege allerdings darin, dass er diese idealen Wahrheiten in metaphysischen Kategorien von problematischem Erkenntniswert gesucht habe, „statt in den Thatsachen des frommen Gefühls und sittlichen Willens, in welchen die erlösenden und beseligenden Wirkungen unserer Religion wirklich liegen“41. In den Augen Pfleiderers spiegelt sich in der Leben-Jesu-Forschung bei Strauss ein Grundirrtum Hegelscher Philosophie in ihren Auswirkungen auf die Exegese, dass nämlich die Wahrheit der Religion im logischen Bewusstsein von metaphysischen Verhältnissen bestehe. „Es war der Grundirrtum der Hegel’schen Philosophie, dass die Wahrheit der Religion im logischen Bewusstsein von metaphysischen Verhältnissen bestehe, wobei das wirkliche Wesen derselben, wie es in Gefühls- und Willensvorgängen besteht, gründlich übersehen wurde: dieser Irrthum war es, der Strauss zu der Meinung verleitete, den Kern des Christusglaubens in metaphysischen Aussagen über die menschliche Gattung gefunden zu haben, während doch damit das Gebiet des religiösen Glaubens noch gar nicht einmal berührt, geschweige seine höchste Wahrheit erschöpft war.“42

Der religiöse Gehalt des Christentums stehe aber in einem inneren und wesentlichen Verhältnis zur geschichtlichen Person Jesu, die nicht bloß ein zufällig gewähltes Bild und Beispiel sei, sondern schöpferisches Urbild und geschichtlicher Quellpunkt des Christentums. Darin besteht für Pfleiderer die für den religiösen Gehalt des Christentums unaufgebbare historische Dimension der Person Jesu und der Evangelienberichte über das Leben Jesu. Ein anderer Aspekt zur Leben-Jesu-Forschung wurde durch die Frage nach dem Messiasbewusstsein Jesu aufgeworfen. Ferdinand Chr. Baur hatte das Messiasbewusstsein Jesu anerkannt, es allerdings in sittlichem, nicht in nationalpolitischem Sinne verstanden. Gustav

39 40 41 42

Ebd., V. O. PFLEIDERER, Die Entwicklung, 257–268. Ebd., 262f. O. PFLEIDERER, Die Entwicklung, 262.

222

IV. Exegese und Hermeneutik

Volckmar (1809–1893)42, wie Pfleiderer und Hilgenfeld als Neutestamentler der ‚Tübinger Schule‘ zuzurechnen, spitzte in seinem Werk „Jesus Nazarenus und die erste christliche Zeit“ von 1882 die Frage nach dem messianischen Anspruch Jesu durch die These einer rein politisch-eschatologischen Erwartung der Zeitgenossen dahingehend zu, dass Jesus nur im politisch-königlichen Sinn das messianische Amt habe beanspruchen können, und dass er erst nach seiner Kreuzigung als Messias gefeiert worden sei. Damit entkleidet er die besondere Sittlichkeit Jesu des messianischen Charakters und intendiert, dass Jesus konkurrierend neben Christus tritt. Karl Holsten (1825–1897) führt im Anschluss an Volckmar eine Unterscheidung ein zwischen der Lehre Jesu, wie sie sich besonders in der Bergpredigt und dem Vaterunser darstellt, und Jesu Verkündigung seines stellvertretenden Todes43 Auf beide Punkte gehe die apostolische Verkündigung ein, verknüpfe diese aber unterschiedlich, wofür Petrus und Paulus der beste Beleg seien. In dieser Perspektive kommt der Frage nach dem messianischen Selbstbewusstsein Jesu nur relative Bedeutung zu. Für Pfleiderer ist diese Unterscheidung von zwei Phasen der Verkündigung Jesu nicht zutreffend. Leidend und im Angesicht des Todes stehe Jesus für das ein, was er verkündigt habe. Diese Verkündigung selbst charakterisiert Pfleiderer als prophetische Botschaft. Sie habe zusammen mit Jesu Verhalten als urbildliche Kraft gewirkt. Es sei deshalb nicht zu „verwundern, dass der Gegenstand des Glaubens der Christusgemeinde schon von Anfang an niemals der irdische Lehrer Jesus gewesen ist, sondern immer und ausschließlich nur der himmlische Christusgeist“ 44.

Merkmal der Prophetie Jesu sei, dass sie nicht mit Macht von außen in die Welt einbreche, sondern dass sie die Väterlichkeit Gottes evoziere, die in der Welt schon immer wirksam sei. Die Urchristenheit hat, so Pfleiderer, nach und nach in der philosophischen Sprache, wofür die Verwendung des Logos-Begriffs u.a. im Johannesevangelium der deutlichste Hinweis sei, diesen Grundgedanken Jesu festgehalten. Diese Fassung des Inspirationsbegriffs als Interpretament des Offenbarungsbegriffs erlaubt es Pfleiderer, andere Formen der Offenbarung wie beispielsweise Manifestationen Gottes als supranaturalistische Ansätze abzulehnen. Das Wunder schlechthin liegt in der Geschichte des Chris-

42

43 44

Zu G. VOLCKMAR vgl. F. W. GRAF, Art. Volckmar, Gustav H. J. Ph., in: BBKL Bd. 12 (1997), Sp. 1570–1588. Vgl. auch die dortigen Hinweise zu seinen Werken und zur Sekundärliteratur. Vgl. außerdem E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 167–179. Vgl. K. HOLSTEN, Das Evangelium des Paulus, 2 Bde., Berlin 1880/1898; DERS., Die synoptischen Evangelien nach der Form ihres Inhaltes, Heidelberg 1885. O. PFLEIDERER, Die Entwicklung, 15.

2. Exegese und Hermeneutik bei Otto Pfleiderer

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tentums, die ein Teil der religiösen Entwicklung der Menschheit ist, nicht in bestimmten exzeptionellen Ereignissen. Die Gestalt Jesu ist in diese Geschichte einzufügen. Sie ist der Keim einer neuen Entwicklung, und als solcher noch relativ unvollkommen. Das hier in Grundzügen begegnende Verständnis von Offenbarung und Geschichte kehrt bei Otto Pfleiderer in seiner Interpretation der hebräischen Prophetie wieder, die er noch nicht in einem ungeistigmechanischen Supranaturalismus verengt sieht.45 Signifikant für die hebräische Prophetie ist das „Gebundensein an die wirkliche Geschichte ihres Volkes … wodurch sie zu einer geschichtsbildenden Macht ersten Ranges geworden ist“44. Aber darin liegt nicht nur die „volkstümliche Kraft der hebräischen Prophetie“, sondern auch „ihre partikuläre und temporäre Schranke und Bedingtheit“45. Was ein solcher, vom geschichtlich Konkreten auf eine allgemeine zeitlose Wahrheit abstrahierender Ansatz für die Exegese bedeutet, führt Pfleiderer am Beispiel der prophetischen Weissagungen aus. „Die bleibende Wahrheit ist auch hierbei immer nur die in dem Geschichtlichen enthaltene und durch das Geschichtliche in’s Licht des Bewusstseins erhobene ewige Idee selbst; und nur insoweit als ja freilich die ewigen Gesetze unter analogen äußeren Verhältnissen sich immer auch wieder in analogen Formen verwirklichen werden, haben die biblischen Weissagungen eine typische Wahrheit für alle Zeiten, wogegen von einer wörtlichen Erfüllung derselben sich kaum einmal ... etwas nachweisen lässt.“ 46

Solche Aussagen werfen allerdings die Frage auf, ob Pfleiderer nicht die prinzipielle Einmaligkeit geschichtlicher Vorgänge übergeht. Bei einer solchen Missachtung der Einmaligkeit geschichtlicher Ereignisse, wird dann beispielsweise der Untergang Assurs nach den Strafweissagungen Jesajas ein beliebig zu vermehrendes Beispiel für eine allgemeingültige zeitübergreifende Wahrheit. 2.3 Die partikularistische Beschränkung der mosaischen Religion und ihre Aufhebung in der Religionsgeschichte Israels Aus der religionsphilosophischen und religionsgeschichtlichen Verankerung der Theologie ergeben sich für Pfleiderer die hermeneutischen Grundsätze zum Verständnis des Alten Testaments. Das Alte Testament ist das grundlegende Dokument der israelitischen Religion bzw. 45 44 45 46

O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 566–574. Ebd., 572. Ebd., 572. Ebd., 572f.

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IV. Exegese und Hermeneutik

des Judentums, das für Pfleiderer die erste monotheistische Religion darstellt. In seinem Erstlingswerk von 1869 über das Wesen der Religion und ihre Geschichte bezieht sich Pfleiderer auf Heinrich Ewald (1803–1875) und dessen mehrbändiges Werk zur Geschichte Israels, zudem auf einen Aufsatz von Karl Planck (1819–1880) über den Ursprung des Mosaismus.47 Heinrich Ewald geht davon aus, dass sich die jüdische Religion zusammen mit der christlichen vor allen anderen Religionen durch einen zentralen Grundgedanken auszeichnet, den Gedanken des einen, rein geistigen Gottes. Schon bei den Erzvätern erkennt Ewald einen „Anfang zum Monotheismus“ 48, der aber erst bei Mose voll ausgebildet ist und so „unwandelbar“ feststeht, dass auch „das Neue Testament nichts wesentliches hinzufügen konnte“49. Für Ewald ist die Geschichte Israels somit als Geschichte der Aufhebung der mit ihr selbst gesetzten Schranken zu verstehen. Eine solche Schranke ist zunächst die Unmittelbarkeit, mit der sich die göttliche Wahrheit kundgibt. Diese Unmittelbarkeit schließt „zweitens auch leicht die Gewaltsamkeit in sich, womit sich die Wahrheit hier aufdrängt und worin sie herrschen will. Erst zuletzt erscheint drittens die Wahrheit welche so zu dem Menschen kommt leicht als bloßes äußerlich gegebenes starres Gesetz, sobald sie einmal längst feststeht und nur daß sie gehalten werden müsse allein hervortritt“ 50.

Die Wendungen der Geschichte vollziehen sich auf solche Weise, dass eine Schranke aufgehoben wird, während statt ihrer die jeweils folgende um so stärker hervortritt.51 Kurt Planck sieht in seinem Aufsatz „Der Ursprung des Mosaismus“ das „Räthsel des Daseins der alttestamentlichen Religionsanschauung“ in dem Widerspruch, „dass auf der einen Seite der Wille eines heiligen und gerechten Gottes steht, der als solcher im Menschen sich verwirklichen soll, auf der andern Seite der Wille des Volkes, der rein für sich selbst betrachtet nichts von je47

48 49 50 51

H. EWALD, Geschichte des Volkes Israel bis auf Christus, 5 Bde., Göttingen 1843– 1855, 3. Ausgabe 1864–1866; K. PLANCK, Ursprung des Mosaismus, in: ThJb(T) 4 (1845), 450–519.656–721. H. EWALD, Geschichte des Volkes Israel, Bd. 1 (³1864), 460. H. EWALD, Neue Untersuchungen über den Gott der Erzväter, in: Ders., Jahrbücher der Biblischen Wissenschaft, Bd. 10 (1860), 1–28, hier: 23. H. EWALD, Geschichte des Volkes Israel, Bd. 2 (³1865), 166. Die erste Wendung fällt allerdings noch nicht in diesen Zusammenhang, so Ewald, da sie den Übergang von der Zeit der Erzväter zur Zeit des Mose beschreibt. Die durch diese Wendung herbeigeführte Phase kann als reine Gottesherrschaft charakterisiert werden, die Unmittelbarkeit ist die sie kennzeichnende Schranke. Diese Schranke wird ihrerseits durch die zweite Wendung, die Wendung zur Königsherrschaft Gottes, aufgehoben, wobei nun die zweite Schranke, die Gewaltsamkeit, sich am deutlichsten bemerkbar macht. Ebd., 166ff.

2. Exegese und Hermeneutik bei Otto Pfleiderer

225

nem göttlichen Inhalte in sich hat, sondern nur das eigene nationale Wohl zu seinem Zweck hat“52.

Daraus leitet Planck die eigenwillige Konstruktion der Geschichte Israels ab, für die der Partikularismus notwendige Vorbedingung ist, ohne die die jüdische Religion niemals eine Religion des Geistes geworden wäre. Zwar ist die geschichtliche Bestimmtheit in der Phase des Mosaismus notwendig, im weiteren Verlauf der Geschichte hebt sie sich aber selbst auf – in ähnlicher Weise, wie es auch Ewald versteht. Der spätere Prophetismus richtet sich an die Innerlichkeit, den Willen als solchen, und durchbricht damit die Anschauung des Mosaismus, die ihren geistigen Gehalt „nur durch das rein gegebene Faktum der Beziehung Gottes zu dem Volke“53 erhielt. Indem „die Beziehung auf den menschlichen Willen … in das Ansich Gottes verlegt“ ist, handelt es sich nicht mehr nur um eine „Beziehung auf ein einzelnes Volk“, sondern „die Gottesanschauung wird vielmehr universalistisch“ 54 und damit wird die dritte Phase der jüdischen Geschichte erreicht. Pfleiderer selbst will die in seinen Augen in Bezug auf das Alte Testament zentrale Frage klären, wie es dazu kam, dass der in seiner reinen Geistigkeit und unbeschränkten Unendlichkeit erkannte Gott zu dem bestimmten einzelnen Volk Israel in jene einzigartige und ausschließliche Beziehung gesetzt wurde, wie sie dem Glauben dieses Volkes als charakteristisches Merkmal zukommt. „Es sollte ja vielmehr der Eine Gott auch nothwendig als der allgemeine Gott aller Menschen gedacht werden, der zu keinem einzelnen Volk als solchem in einem besonderen und ausschliesslichen Verhältniss stände.“55

Dieser Widerspruch zwischen Universalität und Exklusivität ist nur zu begreifen, wenn der Ausgangspunkt in der praktischen Beziehung des Volkes Israel zu Gott liegt, in dem es aufgrund eines historischen Erlebnisses seinen Erlöser und Retter sowie den Begründer seiner nationalen Existenz anschaute. Diese praktische Beziehung zwischen Volk und Gott ist das entscheidend Neue, aus dem sich die theoretische, höhere Gotteserkenntnis erst entwickelt hat. Somit leuchtet ein, warum der mosaischen Gottesidee trotz ihrer Einheit und Geistigkeit doch die partikularistische Beziehung auf das Volk Israel anhaften musste. Durch die Bindung Gottes an die Geschichte erhebt sich Israel zwar über die Naturreligion. Doch zugleich liegt darin, dass das ganze Verhältnis zwischen Gott und Mensch hier nur auf einer äußerlich ge52 53 54 55

K. PLANCK, Der Ursprung des Mosaismus, 451. Ebd., 451. Ebd., 664. O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 2, 156f.

226

IV. Exegese und Hermeneutik

schichtlichen Tatsache basiert, die Schranke dieses religiösen Verhältnisses. Es ist weder im Wesen Gottes noch im Wesen des Menschen begründet und ist daher ein rein äußerliches zufälliges Verhältnis. Die Beschränktheit der mosaischen Religion wird aber in der Religionsgeschichte Israels aufgehoben. Die Prophetie ist der ausgezeichnete Ort, wo diese Aufhebung geschieht.56 Die Propheten gelangen zu der Erkenntnis, dass „das Verhältnis Gottes zu den Menschen nicht auf einigen Thaten der Vergangenheit, sondern auf seiner Liebe als einer wesentlichen und ewigen göttlichen Eigenschaft“57 beruht. Das Judentum ist somit auf dem Weg, „durch die Zweifel an der Wahrheit seiner Grundvoraussetzung die Schranke der Aeusserlichkeit, die ihm von seinem mosaischen Ursprung stets und auch noch in der prophetischen Messiasidee anhaftete, von sich abzustreifen, aus der Knechtschaft in die Kindschaft Gottes hindurchzudringen“58.

2.4 Der genetische Zusammenhang von Altem und Neuem Testament In der ersten Auflage seiner Religionsphilosophie von 1878 zeigt sich im Verständnis des Alten Testaments nicht nur die Neuausrichtung von Pfleiderers genetisch-spekulativer Religionsphilosophie, sondern auch die veränderte Forschungslage in der alttestamentlichen Wissenschaft.59 Pfleiderer lehnt sich nun an Abraham Kuenen (1828–1891)60 an,

56

57 58 59 60

Hier grenzt sich PFLEIDERER von der Konzeption von EWALDS ab, der in Mose den Prophet schlechthin sieht, der bereits das gesamte Offenbarungswissen besitzt, und deshalb der Prophetie im engeren Sinne nicht dieselbe Bedeutung zumessen kann. Vgl. dazu H. EWALD, Geschichte des Volkes Israel, Bd. 2 (³1865), 68–83. O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 2, 345. Ebd., 350. Vgl. dazu Kapitel III., 2.2, Die religionspsychologische und religionsgeschichtliche Grundlegung der Theologie bei Otto Pfleiderer, 149–170. Bei A. KUENEN, seit 1855 ordentlicher Professor für Neues Testament und Ethik an der Theologischen Fakultät in Leiden, lagen die wichtigsten Leistungen auf dem Gebiet der Literatur und Theologie des Alten Testaments, obwohl er erst 1870 die Professur für Altes Testament erhielt. Nach seinem ersten Hauptwerk „Historischkritisch onderzoek naar het onstaan en de verzameling van de Boeken des Ouden Verbonds“, das in drei Bänden 1861–1865 erschien, veröffentlichte er 1869/70 sein zweites, zweibändiges Hauptwerk „De godsdienst van Israel tot den ondergang van den Joodschen staat“, mit dem er in der Pentateuchforschung der ‚WellhausenHyptothese‘ zum Durchbruch verhalf. Vgl. dazu K. GRÜNWALDT, Art. Kuenen, Abraham, in: BBKL, Bd. 4 (1992) Sp. 760–768; H.-J. KRAUS, Geschichte der historischkritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1956, § 59; L. PERLITT, Vatke und Wellhausen. Geschichtshistorische Voraussetzungen und histo-

2. Exegese und Hermeneutik bei Otto Pfleiderer

227

insbesondere an dessen Werk „De godsdienst van Israel tot den ondergang van de Joodschen Staat“ von 1869/1870. Darin findet man dieselbe Theorie, die später als ‚Wellhausen-Hypothese‘ das Bild von der Geschichte und Religionsgeschichte Israels und damit die alttestamentliche Wissenschaft revolutioniert hat, nahezu fertig vor. Ausgehend von der Verkündigung der Propheten Amos und Hosea, die für Kuenen in der Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. einen historisch gesicherten Punkt in der israelitischen Religionsgeschichte darstellen, entwirft er die Geschichte der israelitischen Religion nach Rückwärts und Vorwärts. Die vorprophetische Volksreligion Israels war polytheistisch, bestenfalls henotheistisch, wobei Kuenen die zuvor in der alttestamentlichen Wissenschaft als wertvolle historische Zeugnisse verteidigten Vätererzählungen der Genesis nun als Sagen oder Legenden qualifiziert. Jahwe, in der Frühzeit Israels ein Sonnen- oder Feuergott, wurde von Mose ein ethischer Charakter beigelegt und somit an die Spitze eines hebräischen Pantheons gesetzt. Damit war Mose also nicht, das ist das grundlegend Neue, der Begründer des israelitischen Monotheismus. Das Deuteronomium wird nun, den Forschungen Wilhelm M. L. de Wettes (1780–1849) folgend61, in die Zeit Josias (639–609 v. Chr.) datiert, und die Priesterschrift, die ja die Hauptzahl der mosaischen Gesetze enthält, erscheint jetzt nicht mehr als die älteste, sondern als die jüngste Pentateuchquelle. Kuenen begründet diese Auffassung mit der Erkenntnis, dass der zu Beginn der Exilszeit wirkende Prophet Ezechiel zwar das Bundesbuch und das Deuteronomium kenne, aber nicht die priesterschriftlichen Gesetze. Die Priesterschrift müsse also nach der Wirksamkeit des Ezechiel entstanden sein.

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riographische Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen, Berlin 1965. W. M. L. DE WETTE hatte in seiner Promotionsschrift „Dissertatio critico-exegetica qua Deuteronomium a prioribus Pentateuchi libris diversum, alius cuiusdam recentioris auctoris opus esse monstratur“, die ihm 1805 den philosophischen Doktorgrad in Jena eingebracht hatte, nachgewiesen, dass das Deuteronomium so weit von den vorangehenden Büchern des Pentateuch abweicht, dass man es nur aus einem anderen, späteren Zeitalter herleiten kann. Zu DE WETTE vgl. die wissenschaftliche Biographie von R. SMEND, W. M. L. de Wettes Arbeit am Alten und Neuen Testament, Basel 1958. In einem Aufsatz über das Verhältnis zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System bei DE WETTE hat SMEND dessen Zäsuren im Denken schärfer herausgestellt. Vgl. dazu R. SMEND, De Wette und das Verhältnis zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System im 19. Jahrhundert, in: ThZ 14 (1958), 107–119. Zur Bedeutung DE WETTES für die Pentateuchforschung und die alttestamentliche Forschungsgeschichte im 19. Jahrhundert und insbesondere seinen Einfluss auf die Geschichtsschreibung der Religion Israels bei W. VATKE und J. WELLHAUSEN vgl. L. PERLITT, Vatke und Wellhausen, 88–95.

228

IV. Exegese und Hermeneutik

Für Pfleiderer verbindet die Methodik Kuenens „die sorgsamste Analyse und Kritik der Quellen mit sicher fortschreitender Synthese der analytisch gefundenen Ergebnisse in der positiven Construktion des geschichtlichen Entwicklungganges“62. Er sieht eine Analogie wischen Kuenens Forschung in der alttestamentlichen und Baurs in der neutestamentlichen Exegese. „Wie Baur vom Apostel Paulus ausgegangen ist, und von den durch ihn bezeugten apostolischen Verhältnissen die daraus stammenden Geschichtsbücher zu verstehen suchte, und von da aus erst auf die Anfänge des Christenthums vor Paulus Rückschlüsse zog, ganz ebenso geht Kuenen von den ersten schriftstellernden Propheten aus, sucht aus den Verhältnissen ihrer Zeit die daraus stammenden Geschichtsbücher zu verstehen und zu beurteilen und zieht daraus seine Schlüsse auf die Vorzeit, welche so gedacht werden muss, dass sich daraus die Verhältnisse der prophetischen Zeit als natürliche Entwicklung jener Anfänge erklären lassen. Eine so genaue Analogie der Methode auf verschiedenen Gebieten ist um so mehr interessant, da ohne Zweifel Kuenen sich nicht durch einen Blick auf den Vorgang Baur’s hat bestimmen lassen, sondern seinen Weg ganz selbstständig, geleitet von gesundem historischen Instinkt, gesucht hat.“ 63

Während Pfleiderer in seinem Erstlingswerk von 1869 zwar die Bedeutung der Geschichte für die Religion Israels erkennt, allerdings in dem Sinn, dass deren Bestimmung seiner Meinung nach darin liegt, sich selbst aufzuheben, integriert er in der Religionsphilosophie von 1878 die jüdische Religion in einer Weise in den geschichtlichen Prozess, dass von Tendenzen solcher Aufhebung nichts mehr zu bemerken ist. Dieser Prozess überwindet nicht die Geschichte, er führt aber konsequent hinaus über die jüdische Religion, indem er deren Weiterentwicklung zur christlichen Religion veranschaulicht. In ganz anderer Weise als in der Geschichte der Religion wird nun der geschichtliche Zusammenhang beider Religionen deutlich gemacht. Für diese stärkere Akzentuierung einer genetischen Verbindung von Altem und Neuem Testament bildet die „Alttestamentliche Theologie“ von Hermann Schultz, den wissenschaftlichen Referenzrahmen.64 Die Grundüberzeugung von Schultz ist, dass die „alttestamentliche Religion nur im Zusammenhange und in wesentlicher Einheit mit dem

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O. PFLEIDERER, Die Entwicklung, 325. Ebd., 325f. H. SCHULTZ, Alttestamentliche Theologie (²1878). Auch LIPSIUS greift im Rahmen seiner Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament auf das Werk von SCHULTZ zurück. Vgl. dazu Kapitel IV, 1.3 Der ethische Kern und die „Doppelseitigkeit“ der alttestamentlichen Religion, 214ff.

2. Exegese und Hermeneutik bei Otto Pfleiderer

229

Christenthum aufzufassen ist“65. Die alttestamentliche und die christliche Religion will Schultz trotz aller Unterschiede als eine einzige Religion in verschiedenen Formen verstehen. Er betont, dass beide Religionsformen einander nicht fremd sind, „derselbe Geist ist in ihnen; so machen beide die wahre Religion aus, in welcher es wohl Stufen und Entwicklungen, aber nicht grundsätzliche Widersprüche geben kann“.66

Da in allen heidnischen Religionen der Mensch Gott nur sucht „in dem was in seinem Bereiche liegt“, in der Religion der beiden Testamente sich Gott aber als der schlechthin einzige offenbart, kann Schultz auch von der einen Offenbarungsreligion reden. 67 Als alttestamentliche ist sie „Religion des werdenden Gottesreiches“ und als christliche „Religion des vollendeten Gottesreiches“68. Pfleiderer verschmilzt nicht in derselben Weise wie Schultz alttestamentliche und neutestamentliche Religion, übernimmt aber von diesem die genetische Verbindung der beiden Testamente und Religionen. Die genetische Weiterentwicklung von der jüdischen zur christlichen Religion zeigt Pfleiderer an der Entwicklungsgeschichte des Gottesglaubens auf.69 Nachdem er ausführlich die Weiterentwicklung des Gottesglaubens in Israel hin zum Monotheismus des Judentums dargestellt hat, die in den Augen Pfleiderers mit einer Transzendierung Gottes übereingeht, kommt er auf die zentrale Rolle der alexandrinischen Religionsphilosophie Philos zu sprechen. „Diese Grundanschauung des spätern Judenthums von der unerreichbaren Erhabenheit Gottes über alles Endliche und seiner Vermittlung mit der Welt durch Mittelwesen hat dann der alexandrinische Philosoph Philo mit den Lehren der griechischen Philosophie, zumal der stoischen und platonischen, in einer Weise verknüpft, welche für die fernere Entwicklung des Gottesglaubens von den wichtigsten Folgen wurde.“70

Für die Entwicklungsgeschichte des Gottesglaubens, die für Pfleiderer im christlichen Gottesbegriff kulminiert, spielt somit die alexandrinische Religionsphilosophie Philos eine entscheidende Rolle. Denn in ihr wird die Transzendenz des jüdischen Theismus mit der griechischen Lehre vom Logos, der sich aufgrund seiner metaphysischen Zwischenstellung zum religiösen Mittler eignet, verbunden. Damit erweist sich der christliche Gottesbegriff, der die abstrakte Transzendenz überwin65 66 67 68 69 70

H. SCHULTZ, Alttestamentliche Theologie (²1878), 58. Ebd., 64. Ebd., 61f. Ebd., 65. O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 355–382. Ebd., 369.

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IV. Exegese und Hermeneutik

det, als Kind der Vermählung des hellenischen und hebräischen Gottesbewusstseins. „Damit war im Gemüth Jesu die doppelte Schranke des jüdischen Gottesbewusstseins, der nationale Partikularismus und die außerweltliche Transcendenz, thatsächlich und prinzipiell überwunden.“ 71

3. Tendenzkritik und Literarhistorie – Exegese und Hermeneutik bei Adolf Hilgenfeld Adolf Hilgenfelds wissenschaftliche Entwicklung als Exeget und Kirchenhistoriker kann ebenfalls nur in seiner Beziehung zu Ferdinand Chr. Baur und der ‚Tübinger Schule‘ angemessen erfasst werden. Hilgenfeld stimmt sowohl nach eigenem Bekunden als auch im Urteil Baurs in Fragen zur Exegese und Hermeneutik mit diesem in vielen Punkten und Positionen überein, gewinnt allerdings sein eigenständiges Profil als Exeget auch durch die Abgrenzung von Baur. Hilgenfeld selber hat es wiederholt abgelehnt, zur ‚Tübinger Schule‘ gerechnet zu werden. „Diese Bezeichnung habe ich deshalb von mir abgelehnt, weil ich mit der ganzen Welt die Ansichten Baurs als entscheidend und maßgebens für die ‚Tübinger Schule‘ betrachtete, also die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit meiner Forschungen mir durch keinen Schulverband nehmen lassen wollte ... Und warum sollte ich mir vollends durch den Namen der ‚Tübinger Schule‘ in geschichtlicher wie in philosophischer Hinsicht Ansichten aufbürden lassen, die ich nicht hege? Hat mich doch der billig denkende Reuß unter den Anhängern des ‚Systems‘ der Tübinger Schule in Bausch und Bogen mit angeführt.“ 72

71 72

O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 374. A. HILGENFELD, Einige Bemerkungen zu Dr. Baur’s neuester Schrift über „die Tübinger Schule“, in: ZwTh 2 (1859), 276–280, hier: 276f. Gleichwohl wird HILGENFELD in der Theologiegeschichtsschreibung neben K. HOLSTEN, G. VOLCKMAR und O. PFLEIDERER als Vertreter der ‚Tübinger Schule‘ gesehen. Vgl. dazu E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 171–174. Wie ambivalent das Verhältnis von HILGENFELD und BAUR in forschungsgeschichtlicher Perspektive zu sehen ist, wie die Tübinger Schule inhaltlich zu charakterisieren ist und inwiefern HILGENFELD die Grundpositionen aufnimmt und sich doch davon abgrenzt, hat U. KÖPF aufgezeigt. Vgl. Ders., Die theologischen Tübinger Schulen, 42ff. Zum Verhältnis von HILGENFELD und BAUR vgl. auch die Ausführungen zur Person, zum Werk, zur theologie- und wissenschaftsgeschichtlichen Verortung von HILGENFELD in Kapitel II, 47ff. Im Rahmen der Ausführungen zur geschichtswissenschaftlichen Verankerung der Theologie bei HILGEN-FELD wurde bereits auf die Verwurzelung seiner historisch-kritischen Exegese sowie seines religionsphilosophischen Ansatzes in der Theologiekonzeption BAURS aufmerksam gemacht. Vgl. dazu Kapitel III, 171–175. Zum Leben, zum Werk,

3. Tendenzkritik und Literarhistorie – Exegese bei A. Hilgenfeld

231

Die Voraussetzungen und die Methode seiner exegetischen Arbeit wie ihre Einzelergebnisse und die Gesamtanschauung der urchristlichen Religionsgeschichte bekommen vor dem Hintergrund der Baurschen historisch-kritischen und spekulativen Erforschung der urchristlichen Literatur ihr eigenständiges Profil.73 Im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit steht für Hilgenfeld die Aufgabe, „den eigentlichen Tatbestand“, d. h. den geschichtlichen Ursprungs des Christentums „als der für alle Zeiten bleibenden, unerschöpflichen Lebensmacht ... durch sorgfältige Erforschung der ganz oder teilweise erhaltenen Schriften und der in den ersten Zeiten unserer Religion verbreiteten eigentümlichen Gedankenwelt ... nach seiner inneren Entwicklung immer klarer zu erkennen“74. Damit nimmt er für die neutestamentliche Wissenschaft die Forschungslage der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts auf, die im ersten Jahrgang der Tübinger Theologischen Jahrbücher von 1842 folgendermaßen gekennzeichnet wird: „Im Grunde hat die neutestamentliche Kritik nur drei große Probleme, die ... zugleich die Entwicklungsstadien der neutestamentlichen Literatur bezeichnen. Sie sind 1) die paulinische, pseudo- und antipaulinische Literatur, 2) das genetische Verhältnis der drei Synoptiker und 3) die johanneischen Schriften“75.

Weitere für die Frage nach den exegetischen Prinzipien und der Hermeneutik ertragreiche Forschungsschwerpunkte von Hilgenfeld sind die spätjüdische Apokalyptik76 als Vorgeschichte des Urchristentums,

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zur theologie- und wissenschaftsgeschichtlichen Verortung von F. CHR. BAUR vgl. die Literaturhinweise in Kapitel III, 172, Anm. 323. F. CHR. BAUR publizierte 1836 einen Aufsatz über den Zweck und die Veranlassung des Römerbriefes. Im Titel des Beitrages erscheint erstmals der Fachausdruck ‚historisch-kritisch‘ für die exegetische Methode. Darunter versteht BAUR, dass jede urchristliche Schrift in die Geschichte des Urchristentums hinein gestellt werden, zu den bestimmten in dieser Geschichte wirksamen Richtungen ins Verhältnis gesetzt und auf eine bestimmte in dieser Geschichte entstandene Lage bezogen werden muss. Darüber hinaus sind die in den verschiedenen urchristlichen Schriften enthaltenen Nachrichten stets von der geschichtlichen Stellung dieser Schrift her und ihren aus dieser sich ergebenden Urteilen und Zielen her zu beurteilen. E. HIRSCH sieht in BAURS Hauptwerken Meilensteine der neutestamentlichen Wissenschaft, insofern sie das Verfahren der historischen Quellenanalyse zur wissenschaftlichen Prüfung und Feststellung von Bericht und Hergang festschreiben und damit implizieren, dass das Christentum als eine in die Geschichte der Menschheit getretene Macht selbst nach allen Regeln der Geschichtserkenntnis aufgefasst und erkannt werden will. Vgl. E. HIRSCH, Geschichte der neuern evangelischen Theologie V (41968), 524ff. A. HILGENFELD, Die Göttingische Polemik gegen meine Forschungen, in sittlicher und wissenschaftlicher Hinsicht gewürdigt, Leipzig 1851, 7f. ThJb (T) 1 (1842), 450f. Wenn man der ‚Tübinger Schule‘ zuschreibt, neben der Erforschung des Urchristentums das Forschungsinteresse an den spätjüdischen Pseudepigraphen prolongiert zu

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IV. Exegese und Hermeneutik

und die Gnosis, die er, wiederum in Auseinandersetzung mit Baur, vor allem als religiöses Phänomen gewürdigt wissen will. 3.1 Der Rückbezug auf die Bauersche Tendenzkritik Ferdinand Chr. Baur hatte in seiner 1831 erschienenen Studie über die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde77 die zuvor bereits von Johann S. Semler vertretene Ansicht weiter entwickelt, dass das Urchristentum keine einheitliche Größe, sondern durch den Konflikt verschiedener religiöser Auffassungen gekennzeichnet gewesen sei. Dieser Konflikt zwischen einem gesetzesorientierten partikularistischen Judenchristentum, das sich auf Petrus stützte, und einem universalistischen gesetzeskritischen Heidenchristentum, dessen umstrittener Kopf Paulus war, bilde auch den Hintergrund der beiden Korintherbriefe.78 Der Angelpunkt in Baurs Hypothese war, dass man bei der Frage nach den Anfängen des Christentums auf einen scharfen Gegensatz stößt, der auf einen Ausgleich zutreibt. Die von dieser Voraussetzung ausgehende historisch-kritische Erforschung der neutestamentlichen Briefliteratur und ebenso die Kenntnis der gnostischen Bewegung des zweiten Jahrhunderts, führten ihn in seiner Schrift über die Pastoralbriefe 1835 zu einer neuen Sicht und literarischen Einordnung dieser Briefe.

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haben, trifft dies in erster Linie auf HILGENFELD und dessen Arbeiten zur spätjüdischen Apokalyptik zu. Vgl. dazu die Ausführungen von G. BEER in seinem Artikel über die Pseudepigraphien des AT, in: ³RE, Bd. 16 (1905), 230 und 233. Vgl. auch H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil II, B10–B43. Vgl. dazu Kapitel IV, 1. Zur Exegese und zum Schriftverständnis bei RICHARD A. LIPSIUS, 207ff., und die dortigen Literaturhinweise in den Anmerkungen 5 und 6. In seinem Aufsatz über die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde ist für BAUR der Ausgangspunkt 1Kor 1,12, wo Paulus davon spricht, dass sich die Gemeinde von Korinth in vier Parteien aufgespalten hat, die Anhänger des Paulus, des Apollos, des Kephas und eine Gruppe, die sich Christus-Partei nennt. Nach eingehender Untersuchung der beiden Korintherbriefe kommt BAUR vor allem aufgrund von 2Kor 10–13 zu dem Ergebnis, die Christus-Partei sei ein extremer Flügel der Petrus-Partei, die sich darauf berufen habe, durch seinen Apostel zu dem irdischen Jesus und seiner gesetzlich verstandenen Lehre eine unmittelbare Beziehung zu haben, die Paulus, da nur durch eine Vision berufen (vgl. Apg 9 und Gal 1,1), seinen Anhängern nicht vermitteln könne. Da er andererseits die Apollos-Leute den Parteigängern des Paulus zuordnet, kommt BAUR zu der These, es habe in Korinth in Wirklichkeit zwei Parteien gegeben, eine judenchristliche und eine heidenchristlichpaulinische. Vgl. F. CHR. BAUR, Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, in: TZth 4 (1831), 61–206.

3. Tendenzkritik und Literarhistorie – Exegese bei A. Hilgenfeld

233

Da diese sich bereits mit gnostischen Häretikern auseinandersetzten und ihr Interesse an festen kirchlichen Ämtern und Ordnungen nur auf dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung verständlich sei, könnten sie nicht von Paulus verfasst sein. In ihnen wehe bereits der Geist des Frühkatholizismus, in dem angesichts der gnostischen Krise des frühen Christentums universalistischer Paulinismus und partikularistisches Judenchristentum zu einer Synthese verschmelzen. Da alle Briefe, die eine derartige vermittelnde frühkatholische Tendenz aufweisen, nicht von Paulus stammen könnten, vertrat Baur die Auffassung, dass von den bislang Paulus zugeschriebenen Briefen nur der Galaterbrief und Römerbrief sowie die beiden Korintherbriefe als echte Paulusbriefe anzusehen seien. Wenn sich seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts an die Arbeiten von Baur das Schlagwort ‚Tendenzkritik‘ heftet, soll damit eine Methode gekennzeichnet werden, die ihr heuristisches Prinzip und ihre materialen Maßstäbe ausschließlich oder weit überwiegend in dem Verhältnis findet, in dem jedes Dokument der urchristlichen Literatur zu den beiden antithetischen Leitideen und Grundbewegungen der ältesten Kirchengeschichte, dem judenchristlich-ebionitischen und dem paulinisch-heidenchristlichen Pol, bzw. zu deren Vermittlung steht. Die historische Einordnung und Beurteilung der neutestamentlichen Schriften vollzog Baur somit dadurch, dass er sie bestimmten theologischen Tendenzen innerhalb des frühen Christentums zuordnete. Danach ist das Urchristentum zunächst judaistisch verfasst gewesen, und dem Judenchristentum hat sich dann ein gesetzeskritisches Heidenchristentum entgegengestellt. Die jüngeren neutestamentlichen Schriften zeichnen sich hingegen durch die Tendenz aus, den anfänglichen Gegensatz zu verdecken und den Zustand der Einheit harmonisierend in die Anfänge zurück zu projizieren, der erst das Resultat des gemeinsamen Kampfes gegen die gnostische Gefahr war. Adolf Hilgenfeld arbeitete sich während seines Studiums in Halle im WS 1844/45 in die pseudoclementische Literatur ein und kam dabei in Fragen zur Geschichte des Christentums zu Forschungsergebnissen, die erste Konvergenzen zu Ferdinand Chr. Baurs Denkfigur der Parteiengegensätze als Movens der urchristlichen Literaturbildung zeigen. „Sie (die pseudoclementischen Schriften) stehen im grellsten Widerspruch gegen den Paulinismus und zeigen, daß der Apostel Paulus mit seiner Lehre von der Aufhebung des Gesetzes und vom allein rechtfertigenden Glauben ganz vereinzelt dastand, und nicht sowohl mit den Juden, als vielmehr mit den Judenchristen zu kämpfen hatte, zu welchen mehr oder weniger alle früheren Christen gehörten. Als ausgemachte Sache kann man es betrachten, daß wenigstens im ersten Jahrhundert der Paulinismus, von wel-

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IV. Exegese und Hermeneutik

chem die meisten unserer neutestamentlichen Schriften herrühren, die unterdrückte Partei war, und erst im zweiten Jahrhundert siegte“ 79.

In seinem Werk über die clementinischen Recognitionen und Homilien von 1848 geht er über Baurs Ansatz methodisch und inhaltlich insofern hinaus, als er die Texte „literarhistorisch“ bearbeiten will. „So epochemachend die Untersuchungen Baur’s über den Lehrbegriff, den Gedankenkreis der Homilien sind, so ist doch eine andere Seite der Untersuchung übrig, ... die literarhistorische.“80 Er versucht ausgehend von der Grundlage einer alten Schicht – wie er meint des ersten Jahrhunderts –, der ebionitischen Predigt des Petrus, die Genese der um sie gelagerten späteren Schichten zu erschließen und aufzudecken. Mit der religionsgeschichtlichen Deutung und Einordnung dieser Texte als Urkunden eines entwicklungsfähigen Urchristentums bezieht Hilgenfeld hier bereits Positionen, die er im weiteren Verlauf seiner exegetischen Forschung nicht mehr aufgibt. Hilgenfeld hält an der Grundvoraussetzung der ‚Tendenzkritik‘ der Baur-Schüler, der Annahme, der Vorstellung von der eminenten Bedeutung und zugleich von dem Verlauf der urchistlichen Parteiengegensätze fest. „Festgehalten ist der Grundgedanke, welchen nach J. S. Semlers Vorgange Baur verfocht, daß das ursprüngliche Christentum in den tiefen, wenn auch die gemeinsame Grundlage nicht verleugnenden Gegensatz des urapostolischen und paulinischen Christentums auseinanderging, welcher in der katholischen Kirche seine Ausgleichung fand … Das Christentum musste, sobald es aus der gediegenen Einheit in dem religiösen Bewusstsein seines Stifters heraustrat, in verschiedene Richtungen auseinandergehen.“81

So finden sich bei ihm Formulierungen nahezu gleichklingend wie bei Baur. Allerdings ist für ihn der Tendenzcharakter82 – ob judenchristlich 79 80

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Brief von A. HILGENFELD an seinen Vater aus Berlin vom 31.03.1845, veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 39. A. HILGENFELD, Die clementischen Recognitionen, 1. „Man kann mit Sicherheit behaupten, daß nur eine solche Ansicht von der Entwicklung des Urchristentums jede Probe bestanden hat, welcher es gelungen ist, vollkommen in die Werkstätte einzudringen.“Ebd., 19. A. HILGENFELD, Die Göttingische Polemik, 7. Vgl. Ders., Die jüdische Apokalyptik, 13. 16. Als Herausgeber der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie hält er es für eine Hauptaufgabe, das wissenschaftliche Erbe SEMLERS und BAURS zu pflegen. Vgl. dazu A. HILGENFELD, Die wissenschaftliche Theologie und ihre gegenwärtige Aufgabe, in ZwTh 1 (1858), 1ff. Die Art und Weise, wie BAUR sich in einem Brief an HILGENFELD vom 25. September 1854 zu dessen Vorwurf der Tendenzkritik äußert, legt die Vermutung nahe, dass dieser fest in die Wissenschaftsgeschichte eingegangene Begriff nicht von BAUR selber begründet wurde. BAUR ist befremdet darüber, dass HILGENFELD seine Kritik an

3. Tendenzkritik und Literarhistorie – Exegese bei A. Hilgenfeld

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oder paulinisch – „nicht mehr ein und alles“, vielmehr lässt er ihn nur „eingeschränkt durch Quellenmäßigkeit und geschichtliche Grundlage“83 als heuristisches Prinzip gelten. Damit ist grundsätzlich der Weg zur Quellenkritik geöffnet und Hilgenfeld befreit sich weitgehend von der Schablone einer dogmatischen Tendenzkritik. Die urchristlichen Richtungen sind nicht ursprünglich und deshalb prinzipiell auch zum Ausgleich fähig. Sie setzen einander auch nicht sukzessive aus sich heraus, sondern sie bestehen gleichzeitig nebeneinander, und nicht zuletzt tragen sie auch die Tendenz zur Vermittlung von Anfang an in sich. Eine Schrift, die die Merkmale der ‚Versöhnung‘ aufweist, muss also deshalb nicht zwangsweise ins 2. Jahrhundert n. Chr. datiert werden. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis gesteht Hilgenfeld im Unterschied und in dezidierter Abgrenzung zu Baur einigen der kleineren Paulusbriefe die Echtheit zu. Hilgenfelds Kommentar zum Galaterbrief 84 ist sein erster Versuch, eine neutestamentliche Schrift in der Perspektive der Bauerschen Grundanschauung nicht nur isagogisch zu analysieren, sondern auch in Form eines Kommentars fortlaufend auszulegen. Der Erklärung ist eine Übersetzung und eine Untersuchung über die geschichtliche Situation des Briefes vorangeschickt, in der er vor allem das Verhältnis des Heidenapostels zu den Uraposteln und der Urgemeinde einer erneuten Prüfung unterzieht und auch Instanzen aus der judaistischen Festbeobachtung sowie aus den Passastreitigkeiten beifügt. Ein Anhang gibt den Stand der kritischen Forschung über die Chronologie der Wirksamkeit des Apostels wieder und untersucht Marcions Text des Galaterbriefes. 3.2 Literarhistorische Exegese Im Vorwort und der Einleitung zu seinem Werk „Die apostolischen Väter“85 von 1853 kennzeichnet Hilgenfeld seine exegetische Methode explizit als „den literarhistorischen Gesichtspunkt“ bzw. „den Weg der

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ihm „mit dem zweideutigen Ausdruck einer Tendenzkritik“ bezeichnet, spricht aber dann wenige Zeilen später auch von „meiner Tendenzkritik“. Vgl. Ders., Brief an Adolf Hilgenfeld vom 25.9.1854. Veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 134. A. HILGENFELD, Historisch-kritische Einleitung in das Neue Testament, Leipzig 1875, 198. A. HILGENFELD, Der Galaterbrief, übersetzt, in seinen geschichtlichen Beziehungen untersucht und erklärt, Leipzig 1852. A. HILGENFELD, Die apostolischen Väter, Untersuchungen über Inhalt und Ursprung der unter ihrem Namen erhaltenen Schriften, Leipzig 1853.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Specialuntersuchung“86. Hilgenfeld will im Gegensatz zu F. Chr. Baur, Karl F. Schwegler und A. Ritschl nicht von einer abgeschlossenen Gesamtansicht zum Verlauf der urchristlichen Entwicklung ausgehen, sondern durch eine genaue Analyse der einzelnen Schriften einen Beitrag zur Entstehungsgeschichte derselben liefern. Deren Verfahren kennzeichnet Hilgenfeld folgendermaßen: „Die tiefere Geschichtsforschung der neueren Zeit hat den Entwicklungsgang des vorkatholischen Christentums besonders durch Durchführung einer Gesamtanschauung des ganzen Gebiets aufzuhellen versucht. Sie legte auf den organischen Zusammenhang, in welchen sie das Einzelne mit dem Ganzen setzen wollte, auf die Aufnahme des immer schwankenden und streitigen Einzelnen in ein umfassendes Ganzes … das Hauptgewicht … Oder sie suchte die allerdunkelste Periode der Kirchengeschichte, den Zeitraum von der Zerstörung Jerusalems bis zu Irenäus, durch eine Gesamtanschauung aufzuhellen, welche erst hypothetisch aus der Analyse der Urkunden dieser Periode hervorgehen, und doch schon die Basis der Untersuchung selbst sein sollte.“87

Bei Schwegler kritisiert Hilgenfeld insbesondere dessen Vorgehensweise, aus der Vorannahme einer Ausdehnung des Ebionismus heraus bestrebt zu sein, die Ansicht von dem weit überwiegenden Ebionismus der apostolischen und nachapostolischen Zeit auf die Schriften der apostolischen Väter zu stützen. So findet Schwegler „den echt ebionitischen Standpunkt, das verkirchlichte Judenchristenthum in seiner ältesten, unvermitteltsten, ungebildetsten Form“ im Hirt des Hermas, während für ihn im zweiten Klemensbrief ein späteres Denkmal möglicher Verkirchlichung des Ebionismus vorliegt. 88 Bei Ritschl kritisiert Hilgenfeld das Bestreben, die Schriften der apostolischen Väter für seine Grundansicht von dem Vorherrschen des Paulinismus zu benutzen, und zu versuchen, alle Schriften der apostolischen Väter der inneren Entwicklung des Paulinismus einzureihen. So sollen bei Ritschl die gesetzliche Umbildung des Paulinismus, seine objektive Wendung, aus welcher der eigentliche Katholizismus hervorgeht, im Barnabasbrief und in einer weiteren Entwicklungsphase in den Klemensbriefen vorliegen.89 Diesen Ansätzen gegenüber, denen in den Augen

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A. HILGENFELD, Die apostolischen Väter, 7f. A. HILGENFELD, Die apostolischen Väter, IV (Vorwort). HILGENFELD bezieht sich mit seiner Beschreibung und Abgrenzung auf die Arbeiten von K. F. SCHWEGLER, Das nachapostolische Zeitalter in den Hauptmomenten seiner Entwicklung, 2 Bde., Tübingen 1846, und A. RITSCHL, Die Entstehung der altkatholischen Kirche, Bonn 1850, ²1857. Vgl. dazu K. F. SCHWEGLER, Das nachapostolische Zeitalter, Bd. II, 338. Vgl. dazu A. RITSCHL, Die Entstehung der altkatholischen Kirche (²1857), 274–285.

3. Tendenzkritik und Literarhistorie – Exegese bei A. Hilgenfeld

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Hilgenfelds zu Recht der Vorwurf einer apriorischen Geschichtskonstruktion gemacht wird, will er den entgegengesetzten Weg der „Specialuntersuchung“ einschlagen. Der nach seiner Einschätzung „spinozistische Monismus der Gesamtauffassung“ bedarf dringend „einer Ergänzung durch einen monadischen Individualismus“.90 „Der einzige Weg aber, auf welchem wir dieses Ziel erreichen können, ist die genaue Analyse der einzelnen Schriften, welche nicht bloss in den Einzelheiten sorgfältig zu durchforschen, sondern auf den eigentlichen Zweck ihrer Abfassung, auf den sie beherrschenden Grundgedanken, zurückzuführen sind.“91

Diese induktive Vorgehensweise mit dem Ziel, so viele Indizien als möglich aus den Schriften selber für eine Grundlegung der Gesamtauffassung zu gewinnen, impliziert für Hilgenfeld den Verzicht „eine abgeschlossene Gesamtansicht von dem Verlauf der urchristlichen Entwickelung zu haben, in welche das Einzelne bloss eingefügt zu werden braucht“92. In seinem 1854 erschienenen Werk über die Evangelien 93, das den vorläufigen Abschluss seiner Forschungen auf diesem Gebiet bildet, ist Hilgenfeld zusammenfassend darum bemüht, in Bezug auf die Methodik und die Ergebnisse der Evangelienforschung seine Abgrenzung von Baur zu begründen. Gegenüber diesem verschiebt er die Zeitansätze für die Evangelien erheblich. Schon in den sechziger Jahren des ersten Jahrhunderts bildet ein streng judenchristlicher „Urmatthäus“ den Anfang der schriftlichen Evangelienliteratur, der nach der Zerstörung des Tempels durch universalistische Zusätze zum kanonischen Evangelium überarbeitet wird. Daraus entsteht, ebenfalls noch im ersten Jahrhundert, durch einen einheitlichen Auszug das petrinisch-römische Markusevangelium. Bereits 1850 hatte Hilgenfeld eine eigene Schrift über das Markusevangelium94 veröffentlicht und darin zunächst die 90

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A. HILGENFELD, Die apostolischen Väter (1853), 7. Im Vorwort schreibt er: „Es scheint mir überhaupt auch auf dem Gebiet der urchristlichen Geschichtsforschung der geschlossene, sozusagen spinozistische Monismus der Gesamtauffassung einer Ergänzung durch einen monadischen Individualismus, durch eine Vertiefung in das volle, eigenthümliche Leben der einzelnen Erscheinungen zu bedürfen.“ Ebd., IV. Das brachte ihm von RITSCHL den Vorwurf ein, bei den Untersuchungen zum Markusevangelium nicht vor der Analyse des Inhalts einen Vergleich des Gesamtcharakters der Evangelien vorausgeschickt zu haben. Vgl. ThJb(T) 10 (1851), 541. A. HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik, 8. A. HILGENFELD, Die Evangelien nach ihrer Entstehung und geschichtlichen Bedeutung, Leipzig 1854. A. HILGENFELD, Das Markus-Evangelium, nach seiner Compisition, seiner Stellung in der Evangelienliteratur, seinem Ursprung und Charakter dargestellt, Leipzig 1850.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Griesbachsche Hypothese95 aufgenommen, dass Markus die Darstellungen des Matthäus und des Lukas benutzt habe. Er erkennt allerdings die Schwächen dieser Hypothese und will mit seinem Werk die Abhängigkeit des Markus von Matthäus bestätigen, vor allem aber das Verhältnis des Markus zu Lukas und sein Verhältnis zum Petrusevangelium genauer untersuchen, das – so Hilgenfeld – „aus Justin und den clementinischen Homilien noch erkannt werden kann“ 96. Ergebnis der Untersuchungen ist die Hypothese, dass das Markusevangelium einerseits von den petrinischen Lehrvorträgen abhänge, die im Petrusevangelium dokumentiert seien, und andererseits von einer Grundschrift, auf der auch das Matthäusevangelium basiere.97 Aus Markus und Matthäus und aus weiteren Quellenschriften erarbeite ein Paulus-Schüler um das Jahr 100 n. Chr. das Lukasevangelium, während das Johannesevangelium erst um 130 n. Chr. im Zusammenhang mit der gnostischen Bewegung entstehe. Hilgenfelds kritischer Kanon für die Evangelienforschung lautet: „Dasjenige Evangelium, welches sich dem Judenchristentum der palästinischen Urgemeinde am meisten anschliesst, wird von vornherein die Wahrscheinlichkeit der höchsten Ursprünglichkeit für sich haben und dasjenige Evangelium, welches sich von demselben am meisten entfernt, den Eindruck der spätesten Darstellung machen“98.

Mit Baur setzt Hilgenfeld daher das Matthäusevangelium an den Anfang der Entwicklung, ändert aber die Griesbach-Baur’sche Reihenfolge Matthäus – Lukas – Markus in die in seinen Augen plausiblere Entstehungsreihe Matthäus – Markus – Lukas um. Inhaltlich bzw. hermeneutisch von entscheidender Bedeutung ist, dass Hilgenfeld die Evangelien primär als theologische Schriften wertet und nicht als Quellen für die Geschichte des historischen Jesus. In seiner Arbeit über das Markusevangelium untersucht er den Zusammenhang zwischen dem historischen und dem kirchlich-dogmatischen Charakter. „In historischer Hinsicht muss an dem kanonischen Markus … seine Lückenhaftigkeit auffallen, welche man gegenwärtig aus dem dogmatischen Charakter dieses Evangeliums zu erklären sucht.“99

In erster Linie geht es im Markusevangelium – und demgemäß auch in den anderen Evangelien – um die dogmatische und kirchliche Tendenz. 95 96 97 98 99

Vgl. dazu J. J. GRIESBACH, Commentatio, qua Marci Evang. Totum e Matthaei et Lucae commentariis descriptum esse demonstratur, 1789–1790. A. HILGENFELD, Das Markus-Evangelium, 3f. Ebd., 117f. A. HILGENFELD, Historisch-kritische Einleitung, 612. A. HILGENFELD, Das Markus-Evangelium, 122.

3. Tendenzkritik und Literarhistorie – Exegese bei A. Hilgenfeld

239

Das Markusevangelium hat deshalb so viele Bestandteile des Matthäusevangeliums nicht aufgenommen, weil Markus den judaistischen Standpunkt des Matthäus mildern will. „Wie Markus theoretisch den judaistischen Standpunkt, wie er dem Matthäus eigenthümlich ist, wesentlich gemildert hat, so bemerkt man bei ihm auch Züge, welche auch auf eine mildere kirchliche Praxis hinweisen. Er läßt 6, 8.9 Jesum den Aposteln bei der Verkündigung des Evangelium nicht mehr ganz die ursprüngliche Strenge der Kleidung und Lebensart gebieten.“100

Man kann dem Markusevangelium „eine sehr behutsame Ausmerzung solcher Züge“ unterstellen101, „welche die ein oder andere Partei zurückstoßen könnte“ und somit eine „in den Auslassungen unverkennbare irenische Tendenz“102. Den Hauptunterschied seiner Methode gegenüber Baur sieht Hilgenfeld darin, dass er durch die dogmatische Tendenz der Evangelisten die Geschichtlichkeit des überlieferten Stoffes weniger ausgeschlossen wissen will. Dazu führt er das Kriterium der „inneren Eigentümlichkeit“ ein, mit dem er den besonderen Charakter der einzelnen Schriften erfassen will. In seiner Schrift über das Urchristentum von 1855 behandelt Hilgenfeld das Leben Jesu und seine Darstellung in den Evangelien, das apostolische Zeitalter bzw. das erste christliche Jahrhundert und seine inneren Gegensätze, sowie die nachapostolische Zeit bzw. die Bildung des Katholizismus im Gegensatz gegen die häretischen Erscheinungen.103 Er versucht eine Zusammenfassung des urchristlichen Entwicklungsgangs unter Präzisierung seines eigenen wissenschaftlichen Standpunktes. Anlass für die Veröffentlichung ist der Diskurs zwischen Karl von Hase und Ferdinand Chr. Baur über das Evangelienproblem, das Verhältnis von Ebionismus und Paulinismus und die Auffassung und Einteilung der Kirchengeschichte. 104 Hilgenfeld äußert sich zunächst zur Frage nach der Bedeutung und Ab-

100 A. HILGENFELD, Das Markus-Evangelium, 129. 101 „Herrscht bei Markus überhaupt der Geist eines zwar nicht paulinischen, aber freieren, tieferen judaistischen Christenthums, so werden wir diesen dogmatischen Charakter auch durch die eigenthümliche Umbildung des falschen Zeugnisses gegen Jesum Markus 14, 58 bestätigt finden dürfen.“ Ebd., 126. 102 Ebd., 131. 103 A. HILGENFELD, Das Urchristentum mit besonderer Rücksicht auf die neuesten Verhandlungen der HH. DD. Hase und v. Baur, Jena 1855. 104 Vgl. dazu K. HASE, Die Tübinger Schule. Ein Sendschreiben an Herrn Dr. Ferdinand Christian von Baur, 1855; F. CHR. BAUR, An Herrn Dr. Karl Hase. Beantwortung des Sendschreibens ‚Die Tübinger Schule‘, 1855.

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IV. Exegese und Hermeneutik

fassungszeit des Johannesevangeliums, wobei er erneut den gnostischen Charakter des vierten Evangeliums betont. „Wer an dem auf der Höhe der Geistesfreiheit stehenden Johannesevangelium als ein Werk des vertrauten Lieblingsjüngers Jesu festhalten will, muss den Sieg des Paulinismus als des Trägers dieser Geistesfreiheit im Kampfe mit dem Judaismus schon in eine ziemlich frühe Zeit verlegen. Wer auf der anderen Seite diesen Sieg erst durch einen harten, lange anhaltenden Kampf errungen werden läßt, wird auch das vierte Evangelium in die nachapostolische Zeit hinabrücken müssen.“105

In der johanneischen Verfasserfrage, dem Problem der Geschichtlichkeit der Darstellung und des Verhältnisses zu den Synoptikern wendet er sich also gegen Hase. Gegenüber Baur sieht er seinen eigenen wichtigsten Fortschritt darin, dass er den Gegensatz zwischen Paulinismus und Judenchristentum schon bei der Erörterung der Jerusalemer Verhandlungen (Gal 2) durch Scheidung der Urapostel von den Judaisten abmildert, und dass er das Judenchristentum als der Vertretung eines gleichberechtigten christlichen Realismus (neben dem paulinischen Idealismus) höher einschätzt.106 Otto Pfleiderer fasst in seiner Arbeit zur Entwicklung der protestantischen Theologie den in seinen Augen wissenschaftlichen Fortschritt der neutestamentlichen Exegese durch Hilgenfeld zusammen, auch im Hinblick auf dessen Divergenzen gegenüber Baur: „Hilgenfeld hat mit Recht den urchristlichen Gegensatz ermässigt, indem er die gemeinsame Grundlage bei Paulus und den Uraposteln anerkennt, den berechtigten sittlichen Realismus des Judenchristenthums zur Geltung bringt und auf die zur Union hinneigende irenische Stimmung bei Paulus aufmerksam macht … Er hat daher auch bei der Untersuchung der Evangelien die ‚Tendenzkritik‘, welche fast nur nach der dogmatischen Richtung der einzelnen Schriften fragte und diese zum einzigen Kennzeichen ihrer geschichtlichen Stellung machte, zurückgestellt hinter der ‚literarhistorischen Kritik‘, welche die verschiedenen literarischen Merkmale zur Bestimmung des gegenseitigen Verhältnisses der Evangelien herbeizieht. Dabei kam er zu dem Resultat, dass das kanonische Matthäusevangelium das aus freierer Bearbeitung eines streng judenchristlichen Urmatthäus hervorgegangene älteste Evangelium sei, auf welches das petrinischversöhnliche Marcusevangelium folgte … Schliesslich ist zu bemerken, dass Hilgenfeld die Entstehungszeit des Johannesevangeliums um 30 Jahre früher als Baur und Schwegler datirte, und das er drei von den kleineren

105 A. HILGENFELD, Das Urchristentum, 5. 106 Ebd., 85f.

3. Tendenzkritik und Literarhistorie – Exegese bei A. Hilgenfeld

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Paulusbriefen, die Baur dem Apostel abgespochen hatte, ihm wieder zurückgab, nämlich I Thessalonicher, Philipper und Philemon.“ 107

3.3 Die jüdische Apokalyptik als Vorgeschichte des Christentums Mit seiner Studie zur jüdischen Apokalyptik in ihrer geschichtlichen Entwicklung begibt sich Hilgenfeld forschungsgeschichtlich auf ein bis dahin kaum erschlossenes Gebiet. Zwar hatte als erster Friedrich Lücke (1791–1855)108, nach vereinzelten Vorarbeiten von Johann S. Semler und Heinrich Corrodi (1752–1793) im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert, in seiner Einleitung in die Offenbarung des Johannes die Apokalypsen von Daniel bis IV. Esra als innerlich einheitliche Literatur gewürdigt, aber Hilgenfeld arbeitet nicht nur unter dem Aspekt einer Vorgeschichte des Christentums „eine noch bestimmtere und klarere Auffassung des Wesens der Apokalyptik“109 heraus. Bezeichnenderweise lautet der Untertitel seines Werkes zur jüdischen Apokalyptik „Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Christentum nebst einem Anhange über das gnostische System des Basilides“110. Er berücksichtigt auch neue Quellen wie die erste Ausgabe des Buches Henoch von August Dillmann (1823–1894) aus dem Jahr 1853 und die 1852 von Johann Heinrich Friedlieb vollständig herausgegebenen sibyllinischen Weissagungen.111 Hilgenfeld behandelt nach einer allgemeinen Einleitung über Wesen und Begriff der jüdischen Apokalyptik das Buch Daniel als den Prototyp der Apokalypsen überhaupt, dann die Sibyllinen, das Buch Henoch, IV. Esra und schließlich den von Baur, Zeller, Ritschl und Ewald bereits in verschiedenem Sinne interpretierten Essäismus, in dem er den Ausläufer der jüdischen Apokalyptik und das Bindeglied zum Christentum sieht.112 Mit dieser Arbeit zur jüdischen Apokalyptik 107 O. PFLEIDERER, Die Entwicklung, 293f. 108 F. LÜCKE, Versuch einer vollständigen Einleitung in die Offenbarung Johannis und die gesammte apokalyptische Literatur, 1832, ²1848. 109 W. BOUSSET, Art. Apokalyptik, in: ³RE, Bd. 1 (1896), Sp. 612. 110 A. HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik in ihrer geschichtlichen Entwicklung, jena 1857. HILGENFELD behandelt nach einer allgemeinen Einleitung über Wesen und Begriff der jüdischen Apokalyptik das Buch Daniel als Prototyp der jüdischen Apokalyptik. 111 J. H. FRIEDLIEB (Hg.), Die sibyllinischen Weissagungen, vollständig gesammelt, nach neuer Handschriften-Vergleichung, mit kritischem Commentar und metrischer deutscher Uebersetzung, Leipzig 1852. 112 „Immer allgemeiner ward innerhalb des Judenthums das Bewusstsein, das man sich von den bestehenden Zuständen losmachen und für etwas Höheres vorbereiten solle ... Man kann sagen, dass die Essäer als zahlreiche Gemeinde in demselben Verhältnis

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IV. Exegese und Hermeneutik

hat er eine problemgeschichtlich wichtige Vorarbeit für die spätere ‚Religionsgeschichtliche Schule‘ geleistet.113 In diesem Kontext werden die hermeneutischen Grundlinien zum Verständnis des Alten Testamentes bei Hilgenfeld ebenso sichtbar wie seine historiographische Leitidee, die seiner Arbeit insgesamt zugrundeliegt. Nicht allein um ihrer selbst willen hat Hilgenfeld die jüdische Apokalyptik gründlich erforscht, sondern um auf ihrer Grundlage seine Ansicht vom Entwicklungsgang des Urchristentums sicher verankern zu können. Die jüdische Apokalyptik hat für Hilgenfeld deshalb eine so hohe Bedeutung, „weil sie die Kluft der prophetenlosen Zwischenzeit ausfüllt und in jedem Falle den geschichtlichen Zusammenhang des Christenthums mit der prophetischen Weissagung des Alten Testaments vermittelt“114. Die Apokalyptik dokumentiert einen „stetigen Fortschritt“ der religionsgeschichtlichen Entwicklung vom Judentum bis zum Aufkommen des Christentums. „Die höchste geschichtliche Bedeutung dieser Entwicklung der jüdischen Apokalyptik liegt aber darin, dass sie uns durch ihren stetigen Fortschritt auf den Stand der jüdischen Erwartung [wie und wann wird die so lange Zeit von heidnischen Völkern besessene Weltherrschaft endlich auf das Gottesvolk übergehen] hinführt, als das Christenthum in Palästina auftrat.“115

Die erste Voraussetzung für das Entstehen der jüdischen Apokalyptik ist nach der Einschätzung von Hilgenfeld das Aufhören der alten Prophetie während des Exils oder kurz danach.116 Die schriftgelehrte Beschäftigung mit den Weissagungen steigerte sich unter dem Anstoß der makkabäischen Erhebung zu einer Nachbildung der Prophetie in pseudepigraphischer Form, in der die „Lebensfrage des späteren Judentums“ gelöst werden sollte, „wie und wann die so lange Zeit von heidnischen Völkern besessene Weltherrschaft endlich auf das Gottesvolk übergehen werde“117. Um den Widerspruch der Geschichte, die

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zu der christlichen Kirche stehen, wie der Täufer Johannes als Einzelner zu dem Stifter des Christentums.“ A. HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik, 283. Vgl. dazu O. EISSFELDT, Art. Religionsgeschichtliche Schule, in: ²RGG, Bd. 4 (1930), Sp. 1898–1905. A. HILGENFLED, Die jüdische Apokalyptik, 2. Ebd., 16. „Das Absterben der Prophetie erkennt man bei Maleachi … daraus, dass er die Wiederkunft eines grossen Propheten, des Elias, vor dem Tage des Gerichtes erwartet, und in der Tat trat nun die Erwartung der Wiederkehr des Elias (vgl. Sirach 48,10) oder auch eines dem Moses ähnlichen Propheten (nach 5. Mose 18,15) der erkalteten messianischen Hoffnung zur Seite.“ A. HILGENFLED, Die jüdische Apokalyptik, 9. Ebd., 11f.

3. Tendenzkritik und Literarhistorie – Exegese bei A. Hilgenfeld

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die Weltherrschaft von einem heidnischen Volk auf das andere übergehen lässt, mit dem Bewusstsein des Judentums, geprägt durch die Weissagung künftiger Erfüllung seiner Hoffnung, auszugleichen, gibt sie sich den Schein durchgängiger Weissagung und stellt geschichtlichen Stoff als zukünftig dar.118 Aus dieser Notwendigkeit ergibt sich der besondere literarische und stilistische Charakter der Apokalyptik, „die künstliche Bildlichkeit und die Specialität der Darstellung“ 119. Die Apokalyptik bewegt sich im Gegensatz zu den geschichtlichen Zuständen auf ein zukünftiges Gottesreich hin. „Es liegt im Wesen der Sache selbst, dass die Ansicht von der Vergangenheit und von der Zukunft sich fortschreitend entwickeln musste, oder dass die Apokalyptik nur in einem stufenweise Verlaufe ihr Wesen darlegen konnte. Dieser stufenweise Entwickelungsgang liegt in den erhaltenen Schriften dieser Art noch deutlich vor.“120

Die chronologischen Eckpfeiler der Apokalyptik sind für Hilgenfeld das Danielbuch, das er 163 v. Chr. ansetzt, die alexandrinischen Sibyllinen, Buch III, um 140 v. Chr., Proto-Henoch um 100 v. Chr. und IV. Esra, das er 31 v. Chr datiert. Dazu treten später die Psalmen Salomos und die Assumptio Mosis, die 48 bis 44/45 v. Chr entstehen, und aus nachchristlicher Zeit die Baruch-Apokalypse und die Bücher IV und V der Sibyllinen, die 72 bzw. 76 n. Chr. ihren Ursprung haben. Für Hilgenfeld lässt sich an einer Reihe von Dokumenten die fortschreitende geschichtliche Vermittlung zwischen Exil und Makkabäerzeit aufzeigen, so dass man von Vorläufern der Apokalyptik im persischen und hellenistischen Zeitalter reden kann. Für die alttestamentliche Forschungsgeschichte beachtlich ist in diesem Kontext, dass Hilgenfeld neben den prophetischen Büchern Haggai und Sacharja (Kap. 1–8), deren Weissagungen den Tempelbau fördern, teilweise aber auch der weitgespannten Thematik der späteren pseudepigraphischen Apokalytik vorgreifen, auch das Joelbuch in diesem Zeitfenster und in diesem inhaltlichen Zusammenhang verortet. Dies ist insofern ungewöhn-

118 Ebd., 12. „Insofern mag man die Apokalypsen eschatologisch nennen. Der ganze Sinn des spätern Judenthums war auf die Zukunft hin gerichtet und es ist nicht zufällig, dass dem Josephus auch die alten Propheten im Wesentlichen nur als Vorhersager der Zukunft erscheinen … Aber niemals wird man den innern Zusammenhang des Pseudepigraphischen mit dem Eschatologischen begreifen, wenn man dieses nicht eben aus der Stellung des nachprophetischen Judenthums überhaupt, aus der künstlichen Lösung jenes Widerspruchs zwischen dem Untergang der Prophetie und dem neuen Aufflammen der prophetischen Erwartung ableitet.“ Ebd., 12, Anmerkung 2). 119 Ebd., 12. 120 Ebd., 13.

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IV. Exegese und Hermeneutik

lich, als bis dato in der alttestamentlichen Wissenschaft das Joelbuch zeitgeschichtlich zwischen Hosea und Amos angesetzt wurde.121 Es ist für Hilgenfeld eine Schrift, die bereits in ihrer Form zu der „verschleierten Darstellung“ überleitet, mit welcher im Danielbuch die eigentliche Apokalyptik beginnt. Das Buch Joel „steht am Ende der Zeit, da das Judentum noch keinen anderen Halt als das Priestertum des zweiten Tempels hatte“122. In ihm findet sich wie später bei Daniel bereist die apokalyptische Erwartung einer Wiedervereinigung des ganzen jüdischen Volkes, die sich durch die weitere spätjüdische Literatur forsetzt.123 Das Buch Daniel als Prototyp aller Apokalypsen zeigt die messianische Erwartung des Judentums und von dort führt „ein stetiger Fortschritt … durch die ausserkanonischen Apokalypsen des Judentums zu der Urgestalt des Christentums“124. Mit der Abfassungszeit während der höchsten Bedrückung des Judentums durch Antiochus Epiphanes, steht auch die geschichtliche Bedeutung dieser Urquelle aller folgenden Apokalypsen fest, die die Enderwartung vorführt und bereits alle bezeichnenden Züge der Apokalyptik in Form und Inhalt aufweist.125 Im Zusammenhang seiner Forschungen zum Begriff, zum Wesen und zur Geschichte der jüdischen Apokalyptik bestimmt Hilgenfeld das Verhältnis von Altem und Neuem Testament historisch, religionsund entwicklungsgeschichtlich und hebt einen inneren Zusammenhang zwischen Spätjudentum und Christentum hervor: „So gewiss das Christenthum in der Unendlichkeit seines Wesens über die vorhergehende jüdische Entwicklung hinübergreift, so schliesst es sich doch als eine ächt geschichtliche Erscheinung sehr innig an die Gedankenwelt und die Zustände des späteren Judenthums an.“ 126

121 Vgl. dazu K. A. CREDNER, Der Prophet Joel, Halle 1831. HILGENFELD folgt mit seiner Neudatierung einem Hinweis von W. VATKE, Die biblische Theologie wissenschaftlich dargestellt. 1. Bd.: Die Religion des Alten Testaments, Berlin 1835, 462f. An die neue zeitgeschichtliche Verortung Joels durch HILGENFELD knüpft A. MERX in seiner Auslegung des Joelbuches an. Vgl. dazu die Ausführungen zu den exegetischen Prinzipien von MERX, Kapitel IV, 268ff. 122 A. HILGENFLED, Das Judentum in dem persischen Zeitalter, in: ZwTh 9 (1866), 398– 448, hier: 427. 123 HILGENFLED verweist in diesem Zusammenhang auf Tob 13,12f; 2 Makk 2,17f; Orac Sib III, 734f; Henoch 90, 28–33; Ps Sal 8,34, 11,3–7; IV Esra 13,39f. Ebd., 427. 124 A. HILGENFLED, Die jüdische Apokalyptik und die neuesten Forschungen, in: ZwTh 3 (1860), 301–362, hier: 306f. 125 Die Abfassung wird in den Augen HILGENFELDS auch durch die spätjüdische Gedankenwelt nahegelegt, auf der die theologischen Vorstellungen des Buches beruhen. 126 A. HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik, 1.

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Das Judentum in Gestalt des Judenchristentums konnte sich wiederum nur deshalb noch innerhalb des Christentums so lange Zeit als eine Macht behaupten, „weil das vorchristliche Judentum selbst eine Vorbildung des Christlichen in sich schloss“127. 3.4 Kritische und literargeschichtliche Einleitung in das Alte und Neue Testament In seinem die Ergebnisse langjähriger Forschung zusammenfassenden Werk einer historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament von 1875 bestimmt Hilgenfeld das Neue Testament zusammenfassend als Dokument der urchristlichen Geistesbewegung. Er behandelt die neutestamentlichen Bücher in chronologischer, nicht in kanonischer Reihenfolge. Insofern bildet seine Arbeit einen Übergang von den bisherigen Einleitungen, die sich an die kanonische Anordnung halten, zu den späteren Versuchen einer Literaturgeschichte des Urchristentums. Hilgenfeld kennzeichnet im Vorwort das Anliegen seines Werkes als Darstellung der „Entstehungsgeschichte der einzelnen Schriften“. Grundvoraussetzung ist für ihn dabei, dass das nachapostolische Zeitalter „durch den nicht ursprünglichen, sondern erst allmählich hervortretenden, darum auch einer Ausgleichung fähigen Gegensatzes des urapostolischen und des paulinischen Christenthums, welchen die einzelnen in seinem ganzen Verlaufe darstellen“ bewegt wird. 128 Hilgenfeld bestreitet damit die ursprüngliche Rolle des Ebionitismus, gewinnt eine größere Nähe zwischen Paulus und den Uraposteln, und begrenzt die Baursche Hypothese, die klarere Unterscheidungen urchristlicher Parteien voraussetzt. Seiner eigenen Darstellung der Entstehungsgeschichte der biblischen Schriften liegt die in seinen Augen zentrale Bedeutung der Gnosis zugrunde, die schließlich zu einer sich im Johannesevangelium dokumentierenden Einigung führt. „Das nachapostolische Zeitalter, so weit es noch Schriften des Neuen Testaments hervorgebracht hat, wird bewegt durch die Christenverfolgung des römischen Staats und die innere Krise des Gnosticismus. Dass ich den Gnosticismus in dieser Entstehungsgeschichte eine Rolle spielen lasse, gilt freilich immer noch als mein kritisches Hauptverbrechen.“129

In der Einleitung skizziert Hilgenfeld den forschungsgeschichtlichen Werdegang der Einleitungswissenschaft und weist in dem Diskurs um den Kritikbegriff und das Geschichtsverständnis eine Konvergenzlinie 127 Ebd., IX. 128 A. HILGENFELD, Historisch-kritische Einleitung, V (Vorwort). 129 Ebd., V (Vorwort).

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IV. Exegese und Hermeneutik

zwischen den Ansätzen von Eduard Reuss (1804–1891)130 und Hermann Hupfeld (1796–1866)131 einerseits, sowie Ferdinand Chr. Baur und Heinrich J. Holtzmann132 andererseits nach. Reuss und Hupfeld hatten dafür plädiert, von der Geschichte der heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments oder der biblischen Literatur zu sprechen. Erst aus dem Begriff der Geschichte wollten Reuss und Hupfeld das ‚Kritische‘ dieser Wissenschaft ableiten. Baur hingegen wollte das ‚Kritische‘ in der Einleitungswissenschaft zum Ausgangspunkt machen. „Der Gegenstand der Einleitungswissenschaft sind die kanonischen Schriften, aber nicht, wie sie an sich sind, sondern mit all jenen Vorstellungen und Voraussetzungen.“133 Hilgenfeld selbst betont, dass die biblische Einleitungswissenschaft die Aufgabe hat, die Geschichte der biblischen Schriften zu erfassen. Dabei ist sie insofern eine kritische Wissenschaft, als sie zu untersuchen hat, ob die kanonischen Schriften an sich das sind, was sie nach der dogmatischen Vorstellung sein sollen. Dabei darf es aber nicht nur darum gehen die Überzeugung zu begründen, dass es sich mit dem Kanon ganz anders verhält, als die dogmatische Vorstellung voraussetzt. Es muss „auch eine positive Vorstellung von der Entstehung des Kanons“ gewonnen und aufgezeigt werden, „wie er im Einzelnen und im Ganzen entstanden ist, welche Verhältnisse und Interessen zusammenwirkten, um diese Schriften sowohl überhaupt hervorzurufen, als auch ihnen die Bedeutung zu geben, die sie als diese bestimmte Klasse der den Kanon bildenden Schriften erhalten haben“134.

Hilgenfeld will die biblische Einleitungswissenschaft mit Richard Simon (1638–1712) als ‚kritische Geschichte‘ des Alten und Neuen Testaments verstanden wissen. Daraus ergibt sich für ihn eine dreifache Aufgabe und damit ein entsprechender dreigliedriger Aufbau. Es geht darum, 1. die Bibel Alten und Neuen Testamentes als Ganzes oder als Sammlung heiliger Schriften, 2. die einzelnen Schriften, welche in dieser Sammlung enthalten sind, sowie 3. den Wortlaut, in welchem diese Schriften überliefert sind, zu untersuchen.

130 E. REUSS, Die Geschichte der heiligen Schriften Neuen Testaments, Halle 1842. 131 H. HUPFELD, Über Begriff und Methode der sogenannten biblischen Einleitung, Marburg 1844. 132 F. CHR. BAUR, Abhandlung über die Einleitung in das N.T., in: ThJb(T) 9 (1850); H. HOLTZMANN, Über Begriff und Inhalt der biblischen Einleitungswissenschaft, in: ThStKr 33 (1860), 410ff. 133 F. CHR. BAUR, Abhandlung über die Einleitung in das N.T., 474f. 134 A. HILGENFELD, Historisch-kritische Einleitung, 25.

3. Tendenzkritik und Literarhistorie – Exegese bei A. Hilgenfeld

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3.5 Die Vorrangstellung der historischen Theologie Der geschichtlichen Verankerung der Theologie bei Adolf Hilgenfeld, die bereits im dritten Kapitel dieser Arbeit erfasst und dargestellt wurde135, konvergiert seine Vorrangstellung der historischen gegenüber der dogmatischen Theologie, da für ihn die Exegese der Weg zum Wissen vom Urchristentum ist. Die historisch-kritische Exegese des Neuen Testaments hat die entscheidende Aufgabe, den geschichtlichen Ursprung des Christentums „als der für alle Zeiten bleibenden, unerschöpflichen Lebensmacht … durch sorgfältige Erforschung der ganz oder teilweise erhaltenen Schriften und der in den ersten Zeiten unserer Religion verbreiteten eigentümlichen Gedankenwelt … nach seiner inneren Entwicklung immer klarer zu erkennen“136.

Baurs wissenschaftstheoretisch bahnbrechende Erkenntnis liegt in der geschichtlichen Auffassung der urchristlichen Geschichte – und der Theologie überhaupt – als des umfassenden Gesichtspunktes, der es gestattet, die Evangelien und die anderen urchristlichen Schriften in den Entwicklungsgang des ältesten Christentums einzuordnen. In dem Bestreben, das Tübinger Geschichtsbild vom Urchristentum gegen den Vorwurf philosophisch-spekulativer Konstruiertheit zu verteidigen, hat Hilgenfeld oft und nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Johann S. Semler der Urheber der historisch-kritischen Methode gewesen sei, und auch Baurs Grundanschaung von den urchristlichen Parteigegensätzen präjudiziert habe.137 Das Urchristentum ist diejenige geschichtliche Wirklichkeit, an der sich die Eigenart der christlichen Religiosität im Unterschied zu jeder anderen am deutlichsten ablesen, und damit das Wesen des Christentums erkennen lässt. Somit ist das historische Wissen um das Urchristentum für Hilgenfeld zugleich dasjenige, an dem sich das Wissen der philosophischen Theologie um das Wesen des Christentums und die kirchenleitende Praxis zu orientieren haben. Für das geschichtliche Wissen über das Urchristentum gilt, was für den Weg zu jedem geschichtlichen Wissen gilt: Es ist wie jedes geschichtskundliche Wissen durch Kritik gewonnen, und d.h. durch Auffassung gegenwärtig gegebener Manifestationen geschichtlichen Lebens. Der Ausgangspunkt für den Weg zum Wissen um das Urchristentum sind die christlichen Do135 Vgl. dazu Kapitel III., 2.3 Die Theologie als Geschichtswissenschaft bei Adolf Hilgenfeld, 171–175. 136 A. HILGENFLED, Die Göttingische Polemik, 7f. 137 Vgl. dazu Kapitel III, 124, Anm. 139.

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IV. Exegese und Hermeneutik

kumente, die in diesem Zeitraum der urchristlichen Kirche entstanden sind. Der einzige Weg zu dem vom Interesse der Theologie und der Kirche verlangten Wissen über das Urchristentum ist das Verständnis dieser Schriften. Darin liegt die herausragende Stellung der historischen Theologie bzw. der neutestamentlichen Exegese begründet.

4. Exegetische Prinzipien und Hermeneutik bei Ludwig Diestel Ludwig Diestel hat sich in seinen Studien und Aufsätzen zur alttestamentlichen Wissenschaft, vor allem aber in seinem Hauptwerk zur Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche ausführlich mit Fragen der Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments befasst.138 Dabei geht es in seinen Augen in der exegetischen Arbeit und der hermeneutischen Grundlegung vor allen Dingen darum, drei Prinzipien aufeinander zu beziehen, das „nationale“, das „philosophischhistorisierende“ und das „religiöse“.139 Mit Hilfe des ersten soll der besondere „weltgeschichtliche Wert“ Israels herausgearbeitet werden. Das zweite Prinzip dient der Erkenntnis der „geschichtliche(n) Entwicklung im Einzelnen wie im Ganzen“140. Das dritte Prinzip beabsichtigt ein wissenschaftliches Verständnis des religiösen Offenbarungsgehaltes des Alten Testaments und seiner Schriften. Die zentralen Aspekte für die Exegese und Hermeneutik des Alten Testamentes gewinnt Diestel durch den Rückbezug auf die Einführung des historischkritischen Denkens und die Hermeneutik des Alten Testaments bei Johann Salomo Semler. Dabei versucht Diestel Semlers Exegese und Hermeneutik aus der Entwicklung der protestantischen Theologie heraus zu erklären. Dies ist zu Diestels Zeit ein Novum in der Rezeptionsgeschichte Semlers und damit leistet Diestel einen eigenständigen Beitrag zur Erfassung der Theologie Semlers.141

138 Vgl. dazu die Ausführungen zur Vita, zum Werk, zur theologie- und wissenschaftsgeschichtlichen Verortung von L. DIESTEL in Kapitel II, 54ff. 139 L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 777ff. 140 Ebd., 778–779. 141 Der Beginn der Semlerrezeption bzw. Semlerforschung hebt mit der umfassenden Würdigung der Theologie SEMLERS an, die J. G. EICHHORN (1752–1827) 1793 verfasst hat. Vgl. dazu Ders., Johann Salomo Semler, in: Allgemeine Bibliothek der biblischen Literatur, Bd. 5, 1793, 1–202 (im Anhang die erste Bibliographie der Werke Semlers enthaltend). Zur Forschungsgeschichte über das Alte Testament als Gegenstand der theologischen Reflexion SEMLERS vgl. A. LÜDER, Historie und Dogmatik. Ein Beitrag zur Genese und Entfaltung von Johann Salomo Semlers Verständnis des Alten Testaments, Berlin/New York 1995, 8–42.

4. Exegetische Prinzipien und Hermeneutik bei Ludwig Diestel

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4.1 Historisch und religiös orientierte Exegese – Diestels Rückbezug auf Johann Salomo Semler In einem Aufsatz zur Würdigung Semlers aus dem Jahre 1867 befasst sich Diestel ausführlich mit Semlers Schriftauslegung.142 Er entfaltet darin den für seine eigene Semler-Rezeption zentralen Gedanken, dass Semler „den Zweifel an der orthodoxen Überlieferung aus den Bahnen einer nihilistischen und glaubenslosen Verneinung in das Geleise ernster, tiefgegründeter, ächt wissenschaftliche Forschungsarbeit hinüberlenkte, der die ethisch-religiöse Basis nicht fehlte“143.

Semler sei in seinem Umgang mit der Bibel der eigentliche Nachfolger des Pietismus, da er von diesem das Interesse am erbaulichen Gebrauch der Bibel übernommen habe. Dadurch sei Semler zur Unterscheidung von rein historischen Schriften des Judentums im Alten Testament einerseits und den für Christen erbauliche Schriften im Neuen Testament andererseits gekommen. Dabei sei für ihn die praktischmoralische Verwendbarkeit einer Schrift zugleich ein Indiz für ihre Inspiriertheit gewesen. Die Heilige Schrift bleibe so für den Christen zwar „principium cognoscendi“, aber nur insofern die von ihr mitgeteilten Wahrheiten „principia praxeos“ seien.144 Die individuelle praktisch-religiöse Lebenserfahrung beim Studium der Bibel führe bei Semler zu der Erkenntnis, dass die Lehre von der vollkommenen Gleichartigkeit der ganzen Schrift aufzugeben sei, weil der Bibel als Ganzer nicht mehr ein umfassender göttlicher Wert zugeschrieben werden könne. Zudem habe Semler den Gedanken von der Entwicklung des Dogmas wie der religiösen Empfindungen der Menschen auch auf das Verständnis der Religion Israels angewandt, so dass man in dem vom Volk als politischer Befreier erwarteten Messias letztlich den universalen Erlöser aller Völker hätten sehen können.145 Diestel unterstreicht Semlers hermeneutische Maxime, dass in der Schriftauslegung nur der historische als der einzige Schriftsinn zu gelten habe. Er stimmt Semler in der daraus zu ziehenden Folgerung zu, dass die Erbaulichkeit der biblischen Schriften keinesfalls leitendes Prinzip der Schriftauslegung sein dürfe. Die Erbaulichkeit dürfe, wie 142 L. DIESTEL, Zur Würdigung Semlers, in: JDTh 12 (1867), 471–498. 143 Ebd., 498. 144 „Wohl bleibt die Schrift principium cognoscendi, aber nur sofern, wie er in der Vorrede deutlich sagt, die mitgetheilten Wahrheiten principia praxeos sind.“ L. DIESTEL, Zur Würdigung Semler’s, 481. 145 Ebd., 487.

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IV. Exegese und Hermeneutik

von Semler richtig gesehen, erst auf die vorausgegangene, objektive exegetische Bemühung um den Wortsinn des biblischen Textes folgen. Dies gesehen und eingefordert zu haben mache Semler zum Begründer der historischen Schriftauslegung. Diestel betont in diesem Zusammenhang, dass sich die historische Schriftauslegung bei Semler in das Erfassen der äußeren historischen Umstände des Textes, wie seiner inneren geschichtlichen Bedingungen unterteilt. „Er unterscheidet innere historische Umstände und äußere. Zu diesen rechnet er der Sache nach die äußere Geschichte des Textes und der kanonischen Bezeugung, zu jenen dagegen die Umstände der Abfassung, erste Leser u.s.w.“ 146

Beachte die historische Kritik daher die Entstehung eines Textes sowie seine geschichtliche Überlieferung, müsse in der Perspektive Semlers jedes einzelne Buch im Alten Testament jeweils möglichst in seiner Stellung zur Gesamtgeschichte der israelitischen Religion bzw. zur Heilsgeschichte betrachtet werden. Diestel hebt damit hervor, dass Semler bereits den Versuch gemacht hat, die alttestamentlichen Bücher primär als Zeugnisse der sich entwickelnden (und damit nicht mehr als monolithisch betrachteten) Religion Israels zu verstehen. Er deutet damit zumindest an, dass Semler mit dieser Forderung die späteren exegetischen Disziplinen der Einleitungswissenschaft und der biblischen Theologie des Alten wie des Neuen Testaments angeregt hat. Zum Abschluss seiner Interpretation der Hermeneutik Semlers stellt Diestel dar, wie Semler die Lehre vom testimonium spiritus sancti internum dahingehend interpretiert, dass gerade der Erweis der Göttlichkeit einer Schrift durch den, den Menschen innerlich erneuernden und durch die Schrift wirkenden Heiligen Geist zu der Erkenntnis führt, dass nicht der ganze Kanon gleichermaßen inspiriert sein könne. Damit gibt Diestel zu bedenken, dass zum Verständnis der Schriftauslegung Semlers immer auch dessen Stellung zur älteren Lehrentwicklung der evangelischen Theologie mit zu beachten ist. Neben dieser Würdigung der exegetischen und hermeneutischen Ansätze Semlers, stellt Diestel in seinem Hauptwerk zur Geschichte des Alten Testamentes Semlers Bedeutung für die Geschichte der christlichen Auslegung des Alten Testamentes dar. Er erläutert zunächst Sem-

146 Ebd., 489. DIESTEL bezieht sich bei dieser Interpretation vor allem auf SEMLERS Werk zur theologischen Hermeneutik. Vgl. dazu J. S. SEMLER, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, zu weiterer Beförderung des Fleisses angehender Gottesgelehrten, Halle 1760, 150f; Vgl. auch Ders., Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik. Zweites Stük, Halle 1761, 183ff.

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lers Kritik am biblischen Kanon unter ihren pietistisch-religiösen und ihren geschichtlichen Aspekten. Dabei betont er, dass erst vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Heiliger Schrift und Wort Gottes Semlers Auffassung verständlich sei, dass die zahlreichen historischen Schriften im Alten Testament weder der Erbauung des Christen noch dem dogmatischen Beweis der christlichen Lehre aus der Bibel dienten. Den Wert der grundstürzenden Kritik Semlers am überlieferten Kanonbegriff, demzufolge der Kanon die gleichmässig von Gott inspirierte, in ihrer forma externa völlig intakte und gemäß ihrer forma interna eine der Zeit enthobene Lehre sei, sieht Diestel darin, dass Semler unter dem Einfluss der Schriften Richard Simons zur literarischen Kritik der einzelnen Bücher des Alten Testaments gelangt sei. Daher beginnt für ihn mit Semlers Durchbruch in der Kanonkritik diejenige Entwicklung in der alttestamentlichen Wissenschaft, die zur Ausgestaltung der Literarkritik im 19. Jahrhundert geführt habe.147 Die zweite wichtige Neuerung Semlers sieht Diestel in dessen Ausgestaltung der Exegese zur „grammatisch-historischen“ Textauslegung, die den „reinen Wortsinn“ ermitteln, aber „auch alle Zeitumstände und Lebensverhältnisse des Autors zum Verständnisse des Textes verwertet sehen will“148, so dass das Ergebnis der Exegese dem Kriterium strenger geschichtlicher Objektivität standhalten muss. Damit hat Semler in den Augen Diestels zu Recht den wahren Schriftsinn in der treuen Darstellung des vom menschlichen Autor beabsichtigten Sinnes gesehen, denn es steht „jeder Autor der heil. Schrift in einer uns fremden Zeit; all sein Reden und Schreiben ist durch seine Lebensumstände (Land, Sitte, Religion, Volksund Zeitgeist) bedingt sowie durch die seiner Hörer und Leser“.149

147 „Die gemeine Ansicht von der stehenden Einförmigkeit und Gleichheit desselben [des Kanons] erweist sich als irrig … Der Kanon … ist eine historische Thatsache … seinem Umfange nach erst spät festgesetzt.“ L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 605. DIESTEL bezieht sich in diesem Kontext explizit auf SEMLER. „Es ist unbegreiflich, wie denkende Christen die heiligen Schriften der Juden und das hie und da darin enthalte, eingekleidete Wort Gottes verwechselten.“ Ebd., 605.Vgl. dazu auch insgesamt L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 601–620. 148 „Ernesti ging mehr von der philologischen, Semler mehr von der historischen Seite aus; beide trafen zusammen in dem Grundsatze der grammatisch-historischen Auslegung, welche neben dem reinen Wortsinn auch alle Zeitumstände und Lebensverhältnisse des Autors zum Verständnis des Textes verwertet sehen will.“ L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 620. 149 Ebd., 623.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Diestel leitet daraus den exegetischen Grundsatz ab, dass der „hermeneutisch wahre“ Schriftsinn „lediglich in der treuen Darstellung dieses vom menschlichen Autor beabsichtigten“ besteht. Hier wird erkennbar, dass Diestel den Fortschritt bei Semler gegenüber der grammatischen Exegese bei Ernesti sachgemäßer als August Tholuck (1799–1877) erkannt hat. Insofern hat er einen weiterführenden Beitrag für die Rezeption Semlers geliefert.150 Diestel weist in diesem Kontext darauf hin, dass Semler von der historischen Kritik der Bibel die Geschichte der Schriftauslegung unterschieden habe. In dieser Auslegungsgeschichte werde nach Semler eine „varietas intelligendi“ erkennbar, da die Menschen die Bibel gemäß ihrer Erkenntnisfähigkeit faktisch immer unterschiedlich ausgelegt und mit der Rückprojektion ihrer unterschiedlichen religiösen Ansichten und Bedürfnisse in den Text den Schritt von der Schriftauslegung zu ihrer Anwendung unternommen hätten. „Nach dem Maasse ihres religiösen Bedürfnisses wie ihrer Erkenntniskraft haben die Menschen zu allen Zeiten die Schrift verschieden ausgelegt (ein Satz übrigens, der eine wirkliche Geschichte der Auslegung erst möglich machte und auch factisch begründete) – und Gott hat diese Verschiedenheit deshalb gewollt, weil die Schrift eine institutio divina ad fidem et ad mores darbietet, und dieser rein practische Zweck eine individuelle Schriftanwendung nothwendig macht.“151

Die Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse und der Fähigkeiten der einzelnen Subjekte ist in Diestels Augen bei Semler zwar der Schlüssel zum Verstehen der Geschichte der Schriftauslegung, aber nicht zur Auslegung selbst. Diestel kritisiert, dass Semler, entgegen seinem Insistieren auf der Wahrheit des Literalsinns der Schrift, dem Verlauf der Auslegungsgeschichte die Qualität eines „objektiven Rechtes“ zugestanden habe. Ein weiteres Defizit der historisch-grammatischen Exegese Semlers sieht er darin, dass dieser aufgrund seiner praktisch-moralischen Erwartungshaltung gegenüber der Bibel, den prophetischen und historischen Büchern im Alten Testament kaum habe gerecht werden können, 150 A. THOLUCK hatte in seinem Werk zur Forschungsgeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den nach seiner Meinung destruktiven Aspekt der Arbeiten Semlers herausgestellt, mit denen dieser den von THOLUCK abgelehnten Rationalismus der Folgezeit vorbereitet habe. THOLUCK gesteht SEMLER zwar zu, über ERNESTIS grammatisch-philologische Kritik hinaus zu einer historischen Kritik der ganzen Bibel gekommen zu sein, aber er kritisiert SEMLERS Leistung als „Lokalisierung und Temporalisierung des gesamten Inhalts des Alten und des Neuen Testaments“. Nach seinem Urteil hat SEMLER damit der Bibel durch seine historische Kritik ihren objektiven und ewigen Gehalt genommen. Vgl. A. THOLUCK, Abriß einer Geschichte der Umwälzung, in: Vermischte Schriften, Zweiter Theil, Halle 1839, 39–83, hier: 60. 151 L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 623f.

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auch wenn er zu Recht behauptet habe, dass die christliche Dogmatik ihre Lehrsätze nicht unkritisch auf das Alte Testament gründen könne.152 Diestel rechnet Semler im Blick auf die Kritik an der israelitischen Religion neben dem Braunschweiger Theologen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) und dem Göttinger Johann David Michaelis (1717–1791) zu den apologetischen Rationalisten, da diese im Alten Testament im wesentlichen nur eine Sammlung von documentis antiquissimis hätten sehen wollen. In Diestels Augen hat Semler durch die Ablehnung, mit Hilfe der Exegese für das christliche Dogma Beweisstellen aus dem Alten Testament heranzuziehen, die Darstellung des religiösen Gehalts des Alten Testaments als einer eigenen Disziplin angeregt. Von daher ist es angemessen, eine Verbindung zwischen Semler und Johann Philipp Gabler (1753–1826) zu ziehen, der mit seiner Darstellung einer rein alttestamentlichen Theologie, die von Semlers Forderung nach streng objektiver Schriftauslegung initiierte „historisierende Behandlung“ des Stoffes im Alten Testament durchgeführt habe. Dadurch sei Gabler mit seinem Programm einer biblischen Theologie, mit der er die Forderung nach einer theologischen Exegese, die der reformatorischen Schriftauslegung über die Zeiten hinweg Gültigkeit verschafft, zum Vollstrecker der Anregungen Semlers geworden. „Wurde der Unterschied der Testamente schärfer erkannt und die zeitliche Bedingtheit in den biblischen Vorstellungen mehr gewürdigt, so musste die schon anerkannte Forderung strenger Objectivität eine historisirende Behandlung des biblischen Stoffes erzeugen und damit die geforderte Gestalt einer alttestamentlichen Theologie ins Leben rufen.“ 153

152 L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 624. 153 L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 711. Zu GABLERS Begründung der neuen Disziplin ‚Biblische Theologie‘ vgl. Ders., De iusto discrimine theologiae biblicae et dogma-ticae regundisque recte utriusque finibus, Altdorfii 1787 (= Ders., Opuscula Academica II. Ulmae 1831, 179–194). Deutsche Übersetzung in: O. MERK, Biblische Theologie in ihrer Anfangszeit, Marburg 1972, 273-282. Zur Bedeutung GABLERS für die Entstehung der ‚Biblischen Theologie‘ und die alttestamentliche Wissenschaft vgl. R. SMEND, Johann Philipp Gablers Begründung der Biblischen Theologie, in: Bibel und Wissenschaft, 101–113; M. SAEBO, Johann Philipp Gablers Bedeutung für die Biblische Theologie, in: ZAW 99 (1987), 1–16.

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4.2 Zum Verhältnis von Philosophie und Exegese Diestel befasst sich in seinem Werk zur Geschichte des Alten Testamentes insbesondere in § 62 („Die Hermeneutik des A. T.“), § 65 („Der deutsche Rationalismus“) und § 66 („Die Philosophie und der historische Realismus“) mit den Auswirkungen der Philosophie auf die Exegese.154 Der Rationalismus führt durch die Adoption der exegetischen Grundsätze von Hugo Grotius (1583–1645)155, an die auch Herder und Semler anschließen, zu einer kritischen Neubestimmung oder auch zum Verzicht des Offenbarungs- zugunsten des Religionsbegriffs und damit zu einer Reduzierung der alttestamentlichen Religion „auf die Idee des Monotheismus“156. In dieser Idee des Monotheismus, das hebt Diestel positiv gegenüber der Kritik an dieser Entwicklung hervor, sind nicht nur „fast alle Seiten der wahren Gotteslehre“, sondern auch ein „Reichtum von moralischen Erkenntnissen“ aufgenommen, „welche den Gegensatz gegen Abgötterei erst festigten“157. Diestel versteht die alttestamentlichen Propheten als Vertreter eines ethischen Monotheismus und geht damit an Hegels Geschichtsphilosophie vorbei auf Kants Verständnis des moralischen Glaubens zurück, der den religiösen Kultus immer distanziert betrachten muss.158 Diese Auffassung lässt sich

154 Vgl. dazu L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 672–698. 155 H. GROTIUS hatte 1644 in Paris die „Annatota ad Vetus Testamentum“ herausgegeben und das Interesse verfolgt, den profangeschichtlichen Hintergrund der alttestamentlichen Aussagen zu erfassen sowie das philologisch-historische Selbstverständnis der Texte gegen den Einfluss der Dogmatik zu erheben. Vgl. H. GROTIUS, Annotationis in libros Evangeliorum, 1641; Annatota ad Vetus Testamentum, 1644, praefatio. Vgl. dazu H.-H. HILDEBRANDT, Art. Grotius, Hugo, in: Metzler Philosophen Lexikon, Stuttgart ²1995, 329–332; K. TUCHMANN, Art. Grotius (de Groot), Hugo, in: BBKL, Bd. 17 (2000), Sp. 505–508. 156 L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 679. 157 Ebd., 679. 158 I. KANT will mit seinen hermeneutischen Anweisungen für die Auslegung der Bibel zeigen, wie der sich in der Bibel ausdrückende Geschichtsglaube mit dem ihm zugrundeliegenden moralischen Glauben vereinigt werden kann und muss, denn den Menschen kann „das Theoretische des Kirchenglaubens … moralisch nicht interessieren“, sofern es nicht „zur Erfüllung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote“ dient. Vgl. I. KANT, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, ²1794, Werkausgabe Bd. VII, 158. Zur Hermeneutik des Alten Testaments bei I. KANT vgl. O. KAISER, Kants Anweisung zur Auslegung der Bibel, in: Von der Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments, hg. v. V. FRITZ u.a., Göttingen 1984, 47–60. DIESTEL weist auf die Konvergenz der hermeneutischen Ansätze von SEMLER und KANT hin, die sich aus den Aussagen KANTS in seinem Werk zur Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft ergibt, wo er formuliert: „Denn das Lesen dieser heiligen Schriften hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen, das Historische aber,

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an der Charakterisierung der Prophetie Jesajas in dem 1872 von Diestel neu herausgegebenen Kommentar von August Knobel kennzeichnen. „Alle Warnung, Mahnung und Anweisung, alle Lehre wendet sich bei Jesaja um das Verhältnis seines Volkes zu Jahve und läuft auf ein diesem Verhältnisse entsprechendes Verhalten hinaus. Israel soll in allen Beziehungen und unter allen Umständen Jahve unverbrüchliche Treue bewahren.“ 159

Diese Forderung des Propheten gilt vor allem in religiöser und politischer Hinsicht, so dass Jesaja eine umfassende Theokratie Jahwes vor Augen hatte, die auch seine ethischen Vorstellungen bestimmte: „Einen theokratischen Charakter tragen auch seine moralischen Anforderungen, jedoch nicht nach ihrem Inhalte, welcher allgemeingiltig ist, sondern sofern sie als Ausdruck des Willens Jahve’s dargestellt werden. Sie sind aber meist negativer Art, wie sie bei einem sündigen Volke, welches dem Bösen erst entsagen lernen sollte (1,16f.), sein mussten.“160

Daher ist Jesaja gleichermaßen eine Persönlichkeit von Zuversicht und Gottvertrauen wie von „sittlicher Kraft und Strenge“. 161 Der Offenbarungsbegriff hingegen wird in den Augen Diestels unter dem Einfluss der philosophischen Zeitströmung des Rationalismus bedeutsam verkürzt. Ebenso erlahmt das Interesse an der biblischen Geschichte bzw. daran, „für die Objectivität der biblischen Thatsachen in die Schranken zu treten“162, was beispielsweise Konsequenzen für das Verständnis der Wunderberichte nach sich zieht. Die „natürliche Erklärungskunst“ des Rationalismus führe über mehrere Stufen dazu, dass jedes physische Wunder geleugnet werde, und man von einem „productiven Geist des Alterthums“ ausgehe, der Wundererzählungen erzeuge. Damit beraubte sich die Exegese ihrer Quellen, griff „zur Hypothese und construierte Geschichtsbilder bei denen nur ein fast marcionitischer Gegensatz zu den biblischen Quellen zu leiten schien“163, und machte damit den gleichen methodischen Fehler wie ihn der Supranaturalismus bzw. die „übergläubige Kritiklosigkeit“ gemacht hatte. Diestel problematisiert zudem die Auswirkungen eines „deistisierenden Rationalismus“, der dazu führte, dass man im Alten Testament ausschließlich einen „unerträglichen Nationalstolz und pharisäischen Dünkel“ erkannte. Damit

159 160 161 162 163

das dazu nichts beiträgt, ist etwas an sich ganz Gleichgültiges, mit dem man es halten kann, wie man will.“ I. KANT, Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, ²1794, Werkausgabe Bd. VII, 130ff. A. KNOBEL, Der Prophet Jesaja, KEH 5, hg. von L. DIESTEL, Leipzig 41872, XIX. Ebd., XX. „Die Erhabenheit seiner sittlichen Begeisterung beurkundet herrlich sein Glaube an den Sieg des Rechten und des Guten (11,6ff).“ Ebd., XXII. L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 681. Ebd., 682.

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zementierte man einen „jüdischen Partikularimus“ und ignorierte den nach Diestels Meinung „hohen und klaren Universalismus im A. T.“ 164 völlig. Während der reine Rationalismus in den Augen Diestels unfähig ist, die alttestamentliche Religion zu verstehen, trägt der philosophische Einfluss von Fichte und Hegel auf die Exegese des Alten Testaments zu einer „ungleich höhere(n) Schätzung des Judenthums“ 165 bei. Zunächst gibt Johann G. Fichte mit seiner Definition des Offenbarungsbegriffs die Anregung, „die Offenbarung in ihrer historischen Nothwendigkeit (nicht blos in ihrer absoluten Wahrheit) zu begreifen, … in einer geoffenbarten Gesetzesmasse den ethischen Kern zu suchen und somit den Mosaismus in seiner Fortentwicklung zur Prophetie tiefer zu verstehen“166.

Fichte bestreite die Göttlichkeit einer Offenbarung, welche durch Strafen und Belohnungen zum Gehorsam bewegt und Belehrungen gibt, die sich nicht aus der praktischen Vernunft herleiten lassen. Während Schleiermacher die historische Notwendigkeit der Partikularität des religiösen Zweckes des Judentums verborgen bleibe, hebe er jedoch die teleologische (ethische) Richtung der Frömmigkeit des Judentums hervor. Diese setze Friedrich Schleiermacher höher als jede Form des Polytheismus an, womit er in den Augen Diestels die Anerkennung des absoluten Wertes des Monotheismus und seiner ethischen Implikationen zu Recht betone. Schließlich ist auf Georg W. F. Hegel zu verweisen, der die Weichen für die religionsgeschichtliche Forschung gestellt habe, da er das Judentum als Religion der Erhabenheit verstanden verstehe.167 Damit sei die für die alttestamentliche Wissenschaft zentrale Aufgabe erfasst, nämlich „die israelitische Religion an ihrem geschichtlichen Ort zu begreifen“168. Von diesem Gedanken Hegels ausgehend, konnte in der alttestamentlichen Wissenschaft die Prophetie in den Mittelpunkt gestellt und der Mosaismus wesentlich als Quelle und Anfang der Weissagung gefasst werden. Bei Wilhelm Vatke (1806–1882) sieht Diestel eine bahnbrechend konstruktive Verbindung von historischer und philosophischer Methode, insofern Vatke die philosophische Synthese auf die breite Basis einer rein geschichtlichen Darstellung des Entwicklungsgangs der israelitischen Religion stelle, und die Religi164 Ebd., 684. 165 Ebd., 685. 166 L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 687. Vgl. dazu J. G. FICHTE, Versuch einer Kritik aller Offenbarung, Köngsberg ²1783, 96–134. 167 DIESTEL interpretiert in diesem Zusammenhang HEGELS Vorlesung über die Philosophie der Religion. Vgl. dazu G. W. F. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 2, hg. v. W. Jaeschke (PhB 461), Hamburg 1995. 168 L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 690.

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onsgeschichte Israels in das Gefüge der ihr vorauslaufenden und nachfolgenden Geschichte und Religionsgeschichte einordne. Konnten Theologen der Aufklärung wie Semler, Ernesti oder Michaelis noch auf eine Vermittlung zwischen Glauben und Wissenschaft verzichten, weil für sie zwischen Evangelium und natürlicher Religion eine substantielle Identität bestand, so bemühte sich Vatke um die Wissenschaftlichkeit seiner Darstellung als Verbindung von historischer und philosophischer Methode, von Gegenstand und hermeneutischem Prinzip. Für das Religionsverständnis führt Vatke die Unterscheidung von Begriff und Idee der Religion ein, auf die sich Diestel bezieht. „Wir unterscheiden den Begriff und die Idee der Religion; Begriff überhaupt ist das Wesen als ideelle Totalität der möglichen Entwicklungsmomente gedacht; Idee dagegen die Realität des Begriffs in seiner Einheit mit dem Object, dem Menschengeiste, der Weltgeschichte; oder, was dasselbe sagt, der Begriff der Religion ist der göttliche Zweck derselben, die Idee der Religion die Ausführung dieses Zweckes in der Geschichte.“169

Sollen Geschichte und Religionsgeschichte nicht nur „in bunter Mannigfaltigkeit und Zufälligkeit“, sondern „als ein Ganzes“ erfahren werden, dann muss die Fülle ihrer Erscheinungen „auf ihren Begriff und ihre Idee zurückgeführt“ werden.170 Als methodologisch bahnbrechend ist Vatkes wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte anzusehen, da er weder „aus den allgemeinen Principien einer Religion die ganze historische Erscheinung derselben ableiten und das Empirische nach dem Begriffe construiren“ noch „den blos empirischen Stoff als Element der Wissenschaft anerkennen und in seiner unmittelbar gegebenen Form behandeln“171 will. Vatke sei es auch, der „durch die Scheidung zwischen der Erscheinungsform und dem Begriff der alttestamentlichen Religion den Weg zu der triftigeren Unterscheidung zwischen einer volksmässigen und einer prophetischen Glaubensform in Israel bahnte“172.

Hier bezieht sich Diestel auf Vatkes Bestimmung des Religionsbegriffs als Lehnsatz aus der Philosophie, durch den Vatke die Dialektik des Geistes mit dem Identitätsgedanken in der Herausstellung des prozessualen Charakters der Geschichte verbindet. Vatke habe sowohl ein hermeneutisches Prinzip zur Unterscheidung von Form und Inhalt alttestamentlicher Aussagen als auch die methodische Basis für das Er169 W. VATKE, Die biblische Theologie wissenschaftliche dargestellt, 1. Bd.: Die Religion des Alten Testaments, Berlin 1835, 18. 170 Ebd., 16. Zu W. VATKE vgl. insbesondere L. PERLITT, Vatke und Wellhausen, 86–152. 171 W. VATKE, Die biblische Theologie 122. 172 L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 692.

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kennen einer religionsgeschichtlichen Entwicklung überhaupt erstellt. Vatke verbindet in seinem Werk zur wissenschaftlichen Darstelung der ‚Biblischen Theologie‘ die religionsphilosophische Einleitung und den kritischen Gang durch die Geschichte durch eine vielseitige Bestimmung des Begriffs der alttestamentlichen Religion.173 Nach einer allgemeinen Begriffsbestimmung von Gott und Welt folgt eine sogenannte „Zweckbestimmung“.174 Als der allgemeine Zweck der Welt wird auf dem Boden der Identitätsphilosophie das Selbstbewusstsein der allgemeinen Subjektivität gesehen, der „wesentliche Boden derselben (ist) die vernünftige Natur des Menschen, welche in der Erhebung zu Gott ihre absolute Bestimmung erreicht“175. An diesem Maß gemessen, lässt das Alte Testament die menschliche Natur noch außerhalb des unendlichen Zweckes liegen. Erst das Selbstbewusstsein Gottes im endlichen Geist und das Selbstbewusstseins des endlichen Geistes in Gott umschreibt wirklich den Begriff der Religion und damit den Endzweck der Welt. Diese Vereinigung des absoluten Zweckes mit dem subjektivmenschlichen bleibt allerding der Stufe der „Religion des Geistes“ 176, und somit dem Christentum vorbehalten. In diesem Kontext stellt sich Vatke dem Problem des Partikularismus der Religion Israels. Dieser habe sich „auf empirische Weise ganz einfach gebildet, indem er historisch früher gegeben war, als die erste universalistische Anschauungsweise“177. Der Glaube Israels wird durch das Verdikt des Partikularismus zurückgestellt, denn erst im Christentum ist „die absolute Bestimmung der menschlichen Natur ... anerkannt und damit der Particularismus aufgehoben“, weil erst in der Idee der Kirche „die Schranke der nationalen Sittlichkeit zu höherer Allgemeinheit aufgehoben“178 ist. Diestel sieht das Verdienst Vatkes für die alttestamentliche Wissenschaft darin, den hebräischen Partikularismus gewürdigt zu haben und hält es für angemessen, dass sich für Vatke die Unvollkommenheiten der alttestamentlichen Religion aus der Norm des Christentums ergeben.179 Diestel schließt sich Vatkes Verhältnisbestimmung der beiden Testamente an. Dieser hatte das Problem der Verhältnisbestimmung darin gelöst gesehen, dass „nach hebräischer Vorstellung die Endlichkeit des

173 174 175 176 177 178 179

W. VATKE, Die biblische Theologie, 591–659. Ebd., 611. Ebd., 611. Ebd., 614. Ebd., 615, 619. Ebd., 619f. L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 692.

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sittlichen Zweckes von Jehova selbst gewollt und veranstaltet wird“ und „eben damit der absolute und besondere Zweck in unmittelbarer Einheit gedacht“ werden kann und muss. Im Gegensatz zur christlichen Freiheit der Kinder Gottes gibt es im Alten Testament eine „bloss formelle Freiheit“, die noch „als Knechtschaft erscheint“ 180. Ebenso hebt Diestel hervor, dass Vatke berechtigterweise als Angelpunkt der Geschichte Israels das prophetische Bewusstsein gewählt habe, denn „die allgemeine Erfahrung, dass Religionen nicht von der Volksmasse ausgehen, sondern von ausgezeichneten Individuen, von Boten der Götter“181 gelte auch in Israel. Den methodischen Hauptgewinn für die alttestamentliche Exegese durch die mit Wertvorstellungen verbundenen Entwicklungstheorien der Spätaufklärung und idealistischen Geschichtsphilosophie sieht Diestel in der Unterscheidung des Volksglaubens in Israel von der eigentlichen Idee der Religion. „Alle die Trübungen des Volksglaubens, der theils in sporadischem Götzendiensts theils in vielen sinnlichen und symbolischen Vorstellungen Spuren von eindringender, aber in letzter Form bereits überwundener Naturreligion zeigte, hatte man als Widersprüche begriffen, wie sie das reale Werden jeder höheren Idee nothwendig mit sich bringt.“182

4.3 Die Grundprinzipien zur Hermeneutik des Alten Testamentes Diestel teilt sein Werk zur Geschichte der Auslegung des Alten Testamentes in drei „Bücher“ ein, die den üblichen Einteilungen in Frühzeit, Mittelalter und Neuzeit entsprechen. Die „Bücher“ wiederum sind in insgesamt sieben „Perioden“ unterteilt, von denen die beiden letzten, die den Zeitraum von 1600 bis etwa 1850 umfassen, den größten Raum einnehmen. Daran ist zu erkennen, dass Diestel den Schwerpunkt seiner Darstellung der Auslegungsgeschichte in die neueste Zeit legt, in der die historisch geprägte Wissenschaft des Alten Testaments durch „Kampf“ mit der Orthodoxie und durch „Lösung der Gegensätze“ zur Vorherrschaft gelangt ist.183 Am Ende der „siebenten Periode“ stellt

180 W. VATKE, Die biblische Theologie, 620f. 181 Ebd., 645. „Mit dem achten Jahrhundert treten wir … auf den historischen Standpunkt der Alttestamentlichen Schriftsteller, und der geschichtliche Verlauf des religiösen Geistes bildet von jetzt an den eigentlichen Inhalt unserer Wissenschaft, während alle früheren Standpunkte, welche das hebräische Princip durchlief, nur zur genetischen Erklärung derselben dienen, ihren Inhalt aber nur insofern ausmachen, als sie in dem folgenden höheren Bewusstsein ideell erhalten sind.“ Ebd., 461. 182 L. DIESTEL Geschichte des Alten Testamentes, 694. 183 Die „sechste Periode“ stellt er unter die Überschrift: „Die Entstehung der Gegensätze unter der Herrschaft der Orthodoxie. 1600–1750“. DIESTEL war der Meinung,

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IV. Exegese und Hermeneutik

Diestel unter der Überschrift „Die theologische Lösung“ die Aufgabe dar, die der alttestamentlichen Exegese durch die Geschichte ihrer eigenen Entwicklung vorgezeichnet ist. Es gilt drei Aspekte der israelitischen Religion in der Exegese zu beachten, den ihr eigentümlich nationales Gepräge ins Auge fassenden objektiv-geschichtlichen Aspekt, die ihren Zusammenhang mit der gesamten Entwicklung des menschlichen Geisteslebens erforschende religionsphilosophische Perspektive, und die ihre ewige Bedeutung und gottgesetzte Beziehung zum Christentum heraushebende religiöse Betrachtung. Diestel sieht die Hauptaufgabe der alttestamentlichen Wissenschaft seiner Zeit in der Vereinigung von drei Prinzipien in der Hermeneutik des Alten Testaments, dem „nationalen“, dem „philosophischhistorisierenden“ und dem „religiösen“. Mit Hilfe des ersten soll der besondere „weltgeschichtliche Wert“ Israels heraus gearbeitet werden. Das zweite dient der Erkenntnis der „geschichtlichen Entwicklung im Einzelnen wie im Ganzen“184. Das dritte schließlich beabsichtigt ein wissenschaftliches Verständnis des religiösen Offenbarungsgehaltes. Bei dem nationalen Prinzip geht es darum, „Israel nach seiner ganzen Eigentümlichkeit in voller Objectivität zu ergründen … als ein Volk des Althertums, als ein Glied der westasiatischen Völkergruppe“ 185. In diesen Kontext gehört die religionsgeschichtliche Fragestellung, doch mit kritischer Distanz zum „Ethnicismus“, der Israel nur auf dem gleichen Niveau mit den übrigen Völkern des Altertums versteht. Das philosophisch-historisierende Prinzip nimmt die gleichbleibenden Grundformen menschlichen Geistesleben auf, auch das „die geschichtliche Entwickelung im Einzelnen wie im Ganzen“ von „ächt menschlichen Triebkräften geleitet“186 wird, allerdings in Abgrenzung zum Naturalismus, der nicht vom Christentum als der absoluten Religion ausgeht. Das rein religiöse Prinzip nimmt den Aspekt der göttlichen Offenbarung auf, lehnt aber diejenigen Ansätze ab, welche die rein menschlichen und national-individuellen Aspekte der biblischen Schriften übersehen. Diestel fordert somit auch eine theologische Be-trachtungsweise des Alten Testaments bzw. eine wissenschaftliche Selbstreflexion des religiösen Prinzips auf seine eigenen Voraussetzungen. Denn das religiöse Prinzip ist unter Einbeziehung der wissenschaftlichen Selbstrefle„dass sie der eigentliche Mutterschoss ist, aus der (!) unsere gesamte neuere Wissenschaft des A.T. geboren ist“. Die „siebente Periode“ trägt die Überschrift: „1750 bis zur Gegenwart. Kampf und Lösung der Gegensätze“. Vgl. dazu L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, XI–XVI. 184 Ebd., 779. 185 Ebd., 778. 186 Ebd., 778f.

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xion auf seine eigenen Voraussetzungen, die „wahrhaft theologische Betrachtungsweise“ und in dieser Perspektive ist das Alte Testament „von allen judaistischen und ethnischen Irrtümern“187zu reinigen. Im Unterschied zu Julius Wellhausen und dessen historischer Theorie zur Erforschung der Religion Israels188 mit der Betonung des irdischen Nexus der religiösen Entwicklung Israels, hebt Diestel für die Erforschung des Alten Testaments und der Religion Israels stärker die Erkenntnis des zwecksetzenden und Zwecke verfolgenden Handelns Gottes hervor. Aus dem Kundwerden des göttlichen Willens einerseits, und der subjektiven Verarbeitung dieser Kundgabe andererseits, ist die religiöse Entwicklung des Volkes Israel zu rekonstruieren. Bei der Beantwortung der Frage, wie Altes und Neues Testament in ein genaueres Verhältnis zu bringen sind, argumentiert Diestel ähnlich wie Hermann Schultz für eine genetische Verbindung durch das offenbarungsgeschichtliche Handeln des göttlichen Geistes.189 Maßgeblich ist für Diestel die Vorstellung, dass die alttestamentlichen Geschichte die Vorgeschichte des Christentums enthält, und in dieser Hinsicht kann dann nach den Manifestationen Gottes, die das Alte Testament überliefert, gefragt werden. Es finden sich in dieser Perspektive im Alten Testament dezidiert vorgängige, wenn auch zweckgeleitete Gottesoffenbarungen. 4.4 Religiöses und geschichtliches Prinzip der Schriftauslegung Abraham Kuenen rezensiert das umfassende Werk Diestels und kritisiert das additive Nebeneinander der drei Prinzipien bzw. die in seinen Augen zu dominierende Stellung des religiösen Prinzips.

187 Ebd., 780. 188 Zur Person, zum Werk, zur theologie- und wissenschaftsgeschichtlichen Verortung von J. WELLHAUSEN vgl. W. BAUMGARTEN, Wellhausen und der heutige Stand der alttestamentlichen Wissenschaft, in: ThR 2 (1930), 287–307; M. FRENSCHKOWSKI, Art. Wellhausen, Julius, in: BBKL Bd. 13 (1998), Sp. 716–727; L. PERLITT, Vatke und Wellhausen; R. SMEND, Julius Wellhausen, in: Ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 99–113; R. SMEND, J. Wellhausen und seine Prolegomena zur Geschichte Israels, in: Ders., Epochen der Bibelkritik, München 1991, 168– 185. 189 „Das A(lte) T(estament) muss ihm (sc. dem Christen) eine Religion der Offenbarung sein.“ H. SCHULTZ, Alttestamentliche Theologie (²1878), 38. Vgl. dazu die Darstellung zur Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament bei R. A. LIPSIUS und O. PFLEIDERER in Kapitel IV, 1.3, Die ethische Kern und die „Doppelseitigkeit“ der alttestamentlichen Religion, 213ff., und 2.3, Der Partikularismus der mosaischen Religion und ihre Aufhebung in der Religionsgeschichte Israels, 223ff.

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IV. Exegese und Hermeneutik

„Die religiöse Betrachtung muß für uns nicht das prius, sondern das posterius sein. Erst suchen wir mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln uns der Thatsachen und ihres Zusammenhanges zu vergewissern. Darnach constatiren und bewundern wir ihren providentiellen Charakter … Wahr ist es, daß die Geschichte Israels uns besonders dann ein bewunderungswürdiges Ganzes, ein theatrum providentiae divinae sein wird, wenn wir das Christenthum voll würdigen.“190

Hier begegnen bereits die zentralen Aspekte zur Exegese, die Kuenen 1880 in einem Aufsatz mit dem Titel „Kritische Methode“ dargestellt hat. Darin fordert er eine konsequent historisch-kritische Methode in der Exegese der alttestamentlichen Überlieferung ein, und vergleicht die Arbeit des Exegeten mit dem des Historikers. 191 Auf die literarische Kritik, der der Forscher zunächst alle seine Dokumente ohne Unterschied unterwirft, folgt „die historische Kritik im engeren Sinne“, die Untersuchung der alten Berichte auf ihre „Glaubwürdigkeit oder ... auf ihr Verhältnis zur Wirklichkeit“ 192. Dabei handelt es sich für Kuenen um die „Handhabung der als normal anerkannten Methode“ der historischen Wissenschaft. „Sie verbreitet Licht über Werden und Wachstum der biblischen Geschichtsdarstellungen ... und macht uns mit den Einflüssen bekannt, die darauf eingewirkt haben.“193 Auf der Grundlage dieser Methodologie arbeitet dann auch Julius Wellhausen, der bei seiner Erfassung und Darstellung der Nationalgeschichte Israels von dem Entwicklungsgedanken des Historismus geleitet ist, und auf der Basis literarkritischer Untersuchungen eine neue Sicht der Geschichte Israels entwirft. „Die israelitische Religion hat sich aus dem Heidentum erst allmählich emporgearbeitet; das eben ist der Inhalt ihrer Geschichte. Sie hat nicht mit einem absoluten Anfange begonnen. Doch hat sie bei einem Punkt angesetzt, an den eine fruchtbare Entwicklung sich anknüpfen konnte.“ 194

Zentraler Aspekt in Wellhausens Ansatz ist es, Israel von seiner Religion her zu verstehen und in dieser Perspektive seine weltgeschichtliche Bedeutung zu erkennen. Wellhausen schreibt die Geschichte Israels als Profangeschichte und verzichtet darauf, besondere Offenbarungen mit dem Handwerkszeug des Historikers nachzeichnen zu wollen. Die his190 A. KUENEN, Über den gegenwärtigen Stand der alttestamentlichen Studien, in: Theologisch Tijdschrift 1869, II, 139–164, hier: 153. 191 A. KUENEN, Kritische Methode, in: DERS., Gesammelte Abhandlungen zur biblischen Wissenschaft, Freiburg i. Br./Leipzig 1894, 3–48, hier: 6. 192 Ebd., 14f. 193 Ebd., 37. 194 J. WELLHAUSEN, Israelitische und Jüdische Geschichte, Berlin 91958, 32. Zum Entwicklungsbegriff bei WELLHAUSEN vgl. L. PERLITT, Vatke und Wellhausen, 178–185.

4. Exegetische Prinzipien und Hermeneutik bei Ludwig Diestel

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toriographischen Motive Wellhausens liegen in der national-religiösen Entwicklung und der Aussonderung des Individuellen als Person und Ereignis. Diese beiden Aspekte überschneiden sich in der Beobachtung der abnehmenden Nationalität und der zunehmenden Individualisierung der Geschichte Israels. Damit bezieht er sich in der Hauptsache auf das von Diestel an erster Stelle genannte nationale Prinzip. 195 Diestel nimmt auch das Gespräch mit Abraham Kuenen auf. Er stimmt Kuenen in der geforderten Präferierung des historischen Ansatzes vor dem religiösen zu und präzisiert in diesem Kontext das Zusammenspiel seiner exegetischen Prinzipien.196 Allerdings weist er im Diskurs mit Kuenen darauf hin, dass nach der historischen Analyse über die geschichtliche Aussagen ein Urteil gefällt werden muss, und zwar hinsichtlich ihrer historischen Bedeutung. Dies aber geschieht auf der Basis einer reflektierten Kriteriologie bzw. zugrundeliegenden Wertsetzungen. „Gut, zuerst die reinen Thatsachen. Aber wenn ich sie nun geschichtlich ermittelt habe, so muss ich, um sie darzustellen, auch eine bestimmte, rein geschichtliche Werthschätzung derselben vollziehen … Und wenn wir die Geschichte Israels ein theatrum providentiae divinae nennen, so wird es doch nötig sein, Wesen, Inhalt, Zweck dieser göttlichen ‚Providenz‘ näher zu bestimmen. Das ist schlechterdings unmöglich, wenn wir nicht eine bestimmte, concrete religiöse Anschauung zugrundelegen.“ 197

Damit fordert Diestel zu Recht ein, dass man sich in der Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments Rechenschaft über die Herkunft seiner Wertvorstellungen und Werturteile geben muss, die implizit jede historische Arbeit mitbestimmen. Er problematisiert das Ideal einer voraussetzungslosen Erforschung der Geschichte, das er bei Kuenen in Ansätzen vertreten sieht. Allerdings weiß auch Kuenen um das subjektive Element bzw. die Wertsetzungen des Geschichtsschreibers für die historische Geschichtsschreibung, wenn er feststellt: „Man mag es beklagen, soviel man will: der Geschichtsschreiber, auch der vollendet unparteiische, ist schon hinsichtlich der Darstellung von nackten

195 L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testaments, 778. 196 L. DIESTEL, Zwei Nachträge zu „Die kirchliche Anschauung vom Alten Testament“, in: JDTh 14 (1869), 528–539. 197 Ebd., 531f.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Thatsachen etwas anderes, als der Trichter, durch den die Wirklichkeit uns zufliesst.“198

Diestel wirft im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Kuenen eine zentrale Frage auf, die den Diskurs um die alttestamentliche Wissenschaft im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wesentlich mitbestimmt. Wie sind eine historisch-wissenschaftliche und eine theologische Exegese des Alten Testaments aufeinander zu beziehen? Ist die Erforschung der Geschichte Israels eine theologische Aufgabe oder gehören historische Betrachtungsweise einerseits, und die theologische andererseits, zwei verschiedenen Ebenen an? Aus dieser Fragestellung haben sich markante und divergierende Positionen entwickelt, die die alttestamentliche Wissenschaft im 20. Jahrhundert prägen.199

5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei Adalbert Merx Die Ausführungen zur Person, zum Werk und zum theologiegeschichtlichen Ort von Adalbert Merx haben bereits gezeigt, dass die vielfältigen exegetischen Arbeiten von Merx philologisch, historisch und literarkritisch geprägt sind, und dass er sich in exegetischen Positionen und hermeneutischen Grundlagen an Ludwig Diestel und Adolf Hilgenfeld anschließt.200 Adalbert Merx hat 1879 zwei seiner Hauptwerke zur alttestamentlichen Exegese und Hermeneutik veröffentlicht 198 A. KUENEN, Kritische Methode, 9. Dabei wird bei ihm das Erbe der klasssischromantischen Tradition der Historiographie sichtbar: „Mangelt die Kongenialität zwischen dem Geschichtsschreiber und der Wirklichkeit, so kann er kaum mehr von ihr liefern als ein Zerrbild.“ Ebd., 10. 199 Vgl. dazu J. KÖBERLE, Sünde und Gnade im religiösen Leben des Volkes Israel, München 1905. Prototypisch werden zwei divergierende Grundpositionen in der ersten Hälfte bzw. um die Mitte des 20. Jahrhunderts von O. EISSFELDT und F. HESSE zur Sprache gebracht. EISSFELDT betont die verschiedenen Ebenen, auf denen historische und theologische Betrachtungsweise liegen. „Die historische Betrachtungsweise einerseits und die theologische andererseits gehören zwei verschiedenen Ebenen an … So gilt es, beide Betrachtungsweisen in ihrer unbeschränkten Selbstständigkeit zu belassen … .“ O. EISSFELDT, Israelitisch-Jüdische Religionsgeschichte und Alttestamentliche Theologie, in: Ders., Kleine Schriften, Tübingen 1962, 105–114, hier: 109. Demgegenüber betont F. HESSE, dass die Erforschung der Geschichte Israels eine theologische Aufgabe sei. „Es kann darum nicht die Aufgabe derer sein, die sich als Theologen mit der Geschichte Israels befassen, die Geschichte dieses Volkes so darzustellen, daß an möglichst vielen Punkten die Einzigartigkeit dieser Geschichte erwiesen würde.“ Ders., Die Erforschung der Geschichte Israels als theologische Aufgabe, in: KuD 4 (1958), 1–19, hier: 2. 200 Vgl. dazu die Ausführungen zur Person, zum Werk und zur theologiegeschichtlichen Verortung von A. MERX in Kapitel II, 58ff.

5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei A. Merx

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und darin ausführlich seine exegetischen und hermeneutischen Prinzipien dargelegt.201 Obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren nicht mehr als Privatdozent in Jena tätig war, bezieht er sich in diesen Werken explizit auf seine akademische Tätigkeit in Jena und will insbesondere seine Joel-Exegese in die „jenaischen Arbeiten“ zur Exegese und Hermeneutik des Alten Testamentes von Ludwig Diestel und Karl Siegfried eingereiht wissen.202 Aus diesen beiden Werken sollen im Folgenden die Prinzipien der Exegese und Hermeneutik des Alten Testamentes bei Merx erfasst und dargestellt werden. Dabei wird insbesondere das von Merx thematisierte Verhältnis von Exegese und Dogmatik in den Blick genommen sowie seine Forderung, die Hermeneutik als neue Grundlagendisziplin der Theologie zu verstehen. Zunächst werden allerdings die Forschungsansätze zur Pentateuchkritik untersucht, die Merx während seiner Jenaer Zeit veröffentlichte, und die seinen wissenschaftsgeschichtlichen Standort im Rahmen der Pentateuchforschung kenntlich machenn. 5.1 Forschungsansätze zur Pentateuchkritik Im Jahr 1865 – während seiner Tätigkeit als Privatdozent in Jena – veröffentlicht Merx anonym in der Protestantischen Kirchenzeitung „Aphoristische Bemerkungen über die Pentateuchkritik“203 und nimmt damit Stellung zu den Tendenzen der Pentateuchkritik, insbesondere zu den verschiedenen Hypothesen der Entstehung des Pentateuch. Nach einem kurzen Abriss zur Geschichte der Pentateuchkritik, stellt er den gegenwärtigen Stand der Forschung dar und entdeckt in der Urkunden- und Ergänzungshypothese den gemeinsamen Grundzug, „den Pentateuch, wie er vorliegt, in die Elemente zu zerlegen, aus de201 A. MERX, Die Prophetie des Joel; Eine Rede vom Auslegen. 202 Seine Arbeit über die Prophetie des Joel widmete er der Jenaer Fakultät, namentlich K. HASE, R. A. LIPSIUS, K. A. SIEGFRIED und R. SEYERLEN, und betont im Vorwort den Wunsch, dass sein Werk „als Zeugnis meines Zusammenhanges mit Jena und jenaischer Arbeit“ verstanden werden solle. Vgl. A. MERX, Die Prophetie des Joel, Vorwort. Mit der Einreihung in die „jenaischen Arbeiten“ ist für MERX eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Auslegung verbunden, wie sie von L. DIESTEL begründet, aber auch von E. SCHRADER und K. SIEGFRIED vollzogen wurde. Vgl. dazu Kapitel IV, 245ff.279ff. 203 A. MERX, Aphoristische Bemerkungen über die Pentateuchkritik, in: PKZ 17 (1865), 377–388. MERX veröffentlichte diesen Artikel anonym, wies aber 1871 in einem Nachwort zur Einleitung der zweiten Auflage von TUCHS Genesiskommentar ausdrücklich auf seine Verfasserschaft dieses Artikels hin. Vgl. J. CHR. F. TUCH, Commentar über die Genesis, 2. Aufl. besorgt von A. ARNOLD nebst einem Nachwort von A. MERX, 1871, CXV–CXVI.

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IV. Exegese und Hermeneutik

nen er zusammengearbeitet ist“204. Die Debatte um die Frage nach der Zahl der anzunehmenden Verfasser, je nach Urkunden- oder Ergänzungshypothese drei oder zwei, und die daraus sich ergebenden Ergänzungshypothese bei Martin L. de Wette (1780–1849), Friedrich Bleek (1793–1859) und Johann Chr. F. Tuch (1806–1867) einerseits, sowie die bei Hermann Hupfeld (1796–1866) und Karl D. Ilgen (1763–1834) sich ergebende Urkundenhypothese andererseits, sind in zweifacher Hinsicht zu problematisieren, damit die Pentateuchkritik zu festeren Ergebnissen kommt. Erstens beruhen die Hypothesen „nur auf der Beobachtung der historischen Theile des Pentateuch … wobei die gesetzlichen Theile von Exodus und Numeri gar nicht zu ihrem Rechte kommen“205. Ein zweiter ebenso wesentlicher Mangel der Hypothesenbildungen besteht in seinen Augen darin, dass die Möglichkeit einer redaktionellen Bearbeitung bzw. Schlussredaktion der vorliegenden Quellen und damit die Schwierigkeit ihrer exakten Rekonstruktion nicht einbezogen werden. „Es ist nicht an die vorhandene Möglichkeit gedacht, dass der ganze Pentateuch, nachdem die Hauptmasse schon längst zusammengebracht war, noch bedeutenden Redaktionsveränderungen unterworfen ist, durch welche Verschiedenheiten der Quellen beseitigt, Widersprüche wohl oder übel ausgeglichen und überhaupt Veränderungen vorgenommen sind, welche die haarscharfe Quellenscheidung, welche zur Durchführung jener Hypothesen nöthig ist, zu einer baren Unmöglichkeit machen“.206

Merx sieht die historisch-kritische Arbeit seiner Zeit in der Pentateuchforschung vor die Aufgabe gestellt, denjenigen Einfluss der Astrucschen Entdeckung der verschiedenen Quellen in der Genesis zu überwinden, der in der Forschung dazu führte, dass man sich bezüglich des Ursprungs des Pentateuchs damit begnügte „ihre (der Quellen) Schnitzeln zu kräuseln, ohne den Blick weiter gehen zu lassen“ 207. Die erste Aufgabe der Kritik ist es nun, anhand der gesetzlichen Partien des Pentateuchs auf die Abfassungszeit einer Schlussredaktion zu schließen. Es kommt darauf an, „die differierenden Gesetze genau zu vergleichen und ihre Unterschiede sowie namentlich ihre praktische Bedeutung und die Änderungen des religiösen Bewußtseins, deren Koeffizienten die Aenderungen im Gesetze sind, scharf ins Auge zu fassen und zu bestimmen … Ist dies geschehen, so wirft sich von selbst die Frage auf, in welcher Zeit jene Gesetzesänderun-

204 205 206 207

A. MERX, Aphoristische Bemerkungen über die Pentateuchkritik, 380. Ebd., 380. Ebd., 380. Ebd., 384.

5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei A. Merx

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gen vor sich gegangen sind, und sollte sich diese nicht beantworten lassen, so wird sich doch das gegenseitige Verhältnis zweier Gesetze, welches das ältere, welches das jüngere sei, bestimmen lassen. Auf diese Weise wird sich eine Zeitgrenze nach unten ergeben, es wird abgeleitet werden können, welcher Zeit etwa die jüngsten Gesetze angehören und damit ein Punkt gefunden, von dem abwärts die endliche Redaktion der Thora zu bestimmen wäre.“208

Diese neuen Ansätze zur Pentateuchforschung veröffentlichte Merx ein Jahr bevor Karl Heinrich Grafs in der Geschichte der Pentateuchkritik bahnbrechendes Werk über die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments 1866 erschien.209 Darin kam Graf auf Grund seiner literarkritischen Analyse der Bücher Genesis bis 2 Könige 25 zu dem Ergebnis, dass die ‚Grundschrift‘ des Pentateuch, der Priesterkodex, in zwei Quellen zu scheiden sei, wobei die gesetzlichen Stücke der Bücher Exodus bis Numeri nach dem Exil abgefasst seien. An dieses Forschungsergebnis Grafs knüpfte dann Julius Wellhausen an und verschaffte ihr als Graf-Wellhausen-Hypothese den Durchbruch. Wellhausen datierte im Anschluss an Karl Heinrich Graf und Abraham Kuenen die Quellen des Pentateuch neu. Die Spätdatierung der Priesterschrift und die Frühdatierung des Jahwisten revolutionierten das Bild der Entstehung des Pentateuch und damit zusammenhängend der Geschichte Israels. Während Graf erkannt hatte, dass die Gesetze in Levitikus bis Numeri jünger seien als das Deuteronomium, wies Kuenen den Zusammenhang der priesterschriftlichen Gesetze und der priesterschriftlichen Erzählungen nach mit der Folgerung, dass mit den Gesetzen auch die Erzählungen spät zu datieren seien. Wellhausen wiederum erkannte, dass die Priesterschrift die Kultzentralisation voraussetze, dass das Deuteronomium sie fordert und dass Jahwist/ Elohist und die Propheten (außer Ezechiel) sie noch nicht kennen.210 208 Ebd., 384. 209 K. H. GRAF, Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments, Leipzig 1866. Angeregt durch eine von seinem Lehrer E. REUSS (1804–1891) geäußerte Vermutung, dass die gesetzlichen Teile des Pentateuch jünger als die Propheten seien, ging GRAF dieser Behauptung nach und kam zu dem Ergebnis, dass die priesterliche Gesetzgebung chronologisch auf die prophetische Predigt folgt. 210 Vgl. dazu J. WELLHAUSEN, Prolegomena zur Geschichte Israels (Geschichte Israels, Bd. 1 [1878], Berlin ²1883; Ders., Die Composition des Hexatech und der historischen Bücher des Alten Testaments, Berlin ³1899; Ders., Israelitische und Jüdische Geschichte, Berlin 1894. Zum Fortgang der Pentateuchkritik in der Perspektive des ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. den von WELLHAUSEN abgedruckten Forschungsbericht von A. KUENEN, Übersicht über den Fortgang der Pentateuchkritik seit Bleeks Tode, in: F. BLEEK, Einleitung in das Alte Testament, Vierte Auflage, Berlin 1878, 152–178. Zur Pentateuchforschung in der Perspektive des ausgehenden 20.

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IV. Exegese und Hermeneutik

In seinem Nachwort zum Genesis-Kommentar von Friedrich Tuch von 1871 bietet Merx noch einmal eine Darstellung der Pentateuchforschung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und verweist auf die zentrale Rolle von Graf, der die Hauptfrage der Pentateuchforschung klar benannt habe. „Es handelt sich um die Frage, ob das fertige Gesetz Voraussetzung der Geschichte Israels, oder Product des in der Geschichte sich entwickelnden Volksgeistes ist.“ 211 Diese Frage hatte Merx bereits – wie oben dargestellt – in seinen Aphorismen zur Pentateuchkritik von 1865 aufgenommen und aus seiner Sicht beantwortet. „Ueber die Art, wie die Frage zu lösen ist, habe ich meine Ansicht in der Protestantischen Kirchenzeitung (1865 Nr. 17) ausgesprochen, ehe Graf’s Arbeiten erschienen waren.“212 In seiner Schrift über die Bücher Mose und Josua im Rahmen der religionsgeschichtlichen Volksbücher bietet Merx eine zusammenfassende Darstellung der Entstehung des Pentateuchs.213 Dabei unternimmt er den Versuch, zwischen den Positionen der Reuss-Graf-Kuenen-Wellhausen Linie und August Dillmann (1823–1894), einem ausgesprochenen Gegner der literarkritischen These zur Entstehung des Pentateuch und Vertreter der positiven Theologie, zu vermitteln.214 Merx betont, „dass die Fundamente des religiösen, rechtlichen und sittlichen Lebens, die als Jahwes durch Mose vermittelte Lehre auch im Pentateuch bezeichnet sind, zu unterscheiden sind von der in langen Zeiträumen immer engherziger gewordenen Durchbildung im einzelnen, die der Leser in den Verdoppelungen und Wiederaufnahmen und Korrekturen der Gesetze zur Genüge kennen gelernt hat“215.

Ausgehend von der Urkundenhypothese setzt Merx die redaktionelle Verflechtung der Schriften des Elohisten und des Jahwisten zwischen

211 212 213 214

215

Jahrhunderts vgl. C. HOUTMANN, Der Pentateuch, Kampen 1994; O. KAISER, Pentateuch und Deuteronomistisches Geschichtswerk, in: Ders., Studien zur Literaturgeschichte des Alten Testaments, Würzburg 2000, 70–133; L. SCHMIDT, Zur Entstehung des Pentateuch, in: VF 40 (1995), 3–28; E. OTTO, Kritik der Pentateuchkomposition, in: ThR 61 (1996), 332–342. A. MERX, Nachwort (1871), CXV. Ebd., CXV. A. MERX, Die Bücher Moses und Josua, in: Religionsgeschichtliche Volksbücher, Tübingen 1904. A. DILLMANN vertrat in Bezug auf die Entstehung des Pentateuch die These, dass der Dekalog als Konstitutivum des Jahwe-Glaubens eine Spätdatierung desselben ausschließe, da ansonsten der entscheidende theologische und geschichtliche Sachverhalt verkannt werde. Die vorexilische Epoche kann nicht ohne den Rückgriff auf den fundamentalen Faktor des Gesetzes verstanden werden. Vgl. Ders., Handbuch der Alttestamentlichen Theologie, Leipzig 1895, 35.61. A. MERX, Moses und Josua, 133.

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750 und 650 v. Chr. an. „Dieses Doppelwerk besaß der Deuteronomiker, oder die Schule, in der die deuteronomische Gesetzgebung entstanden ist.“216 Der Hauptteil der pentateuchischen Gesetze wurde schließlich nachexilisch in das Gesamtwerk eingearbeitet. Merx gesteht Dillmann zu, dass die Verflechtung des Jehovisten und des Jahwisten durchaus auch früher vollzogen worden sein könnte. 217 Als Fazit der Pentateuchforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert hält Merx fest: „Die nächste Generation wird in der literarhistorischen Betrachtung des Alten Testaments sehr viel zurückzurevidieren haben, in der jetzt nichts sicher ist, als die Unsicherheit, und wo sich jeder berufen fühlt, hier und da eine Behauptung mit unerhörter Selbstgewißheit aufzustellen, ohne den großen Zusammenhang zu beobachten.“218

4.2 Prinzipien der Exegese am Beispiel der Joel-Prophetie In der Kommentarliteratur seiner Zeit ist es ein Novum, dass Merx in seinem Werk über die Prophetie des Joel nicht allein eine Sacherklärung des Buches vorlegt, sondern zudem eine Auslegungsgeschichte des prophetischen Buches darstellt, die ausgehend von der Patristik bis zur Entwicklung der protestantischen Schriftauslegung reicht. Erheblichen Raum nimmt dabei die Darstellung und Auseinandersetzung mit der rabbinischen Exegese ein, wobei Merx eine zunehmende Verknüpfung mit der christlichen Auslegung in vorreformatorischer Zeit ausmacht. Mit der ausführlichen Erfassung und Darstellung der Auslegungsgeschichte kritisiert Merx nach eigenem Bekunden diejenige Vorgehensweise, mit der ältere Auslegungen angeführt werden „ohne Mittheilung ihrer leitenden Ideen und ihres Zusammenhanges“. Dabei ist in seinen Augen generell die wissenschaftstheoretische Einsicht unterbestimmt, dass die Exegese immer in Wechselbeziehung zum allgemeinen Wissenschaftsverständnis einer Zeit steht. „Unsere ganze bisherige Prüfung der Auslegungsgeschichte ist ein einziger Protest gegen die Art und Weise, wie jetzt immer die alten Ausleger angeführt werden, nämlich ohne Mittheilung ihrer leitenden Ideen und ihres

216 Ebd., 134. 217 „Wenn Amos und Hosea vor 750 geschrieben haben, so muß eine noch ältere Literatur dagewesen sein, denn diese Propheten zeigen nicht den stammelnden Anfang einer Gattung. Und wo steckt sie? Doch nicht bloß in Richt. 5, 2Sam. 1,19, sondern auch in D. 33, das Dillmann um 940, Neuere in die Zeit Jerobeams II 780 legen … sondern vor allem in dem Grundgesetze selbst E. 21ff., das der Elohist nicht konzipiert, sondern als ein systematisch geordnetes Rechtsbuch … aus den vorhandenen Literaturbeständen aufgenommen hat.“Ebd., 135. 218 Ebd., 135.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Zusammenhanges. Fehlt aber dies, so sind alle solche Anführungen ein nutzloser Wust, da die wahre exegetische Thätigkeit immer in nächster Wechselbeziehung zur allgemeinen Wissenschaft ihrer Zeit steht, und ohne diese gar nicht begriffen werden kann.“ 219

Im ersten Teil seines Werkes stellt Merx zunächst seine historischkritische Arbeit zum Zeitalter Joels sowie seine Grundlagen für die sachliche Erklärung der Prophetie Joels dar, und bietet im Anschluss daran eine Auslegung des Buches. Im zweiten, deutlich umfangreicheren Hauptteil stellt er die Geschichte der Auslegung dar, aufgeteilt in die Phasen „A. Patristische Zeit“, „B. Die jüdische Auslegung“, „C. Vereinigung jüdischer und christlicher Exegese“ und „D. Die Entwicklung der protestantischen Schriftauslegung“220. In seiner Vorgehensweise lehnt er sich an Ludwig Diestels Werk über das Alte Testament und seine Auslegung in der Geschichte der Kirche an, und versucht durch seine gründliche Darstellung der rabbinischen Exegese die defizitäre Behandlung derselben bei Diestel zu kompensieren.221 Grundlage der Exegese ist für den Theologen und Philologen Merx die sorgsame Rekonstruktion und die grammatisch exakte Behandlung des hebräischen Textes.222 Die Grundsätze der Text-behandlung bzw. Textkritik hat er bereits in seinem Buch über Hiob von 1871 schriftlich fixiert. 223 Merx legt seiner Auslegung des Joelbuches eine grammatischhistorische bzw. historisch-kritische Analyse zugrunde, mit der er zunächst eine genaue Erfassung des Zeitalters der Abfassung bzw. eine präzise Datierung der Joel-Prohetie anstrebt.224 In forschungsgeschichtlicher Perspektive ist dabei zu beachten, dass Merx im Anschluss an Adolf Hilgenfeld und in Abgrenzung von Karl August Credner (1797– 1857) und Ferdinand Hitzig (1807–1875), die Joel zum ältesten Schrift-

219 A. MERX, Die Prophetie des Joel, 231, Anm. 3. 220 Ebd., VII–VIII. 221 „Ich habe dabei besonders auch die jüdische Auslegung, die bei Diestel zurücktritt, in den Zusammenhang gezogen …“ Ebd., Vorwort. 222 „Der Text hat einen Rechtsanspruch auf Behandlung.“ A. MERX, Das Gedicht von Hiob, Jena 1871, LVIIf. 223 „So gut wie man in der klassischen Philologie Ausgaben der Schriftsteller macht, in denen aus den Handschriften ein lesbarer Text hergestellt ist, so gut muss es auch die biblische Philologie thun … Zuerst muss der älteste erreichbare Konsonantentext mit Hilfe der alten Übersetzungen eruiert und damit eine urkundliche Lesart gewonnen werden. Zur Konjektur soll nur in äußersten Fällen fortgegangen werden.“ Ebd., LXIf. 224 MERX setzt sich in seinem Kommentar zum Joelbuch insbesondere mit den Werken von K. A. CREDNER, Der Prophet Joel, Halle 1831, und F. HITZIG, Die zwölf kleinen Propheten, Leipzig 1838, auseinander.

5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei A. Merx

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propheten erklärt, und ihn in das Zeitfenster 870 bis 840 v. Chr. datiert hatten225, von der Voraussetzung ausgeht, „dass Joel nach 500, genauer nach 445 schrieb, dass er die Worte der alten Propheten studiert hatte und kannte, sowie dass er in der Wiederherstellung Juda’s nach Zerubabel, Ezra und Nehemja keine vollgültige Erfüllung der alten Weissagungen anerkennen konnte“226.

Diese zeitgeschichtliche Einordnung hatte bereits Bernhard Duhm (1847–1928) in seinem Werk über die Theologie der Propheten übernommen. Sie setzt sich mit der Veröffentlichung des Kommentars zur Joel-Prophetie von Merx in der Prophetenforschung durch.227 Die frühe Datierung Joels hat – so Merx – ihre Wurzeln in der altkirchlichen Überlieferung und in der Voraussetzung, dass die Nichterwähnung der Assyrer ihn in vorassyrische Zeit versetze. „Bei allen ist die Basis der Untersuchung die, dass weder Syrer noch Assyrer 4, 4,19 erwähnt werden, sondern nur Phoeniker und Philister, Aegypter und Edomiterm dass also Joel vor – mit Verlaub oder nach – den assyrischen Zeiten aufgetreten ist.“ 228

Für Merx gehört Joel in die Phase des Übergangs von der Prophetie zur Schriftgelehrsamkeit und der Verbindung von Prophetie und Priestertum, in der die Reiche Syrien, Ephraim und Juda nicht (mehr) bestehen, und in der keine königlichen, sondern nur priesterliche Autoritäten erwähnt werden. „In Joels Zeit ist der Priester auch Redner und der Prophet Verehrer der priesterlichen Ordnung, der Bund ist geschlossen, den nach ihrer ursprünglichen Natur das Prophetenthum und das Priesterthum nicht einge-

225 „Joel schrieb die uns vorliegende Weissagung um die Jahre 870 bis 865, im Anfange des Sommers. Folglich ist Joel unter allen Propheten, von welchen Schriften auf uns gekommen sind, der älteste.“ K. A. CREDNER, Der Prophet Joel, 52. Er argumentiert hauptsächlich von Joel 4, 4.19 und den dort erwähnten Feinden des Volkes her sowie von der besonderen Rücksichtnahme auf den Tempeldienst in Joel 1, 9.13.16 und Joel 2, 1.14.17, die seiner Meinung nach eine vorexilische Verortung implizeren. Ebd., 3852. Ähnlich F. HITZIG, wenn er formuliert: „So wenig aber als diese (die Assyrer), führt Joel unter den Feinden des Volkes die damascenischen Syrer auf, und scheint demnach nicht nur vor dem Jahre 790, sondern auch vor dem Ereignisse 2. Kön 12,18, d.i. ungefähr vor d. J. 840, geschrieben zu haben … Die Rücksichtnahme endlich auf den Tempeldienst 1,9, 2,14 … beides führt auf eine Zeit, wo der theokratische Cultus sich befestigt und die Hierarchie sich in Ansehen gesetzt hatte … Das Orakel kann nur zwischen den Jahren 874 und 851 abgefasst sein.“ F. HITZIG, Joel, 3f. 226 A. MERX, Die Prophetie des Joel, 42. 227 B. DUHM, Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innnere Entwicklungsgeschiche der israelitischen Religion, Göttingen 1875, 275. 228 A. MERX, Die Prophetie des Joel, 4.

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IV. Exegese und Hermeneutik

gangen waren, geschlossen auf Grund tiefer Veränderungen im Wesen beider Stände.“229

Entscheidende Grundlage für die sachliche Erklärung der Prophetie des Joel ist, dass diese sich als eine Zusammenstellung vielfältiger früherer Schilderungen bzw. Weissagungen zum ‚Tag Jahwes‘ erweist. „Die älteren Propheten redeten auf Grund concreter historischer Verhältnisse und gipfelten, indem sie von der Gegenwart ausgingen, die ihnen das nächste Object und den Anreiz zur Rede bot, in der Schilderung einer letzten Strafe, Reinigung und Erlösung, das nachnehemjanische Stillleben, das Joel vor Augen hatte, bot ein solches Object nicht, wohl aber den dauernden Anreiz darüber zu sinnen, wie die alten Verheissungen vollendet werden könnten und müssten, und so sucht er eine Unterlage eben für diese Darstellung.“230

Die zentrale These von Merx ist, dass die typische Bedeutung der ersten Erlösung aus Ägypten für alle folgenden Erlösungen die Grundlage bildet für die endgerichtliche Schilderung des Joel. 231 Dass in der Zeit nach 445 v. Chr. eine solche Typologie denkbar und wahrscheinlich ist, sieht Merx in der zeitlichen Nähe zur Entstehung von Midrasch und Haggada begründet, und im Danielbuch belegt. 232 Typische Textbetrachtung, geschichtliche Spekulation und midraschartige Umdeutungen älterer Prophetien sind deutlich früher als 200 v. Chr. anzusetzen. Darum ist es plausibel, dass auch bei Joel eine typische Betrachtungsweise im Hintergrund steht und die Schilderung Joels so entstanden ist, dass er „das Endgericht antitypisch zur Befreiung aus Aegypten stellte und von dieser um eine Basis für seine Darlegung zu gewinnen, das 229 Ebd., 34. 230 Ebd., 43. 231 Ebd., 43ff. MERX bemängelt, dass dieser Ansatz in den Rezensionen zu wenig beachtet wird. „Die typische Bedeutung der ersten Erlösung aus Ägypten für alle folgenden Erlösungen, die nach ihrer Analogie vorstellig gemacht werden, bildet die Grundlage für meine Erklärung des ohne sie unerklärlichen Joel … Auf diesen Kernpunkt meiner ganzen Joelanalyse hat kein Rezensent seine Aufmerksamkeit gerichtet.“ Ders., Die Saadjanische Uebersetzung des Hohen Liedes ins Arabische, Heidelberg 1882, 22 (Anmerkung). 232 „Daniels neuntes Kapitel ist eine vollkommene Studie ... zum unerfüllt gebliebenen Texte des Jeremias 29, 10-14, die nur zu verstehen ist aus einer Situation, die in mancher Beziehung derjenigen gleicht, in der wir uns den Joel zu denken haben. Die historische Restauration befriedigt die von den alten Propheten erregten Erwartungen nicht, statt in ihr die Erfüllung zu erblicken verlegt Daniel dieselbe an das Ende der Zeit, das er nahe dachte, und darum muss er die Zahl 70, die Jeremias rund meinte, die der Verfasser des Daniel aber arithmetisch genau herausbringen wollte, so umdeuten, dass sie in seiner Zeit noch nicht zu Ende war, aber bald zu Ende gehen musste, denn er glaubte nicht weit davon zu sein.“ A. MERX, Die Prophetie des Joel, 47.

5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei A. Merx

273

Motiv oder Thema der Heuschreckenplage entlehnte, das er dann variiert und erweitert hat“233. Der enge geographische Gesichtskreis des Joel bei der Erwähnung der Tyrier, Sidonier und Philister in Kap. 4,4 im Zusammenhang des Endgerichtes weist auf die Parikularität bzw. die „naturnothwendige Schranke, welche Joels apokalyptisches Gemälde an sich trägt“234 hin. Er redet zwar von der Versammlung aller Völker, aber er denkt doch nur an die Nachbarvölker, weil er „ein scharfer Particularist“235 ist. Diese Schranke einer vorläufigen und nicht vollständigen Offenbarung kennzeichnet generell die gesamte alttestamentliche Prophetie.236 Die Geschichte der Auslegung zur Prophetie des Joel und der Prophetenauslegung allgemein stellt Merx in der Perspektive einer historischen Methode dar, die nach seiner Ansicht allein die entscheidenden Gegensätze vereinigen kann, die in der Auslegungsgeschichte immer wieder virulent werden. Und zwar dadurch, dass sie den Geist in dem Buchstaben in seiner zeitlichen Form erkennt und gelten lässt, und damit die Texte weder spiritualistisch noch realistisch – im Sinne einer Buchstabengläubigkeit – versteht. „Der crude Wortlaut – littera oder historia – enthält oft keinen unmittelbar practisch religiösen Stoff, den man sucht, ihn durch Betrachtung der Entwicklung unseres Bewusstseins in der Geschichte, durch Zurückgehen auf die Wurzeln desselben und deren Auswachsen in der Zeit finden, die Erze zu schmelzen, um das Metall zu erhalten, hatte man nicht gelernt, so war die littera todt, der spiritus schwebte körperlos, – das war die spiritualistische Auslegung. Den entgegengesetzen Irrthum begehen die Chiliasten – auch ihrer modernen Nachkömmlinge in realistischer Schriftdeutung – und nur die historische Methode vermag die Gegensätze zu vereinigen, indem sie den spiritus in der littera oder historia in seiner zeitlichen Form erkennt und gelten lässt und die Unterschiede der jüngern Religionsvorstellung nicht verhehlt oder durch Verdrehungen verdeckt, sondern an der Hand der Geschichte vermittelt.“237

Eine wichtige Phase im Vorlauf zur protestantischen Schriftauslegung erkennt Merx in der Vereinigung jüdischer und christlicher Exegese, insbesondere in der Theorie des Prophetismus bei Nikolaus von Lyra

233 234 235 236

Ebd., 53. Ebd., 78. Ebd., 78. „Das ist die Schranke im Gemälde, die übrigend auch bei den älteren Propheten vorliegt, welche über das einstige Verhältnis der Heidenvölker sich schwankend äussern, weil der universale Heilsplan, den Jesus geoffenbart hat, den Propheten noch unenthüllt war.“ Ebd., 78. 237 A. MERX, Die Prophetie des Joel, 258.

274

IV. Exegese und Hermeneutik

(1270/75–1349).238 Hier zeichnen sich bereits die Anfänge der „wahren Exegese“ ab, da die moralischen Auslegungen zu Anwendungen des litteralen Schriftwortes, zum Reden Gottes im Herzen, und der Literalsinn somit zum eigentlichen Sinn der Texte wird. Dieser Literalsinn aber ist immer an die Zeit und den Ort des Schriftstellers gebunden. Er ist nicht unmittelbar in der Gegenwart anwendbar, sondern erst durch einen historisch-wissenschaftlichen Auslegungsprozess vermittelbar. „Man muss aus dem räumlich und zeitlich Bedingten das allgemein Gültige ausschälen und rein hinstellen auf der einen Seite, dabei aber gleichwohl auf der andern Seite im Auge behalten, dass das allgemein Gültige in zeitlich und örtlich bedingter Weise gesagt ist.“239

Den eigentlichen Fehler der vorreformatorischen Hermeneutik erkennt Merx darin, die Bearbeitung der biblischen Texte durch den Bewusstseinshorizont ihrer Autoren im Prozess der Vermittlung nicht aufgenommen, und die Texte unmittelbar auf die Gegenwart der Kirche appliziert zu haben. „(Denn) da der Inhalt der Texte in unser Bewusstsein eingehen soll, das keine tabula rasa ist, wird derselbe von unserm Bewusstsein bei der Aufnahme nach verschiedenen Seiten hin bearbeitet werden müssen, da er nur so aufgenommen werden kann, wie ihn das in sich schon vielfach durch Speculation wie Erfahrung bestimmte Bewusstsein, das diese Bestimmungen nicht abstreifen kann, zu fassen fähig ist.“ 240

In der Darstellung der Geschichte der Auslegung der Joel-Prophetie sieht Merx bei Martin Luther nicht nur die Prinzipien der modernen Auslegung begründet, sondern mit der Betonung des Literalsinns auch ein kategorisch anderes Verhältnis von Schrift und Kirche implementiert.241 Die Exegese muss philologisch und grammatisch-historisch sein. Den zurecht als entscheidende Aspekte der Exegese angenomme-

238 Ebd., 335–366. MERX bezieht sich u.a. auf das Hauptwerk von N. VON LYRA, die „Postilla litteralis super totam Bibliam“ (1322–1331), die er 1339 durch eine kürzer gefasste „Postilla moralis“ ergänzte. Die „Postilla litteralis et moralis in Vetus et Novum Testamentum“ wurde erstmals 1471–72 in Rom gedruckt, dann 1492 in Straßburg u.ö. (Nachdruck Frankfurt a. M. 1971). Zu N. VON LYRA vgl. insbesondere K. REINHARDT, Art. Nikolaus von Lyra, in: BBKL 6 (1993), Sp. 910–915. 239 A. MERX, Die Prophetie des Joel, 383. 240 Ebd., 383. 241 A. MERX, Die Prophetie des Joel, 386–428. „Die Summe aller dieser Wandlungen lässt sich aber in die kurze Antithese zusammenfassen: Vermöge der Behauptung des vielfachen Schriftsinnes macht sich die Kirche zur Beherrscherin der Schrift, vermöge des der Schrift als alleingültig vondicierten einfachen Literalsinnes wird die Schrift zur Meisterin und Richterin der Kirche.“ Ebd., 386.

5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei A. Merx

275

nen Literalsinn der Texte, ihre grammatische Auslegung mit Ausschluss alles willkürlichen Allegorisierens sowie der Erläuterung der aus dem Texte abgeleiteten Aussagen aus der Geschichte, steht allerdings in den Augen von Merx bei Martin Luther und auch bei Johannes Calvin „der Mangel der Einsicht in die geschichtliche Entwicklung der alttestamentlichen Religion“242 gegenüber, die ihre Wertschätzung erst ermöglicht. Bei der Auslegung der Prophetie des Joel – wie bei der Exegese der alttestamentlichen Prophetie insgesamt – zeige sich Luthers hermeneutisch irrige Annahme, dass die Propheten „ihren Zusammenhang unterbrechend, kurze Aussagen über Christus und die Kirche einschieben“243. So kommt Merx zu dem Ergebnis, dass Luther zwar die allegorische Exegese überwunden habe, aber selber mit einer dogmatischen Exegese an der „spröden Widerstandskraft des Buchstabens scheitert, den doch gerade Luther selbst theoretisch zum wahren Object der Auslegung mit Recht und für immer gestempelt hat“244. Merx führt zum Abschluss seiner Darstellung der Auslegungsgeschichte zum Joelbuch Johannes Calvin an, der nach einem – so Merx – berechtigten Urteil Ludwig Diestels der größte Exeget unter den Reformatoren sei.245 In seiner Auslegung der Prophetie des Joel hebe Calvin hervor, dass das Zeitalter Joels und damit seine historische Verortung unbekannt sei, es aber auch zum Verständnis der Prophetie Joels nicht auf die Kenntnis des Zeitalters ankomme. Während es im ersten Teil des Joelbuches um die Gerichtsworte gegenüber dem Volk gehe so wie die Aufforderung zur Busse, stünden im zweiten Teil die Verheißungen vom Reich Christi im Vordergrund und es werde der Nachweis erbracht, dass auch in scheinbar verzweifelten Zeiten Gott seinen Bund mit den Vätern nicht vergessen hat. Allerdings – so Merx – steht davon nun „im Joel nichts, wohl aber sehen wir den Lieblingsgegenstand der reformierten Theologie, den Bundesbegriff, eingetragen“ 246. 242 Ebd., 419. MERX sieht die Joel-Auslegung bei Luther insofern als gescheitert an, weil „hier wie überall Mangel der Einsicht in die geschichtliche Stellung und die Abfassungszeit dieser Prophetie, die als vorexilische unmöglich und völlig unbegreiflich ist, also aus den nachexilischen Prämissen gedeutet werden muss“, erkennbar ist. Ebd., 424. 243 Ebd., 419f. 244 Ebd., 428. 245 „Calvin ist der grösste Exeget seiner Zeit, aber nicht die entfaltete Gelehrsamkeit … macht ihn zum Schöpfer der ächten Exegese, ‚sondern der tiefe Blick in das alleinige Ziel und die richtige Aufgabe aller Schrifterklärung, sowie die Thatsache, dass er derselben in seinen Arbeiten so bedeutend nahe gekommen ist, dass er sich von seinen Vorgängern specifisch unterscheidet‘ (Ludwig Diestel, Geschichte des Alten Testamentes [1869], 267).“ Ebd., 428. 246 Ebd., 430.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Das signifikant Defizitäre in der Joel-Exegese Calvins ist in den Augen von Merx der fehlende Bezug zur historischen Situation des Propheten, die sich nur historisch-philologisch erheben lässt. „Zwar beleuchtet Calvin ... sonst den historischen Boden auf dem der Autor steht, und durch den er bedingt ist, und lässt selbst die Benutzungen des Neuen Testaments nicht als exegetisch binden gelten, aber im Joelcommentare gelingt ihm dies durchaus nicht, weder forscht er über die Zeit, noch emancipiert er sich von Act. 2.“247

Der fehlende Bezug zur historischen Situation führt bei Calvin ebenso wie bei Martin Luther zu einer dogmatischen Exegese deren Kennzeichen eine dogmatische Auspressung“ des Buchstabens sei. „Der Buchstabe ergibt immer nicht, was er soll, und so wird er, ehemals allegorisch, nunmehr dogmatisch ausgepresst.“248 Daraus ergibt sich für die Exegese insgesamt eine doppelte Problemanzeige. Da der Exeget der Vermittler zwischen dem heutigen Leser und dem damaligen Schriftsteller ist braucht er als Grundlage „eine feste Ansicht über Zeit und Lage“249 der Schriftsteller. Ebenso ist es unverzichtbar, dass der Exeget „Einsicht in Zeit und Verhältnisse der auszulegenden Schriftsteller, psychologisches Hineindenken in ihren Vorstellungskreis, und ein anempfindendes Theilnehmen an ihren Leiden und Freuden“ 250 hat. 5.3 Hermeneutik als Wissenschafts- und Kunstlehre251 Grundlage einer Hermeneutik des Alten Testaments ist das Zusammenspiel der grammatisch-historischen Exegese als wissenschaftlicher Arbeit am Text mit der „practische(n)“252 Exegese, unter der Merx eine „psychologische“ Applikation des auszulegenden Textes und der Lebenswelt des Autors durch den Ausleger versteht. Es ist unverzichtbar, 247 248 249 250 251

Ebd., 429. Ebd., 428. Ebd., 443. Ebd., 444. Vgl. zum Folgenden A. MERX, Eine Rede vom Auslegen, 1-36; Ders., Die Prophetie des Joel, 443–447. MERX entfaltet seine hermeneutischen Überlegungen unter explizitem Rückbezug auf F. SCHLEIERMACHERS Hermeneutik. Vgl. dazu F. SCHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, hg. v. F. LÜCKE (SW I, 7) 1838. Zur Hermeneutik SCHLEIERMACHERS vgl. H. KIMMERLE, Die Hermeneutik Schleiermachers im Zusammenhang seines spekulativen Denkens, Heidelberg 1957; M. POTEPA, Hermeneutk und Dialektik bei Schleiermacher, in: Schleiermacher-Archiv, Bd. 1, Berlin/New York 1985, 494ff. 252 MERX bezeichnet damit denjenigen Teil der hermeneutischen Aufgabe, in dem es darum geht, „einen Schrifttext in das Gemüth aufzunehmen und in ihm wirken zu lassen.“ Vgl. Ders., Eine Rede vom Auslegen, 35.

5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei A. Merx

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dass der Ausleger „das auszulegende Werk sprachlich, sachlich und psychologisch sich selbst aneignet, dass er darin lebt und webt“253 und in dieser Hinsicht ist Auslegung keine Wissenschaft, sondern Kunst. „Das Auslegen ist keine Wissenschaft, sondern es ist eine Kunst ... die Kunst der Wiederbelebung der in der Schrift erstarrten Gedankenwelt des Schriftstellers, die Kunst, seinen Geist zu entfesseln, ihn in sich aufzunehmen und in andere hinüberzugiessen und ihn so eine ursprünglich intendierte Wirkung von Neuem ausüben zu lassen.“ 254

Damit nimmt Merx ein Grundanliegen der Hermeneutik Schleiermachers auf, der seine Hermeneutik in eine grammatische und eine technische bzw. psychologische Hermeneutik unterteilt hat. 255 Die grammatische Hermeneutik betrachtet die Sprache aus der Totalität ihres Sprachgebrauchs heraus, die technisch-psychologische fasst sie als Ausdruck eines inneren Vorgangs. Das grammatische Verstehen versucht Unklarheiten durch komparativisches Verstehen zu beseitigen, d.h. sprachliche Äußerungen durch philologische Analyse objektiv und damit intersubjektiv nachvollziehbar auf ihre Struktur hin zu beleuchten. Das psychologische Verstehen erfordert ein „Sich-Hineinversetzen“ in den Autor. Mit dieser Konzeption von kongenialem Verstehen entdeckt Schleiermacher ein nicht verrechenbares Moment im Prozess des Verstehens. Verstehen ist reproduktive Wiederholung der ursprünglichen gedanklichen Produktion aufgrund der Kongenialität des Geistes. Schleiermacher setzt die Grundoperation der Hermeneutik somit als eine Nachkonstruktion an. Die Hermeneutik ist eine „Kunstlehre“ – eine Wendung, der bei Schleiermacher vielfältige Konnotatio-

253 Ebd., 9. 254 Ebd., 10. 255 MERX bezieht sich wiederholt auf SCHLEIERMACHER, wenn er betont, dass sich die Auslegung „an den Wortlaut zu halten und diesen in seiner psychologischen Entstehung im Gemüthe des Propheten sich vorstellig zu machen hat.“ A. MERX, Die Prophetie des Joel, 440. In diesem Kontext verweist er dezidiert auf § 10 der Hermeneutik SCHLEIERMACHERS, wo dieser von der Kunst des Auslegens spricht. „Die glückliche Ausübung der Kunst (des Auslegens) beruht auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschenkenntnis.“ F. SCHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, § 10, zitiert nach A. MERX, Die Prophetie des Joel, 440. An anderer Stelle weist MERX darauf hin, dass sowohl die allegorische als auch die dogmatische Exegese sich unangemessen an biblischen Texten bereichern. Dabei bezieht er sich erneut auf SCHLEIERMACHERS Hermeneutik, aus der er zitiert. „Dogmatische und allegorische Interpretation haben … als Jagd auf Inhaltsreiches und Bedeutsames den gemeinsamen Grund, dass die Ausbeute so reich als möglich sein soll für die christliche Lehre, und dass in den heiligen Büchern nichts vorübergehend und geringfügig sein soll.“ F. SCHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, § 13, zitiert nach A. MERX, Die Prophetie des Joel, 428.

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IV. Exegese und Hermeneutik

nen zuwachsen und die stark an Friedrich Schlegel (1772–1829) erinnert.256 Für Merx ist es die zentrale Aufgabe der grammatisch-historischen Exegese, die Auslegung an die historische Ursprungssituation des jeweiligen Textes rückzubinden. Auf diesem Weg kann der Geist in dem Buchstaben und der historischen Bedingtheit erkannt werden und zur Geltung kommen. Damit tritt die historisch-grammatische Exegese einer „thetisch-doctrinalen“257 Schriftverwendung entgegen, wie sie sich beispielsweise in der sogenannten „theologischen Exegese“ spiegelt. Diese ist in den Augen von Merx aber nichts anderes ist, „als die Übertragung phantasievoller Combinationen, die im Gebiete der religiösen Dichtung und der Cultushandlungen der Liturgie vollkommen berechtigt sind, in das Gebiet der strengen Wissenschaft“ 258. Die historischkritische Exegese als Basiselement der Hermeneutik des Alten Testaments steht ebenso einem dogmatischen Gebrauch bzw. Übergriff auf die Schrift entgegen, der auf die Verbalinspirationslehre rekurriert, nach der man es in der Schrift nicht mit verschiedenen Autoren zu tun habe, sondern einzig und allein „mit dem auctor primarius, mit Gott“259. Eine ausschließlich historisch-grammatische oder historischekritische Auslegung als Grundlage einer Hermeneutik des Alten Testamentes wird allerdings ihrem Gegenstand nicht gerecht, da sie zwar die Herstellung des authentischen Textes in seiner historischen Situation zu leisten vermag, die sachliche Erklärung alles Historischen, das Eindringen in den Gedankeninhalt und ein Verständnis für die Sachfragen und Empfindung des Stils und der Form, aber die „Mitproductionsthätigkeit“ des Auslegers nicht hinreichend einbezieht. Das aber ist die Kunst der Hermeneutik, dass die Ausleger nicht nur Empfänger sind, sondern dass sie „producieren unter Anleitung“ 260. Dies ist der Ansatz der „practischen Exegese“, in der es um die Applikation geht, um die Kunst „einen Schrifttext in das Gemüth aufzunehmen und

256 Vgl. dazu F. SCHLEGEL, Philosophie der Philologie, in: Logos 17 (1928), 1–72. 257 A. MERX, Eine Rede vom Auslegen, 14. 258 Ebd., 12. „Man spannt hier Ochs und Flügelpferd an einen Pflug und verunreinigt gleichzeitig die Wissenschaft durch Phantasie, wie die religiöse Poesie durch wissenschaftlichen Schulbetrieb.“ Ebd., 12. 259 Ebd., 14. 260 Ebd., 31. „So geht es dem Ausleger, er ist leidend, sofern er sich vom Texte bestimmen lässt, die Gedankenwelt des Textes in sich neu erstehen zu lassen, er ist thätig, sofern er sie entstehen lässt, um sie aber entstehen zu lassen, muss er die Elemente dazu in sich tragen, er muss homologe Erfahrung besitzen.“ Ebd., 32.

5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei A. Merx

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in ihm wirken zu lassen“261, und somit den Gedanken- und Empfindungsprozess den der Ausleger in sich durchgemacht hat zu wiederholen und dem gegenwärtigen Hörer vorzustellen. Nur so kann das Ziel der Auslegung erreicht werden, „die Gedankenwelt des Schriftstellers im Gemüthe des gegenwärtigen Lesers neu auferstehen zu lassen“262. Bei der praktischen Auslegung als der Kunst, die Vergangenheit „wiederzubeleben“, geht es für Merx um die anthropologische und pneumatologische Basis der Hermeneutik. Ein Ausleger religiöser Schriften braucht notwendig religiöse Erfahrung, „sonst vermag er den Inhalt, den in sich nachzubilden ihn der Wortlaut auffordert, nicht wirklich wieder in seinem Bewusstsein aufzubauen, es fehlt ihm das Material zum Bau“263. Damit intendiert Merx eine pneumatologische Verankerung der Hermeneutik. Zum angemessenen Verständnis der Schrift gehört „eine vorgängige Wirkung des heiligen Geistes“264, ohne den es keine religiöse Erfahrung gibt. Das Anliegen von Merx in der Grundlegung seiner Hermeneutik ist darin zu sehen, dass er einerseits den normativen Grundsinn der Texte gegenüber einer allegorischen und dogmatischen Form der Exegese durch philologisch und historisch-kritische Arbeit gewährleisten, und anderseits das Anliegen des psychologischen Verstehens von Texten in Anlehnung an Schleiermacher für die Auslegung der biblischen Texte fruchtbar machen will.265 Auf diesem Weg über die Hermeneutik versucht Merx den Zusammenhang zwischen historischer und dogmatischer Theologie zu begründen.

261 Ebd., 35. 262 Ebd., 10. In seinem Werk über die Prophetie des Joel formuliert MERX: „Das Auslegen ist die Kunst des Widerbelebens der Vergangenheit, wer die Vergangenheit nicht in seiner Phantasie auferstehen läßt, wer ihre Gedanken nicht nachdenkt, ihre Gefühle nicht nachempfindet, der kann wohl adnotationes variorum sammeln oder auch selbst varias adnotationes machen, aber als Ausleger bleibt er ein tönend Erz und eine klingende Schelle, denn es fehlt die Seele der Sache.“ Ders., Die Prophetie des Joel, 444. 263 A. MERX, Eine Rede vom Auslegen, 32. 264 Ebd., 32. 265 Dass die Hermeneutik als Kunstlehre des Verstehens psychologische Reflexionen einschließt und somit Erkenntnisse der Psychologie in Anspruch nimmt, ist bereits in SCHLEIERMACHERS Konzeption der Hermeneutik eingeschlossen. Vgl. dazu F. SCHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, 167–234.

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IV. Exegese und Hermeneutik

5.4 Die Hermeneutik als neue Fundamentalwissenschaft und das Verhältnis von Exegese und Dogmatik Für die Exegese ist in den Augen von Merx der historisch-kritische Zugang zur biblischen Überlieferung eine unvermeidliche Folge der von den Reformatoren begründeten historisch-grammatischen Schriftauslegung, die die Texte so zu verstehen sucht, wie sie in der geschichtlichen Situation und Zeitbedingtheit des Autors zum Zeitpunkt der Niederschrift verstanden sein wollten. Mit der in der Tradition Johann S. Semlers dargelegten positiven Einschätzung der historischen Forschung, die stets ein eigenes philologisch ausgeprägtes Quellenstudium und – unter Zurückweisung einer allegorischen und dogmatischen Vereinnahmung des Textes – eine sachgemäße Interpretation der biblischen Texte impliziert, ist in den Augen von Merx ein Auseinandertreten von Exegese und Dogmatik bzw. historischer und systematischer Theologie verbunden. Die „kritisch-historische“ Schriftbehandlung folgt anderen Normen als die „thetisch-doctrinale“ und damit hat sich „eine Kluft zwischen der historischen und der systematischen Theologie aufgetan, die unter allen Umständen geschlossen werden muss und werden wird, obwohl sich die Konsequenzen, welche dieser Prozess für die Lehraufstellung nach sich ziehen wird, noch keineswegs übersehen lassen. An dieser Stelle liegt die Krankheit der heutigen Theologie, und von hier aus muss die Heilung erfolgen.“266

Merx erfasst und thematisiert die offenkundige Diskrepanz, die zwischen der Heiligen Schrift als Quelle der religiösen Erkenntnis und den vielfältigen daraus abgeleiteten dogmatischen Lehrsätzen besteht. Man benutzt die Schrift im dogmatischen Gebrauch „wie ein Kartenspiel, aus dem man hier und da nach Belieben ein Blatt herauszieht, das man für einen Trumpf hält“267. Der Riss zwischen der exegetischen und der systematischen Theologie muss geschlossen werden. Ein Weg dazu ist Konzeption einer ‚Biblischen Theologie‘, wie sie Johann Philipp Gabler in seiner Altdorfer Antrittsrede von 1787 – den historischen Charakter der Theologie betonend – gefordert hat.268 Gabler hatte in seiner Rede den bereits zuvor eingeführten Begriff „Biblische Theologie“269 aufge266 A. MERX, Eine Rede vom Auslegen, 1. 267 Ebd., 13. 268 J. PH. GABLER, De iusto discrimine theologiae biblicae et dogmaticae regundisque recte utriusque finibus. Zu GABLER und seiner Bedeutung für die Bestimmung und Konzeption der Disziplin ‚Biblische Theologie‘ vgl. Kapitel IV, 252, und die dortigen Literaturhinweise in Anm. 153. 269 Zur Geschichte des Begriffs ‚Biblische Theologie‘ vgl. G. EBELING, Was heißt „Biblische Theologie“?, in: DERS., Wort und Glaube, Bd. 1, Tübingen ³1967, 69–89.

5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei A. Merx

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nommen, um die notwendige Unterscheidung von ‚Biblischer‘ und ‚Dogmatischer Theologie‘ einzuführen. Denn in dem bisherigen Gebrauch kam der ‚Biblischen Theologie‘ keine Eigenständigkeit zu, sondern sie nahm die Rolle einer Hilfswissenschaft ein, die der Dogmatik die notwendigen Beweisstellen zu liefern hatte. Ebenso war es Gablers Anliegen durch die Herauslösung der ‚Biblischen Theologie‘ aus der ‚Dogmatischen Theologie‘ sowie durch eine Neubestimmung ihrer Funktion, der gegenwärtigen Theologie einen Hinweis für eine Lösung der methodischen Grundlagenkrise zu geben. Merx teilt das Anliegen Gablers, sieht aber eine Lösung der methodischen Grundlagenkrise nicht allein in der Etablierung der Disziplin ‚Biblische Theologie‘, sondern drängt auf eine Aufnahme der Hermeneutik als Grundlagendisziplin der Theologie, auch hier mit einem erkennbaren Konnex zu Friedrich Schleiermacher und zu Wilhelm Dilthey (1833–1911). Deren Begründung der Hermeneutik auf die zwischenmenschliche Verständigung und die geschichtliche Bedingtheit des Verstehens implizierte in den Augen von Merx eine Tieferlegung der hermeneutischen Fundamente und gestattete die Errichtung eines auf hermeneutischer Basis gegründeten Wissenschaftssystems.270 Daran schließt sich Merx mit seiner Argumentation an, die Hermeneutik als Fundamentalwissenschaft im Fächerkanon der Theologie zu implementieren. Das Verhältnis von Schrift und dogmatischem System ist immer durch das Verständnis der Schrift bedingt und damit von hermeneutischen Prinzipien abhängig. Da sich die hermeneutischen Prinzipien verändert haben, „die ältere Lehrform von der wörtlichen Eingebung (der Schrift (ist) aus psychologischen und historischen Gründen hinfällig geworden“ und weiter verändern werden, muss die Hermeneutik mit „einer wohl begründeten Theorie darber, wie Schrift und Schriften zu verstehen sind Schriften zu verstehen sind, wie der Sinn aus der Schrift gezogen werden muss“271 zur Grundlagendisziplin der Theologie werden. und Dazu gehört eine geschichtliche Darlegung der hermeneutischen Prinzipienlehre und der exegetischen Praxis, die nicht nur für den Exegeten unverzichtbares Hilfsmittel ist, sondern auch für den Dogmatiker, da die „Einsicht in die exegetischen Ingredienzen des dogmatischen Systemes … durch die Kenntnisse der Geschichte der Hermeneutik und Exegese“272 vermittelt wird.

270 Vgl. dazu H.-G. GADAMER, Art. Hermeneutik, in: HWP, Bd. 3 (1974), Sp. 1063–1071; W. DILTHEY, GS VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. v. B. GROETHUYSEN, Stuttgart/Göttingen 81992. 271 A. MERX, Eine Rede vom Auslegen, 14. 272 A. MERX, Die Prophetie des Joel, 446.

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IV. Exegese und Hermeneutik

6. Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei Eberhard Schrader Eberhard Schrader wurde von seinem Göttinger akademischen Lehrer, dem Theologen und Orientalisten Heinrich Ewald geprägt, der gemeinsam mit Wilhelm M. L. de Wette und Wilhelm Vatke als führender Vertreter der alttestamentlichen Wissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu gelten hat.273 Ewald verstand seine exegetische wie altorientalische Forschung konsequent als „im Geiste und Dienst des Christentums“274 stehend. Er widmete sich neben der hebräischen auch den anderen semitischen Sprachen, um dadurch Aufschlüsse über die Geschichte Israels zu gewinnen bzw. die religiös-kulturelle Umwelt des Alten Testaments zu erhellen. 6.1 Historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments Schraders exegetische Prinzipien zur Erforschung und Auslegung des Alten Testaments werden insbesondere in seinen Studien zur Kritik und Erklärung der biblischen Urgeschichte von 1863, seinem Beitrag zur Kritik des Buches Esra von 1867, und in der Neubearbeitung des de Wettschen Lehrbuchs der historisch-kritischen Einleitung in das Alte Testament von 1869 erkennbar. Die wesentlichen Aspekte seiner Pentateuchforschung aus den Studien zur Kritik und Erklärung der

273 H. EWALD wirkte von 1827 bis 1837 als außerordentlicher und ordentlicher Professor an der Philosophischen Fakultät in Göttingen als Orientalist und Theologe. Von 1838 bis 1847 war er ordentlicher Professor für Philosophie in Tübingen, bevor er 1848 wieder nach Göttingen zurückkehrte. Mit seinem Hauptwerk „Geschichte des Volkes Israel“ gilt er als Mitbegründer der historisch-kritischen Geschichtsschreibung. Die historische Forschung hat in seinen Augen den konstruktiven Sinn, zwischen Vergänglichem und Bleibendem zu unterscheiden, und den zeitübergreifenden religiösen Kern des Alten Testaments freizulegen. Zu H. EWALD vgl. H.-J. KRAUS, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 182–190; L. PERLITT, Heinrich Ewald: Der Gelehrte in der Politik, in: Theologie in Göttingen, hg. v. B. MOELLER, Göttingen 1987, 157–212; J. WELLHAUSEN, Festschrift zur Feier des 100 jährigen Bestehens der Kgl. Ges. der Wissenschaften zu Göttingen, Göttingen 1901, 61ff. Wie nachhaltig der Einfluss EWALDS auf SCHRADER gewesen ist, weist WELLHAUSEN in der Festschrift zur Feier des 150 jährigen Bestehens der Königlichen Wissenschaften zu Göttingen nach. Vgl. Ders., Heinrich Ewald, in: Festschrift, 61ff. Vgl. auch Kapitel II, 59f. 274 Vgl. dazu L. PERLITT, Heinrich Ewald, 175.

6. Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei E. Schrader

283

Urgeschichte hat er in der Neubearbeitung des Lehrbuchs von de Wette aufgenommen.275 In seinem Beitrag zum Esrabuch untersucht Schrader den Bericht des Buches über den Bau des zweiten Tempels, wonach dieser im zweiten Jahr der Rückkehr der Israeliten aus dem Exil unter der Regierung des Kyrus begonnen habe, dann aber in Folge der Anfeindungen durch die Samaritaner bis in das zweite Jahr des Darius liegen geblieben und erst in Folge der prophetischen Wirksamkeit der Propheten Haggai und Sacharja wieder aufgenommen worden sei.276 In einem ersten historisch-kritischen Arbeitsgang weist Schrader nach, dass weder der chaldäische Abschnitt des Esrabuches in Kapitel 5 und die dort erwähnte Akte, noch die Propheten Haggai und Sacharja von einer solchen frühen Gründung des Tempelbaus etwas berichten. Da sich auch der Briefwechsel zwischen Rehum und dem Perserkönig Artachschaschta in Esra 4, 8–23 nicht auf den Tempelbau, sondern auf den weit später liegenden Mauerbau unter Atarxerxes I. beziehen, steht für Schrader fest, dass „für die traditionelle, durch den Verfasser des Buches Esra selber vertretene Meinung, daß der Tempelbau zu Kyrus Zeit und zwar gleich nach der Rückkehr der Exilanten begonnen habe, jeder urkundliche Beweis, zunächst innerhalb der Bibel fehlt“277.

Auch außerbiblische und außerisraelitische Quellen und deren zeitliche Fixierungen des Tempelbaues können die Datierung des Esrabuches 275 In einer Neubearbeitung des einflussreichen Werkes von W. M. L. DE WETTE, „Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen und apokryphen Bücher des Alten Testamentes, sowie die Bibelsammlung überhaupt“, das er 1869 in achter, aktualisierter und tiefgreifend veränderter Auflage herausgab, widmet sich SCHRADER insbesondere der weiteren Verfolgung der Quellenschriften über den Hexateuch hinaus und der zeitlichen Ansetzung dieser Quellen. Außerdem veröffentlicht er verschiedene Arbeiten zur alttestamentlichen Exegese und Theologie. Vgl. dazu E. SCHRADER, Studien zur Kritik und Erklärung der biblischen Urgeschichte Gen. Cap. I–XI. Drei Abhandlungen [I. Die Composition der biblischen Schöpfungsgeschichte Gen. I, 1–2, 4; II. Ueber Sinn und Zusammenhang des Stückes von den Söhnen Gottes Gen 6, 1–4; III. Die sogenannten jahvistischen Abschnitte der biblischen Urgeschichte Gen. cap. 1–11 in ihrem Verhältnisse zu einander von Neuem untersucht]. Mit einem Anhange: Die Urgeschichte nach dem Berichte des annalistischen und nach dem des prophetischen Erzählers, Zürich 1863; Ders., Die Dauer des zweiten Tempelbaus, zugleich ein Beitrag zur Kritik des Buches Esra, in: ThStKr 40 (1867), 460–504; Ders., Zur Textkritik der Psalmen, ThStKr 41 (1868), 629–651. Darüber hinaus veröffentlichte er als Mitherausgeber des Bibel-Lexions von D. SCHENKEL dort zahlreiche Beiträge. Vgl. dazu das Verzeichnis der Schriften SCHRADERS von K. BEZOLD, in: ZA 22 (1909), 366–370. 276 Esra 3,8 bis 6,15. Vgl. E. SCHRADER, Die Dauer des zweiten Tempelbaues, 460f. 277 Ebd., 467f.

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IV. Exegese und Hermeneutik

zum Beginn des Tempelbaues nicht stützen, so dass Schrader das Fazit zieht: „Resultat unserer bisherigen Untersuchung ist hiernach: weder die im Buch Esra selber mitgetheilten Documente, den Tempelbau betreffend, noch der Verfasser des chaldäischen Abschnitts 5,1ff., noch die gleichzeitigen Propheten Haggai und Sacharja in ihren uns erhaltenen Schriften, noch endlich Berossus wissen etwas von einem schon im zweiten Jahre der Rückkehr, resp. im zweiten Jahre des Kyrus begonnenen und darauf bis zum zweiten Jahre des Darius ausgesetzten Tempelbau“.278

In einem zweiten Arbeitsgang untersucht Schrader die historische Glaubwürdigkeit des Berichtes über den Tempelbau im Esrabuch unter der leitenden Fragestellung, ob es sich bei diesem Bericht um eine eigenständige Konzeption des Verfassers handele, oder ob dieser Bericht auf ältere Quellen zurückgehe.279 Schrader arbeitet die Quellengrundlage und die eigenständige Redaktion des Verfassers heraus. Das Ergebnis seiner literarhistorischen Untersuchung über die „kritische Beschaffenheit“ des Berichtes über den Tempelbau ist, dass die Angaben des Buches über den Beginn des Tempelbaus unter Kyrus schon im zweiten Jahr der Rückkehr sowie die Angaben vom Liegenbleiben des Baus bis zum zweiten Jahr des Darius nur in solchen Anschnitten zu finden seien, die sich in seinen Augen als reine Konzeptionen des Chronikers darstellten, nämlich Kap. 3; 4,1–5,24; 6,14b. Diejenigen Abschnitte hingegen, die der Chroniker den ihm vorliegenden Quellen entnommen habe, Kap. 4, 8–23; 5; 6, 1–14a.15, wissen von einem unter Kyrus begonnenen Tempelbau nichts. Nimmt man hinzu, dass die zeitgenössischen Propheten Haggai und Sacharja von einem im zweiten Jahr der Rückkehr begonnenen und bis zum zweiten Jahr des Darius liegengebliebenen Tempelbau ebensowenig etwas zu berichten wissen und die Lage so darstellen, dass der Bau im zweiten Jahr des Darius überhaupt erst begonnen worden sei, in Haggai 2,18 wird sogar ausdrücklich als Tag der Gründung des Tempels der vierundzwanzigsten Tag des neunten Monats

278 Ebd., 472. Und SCHRADER fährt fort: „Einzig der ca. 200 Jahre nach dem fraglichen Ereignisse schreibende Verfasser des Buches Esra, d. i. der Chroniker erzählt, daß der Tempelbau schon im zweiten Jahre nach der Rückkehr begonnen worden, dann aber in Folge der Ränke der Samaritaner bis in das zweite Jahr des Darius liegen geblieben sei.“ Ebd., 472. In Bezug auf die Verfasserschaft des Esrabuches und die Abfassungszeit bilden die Kommentare von H. EWALD und F. BLEEK den wissenschaftlichen Referenzrahmen für SCHRADER. Vgl. dazu H. EWALD, Geschichte des Volkes Israel, Bd. 1 (³1864), 225ff.; F. BLEEK, Einleitung in das Alte Testament, hg. v. J. BLEEK und A. KAMPHAUSEN, Berlin 1860, 395. 279 Vgl. dazu E. SCHRADER, Die Dauer des zweiten Tempelbaues, 474–498.

6. Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei E. Schrader

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des zweiten Jahres der Herrschaft des Darius genannt, dann wird man folgern müssen, dass es „um die traditionelle Meinung hinsichtlich der Dauer des Tempelbaues … in Anbetracht ihrer Quellenmäßigkeit nur schwach bestellt ist“280. Für Schrader folgt daraus, dass die Darstellung vom zweiten Tempelbau im Esrabuch „eine ungeschichtliche und auf einer nicht genügend begründeten Voraussetzung beruhende ist, auf der Voraussetzung nämlich, daß die von glühender Liebe zu der angestammten Religion durchdrungenen, von der höchsten Freude über die endlich erfolgte Erlösung und der innigsten Dankbarkeit gegen den Gott der Väter ergriffenen Exulanten nicht erst würden ca. 15 Jahre haben verstreichen lassen, ehe sie Hand angelegt hätten an die Wiederherstellung des in Schutt und Asche daliegenden Nationalheiligthums“281.

Entscheidend für die Hermeneutik des Alten Testaments bei Schrader ist aber nun die weitergehende Schlussfolgerung, die er aus der Untersuchung über die Dauer des zweiten Tempelbaues bei Esra zieht. „Und dieses Verfahren, gemäß einer bestimmten Voraussetzung, auch wenn die ihm vorliegenden schriftlichen Quellen diese Voraussetzung nicht rechtfertigen, historische Ereignisse darzustellen, steht bei unserem Verfasser nicht vereinzelt da.“282

In dieser Form der Darstellung von Historie in biblischen Texten spiegelt sich für Schrader einerseits eine jeweils herrschende ‚Zeitanschauung‘, d.h. die Darstellung ist nicht auf eine subjektive Empfindung und Einschätzung oder gar Fälschung des Autors zurückzuführen, und andererseits der religiöse Wert der Texte, da diese die Religions- und Glaubensgeschichte Israels berichten. 1869 gibt Schrader die achte Auflage des Lehrbuchs zur Einleitung in das Alte Testament von Wilhelm M. L. de Wette heraus, das dieser erstmals 1817 veröffentlicht hatte. Die grundlegende Überarbeitung dieses Werkes gegenüber der sechsten und siebten Auflage lässt sich daran erkennen, dass Schrader nicht nur vereinzelt zusätzliche Paragraphen eingearbeitet, sondern ganze Abschnitte neu verfasst und aufgenomen hat.283 Dazu zählen die „Geschichte und Theorie der Aus280 281 282 283

Ebd., 500. Ebd., 500. Ebd., 500. So z.B. § 32 (Bibelkanon der orientalischen Kirche im Mittelalter), § 33 (Bibelkanon der abendländischen Kirche im Mittelalter) und § 36 (Ergebnisse der Geschichte des Kanons in kritischer Hinsicht) im Rahmen der Abhandlungen zur „Geschichte des Kanons“, und die §§ 123 und 128 im Rahmen der Darstellung zum „Gang der alttestamentlichen Textgeschichte“. Vgl. W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der historischkritischen Einleitung (81869), XV–XXIV (Inhaltsverzeichnis).

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IV. Exegese und Hermeneutik

legung“, die „Grundsätze der Auslegung des A. T.“, eine „Geschichte der hebräischen Schrift“, eine „Uebersicht über die neueren Uebersetzungen“ und ausführliche Darstellungen zur Pentateuchkritik.284 Wie Adolf Kamphausen (1829–1909) in einer Rezension feststellt, liegt der Schwerpunkt der Neubearbeitung durch Schrader in den hermeneutischen Grundfragen sowie in der Behandlung der historischen Bücher, insbesondere des Hexateuchs.285 Schrader selbst deutet im Vorwort an, dass es ihm in der Einleitung zunächst darum gehe, den Begriff der biblischen Einleitung unter Rückbindung an de Wette und seinen eigenen Lehrer Ewald als eine Propädeutik „zur richtigen Ansicht und Behandlung der Bibel“ zu bestimmen, und diesen praktisch-propä-deutischen Charakter gegenüber dem Verständnis der Einleitung als einer biblischen Literaturgeschichte zu betonen.286 Unverändert lässt Schrader im Rahmen der Einleitung den Paragraphen über den wissenschaftlichen Charakter der historischkritischen Exegese. Darin geht er mit de Wette ganz überein, dass die biblischen Schriften als „eine geschichtliche Erscheinung in der Reihe mit anderen geschichtlichen Erscheinungen betrachtet, und ganz den Gesetzen historischer Untersuchung unterworfen“287 wird. Im dritten Abschnitt im Rahmen der allgemeinen Einleitung skizziert Schrader in den Paragraphen 91 bis 97 eine Geschichte der Auslegung des Alten Testaments, die einen deutlichen Konnex zur Exegese und Hermeneu284 Ebd., §§ 91-101. 285 „Täusche ich mich nicht, so liegt der wissenschaftliche Schwerpunkt von Schraders Arbeit in seiner Behandlung der historischen Bücher, namentlich des Hexateuchs, während die 3. Auflage die meisten Aenderungen in den Vorbemerkungen und im dritten Theile aufweist.“ A. KAMPHAUSEN, Recension, Lehrbuch der historischkritischen Einleitung in die kanonischen und apokryphischen Bücher des Alten Testaments, von Wilhelm Martin Leberecht de Wette (81869), in: ThStKr 44 (1871), 339– 359, hier: 356. 286 W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung (81869), 1–9. „Wohl ist dieselbe (die biblische Einleitung) eine geschichtliche Wissenschaft ... Aber sie ist nicht, wie die biblische Literaturgeschichte, eine solche, die ihren Zweck in sich selber hat. Ihr Absehen ist vielmehr auf Vorbereitung zum Bibelstudium gerichtet und ihr Zweck somit ... ein wesentlich praktischer, näher propädeutischer.“ Ebd., XI. „Von der biblischen Literaturgeschichte (Geschichte des alt- und neutestamentlichen Schriftthums), als welche man unsere Disciplin, dabei inhaltlich dieselbe mehr oder weniger beschränkend, neuerdings verschiedentlich definirt hat (Hupfeld, Reuss, Bleek, Holtzmann, Riehm), unterscheidet sich dieselbe durch ihren praktischpropädeutischen Charakter, kraft dessen sie alles das, die geschichtlichen Verhältnisse der Bibel Betreffende, was zur vorläufigen Orientirung für den an die Exegese der Schrift Herantretenden nothwendig erscheint, in geordneter und sachgemäßer Weise zur Darstellung bringt.“ Ebd., 1. 287 Ebd., §. 4.

6. Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei E. Schrader

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tik von Ludwig Diestel und Adalbert Merx erkennen lässt288, nicht nur in der Anlage der Perioden der Auslegung und der Einbeziehung der jüdischen Exegese, sondern auch in der Beurteilung der verschiedenen exegetischen Ansätze. Unter Rückbezug auf Semlers Unterscheidung des göttlichen Inhaltes und der menschlichen Form in der heiligen Schrift und auf Herders ästhetische Betrachtung des Alten Testamentes, betont Schrader die zentrale Stellung der grammatisch-historischen Auslegung, wie sie von Ferdinand Hitzig, Hermann Hupfeld und Karl Heinrich Graf vertreten wird. Dabei kommt es ihm allerdings explizit auf die Erfassung des religiösen Gehaltes der alttestamentlichen Texte an. Schrader fordert für die alttestamentliche Exegese die Zusammenführung des grammatisch-historischen und des religiösen Aspekts der Schriftauslegung, die voneinander unterschieden, aber nicht getrennt werden dürfen. Hier ist eine Analogie zu Diestels Ansatz unübersehbar, der für die alttestamentliche Exegese das Zusammenspiel dreier Prinzipien gefordert hatte, des „nationalen“, des „philosophischhistorisierenden“ und des „religiösen“ Prinzips.289 Die Zielsetzung der exegetischen und hermeneutischen Arbeit liegt für Schrader darin, „den wirklichen und ursprünglichen d. i. von dem Verfasser einer Schrift selber mit seinen Worten verbundenen Sinn einer Schrift oder Schriftstelle zu erfassen und für Andere verständlich auszulegen“ 290.

In Anlehnung an Schleiermacher bestimmt Schrader das Verständnis des buchstäblichen Textsinns und damit die Erfassung der historischen Bedingungen der Textentstehung und die „geistige Congenialität“ des Auslegers bzw. „ein religiös empfängliches Gemüth ... für das Specifische der Anschauungsweise des auszulegenden Schriftstellers“ als Grundlemente der Hermeneutik.291 In der Neubearbeitung des Lehrbuchs von de Wette wie bereits zuvor in den Genesis-Studien widmet sich Schrader ausführlich der Pentateuchkritik.292 Den Rückschluss auf die nichtmosaische Abfassung

288 Vgl. dazu Kapitel IV, 4. Exegetische Prinzipien und Hermeneutik bei L. DIESTEL, 247ff., und 5. Exegese und Hermeneutik als Fundamentalwissenschaften bei A. MERX, 263ff. 289 Vgl. dazu Kapitel IV, 258ff. 290 W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung (81869), 181f. 291 Ebd., 182. Wie MERX bezieht sich auch SCHRADER explizit auf SCHLEIERMACHERS Hermeneutik. Vgl. dazu Kapitel IV, 5.3 Hermeneutik als Wissenschafts- und Kunstlehre, 276ff. 292 In der Neubearbeitung des Lehrbuchs zur Einleitung von DE WETTE hat er § 184 (Die nichtmosaische Abfassung des Pentateuch) und die §§ 185–192 (Entstehung des Pen-

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IV. Exegese und Hermeneutik

des Pentateuch sieht Schrader, darin über de Wette hinausgehend, durch „die über alle Zweifel erhabene Thatsache, dass dieselben verschiedenen Quellen, aus denen der Pentateuch erwachsen ist (§. 185191), sich sämtlich oder zum Theil auch noch in späteren geschichtlichen Büchern … nachweisen lassen (§. 196.209.216.220)“293 bestätigt. Der Pentateuch und das Buch Josua sind nach Schrader Ergebnis der Arbeit von vier Schriftstellern. Voran steht der „annalistische Erzähler“, d.h. der priesterliche Autor der Grundschrift. Von seiner Hand sind sowohl die Erzählungen als auch sämtliche Ritualgesetze. Unabhängig von diesem Annalisten schrieb der „theokratische Erzähler“. Spuren von ihm findet Schrader in der Genesis (Kap. 20, 1–17; 21, 6–32), im Buch Exodus (Kap. 1, 8–12.15–22; 2, 1–14; 3, 1–6.9–14 usw.), in Numeri (Kap. 12, 1–15 und Teile von Kap. 13). Diese beiden Schriften wurden nun durch den „prophetischen Erzähler“ redigiert und zu einem Ganzen verbunden. Von ihm stammen u. a. Gen 2, 4b–4,26; 5, 29 usw. In dieses Werk des prophetischen Erzählers schob später der Deuteronomist seine Gesetzgebung und die dazu gehörigen Erzählungen ein (Dtn 1,2–4,40; 4,44–10,4; 10,10–31,13; 32, 45–47.50; 34, 5.10–12; außerdem Teile in Josua). Ergänzend arbeitet Schrader heraus, dass auch noch in den Büchern Richter, Samuel und Könige der „theokratische“ und der „prophetische Erzähler“ begegnen, aber nicht der „Annalist“, und dass man die Endredaktion dieser Bücher dem Deuteronomisten zuschreiben müsse.294 Der „theokratische Erzähler“ habe im Nordreich gelebt und zwar nicht lange nach der Spaltung 975 bis 950 v. Chr. Der „prophetische Autor“ sei ebenfalls ein Nordisraelit und Zeitgenosse von Jerobeam II., 825 bis 800 v. Chr. gewesen. Der Deuteronomist hingegen habe kurz vor Josias Reform 622 v. Chr. sein Gesetzbuch geschrieben und danach den Hexateuch redigiert. Schrader kommt zu dem Fazit, dass „wir die richtige Ansicht von der Entstehung des Pentateuches u.s.w. nur in der Vereinigung aller drei Hypothesen, insonderheit in einer Verbindung der Urkunden- und Ergänzungshypothese sehen, indem wir näher uns den Hexateuch ... in erster Stufe entstanden denken aus zwei Haupturkunden: derjenigen des annalistischen und derjenigen des theokratischen Erzählers, welche ein Dritter, der prophetische Erzähler, nicht bloss äußerlich ineinander schob, denn vielmehr in freier Weise zu einem einheitlichen Ganzen verarbeitete, dabei ... keinen Anstand nehmend, auch von sich aus ... Vieles hinzuzufügen. In dieses Werk schaltete sodann ein tateuch aus verschiedenen Quellen) neu ausgearbeitet. Vgl. dazu W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung (81869), 266–299. 293 Ebd., 267. 294 Ebd., 321–361.

6. Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei E. Schrader

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Vierter: der Deuteronomiker, zunächst das grosse von ihm verfasste, prophetisch erneuerte ‚Gesetz Moses‘ ... ein, von da ab das ältere Geschichtswerk ... von sich aus bearbeitend und fortführend (§. 196.209.216) bis zum Untergange des Reiches Juda und der Wegführung in das babylonische Exil.“295

Für eine den Texten angemessene Theorie der Entstehung des Pentateuch fordert Schrader eine Verbindung von Urkunden- und Ergänzungshypothese. Sowohl seinen Studien zur Kritik und Erklärung der biblischen Urgeschichte als auch der überarbeiteten Fassung des Lehrbuchs zur Einleitung in das Alte Testament von de Wette, liegt die von Heinrich Ewald296 angebahnte und von Hermann Hupfeld297 ausgearbeitete Ansicht zugrunde, dass der Jehovist nicht ergänzt, sondern ein unabhängiges und selbstständiges Werk geschrieben habe. Daneben sei, namentlich in Gen 20–22; 28; 31; 32; 37; 39–50, noch ein Elohist von der Grundschrift zu unterscheiden, der mit dem Jehovisten in näherer Verwandtschaft stehe. Somit liegen im Pentateuch drei Quellen vor: elohistische Grundschrift – bei Schrader der „Annalist“ –, Elohist und Jehowist. Was die Untersuchung bzw. Datierung des Alters der Quellen betrifft, geht Schrader wie sein Lehrer Heinrich Ewald davon aus, dass der sogenannte Priesterkodex bzw. der Annalist früh entstanden ist. Er nimmt in dieser Hinsicht die neuen Forschungsergebnisse von Eduard Reuss und Karl Heinrich Graf298, für die die priesterliche Gesetzgebung chronologisch auf die prophetische folgt, nicht auf. Als Begründung führt er eine Vielzahl von jehovistischen Stellen an, die seiner Meinung nach erkennen lassen, dass der prophetische Erzähler Rücksicht auf die vorliegende Schrift des annalistischen Erzählers nimmt. 299 Abraham Kuenen würdigt diese Kombination von Urkunden- und Ergänzungs295 Ebd., 313. 296 EWALD nahm zwei selbstständige Schriften an, eine elohistische, und eine jüngere unabhängig von jener entstandene jehovistische, welche beide nicht ohne Benutzung noch älterer schriftlicher Aufzeichnungen verfasst seien. Diese beiden Schriften liess er durch einen dritten Hebräer zu einem Ganzen vereinigen, der die ältere Schrift zugrunde legte, und diese mit den Erzählungen der späteren selbstständig vermehrte und ergänzte. Vgl. dazu H. EWALD, Die Geschichte des Volkes Israel, Bd. 1. 297 Vgl. dazu H. HUPFELD, Die Quellen der Genesis und die Art ihrer Zusammensetzung, Marburg 1853. 298 Die Ansätze zur Pentateuchforschung von E. REUSS und K. H. GRAF und ihre Rolle in der Forschungsgeschichte im ausgehenden 19. Jahrhundert sind bei im Rahmen der Darstellung der Pentateuchforschung von A. MERX aufgenommen und einbezogen. Vgl. dazu Kapitel IV, 5.1, Forschungsansätze zur Pentateuchkritik, 264–267. 299 W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung (81869), 313, Anmerkung a.

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IV. Exegese und Hermeneutik

hypothese, kritisiert aber, dass Schrader auf das hohe Alter der priesterlichen Grundschrift gegen die neueren Ansätze zur späteren Datierung bei Graf bestehe.300 Zudem bemängelt er grundsätzlich die Methodik Schraders, umstrittene Stellen als Begründung für das hohe Alter der priesterschriftlichen Grundschrift anzuführen und fordert für die Methodologie: „Erst müssen mit fester Hand die Hauptlinien gezogen sein, ehe mit Aussicht auf Erfolg Versuche angestellt werden können, um die kleineren Züge zu bestimmen. Das Studium der Details ist natürlich nicht überflüssig für die Feststellung der Richtung der Hauptlinien, aber sobald dies Studium einige wirklich feste Punkte ergeben hat, muss man von da aus weiter gehen und das Terrain vorläufig übersehen, statt fortwährend in den Details stecken zu bleiben – um endlich mit einem runden Resultat zum Vorschein zu kommen, dem nichts weiter gebricht, als das Fundament.“ 301

Die Arbeiten zum Esrabuch, zur Urgeschichte, der Pentateuchkritik und den Einleitungsfragen zeigen, dass Schrader im Anschluss an de Wette das Ziel verfolgt, eine „Auffassung der Erscheinungen der biblischen Literatur in ihren echt geschichtlichen Verhältnissen und Eigentümlichkeiten“302 zu begründen. 6.2 Der Weg vom Alttestamentler zum Assyriologen Eberhard Schrader gilt als Begründer der Assyriologie in Deutschland als einer neuen religions- und kulturwissenschaftlichen Disziplin, die sich einige Zeit nach der Etablierung gegenüber der alttestamentlichen Wissenschaft verselbstständigte. Dabei geriet sie in einen Diskurs mit christlich-theologischen Deutungsmustern des Alten Testamentes sowie der Geschichte Israels.303 Der Prozess der Entstehung der Assyriologie in Deutschland als einer Fachdisziplin fand vor einem völlig anderen Hintergrund als in England oder Frankreich statt. 1845 hatte der französische Konsul Emil Botta in Khosabad die umfangreichen Inschriften gefunden, die die Residenz des Assyrerkönigs Sargon II. schmückten. Mit der simultanen Entzifferung einer Inschrift Tiglatpilesers I. durch Sir Henry Creswicke 300 A. KUENEN, Übersicht über den Fortgang der Pentateuchkritik seit Bleeks Tode, in: F. BLEEK, Einleitung in das Alte Testament, 153–169. 301 Ebd., 168. 302 W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung (1817), VI. 303 R. G. LEHMANN, Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit, Göttingen 1994, 31. Zur Geschichte der Assyriologie vgl. insbesondere C. W. MEAD, Road to Babylon, Leiden 1974, sowie die Literaturhinweise bei R. G. LEHMANN, Friedrich Delitzsch, und bei K. JOHANNING, Der Bibel-Babel-Streit, Frankfurt a. M. 1988.

6. Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei E. Schrader

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Rawlinson, Edward Hincks, William Fox Talbot und Jules Oppert im Jahr 1857 konnte die Assyriologie in England als wissenschaftlich beglaubigt gelten. Die deutsche Wissenschaft konnte sich zwar auf den Göttinger Gelehrten Georg Friedrich Grotefend (1775–1863) beziehen, der 1802 die ersten Keilschriftzeichen entzifferte, hatte aber an der eigentlichen Entzifferung der assyrisch-babylonischen Keilschrift keinen Anteil. Der Berliner Arabist Justus Olshausen (1800–1882) versuchte mit zwei Vorträgen vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin am 5. Dezember 1861 und am 11. Mai 1863 die Skepsis gegenüber der Forschung von Hincks, Rawlinson, Oppert und anderen zu beseitigen.304 Den entscheidenden Anstoß für die weitgehende Beseitigung der Zweifel daran, ob die Keilinschrift als entziffert zu gelten habe, gab Eberhard Schrader mit seinem methodologisch bahnbrechenden Aufsatz zur Basis der Entzifferung der assyrisch-babylonischen Keilinschriften, den er 1869 veröffentlichte, und der als klassischer Text der frühen deutschen Assyriologie gilt.305 1872 wird Schrader von der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft beauftragt, „eine erneute und erweiterte Untersuchung der Grundlagen der Entzifferung der dritten Keilschriftgattung vorzunehmen unter gleichzeitiger Berücksichtigung und Entscheidung der wichtigsten in Betracht kommenden Differenzen der Entzifferer, um so eine Einsicht in das Maß der schon jetzt zu erreichenden Gewißheit zu ermöglichen, bzw. die schon gewonnene zu verstärken“306.

6.2.1 Religionsgeschichtliches Verständnis des Alten Testaments In seinem 1872 erschienenen Hauptwerk über die Keilinschriften und das Alte Testament307 listet Schrader sämtliche damals bekannten philologischen Parallelen zwischen der assyrisch-babylonischen Literatur und dem Alten Testament auf. Heinrich Zimmern kennzeichnet Form, Inhalt und wissenschaftlichen Wert des Werkes von Schrader mit den Worten: „In praktisch angelegter, bequem zu benutzender Form hat Schrader hier in fortlaufendem engen Anschluss an die einzelnen Bücher und Kapitel des Alten Testaments all das niedergelegt, was im damaligen Zeitpunkt an 304 J. OLSHAUSEN, Prüfung des Charakters der in den assyrischen Keilinschriften enthaltenen semitischen Sprache, Berlin 1864. Vgl. dazu auch: E. SCHRADER, Gedächtnisrede auf Justus Olshausen, Berlin 1883. 305 E. SCHRADER, Die Basis der Entzifferung der assyrisch-babylonischen Keilinschriften, in: ZDMG 23 (1869), 337–374. 306 E. SCHRADER, Die assyrisch-babylonischen Keilinschriften, in: ZDMG 26 (1872), 2. 307 E. SCHRADER, Die Keilinschriften und das Alte Testament, Gießen 1872.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Bemerkenswertem aus den Keilinschriften für das Alte Testament beizubringen war. Als besonders willkommen wurde es allseitig empfunden, daß er darin die für die Geschichte Israels hauptsächlich in Betracht kommenden Partien der assyrischen Königsinschriften in ihrem vollständigen Wortlaute in Umschrift und Übersetzung nebst sprachlichen Erläuterungen und Glossar mitteilte, und daß er durch chronologische Beilagen, wie den assyrischen Regentenkanon und die assyrischen Verwaltungslisten, den urkundlichen Charakter des Buches noch erhöhte.“308

Schraders Ziel ist es, dadurch die Grundvoraussetzungen für weitere historische und religionsgeschichtliche Untersuchungen des Alten Testamentes zu schaffen. „Die Entzifferung der assyrisch-babylonischen ist in ihren Grundlagen untersucht und controlirt ... Unsere bisherigen Ansichten von dem Verlauf der Geschichte des Orients in der vorachämenidischen Zeit werden vielfach modificirt, theilweise von oberst zu unterst gekehrt. Eine Reihe ganz ungeahnter Ergebnisse haben sich dem Forscher dargeboten. Es ist begreiflich, dass der Löwenantheil dieser Entdeckungen dem Alten Testament zufällt; eine Verwerthung der Ergebnisse der Keilschriftenentzifferung für dasselbe hat zu beginnen.“309

Schrader führt aus, dass es zunächst nur darum geht, die Keilschriftenentzifferung weitergehend zu erforschen. Er betont – und dies macht seinen wissenschaftstheoretischen Ansatz erkennbar –, dass eine Auswertung der Ergebnisse der Keilschriftenentzifferung „nun aber nicht in der Weise in’s Werk zu setzen“ ist, „dass man dem nach Neuigkeiten lüsternen Publikum sofort elegante Aufrisse der assyrisch-israelitischen Geschichte vorlegt: vielmehr sind zuvörderst die Bausteine selber zusammenzutragen, aus denen dann später ein haltbares Gebäude sich aufführen läßt; diese Bausteine aber sind des Sorgfältigsten zu behauen und in Hinsicht auf ihre Solidität gründlich zu untersuchen.“310

Neben vielen erwähnenswerten philologischen Beobachtungen kommt Schrader zu dem Ergebnis, dass die widersprüchliche alttestamentliche Chronologie mit Hilfe der zuverlässigeren assyrisch-babylonischen Geschichtsdaten zu korrigieren sei.311 Diese Arbeit Schraders mit ihren wissenschaftstheoretischen Implikationen kann als erstes klassisches Dokument einer kritischen Historisierung der alttestamentlichen Überlieferung bezeichnet werden, die durch religionsgeschichtlichen Ver308 309 310 311

H. ZIMMERN, Worte zum Gedächtnis, 198. E. SCHRADER, Die Keilinschriften und das Alte Testament, IIIf. Ebd., IIIf. Vgl. dazu E. SCHRADER, Keilinschriften und Geschichtsforschung, Gießen 1878, 292ff.

6. Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei E. Schrader

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gleich und kulturhistorische Kontextualisierung die vielfältigen Parallelen zwischen der religiösen Literatur Israels und der seiner Umwelt sowie die Abhängigkeiten alttestamentlicher Texte von älteren babylonischen Quellen aufweisen will. Von religionsgeschichtlich orientierten Alttestamentlern und Semitisten wurde die Arbeit Schraders einerseits als das Standardwerk über genetische Zusammenhänge zwischen der ‚Ur‘-Religion der Babylonier und der deutlich jüngeren Religion Israels rezipiert. Andererseits wurde diese Arbeit in konservativen Kreisen zunächst als Werk objektiver historischer Apologetik zur Widerlegung der literarkritischen Historisierung der alttestamentlichen Überlieferung angesehen, wie sie vor allem durch Julius Wellhausen und seine Schüler betrieben wurde.312 6.2.2 Der Diskurs um die Wissenschaftlichkeit der Assyriologie Nachdem Schrader am 14. Juni 1875 zum Ordinarius für semitische Sprachen in der philosophischen Fakultät in Berlin und zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften ernannt worden war, war die Assyriologie als neue Wissenschaft anerkannt, aber auch umstritten. Ein Jahr nach dem Wechsel Schraders von Jena nach Berlin veröffentlichte Alfred Freiherr von Gutschmid (1831–1887) eine Streitschrift, in der er nicht nur massive Einwände gegen Methoden und Forschungsstrategien der als Wissenschaft jungen Assyriologie formulierte, sondern auch Eberhard Schrader als Begründer der Assyriologie in Deutschland persönlich scharf anging.313 Die Sachkritik Gutschmids konzentrierte sich vor allem auf die bekannte Tatsache, dass die ersten Entzifferungen von Keilschriften noch vielfältige Fehler und Widersprüche aufwiesen, und dass die Lesung der größtenteils ideographisch geschriebenen Götter- und Personennamen sehr unsicher war. Gutschmid fasste seine Kritik zusammen mit den Worten: „Was ich an Schrader und an der von ihm vertretenen Richtung der Assyriologie zu tadeln finde, will ich zum Schluß kurz zusammenfassen: ich tadle, dass Entzifferung und Deutung des Entzifferten in einer Weise mit historischen Combinationen verquickt wird, dass die Sicherheit sowohl

312 J. WELLHAUSEN hatte mit seinem Werk „Prolegomena zur Geschichte Israels“ von 1878 für erhebliche Unruhe im konservativen Kirchenchristentum gesorgt. Vgl. dazu R. SMEND, Wellhausen in Greifswald, in: ZThK 78 (1981), 141–176. An die Keilschriftforschung war daher von Seiten konservativer Theologie zunächst die Erwartung geknüpft, dass das etwa bei WELLHAUSEN nur aus dem Alten Testament selbst gewonnene, als evolutionistisch verdächtigte Bild von der Geschichte Israels, widerlegt werden könnte, im Sinne einer „objektiven“ historischen Apologetik. 313 A. VON GUTSCHMID, Neue Beiträge zur Geschichte des Alten Orients, Berlin 1876.

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IV. Exegese und Hermeneutik

der Entzifferung als der historischen Combinationen darunter leidet ... ich tadle die Behandlung der geographischen Nomenclatur, die auf ungefähren Gleichklang hin in ganz autoschediatischer Weise gedeutet wird ... ich tadle den Mangel an Methode, der in der vorschnellen Aufstellung der ausgiebigen Verwendung kritisch verpönter Auskunftsmittel, wie der Polyonomie von Königen, der Homonymie von Ländern zu Tage tritt ... Schrader verdankt das Vertrauen, welches in weiten Kreisen seinen assyriologischen Arbeiten entgegengebracht worden ist, in erster Linie einem Rufe der Ehrlichkeit, welche die sicherste Garantie gegen jede Art von Schwindel geben wird; allein er besitzt eine Eigenschaft, welche bei der Enträthselung einer unbekannten Schrift und Sprache schlimmer ist als Schwindel: er ist Enthusiast.“314

Der Streit um die Wissenschaftlichkeit der Assyriologie hatte insofern eine besondere kulturpolitische Signatur, als er auch mit religionspolitischen Diskursen über die Legitimität religionsgeschichtlicher Forschung überhaupt verknüpft war.315 Die Kritiker der vergleichenden Religionsgeschichte sahen durch die kultur- und religionsgeschichtliche Erforschung der Umwelt des Alten Testamentes dessen kanonische Geltung innerhalb des Christentums bedroht. Die Befürworter vertraten das Pathos freier wissenschaftlicher Forschung und erhoben dabei Ansprüche, die das Gebiet methodisch kontrollierter Forschung weit transzendierten. Schrader beteiligt sich an diesem Diskurs und antwortet auf die kritischen Einwürfe 1878 mit seinem umfangreichen Werk „Keilinschriften und Geschichtsforschung“316, in dem er die Einwände von Gutschmid aus seiner Sicht wiedergibt und zurückweist. Aufschlussreich sind dabei seine fachlichen und wissenschaftstheoretischen Ausführungen zur Assyriologie als neuer Wissenschaftsdisziplin. Zunächst legt er die Grundlage der Kombination von Daten dar, die sich schlüssig und abgesichert aus der Keilinschriftforschung und den biblischen Texten ergibt. „Wir gewinnen also folgende Daten: a) nach den Inschriften lebte zur Zeit Salmanassers II ein Jahua, Sohn oder Nachfolger des Humri; zu gleicher Zeit lebte ein Hazael und ein Benhadar von Damaskus; weiter ein Ahabbu von Israel; b) nach der Bibel lebte zur Zeit Jehu’s von Nordisrael ein Hazael und ein Benhadad (Benhadar) von Damsk, endlich ein Ahab von Israel; 9. 314 Ebd., 141f. 315 G. HÜBINGER spricht in diesem Kontext von einem „innerprotestantischen Kulturkampf“. Vgl. Ders., Geschichte als leitende Orientierungsmacht im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), 149–158. Vgl. dazu auch F. W. GRAF, Art. Schrader, Eberhard, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp. 843–844. 316 E. SCHRADER, Keilinschriften und Geschichtsforschung. H. ZIMMERN sieht in diesem Werk den „Höhepunkt von Schraders wissenschaftlichen Leistungen“. Vgl. Ders., Worte zum Gedächtnis, 202.

6. Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei E. Schrader

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Jahrh. Die Assyriologen combiniren danach Ahab und Jehu von Israel mit dem Ahabbu und Jahua der Keilinschriften, sowie den Benhadad (Benhadar) und Hazael der Bibel mit dem Binidri und Hazailu des Obelisks. Und diese Combination soll nicht stichhaltig sein?“317

Einer der Hauptangriffspunkte von Gutschmid zielte auf die implizierten Wertsetzungen bei der Interpretation der Funde. Schrader weist seinerseits nach, dass sich „(a)uch auf den durchgearbeitetsten Wissenschaftsgebieten ... der Historiker eigener Prüfung und eigener Untersuchung der überlieferten Thatsachen“318 nicht entziehen kann, und dass damit immer Wertsetzungen verbunden sind. „Als ob es überhaupt irgend eine hierher gehörige Wissenschaft gäbe, in der es nicht vorkäme, daß in Derselben und über die allerwichtigsten Dinge, über reine Capitalfragen, die Meinungen der Fachmänner völlig voneinander differirten!“319

Es gilt also – so Schrader – in der noch jungen Wissenschaft der Assyriologie in Bezug auf die Frage nach dem Wert der Quellen so zu verfahren, dass von den unbestreitbaren Erkenntnissen und Plausibilitäten auszugehen ist320 und in denjenigen Fragen, wo zwischen Inschriften und biblischer Überlieferung Diskrepanzen auftreten, „nicht ohne Weiteres den Inschriften Recht“321 zu geben ist. Ein beredtes Beispiel, wie Schrader Inschriftenforschung und biblische Überlieferung aufeinander bezog, bietet seine Untersuchung zum Wahnsinn Nebukadnezars von 1871.322 In einer traditionsgeschichtlichen Analyse versucht er nachzuweisen, dass Daniel 4, 26–34 und der Abydenos-Bericht bzw. eine von Abydenos überlieferte chaldäische Sage unabhängig voneinander zu-

317 318 319 320

E. SCHRADER, Keilinschriften und Geschichtsforschung, 7. Ebd., 80f. Ebd., 81. „Es kann gewiß bezweifelt werden, ob das Usimurum der Inschriften Sanherib’s und Asarhaddon’s wirklich Samarien ist ... daß aber das auf den Inschriften TiglathPileser’s, Sargon’s und dann wieder Asurbanipal’s ... erwähnte Samaria das biblische Samarien ist, das unterliegt keinem Zweifel.“ Ebd., 86. 321 „Es liegt nicht in unserer Absicht, um jeden Preis etwaige Discrepanzen zwischen Bibel und Keilinschriften zu beseitigen, wohl gar zu vertuschen. Bietet sich die Lösung auf ungezwungene Weise dar, so wird ihr nicht aus dem Weg gegangen. Aber tausendmal lieber werde eine zu Tage tretende Incongruenz, zu deren Lösung das bis jetzt vorliegende Material nicht ausreicht, zugegeben, denn daß man sie gewaltsam verdecke, sei es daß man die Bibel modelt oder die Monumente zerbricht.“ Ebd., 93. 322 E. SCHRADER, Die Sage vom Wahnsinn Nebukadnezar’s, in: JPTh 7 (1881), 618–629.

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IV. Exegese und Hermeneutik

stande gekommene Ausgestaltungen derselben babylonischen Volkssage sind.323 Die Rezension des in Straßburg lehrenden Alttestamentlers Wolf Graf Baudissin (1847–1926) zu Schraders Werk über Keilinschriften und Geschichtsforschung, die im August 1879 erscheint, spiegelt die Wirkung und Rezeption der Arbeit von Schrader. Baudissin rückt noch einmal die zentrale Fragestellung in dem Diskurs um die Wissenschaftlichkeit der Assyriologie in den Mittelpunkt, und hebt die Wertsetzungen hervor, die der noch jungen Wissenschaftsdisziplin zu Grunde liegen. „Niemand wird in Abrede stellen können, daß die Erwiderung mit großer Gründlichkeit verfaßt ist ... und daß es dem Verfasser gelungen ist, in manchen Punkten jenem Angriffe gegenüber sein gutes Recht zu erweisen ... In mehreren Punkten dürften durch hier zuerst mitgetheilte neue Funde (ihre richtige Lesung vorausgesetzt) v. G.‘s [=von Gutschmids] Positionen unhaltbar geworden sein, woraus wir wieder entnehmen können, daß manche der zur Zeit berechtigten Zweifel es eben nur zur Zeit noch sind ... (S)o wird jetzt durch S.‘s Abwehr genugsam der Eindruck erweckt werden, daß die Assyriologie, wenn auch in sehr vielen Einzelheiten noch unsicher experimentierend, durch besonnene Kritik in ihrem Bestande nicht wirklich gefährdet werden kann. Was aber Gutschmid wirklich erweisen wollte, daß die Assyriologie in ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit dem Historiker nicht gestatte, ihre Lesungen ohne Vorbehalte zu verwerthen (mit ihren Resultaten wie mit Thatsachen zu rechnen), bleibt ... unwiderlegbar.“ 324

6.2.3 Die Grundlegung des Babel-Bibel-Streites325 bei Eberhard Schrader Der „Begründer der Assyriologie“326 kann auch als Begründer des Babel-Bibel-Streites bezeichnet werden, da einige der in diesem Streit Anfang des 20. Jahrhunderts debattierten Thesen von Schrader bereits in den siebziger Jahren in seiner Jenaer Zeit vertreten wurden. Der Streit entzündete sich an einer Reihe von Vorträgen, die der Assyriologe 323 Dass SCHRADER sich damit auf dem richtigen Weg befand, wurde später durch neue Textfunde bestätigt. Vgl. dazu W. VON SODEN, Eine babylonische Volksüberlieferung von Nabonid in den Danielerzählungen, in: ZAW 53 (1935), 81–89. 324 W. GRAF BAUDISSIN, Rezension: Eberhard Schrader, Keilinschriften und Geschichtsforschung, in: ThLZ 4 (1879), 369–372, hier: 369. 325 Zur forschungsgeschichtlichen Erfassung und Einordnung des Bibel-Babel-Streites vgl. K. JOHANNING, Der Bibel-Babel-Streit; R. G. LEHMANN, Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit. 326 „Schrader, der Lehrer Friedrich Delitzschs, kann als Begründer der deutschen Assyriologie gelten.“ R. G. LEHMANN, Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit, 31.

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Friedrich Delitzsch (1850–1922, Schüler Eberhard Schraders und seit 1899 dessen Nachfolger als Ordinarius für semitische Philologie in Berlin sowie als Direktor der Vorderasiatischen Abteilung der Königlichen Museen, vom 13. Januar 1902 an in Anwesenheit des deutschen Kaisers Wilhelm II. vor der Deutschen Orient-Gesellschaft zum Thema „Babel und Bibel“ hielt.327 Die Vortragsreihe von Delitzsch provozierte eine religions- und kulturpolitische Kontroverse um das Verhältnis von Altem Testament und babylonischer Umwelt, sowie um den von Assyriologen erhobenen Anspruch, über eine deutlich größere Deutungskompetenz für alttestamentliche Texte zu verfügen als die alttestamentlichen Exegeten. Die zentralen Thesen, die Delitzsch in seinen Vorträgen vertrat, implizieren eine religionsgeschichtliche Einordnung des Alten Testaments. Es geht Delitzsch in seinem Vortrag nicht allein darum, zu verdeutlichen, „was die Ausgrabungen in Babylon-Assyrien für Geschichte und Fortschritt der Menschheit bedeuten“328, sondern er möchte gleichzeitig mit Hilfe der Assyriologie eine neue Einschätzung des Alten Testamentes durch die christliche Theologie und Kirche erreichen. Die enge Verbindung von Babel und Bibel werde „eine neue Epoche, wie im Verständnis, so in der Beurteilung des Alten Testaments“ 329 einleiten. Nicht nur Einzelheiten wie die Erkenntnis, dass Israel eines der jüngsten altorientalischen Kulturvölker gewesen sei, sondern auch „eine ganze Reihe biblischer Erzählungen“ träten „jetzt auf einmal in reinerer und ursprünglicherer Form aus der Nacht der babylonischen Schatzhügel ans Licht“330. So gebe es zur Sintfluterzählung mit dem Gilgameschepos ebenso eine keilinschriftliche Parallele bzw. Vorlage wie zum priesterschriftlichen Schöpfungsbericht. Die Religion Israels sei von der Religion Babylons abhängig und stelle in vielen Zügen deren Partikularisierung dar.

327 F. DELITZSCH wurde 1899 Nachfolger E. SCHRADERS in Berlin sowie Direktor der Vorderasiatischen Abteilung der Königlichen Museen. Am 13. Januar 1902 hielt er vor der Deutschen Orient-Gesellschaft einen Vortrag über „Babel und Bibel“ und initiierte damit den Babel-Bibel-Streit bzw. die Debatte über die Deutungskompetenz alttestamentlicher Texte. Vgl. die Ausführungen zur Person, zum Werk und theologiegeschichtlichen Ort von E. SCHRADER in Kapitel II., 59ff. Vgl. auch R. G. LEHMANN, Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit, 31–58; J. RENGER, Die Geschichte der Altorientalistik und der vorderasiatischen Archäologie in Berlin 1875– 1945, in: Berlin und die Antike, hg. v. W. ARENHÖVEL/CHR. SCHREIBER, Berlin 1979, 167–171. 328 F. DELITZSCH, Babel und Bibel, 3. 329 Ebd., 4. 330 Ebd., 29.

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IV. Exegese und Hermeneutik

In dem sich anschließenden Diskurs um die Vorträge von Friedrich Delitzsch ist einerseits aussagekräftig, worauf sich die Ablehnung dieses religionsgeschichtlichen Ansatzes bezieht. Es geht um die methodisch nicht abgesicherten religionsgeschichtlichen Verallgemeinerungen, aber nicht um die Bewertung der aufgefundenen orientalischen Quellen für die Erforschung des Alten Testaments. Anderserseits spiegelt sich in den Reaktionen die veränderte wissenschaftliche Lage wieder.331 Durch die Entdeckung der Armanatexte, des Codex Hammurabi und weiterer Funde tritt die Umwelt Israels deutlich vor Augen. Vieles, was bisher typisch alttestamentlich zu sein schien, ist nun in die wechselvolle Geschichte des alten Orients einzubetten und unter dem Gesichtspunkt differenzierter Rezeptionsvorgänge zu würdigen. Vor allem die Frühzeit Israels wurde dadurch anders als bisher beurteilt. Die im Babel-Bibel-Streit grundsätzlich aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis des Alten Testaments zur babylonischen Umwelt behandelt Schrader bereits 1872 in seinem Erstlingswerk über die Keilinschriften und insbesondere 1875 in einem Aufsatz zu dem Thema „Semitismus und Babylonismus“ in den von ihm mit herausgegebenen Jahrbüchern für protestantische Theologie. Schrader will in seiner Abhandlung den Zusammenhang der gesamten vorderasiatischen Kulturen und ihrer gegenseitigen Durchdringung aufzeigen. „Die Durchtränkung des ursemitischen Wesens mit den Elementen einer andersartigen Cultur im Stromgebiet des unteren Euphrat und Tigris ist der Schlüssel zum Verständniss ... der Beziehungen des Babylonismus zum Hebraismus.“332

Der Einfluss der babylonischen Kultur auf den Semitismus zeigt sich an der Übernahme der Jahres- und Wocheneinteilung, aber auch in der Abhängigkeit des biblischen Sintflutberichtes von einer babylonischen Vorlage.333 Schrader sieht seine Kernthese von einer Umwandlung des ursprünglichen Semitismus durch den Babylonismus bestätigt. „(D)er gesammte Nordsemitismus eingeschlossen den Hebraismus, ist durch das Anderssein des Babylonismus hindurch gegangen und hat sich nach seinem ihm eigenthümlichen und denselben von dem Arabismus un-

331 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung der Antworten der konservativen Bibelwissenschaft bei K. JOHANNING, Der Bibel-Babel-Streit, 85–136. 332 E. SCHRADER, Semitismus und Babylonismus, in: JPTh 1 (1875), 117–133, hier: 119f. 333 „Der specifisch hebräische Parallelismus der Versglieder, die strophische Anlage der Gesänge sind babylonischen Ursprungs.“ Ebd., 123. „Die Entdeckung des babylonischen Sintfluthberichtes mit seiner ganz analogen Motivirung des Gottesgerichts durch den Hinweis auf die Verderbtheit der Menschheit ... lässt über den babylonischen Ursprung dieser Sage ... gar keinen Zweifel.“ Ebd., 124.

6. Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Exegese bei E. Schrader

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terscheidenden Charakter, was Anschauungs- und ganze Seinsweise betrifft, erst ausgebildet in Babylonien.“334

Allerdings sind die „specifisch alttestamentlichen religiösen Wahrheiten“335 wie der Monotheismus der Hebräer, die Idee der Heiligkeit Gottes und die Vorstellung von Gott als dem Erlöser Israels – und somit der eigentliche religiöse Gehalt –, als eine „Neutat“ Gottes, eine besondere „Offenbarung Gottes“ 336 an die Israeliten zu verstehen. Diese waren allerdings erst fähig die Offenbarung aufzunehmen, nachdem sie durch den Babylonismus geprägt worden waren. Es lässt sich somit eine genetische Verbindung zwischen dem Babylonismus und dem Semitismus nachweisen. „(I)n Babylon ward das Gefäss bereitet, in welches später der Inhalt ewiger Wahrheit gethan werden sollte.“ 337 6.3 Theologische Grundlage und Zielsetzung der religionsgeschichtlichen Exegese Es ist Schraders zentrales exegetisch-theologisches Anliegen, einen genetischen Zusammenhang zwischen der „Ur“-Religion der Babylonier und der jüngeren Religion Israels aufzuzeigen. Er will das Alte Testament in religionsgeschichtlichlicher Perspektive bzw. mit Hilfe der Methodik eines religionsgeschichtlichen Vergleichs exegesieren.338 Die historische Untersuchung und Einordnung des Alten Testaments wird bei Schrader in dezidiert theologischer Perspektive verfolgt, was ihn durchaus von seinem Schüler Friedrich Delitzsch und anderen Vertretern der zweiten Assyriologengeneration unterscheidet. 339 Schrader ist davon überzeugt, dass das Alte Testament durch die historische Kritik bzw. den Aufweis vielfältiger religionsgeschichtlicher Parallelen, Analogien und Dependenzen weder an religiösem Gehalt noch an Gegenwartsrelevanz für die christlichen Gemeinden verliert. Den religiösen

334 Ebd., 131. 335 Ebd., 131f. 336 „Ein fruchtbarerer Boden, ewige Wahrheiten zu Pflanzen, als den durch den Babylonismus hindurchgegangenen Semitismus lässt sich kaum denken ... Aber es bedurfte durchaus noch einer Neuthat Gottes, um diesen letzten Schritt zu tun und die uns in den Hymnen entgegentretenden religiösen Ideen von den Schlacken zu reinigen, welche ihnen noch anhafteten. Diese Neuthat, diese besondere Offenbarung Gottes ward erst Abraham und dem Volk Israel zu Theil, welches eben durch seinen Aufenthalt in Babylonien für die Aufnahme dieser göttlichen Offenbarungen seinerseits empfänglich gemacht.“ Ebd., 132f. 337 Ebd., 133. 338 E. SCHRADER, Semistismus und Babylonismus. 339 Vgl. F. W. GRAF, Art. Schrader, Eberhard, in: BBKL, Bd. 9 (1995), Sp. 839.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Gehalt des Alten Testaments und die besondere Bedeutung der Religion Israels sichert Schrader, wie auch Lipsius, Pfleiderer und Diestel, mit Hilfe des Offenbarungsbegriffs ab, insofern er die israelitische Religion als Offenbarungsreligion versteht, die dem Christentum vorläuft.340 Das theologische Interesse Schraders an den Beziehungen zwischen dem Alten Testament und dem Orient zeigt einen besonderen Konnex zu der von Otto Pfleiderer vertretenen Programmatik, in der freien kritischen Erforschung der außerchristlichen religiösen Überlieferung ein Mittel zu sehen, die Geltung der „absoluten“ christlichen Religion zu erweisen.341 In der religionsphilosophischen und darauf aufruhenden theologischen Konzeption Pfleiderers, historische Einzelforschung und spekulative Geschichtskonstruktion eng miteinander zu verzahnen, fand Schrader eine theologische Legitimation für seine assyriologischen und sonstigen altorientalischen Forschungen.

340 E. SCHRADER, Semitismus und Babylonismus, 133. 341 Zur religionsgeschichtlichen Verankerung der Theologie bei O. PFLEIDERER vgl. Kapitel III, 161–166. In seiner Theologiegeschichte würdigt PFLEIDERER SCHRADER als einen „gelehrten und dogmatisch unbefangenen Kenner des alten Testaments auf Grund exakter Quellenforschung“. Vgl. O. PFLEIDERER, Die Entwicklung, 339.

7. Zusammenfassung

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7. Zusammenfassung Die gemeinsamen Wurzeln der Exegese und Hermeneutik in der liberalen Jenaer Theologie liegen bei Johann S. Semler342 und Ferdinand Chr. Baur343. Semlers Begründung der allein am Literalsinn der Schrift orientierten historischen Exegese, der damit intendierten Einordnung der in den Texten bezeugten Ereignisse und Aussagen in ihren historischen Zusammenhang sowie der Feststellung ihrer zeitgeschichtlichen Bedingtheit, kann als grundlegender Ansatzpunkt und Forschungsimpuls für die liberale Jenaer Theologie bestimmt werden. Auch der zweite Ansatzpunkt deutet sich bereits bei Semler an, insofen für ihn die neutestamentlichen Texte Quellen sind, aus denen die Geschichte des Urchristentums mit ihrem Gegensatz von gesetzesstrenger judenchristlicher und freiheitlich gesonnener paulinischer Partei rekonstruiert werden kann. Diesen theologischen Gegensatz nimmt Ferdinand Chr. Baur auf und stellt mit seinem Verständnis einer von Parteien und Perioden bestimmten Geschichte des Urchristentums die Weichen für die exegetische Arbeit und die hermeneutischen Grundlagen in der liberalen Jenaer Theologie. Es gilt, den eigentümlichen Charakter, die Individualität, die ‚Tendenz‘ einer jeden Schrift zu ermitteln und diese in den Zusammenhang der Zeitverhältnisse einzuordnen. Dabei stellt sich das Verhältnis der Evangelien zueinander, darüber hinaus aber auch das aller übrigen Schriften des Neuen Testaments, als ein „natürlich entstandenes, aus einem innern Entwicklungsprincip hervorgegangenes“344 Verhältnis heraus. Es ist die im Anschluss an Semler, Baur aber

342 W. GASS referiert J. S. SEMLERS Kanonkritik und listet als deren Ergebnis, „die Gleichstellung beider Testamente, die principielle Gleichschätzung aller biblischen Bestandtheile, die buchmäßige Abschließung des Kanons, die Verkennung der Abstufungen innerhalb derselben, die Inspiration des Textes, die Identificirung von Schrift und Offenbarung“ auf. Vgl. W. GASS, Geschichte der protestantischen Dogmatik in ihrem Zusammenhange mit der Theologie überhaupt, Bd. 4, Berlin 1867, 26–67, hier: 46. Vgl. auch G. HORNIG, Wahrheit und Historisierung in Semlers kritischer Theologie, in: ThLZ 116 (1991), Sp. 722–730; O. KAISER, Johann Salomo Semler als Bahnbrecher der modernen Bibelwissenschaft, in: Von der Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments, 79–94; A. LÜDER, Historie und Dogmatik, 240–250. 343 Vgl. U. KÖPF, Die Theologischen Tübinger Schulen; W. G. KÜMMEL, Das Neue Testament, 155–258; E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 167–179; H. GRAF REVENTLOW, Epochen der Bibelauslegung, Bd. IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, 269–277; W. SCHMITHALS, Von der Tübinger zur Religionsgeschichtlichen Schule, in: 450 Jahre Evang. Theologie in Berlin, 309–331. 344 F. CHR. BAUR, Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien, Tübingen 1847, 71ff.

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IV. Exegese und Hermeneutik

auch Wilhelm M. L. de Wette345 gewonnene hermeneutische Grundüberzeugung in der liberalen Jenaer Theologie, dass man die Geschichte des Urchristentums ebenso wenig wie die israelitische Geschichte außerhalb der Analogie mit der Geschichte der übrigen Menschheit bzw. den anderen Religionen monolithisch stehen lassen kann. Auch die biblische Überlieferung muss als „eine geschichtliche Erscheinung in der Reihe mit anderen geschichtlichen Erscheinungen betrachtet, und ganz den Gesetzen historischer Untersuchung unterworfen“ 346 werden. Wie andere historisch-kritisch und religionsgeschichtlich arbeitende Exegeten, halten die Beteiligten die Geschichte für eine „Orientierungs-macht“347, die neues normatives Wissen zu generieren imstande ist. Damit verbunden ist die Aufnahme des Perfektibilitätsgedankens, der ausgehend von seiner Bestimmung bei Johann Salomo Semler, ein neues, dynamisches und zukunftsgerichtetes Element in die theologische Geschichtsbetrachtung brachte.348 Die Epoche des Anfangs kann nicht als das Zeitalter der Vollkommenheit gelten, weil das Christentum eine entwicklungsfähige Größe darstellt, die ihren Inhalt erst in einem Geschichtsprozess entfaltet. Das historische Christentum ist nicht perfekt, aber perfektibel. Damit ist impliziert, dass Gottes Offenbarung nicht nur auf vergangene geschichtliche Heilsereignisse beschränkt und mit ihnen endgültig abgeschlossen, sondern vielmehr als ein fortlaufender geschichtlicher Prozess zu denken ist. Der Perfektibilitätsgedanke hat in verschiedenen Gestalten und Ausformungen in der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts gewirkt.349 Eduard Zeller hatte 345 Vgl. R. SMEND, De Wette und das Verhältnis zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System im 19. Jahrhundert, in: ThZ 14 (1958), 107–119; Ders., Wilhelm Martin Lebrecht de Wette, in: Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, 38–52; Ders., Über die Epochen der Bibelkritik, in: Bibel und Wissenschaft, 29–50. 346 W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung (1817), §. 4. 347 G. HÜBINGER, Geschichte als leitende Orientierungsmacht im 19. Jahrhunderts, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), 149–158. 348 J. S. SEMLER, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I, Halle 1771, 122. Zu beachten bleibt allerdings, dass SEMLER den in Anlehnung an den französischen Sprachgebrauch (DIDEROT, ROUSSEAU, VOLTAIRE) gebildeten Begriff der Perfektibilität nicht verwendet. Er spricht stattdessen von einem unendlichen geschichtlichen Wachstum und von einer Entwicklung zu höchster Vollkommenheit. Als theologischer Fachterminus hat der Begriff ‚Perfektibilität‘ durch die von W. T. KRUG (17701842) 1795 veröffentlichten „Briefe über die Perfektibilität der geoffenbarten Religion“ Verbreitung gefunden. Zur Genese der Perfektibilitätsfrage vgl. W. ELERT, Der Kampf um das Christentum, § 24; G. HORNIG, Der Perfektibilitätsgedanke bei J. S. Semler, in: ZThK 72 (1975), 381–397. 349 Wo man der Überzeugung war, dass der gesamte geistige Entwicklungsprozess von Gott geleitet und vorangetrieben wird, konnte der Perfektibilitätsgedanke auch zur

7. Zusammenfassung

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1842 in einem Aufsatz über die Annahme einer Perfektibilität des Christentums die Auffassung vertreten, dass die Vervollkommnung des Christentums, die Semler als geschichtlichen Prozess erwartet hatte, darin bestehe, „dass der moralische Inhalt der christlichen Lehre immer reiner herausgearbeitet“ wird, während gleichzeitig zeitgeschichtlich bedingte Einkleidungen „immer vollständiger abgestreift“ werden.350 In der liberalen Theologie in Jena wird dieser Gedanke Zellers dahingehend aufgenommen und gewendet, dass die historische Forschung in Bezug auf die biblische Überlieferung den konstruktiven Sinn hat, zwischen Vergänglichem und Bleibendem zu unterscheiden, und gerade so den zeitübergreifenden religiösen Kern der alt- und neutestamentlichen Überlieferungen freizulegen. Die Jenaer Theologen begreifen ihre Form der historisch-kritischen Exegese als in die Gesamtentwicklung der nachreformatorischen protestantischen Theologie eingebunden, so wie Semler den historischkritischer Neuansatz seiner exegetischen Arbeit als eine traditionsbewusste Umformung des älteren Protestantismus verstanden wissen wollte. Darin gehen die Jenaer Theologen auch mit Martin L. de Wette überein, der die Rückbindung der kritischen Historisierung der biblischen Texte an das Reformationsgeschehen bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorgenommen hatte. „Die Lehren vom Kanon und von der Inspiration und hiermit das ganze Gebäude der protestantischen Dogmatik wurden heftig erschüttert … Die Bibel ward den bei den andern alten Schriftstellern erprobten Auslegungsgrundsätzen unterworfen, und dadurch mehr in ein menschlich geschichtliches Licht gestellt, und eine rein historische Forschung … eingeleitet. Dieses alles können wir bloß als eine Fortsetzung des Reformationswerkes ansehen.“351

Insbesondere Ludwig Diestel setzt einen Forschungsschwerpunkt seiner Arbeit darin, Semlers historisch-kritische Exegese und dessen Hermeneutik aus der Entwicklung der protestantischen Theologie heraus zu erklären. Er will nachweisen, dass Semler der Ahnherr der im 19.

Untermauerung der Synthesen von evangelischer Theologie und idealistischer Philosophie verwandt werden. K.-G. BRETSCHNEIDER bietet eine entsprechende Deutung in seinem Handbuch der Dogmatik. „Die Eigenschaft der christlichen Religion, oder vielmehr des Systems ihrer Glaubenslehre, nach welcher sie zu einem mit den Fortschritten der Philosophie einstimmigen Sinn gedeutet werden kann, nannte man die Perfectibilität des Christentums.“ Ders., Handbuch der Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche I (1814), Leipzig ³1828, 73. 350 E. ZELLER, Die Annahme einer Perfektibilität des Christentums, in: ThJb(T) 1 (1842), 14. 351 W. M. L. DE WETTE, Über Religion und Theologie, 119.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Jahrhundert und auch in der liberalen Jenaer Theologie voll ausgebildeten historisch-kritischen Exegese der Bibel ist.352 Dabei registriert er bereits bei Semler den Versuch, die alttestamentlichen Bücher primär als Zeugnisse der sich entwickelnden Religion Israels zu verstehen. Dies wird in der liberalen Jenaer Theologie ein zentraler Grundsatz der Einleitungswissenschaft. In der Exegese des Neuen wie des Alten Testaments wird zunächst eine konsequente historische Erfassung des Ursprungs des Christentums und seiner Schriften betont, das gilt auch für die Urkunden der Religion Israels und des Judentums. „Für die Erforschung einzelner geschichtlicher Thatsachen als solche gelten keine anderen Gesetze wie für alle Geschichtsforschung überhaupt; und auch für die heilige Geschichte kann keine Ausnahme gemacht werden.“353

Signifikant für die Exegese in der liberalen Jenaer Theologie ist dann aber die Verschränkung von historischer Einzelforschung und spekulativer Geschichtskonstruktion, wobei die Beteiligten in Bezug auf diese Verschränkung in ihren Ansätzen nicht vollständig konvergieren. Dies ist u.a. auf die bipolare Einflussnahme der Religionsphilosophien von Kant, Schleiermacher und Hegel auf die Exegese der liberalen Jenaer Theologen zu erklären bzw. auf deren Versuch, eine in ihren Augen eher analytisch-kritische religionsphilosophische Schule (Lessing, Kant Schleiermacher) mit einer eher historisch-synthetischen (Herder, Schelling, Hegel) zu verbinden.354 Die Reduktion historischer Komplexität durch Ideengeschichte und die Annahme der Parteiengegensätze in den neutestamentlichen Schriften, lassen die Kontinuität zu Baurs und Hegels Geschichtsmetaphysik erkennen. Um in der unendlichen Totalität des historisch Individuellen eine Einheit der Geschichte erschließen zu können, muss von geistigen Triebkräften als zentralen Bewegungsfaktoren geschichtlichen Wandels ausgegangen werden, und das impliziert, dass Geschichte von Ideen bestimmt wird. Die Historiker bzw. die Exegeten filtern diese Ideen aus den Schriften heraus und rekonstruieren die innere, vernunftnotwendige Entwicklung. Dabei verfolgen sie das Ziel, eine synthetische Gesamtschau zu liefern, welche die Integration des vielen Einzelnen in einen übergreifenden Entwick352 L. DIESTEL, Zur Würdigung Semler’s, in: JDTh 12 (1867), 471–498. Vgl. auch Ders., Geschichte des Alten Testamentes, 601–624. 353 R. A. LIPSIUS, Die Bedeutung des Historischen, 137. 354 „Vor diesen beiden Abwegen der großen ... Schulen wird unsere Wissenschaft sich zu hüten haben; aber behalten und immer mehr lernen wird sie von Schleiermacher die Feinheit der psychologischen Beobachtung und die Schärfe der dialektischen Analyse, von Hegel die Freiheit der geschichtlichen Beobachtung und die Produktivität der spekulativen Synthese.“ O. PFLEIDERER, Die deutsche Religionsphilosophie, 19f.

7. Zusammenfassung

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lungszusammenhang ermöglicht. Gegenüber der Einflussnahme Hegelscher und Baurscher Geschichtsmetaphysik auf die Exegese wird die Einflussnahme der Kantischen Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie in der klaren Präferenz der literarhistorischen Fragestellungen erkennbar, die als korrektiv gegenüber der Baurschen Tendenzkritik und der damit verbundenen Annahme überempirischer und überindividueller Ideen-Zusammenhänge in den biblischen Schriften verstanden wird. Zudem wird in der erkenntnistheoretischen und religionsphilosophischen Tradition Kants die radikale Forderung der Historisierung der Geschichte des Christentums und seiner Schriften betont, wie auch die Überzeugung, dass aus ihr keine unmittelbaren religiösen Folgen hervorgehen können, da die historische Rückfrage nicht den christlichen Glauben bewirken kann. Hier steht insbesondere bei Lipsius die Unterscheidung zwischen historischem Glauben und Vernunftglauben bei Kant im Hintergrund.355 Die exegetische Arbeit zum Neuen Testament ist in erster Linie auf die Weiterführung und Ausdifferenzierung der Theorie Baurs von der Genese des frühen Christentums konzentriert, womit vor allem literarkritische Untersuchungen verbunden sind. Dabei lässt sich in den verschiedenen Arbeiten von Lipsius, Pfleiderer und Hilgenfeld als Konvergenzlinie die grundsätzliche Annahme des Urchristentums als eines von unterschiedlichen Parteien geprägten Phänomens ausmachen. In Abgrenzung von Baur wird eine größere Nähe zwischen Paulus und den Uraposteln angenommen, und damit eine Begrenzung der ‚Tendenzkritik‘ vollzogen. Der gemeinsame Ertrag der Erforschung der urchristlichen Geschichte liegt darin, dass den Auseinandersetzungen mit der Gnosis entscheidende Bedeutung beigemessen wird, ausgehend davon, dass besonders im Johannesevangelium eine erreichte und dokumentierte Einigung der divergierenden Tendenzen gesehen wird. Nicht das Auseinandergehen und die spätere Vermittlung von Heidenund Judenchristentum ist das Ergebnis der Geschichte des Urchristentums, sondern – so Lipsius, Pfleiderer und Hilgenfeld übereinstimmend – die Überwindung der Gnosis. So ist bereits im Römerbrief eine irenische Tendenz erkennbar, die aus dem Selbsterhaltungsstreben des Heidenchristentums hervorgegeangen ist, und später in den Pastoralbriefen ihren klarsten Ausdruck gefunden hat. Otto Pfleiderer hat die 355 Für I. KANT kann der historische Glaube, der sich auf Offenbarungsurkunden beruft, grundsätzlich nur ein Mittel zur Beförderung des reinen Vernunftglaubens sein. Vgl. Ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, ²1794, Werkausgabe Bd. VII, 148. Zu KANTS Hermeneutik der Bibel vgl. O. KAISER, Kants Anweisungen zur Auslegung der Bibel, in: Von der Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments, 47–59.

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IV. Exegese und Hermeneutik

gewonnenen religionsgeschichtlichen Erkenntnisse dazu verwendet, das Urchristentum als Ergebnis einer Genese im Zusammenhang der Religionen seiner Zeit darzustellen. „Kann ich ... ebensowenig der Ritschl’schen Ansicht vom Urchristentum beipflichten als die Baur’sche festhalten, so scheint mir nur noch eine Möglichkeit offen zu bleiben ... Da die heidenchristliche Weltkirche durch die paulinische Christusverkündigung auf einem durch den vorchristlichen Hellenismus längst vorbereiteten Boden gepflanzt worden ist, so waren eben dieser Hellenismus und jene Christusverkündigung die beiden Faktoren, aus deren Verbindung die Eigenart des Heidenchristentums von seiner Entstehung an sich natürlich erklärt, und aus deren wechselseitigen Verhältnis der Durchdringung oder Sonderung, der Über- oder Unterordnung des einen oder anderen Faktors die verschiedenen Entwicklungsformen der urchristlichen und altkirchlichen Lehrweise sich völlig ungezwungen begreifen lassen.“356

In dem von David Friedrich Strauss eröffneten Diskurs zur Leben-JesuForschung357 fordern die Jenaer Theologen übereinstimmend eine radikale Historisierung der Botschaft und des Lebens Jesu. Lipsius weist dezidiert auf die Zeitgebundenheit der historischen Person Jesus von Nazareth hin, wie darauf, dass zur Erkenntnis der religiösen Bedeutung der Person Jesu das testimonium spiritus sancti internum von konstitutiver Bedeutung sei. Allerdings betont er auch, dass der Eindruck der Persönlichkeit Jesu „in der That ein über allen Vergleich gewaltiger“ gewesen sein muss, „wenn sich die nachfolgende geschichtliche Entwickelung soll begreifen lassen“358. Mit seiner Rede von der besonderen Persönlichkeit Jesu und dessen Selbstbewusstsein sowie der Würdigung des geschichtlichen Lebens Jesu als Ursprung des christlichen Glaubens, geht Lipsius mit Ritschl überein, grenzt sich aber von dessen Versuch ab, aus der Persönlichkeit Jesu und seiner kirchenstiftenden Erlösertätigkeit eine absolute Wahrheit des christlichen Glaubens herzuleiten. Gegenüber Alois E. Biedermann hingegen erhebt er den Vorwurf, dass dieser die Person Jesu Christi nicht zureichend als Voraussetzung des christlichen Glaubens verstehe, und damit an die

356 O. PFLEIDERER, Das Urchristenthum, ²1902, 175. 357 D. F. STRAUSS, Das Leben Jesu, 2 Bde., Tübingen 1835/36. Vgl. dazu O. PFLEIDERER, Entwicklung, 257–270. „Seit dem Fragmentenstreit hat nichts die deutsche Theologie so heftig erregt wie der Streit um das Leben Jesu von Strauß.“ E. HIRSCH, Geschichte der neuern evangelischen Theologie V (41968), 503–518, hier: 503. Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung vgl. W. G. KÜMMEL, Das Neue Testament, 147–176; H. GRAF REVENTLOW, Epochen der Bibelauslegung, Bd. IV, 240–255. 358 Brief an A. HILGENFELD vom 20. Mai 1855, veröffentlicht in: H. PÖLCHER, Adolf Hilgenfeld, Teil IV, 157.

7. Zusammenfassung

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Stelle Jesu ein christliches Prinzip trete, dass dann lediglich in der Person Jesu verwirklicht sei. Otto Pfleiderer führt aus, dass die Verkündigung Jesu als prophetische Botschaft zu verstehen sei, die zusammen mit Jesu Verhalten als urbildliche Kraft gewirkt habe. Er hebt besonders pointiert gegenüber Albrecht Ritschl hervor, dass Jesus weder der Stifter des Christentums und der Kirche gewesen sei, noch als eine absolute Persönlichkeit gegenüber der übrigen Religionsgeschichte prinzipiell verselbstständigt werden könne, um dem Glauben eine Erkenntnissphäre sui generis zu sichern. Für die historische Forschung sei Jesus ein Jude, der eine sublimierte Gestalt spätjüdischer Frömmigkeit gelebt habe. Das Neue der Verkündigung Jesu besteht für Pfleiderer in der Vertiefung des religiösen Bewusstseins bis zur unbedingten Abhängigkeit des ganzen Menschen vom gnädigen Vatergott. Erst Paulus und der Paulinismus markieren den Anfang des Christentums, da sie die Orientalismen und zeitbedingten Ideen der Verkündigung Jesu abstreifen und damit eine Objektivierung der innerlichen Religion Jesu ermöglichen. Von diesen aufgezeigten Differenzen abgesehen, ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die in Bezug auf das Theologieverständnis und die systematisch-theologischen Fragestellungen dargestellten Divergenzen zwischen Ritschl, seinen Schülern und den liberalen Jenaer Theologen, sich nicht in gleicher Weise auf die Exegese erstrecken. Nicht zuletzt gilt Ludwig Diestel auch Albrecht Ritschl als Gewährsmann für die alttestamentliche Exegese.359 Die Exegese des Alten Testaments basiert auf den von Ludwig Diestel festgesetzten Prinzipien, dem „nationalen“, dem „philosophisch-historisierenden“ und dem „religiösen Prinzip“, und ist damit historio-graphisch, philosophisch und religiös ausgerichtet. Mit Hilfe des nationalen Prinzips kann der besondere „weltgeschichtliche Wert“ Israels herausgearbeitet werden. Das philosophisch-historische Prinzip dient der Erkenntnis der „geschichtliche(n) Entwicklung im Einzelnen wie im Ganzen“ und das religiöse Prinzip zielt auf ein Verständnis des religiösen Offenbarungsgehaltes der biblischen Texte. 360 Die literarhistorischen Studien von Adalbert Merx und Eberhard Schrader zum Pentateuch, zur Urgeschichte, zum Esrabuch und zum Joelbuch zeigen, dass ihre Zielsetzung der historischen Kritik der Bibel anschliesst an Martin L. de Wette‘s Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung von 1817, in dem dieser die Erfassung „der Erscheinungen der biblischen 359 Vgl. A. JEPSEN, Ludwig Diestel als Greifswalder Theologe; E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 158f. 360 L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 778f.

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IV. Exegese und Hermeneutik

Litteratur in ihren ächt geschichtlichen Erscheinungen und Eigenthümlichkeiten“361 als Ziel historisch-kritischer Exegese bestimmt hatte. In der Methodik sowie im Ertrag konvergiert die alttestamentlichen Exegese in der liberalen Jenaer Theologie in zentralen Punkten mit den Arbeiten von Eduard Reuss, Karl Heinrich Graf, Abraham Kuenen und Julius Wellhausen. Sieht man die Frage nach der geschichtlichen Stellung des mosaischen Gesetzes als den Angelpunkt der historischkritischen Forschung in der alttestamentlichen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts an, so sind Merx und Schrader am zentralen Wendepunkt der Forschung positioniert, an dem festgestellt wurde, dass die Priesterschrift nicht älter sondern jünger ist als das Deuteronomium. Diese durch Karl Heinrich Graf in seinem Werk über die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments von 1866 aufgestellte Hypothese wurde durch Abraham Kuenen entscheidend modifiziert. 362 Adalbert Merx hatte in seinen Veröffentlichungen zur Pentateuchkritik bereits 1865 angedeutet, dass die Priesterschrift mitsamt den in ihr enthaltenen Zeremonialbestimmungen jünger sei als das Deuteronomium.363 Eberhard Schrader wirkte mit seiner Überarbeitung des Lehrbuches von Wilhem Martin L. de Wette an dieser forschungsgeschichtlichen Wende ebenso mit, obwohl seine Ergebnisse zur Pentateuchforschung durch den epochemachenden Einschnitt der Arbeit von Julius Wellhausen und seiner Anwendung der sogenannten neueren Urkundenhypothese auf die Geschichte Israels überlagert wurden. Auch die literarischen Studien von Karl Adolf Siegfried364 geben zu erkennen, dass er in seiner

361 W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung (1817), VI (Vorrede). 362 Vgl. F. BLEEK, Einleitung in das Alte Testament, hg. v. J. WELLHAUSEN (61893), 607ff; R. SMEND, Über die Epochen der Bibelkritik, in: Ders., Bibel und Wissenschaft, 29–50. 363 A. MERX, Aphoristische Bemerkungen, in: PKZ 17 (1865), 377–388. 364 Seine Dissertation von 1859 mit dem Thema „De sacrificiorum Hebraeorum, Graecorum, Romanorum et originis et rituum similitudine“ ist dem komparatistischen Ansatz der vergleichenden Religionsgeschichte verpflichtet und spiegelt den Versuch, die Fokussierung der Forschung auf den alttestamentlichen Kanon zu überwinden, ohne durch eine historische Relativierung die theologische Betrachtung und Normativität des Alten Testaments aufzugeben. Signifikant für seine exegetischen Prinzipien und hermeneutischen Grundlagen sind die folgenden Arbeiten: K. A. SIEGFRIED, Spinoza als Kritiker und Ausleger des Alten Testaments, Berlin 1867; Ders., Rezension: August Kayser, Das vorexilische Buch der Urgeschichte Israels und seine Erweiterungen, in: ZwTh 18 (1875), 585–587; Ders., Die theologische und historische Betrachtungsweise des A. T.‘s, in: Zeitschrift für praktische Theologie 12 (1890), 97–120. Herausragend ist die Zusammenfassung seiner Philo-Studien. Vgl. dazu K. A. SIEGFRIED, Philo von Alexandria als Ausleger des Alten Testaments, Jena 1875. Das Buch gilt als bahnbrechende Untersuchung zum Spätjudentum und Helle-

7. Zusammenfassung

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exegetisch-theologischen Ausrichtung „im wesentlichen ein Anhänger der nach Reuß, Graf, Kayser, Wellhausen benannten historischkritischen Schule“365 war. Neben der Pentateuchforschung setzen die literarhistorischen Untersuchungen zur jüdischen Apokalyptik von Adolf Hilgenfeld und zur Prophetie des Joel von Adalbert Merx forschungsgeschichtliche Akzente. Beide plausibilisieren in ihren Untersuchungen eine Frühdatierung des Joelbuches gegenüber der bis dahin dominierenden Überzeugung, der Prophet Joel sei als ältester Schriftprophet in einem Zeitfenster von 870–840 v. Chr. zu verorten.366 Die eigenständige Prägung der liberalen Jenaer Theologie kristallisiert sich insbesondere in der Verhältnisbestimmung von Geschichte und Offenbarung heraus. Die Beteiligten treiben gemeinsam die historische Einordnung der alttestamentlichen Überlieferungen durch ihre literarkritische und religionsgeschichtlich orientierte Exegese voran. Zugleich betonen sie allerdings die bleibende theologische Bedeutung des Alten Testaments bzw. sind von der theologisch normativen Leistungskraft historisch-kritischer Exegese überzeugt. Historische und theologische Auslegung, der religiöse und historische Wert eines Textes, dürfen nicht wie unversöhnliche Gegensätze betrachtet, sondern müssen wechselseitig aufeinander bezogen werden. Sowohl im Interesse der Wissenschaft, als auch um der legitimen religiösen Bedürfnisse der Kirche und des einzelnen Gläubigen willen, muss eine konstruktive Verhältnisbestimmung vorgenommen werden. Selbst der konsequenteste Historiker, der in den alttestamentlichen Schriften ausschließlich Produkte des menschlichen Geistes sieht, kann nicht negieren, dass diese Texte nur wegen der ihnen im Judentum und im Christentum zuerkannten religiösen Bedeutung tradiert worden sind. Insofern muss die historische Grundeinsicht, dass alles Wissen geschichtlich vermittelt ist, auch auf den kritischen Umgang des Historikers mit den Quellen angewandt und zugestanden werden. Die theologische Betrachtung hat ein historisches Recht, da die Schriften Alten und Neuen Testaments Grundlagen der jüdischen und christlichen Religion respektive ihrer Entwicklung sind. Da die Theologie „doch eben die Wissenschaft der Religion ist, so wird man dem Inhalte dieser Bücher ohne eine theo-

nismus sowie zum antiken religionsgeschichtlichen Synkretismus, und belegt die religionsgeschichtliche Ausrichtung der Exegese bei K. A. SIEGFRIED. 365 B. BAENTSCH, Siegfried, Karl Adolf, in: ³RE, Bd. 28 (1906), 320–323, hier: 323. Vgl. auch Ders., Zum Gedächtnis Karl Siegfried’s, in: ZwTh 46 (1903), 580–589. 366 Vgl. dazu die Ausführungen zur Joel-Exegese bei A. MERX in Kapitel IV, 268ff., und zur jüdischen Apokalyptik als Vorgeschichte des Christentums bei A. HILGENFLED in Kapitel IV, 240–243.

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IV. Exegese und Hermeneutik

logische Betrachtung derselben nicht gerecht werden können. Sie ist durch die Natur ihres Gegenstandes gefordert“367. Damit wird in der liberalen Jenaer Theologie die hermeneutische Forderung verbunden, das die theologische Normativität im Medium des Historischen selber zu erschließen ist und nicht durch das dogmatische Postulat einer besonderen Offenbarungs- und Heilsgeschichte. Das Gotteszeugnis der Geschichte liegt in deren Faktizität bzw. Ablauf so verborgen und tritt zugleich so zu Tage, dass dieser irdische Nexus einer Vergeistlichung oder Theoretisierung widerstrebt. Hier wird die Verbindung zu Julius Wellhausen sichtbar, der in seiner Geschichte Israels darauf verzichtete, besondere Offenbarungen mit dem Handwerkszeug des Historikers nachzeichnen zu wollen, weil man Gottes Geschichtshandeln nicht mit Händen, sondern nur im Glauben greifen könne.368 Ludwig Diestel, Adalbert Merx und Eberhard Schrader – und ebenso Karl Siegfried – können die Vorstellung einer besonderen Offenbarungs- und Heilsgeschichte in der alttestamentlichen Überlieferung aufgeben, weil sie die mit historischen Mitteln erschlossene Geschichte der israelitischen und christlichen Religion insgesamt theologisieren und davon ausgehen, dass die Profanität der Geschichte die Religionsgeschichte einschließt. Sie vertreten eine Konzeption der „Concordanz der historischen und theologischen Betrachtung“369 des Alten Testaments. Die Frage nach der Offenbarung Gottes in der Geschichte wird so beantwortet, dass das Handeln Gottes als ein immanent-geschichtliches Handeln verstanden wird, wie es bereits Wilhelm Martin L. de Wette bestimmt hatte.370 Neben dieser ‚Konkordanz‘ der historischen und theologischen Betrachtungsweise des Alten Testaments ist für die alttestamentliche Exegese in der liberalen Jenaer Theologie kennzeichnend, dass das in methodischer Hinsicht ein zeitliches Nebeneinander, nicht wie ansonsten in der Forschungsgeschichte dargestellt ein zeitliches Nacheinander 371, der literarkritisch und religionsgeschichtlich orientierten Exegese vorliegt. Unter Beibehaltung der exzeptionellen Stellung der Literarkritik, 367 368 369 370

K. A. SIEGFRIED, Die theologische und historische Betrachtungsweise des A.T’s., 117. Vgl. dazu L. PERLITT, Vatke und Wellhausen, 233f. K. A. SIEGFRIED, Die theologische und historische Betrachtungsweise, 119. „Da aber, wo uns die natürliche und historische Betrachtungsweise der Dinge nicht befriedigt oder verläßt, da wird uns die höhere religiöse Ansicht zum Bedürfnis: und so ahnen wir in der Bildungsgeschichte der Menschheit eine höhere Hand ... Das ist die Lehre von der Offenbarung im Allgemeinen von der geschichtlichen und religiösen Seite.“W. M. L. DE WETTE, Über Religion und Theologie, 128f. 371 Vgl. dazu W. BAUMGARTEN, Wellhausen und der heutige Stand der alttestamentlichen Wissenschaft, in: ThR 2 (1930), 287–307; E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 330ff.

7. Zusammenfassung

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wird die Literaturgeschichte mit ihrer chronologischen Ordnung der biblischen Schriften und der ideengeschichtlichen Behandlung der Texte sowie die vergleichenden Religionsgeschichte für die alttestamentliche Wissenschaft erschlossen. Hier spiegelt sich in der Exegese die religionsgeschichtliche Grundlegung der Theologie, die in der freien kritischen Erforschung der außerchristlichen religiösen Überlieferungen einen Weg sieht, die Geltung der christlichen Religion zu untermauern und ihre religiöse Überlegenheit über andere Formen der Religion zu erweisen. So konnte Eberhard Schrader mit seinem Werk über die Keilinschriften und das Alte Testament372, das mit dem Nachweis vielfältiger Parallelen zwischen der religiösen Literatur Israels als klassisches Dokument einer historischen Einordnung der alttestamentlichen Überlieferung zu bezeichnen ist, nachhaltig zur Entstehung der religionsgeschichtlichen Schule beitragen. Ebenso ist er als Wegbereiter des Bibel-Babel-Streites und damit einer religions- und kulturpolitischen Kontroverse um das Verhältnis von Altem Testament und babylonischer Umwelt anzusehen. Auch die literarhistorischen Studien zur Apokalyptik von Adolf Hilgenfeld sind als erste Ansätze religionsgeschichtlicher Arbeit zu bezeichnen, da er erstmals auf die jüdische Apokalyptik als wichtiges Glied der Vorgeschichte des Christentums aufmerksam machte373, und darauf hinwies, dass „das vorchristliche Judenthum selbst eine Vorbildung des Christlichen in sich schloss“374. Hilgenfeld sah in der jüdischen Apokalyptik eine Entwicklung zur inneren Läuterung sich sollziehen, die „zur Allgemeinheit des christlichen Gottesreichs“375 vorbereitete. Für die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament ist es gemeinsame Zielsetzung, die auf Schleiermacher zurückgeführte Bestreitung des engen Zusammenhangs der beiden Testamente zu überwinden.376 In religionsgeschichtlicher Perspektive wird zunächst die religiöse Superiorität des Christentums gegenüber dem Judentum affirmiert, da sich das Christentum in der Perspektive des christlichen Glaubens wegen der darin liegenden vollkommenen Gottesoffenbarung im religiösen Verhältnis der Sohnschaft oder Kindschaft bei Gott, die als solche die Zugehörigkeit zum Gottesreich in sich schließt, als vollkommene Religion darstellt. Maßgeblich ist somit die Vorstellung, dass die alttestamentliche Geschichte die Vorgeschichte des Christen-

372 373 374 375 376

E. SCHRADER, Die Keilinschriften und das Alte Testament. A. HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik. Ebd., IX. Ebd., 189. Vgl. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 120.

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IV. Exegese und Hermeneutik

tums enthält. Von daher sind auch die Wertbedeutungen in der alttestamentlichen Überlieferung zu erheben. Zugleich erkennt der christliche Glaube in der geschichtlichen Kontinuität des Christentums mit der Religion Israels eine Kontinuität der göttlichen Offenbarung. Somit ist der genetische Zusammenhang der beiden Testamente und Religionen offenbarungstheologisch zu fassen. „Nun bildet aber die geschichtliche Continuität der Religion Israels und des Christenthums zugleich eine im Wesen der ethischen Religion selbst gelegene innere Continuität, und eben hieraus ergibt sich uns folglich das Recht, den Begriff der Offenbarung im engeren Sinne eben auf diese Continuität zu übertragen. Der geschichtliche Verlauf dieser Offenbarung im religiösen Bewusstsein Israels und der Messiasgemeinde ist also die Offenbarungsgeschichte im engeren Sinn.“377

Auch in der Einsicht in die historische Relativität aller Auslegung alttestamentlicher Texte sowie in der Erkenntnis der geschichtlichen Bedingtheit der Schriftauslegung konvergieren die Jenaer Theologen und nehmen damit gemeinsam den hermeneutischen Charakter der Theologie in den Blick. Hier erfolgt der Anschluss an Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey, deren Hermeneutik durch die zwischenmenschliche Verständigung und die geschichtliche Bedingtheit des Verstehens die Errichtung eines Wissenschaftssystems auf hermeneutischer Basis ermöglichte.378 Darauf greifen Eberhard Schrader und insbesondere Adalbert Merx zurück, der dafür plädiert, die Hermeneutik als Fundamentalwissenschaft der Theologie zu implementieren. Das Verhältnis von Schrift und dogmatischem System ist in seinen Augen immer von hermeneutischen Prinzipien abhängig. Da sich die hermeneutischen Prinzipien verändert haben, „die ältere Lehrform von der wörtlichen Eingebung (der Schrift) (ist) aus psychologischen und historischen Gründen hinfällig geworden“, muss die Hermeneutik mit „einer wohl begründeten Theorie darüber, wie Schrift und Schriften zu verstehen sind, wie der Sinn aus der Schrift gezogen werden muss, wie der in Schrift gebannte Geist entfesselt und zu neuer Wirkung geführt werden kann“379 zur Grundlagendisziplin der Theologie werden. 377 Ebd., 123. 378 Vgl. H.-G. GADAMER, Art. Hermeneutik, in: HWP 3 (1974), Sp. 1063–1071; W. DILTHEY, GS VII, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. v. B. GROETHUYSEN, Stuttgart/Göttingen 81992. Vgl. dazu J. GRONDIN, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt ²2001, 99–132; M. RIEDEL, Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, Stuttgart 1978. 379 A. MERX, Eine Rede vom Auslegen, 14.

V. Ertrag und Ausblick Im Schlussteil der Arbeit werden mit der Darstellung der Grundzüge liberaler Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert deren innere Logik und geistesgeschichtliche Verortung sowie die geschlossene ideelle Grundausrichtung der Jenaer Theologischen Fakultät zusammengefasst. Da sich die Begründung der Theologie als Wissenschaft und das Verhältnis von historischer und systematischer Theologie bzw. Dogmatik und Exegese im Verlauf dieser Arbeit als Kristallisationspunkte der liberalen Jenaer Theologie herausgestellt haben, werden diese Bestimmungen noch einmal besonders ins Blickfeld gerückt. Abschließend werden Impulse und Beiträge aufgezeigt und erörtert, die sich aus der liberalen Jenaer Theologie für gegenwärtige Themenfelder und Fragestellungen der Theologie in systematisch-theologischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive ergeben und die eine weitergehende Erforschung liberaler Jenaer Theologie und die Auseinandersetzung mit dieser Theologiekonzeption lohnend erscheinen lassen.

1. Liberale Theologie in Jena – Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Kategorie Der historische Zugriff auf die von Karl Heussi behauptete eigenständige liberale Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert hat gezeigt, dass diese sowohl in der Selbstwahrnehmung der Beteiligten in Jena als auch in der Außenwahrnehmung verankert ist. 1 Die Vernetzung und Interaktion der an dieser theologischen Richtung Beteiligten wird auf der kirchen- und landespolitischen Ebene ebenso greifbar wie bei der Berufungspolitik der Theologischen Fakultät und des Kuratoriums in dem Zeitraum zwischen 1865 und 1895. Die ‚Jenenser Erklärung‘, das ‚Eisenacher Attentat‘ und die Vorgänge im Gothaer Landtag im Zusammenhang mit der Besetzung des Lehrstuhls von Richard A. 1

Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel II, 66–76.88ff. Zur Außenwahrnehmung der geschlossenen ideellen und eigenständigen Grundausrichtung der Jenaer Theologischen Fakultät vgl. M. RADE, in: CW 6 (1892), Sp. 1116. Zu der Ausführung bzw. Umsetzung der Idee eines geschlossenen theologischen Profils der Jenaer Theologischen Fakultät vgl. J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas.

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V. Ertrag und Ausblick

Lipsius 1892/93 sind dafür beredte Beispiele. Das gilt auch für die theologisch-positionellen Begründungen, die für die Berufungen von Richard A. Lipsius, Otto Pfleiderer, Eberhard Schrader, Rudolf Seyerlen und Karl A. Siegfried nach Jena angeführt werden. Insbesondere die Abwehr des ‚Eisenacher Attentat(s)‘ als Propaganda-Aktion lutherisch neukonfessioneller Kräfte mit dem Ziel, das Lehrmonopol der durchgehend liberalen Jenaer Ordinarien durch die Berufung mindestens eines Konservativen zu durchbrechen, kann als Indiz gelungener Rezeption einer homogenen theologischen Richtung und akademischen Korporation in regionalem Rahmen verstanden werden, und verweist auf die Vernetzung der liberalen Jenaer Theologen. Die Idee und die Formierung eines geschlossenen theologischpositionellen Profils einer Fakultät kann somit als Grundzug der liberalen Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert ausgemacht werden. Im Hintergrund stehen dabei Konfliktkonstellationen um die Universitätstheologie in ihrer Anschlussfähigkeit an die allgemeine Wissenschaft und ihre Wissenschaftsfreiheit sowie um die Frage nach dem kirchlichen Praxisbezug und dem kirchlichen Zugriff auf die Universitätstheologie.2 Die Idee und die Formierung eines geschlossenen theologischen Profils spiegeln sich auch in den Berufungsvorgängen. Dabei muss zunächst eingeblendet werden, dass bei den Stellenbesetzungen an der Theologischen Fakultät zwischen 1865 und 1895 unterschiedliche und auch gegenläufige Tendenzen eine Rolle spielten. Neben strukturellen und soziohistorischen Faktoren, wie der institutionellen Gestaltung des Berufungsverfahrens und Professorengehältern, bestimmt ein sich zunehmend verfestigendes System der deutschsprachigen Universitäten die Karrierewege der Hochschullehrer. Somit hingen auch in Jena im ausgehenden 19. Jahrhundert die endgültigen Berufungen von einer Vielzahl externer Faktoren und Interessen ab, die nur eingeschränkt von den jeweiligen Theologischen Fakultäten selbst 2

In seiner anonym veröffentlichten Schrift zur preußischen Kultuspolitik von 1872 analysiert R. A. LIPSIUS diese Konfliktkonstellationen und kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass „(d)ie Fragen der theologischen Wissenschaft ... zu kirchlichen und kirchenpolitischen Machtfragen“ geworden seien, und die ‚Bekenntnistreue‘ sich zum entscheidenden Kriterium für die Förderungswürdigkeit preußischer Theologen entwickelt habe. Vgl. (ANON.) [LIPSIUS], Ein Stück Hinterlassenschaft des Herrn von Mühler, 7f. LIPSIUS stellt ebenfalls fest, dass sich um 1870 die preußischen evangelischen Fakultäten in einer starken Trennung vom allgemeinen wissenschaftlichen Leben befinden würden, und sich die Theologie erst in jüngster Zeit wieder den „Anforderungen heutiger Wissenschaft“ stelle und aus ihrer Isolation herausstrebe, während um 1860 einzig die Jenaer Theologen bzw. Jenaer Theologische Fakultät „als geschlossene Corporation ... das Banner der freien theologischen Wissenschaft hochhielten“. Ebd., 13f.

1. Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Kategorie

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steuerbar waren.3 Gleichwohl lässt sich in Jena wie kaum an einer anderen deutschen Universität die Formierung eines geschlossenen theologischen Profils im Sinne einer gemeinsamen ideellen Grundausrichtung und einer akademischen Korporation ausmachen, die die Berufungsverhandlungen ebenfalls mitbestimmten. Damit versuchte die Theologische Fakultät sich einen einheitlichen theologischen Charakter zu geben bzw. zu bewahren.4 In Bezug auf die Exegese impliziert dieser einheitlich theologische Charakter eine historisch-kritische Bearbeitung der alt- und neutestamentlichen Überlieferungen und eine religionsgeschichtliche Ausrichtung, wobei an der theologischen Normativität der Überlieferungen und Texte festgehalten werden soll. In dogmatischer bzw. fundamentaltheologischer Perspektive spielt die religionsphilosophische Verankerung der Theologie eine entscheidende Rolle. Dazu gehört sowohl die Anschlussfähigkeit zum Neukantianismus bzw. zu dem Versuch, die Wissenschaftlichkeit der Theologie durch die Grundsätze der Kantischen Erkenntnistheorie zu fundieren, als auch die Verbindung zur kritisch-spekulativen Schule Ferdinand Chr. Baurs und deren Geschichtsmetaphysik.5 Für die Wissenschaftsorganisation bzw. die Organisation der akademischen Lehre hat die geschlossene theologischpositionelle Grundausrichtung allerdings zur Folge, dass der Prozess der Ausdifferenzierung des Fächerkanons und der Herausbildung der fünf Nominalprofessuren überlagert und auch blockiert wird durch ein System von ‚Personalprofessuren‘. Das Festhalten an diesen theologisch-positionell begründeten ‚Personalprofessuren‘ und die damit verbundenen Abgrenzungsbemühungen gegenüber anderen theologischen Richtungen wie der ‚positiven Theologie‘ sowie die Konkurrenzsituationen innerhalb der Fakultät (das Verhältnis von Hase und Hilgenfeld) führen dazu, dass es nicht zu einer planvollen und sachbe3

4

5

Als L. DIESTEL 1872 einen Ruf nach Tübingen erhielt, bedeutete das für ihn beinahe eine Verdoppelung seiner Bezüge. Vgl. dazu K. HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät, 1954, 305f. Vgl. auch das Schreiben des Universitätskurators M. SEEBECK an das Altenburgische Ministerium vom 11. Mai 1872 (ThStA Altenburg, GesM 1129, unpag.). Zu dem in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits verdichteten „Wettbewerbssystem“ der deutschsprachigen Universitäten vgl. M. BAUMGARTEN, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, 221–225. Durch diese Geschlossenheit konnten die im Zeitraum von 1853 bis 1882 von verschiedenen Akteuren (Universitätskurator, Teile der Thüringischen Pfarrerschaft) verfolgten Pläne, der Fakultät einen zusätzlichen, vorzugsweise theologisch eher ‚positiv‘ orientierten Professor zu oktroyieren zurückgewiesen werden. Vgl. dazu die Darstellung in Kapitel II, 67–72 . Vgl. auch J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas, 82–134. Vgl. dazu die Darstellung zu den Berufungsvorgängen in Kapitel II, 69–73.89f.

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V. Ertrag und Ausblick

zogenen Herausbildung der theologischen Disziplinen kommt. Es wird vielmehr deutlich, dass die Rahmenbedingungen für die Wissenschaftsorganisation der Theologie stark von theologisch-positionellen und (kirchen-) politischen Faktoren vorgegeben wurden.6 Die breit angelegte bzw. signifikant interdisziplinäre Forschungsund Lehrtätigkeit der beteiligten Professoren, die eine durchaus gegenläufige Tendenz zu einer zunehmenden Spezialisierung der wissenschaftlichen Publizistik in der Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts darstellt, verweist auf einen weiteren Grundzug der liberalen Jenaer Theologie.7 In den unterschiedlichen Begründungen für die interdisziplinäre Ausrichtung von Forschung und Lehre, die in Jena durch den Zuschnitt von Professuren (neutestamentliche Exegese und Dogmatik) auch institutionalisiert ist, lässt sich ein geschichtswissenschaftliches bzw. religions- und universalgeschichtliches Verständnis von Theologie ausmachen. Dafür kann das religionsgeschichtliche Volksbuch zu den Büchern Mose und Josua von Adalbert Merx als Beleg dienen, dem er eine Einleitung über die weltgeschichtliche Stellung der mosaischen Bücher voranstellt.8 In der liberalen Jenaer Theologie wird der Versuch unternommen, eine integrative Gesamtanschauung der Entwicklungsgeschichte des Christentums zu bieten, und die zentrale Kompetenz des Christentums für die Kultur nachzuweisen. So kann vom Christentum als „Religion der Religionen“ gesprochen werden, oder auch der Einfluss des Alten Testaments auf die Bildung und Entwicklung der Universalgeschichte herausgehoben werden.9 In der kritischen Erforschung der außerchristlichen religiösen Überlieferungen sowie der damit verbundenen historisch-kritischen Erfassung der biblischen Überlieferung wird ein Weg gesehen, die Bedeutung und Geltung der christlichen Religion aufzuzeigen, wie Eberhard Schrader in seiner Begründung der Assyriologie darlegt.10

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Vgl. S. GERBER, Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation, 515–518; M. STEINMETZ (Hg.), Geschichte der Universität Jena, Bd. I, 428. S. GERBER zeigt in seiner Biografie über den Jenaer Pädagogen und Universitätskurator M. SEEBECK auf, dass der wissenschaftspolitische Zugriff des Staates durch seinen Kurator auch noch im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert eher ‚kameralistisch‘ im Sinne territorialstaatlicher Universitätsaufsicht motiviert war. Ebd., 222 ff. Zur zunehmenden Spezialisierung in der wissenschaftlichen Publizistik vgl. J. WISCHMEYER, Theologiae Facultas, 355ff. A. MERX, Die Bücher Mose und Josua. Religiöse Volksbücher, 5-16. A. MERX, Der Einfluß des Alten Testamentes auf die Bildung und Entwicklung der Universalgeschichte, Heidelberg 1902; O. PFLEIDERER, Religion und Religionen. Vgl. dazu Kapitel IV, 244ff.

1. Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Kategorie

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Otto Pfleiderer spricht im Rahmen einer Festrede zum Jubiläum von Karl von Hase am 15. Juli 1879 von den „charakteristischen Grundzügen“ der „Jenenser Theologie“ und kennzeichnet diese folgendermaßen: „Alle aber sind in den drei Sachen einig: Dass vom Geschichtlichen ausgegangen, dieses durch rationelle Kritik mit dem modernen Bewußtsein vermittelt und schließlich auf den Endzweck aller Theologie, auf die kirchliche Brauchbarkeit ihrer Resultate abgezielt wird.“ 11

Die hier von Otto Pfleiderer festgehaltenen weiteren Grundzüge der liberalen Jenaer Theologie können nur aus ihrer Verwurzelung in den religionsphilosophischen und hermeneutischen Fragestellungen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts heraus verstanden, und in Verbindung mit wissenschaftshistorischen, theologie- und philosophiegeschichtlichen Konzeptionen in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfasst werden. Zu den zentralen Initiations- und Haftpunkten der liberalen Jenaer Theologie gehört die Frage nach einer einheitlichen „modernen Weltanschauung“12 bzw. die Zuordnung von Glaube und Vernunft, von Teleologie und Kausalität, Natur und Geist, die sich angesichts der aufstrebenden Naturwissenschaften als drängend erweist. Es geht um den Nachweis, „dass die vom Christenthum begründete teleologische Weltanschauung mit dem causalen Welterkennen nicht in Widerspruch steht, sondern dass beide einander gegenseitig ergänzen und fordern“13.

Damit steht die Erkenntnistheorie Kants bzw. ihre Rezeption durch den Neukantianismus ebenso auf der Agenda der Jenaer Theologen, wie das von der Hegelschen Philosophie der Theologie hinterlassene Problem, dass die Religion das, was zu denken ist, nur in Form der Vorstellung erfassen kann und die sich davon abgrenzende Auffassung Schleiermachers, dass die Religion gegenüber der Metaphysik und der Moral eine eigentümliche Bedeutung habe. Die Wurzeln für die Ansätze zur historisch-kritischen Exegese lassen sich zu Johann Salomo Semler und der von ihm geforderten historisch-kritischen Schriftauslegung zurückverfolgen, wie er sie in seinen Abhandlungen zur freien Untersuchung des Kanons dargelegt hat. 14

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O. PFLEIDERER, Zum Ehrentag der Jenenser Theologie, in: PKZ 26 (1879), Sp. 660f. K. SCHWARZ, Zur Geschichte der neuesten Theologie (³1864), 486. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 3. J. S. SEMLER, Abhandlung von freier Untersuchung des Canons, Bd. 1–4, Halle 1771– 1775. Zur Rolle SEMLERS als Vorbereiter der modernen Bibelwissenschaft vgl. O. KAISER, Johann Salomo Semler als Bahnbrecher der modernen Bibelwissenschaft, in:

318

V. Ertrag und Ausblick

Auch Wilhelm Martin L. de Wettes Feststellung, dass die historische Kritik in der Exegese den Weg bahnen soll, „die Auffassungen der Erscheinungen der biblischen Literatur in ihren echt geschichtlichen Verhältnissen und Eigentümlichkeiten“15 erfassen zu können, gilt der liberalen Jenaer Theologie als wissenschaftlicher Referenzrahmen. De Wettes Forderung, von einer Verbindung historisch-kritischer Auslegung mit religiös-philosophischer Deutung der Bibel auszugehen und in der Hermeneutik eine Korrelation zwischen geschichtlicher und innerer Offenbarung zugrunde zu legen, kann als Wurzelgrund für Exegese und Hermeneutik in der liberalen Jenaer Theologie bezeichnet werden.16 Obwohl die Anfänge der historisch-kritischen Arbeit auf Semler und de Wette zurückzuführen sind, gewinnt diese Forschungstradition erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts jenen Aufschwung, der auch die liberale Jenaer Theologie in ihrer exegetischen und hermeneutischen Arbeit entscheidend prägt. Der Durchbruch zur historischen und religionsgeschichtlichen Ausrichtung der Theologie ist in erster Linie mit Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauss verbunden, die die historisch-kritische Exegese zur Forschungsgrundlage erheben und die Exegese religionsgeschichtlich ausrichten. Nach dem Urteil Otto Pfleiderers ist für „die wissenschaftliche Erkenntnis der biblischen Grundlage des Christentums“ vor allem das Jahr 1835 „epochemachend“ geworden. „In demselben erschienen das ‚Leben Jesu‘ von David Friedrich Strauß, die Untersuchung der Pastoralbriefe von Ferdinand Christian Baur und die Geschichte der alttestamentlichen Religion von Wilhelm Vatke, drei Wer-

15 16

Von der Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments, 79–94. Zu SEMLERS Einfluss auf den Fortgang der Exegese des Alten Testaments vgl. A. LÜDER, Historie und Dogmatik, 240–250. W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung. Erster Theil: Die Einleitung in das A.T. enthaltend (1817), VI. Vgl. dazu R. SMEND, De Wette und das Verhältnis zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System im 19. Jahrhundert, in: Bibel und Wissenschaft, 114– 123. Zur Korrelation zwischen geschichtlicher und innerer Offenbarung stellt DE WETTE fest: „Da uns aber die geschichtliche Offenbarung nichts ist, als die hervortretende innere Offenbarung und beide zusammenfallen müssen: so kann jene nichts geben, was nicht an dieser liegt, und muss sich auch in den Formen, welche dieser eigen sind, darstellen. Allerdings muß das Bewußtsein dessen, was zur Religion gehört, durch die geschichtliche Offenbarung geweckt und gebildet werden, aber unter dem Hinzutreten der eigenen inneren Tätigkeit.“ W. M. L. DE WETTE, Lehrbuch der christlichen Dogmatik, in ihrer historischen Entwicklung dargestellt, 1. Theil, Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments (²1818), 31f.

1. Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Kategorie

319

ke, in welchen die Anfänge der heutigen alt- und neutestamentlichen Schriftforschung beschlossen waren.“17

Wird bei Strauss die religionsgeschichtliche Ausrichtung der Exegese in seiner Interpretation der Evangelien durch den ausgesprochen religionswissenschaftlichen Grundbegriff des Mythos angedeutet, weitet Baur auch noch in seiner Stoffauswahl die Grenzen spezifischer theologischer Fragestellungen aus, da seine ersten Veröffentlichungen vor allen Dingen dem klassischen Altertum, dem Manichäismus und der Gnosis galten.18 Ein weiterer Initiations- und Haftpunkt für die liberale Jenaer Theologie ist die von Werner Elert in seiner Analyse der Geschichte des Christentums und der Theologie festgestellte „tiefe Diastase zwischen Christentum und allgemeiner Kultur“, die er der Zeit um 1870 attestiert. Diese Diastase war nach seinem Urteil „keineswegs das Ergebnis einer einseitigen Emanzipation der nichtchristlichen Kulturgrößen“, sondern hatte auch „die Isolierung des Christentums in der Erweckungsbewegung und der sich anschließenden konfessionellen und biblizistischen Theologie“19 zur Ursache. Es ist nicht zuletzt diese Diastase, durch die sich die liberale Jenaer Theologie vor die Aufgabe gestellt sah, eine wissenschaftstheoretische und anthropologische Rückbindung theologischer Aussagen zu vollziehen. Damit sollte eine erkenntnistheoretische Isolierung der Theologie im Kanon der Wissenschaften vermieden und der wissenschaftliche Wert der Theologie erwiesen werden, ohne die grundlegende Positivität des christlichen Glaubens auszublenden. So behauptet Richard A. Lipsius einerseits, dass der wissenschaftliche Wert der Dogmatik davon abhängt, ob ihr „die Rechtfertigung des christlichen Glaubens und der Aufbau einer einheitlichen Weltanschauung gelingt“20. Andererseits aber ist für ihn die christliche Dogmatik „die wissenschaftliche Darstellung des christlichen Glaubens vom Standpunkte des christlichen Glaubens aus und für die Genossen dieses Glaubens, zum Zwecke gemeinsamer Verständigung über den Inhalt desselben und über den diesem Inhalte angemessensten gedankenmässigen Ausdruck“21.

17 18 19 20 21

O. PFLEIDERER, Die Entwicklung der protestantischen Theologie, 253. Vgl. F. CHR. BAUR, Symbolik und Mythologie oder die Naturreligion des Altertums, Tübingen 1826; Ders., Das manichäische Religionssytem, Tübingen 1831. W. ELERT, Der Kampf um das Christentum, 258f. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 10. Ebd., 1.

320

V. Ertrag und Ausblick

Auf dem Hintergrund der zuvor skizzierten Wurzeln sowie der Initiations- und Ansatzpunkte kann man den expliziten philosophischen Unterbau und die religionsphilosophische Konzeption der Theologie als Grundzug der liberalen Jenaer Theologie bezeichnen. Der philosophische Unterbau der Theologie erfolgt in apologetischer Perspektive und besteht darin, dass sich die Beteiligten in der religionsphilosophischen, erkenntnistheoretischen und religionsgeschichtlichen Grundlegung der Theologie sowohl dem Erbe Schleiermachers und Kants als auch dem Erbe Hegels und der spekulativen Philosophie verpflichtet sehen. Dies impliziert für die Theologiekonzeption die Aufnahme der seit Johann Salomo Semler gebräuchlichen, programmatischen Unterscheidung von Religion und Theologie.22 Die gelebte Religion wird von Semler und auch von Schleiermacher23 der theologischen Theorie vorgeordnet, und die Theologie tritt in den Dienst der Religion, „indem sie die Denk- und Darstellungsmittel verwaltet, die zur Selbstverständigung von Religion innerhalb ihrer als Kirche ausdifferenzierten Sozialgestalt erforderlich sind“24.

Die Konvergenzlinie für die Bestimmung und Verortung des Religionsbegriffs verläuft so, dass die Religion als eine in und mit der menschlichen Natur gegebene, Vorstellung, Wille und Gefühl betreffende Anlage verstanden wird und das Christentum eine auf dieser natürlichen Grundlage beruhende geschichtliche Erscheinung. Die liberale Jenaer Theologie ist somit einem religionstheologischen Typus der Theologiekonzeption zuzuordnen. Bei der Ausdifferenzierung des Religionsbegriffs wird die Spur verfolgt, die gegensätzlichen kategorialen Grundannahmen Schleiermachers und Hegels so miteinander zu verknüpfen, dass die empirischen Materialien der Religionsgeschichte einerseits in ihrer Eigenständigkeit gewürdigt werden können, ohne sich andererseits einer begrifflichen Ordnung in der Perspektive der spekulativen Reflexion Hegels zu entziehen.25 Bereits Richard Rothe nimmt in seiner Religionstheorie eine

22

23

24 25

J. S. SEMLER, Versuch einer freieren theologischen Lehrart, Halle 1777; Ders., Über historische, moralische und gesellschaftliche Religion, Halle 1786. Vgl. dazu F. WAGNER, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff, 48ff. F. SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Vgl. dazu J. DIERKEN, Das zwiefältige Absolute. Die irreduzible Differenz zwischen Frömmigkeit und Reflexion im Denken Friedrich Schleiermachers, in: ZNThG 1 (1994), 17–46. J. DIERKEN, Das zwiefältige Absolute, 18. Vgl. D. KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube, 95–154; W. PANNENBERG, Systematische Theologie, Bd. 1, 1988, 133–150; F. WAGNER, Art. Religion II. Theologiege-

1. Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Kategorie

321

Hegel und Schleiermacher vermittelnde Position ein, wenn er seine in methodischer Hinsicht spekulativ verfahrende Theologie inhaltlich an die Ich- und Gottesbewusstsein vereinigende „Urgestalt“ 26 des frommen Gefühls anschließt. Ein weiterer Versuch zur Überwindung der von Schleiermacher und Hegel repräsentierten religionstheoretischen Alternativen kündigt sich bei Wilhelm Vatke an, der sich mit dem Auseinanderdriften von Spekulation und Empirie konfrontiert sah, was sich in der tendenziellen Verselbstständigung von religiöser Praxis und ihrer philosophischen Theorie niederschlug. Vatke wollte daher weder „aus den allgemeinen Principien einer Religion die ganze historische Erscheinung derselben ableiten und das Empirische nach dem Begriffe construiren“, noch „den bloß historischen Stoff als Element der Wissenschaft anerkennen und in seiner unmittelbar gegebenen Form“ behandeln.27 In Fortschreibung dieser Gestalt einer religionstheologischen Theologiekonzeption plädiert der Philosophiehistoriker Eduard Zeller in einem Aufsatz über das Wesen der Religion von 1845 für ein zusammengesetztes Verfahren der spekulativen Religionstheologie, um den im religiösen Gemüt zum Ausdruck kommenden Vorstellungen ebenso gerecht zu werden wie ihren gedanklichen Rekonstruktionen. 28 Ein anders gelagerter Grundzug liberaler Jenaer Theologie liegt in der Konzeption einer Metaphysik der Grenzbegriffe. Richard A. Lipsius und Otto Pfleiderer gehen – wie auch Alois E. Biedermann – davon aus, dass nur eine psychologisierte Erkenntnistheorie Grundlage der Theologie als Wissenschaft sein kann. Sie grenzen sich allerdings in unterschiedlichen Nuancen von Biedermann dahingehend ab, dass sie eine metaphysisch-spekulative Erkenntnistheorie nur bedingt für evaluierbar halten. Unter wissenschaftlichen Bedingungen kann man daher lediglich von einer Metaphysik der Grenzbegriffe sprechen. Von Albrecht Ritschl und seinen Schülern wird im Unterschied zu der liberalen Jenaer Theologie jede Form der Metaphysik, auch die der Grenzbegriffe, abgelehnt und stattdessen das Programm einer biblisch-religiösen Konstruktion der Sittlichkeit als Grundlage der Theologie entworfen, um damit die gegenläufigen religionstheroretischen Optionen

26 27

28

schichtlich und systematisch-theologisch, TRE 28, 522–544; Ders., Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff. R. ROTHE, Theologische Ethik I, Wittenberg ²1867, 69. W. VATKE, Die biblische Theologie wissenschaftlich dargestellt, 122. Vgl. dazu L. PERLITT, Vatke und Wellhausen, 86–152; O. REINMUTH, Wilhelm Vatkes religionsphilosophische Vorlesung, in: Gott und die Moderne, hg. v. M. BERGER u.a., Wien 1994, 108–115. E. ZELLER, Über das Wesen der Religion (1845), in: DERS., Kleine Schriften III, 1911, 71–152.

322

V. Ertrag und Ausblick

in der Nachfolge von Schleiermacher, Kant und Hegel zu verbinden.29 Insbesondere in der Auseinandersetzung mit Wilhelm Herrmann betonen Lipsius und Pfleiderer eine metaphysische Grundlegung der Theologie im Sinne einer Metaphysik der Grenzbegriffe. 30 Sie gehen davon aus, dass die elementaren Differenzen von Denken und Sein, Ich und Welt, Individuum und Gesellschaft durch eine letzte Einheit alles Differenten überboten werden und diese in der Religion, allerdings nur diskursiv, anvisiert werden kann. So erschließt die Religion eine letzte allumfassende Einheit und öffnet das religiöse Bewusstsein für die vollkommene Freiheit von der Welt in der vollkommenen Abhängigkeit von Gott.31 Gegenüber Hegels These, dass die Religion das, was zu denken ist, nur in Form der Vorstellung erfassen kann, betonen Lipsius, Pfleiderer und Hilgenfeld mit Schleiermacher, dass die Religion eine vom reflektierenden Denken und vom sittlichen Leben zu unterscheidende, eigentümliche Bedeutung hat und „diejenige praktische Lebensbeziehung des Menschen zu der weltbeherrschenden Macht oder zu Gott (ist), welche beruht auf dem unwillkürlichen und gottgewirkten Lebensgefühl der Lebensgebundenheit an Gott, und durch freiwillige Hingabe an ihn sich erhebt zur Lebensgemeinschaft mit Gott und damit zur gottähnlichen Stellung in der Welt“ 32.

Die Konzeption einer Metaphysik der Grenzbegriffe spiegelt sich bei Richard A. Lipsius auch in der Verhältnisbestimmung von Teleologie und Kausalität. Religion hat es einerseits mit der Welt der Kausalitäten zu tun, die Gegenstand historischer und empirischer Forschung ist, andererseits aber mit der Teleologie. Diese artikuliert sich sprachlich und gedanklich vor allem in den Religionen, tritt allerdings nicht ohne Bezug zu dem, was kausal erklärt werden kann, in Erscheinung. Die Zwecksetzungen verwirklichen sich nicht außerhalb der kausalen Beziehungen, sondern in ihnen als immanente Teleologie. Die Vereinigung der beiden Betrachtungsweisen ist dadurch möglich, dass die Grenzbegriffe beiden Sphären angehören. In der wissenschaftlichen Erkenntnis werden sie formal bestimmt, in der teleologischen Betrachtung in Analogie zum menschlichen Bewusstsein ausgelegt. Mit dieser Verhältnisbestimmung von Teleologie und Kausalität bzw. Geist und Natur wird in der liberalen Jenaer Theologie die in der 29 30

31 32

Vgl. dazu D. KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube, 112–124. „Eine Zerstörung der christlichen Weltanschauung ist die unausbleibliche Folge des konsequent durchgeführten Versuches, ihre einzelnen Momente aus der Einheit des Weltgrundes zu begreifen.“ W. HERRMANN, Die Metaphysik in der Theologie, in: Schriften zur Grundlegung der Theologie, Bd. 1, 45. O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage (³1896), 328ff. O. PFLEIDERER, Grundriß der christlichen Glaubens- und Sittenlehre (61898), 12.

1. Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Kategorie

323

Metaphysik bei Kant vollzogene Trennung von Naturkausalität und Kausalität durch Freiheit rezipiert und zwar in einer signifikant anderen Weise als bei Albrecht Ritschl oder Wilhelm Herrmann. 33 Ritschl rezipiert Kants Metaphysik dahingehend, dass es zur Trennung von Seins- und Werturteilen auf der Basis der Trennung von Natur und Geist kommt. Daraus resultiert bei ihm die Diastase von Metaphysik und Theologie, die zu einem Kampf gegen jede Form der natürlichen Theologie führt.34 Bei Wilhelm Herrmann führt die von Kant vorgenommene Unterscheidung zwischen Kausalität durch Freiheit und Naturkausalität zur Annahme eines religiösen Selbsterlebens, das keiner allgemein gültigen Bewahrheitung fähig ist, womit Religion und Glaube gegen das Denken aufgestellt und Erleben und Erklären voneinander getrennt werden.35 Für Richard A. Lipsius und Otto Pfleiderer wird die Kausalität durch Freiheit nicht durch Abstraktion von Naturkausalität erkannt. Vielmehr macht diese einen Sachverhalt aus, der allgemeingültig begründbar ist und der einen Zustand zu denken erlaubt, dessen Folgen den Regeln der Naturkausalität entsprechen, auch wenn er nicht unter der Bedingung der Regeln der Naturkausalität anhebt. Die signifikante Verhältnisbestimmung von Teleologie und Kausalität in der liberalen Jenaer Theologie hat hermeneutische und wissenschaftstheoretische Implikationen, die zu weiteren Grundzügen und Merkmalen liberaler Jenaer Theologie führen. In hermeneutischer Perspektive geht es um die Unterscheidung von Form und Gehalt religiöser Vorstellungen. Die Religion redet auf Grund ihrer teleologischen Orientierung in einer Sprache der Bilder. Werden sie in wörtlichem Sinne genommen, z.B. die Vorstellung Gottes als Person, dann ist ihre

33 34

35

Vgl. dazu F. WAGNER, Aspekte der Rezeption Kantischer Metaphysik, in: NZSth 27 (1985), 37–40. „Die religiöse Weltanschauung ist in allen ihren Arten darauf gestellt, daß der menschliche Geist sich in irgendeinem Grade von den ihn umgebenden Erscheinungen und auf ihn eindringenden Wirkungen der Natur an Wert unterscheidet. Alle Religion ist Deutung des in welchem Umfang auch immer erkannten Weltlaufs, und zwar in den Sinne, daß die erhabene Macht, welche in oder über ihr waltet, dem persönlichen Geist seinen Wert gegen die Hemmungen durch die Natur oder die Naturwirkungen der menschlichen Gesellschaft erhält oder bestätigt.“ A. RITSCHL, Theologie und Metaphysik, Bonn ²1887, 9. „Kant hat die Vorstellung von der Welt wissenschaftlich begründet, welche allein dem Evangelium entspricht. Er hat dadurch den Glauben, in welchem ein Menschenherz zur Ruhe kommt, aus der unwürdigen Abhängigkeit befreit.“ W. HERRMANN, Kants Bedeutung für das Christentum, in: Schriften zur Grundlegung der Theologie, Bd. 1, 104–123, hier: 106. Auf die Problematik dieser KANT-Rezeption weist F. WAGNER hin. Vgl. Ders., Aspekte der Rezeption Kantischer Metaphysik NZSth 27 (1985), 37–40.

324

V. Ertrag und Ausblick

Unangemessenheit schnell deutlich, denn zum Person sein gehört z. B. die Endlichkeit als konstitutives Merkmal. Allerdings ist der Begriff religiös brauchbar, da er eine Relation zwischen Gott und Mensch angemessen zum Ausdruck bringt. Die biblischen Texte und Begriffe sind in dieser Hinsicht wahrzunehmen und religiös zu würdigen, was mit der Unterscheidung von Form und Gehalt religiöser Vorstellungen ermöglicht wird. Problematisch wird die Unterscheidung zwischen Form und Gehalt, wenn eine adäquate Formulierung prinzipiell nicht erreicht werden kann. Wenn der Gehalt primär als ein Korrelat der theoretischen Erkenntnis verstanden wird, führt die Einsicht in die prinzipielle Unangemessenheit religiöser Vorstellungen zur Auflösung der Religion überhaupt. Um dies zu vermeiden, bestimmen die liberalen Jenaer Theologen den Gehalt der religiösen Vorstellungen und des Dogmas als einen „geistige(n) Thatbestand im Innern des Menschen“, einen „Complex von inneren Vorgängen im Menschengemüthe“ 36. Damit besteht das Wesen der Religion in dem religiösen Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Dieser religiöse Gehalt wird erfahren, bevor er in Vorstellungen und Aussagen ausgedrückt wird. Daher begründet die religiöse Erfahrung eine Gewissheit, die durch die Kritik nicht aufgelöst werden kann, da lediglich unangemessene Vorstellungen destruiert werden können, aber nicht die zugrunde liegende religiöse Erfahrung.37 Die wissenschaftstheoretische Konsequenz aus der Verhältnisbestimmung von Teleologie und Kausalität spiegelt sich bei Lipsius und Pfleiderer in der Bestimmung des approximativen Charakters der Dogmatik und der Überzeugung, dass Theologie und Religionswissenschaft nur zu vorläufigen Hypothesen gelangen können. Die Dogmatik kann ihre wissenschaftliche Aufgabe des systematischen Aufbaus einer einheitlichen Weltanschauung und der Darstellung des christlichen Glaubens nur approximativ erfüllen, weil die Differenz zwischen den formalen metaphysischen und den bildlichen religiösen Aussagen nicht restlos beseitigt werden kann. Signifikant für die liberale Jenaer Theologie sind die religionspsychologische und religionsgeschichtliche Grundlegung38 sowie die damit verknüpfte anthropologische Rückbindung der Theologie. Maßgeblich 36 37 38

R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 70. „Der Verstand kritisirt Vorstellungen, er kann aber keine Thatsachen wegdisputiren.“ R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 69. Dies trägt mit zur Begründung der Disziplin der vergleichenden Religionswissenschaft bei, so dass insbesondere O. PFLEIDERER als der „deutsche Vorkämpfer für die vergleichende Religionswissenschaft“ beschrieben wird. Vgl. dazu TH. KAPPSTEIN, Zu Pfleiderers Gedächtnis, in: Berliner Tageblatt und Handelszeitung, Nr. 366, vom 21.7.1908, 1.

1. Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Kategorie

325

ist zunächst eine spezifische Bestimmung und Funktion des Religionsbegriffs und sowie eine ausdifferenzierte Religionstheorie. Im Anschluss an Karl Schwarz wird eine Religionstheorie entwickelt, in der ein psychologischer, ein metaphysischer sowie ein dogmatischer Aspekt zur Ausdifferenzierung des Phänomens der Religion voneinander unterschieden und gleichermaßen zur Geltung gebracht werden.39 Der psychologische Ursprung der Religion ist die in der Natur des Selbstbewusstseins vorhandene Spannung zwischen Abhängigkeit (als Naturwesen) und Freiheit des Menschen, deren Lösung der Gottesgedanke bildet. Indem Lipsius und Pfleiderer die Religion auf den Anspruch auf Leben oder das „Streben nach Selbstbehauptung“ 40 zurückführen, widersprechen sie einer Ableitung der Religion aus dem sittlichen Bewusstsein (Albrecht Ritschl) oder aus einem einseitig ästhetischen Interesse (Friedrich Schleiermacher). Die empirische Betrachtung der Religion weist über sich hinaus, da sie zu einem Punkt führt, an dem um des Verständnisses der Religion willen intelligible Realitäten als Grenzbegriffe postuliert werden müssen. „Der Mensch erhebt sich von der Welt zu Gott, um in der Abhängigkeit von Gott seine Freiheit von der Welt zu behaupten.“41 Daraus ergibt sich der metaphysische Religionsbegriff, der das Wesen der Religion in einer Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch findet. Das dogmatische Verständnis der Religion hingegen führt über die Formalität der metaphysischen Betrachtung hinaus, indem es das religiöse Wechselverhältnis in einer konkreten Bestimmtheit betrachtet. Dabei richtet sich das dogmatische Interesse nicht auf das Wesen der Religion überhaupt, sondern auf dessen Verwirklichung in einer bestimmten Religion, die nur auf dem Standpunkt des jeweiligen Glaubens erfasst werden kann. Mit der Voranstellung der Psychologie in der Religionstheorie bzw. ihrer spezifischen Rolle als Propädeutik der Theologie schließen sich Lipsius und Pfleiderer an Schleiermacher an, der seinen Ausführungen über das Wesen der Religion die methodische Überlegung voranstellt, dass zu ihrer Erforschung nichts anderes gegeben sei, „als die Seelen, in welchen wir die frommen Erregungen antreffen“42. Vordenker für ihren Ansatz ist Karl Schwarz, der in seinem Werk über das Wesen der Religion von 1847 als erster eine Konzeption der Religionsphilosophie auf der Basis der Psychologie vorgenommen und bestimmt hat, dass das Wesen der Religion „aus einer Analyse des menschlichen Bewusstseins, 39 40 41 42

K. SCHWARZ, Das Wesen der Religion. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 23. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 42. F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube 1821/22, § 7.

326

V. Ertrag und Ausblick

d.h. psychologisch erklärt werden“43 muss. Die besondere Bedeutung der Religionspsychologie für die Theologie sehen die liberalen Jenaer Theologen auch in der Auseinandersetzung mit der psychologischen Religionskritik Feuerbachs. Sie wird zudem als entscheidende Weiterentwicklung einer begrifflich konstruierten Religionsphilosophie verstanden, wie man sie bei Hegel und Schelling sah. „Eine Theologie, die nicht fest und entschlossen auf den Boden der wirklichen Erfahrung sich stellt und die Phänomene der Religion aus dem Wesen des menschlichen Geisteslebens selbst zu verstehen sucht, arbeitet doch nur fürs Feuer. Die Illusionen reißen nicht ab, so lange man meint, durch dogmatische oder spekulative Konstruktionen die Grenzen überspringen zu können, welche nun einmal unserer Erkenntnis gezogen sind.“ 44

Die Rückbindung des Religionsbegriffs und der Theologiekonzeption in der Geist- bzw. Bewusstseinsstruktur des Menschen wird allerdings begrenzt durch die Annahme, dass die religiösen Anschauungen und Vorstellungen im religiösen Bewusstsein aus dem Handeln Gottes selber hervorgehen, bzw. ein Reflex darauf sind. 45 Die Religion hat es also trotz der anthropologischen Rückbindung mit dem sich zum Menschen in Beziehung setzenden Gott zu tun, dessen Handeln die Ursache und der Gegenstand der religiösen Anschauungen bzw. Vorstellungen des Menschen sind.46 Damit wird der Religionsbegriff nicht vom Gottesgedanken gelöst und doch so bestimmt, dass die Religion und ihr Inhalt nicht etwas Zusätzliches zur sonstigen Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt sind, sondern eine tiefere und bewusstere Auffassung der einen Lebenswirklichkeit. Durch eine wechselseitige Bezogenheit des Religions- und des Offenbarungsbegriffs wird in der liberalen Jenaer Theologie das Chris43 44

45 46

K. SCHWARZ, Das Wesen der Religion, 4. R. A. LIPSIUS, Ueber Glauben und Wissen. Vortrag, in: Glauben und Wissen, 1–29, hier: 18. LIPSIUS setzt sich in diesem Vortrag dezidiert mit dem Materialismus FEUERBACHS auseinander und stellt die Bedeutung des Erfahrungsbezuges und der psychologischen Verortung der systematisch-theologischen Reflexionsarbeit heraus. Vgl. dazu auch Ders., Lehrbuch (1876), § 32; O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 2, 29.40. R. A. LIPSIUS, Schleiermachers Reden über die Religion, in: JPTh 1 (1875), 134–184. 269–315, insbesondere: 274. Das religiöse Gefühl ist in SCHLEIERMACHERS Reden als Wirkung eines anderen außerhalb unser gedacht, nämlich als Wirkung des „Universums“, dem ein Handeln auf den Menschen hin zugeschrieben wird. Zur Bestimmung des Religionsbegriff in den Reden SCHLEIERMACHERS vgl. J. RINGLEBEN, Die Reden über die Religion, in: Friedrich Schleiermacher. Theologe–Philosoph–Pädagoge, 236–258; Ders., Schleiermachers Wiederentdeckung von „Religion“, in: Arbeit am Gottesbegriff, Bd. II, 275– 293.

1. Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Kategorie

327

tentum in seiner Relation zu den anderen Religionen begriffen und muss sich durch den Offenbarungsgehalt als überlegene Religion erweisen. Insbesondere Otto Pfleiderer und Adolf Hilgenfeld – Richard Lipsius umgeht das Gebiet der Religionsgeschichte nicht, legt aber das entscheidende Gewicht auf die Analyse der religiösen Strukturen – heben für die liberale Jenaer Theologie hervor, dass von der Religion unter konstitutiver Berücksichtigung ihrer geschichtlichen Gestalten gesprochen werden muss, und dass eine historische Deutung des Christentums im Kontext der allgemeinen Religionsgeschichte die „grossartigste und solideste Apologie des Christentums“47 ist, die sich denken lässt. Die komparatistische, religionsgeschichtliche Sicht soll das Christentum als vollkommenste Gestalt der Religion erweisen. Dies kann deshalb gelingen, weil das christliche Prinzip des vollkommenen religiösen Verhältnisses der Kindschaft bei Gott die Vollendung der religiösen Idee des Menschen als eines über seine endliche Naturbestimmtheit in der Welt zur Freiheit über sie in der Gottesgemeinschaft gelangten Wesens ist. Der psychologisch rückgebundene Wesensbegriff der Religion und die an der empirischen Religionsforschung orientierte Darstellung der Religionsgeschichte werden bei Otto Pfleiderer zwar unabhängig voneinander begründet, sind aber auf Konvergenz angelegt.48 Das Pro-blem an der komparatistischen, religionsgeschichtlichen Sicht ist die fehlende Reflexion darauf, dass der allgemeine Religionsbegriff schon den Standpunkt einer bestimmten Religion, nämlich des Christentums, voraussetzt. Diese Problematik ist von Georg Wobbermin zu Recht als „religions-psychologischer Zirkel“49 gekennzeichnet worden. Die religionspsychologische und religionsgeschichtliche Grundlegung der Theologie, die Wahrnehmung christlicher Erfahrung in der anthropologischen Grundstruktur religiöser Erfahrungen sowie die Einordnung der Religion Israels und des Christentums in die Religionsgeschichte führen zur Rehabilitierung einer Form der natürlichen Theologie. Weil sich die Bedeutung der Religion aus der Geiststruktur des Menschen sowie aus der Geschichte erschließt und die Religion deshalb als Anlage der menschlichen Gattung verstanden werden muss, ergibt sich die Rehabilitierung dieser Form der natürlichen Theologie aus der inneren Logik der liberalen Jenaer Theologiekonzeption.

47 48 49

O. PFLEIDERER, Das Urchristenthum, VII. O. PFLEIDERER, Religionsphilosophie (1878), 312–375. G. WOBBERMIN, Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode, Bd. 1, Leipzig 1913, 405ff.

328

V. Ertrag und Ausblick

Die historisch-kritischen und religionsgeschichtlichen Grundzüge der Exegese in der liberalen Jenaer Theologie kommen in den Blick, wenn man sich vor Augen führt, dass die Werke von Johann S. Semler, Martin L. de Wette und Ferdinand Chr. Baur den wissenschaftlichen Referenzrahmen für die exegetische Arbeit bilden. Dabei lässt sich an den Themen, der Stoffauswahl für die exegetischen Studien sowie den jeweiligen Erträgen eine Entwicklung erkennen, die Walter Schmithals zutreffend als Entwicklung von der ‚Tübinger‘ zur ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘ beschreibt50, mit der ein sich veränderndes Geschichtsbild einhergeht. Forschungsgeschichtlich drückt sich dies in der Jenaer Theologie so aus, dass die israelitische und die christliche Religion als aus den außerjüdischen wie außerchristlichen Religionen und Kulturen erwachsen betrachtet werden. Im Kontext des Alten Testaments gilt es, die vorderorientalischen und ägyptischen Einflüsse zu eruieren, im Neuen Testament die Einflüsse des Judentums bzw. der spätjüdischen Apokalyptik, des Hellenismus und der Gnosis. Die von Johann S. Semler initiierte und von Ferdinand Chr. Baur weitergeführte historischkritische Auslegung der Bibel wird in der liberalen Jenaer Theologie aufgenommen, als natürliche Entwicklung der protestantischen Theologie verstanden und in unterschiedlichen hermeneutischen Perspektiven und Zielsetzungen verfolgt. Zunächst geht es um die radikale Historisierung der Religionsgeschichte Israels sowie des Ursprungs des Christentums und der damit verbundenen Schriften, womit in erster Linie die von Semler intendierte Einordnung der in den Texten bezeugten Ereignisse und Aussagen in ihren historischen Zusammenhang gemeint ist. „Für die Erforschung einzelner geschichtlicher Thatsachen als solche gelten keine anderen Gesetze wie für alle Geschichtsforschung überhaupt; und auch für die heilige Geschichte kann keine Ausnahme gemacht werden.“51

Damit ist die zeitgeschichtliche Bedingtheit der in den Texten bezeugten Aussagen und Ereignisse verbunden, was deren Geltungsanspruch relativiert. Die historisch-kritische Exegese führt so zu einer Unterscheidung zwischen der positiven Religion und dem Wesen der Religion und hat den konstruktiven Sinn, zwischen Vergänglichem und Bleibendem zu unterscheiden, und gerade so den zeitübergreifenden religiösen Kern der biblischen Überlieferungen freizulegen.

50

51

W. SCHMITHALS zeigt in einem Aufsatz zum Wirken und zum Werk PFLEIDERERS diese genetische Perspektive auf. Vgl. Ders., Von der Tübinger zur Religionsgeschichtlichen Schule, in: 450 Jahre Evangelische Theologie in Berlin, 309–331. R. A. LIPSIUS, Die Bedeutung des Historischen im Christenthume (1881), in: Glauben und Wissen, 111–142, hier: 137.

1. Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Kategorie

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Ausgangspunkt für die neutestamentliche Exegese ist der entwicklungsgeschichtliche Grundansatz Baurs. So stellen Lipsius, Pfleiderer und Hilgenfeld mit Baur fest, dass die Entstehung des Christentums als ein „Entwicklungsprozess“ zu denken sei, „in dem außer dem Lebenswerk Jesu noch manche andere Faktoren mitwirkten, deren Verbindung und innere Ausgleichung miteinander nur allmählich und nicht ohne innere Gegensätze und Kämpfe sich vollziehen konnte“52.

In Bezug auf den entwicklungsgeschichtlichen Ansatz und die Annahme der Parteiengegensätze Baurs sowie die darauf basierende Exegese des Neuen Testaments lassen sich in de liberalen Jenaer Theologie zwei signifikante Abweichungen feststellen. Zum einen distanziert man sich von dem Schematismus der Tendenzkritik Baurs zugunsten einer literarhistorischen Form der Exegese. Der Tendenzcharakter gilt als heuristisches Prinzip, aber „eingeschränkt durch Quellenmäßigkeit und geschichtliche Grundlage“53, womit der Weg zur Quellenkritik, zur philologischen, stilistischen und historischen Analyse der Schriften und Texte entschiedener als bei Baur beschritten wird. Die zweite signifikante Abweichung gegenüber Baur begrenzt die Gültigkeit seiner These einer klaren Unterscheidung urchristlicher Parteien insofern, als die ursprüngliche Rolle des Ebionitismus in Frage gestellt wird und der Auseinandersetzung mit der Gnosis eine entscheidende Bedeutung für die sich besonders im Johannesevangelium dokumentierende Einigung von Parteigegensätzen in der Geschichte des Urchristentums zugestanden wird. Das Schlüsselgeschehen in der Geschichte des Urchristentums ist nicht das Auseinandergehen von Juden- und Heidenchristentum, sondern die Überwindung der Gnosis und bereits im Römerbrief ist eine irenisch geprägte Ausrichtung erkennbar, die aus dem Selbsterhaltungsstreben des Heidenchristentums hervorgegangen ist und später in den Pastoralbriefen eine klare Gestalt bekommen hat. In dem Diskurs um die Leben-Jesu-Forschung, das Verständnis der Evangelien und die Bedeutung des historischen Jesus lässt sich als Konvergenzlinie zwischen Lipsius, Hilgenfeld und Pfleiderer eine radikale Historisierung der Person Jesu ausmachen. Jesus von Nazareth ist in historischer Perspektive ein Jude, der eine sublimierte Gestalt 52 53

O. PFLEIDERER, Die Entstehung des Christentums, 12f. A. HILGENFELD, Historisch-kritische Einleitung in das Neue Testament, 198. Ein beredtes Beispiel für diese Form der neutestamentlichen Exegese ist auch die Studie zum 1. Thessalonicherbrief von R. A. LIPSIUS. Vgl. Ders., Ueber Zweck und Veranlassung des ersten Thessalonicherbriefes, in: ThStKr 27 (1854), 905–934. Vgl. dazu die Ausführungen zur Exegese und zum Schriftverständnis bei LIPSIUS in Kapitel IV, 207ff.

330

V. Ertrag und Ausblick

spätjüdischer Frömmigkeit gelebt und den Glauben an den gnädigen Vatergott verkündet hat. Erst Paulus und der Paulinismus begründeten die Ausbreitung des Christentums, indem sie die Orientalismen von Jesu Predigt abstreiften und das so entstandene Vakuum mit griechischen Ideen füllten. Insbesondere Pfleiderer wendet sich gegen Ritschls Versuch, aus der Persönlichkeit Jesu von Nazareth und seiner kirchenstiftenden Erlösungstätigkeit eine absolute Wahrheit des christlichen Glaubens abzuleiten und Jesus als Persönlichkeit zu bestimmen, die gegenüber der übrigen Religionsgeschichte prinzipiell verselbstständigt werden könne, um so dem Glauben eine Erkenntnissphäre sui generis zu sichern. Es ist das besondere Merkmal der Prophetie Jesu, dass sie nicht mit Macht von außen in unsere Welt einbricht, sondern dass sie die Väterlichkeit Gottes evoziert, die in der Welt bereits wirksam ist. Das Wunder liegt in der Geschichte des Christentums, die ein Teil der religiösen Entwicklung der Menschheit ist, und nicht in bestimmten exzeptionellen Ereignissen. Von ihrem historischen Standpunkt aus erklären die Jenaer Theologen, dass die christliche Religion und Kirche ihre Grundlagen im Christusglauben des Urchristentums haben, und dass umstritten ist, wie viel zu diesem Christusglauben „die geschichtliche Erinnerung an Jesus von Nazareth“54 beigetragen habe. Nur das Christusbild des Glaubens ist den Evangelien mit Sicherheit zu entnehmen, und das ist insofern angemessen, als der christliche Glaube „von der geschichtlichen Person Jesu wohl ausgegangen, aber keineswegs mit ihr identisch“55 ist. Die religionsgeschichtlich ausgerichtete Exegese geht insofern auf Adolf Hilgenfeld zurück, als dieser in seinen Studien erstmals auf die jüdische Apokalyptik als wichtigstes Glied der Vorgeschichte des Christentums aufmerksam machte. Er hat darauf verwiesen, dass „zwischen der alttestamentlichen Prophetie und dem Christenthum wenigstens kein unmittelbarer Zusammenhang“ bestehe, dass aber „das vorchristliche Judenthum selbst eine Vorbildung des Christlichen in sich schloss“56. Hilgenfeld sieht in der jüdischen Apokalyptik eine Entwicklung der inneren Läuterung hin zur „Allgemeinheit des christlichen Gottesreiches“57. Otto Pfleiderer kennzeichnet daran anknüpfend den religionsgeschichtlichen Grundzug der exegetischen Arbeit in der liberalen Jenaer Theologie, wenn er betont,

54 55 56 57

O. PFLEIDERER, Das Christusbild des urchristlichen Glaubens in religionsgeschichtlicher Beleuchtung, Berlin 1903, 8. O. PFLEIDERER, Die Ritschl’sche Theologie, 37. A. HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik, 1; IX. Ebd., 189.

1. Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Kategorie

331

„wie viel für das Verständnis des Urchristentums aus der Vergleichung der außerbiblischen jüdischen und heidnischen Religionsgeschichte zu lernen ist, ja wie unentbehrlich geradezu für die Aufhellung der wichtigsten Fragen solche Vergleichung ist“58.

Während die Göttinger Religionsgeschichtler, darin Albrecht Ritschl folgend, in der Hellenisierung des frühen Christentums einen mehr oder weniger gravierenden Abfall von dem einfachen Evangelium Jesu, der innigen Religion des Nazareners, erblicken und dementsprechend das frühe Christentum eine „synkretistische Religion“ nennen können59, dient den liberalen Jenaer Theologen die religionsgeschichtliche Forschung zum besseren Verständnis der christlichen Wahrheit, welche „die alten Formen zum Gefäß für einen wesentlich neuen Inhalt“60 macht. In der alttestamentlichen Wissenschaft zeigt sich die religionsgeschichtliche Ausrichtung der Exegese in der Ausweitung des Forschungsgebietes auf die Altorientalistik, die bei Eberhard Schrader zur Begründung der Assyriologie als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin führt. Insbesondere seine Studien sowie die seines Nachfolgers Karl A. Siegfried sind dem Nachweis vielfältiger religionsgeschichtlicher Parallelen und Dependenzen der alttestamentlichen Überlieferungen gewidmet, und spiegeln den Ansatz einer vergleichenden Religionsgeschichte.61 Die zentrale Aufgabe der alttestamentlichen Wissenschaft wird darin gesehen, „die israelitische Religion an ihrem geschichtlichen Ort zu begreifen“62. Dies verbietet eine dogmatische Behandlung des Alten Testaments in der Form, wie sie im Rahmen einer heilsgeschichtlichen Konzeption üblich ist und verlangt, dass sich theologische Urteile aus der historisch-wissenschaftlichen Untersuchung ergeben müssen. So sehr die Jenaer Theologen die disziplinäre Verselbstständigung der alttestamentlichen Exegese als eines historischen Fachs vorantreiben, sind sie zugleich von der theologisch normativen Leistungskraft historisch-kritischer Exegese überzeugt. Die Erfor-

58 59

60 61

62

O. PFLEIDERER, Das Urchristentum, ²1902, VI. H. GUNKEL, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, Göttingen ²1910, 95. Zur Göttinger religionsgeschichtlichen Schule vgl. insbesondere E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 277–293.352–364; W. G. KÜMMEL, Das Neue Testament, 310–359. O. PFLEIDERER, Das Christusbild, 109. Vgl. dazu die Ausführungen zur Exegese bei E. SCHRADER, Kapitel IV, 282–299, insbesondere: 297. Die Dissertation von K. A. SIEGFRIED, De sacrificiorum Hebraeorum, Graecorum, Romanorum et originis et rituum similitudine, Halle 1859, kann als beredtes Beispiel für einen komparativen Ansatz einer vergleichenden Religionsgeschichte gesehen werden. L. DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes, 690.

332

V. Ertrag und Ausblick

schung der Geschichte und Religion Israels ist nicht nur eine historische, sondern auch eine theologische Aufgabe, da die Schriften des Alten und Neuen Testaments die Grundlagen der israelitischen und christlichen Religion sind, und die Theologie „doch eben die Wissenschaft der Religion ist und man dem Inhalte dieser Bücher ohne eine theologische Betrachtung derselben nicht gerecht werden könne“63. Die Hermeneutik der liberalen Jenaer Theologie ist dadurch gekennzeichnet, dass neben eine konsequent historisch-kritische und religionsgeschichtlich ausgerichtete Exegese eine theologische bzw. religiöse Bedeutung der Texte tritt, die ihre Berechtigung in dem Selbstanspruch der Texte hat. Es geht also in hermeneutischer Perspektive um eine „Konkordanz“ der historischen und theologischen Betrachtungsweise. Diese dürfen nicht wie unversöhnliche Gegensätze betrachtet werden und gehören auch nicht zwei voneinander getrennten Ebenen an.64 Die Verschränkung der beiden Betrachtungsweisen wird bei den Jenaer Theologen so vorgenommen, dass zum einen die mit historischen Mitteln erschlossene Geschichte der israelitischen und christlichen Religion insgesamt theologisiert wird. Die göttliche Offenbarung liegt in der Faktizität der Geschichte verborgen bzw. hat sich den Gesetzen allen Werdens gefügt. Sie liegt immanent-geschichtlichen Entwicklungen zugrunde und ist nicht in bestimmten exzeptionellen Ereignissen zu sehen. Zum anderen ist eine Verschränkung der beiden Perspektiven dadurch gegeben, dass bei jeder Form historischer Analyse eine „geschichtliche Werthschätzung“65 vollzogen werden muss. Somit bildet die theologische Anschauung einen eben solchen Bezugspunkt für die Einschätzung und Wertung der Ergebnisse historischen Forschens. Ein weiterer Grundzug der Hermeneutik spiegelt sich in der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Exegese. Das Aufkommen der Frage nach dem hermeneutischen Charakter der Theologie ist dadurch bedingt, dass der exegetischen Arbeit von Ludwig Diestel, Adalbert 63 64

65

K. A. SIEGFRIED, Die theologische und historische Betrachtungsweise des A. T’s., in: Zeitschrift für praktische Theologie 12 (1890), 97–120, hier: 117. In prototypischer Weise vertritt O. EISSFELDT letzteren Standpunkt in der sich in das frühe 20. Jahrhundert hineinziehenden Debatte „Die historische Betrachtungsweise einerseits und die theologische andererseits gehören zwei verschiedenen Ebenen an. Sie entsprechen zwei verschieden gearteten Funktionen unseres Geistes, dem Erkennen und dem Glauben.“ Ders., Israelitisch-Jüdische Religionsgeschichte und Alttestamentliche Theologie, in: ZAW 44 (1926), 1–12, hier: 8. Zur „Konkordanz“ der historischen und theologischen Betrachtungsweise des Alten Testaments vgl. K. A. SIEGFRIED, Die theologische und historische Betrachtungsweise des A. T’s, 119. L. DIESTEL, Zwei Nachträge zu „Die kirchliche Anschauung vom Alten Testament“, in: JDTh 14 (1869), 528–539, hier: 531.

2. Die Theologie als Wissenschaft

333

Merx, Eberhard Schrader und auch Karl Siegfried eine intensive Auseinandersetzung mit der Forschungs- und Auslegungsgeschichte des Alten Testaments zugrunde liegt.66 Dadurch setzt sich die Einsicht in die historische Relativität der Auslegung alttestamentlicher Texte durch. Zum anderen führt die historische Ausrichtung der Exegese und die Konzeption der Theologie als Geschichtswissenschaft unausweichlich zur Frage nach der prinzipiellen Unabgeschlossenheit der Auslegungsprozesse und der geschichtlichen Bedingtheit des Verstehens von Schriften und Texten. Damit wird ein neues Licht auf das Verhältnis von Exegese und Dogmatik geworfen, aber auch ein theologisches Axiom bedroht, nämlich der normative Charakter der Schrift für die Dogmatik. Mit ihrer konsequent historisch-kritischen Forschung ergibt sich für die liberalen Jenaer Theologen „ein völlig verändertes Verhältnis zu den fundierenden Dokumenten des christlichen Glaubens“67. Während Richard A. Lipsius die Notwendigkeit der historischen Forschung ebenso betont wie die Unmöglichkeit, dass aus ihr unmittelbare religiöse Folgen hervorgehen können, fordert Adalbert Merx, dass die Hermeneutik zur neuen Grundlagendisziplin der Theologie werden muss. Da das Verhältnis von Schrift und jeweiligem dogmatischen System immer durch das Verständnis der Schrift bestimmt und damit von hermeneutischen Prinzipien abhängig ist, muss die Hermeneutik mit als Grundlagendisziplin der Theologie angesehen werden.68

2. Die Theologie als Wissenschaft und das Verhältnis von historischer und systematischer Theologie Ein Kristallisationspunkt der liberalen Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert ist in dem Ansatz zu sehen, die Theologie in den Rahmenbedingungen der Rezeption der Erkenntnistheorie Kants durch den Neukantianismus sowie in den Rahmenbedingungen des Historismus als Wissenschaft zu begründen. Auf diesem Weg soll die Theologie im Kanon der Wissenschaften als anschlussfähig erwiesen wer-

66 67 68

A. MERX sieht darin ein typisches Kennzeichen für die Exegese der „Jenaischen Arbeiten“. Vgl. Ders., Die Prophetie des Joel, Vorwort. H. FISCHER, Systematische Theologie, Stuttgart u.a. 1992, 238. Und zwar mit „einer wohl begründeten Theorie darüber, wie Schrift und Schriften zu verstehen sind, wie der Sinn aus der Schrift gezogen werden muss, wie der in Schrift gebannte Geist entfesselt und zu neuer Wirkung geführt werden kann“. A. MERX, Eine Rede vom Auslegen, 14.

334

V. Ertrag und Ausblick

den-, wobei man ihre Wissenschaftlichkeit in dreifacher Weise verifizieren will.69 Der erste Eckpfeiler, auf den die Begründung der Theologie als Wissenschaft aufgebaut ist, ist die religionspsychologische und religionsgeschichtliche Verankerung der Theologie. Der Religionsbegriff wird – seiner geschichtlichen Herkunft aus dem Christentum ungeachtet – in der conditio humana verankert. Daraus wird der erkenntnistheoretische Schluss gezogen, dass ein wissenschaftliches Verständnis des Christentums nur so zu gewinnen sei, dass man von dem Begriff ‚Religion‘ überhaupt ausgehen muss und auf diesem Hintergrund die Eigenart des Christentums sowie dessen Ort in der allgemeinen Religionsgeschichte nachweisen. Zugleich – und dies ist der zweite Eckpfeiler der Begründung der Theologie als Wissenschaft – wird die Theologie als Glaubenswissenschaft verankert, und somit nicht in Religionswissenschaft überführt.70 Für das Verständnis der Theologie impliziert dies, dass das Denken sich nicht allein zwischen den Polen Frömmigkeit und Welt, Gefühl und Lebensgemeinschaft mit Gott bewegt, sondern dass als weitere konstitutive Faktoren Offenbarung, Glaube und Schrift hinzukommen. Der dritte Eckpfeiler schließlich, auf den die Begründung der Theologie als Wissenschaft aufbaut, ist die Verbindung von Teleologie und Kausalität, von Glaube und Vernunft. Dabei geht es sowohl um das Festhalten an einer einheitlichen Weltanschauung, als auch um eine grundsätzliche Legitimation und Limitation der menschlichen Gotteserkenntnis. Die religionspsychologische und religionsgeschichtliche Verankerung der Theologie ist in den Augen der Jenaer Theologen dadurch gefordert, dass die Religion eine in und mit der menschlichen Natur gegebene geistige Anlage und das Christentum eine auf dieser natürlichen Grundlage beruhende geschichtliche Erscheinung ist. Mit der Begründung der Religion auf der Basis der Psychologie gehen Lipsius und Pfleiderer in Anlehnung an Schleiermacher von der Konzeption einer philosophischen Psychologie als Grundlagenwissenschaft eines Systems der Wissenschaften aus, in das auch die Theologie eingegliedert ist. Friedrich Schleiermacher hat diesen Neuansatz einer philosophischen Psychologie als Grundlagendisziplin eines Systems der Wissenschaften vorentworfen. In seinen Vorlesungen zur Psychologie 71 be69

70 71

Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung der Positionen in der liberalen Jenaer Theologie vgl. den Überblick zur Auffassung der Theologie als Wissenschaft bei W. PANNENBERG, Wissenschaftstheorie und Theologie, 226–298. Vgl. dazu S. HJELDE, Die Religionswissenschaft & das Christentum, 80ff. F. SCHLEIERMACHER, Psychologie. Aus Schleiermacher‘s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. L. GEORGE, 1862 (SW III.6). Vgl. dazu

2. Die Theologie als Wissenschaft

335

kundet er die Überzeugung, dass für die Begründung jeder Konzeption vom systematischen Zusammenhang aller Wissenschaften eine Grundwissenschaft erforderlich sei, in der der organisierende Mittelpunkt allen menschlichen Wissens begriffen und theoretisch dargestellt wird. Gegenstand der Psychologie als dieser Disziplin ist unser (menschliches) Ich als der unhintergehbare Anfang allen Wissens, das wir erreichen können. In diesem Gegenstand ist uns das Leben als Inbegriff aller möglichen Gegenstände unseres Wissens – nicht nur des ethischen, sondern auch des physischen – gegeben. Und zwar in einer Form, die das spekulative und das empirische Wissen in ursprünglicher Vermitteltheit beisammen hält und deren Unterschied erst aus sich hervorgehen lässt. Lipsius und Pfleiderer verstehen somit in Anlehnung an Schleiermacher und die Schleiermacher-Interpretation von Karl Schwarz72 die Psychologie als eine beide Formen des Wissens – empirisches und spekulatives – sowie beide Gegenstandsbereiche des Wissens – Natur und Geist – vermittelnde Wissenschaft, die als Grundlagenwissenschaft fungiert. Damit stehen Lipsius und Pfleiderer in dem im ausgehenden 19. Jahrhundert geführten Diskurs um eine experimentell ausgerichtete und eine deskriptive, eine naturwissenschaftliche und eine geisteswissenschaftliche Psychologie.73 In Anlehnung an Friedrich Albert Lange und dessen Lehre vom Vorstellungswechsel und in Auseinandersetzung mit Wilhelm Herrmann, der die erklärende Psychologie auf die physiologische reduzieren will, halten beide an einer Form der geisteswissenschaftlichen Psychologie als eigenständiger Wissenschaft vom kausalen Zusammenhang psychischer Phänomen fest. „Die Verknüpfung des Einzelnen mit anderm Einzelnen erfolgt hier ebenso wie beim Naturerkennen nach logischen Gesetzen; im Vorstellungswechsel ebenso wie in der Umsetzung der Gefühle in Vorstellungen und der Vorstellungen in Willensantriebe ist ein ebenso strenger Causalzusammen-

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73

E. HERMS, Die Bedeutung der ››Psychologie‹‹ für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher, in: Menschsein im Werden, 173–-199; K. HUXEL, Ontologie des seelischen Lebens, 145–235. K. SCHWARZ stellt fest, dass das Wesen der Religion „aus einer Analyse des menschlichen Bewusstseins, d.h. psychologisch erklärt werden muss“. Vgl. Ders., Das Wesen der Religion, 4. Auch die Dogmatik gehört für ihn mit hinein in die Psychologie, „sie ist religiöse Psychologie, die Systematisirung des religiösen Bewußtseins.“ Ebd., 87. Vgl. dazu G. JÜTTEMANN (Hg.), Wilhelm Wundts anderes Erbe: Ein Missverständnis löst sich auf, Göttingen 2006.

336

V. Ertrag und Ausblick

hang nachweisbar wie in den ‚materiellen‘ Veränderungen der äussern Natur.“74

Hier zeigen sich Analogien zu Wilhelm Dilthey und Wilhelm Wundt und deren jeweiligen Entwürfen, eine geisteswissenschaftliche Form der Psychologie als Grundlagenwissenschaft im Kanon der Wissenschaften zu verankern. So bestimmt etwa Wundt, ausgehend vom Erfahrungsbegriff, die Psychologie in der Zweiheit von experimenteller Psychologie und Völkerpsychologie als Grundlage der Geisteswissenschaften.75 Wilhelm Dilthey wiederum liefert im Anschluss an Schleiermacher den Entwurf einer deskriptiv-analytischen Psychologie und weist diese als einen unverzichtbaren Pfeiler einer Grundlegung der Geisteswissenschaften nach.76 Im Durchgang durch die Einzelwissenschaften des Geistes lässt sich seiner Meinung nach zeigen, dass keine von ihnen in der Erforschung ihres je spezifischen Gegenstandsbereiches auf die Inanspruchnahme psychologischer Kategorien und ein Verständnis des seelischen Strukturzusammenhangs auskommen kann.77 Auch die Theologie profitiert von einer solchen Psychologie, insofern sie ein Verständnis der Funktionen und der Bildung des seelischen Lebens in allen Teilen ihrer enzyklopädischen Ausfächerung immer schon voraussetzen muss. Sie ist als Geisteswissenschaft ebenso wie alle anderen Geisteswissenschaften angewiesen auf die Erfassung unf 75

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R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 13; Ders., Philosophie und Religion. Neue Beiträge zur wissenschaftlichen Grundlegung der Dogmatik, 1885, 115. Vgl. F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 835–849. Vgl. auch W. HERRMANN, Rezension: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von R. A. Lipsius, 1876, in: ThStKr 50 (1877), 521–544, insbesondere: 528. „Alle diese Wissenschaften, Philologie, Geschichte, Staats- und Gesellschaftslehre haben zu ihrem Inhalt die unmittelbare Erfahrung, wie sie durch die Wechselwirkung der Objecte mit erkennenden und handelnden Subjekten bestimmt wird. Alle Geisteswissenschaften bedienen sich daher nicht der Abstractionen und der hypothetischen Hülsbegriffe der Naturwissenschaft, sondern die Vorstellungsobjecte und die sie begleitenden subjectiven Regungen gelten ihnen als unmittelbare Wirklichkeit, und sie suchen die einzelnen Bestandtheile dieser Wirklichkeit aus ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu erklären.“ W. WUNDT, Grundriss der Psychologie, Leipzig 1896, 4. Vgl. auch Ders., Völkerpsychologie, 10 Bde., Leipzig 1900–1920. Während die Psychologie bei SCHLEIERMACHER als eine empirisches und spekulatives Verfahren verbindende Wissenschaft vorgestellt ist, wird sie bei DILTHEY als rein empirische Wissenschaft konzipiert, die dennoch nicht einfach mit dem naturwissenschaftlichen Zweig des Fachs identisch ist. Vgl. W. DILTHEY, GS XXI: Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Erster Teil: Vorlesungen zur Psychologie und Anthropologie (ca. 1875–1894), hg. v. G. VAN KERCKHOFEN/H.-U. LESSING, Göttingen 1997. Vgl. dazu auch die Darstellung des Entwurfs seiner deskriptiv-analytischen Psychologie bei K. HUXEL, Ontologie des seelischen Lebens, 236–335.

2. Die Theologie als Wissenschaft

337

Klärung der in ihnen vorausgesetzten psychologischen Annahmen.78 Die Wesenstruktur des christlich-religiösen Bewusstseins kann nicht ohne Bezug auf die universale Verfasstheit dessjenigen greifbar werden, was man als seelisches Leben bezeichnet. Obwohl sich die subjektive Geltung und die objektive Wahrheit der Religion nur dem erlebenden Subjekt erschließen, kann die Religion zum Objekt theoretischer Erkenntnis gemacht werden, weil sie sich nur als „psychische Erscheinung“, in psychischen Vorgängen, die „Objekte der inneren Wahrnehmung“ sind, verwirklichen kann. Zwar besteht der Wert einer religiösen Erfahrung oder Vorstellung nur für das Subjekt, aber die „Vorstellung von diesem Werthe als empirisches Motiv des Handelns ist eine erkennbare Thatsache des menschlichen Geisteslebens“79. Eine religionspsychologische Rückbindung der Theologie ist allerdings nur die eine Weise, in der sich die stärkere Berücksichtigung der Empirie niederschlägt und sich ein Verständnis der Theologie als Religionswissenschaft anbahnt. Die andere ist, dass von Religion nur unter konstitutiver Berücksichtigung ihrer geschichtlichen Gestalten gesprochen werden kann. Otto Pfleiderer kennzeichnet in seinem Erstlingswerk über Wesen und Geschichte der Religion von 1869 die Religionsphilosophie und die Religionsgeschichte als die Hauptbestandteile seines Werkes. Dabei ordnet Pfleiderer sein Werk der Religionswissenschaft zu, stellt es aber zugleich auch in eine theologischen Rahmen ein und zwar durch die doppelte Bezugnahme auf das evangelische Stift in Tübingen, in dem sein Buch seinen Ursprung und seine Adressaten hat.80 Im Hinblick auf diese institutionellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ließe sich das religionsphilosophische Werk auch als theologische Abhandlung bezeichnen und was die Inhalte betrifft, so könnten zumindest Teile davon auf den traditionellen Nenner der Theologie bzw. der Dogmatik gebracht werden. Man müsste also im Sinne Pfleiderers – und mit diesem Ansatz steht er für die liberale Jenaer Theologie insgesamt – davon ausgehen, dass zwischen Theologie und Religionswissenschaft kein Trennungsstrich zu ziehen ist, sondern diese als ebenso natürlich wie notwendig zusammengehörige Aspekte des einen Studiums der Religion organisch miteinander verbunden sind. In

78

79 80

Vgl. dazu grundlegend W. STEGMÜLLER, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, Berlin ²1969, 1-33.162–219.450–456. Vgl. auch K. HUXEL, Ontologie des seelischen Lebens, 336-348. R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 158. Als eine „Festgabe“ zum 100. Geburtstag F. SCHLEIERMACHERS hat PFLEIDERER „diess religionsphilosophische Werk“ dem Tübinger Stift gewidmet. O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, X.

338

V. Ertrag und Ausblick

dieser angelegten Synthese kommt die Vorstellung einer möglichen Alternative nicht in den Blick.81 Neben die religionspsychologische und religionsgeschichtliche Begründung der Theologie als Wissenschaft und ihre damit verbundene Integration in die Religionswissenschaft, kommt als zweiter Eckpfeiler für die Wissenschaftlichkeit der Theologie deren Begründung als Glaubenswissenschaft zu stehen. Es geht, insbesondere in der Dogmatik, um „die wissenschaftliche Darstellung des christlichen Glaubens vom Standpunkte des christlichen Glaubens aus“82. Damit ist eine grundlegende Positivität des christlichen Glaubens angenommen. Insbesondere Lipsius hebt diese Positivität auch bei seiner Darlegung des Christentumsverständnisses hervor, die er mit dem Satz beginnt: „Das Christentum als geschichtliche Religion ist der Glaube an die geschichtliche Offenbarung in Jesus Christus, dem Sohne Gottes und Erlöser der Menschen“83.

Bei der wissenschaftlichen Darstellung des christlichen Glaubens bzw. des Dogmas in der Theologie geht es um den religiösen Gehalt, d.h. um die Gewissheit, „dass der auf die Herstellung des vollkommenen religiösen Verhältnisses gerichtete göttliche Heilswille in Jesus Christus geschichtlich offenbart“ und dieses Verhältnis „in ihm persönlich verwirklicht und durch ihn ebensowol für die Gemeinschaft als für die einzelnen Gläubigen vermittelt“84 ist. Allerdings kann die Dogmatik bzw. die Theologie als Glaubenswissenschaft ihre Aufgabe, den religiösen Gehalt des christlichen Glaubens darzustellen, nur erfüllen, wenn sie eine einheitliche Weltanschauung aufbaut, die die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften und der wissenschaftlichen Metaphysik einbezieht, und so die teleologische Betrachtung mit der kausalen verbindet. Diese Verbindung von Teleologie und Kausalität ist der dritte Eckpfeiler auf dem die Begründung der Theologie als Wissenschaft ruht. Eine Theologiekonzeption, die sich auf die teleologische Betrachtung beschränkt, kann nur den „Geltungswerth“ der religiösen Vorstellungen „für den Frommen“ darstellen. Die Theologie als Wissenschaft muss jedoch, wenn die das Verhältnis Gottes zur Welt oder das Verhältnis des Christen zur Welt denkt, von der Kausalitätskategorie Gebrauch machen. Denn Gott kann nur dann die zwecksetzende Wil81 82 83 84

Zum Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie bei PFLEIDERER vgl. S. HJEDE, Die Religionswissenschaft & das Christentum, 65–86. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 1. Ebd., 124. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 158.

2. Die Theologie als Wissenschaft

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lensmacht sein, an die sich der Glaubende vertrauensvoll wendet, wenn er kausale Macht über die Welt hat. Die Theologie als Wissenschaft steht daher vor der Aufgabe, durch den Aufbau einer einheitlichen Weltanschauung zu zeigen, dass die teleologischen Aussagen trotz ihrer Seins-Implikationen mit den kausalen Aussagen der Wissenschaften nicht in Konflikt geraten können.85 Aus dieser dreifachen Begründung der Theologie als Wissenschaft ergeben sich hermeneutische Konsequenzen. Insbesondere die Unterscheidung von religiösem Gehalt und zeitbedingter Form theologischer Aussagen führen zu der Frage nach dem Verhältnis von historischer und dogmatischer Theologie, und damit auch in die Überlegungen und Diskurse zur inneren Gliederung der Theologie.86 Adolf Hilgenfeld betont stellvertretend für die liberale Jenaer Theologie, dass der historischen Theologie die Aufgabe zukommt, den „eigentlichen Tatbestand“, d. h. den geschichtlichen Ursprung des Christentums „als der für alle Zeiten bleibenden, unerschöpflichen Lebensmacht ... durch sorgfältige Erforschung der ganz oder teilweise erhaltenen Schriften und der in den ersten Zeiten unserer Religion verbreiteten eigentümlichen Gedankenwelt ... nach seiner inneren Entwicklung immer klarer zu erkennen“87.

Im Anschluss an den Ansatz Ferdinand Chr. Baurs wird die neutestamentliche Exegese zur Zentraldisziplin der Theologie überhaupt, da die exegetische Theologie der Weg zum Wissen vom Urchristentum ist, an dem sich die Eigenart des Christentums am deutlichsten ablesen lässt. Das historische Wissen über das Urchristentum hat dadurch gegenwartsorientierende Kraft und Normativität, dass es das Wissen über die klarste Manifestation des Wesens des Christentums ist. Zudem ist der Ursprung des christlichen Glaubens von konstitutiver Bedeutung. Für das geschichtliche Wissen über das Urchristentum gilt, was für den Weg zu jedem geschichtlichen Wissen gilt. Es ist durch Kritik gewonnen und d. h. durch Auffassungen gegenwärtig gegebener Mani-

85 86

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Vgl. dazu R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion, 310. Vgl. W. PANNENBERG, Wissenschaftstheorie und Theologie, 349–426. Im weiteren Verlauf des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde der Diskurs um das Verhältnis von historischer und systematischer Theologie insbesondere von E. TROELTSCH bestimmt. Vgl. Ders., Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1900), in: GS, Bd. II, Tübingen 1913, 729–753. Zur Diskussionslage im ausgehenden 20. Jahrhundert vgl. G. EBELING, Dogmatik und Exegese (1980), in: Wort und Glaube IV, Tübingen 1995, 492–509; CHR. SCHWÖBEL, Martin Rade. Das Verhältnis von Geschichte, Religion und Moral als Grundprobleme seiner Theologie, 1980, 272–285. A. HILGENFELD, Die Göttingische Polemik, 7f.

340

V. Ertrag und Ausblick

festationen geschichtlichen Lebens im Horizont von Einsichten in die dauernden Bedingungen des Menschseins im geschichtlichen Werden. Einziger Ausgangspunkt für den Weg zum Wissen um das Urchristentum sind die christlichen Dokumente, die in diesem Zeitraum entstanden sind. Der einzige Weg zu dem vom Interesse der Theologie verlangten Wissen über das Urchristentum ist das historisch-kritische Verständnis dieser Schriften. Bei diesem Verfahren der Exegese steht in der liberalen Jenaer Theologie nicht mehr die geschichtsphilosophische Durchdringung der übergreifenden Geschichtszusammenhänge im Vordergrund des theologischen Interesses, sondern die genaue Erfassung des historischen Einzelfaktums. Angestrebt wird dabei die geschichtliche Wirklichkeit des Urchristentums. Das hier angestrebte Wissen findet sein Ziel mit Hilfe der Texte nicht in einem Wissen über sprachliche Objekte, sondern erst in einem Wissen über eine Wirklichkeit, die in jenen Texten bezeugt ist. Es geht um die Unterscheidung von Form und Gehalt der religiösen Vorstellungen, die für das Verständnis der Texte zu veranschlagen ist. Das unterscheidet das Verständnis der liberalen Jenaer Theologen in Bezug auf den wissenschaftlichen Umgang mit den urchristlichen Schriften von dem in der altprotestantischen Orthodoxie üblichen, und es verbindet ihre Sicht des wissenschaftlichen Umgangs mit diesen Texten mit denjenigen Positionen, die die urchristlichen Texte von der in ihnen bezeugten Sache unterschieden und die Texte als Zeugen für die Sache gelesen haben. Das Arbeiten mit dieser kategorialen Differenz begründet das historischkritische Verfahren in der liberalen Jenaer Theologie. Das ist aber ein offeneres Verständnis von historisch-kritischer Methode als dasjenige, das exemplarisch von Ernst Troeltsch beschrieben beschrieben und favorisiert worden ist.88 Es ist eine grundlegende wissenschaftstheoretische Auffassung der liberalen Jenaer Theologen, dass die Theologie nur auf dem Boden der historisch-kritischen Forschung der biblischen Überlieferungen als Wissenschaft möglich ist. Mit dem historisch-kritischen Verfahren der Exegese, das in der liberalen Jenaer Theologie zugrunde gelegt ist, will man im Unterschied zu Herman Samuel Reimarus oder David Friedrich Strauss die exegetische Arbeit explizit auf dem Boden der christlichen Gewissheit und damit ipso facto in der christlichen Gemeinschaft vollzogen wissen.89 Es gehört zum wissenschaftlichen und kritischen Charakter der exegetischen Theologie, dass sie sich immer im Hin und 88 89

Vgl. E. TOELTSCH, Historische und dogmatische Methode. Vgl. dazu R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 149–172; A. HILGENFELD, Die Göttingische Polemik, 9.

3. Historische Etappe und andauerndes Sachproblem der Theologie

341

Her zwischen Textbasis und einem kategorialem Leit- und Fragehorizont des Exegeten bewegt. Die Exegese fragt nach einem Einzelvorgang, nämlich nach dem innerhalb des Weltgeschehens Ereignis gewordenen Zustandekommen der Manifestationen Gottes, ihren Wirkungen, ihren Spuren und ihrer subjektiven Verarbeitung. Der Leithorizont des Exegeten ist insofern relevant, als es zu einer Anerkennung der Normativität und der Orientierungskraft des aus der historischen Theologie stammenden Wissens um das Urchristentum nur dann kommen kann, wenn sich das Streben nach einem Wissen über das Urchristentum bereits auf dem Boden des Christentums selber bewegt. Lipsius betont, dass die in der Schrift gesammelten Zeugnisse nur dann als verbindlich anerkannt werden können, wenn der Mensch durch alle Zeitbindung hindurch des religiösen Gehaltes der Schrift und der religiösen Bedeutung der Person Jesu Christi ansichtig wird. Das Wesen des Christentums bzw. der christliche Glaube hat eine geschichtliche und eine ewige Seite, eine historische und eine ahistorische. Das bedeutet, dass der Glaube und die religiöse Erkenntnis ihren Rückhalt und ihren ständigen Bezugspunkt in geschichtlichen Ereignissen haben, ohne die sie sich nicht konstituieren. Andererseits sind aber Glaube und religiöse Erkenntnis nicht ohne Geistzeugnis möglich. Als grundlegende erkenntnistheoretische Annahme der liberalen Jenaer Theologie ist festzuhalten, dass alles Wissen der Theologie sich in der Polarität zwischen kategorialen und empirischen Einsichten bewegt, womit sowohl eine Eigenständigkeit, als auch eine unauflösliche Zusammengehörigkeit von systematischer und exegetischer Theologie gegeben ist. Dogmatik und Exegese fördern und fordern einander. Je tiefer der Exeget in die Sachinterpretation eindringt, desto mehr muss er bewusst an der dogmatischen Verantwortung partizipieren.

3. Liberale Theologie in Jena als historische Etappe und als andauerndes Sachproblem der Theologie Die in der Selbstwahrnehmung der Beteiligten eigenständige liberale Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert ist zunächst als historische Etappe in der Theologiegeschichte einzuordnen. In einer solchen Perspektive ist die liberale Jenaer Theologie in den soziohistorischen und ideengeschichtlichen Rahmenbedingungen und Konstellationen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verhaftet.90 Dazu gehören 90

Vgl. dazu die insbesondere Ausführungen in Kapitel V, 1. Grundzüge und innere Logik einer theologiegeschichtlichen Richtung, 313ff.

342

V. Ertrag und Ausblick

die spezifischen Rahmenbedingungen der Universitätstheologie, die innere Organisation der Fakultäten und die spezifischen Konfliktkonstellation um die Universitätstheologie als Wissenschaft und ihre Rückgebundenheit an die kirchliche Praxis. Dazu gehört auch die Idee des geschlossenen theologischen Profils einer Theologischen Fakultät und der Versuch, eine homogene akademische Richtung in regionalem Rahmen zu wahren.91 In geistes- bzw. ideengeschichtlicher Perspektive kann man in der liberalen Jenaer Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert ein charakteristisches Beispiel für eine Theologiekonzeption im Zeitalter des aufkommenden Historismus und der Entstehung der Religionswissenschaft sehen. Durch die Übernahme der profanhistorischen Methode bzw. den Ausbau einer literarhistorischen Exegese mit der Fixierung der Erfassung des historisch-philologischen Einzelfaktums gelingt die Emanzipation von spekulativ orientierten Geschichtskonstruktionen, ohne dass von dem Bedenken überindividueller Zusammenhänge im Verhältnis zu individuell erklärbaren Entstehungsgeschichten gänzlich Abschied genommen wird. Mit der literarkritischen bzw. literarhistorischen sowie der religionsgeschichtlichen Ausrichtung der alt- und neutestamentlichen Exegese wird der Übergang von der ‚Tübinger Schule‘ zur ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘ vorbereitet, und in Jena bereits vollzogen. Als Hermann Gunkel 1894 für die alttestamentliche Wissenschaft als Ziel ausrief, dass „wir aus einer kritischen in eine religionsgeschichtliche Epoche übergehen“92 war dieser epochale Wechsel bei den Exegeten in Jena bereits eingetreten, allerdings ohne dass die exzeptionelle Stellung der literarkritischen Arbeit aufgegeben worden wäre. Für 91

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Zur soziohistorischen Verortung vgl. M. BAUMGARTEN, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert; S. GERBER, Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation; J. WISCHMEYER, „Das Geschichtliche auszuschließen sei doch gegen das christl. Gefühl“ – Karl von Hases Jenaer Seminar 1850–1883 als Tradierungsgort liberaler Bürgertheologie, in: ZNThG 13 (2006), 227–250. WISCHMEYER arbeitet anhand der Protokollbücher der dogmatisch-historischen Klasse des Jenaer theologischen Seminars unter der Leitung von K. HASE die Rückbindung des theologischen Liberalismus an die Prägung einer kirchlichen und politischen liberalen Mentalität sowie die Einbindung des theologischen Liberalismus in einen Sozialverband heraus. Zur soziohistorischen Verortung und Wissenschaftsorganisation der Universitätstheologie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Ders., Theologiae Facultas. K. RIES weist in seiner sozialgeschichtlichen Untersuchung zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik im frühen 19. Jahrhunderts auf die Entwicklung des politischen Professorentums im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts hin und zeigt damit sozialgeschichtliche Bahnen auf, in denen auch die liberalen Jenaer Theologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu verorten sind. Vgl. Ders., Wort und Tat. Das politische Professorentum an der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert, 455–478. Vgl. W. KLATT, Hermann Gunkel, Göttingen 1969, 53.

3. Historische Etappe und andauerndes Sachproblem der Theologie

343

die theologiegeschichtliche Einordnung, dass die ‚Religionsgeschichtliche Schule‘ in Göttingen entstanden sei, wäre der ergänzenden Hinweis auf die zuvor in Jena erfolgte religionsgeschichtliche Ausrichtung der Theologie und Exegese sachlich angemessen.93 In diese Phase zwischen der literarkritischen und religionsgeschichtlichen Ausrichtung der Exegese sind die vielfältigen und instruktiven Ergebnisse der altund neutestamentlichen Forschung in Jena einzuordnen. Hier ist rückblickend ebenso auf die weiterführenden Beiträge von Merx und Schrader zur Pentateuch- und Prophetenforschung zu verweisen wie auf die Beiträge von Hilgenfeld, Lipsius und Pfleiderer zur Geschichte des Urchristentums, der Gnosis und der spätjüdischen Apokalyptik. Man kann die liberale Jenaer Theologie als einen Strang der höchst unterschiedlichen liberalen Theologien des 19. Jahrhunderts einordnen, in welchem der Religionsbegriff dazu dient, einem an supranaturalen Ursprungsmythen orientierten Geschichtsbild die Vielgestaltigkeit historisch-kontextualisierter Frömmigkeit entgegenzusetzen, und der eine unter erkenntnistheoretischen Bedingungen psychologisch fundierte und metaphysisch erweiterte Religionstheologie darstellt.94 Diese weiß sich ihrer doppelten Herkunft von Hegel und Schleiermacher ebenso verpflichtet wie „dem Problemkontext der eigenen Zeit“95. Gleichwohl ergeben sich aus der Theologiekonzeption, den exegetischen Prinzipien und hermeneutischen Grundlagen der liberalen Jenaer Theologie Impulse für gegenwärtige Fragestellungen und Themenfelder der Theologie. Diese Impulse sollen abschließend markiert werden und damit zu einer weitergehenden Auseinandersetzung mit der liberalen Jenaer Theologie angeregt werden. Im Rahmen der erkenntnistheoretischen und religionsphilosophischen Fundierung der Theologie verweist die liberale Jenaer Theologie auf einen unaufgebbar doppelten Referenzrahmen für die Theologie als Wissenschaft. Die Theologie hat es einerseits mit der Welt der Kausalitäten zu tun, die u.a. Gegenstand historischer und psychologischer For-

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Vgl. E. LESSING, Geschichte, Bd. 1, 278; W. SCHMITHALS, Von der Tübinger zur Religionsgeschichtlichen Schule, 325f. W. BOUSSET spricht im Vorwort zu seinem Werk über die Person Jesu davon, dass PFLEIDERER an die Spitze derjenigen gehöre, die die Religionsgeschichte angeregt hätten. Vgl. W. BOUSSET, Die Bedeutung der Person Jesu für den Glauben, Berlin-Schöneberg 1910, Vorwort. Vgl. J. DIERKEN, Zwischen Innen und Außen, Relativem und Absolutem. Dimensionen des Religionsbegriffs, in: KuD 49 (2003), 180–209, hier: 184f.; F. WAGNER, Art. Religion II., TRE 28, 522–540. O. REINMUTH, Religion und Spekulation, A. E. Biedermann (1819-1885). Entstehung und Gestalt seines Entwurfs im Horizont der zeitgenössischen Diskussion, Wien 1993, 369.

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V. Ertrag und Ausblick

schung ist, andererseits aber mit der Teleologie, die sich außerhalb klarer wissenschaftlicher Begründung bewegt. Ihr Verhältnis zur Kausalität kann darum nur in einer Metaphysik der Grenzbegriffe aufgehellt werden. Damit wird die Grundfrage nach der Quelle und den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens auf den Boden des Neukantianismus gestellt. Dies geschieht in einer für die gegenwärtige Debatte um die erkenntnistheoretischen Fragen zu wissenschaftlichen Verstehensbemühungen instruktiven Weise, da als Leitperspektive ein Doppelprogramm von Legitimation und Limitation der Gotteserkenntnis sowie deren Konsequenzen für religiöses und metaphysisches Erkennen vorgestellt und eingefordert wird.96 Gegenüber der Suche nach erfahrungsfreien Bedingungen des Denkens und der metaphysischen Grundlegung der Theologie durch die Behauptung eines Gegenstandsbezuges ihrer metaphysischen Ideen der Seele, des Weltganzen oder Gottes, ist mit Kant zu betonen, dass unsere Begrifflichkeit bezüglich der Erkenntnis des Ganzen begrenzt ist. Und es ist zu betonen, dass wir es insbesondere bei der religiösen Erkenntnis mit Tatsachen des menschlichen Bewusstseins oder mit inneren Vorgängen des subjektiven Geisteslebens zu tun haben, die vom Subjekt prinzipiell nicht abgetrennt werden können. Der Mensch kann die Dinge prinzipiell nicht so erkennen, wie sie an sich sind, sondern immer nur so, wie sie für ihn sind. Und religiöses Erkennen vollzieht sich notwendigerweise in Bildern bzw. mit Hilfe des „bildenden Anschauungsvermögens“97. Wenn Religion und Metaphysik über die Grenze der Erfahrung hinausgehen und einen letzten Grund aller Erscheinung annehmen, dann handelt es sich nicht um reine Erkenntnis, sondern um bildende Anschauungskraft. Gegenüber dem Verzicht auf die Suche nach einem apriorischen Begriffsschema oder den letzten Punkten des Denkens, ist hingegen die unaufgebbare Legitimation einer Metaphysik der Grenzbegriffe geltend zu machen, und zwar mit mehrfacher Begründung. Gerade wenn das Kantische Kriterium der a priori im Subjekt liegenden Möglichkeiten und Grenzen jeder Erkenntnis für Natur und Geschichte akzeptiert 96

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Zum neu erwachten Interesse an der Erkenntnistheorie KANTS in der neueren Philosophie und zur neueren KANT-Forschung insgesamt vgl. G. HINDRICHS, Warum Kant heute? Zur Kantforschung in Kants zweihundertstem Todesjahr, in: PhR (51) 2004, 97–121; D. H. HEIDEMANN, Vom Empfinden zum Begreifen, in: Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart, 14-43. Zur Frage nach einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Theologie als Wissenschaft vgl. J. VAN OORSCHOT, Grenzen der Erkenntnis als Quellen der Erkenntnis, in: ThLZ 132 (2007), Sp. 1277–1292. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), § 9.

3. Historische Etappe und andauerndes Sachproblem der Theologie

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wird, sind Apriori-Setzungen unumgänglich und es wäre mit Richard A. Lipsius darauf zu verweisen, dass wir, veranlasst durch den Einheitstrieb des Geistes und ausgehend von der erfahrbaren Weltwirklichkeit, Begriffe von den letzten Ursachen allen Seins aufgrund eines notwendigen Vernunftschlusses bilden. Die Notwendigkeit diese Begriffe zu bilden, eröffnet die Möglichkeit einer legitimen aber auch limitierten Metaphysik der Grenzbegriffe, die uns nicht ihr objektives Korrelat erschließt, aber uns ein den absoluten Weltgrund betreffendes formales Wissen ermöglicht. Mit der Überzeugung, dass der Begriff der Religion das gedankliche Organisationszentrum neuzeitlicher Theologie bildet und als Leitbegriff der Theologie zu gelten hat, steht die liberale Jenaer Theologie im gegenwärtigen Diskurs um die Verhältnisbestimmung von Religion, Religionsbegriff und Theologie.98 Ein die gegenwärtige Debatte bereichernder Impuls der liberalen Jenaer Theologie kann in ihrem spezifischen Verständnis der Religion als Thema der Theologie und dem doppelten Haftpunkt für den Religionsbegriff gesehen werden. Mit der programmatischen Unterscheidung von Religion und Theologie ist der Einbau einer reflexiven Selbstdistanzierung in die Thematisierung der Binnensicht der christlichen Religion verbunden. Diese kommt in der historisch-kritischen Erforschung der Heiligen Schrift, den fundierenden Dokumenten des Christentums, ebenso zur Geltung wie in der Problematisierung und Herausstellung seiner Absolutheit in der Religionsgeschichte. Auf dem Boden der christlichen Glaubensgewissheit als Grund aller theologischen Rede wird eine Selbstüberschreitung eines konfessionell-partikularen Charakters angestrebt. Das besondere christlich-religiöse Bewusstsein sucht sich auf die Allgemeinheit von menschlichem Bewusstsein überhaupt hin zu überschreiten. Dies kommt besonders prägnant in der Ausbildung eines zwar vom Christentum aus entworfenen, aber es in seiner konfessionellen Positivität überschreitenden Religionsbegriffs zum Ausdruck, der zur ‚conditio humana‘ gezählt wird.99

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J. DIERKEN, ‚Religion‘ als Thema der Evangelischen Theologie. Zur religionstheoretischen Bedeutung einer konfessionellen Disziplin, in: NZSTh 43 (2001), 253–264. Vgl. auch D. KORSCH; Religionsbegriff und Gottesglaube. KORSCH beantwortet die Frage nach dem Religionsverständnis mit einem explizit theologischen Vorschlag: Das Selbstverständnis und die Wahrheitsauffassung des Christentums ist so zu fassen, dass es als aufklärender Deutungshorizont von Kultur und Religion gelten kann. Die Problematik einer anthropologischen Theorie der Religion als einem Basisfaktor der conditio humana ist bei den Jenaer Theologen nicht dergestalt im Blick, wie sie sich aus heutiger Sicht aus dem empirischen Befund einer vielfachen religionsfreien Lebensführung ergibt. Vgl. dazu N. LUHMANN, Die Religion der Gesellschaft, Frank-

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V. Ertrag und Ausblick

Dabei hat der Religionsbegriff in der liberalen Jenaer Theologie einen doppelten Haftpunkt: den Gottesbezug als verbindliches objektives Credo und den Unbedingtheitscharakter subjektiver Vergewisserung und lebensgestaltender Kraft. Inhalt der Religion ist „diejenige praktische Lebensbeziehung des Menschen zu der weltbeherrschenden Macht oder zu Gott, welche beruht auf dem unwillkürlich und gottgewirkten Lebensgefühl der Lebensgebundenheit an Gott, und durch freiwillige Hingabe an ihn sich erhebt zur Lebensgemeinschaft mit Gott und damit zur gottähnlichen Stellung zur Welt“100.

Dieser doppelte Haftpunkt des Religionsbegriffs erweist sich gegenüber derjenigen Sicht auf die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts als widerständig, die gegen alle Formen liberaler Theologie den Vorwurf erhebt, dass die Theologie in Anthropologie überführt worden sei.101 Ebenfalls wäre im Rahmen einer systematisch-theologischen Studie der doppelte Haftpunkt des Religionsbegriffs in der liberalen Jenaer Theologie mit den gegenwärtigen Konzeptionen des Religionsbegriffs und der religionsphilosophischen Grundlegung der Theologie ins Gespräch zu bringen. Während Ingolf U. Dalferth ein „Zerfließen des Religionsbegriffs“ analysiert, der in einer globalen Medienkultur ohne präzise Näherbestimmung kaum noch eine spezifische Selektionsleistung für bestimmte Phänomene erbringe und damit keinen verlässlichen Anhalt für wissenschaftliche Reflexion biete, hebt Jörg Dierken die Bedeutung des Religionsbegriffs hervor, der als Theoriebegriff auf der Grenze von Außen- und Binnenperspektive liege und als Vollzugsbegriff Vorgänge der Grenzüberschreitung von einer allgemeinen Theorieperspektive zu besonderen religiösen Gestalten vermittle.102 Hier ist das von der libera-

furt a. M. 2000. LUHMANN zeigt auf, dass anthropologische Theorien von der Religion als einem Basisfaktor der conditio humana durch den empirischen Befund einer Vielzahl an religionsfreier Lebensführung widerlegt werden. 100 O. PFLEIDERER, Grundriss der christlichen Glaubens- und Sittenlehre (31898), 12. 101 Vgl. dazu die Ausführungen zum Begriff und zur Begriffsgeschichte in Kapitel I, 1– 10, und insbesondere die Aspekte zur gegenwärtigen Debatte um die liberale Theologie, Kapitel I, 30-33. 102 I. U. DALFERTH, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis, ThLZ.F 11/12 (2004), 16f. Vgl. auch Ders., Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, in: ThLZ 126 (2001), Sp. 3–20. J. DIERKEN, Zwischen Innen und Außen, Relativem und Absolutem. Dimensionen des Religionsbegriffs, in: KuD 49 (2003), 180-209. D. KORSCH wiederum stellt die Bedeutung des Religionsbegriffs heraus, indem er dessen Kulturkompetenz und Integrationsleistung aufzeigt und Religion als Hermeneutik der Kultur fasst. DIETRICH KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube. Vgl. zur Debatte um die Bedeutung des Religionsbegriffs auch U. BARTH, Religion in der Moderne, Tübingen 2003, und J. LAUSTER, Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005.

3. Historische Etappe und andauerndes Sachproblem der Theologie

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len Jenaer Theologie bedachte Potential des Religionsbegriffs zur wissenschaftstheoretischen Verankerung und Anschlussfähigkeit der Theologie von Dierken aufgenommen. Mit der Übernahme des Religionsbegriffs zur Grundlegung der Theologiekonzeption rückt das Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie in den Blick.103 In der gegenwärtigen Diskussion um das Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft ist man in der Regel darum bemüht, den prinzipiellen Abstand zwischen den Disziplinen zu betonen. So macht Ingolf U. Dalferth den Unterschied zwischen Theologie und Religionswissenschaft an den „verschiedenen Distanzierungsweisen“ fest, die beide Disziplinen vornehmen und „die sich eben deshalb miteinander verbinden, aber in kein hierarchisches Unter- oder Überordnungsverhältnis bringen lassen und deshalb auch nicht bruchlos ineinander überführt werden können“104. Der religionswissenschaftliche Ansatz der liberalen Jenaer Theologie, der federführend von Otto Pfleiderer bestimmt wird, zieht zwischen den Disziplinen keinen Trennungsstrich, sondern versucht eine religionswissenschaftliche Theologie und eine theologische Religionswissenschaft zu konzipieren. Dabei ist die bei den Jenaer Theologen gesetzte Gleichung von Protestantismus und „Religion der Religionen“ (O. Pfleiderer) bzw. der Annahme, dass das Prinzip des Christentums der Höhepunkt der religionsgeschichtlichen Entwicklung ist, durch die Sicht von Hegel und Schleiermacher bedingt105, aber in Bezug auf die Wahrnehmung der standortspezifischen Perspektivität des Protestantismus deutlich unterbestimmt. Als Alternative zu einer Gleichung von protestantischem Christentum und religionsgeschichtlicher Teleologie kommt allerdings weder eine gleichgültige Nivellierung sämtlich historisch aufkommen-

103 Vgl. dazu die historische Untersuchung über das Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie von S. HJELDE, in der die Rolle O. PFLEIDERERS als Mitbegründer der Religionswissenschaft erfasst und dargestellt wird. Vgl. S. HJELDE, Die Religionswissenschaft & das Christentum. Zur gegenwärtigen Verhältnisbestimmung von Theologie und Religionswissenschaft bzw. zur Bedeutung der Religionswissenschaft für die Theologie vgl. A. FELDTKELLER, Theologie und Religion. Eine Wissenschaft in ihrem Sinnzusammenhang, Leipzig 2002; U. TWORUSCHKA, Selbstverständnis, Methoden und Aufgaben der Religionswissenschaft und ihr Verhältnis zur Theologie, in: ThLZ 126 (2001), Sp. 123–138. 104 I. U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, in: ThLZ 126 (2001), Sp. 18 Anm. 33. 105 G. W. F. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, hg. v. W. JAESCHKE, PhB 461, Hamburg 1995, 1ff.99ff.177ff.; F. SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Fünfte Rede: Über die Religionen, hg. v. G. MECKENSTOCK, Berlin/New York 1999, 163.

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V. Ertrag und Ausblick

der religiösen Geltungsansprüche, noch ihre Integration in einen letzten Einheitsgrund, auf den sie alle zulaufen, in Betracht. Demgegenüber ist das unhintergehbare Doppelprogramm von historischer und systematischer Perspektive, zwischen der Absolutheit der religiösen Eigenposition und ihrem Eingestelltsein in einen pluralen Kontext für einen theologischen Umgang mit der Religionsgeschichte fruchtbar zu machen. Die Ansätze der liberalen Jenaer Theologen, sowohl eine religionswissenschaftliche Theologie als auch eine theologische Religionswissenschaft zu bieten, haben in Bezug auf die Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Religionswissenschaft bis in die Gegenwart hinein Nachfolger gefunden.106 Man bemüht sich um einen Abbau der Differenz durch den Entwurf der Theologie als Religionswissenschaft. So kann die Theologie als spezifische Christentumswissenschaft unter oder neben entsprechenden Religionswissenschaften anderer Religionen konzipiert werden. Oder sie wird in Verknüpfung beider Momente als Wissenschaft des christlichen Glaubens gegenüber anderen religiösen Orientierungen, aber zugleich als derjenige Fall von Religionswissenschaft ausgegeben, der als einziger „die wahre Religion“ – nämlich die christliche – thematisiert.107 Anders gelagert ist der Versuch, die Differenz durch den Entwurf der Religionswissenschaft als theologische Disziplin und ihre Integration in die Theologie durch eine Theologie der Religionen zu überbrücken. Dabei will man die Religionen und die Stellung des Christentums innerhalb der Religionsgeschichte nicht im Rekurs auf dogmatische Prämissen thematisieren, sondern im Ausgang von einem allgemeinen Religionsbegriff oder einem allgemeinen

106 Hier ist vor allem auf die verschiedenen Entwürfe einer Theologie der Religionen bzw. einer Theologie der Religionsgeschichte zu verweisen. Vgl. R. LEUZE, Möglichkeiten und Grenzen einer Theologie der Religionsgeschichte, in: KuD 26 (1978), 230– 243; W. PANNENBERG, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, in: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, 1967, 252–295; C.-H. RATSCHOW, Die Religionen und das Christentum, in: NZSTh 9 (1967), 88–128. PANNENBERG und RATSCHOW verstehen die Genitivverbindung Theologie der Religionen im Sinne eines Genitivus subjectivus. Sie grenzen sich damit ab von einer Theologie der Religionsgeschichte, wie sie P. ALTHAUS vertreten hat, für den diese gleichbedeutend mit dem „Vollzug des Glaubens und des in ihm liegenden Urteils über die Menschenwege in konkretem Durchdringen der Religionswelt“, und nichts anderes als „das Selbstbewußtsein der missionierenden Christenheit“ ist. Vgl. P. ALTHAUS, Mission und Religionsgeschichte, in: ZSTh 5 (1927/28), 550–590 und 722– 736, hier: 586. 107 E. HERMS, Theologie und Religionswissenschaft, in: Variations hermeneutique, No 9 (1998), 65–87, hier: 71.

3. Historische Etappe und andauerndes Sachproblem der Theologie

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Gottesbegriff.108 Derartige Verständnisse einer Theologie der Religionen, die ihren methodischen Ausgangspunkt nicht in dogmatischen Voraussetzungen des christlichen Glaubens nehmen, sehen sich allerdings der Kritik seitens der Theologie und der Religionswissenschaft ausgesetzt, dass ein allgemeiner Religionsbegriff als Grundlage und Ausgangspunkt einer Theologie der Religionen nicht möglich ist. Trifft dies zu, dann könnte eine Theologie der Religionen nur im Sinne eines Genetivus objectivus verstanden werden.109 Als Impuls aus der liberalen Jenaer Theologie für die weitere Forschung zur Verhältnisbestimmung von Religionswissenschaft und Theologie kann aufgenommen werden, die unaufgebbaren Verbindungslinien im Blick auf die jeweilige Aufgabe von Theologie und Religionswissenschaft zu ziehen, und die religionstheoretische Bedeutung des Christentums bzw. der Theologie zu betonen. Wenn es als Aufgabe der Theologie anzusehen ist, die Bestimmung der Identität des Christentums in Unterscheidung von anderen Religionen vorzunehmen, kann sie diese Aufgabe nur einlösen, wenn sie sich auf der Grenze zwischen Außen- und Innenperspektive bewegt. Ihre Koordinaten umfassen somit religiöse Selbstbeschreibung und psychologische Analyse, grundlegende Positivität des christlichen Glaubens und philosophische Vernunft, historische Bedingtheit und geltungstheoretischer Überschritt bzw. dogmatische Positionalität. „Im Unterschiede von der Religionswissenschaft, deren Aufgabe die theoretische Erkenntnis der Religion nach ihrem psychologischen Wesen, ihren Gesetzen und ihrer geschichtlichen Entwicklung ist, beschränkt sich nicht blos die Dogmatik auf das bestimmte Gebiet des christlichen Glaubens, sondern nimmt auch die objective Realität des religiösen Verhältnisses und die maassgebende Geltung der christlich-religiösen Weltanschauung für die kirchliche Gemeinschaft ... zur Voraussetzung.“ 110

108 Vgl. R. LEUZE, Möglichkeiten und Grenzen einer Theologie der Religionsgeschichte, in: KuD 24 (1978), 230–243; W. PANNENBERG, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte; C.-H. RATSCHOW, Die Religionen (=HST 16), Gütersloh 1979. Auch bei den sogenannten pluralistischen Religionstheologen findet sich das Verständnis einer Theologie der Religionen, die ihren methodischen Ausgangspunkt nicht in dogmatischen Voraussetzungen des christlichen Glaubens nehmen will. Vgl. J. HICK, Gott und seine vielen Namen, hg. v. R. KIRSTE, 2001 (=God has many Names, The Westminster Press Philadelphia 1982); DERS., An Interpretation of Religion. Human Responses to the Transcendent, Yale University Press 1989. 109 In diesem Sinn plädiert A. FELDTKELLER für ein Verständnis von einer Theologie der Religionen im Sinne eines Genitivus objectivus, ohne damit in eine dogmatische Lesart nichtchristlicher Religionen zurückzufallen, wie sie beispielsweise für P. ALTHAUS signifikant war. Vgl. A. FELDTKELLER, Theologie und Religionen, 36–81. 110 R. A. LIPSIUS, Lehrbuch (³1893), 8.

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V. Ertrag und Ausblick

Die religionstheoretische Bedeutung der Theologie liegt darin, dass diese in einem Punkt unbestreitbar als etwas „Einzigartiges“ in der ganzen Religionsgeschichte hervortritt, insofern die christliche Theologie derjenige Ort ist, wo ein wissenschaftlicher Umgang mit einem bestimmten, namentlich dem jüdisch-christlichen Religionskomplex mit methodischen Grundprinzipien durchgeführt wurde. Dieser einfache Sachverhalt, dass die Religionswissenschaft genetisch in spezifischer Weise mit der christlichen Theologie verbunden ist bzw. in der Theologie wurzelt, wird in der liberalen Jenaer Theologie greifbar.111 Dass in der Theologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts religionsgeschichtliche Fragestellungen wiederkehren, wird u.a. darauf zurückgeführt, dass die Albrecht Ritschl und Karl Barth verbindende Ablehnung einer religionsgeschichtlich verfahrenden Theologie eine Unterbestimmung des Sachverhaltes darstellt, dass der christliche Glaube respektive das Christentum nicht abseits der Religionsgeschichte verortet werden können.112 Für Richard A. Lipsius stellt sich die notwendige Verankerung des Christentums in der Religionsgeschichte so dar, dass Offenbarung und Religion Wechselbegriffe sind, die nur miteinander Realität haben.113 In der Religion sind somit ein göttlicher Geistesakt, die Offenbarung als Beziehung Gottes auf den Menschen, und ein menschlicher Geistesakt, die Religion als Beziehung des Menschen auf Gott, in ein und demselben geistigen Vorgang miteinander vereint. Die Offenbarung ist der objektiv-göttliche Grund, die Religion die subjektiv-menschliche Folge. Für die gegenwärtige Debatte um den Religionsbegriff gewendet impliziert dieser Ansatz, dass Offenbarung nicht 111 Darauf macht F. STOLZ aufmerksam: „Dass die Religionswissenschaft in der Theologie wurzelt, ist nicht lediglich eine historische Tatsache, sondern bleibt bedeutsam und wird zu bedenken sein“. Vgl. F. STOLZ, Theologie und Religionswissenschaft – das Eigene und das Fremde, in: Grundlagen der evangelischen Religionspädagogik, hg. v. J. OHLEMACHER und H. SCHMIDT, Göttingen 1988, 163–182, hier: 163. 112 W. SCHMITHALS weist in seinem Aufsatz zur religionsgeschichtlichen Theologiekonzeption PFLEIDERERS auf diese Verbindungslinie zwischen A. RITSCHL und K. BARTH hin. So radikal sich BARTH von der RITSCHL-Schule abwendete, blieb er in der Betonung des biblischen Christus und der Exklusivität der biblischen Offenbarung auf der von RITSCHL vorgegebenen Linie der christologischen Konzentration. Vgl. W. SCHMITHALS, Von der Tübinger zur Religionsgeschichtlichen Schule, 326f. Wenn Religion nach BARTH der „konzentrierte Ausdruck des menschlichen Unglaubens ist“ (Vgl. KD I/2, Zürich Zollikon 51960, 330), Theologie aber ausschließlich vom Wort Gottes herkommt, dann verhalten sich Religionswissenschaft und Theologie zueinander wie zwei Kreise, die keine Berührung haben und das Christentum kann nicht in der Religionsgeschichte verortet werden. Zu den Motiven der Religionskritik K. BARTHS vgl. insbesondere CHR. LINK, Motive theologischer Religionskritik, in: Religion als Thema der Theologie, hg. v. W. GRÄB, Gütersloh 1999, 91–117. 113 Vgl. dazu Kapitel III, 2.1.4, Offenbarung und Religion als Wechselbegriffe, 141f.

3. Historische Etappe und andauerndes Sachproblem der Theologie

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anders zugänglich ist als in ‚Religion‘, d. h. in menschlicher Wahrnehmung, Auffassung, Reaktion darauf, im Zeugnis, das Menschen davon geben, mit ihrem Wort wie mit ihren religiösen Handlungen.114 „Denn wenn ‚Offenbarung‘ den Vorgang meint, in welchem Gott zu bestimmten Menschen in eine bestimmte Beziehung tritt, dann ist er in seiner Offenbarung nicht allein, vielmehr sind die Lebenswelten und Handlungsfelder der Menschen bis hin zu Kultus, Gebet und Meditation von vorneherein mit ‚dabei‘ und so auch das Phänomen menschlicher Religion.“ 115

Die liberale Jenaer Theologie kann als Vorläufer einer Theologie verstanden werden, „die sich vom Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen her begreift“116 und die für eine religionsgeschichtliche Dogmatik steht, in der zentrale Topoi anderer Religionen als Bezugsgrößen für die christliche Glaubenslehre aufgenommen werden. Wolfhart Pannenberg hält es für naheliegend, „die Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte der Einheit Gottes zu betrachten, die von dem einen Gott selbst bewirkt ist als Weg zur Offenbarung seines Wesens“. Das Ergebnis des Selbsterweises Gottes in der Religionsgeschichte zeigt sich in der christlichen Offenbarung, so dass der Offenbarungsbegriff „der Erscheinungsgeschichte Gottes in der Geschichte der Religionen korrespondiert“.117 Damit, so Pannenberg, wird der Erscheinungsgeschichte der göttlichen Wirklichkeit in der Vielgestaltigkeit der Religionen und ihrer jeweiliger Wahrheitsansprüche nicht etwas Fremdes hinzugefügt, da der Offenbarungsbegriff im Verlauf der Religionsgeschichte selbst zur Bezeichnung der Wahrnehmung Gottes im Prozess der Geschichte wird. Auch die Dogmatik von Hans-Martin Barth mit dem Untertitel „Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligio-

114 Dies muss gegenüber BARTHS theologischer Religionskritik und deren Weiterführung geltend gemacht werden. Vgl. Ders., Kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, ZürichZollikon 51960, § 17 (304–397). CHR. LINK hat in einer treffenden und kritisch weiterführenden Darstellung zum Religionsbegriff BARTHS gezeigt, dass es diesem bei seiner theologischen Religionskritik um letzte Konsequenzen der Rechtfertigungslehre geht, und das BARTH darin nicht zu wiedersprechen ist. „Barths Religionskritik ist – theologisch gesprochen – angewandte Rechtfertigungslehre.“ CHR. LINK, Motive theologischer Religionskritik, 101f. Damit hat die theologische Religionskritik BARTHS allerdings nicht, so LINK, die historischen Religionen und die Frage nach Gottes Offenbarung in den Religionen im Blick. 115 CHR. LINK, Motive theologischer Religionskritik, 102. 116 R. LEUZE, Theologie und Religionsgeschichte, 440. Es war zunächst vor allem C.-H. RATSCHOW, der die Bedeutung der nichtchristlichen Religionen für die Theologie herausstellte. Vgl. Ders., Die Religionen und das Christentum, in: NZSTh 9 (1967), 88–128. 117 W. PANNENBERG, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 164.

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V. Ertrag und Ausblick

nen“ zeigt in die Richtung einer religionsgeschichtlichen Dogmatik, wie sie insbesondere bei Otto Pfleiderer begegnet. 118 Die Kontroverse um Theologie und Religionsgeschichte und die Verflechtung von Leitfragen der Religionswissenschaft mit denjenigen der alttestamentlichen Exegese erlebt in der alttestamentlichen Wissenschaft des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts eine ausführliche Renaissance, wie die zahlreichen Veröffentlichungen anzeigen.119 In forschungsgeschichtlicher Perspektive erweist sich die jüngste Monotheismus-Debatte als Wiederaufnahme zentraler Fragestellungen der religionsgeschichtlichen Schule – und damit auch der liberalen Jenaer Theologie – des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Eine solche Wiederaufnahme lässt sich auch in anderen Bereichen der Rekonstruktion religionsgeschichtlicher Entwicklungen im antiken Israel beobachten. 120 Nachdem sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Dialektische Theologie als maßgebliche Position in der deutschsprachigen protestantischen Theologie etabliert hatte, wirkte sich dies auch in den exegeti-

118 H.-M. BARTH, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen, ²2002. Auch wenn die Materialbasis hinsichtlich der nichtchristlichen Religionen notgedrungen relativ schmal ist, wird ein möglicher Zugewinn der Systematischen Theologie durch das Gespräch mit den Religionen angezeigt. 119 Vgl. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit (GAT 8/1–2), Göttingen 1992; B. JANOWSKI/M. KÖCKERT (Hg.), Religionsgeschichte Israels. Formale und materiale Aspekte, Gütersloh 1999; M. KÖCKERT, Von einem zum einzigen Gott. Zur Diskussion der Religionsgeschichte Israels, in: BThZ 15 (1998), 137–175; H. NIEHR, Der höchste Gott. Alttestamentlicher JHWH-Glaube im Kontext syrischkanaanäischer Religion des 1. Jahrtausends v. Chr. (BZAW 190), Berlin/New York 1990; J. VAN OORSCHOT/M. KREBERNIK (Hg.), Polytheismus und Monotheismus in den Religionen des Vorderen Orients (AOAT 298), Münster 2004; F. STOLZ, Probleme westsemitischer und israelitischer Religionsgeschichte, in: ThR 56 (1991), 1–26; Ders., Einführung in den biblischen Monotheismus, Darmstadt 1996; M. WEIPPERT, JHWH und die anderen Götter. Studien zur Religionsgeschichte des antiken Israel in ihrem syrisch-palästinischen Kontext, Tübingen 1997. 120 Die Entwicklung spiegelt sich in den Artikeln der zweiten, dritten und vierten Auflage der RGG zum ‚Monotheismus‘ und ‚Polytheismus‘. In der zweiten Auflage von 1930 vertritt M. HALLER die These, dass sich „M.(onotheismus) als bestimmt formulierte Lehre vom Dasein eines einzigen Gottes ... erst vom Exil“ an belegen lasse. Vgl. Ders., Art. Monotheismus und Polytheismus II. AT, ²RGG, Bd. IV (1930), Sp. 192– 194, hier: 192. 1960 behauptet F. BAUMGÄRTEL, dass sich die Religion Israels und ihr Monotheismus nicht evolutionär erklären lassen. „Der M.(onotheismus) in der at Religion ist zwangsläufige Folge ihres Grundverständnisses von Gott, mit dem sie wie ein erratischer Block aus den Umweltreligionen herausragt.“ Vgl. Ders., Art. Monotheismus und Polytheismus II. AT, ³RGG Bd. IV (1960), Sp. 1113–1115, hier: 1113. 2002 erklärt H.-P. MÜLLER wiederum, dass es einen reflektierten Monotheimus in Israel erst als Antwort auf die Exilskrise gebe. Vgl. Ders., Art. Monotheismus und Polytheismus II. AT, 4RGG Bd. V(2002), Sp. 1459–1462.

3. Historische Etappe und andauerndes Sachproblem der Theologie

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schen Disziplinen aus.121 In den Vordergrund trat die Analogielosigkeit des biblischen Glaubens. Für die alttestamentliche Wissenschaft sowie die Frage nach Religionsgeschichte und Theologie des Alten Testaments gewendet, implizierte dies die grundlegende Annahme, dass die Nachbarreligionen Israels ihren aus den Wachstumsvorgängen der Natur und anthropologischen Grundmustern extrapolierten Göttern dienten, während Israel an den einen, sich in der Geschichte offenbarenden Gott glaubte und sich damit von allem Anfang an von seinen Nachbarn unterschied.122 Diese Diskontinuitätskonzeption und das damit verbundende religionsgeschichtliche Bild sind durch die neueren literarhistorischen Ergebnisse der alttestamentlichen Exegese im Verbund mit den durch die Archäologie und Ikonographie gewonnenen Zeugnissen aus dem Bereich des antiken Israel in Frage gestellt und falsifiziert worden. 123 In der neueren religionsgeschichtlichen Forschung wird damit gerechnet, dass das historische königszeitliche Israel in den Orientierungskoordinaten einer vorderorientalischen „National“-Religion gelebt hat124, und sich das biblische Bild Israels in weiten Teilen späteren Rezeptionen verdankt. Die eigentliche formative Periode des Alten Testaments wird frühestens nach 722 v. Chr. angesetzt. Vor allem gelten aber das Exil, die Perserzeit und die Epoche des Hellenismus als literarisch und theologisch entscheidende Epoche, in denen retrospektive Gründungsmythen entstehen konnten.125 Im Kontext dieser literarhistorischen, archäologischen und ikonographischen Forschungsimpulse für die alttesta121 Vgl. die Überblicke zur Forschungsgeschichte bei R. ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels, Teil 1, 20–32 und bei H. D. PREUSS, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, Stuttgart 1991, 2–23. 122 Vgl. dazu die programmatischen Ausführungen in G. VON RAD, Theologie des Alten Testaments, Bd. I: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferung, München 1957, Bd. II: Die Theologie der prophetischen Überlieferung, München 1960; vgl. auch B. JANOWSKI, JHWH und der Sonnengott. Aspekte der Solarisierung JHWHs in vorexilischer Zeit, in: Pluralismus und Identität (VWGTh 8), hg. v. J. MEHLHAUSEN, Gütersloh 1995, 212–241. 123 Vgl. die Diskussion in dem Sammelband von CHR. HARDMEIER (Hg.), Steine-BilderTexte. Historische Evidenz außerbiblischer und biblischer Quellen (AzBG 5), Leipzig 2001.Vgl. auch die Darstellung von F. HARTENSTEIN, Religionsgeschichte Israels – ein Überblick über die Forschung seit 1990, in: VF 48 (2003), 2–28. Zur Ikonographie und Archäologie O. KEEL/CHR. UEHLINGER, Göttinnen, Götter und Göttersymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg i. Br. 52001. 124 Vgl. die Darstellung von M. WEIPPERT, Synkretismus und Monotheismus, 1–24. Vgl. auch F. HARTENSTEIN, Religionsgeschichte Israels, in: VF 48 (2003), 3–7. 125 Vgl. R. G. KRATZ, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, Göttingen 2000.

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V. Ertrag und Ausblick

mentliche Wissenschaft lassen sich zwei Bereiche markieren, die hermeneutisch-methodisch und theologisch-grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Religionsgeschichte des Alten Testaments beleuchten, und in denen zentrale Aspekte aus der Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments der liberalen Jenaer Theologie begegnen.126 Der erste Bereich ist die grundlegende Debatte um die Gewichtung außerbiblischen und biblischen Quellenmaterials, beispielsweise in der Perspektive einer Unterscheidung von Primär- und Sekundärquellen bzw. einer Hierarchisierung der Quellen.127 In diesem Kontext wird der Versuch einer Rekonstruktion der Religionsgeschichte Israels vor allem anhand außerbiblischer Quellen, mit den Schwerpunkten Ikonographie, Archäologie und religionsgeschichtlicher Vergleich, unternommen. Hier hat Herbert Niehr in einem programmatischen Aufsatz von 1999 eine Religionsgeschichte Israels gefordert, die in erster Linie die außerbiblischen Quellen zur Grundlage zu nehmen habe, weil nur diese als Primärquellen in Frage kämen. „Ein wesentlicher Aspekt der Primärquellen ist damit gegeben, daß sie in Relation zum Alten Testament als ‚independent evidence‘ gelten können, d. h. als Quellen, die der Zensur der alttestamentlichen Schriftsteller und der Kanonisierung nicht unterlagen.“128

Mit dieser Unterscheidung und der Frage nach der Bewertung steht ein Sachverhalt zur Debatte, der bereits bei Eberhard Schrader im Rahmen der Begründung der Assyriologie begegnet. Schrader hat in seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen in instruktiver Weise darauf hingewiesen, dass keine von vorneherein dekretierte Abwertung eines ganzen Quellenbestandes die historische Rückfrage von der Aufgabe der kritischen Prüfung und Gewichtung in jedem Einzelfall entbindet.129 Der andere gegenwärtige Forschungsbereich der alttestamentlichen Wissenschaft, in dem Aspekte zur Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments aus der liberalen Jenaer Theologie begegnen, liegt in der hermeneutischen Grundsatzreflexion, ob und inwiefern eine theologische oder eine religionsgeschichtliche Betrachtung des Alten Testa-

126 Vgl. die Zusammenfassung zu den exegetischen Prinzipien und hermeneutischen Grundlagen in Kapitel IV, 300ff., und die Zusammenfassung der Grundzüge und der inneren Logik der liberalen Jenaer Theologie in Kapitel V, 313–333. 127 Einen guten Überblick über die Debatte um die Hierarchisierung der Quellen bietet CHR. HARDMEIER (Hg.), Steine – Bilder – Texte. 128 B. JANOWSKI/M. KÖCKERT (Hg.), Religionsgeschichte Israels, 63. 129 Vgl. dazu Kapitel IV, 294f.

3. Historische Etappe und andauerndes Sachproblem der Theologie

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ments wirklich eine Alternative darstellen. Hier ist insbesondere auf Rainer Albertz zu verweisen, der die kategorische Forderung „Religionsgeschichte Israels statt Theologie des Alten Testaments“ erhoben und damit eine kontroverse Debatte angestoßen hat.130 Aus dem Blickwinkel der liberalen Jenaer Theologie lässt sich eine theologische Fragestellung von der religionsgeschichtlichen nicht in der Weise trennen, dass das Verhältnis der beiden Disziplinen unter der Alternative von subjektivem und objektivem Textverständnis und daraus folgernd von theologisch begründetem Glauben und historischem Wissen fixiert werden kann. Wenn Hans-Jürgen Hermisson im Titel seiner Überlegungen zum Verhältnis von Alttestamentlicher Theologie und Religionsgeschichte Israels das „und“ an Stelle eines „oder“ wählt131, so liegt er damit auf der Linie derjenigen Verhältnisbestimmung, die bereits Ludwig Diestel, Eberhard Schrader und Karl A. Siegfried im ausgehenden 19. Jahrhundert vorgenommen haben. Eine Trennung der beiden Aspekte ist grundsätzlich nicht möglich, da in den Äußerungsformen von Religion ‚Theologie‘ enthalten ist und zwar im Sinne einer ordnenden und antwortenden, auf Reflexion hin offenen symbolisierenden Tätigkeit. In dem Ablauf bzw. der Faktizität der Religionsgeschichte Israels liegt das Gotteszeugnis verborgen, und tritt zugleich als Offenbarung im Sinne einer Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zu Tage. Die alttestamentlichen Schriften bezeugen Gottes Handeln in einer Einheit von Geschichte und Wirkung, so dass der Übergang zwischen Religionsgeschichte und Theologie fließend ist. Die Überlegungen zur liberalen Jenaer Theologie als andauerndes Sachproblem der Theologie führen abschließend zu einem ertragreichen Beitrag für das Verständnis der Theologie als Wissenschaft und für eine fundamentaltheologische Anthropologie. Dieser ergibt sich aus der religionspsychologischen Verankerung der Theologie und damit ihrer anthropologischen Rückbindung an die Fundierung des seeli-

130 R. ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels statt Theologie des Alten Testaments. Plädoyer für eine forschungsgeschichtliche Umorientierung, in: JBTh 10 (1995), 3–24. In der Einführung zu seiner Religionsgeschichte vertritt ALBERTZ die These, „dass ... in der heutigen Situation die Religionsgeschichte ... die sinnvollere zusammenfassende alttestamentliche Disziplin“ darstellt. Vgl. Ders., Religionsgeschichte Israels, 37. Zum Aufkommen und zum Verlauf des Diskurses um Religionsgeschichte Israels und Theologie des Alten Testaments vgl. H.-J HERMISSON, Alttestamentliche Theologie und Religionsgeschichte Israels, ThLZ.F 3 (2000); B. JANOWSKI u.a. (Hg.), Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments (JBTh 10), NeukirchenVluyn ²2001. 131 Vgl. H.-J. HERMISSON, Alttestamentliche Theologie und Religionsgeschichte Israels.

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V. Ertrag und Ausblick

schen Lebens und die Veortung im unmittelbaren Selbstbewusstsein.132 Eine Auseinandersetzung mit psychologischen Fragestellungen findet zwar in der Theologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts statt, allerdings steht das Projekt, der psychologischen Thematik einen eigenen Ort im enzyklopädischen Kanon der theologischen Fachgebiete zuzugestehen und im Rahmen der Theologie eine dezidierte „Ontologie des seelischen Lebens“133 auszuarbeiten unter dem Vorbehalt, dass es in der Theologie gerade nicht um eine eigenmächtige Beschäftigung des Menschen mit sich und der Wirklichkeit seines Bewusstseins und seiner Seele gehe, sondern um die exzentrische Ausrichtung des Menschen auf Gottes Wirklichkeit. Die bis in die Gegenwart andauernden innertheologischen Vorbehalte gegen eine psychologische Erforschung des christlichen Glaubens, werden seitens der zeitgenössischen Philosophie durch eine vielfältige Kritik am Subjektbegriff unterstützt, die auch diejenigen theologischen Ansätze, die ihren Ausgangspunkt beim unmittelbaren Selbstbewusstsein nehmen, zu treffen scheint. 134 Auch die liberalen Jenaer Theologen betonen, dass das Wesen der Religion in einer Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch gründet. Die christliche Glaubensgewissheit ist unhintergehbarer Grund der religionspsychologischen Verankerung der Theologie. Der Generalvorwurf gegenüber der liberalen Theologie, sie habe die Theologie anthropologisiert trifft die Jenaer Theologie insofern nicht, als dass die Unterscheidung zwischen dem Wesen der Religion als eines Verhältnisses zwischen Gott und Mensch von den psychischen Verwirklichungsformen und den psychischen Ursprüngen dezidiert vorgenommen wird. Es geht also nicht um eine Überführung der Theologie in Anthropologie, sondern darum, dass Theozentrismus und Anthropozentrismus keine sich ausschließenden Alternativen dogmatischer

132 Vgl. R. A. LIPSIUS, Philosophie und Religion 198–248; Ders., Lehrbuch (³1893), 24–56; O. PFLEIDERER, Die Religion, Bd. 1, I–XV.68–79. 133 K. HUXEL, Ontologie des seelischen Lebens. 134 Die theologischen Vorbehalte gegenüber einer psychologischen Verankerung bzw. anthropologischen Rückbindung der Theologie gehen auf die frühe dialektische Theologie zurück. „Ihr Gegenstand ist nur noch das glaubende Subjekt, dessen Glauben als eine menschliche Haltung verstanden wird.“ Vgl. R. BULTMANN, Ders., Theologische Enzyklopädie, Tübingen 1984, hier: 190 u. 193. Zur Kritik der zeitgenössischen Philosophie am Subjektbegriff vgl. die grundlegende Darstellung von CH. TAYLOR, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. ²1996; J.-F. LYOTARD, Das postmoderne Wissen, Wien 1986. In theologischer Perspektive vgl. die Anmerkungen von I. U. DALFERTH, Subjektivität und Glaube, in: NZSTh 36 (1994), 18–58.

3. Historische Etappe und andauerndes Sachproblem der Theologie

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Grundlegung sein müssen und sein dürfen.135 Als Phänomen des menschlichen Geisteslebens ist die Religion psychologisch fassbar, da sie sich in psychischen Vorgängen verwirklicht, die Objekte innerer Wahrnehmungen sind. Jegliche Beschreibung und Interpretation von Phänomenen des christlichen Glaubenslebens ist auf eine allgemeine Beschreibung des menschlichen Gemüts- bzw. Bewusstseinslebens bezogen, innerhalb dessen die religiöse Dimension des seelischen Lebens zu verorten ist. Zudem liegt jeglicher Beschreibung religiösen Lebens und damit auch des christlichen Glaubenslebens eine bestimmte Vorstellung über das Sein des Menschen zugrunde, in der eine bestimmte Konzeption des menschlichen Gemütslebens und in dieser wiederum ein bestimmter Begriff der Frömmigkeit des Menschen eingeschlossen ist. Eine religionspsychologische Grundlegung der Theologie kann nur dann von wissenschaftlichem Wert sein, wenn erkennbar wird, dass und wie die Wesensstruktur des christlich-religiösen Bewusstseins auf die universalen Züge in der Erkenntnis des seelischen Lebens bezogen ist. Wissenschaftstheoretisch wären damit Kants Hinweise auf einen unhintergehbaren Anfangspunkt des transzendentalen Kritikunternehmens aufzunehmen, die in Schleiermachers Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins ihre dezidierte Fortführung und konkretisierende Ausarbeitung gefunden haben.136 Auf diesem Weg wird die Psychologie zu einem unverzichtbaren Pfeiler in der Grundlegung der Geisteswissenschaften und damit auch der Theologie. Und zwar die Psychologie als eine beide Formen des Wissens – empirisches und spekulatives – sowie beide Gegenstandsbereiche des Wissens – Natur und Geist – vermittelnde Wissenschaft. Im Durchgang durch die einzelnen Geisteswissenschaften ließe sich zeigen, dass keine von ihnen ohne psychologische Kategorien und ein Verständnis des seelischen Strukturzusammenhangs auskommen kann.137 Dies gilt auch für die Theologie sowie die Religionswissenschaft, die sich mit dem christlichen Glaubensleben bzw. den Phänomenen religiösen Lebens befassen. Es kann allerdings nicht nur für die Geisteswissenschaften als gesicherte Erkenntnis der Wissenschaftstheorie gelten, dass jedes Forschungsunternehmen die Bedingungen seiner Möglichkeit nicht allein im Blick auf seinen Gegenstand, sondern zugleich auch im Blick auf dessen Be-

135 Vgl. dazu O. WEBER, Grundlagen der Dogmatik I, Neukirchen-Vluyn 582f.586f. 136 Vgl. dazu K. HUXEL, Ontologie des seelischen Lebens, 84ff.145ff. 137 K. HUXEL, Ontologie des seelischen Lebens, 240ff.265ff.

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V. Ertrag und Ausblick

ziehung zum forschenden Subjekt selbst zu klären hat.138 Neben der Klärung ihrer geschichtlichen Grundlagen, sind die Geisteswissenschaften und somit auch die Theologie auf eine psychologisch-logische Klärung ihrer Grundlagen angewiesen, was eine wissenschaftliche Beschreibung und Analyse des seelischen Lebens impliziert. Die Theologie insgesamt profitiert von einer solchen Form der Psychologie, da sie in allen Bereichen ihrer enzyklopädischen Ausfächerung ein Verständnis der Funktionen und der Bildung des seelischen Lebens immer schon voraussetzen muss. Die Bedeutung einer solchen Psychologie für die Hermeneutik wird in der liberalen Jenaer Theologie besonders hervorgehoben. Dass die Kunstlehre des Verstehens psychologische Reflexion einschließt und somit Erkenntnisse der Psychologie in Anspruch nimmt, betont besonders Adalbert Merx in seiner Hermeneutik des Alten Testaments.139 Wer die zeitgenössischen Berichte religiösen Alltagslebens früherer Epochen erschließen möchte, ja, wer überhaupt einen theologischen Text verstehen will, der sich mit solchen Phänomenen beschäftigt, der wird hierzu ein Repertoire anthropologisch-psychologischer Kategorien benötigen, die er nicht allein aus der immanenten Begrifflichkeit des jeweiligen Textes selbst entnehmen kann. Vielmehr vollzieht sich das Verstehen solcher Texte immer schon auf dem Boden eines anthropologisch-psychologischen Vorverständnisses, das sich in Auseinandersetzung mit den Texten selbst wiederum vertiefen und konkretisieren kann. Die permanente Bewusstmachung, kritische Klärung und kontrollierte Anwendung dieser Kategorien ist von grundlegender hermeneutischer Bedeutung für die Arbeit aller exegetischen und historischen Disziplinen.140

138 Vgl. dazu W. STEGMÜLLER, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, 1–33.162–219.450– 456. 139 A. MERX, Eine Rede vom Auslegen. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel IV, 5.3 Hermeneutik als Wissenschafts- und Kunstlehre, 276ff. 140 M. LEINER, Psychologie und Exegese, Gütersloh 1995.

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Archivunterlagen BERLIN-BRANDENB. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN Nachlass Eberhard Schrader, Nr. 7. DEUTSCHES ZENTRALARCHIV MERSEBURG Rep. 76 Va, Sekt 9, Tit. 4, Nr. 9, Bd. 1. THÜRINGISCHES STAATSARCHIV ALTENBURG Geheimes Ministerium, Nr. 1603; 1606. Gesamtministerium, Nr. 1128; 1129; 1131; 1290. THÜRINGISCHES STAATSARCHIV GOTHA Staatsministerium, Dep. I, Loc. 6 t, 26, Vol. 1,2. UNIVERSITÄTSARCHIV JENA Akten der Universität, Bestand BA, Nr. 375; 407; 408; 409; 437. Akten der Theologischen Fakultät, Bestand J, Nr. 111; 113; 116; 117; 125; 132; 134; 139.

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Personenregister Albertz, R. 352, 353, 355 Althaus, P. 348, 349 Alwast, J. 35, 37 Arndt, A. 20, Arnold, A. 58, 265 Arenhövel, W. 297 Baentsch, B. 25, 309 Barth, H.-M. 350, 352 Barth, K. 9, 11, 32, 33, 188, 220, 350, 351 Barth, U. 346 Barnikol, E. 220 Baudissin, W. 296 Baumgärtel, F. 352 Baumgarten, W. 261, 311 Baumgarten, M. 26, 69, 89, 315, 342 Baumgarten, O. 84, 87 Baumgarten-Crusius, F. O. 21, 22, 86 Baur, F. Chr. 5, 7, 23, 42, 44, 48, 49, 51, 70, 77, 89, 125, 127, 164, 170, 208– 211, 216–218, 230–240, 245, 246, 301, 304–306, 315, 318, 319, 328, 329, 339 Beckmann, K. 215 Beer, G. 57, 232 Bessier, G. 42, Bestmann, H. J. 67 Bezold, K. 60, 61, 65, 283, Birkner, H.-J. 2–4, 9, 29, 30, 119, Biedermann, A. E. 4, 5, 7, 9, 10, 25, 40, 41, 52, 53, 99, 102–104, 116, 144, 151, 154–156, 163, 307, 321, 343 Bleek, F. 39, 56, 207, 266, 267, 284, 286, 290, 308 Bousset, W. 241, 343 Bretschneider, K.-G. 2, 3, 303 Budde, K. 55 Bultmann, R. 8, 188, 356 Buri, F. 7 Bursian, C. 39 Cagliardi, E. 61 Calvin, J. 275, 276 Cassirer, E. 12

Cohen, H. 12, 95, 101 Courth, F. 2, 11, 30, 209 Cremer, H. 67 Credner, K. 244, 270, 271 Cunze, F. 63, 66 Dalferth, I. U. 31, 92, 346, 356 Delitzsch, Franz 63 Delitzsch, F. 24, 63, 297 Descartes, R. 118, 200, Diestel, L. 18, 24, 25, 26, 27, 29, 38, 43, 44, 54–57, 58, 59, 62, 66, 67, 69, 77, 85, 207, 248–264, 270, 275, 304, 307, 310, 315, 331, 332, 355 Dierken, J. 19, 128, 129, 343, 345, 346 Dillmann, A. 268, 269 Dilthey, W. 38, 281, 312, 336 Dorner, I. A. 7, 9, 39, 72, Dühring, K. E. 27, 39, Duhm, B. 214, 271 Ebeling, G. 32, 91, 280, 339 Egli, C. 52 Eichhorn, J. G. Eissfeldt, O. 264, 332 Elert, W. 11, 12, 16, 17, 35, 302, 319 Engelhard, K. 12 Ernesti, J. A. 257 Ewald, H. 60, 223, 224, 226, 282, 284, 289 Faulenbach, H. 54 Feil, E. 128 Feldtkeller, A. 347, 349 Feuerbach, L. 159, 326, Fichte, I. H. 111, 197 Fichte, J. G. 14, 110, 111, 118, 152, 256 Fischer, H. 188 Fischer, K. 39, 83 Fischer-Appelt, P. 11 Foerster, E. 4, Fortlage, K. 111, 197 Frenschkowski, M. 261 Fried, D. 5 Fried, J. F. 14, 170

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Personenregister

Friedlieb, J. H. 241 Fritz, V. 254 Gabler, J. Ph. 81, 253, 280, 281 Gadamer, H. G. 281, 312 Gass, W. 301 Geiger, W. 172 Gerber, S. 21, 26, 69, 88, 316, 342 Germann-Gehret, R. 116 Gestrich, Chr. 42 Geyer, C.-F. 20 Geyer, H.-G. 32, 33 Goldschmitt, B. 32 Gräb, W. 350 Graf, K. H. 267, 268, 290, 308, 309, Graf, F. W. 1, 10, 18, 19, 25, 30, 33, 42, 46, 48, 60, 61, 65, 67, 70, 71, 80, 85, 221, 287, 294, 300 Grass, H. 7 Greschat, M. Greuther, A. 39 Griesbach, J. J. 238 Groethuysen, B. 281, 312 Grondin, J. 312 Grotefend, G. F. 62, 291 Grotius, H. 254 Grünwaldt, K. 226 Günther, J. Gunkel, H. 331, 342 Gutschmid, A. von 64, 293–295 Haeckel, E. 27 Härle, W. 188 Haller, M. 352 Hardmeier, Chr. 353, 354 Harnack, A. von 7, 8 Hartenstein, F. 353 Hartmann, A. 36 Hartmann, E. von 93 Hase, K. von 21, 22, 23, 25, 28, 38, 40, 43, 44, 48, 52, 62, 64, 67, 68, 69, 71, 74, 81, 83, 84, 85, 86, 90, 150, 151, 239, 265, 315, 342 Hauschildt, E. 12, Hecker, K. 1 Hegel, G. W. F. 7, 13, 19, 20, 40, 94, 103, 104, 108, 109, 112–114, 115, 116, 149, 162, 170, 200, 204, 208, 254, 256, 304, 305, 320, 322, 326, 343, 347 Heidemann, D. H. 12, 344 Hell, L. 91 Helmholtz, H. 95

Herder, J. G. 115, 254, 287, 304 Hermisson, H.-J. 355 Herms, E. 119, 204, 215, 335, 348 Herrigel, O. 57, 58, 78 Herrmann, W. 7, 8, 10, 30, 40, 41, 42, 93, 126, 134, 146, 160, 165, 193, 322, 323, 335, 336 Hesse, F. 264 Heussi, K. 21, 22, 23, 27, 28, 38, 41, 47, 50, 67, 70, 71, 82–86, 313, 315 Hick, J. 349 Hildebrandt, H.-H. 254 Hilgenfeld, A. 6, 9, 21, 23, 24, 25, 26, 28, 29, 43, 44, 47–53, 57, 59, 62, 66, 67, 70, 72, 74, 76, 77, 84, 86, 87, 90, 117–120, 124, 125, 170–176, 201, 207, 209, 210, 217, 219, 230–248, 264, 270, 305, 306, 309, 311, 315, 322, 327, 329, 330, 339, 340, 343 Hilgenfeld, H. 47 Hincks, E. 291 Hindrichs, G. 344 Hirsch, E. 8, 12, 36, 42, 231, 306 Hirschberger, J. 27 Hitzig, F. 59, 270, 271, 287 Hjelde, S. 42, 164, 334, 338, 347 Höning, W. 16 Hoffmann, A. G. 22, 52 Holsten, K. 222, 230 Holtzmann, H. J. 11, 42, 55, 86, 116, 246, 286 Hornig, G. 301, 302 Houtmann, C. 268 Huber, M. 7 Hübinger, G. 16, 294, 302 Hüttenhoff, M. 35, 93, 97, 102, 104, 108, 145 Hume, D. 204 Hummel, G. 188 Hupfeld, H. 246, 266, 286, 287, 289 Hufeland, G. 14 Huxel, K. 204, 335– 337, 356, 357 Ihmels, L. 32 Ilgen, K. D. 266 Jacobs, M. 7, 11, 17, 18 Jaeger, B. 21, 22 James, W. Janowski, B. 352, 353 Jatho, K. 67 Jepsen, A. 54, 55, 77, 307 Johanning, K. 63, 291, 297, 298

Personenregister Jüngel, E. 188 Jüttemann, G. 335 Kähler, M. 13, 67 Kaftan, J. 165 Kaiser, J.-Chr. 16, 22 Kaiser, O. 254, 268, 301, 305, 317 Kamphausen, A. 284, 286 Kant, I. 7, 12, 19, 20, 37, 95–99, 101, 109, 112, 115, 122, 132, 149, 155, 204, 254, 255, 304, 305, 320, 322, 323, 344, 357 Kappstein, Th. 324 Kattenbusch, F. 5 Kaufmann, G. D. 30 Kautzsch, E. 54, 55, 67 Kayser, A. 25, 308, 309 Keel, O. 353 Keim, K. Th. 86 Kimmerle, H. 276 Kinzig, W. 14 Klatt, W. 342 Knobel, A. 254 Köberle, J. 264 Köckert, M. 352, 354 Köhler, A. 52, 85 Köpf, U. 13, 42, 47, 217, 230, 301 Koopmann, W. H. 37 Korsch, D. 20, 31, 129, 320, 322, 345, 346 Kratz, R. G. 353 Kraus, H.-J. 60, 226, 282 Krause, A. 97, 99 Krebernik, M. 352 Krug, W. T. 302 Kuenen, A. 160, 214, 226, 227, 262–264, 267, 268, 290, 308 Kübel, R. 11 Kümmel, W. G. 220, 301, 306, 331 Kunze, F. 60 Lange, D. 215 Lange, F. A. 12, 93, 95, 96, 98, 101, 120, 134, 135, 336 Larisch, A. von 83 Laube, M. 32 Lauster, J. 30, 346 Lehmann, R. G. 63, 291, 297 Leiner, M. 358 Lepp, C. 16, Leppin, V. 14

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Lessing, E. G. 9, 11, 13, 20, 35, 67, 72, 115, 119, 149, 161, 221, 230, 301, 304, 307, 311, 331, 343 Leuze, R. 42, 46, 116, 161, 167, 197, 348, 351 Liebner, K. Th. A. 35 Liepmann, M. 38, Link, Chr. 350, 351 Lipsius, R. A. 4, 5, 7, 9, 10, 14, 23, 25, 27, 28, 29, 35–41, 44, 50, 52, 62, 64, 66, 68, 69, 71, 72, 74, 75, 76, 81, 84, 86– 88, 89, 90, 103–108, 116, 120– 123, 125–149, 154–156, 161, 188– 196, 198, 201–205, 207–216, 218, 219, 228, 232, 265, 304–306, 311, 314, 317, 319, 321–329, 334–340, 343, 345, 349, 350, 356 Lisco, E. G. 55, 87 Lücke, F. 241, 276 Lüdemann, G. Lüdemann, H. 7, 9, 72, Lüder, A. 301, 318 Luden, H. 14, Luhmann, N. 345, 346 Luther, M. 274, 276 Lyotard, J.-F. 356 Lyra, N. von 273, 274 Mann, U. Marheineke, Ph. Marti, K. 57, 59 Mead, W. C. 291 Mehlhausen, J. 13 Mehlhorn, P. 72 Merk, O. 253 Merx, A. 18, 24, 25, 29, 57–59, 66, 75, 78, 79, 207, 244, 264–280, 287, 288, 308–310, 312, 316, 332, 343 Meyer, E. 60, 62, 64 Michaelis, J. D. 257 Mildenberger, F. 11, 67, 209 Moeller, B. 60, 282 Moraw, P. 89 Müller, M. 143, 164 Müller, H.-P. 352 Müller, J. 39 Mulert, H. 54 Nabholz, H. 61 Natorp, P. 12, Neander, J. 39 Neuenschwander, U. 7, 8 Neumann, A. 93

400

Personenregister

Nigg, W. 4, 6, 16 Niehr, H. 352, 354 Nipperdey, K. 39 Nippold, F. 35, 73, 74, 84–86 Nitzsch, K. I. 39 Nowak, K. 22, Nüssel, F. 14, 30, Oehler, G. F. 54 Olshausen, J. 291 Oorschot, J. van 344, 352 Oppert, J. 291 Otto, E. 268 Paulus 218, 219, 222, 232, 233, 245, 305, 307 Pannenberg, W. 10, 18, 20, 31, 32, 35, 113, 128, 188, 203, 320, 334, 339, 348, 350 Pascher, M. 12 Perlitt, L. 60, 79, 226, 227, 261, 262, 282, 310, 321 Petrus 232, 234 Petzoldt, M. 32 Planck, K. 224, 225 Pfennigsdorf, E. Pleiderer, E. K. 42 Pfleiderer, O. 4, 5, 6, 7, 9, 10, 11, 15, 23, 25, 28, 29, 35, 38, 40, 42–46, 47, 48, 52, 53, 62, 64, 66, 67, 69, 70, 71, 75, 76, 80, 81, 85, 86, 89, 90, 108–117, 120, 124–127, 143, 149–170, 189, 196–205, 207, 214, 216–230, 240, 241, 300, 304, 306, 307, 314, 316– 319, 321–331, 334, 335, 337, 338, 343, 346, 347, 352, 356 Philo 229, 309 Pölcher, H. 6, 21, 23, 25, 26, 43, 47–53, 76, 77, 210, 232, 234, 235, 306 Preuss, H. D. 353 Pünjer, B. 99 Rad, G. von 353 Rade, M. 5, 15, 17, 42, 73, 88, 127, 313, Ratschow, C.-H. 348–350 Rawlinson, H. Ch. 291 Reimarus, H. S. 340 Reinhardt, K. 274 Reinmuth, O. 321, 343 Reischle, M. 5, 72, 73 Rendtorff, T. 1, 21, 30, 32 Renger, J. 60, 62, 65, 297 Reu, W. 99, 128 Reuss, E. 246, 267, 268, 286, 290, 308

Reventlow, H. G. von 301, 306 Richter, G. 35 Rickert, H. 12 Riedel, M. 312 Riehl, A. 95 Riehm, E. 52, 286 Ries, K. 14, 15, 342 Ringleben, J. 129, 203, 326 Ritschl, A. 7, 9, 40, 41, 54, 77, 127, 129, 154, 155, 156, 165, 210, 236, 306, 307, 323, 325, 330, 350 Ritzel, W. 12, 218 Rössler, D. 11, 13, 21 Rohls, J. 10, 35, 209 Rosenau, H. 19, Roth, M. 91, 92 Rothe, R. 3, 16, 37, 54, 66, 120, 320, 321 Ruddies, H. 31, 33 Rückert, L. I. 22, 38, 43, 83, 86 Rüegg, W. 27, 81, 84 Runze, G. 72 Saebo, M. 55, 253 Sauter, G. 188 Schäfer, R. 7 Schelling, F. W. J. 112, 113, 115, 118, 149, 304, 326 Schenkel, D. 3, 61, 283 Schian, M. 8 Schiller, F. 14, 158 Schlegel, F. 278 Schleiermacher, F. D. E. 2, 7, 9, 13, 19, 20, 21, 22, 37, 38, 40, 44, 47, 48, 74, 94, 101, 108, 111, 112, 115, 119, 120, 122, 129–131, 138, 149, 152, 155, 162, 170, 192, 194, 201, 203, 204, 276–279, 281, 287, 288, 304, 312, 320, 322, 325, 326, 334, 335, 337, 343, 347, 357 Schmidt, L. 268 Schmidt, M. 1, 9, 20 Schmithals, W. 301, 328, 343, 350 Schrader, E. 24, 25, 29, 44, 59, 60–65, 66, 69, 71, 75, 79, 80, 85, 207, 282–300, 308, 310–312, 314, 331, 332, 343, 354, 355 Schultz, H. 70, 214, 228, 229, 261 Schwarz, K. 7, 11, 12, 40, 43, 49, 66, 145, 189, 317, 325, 326, 335 Schwegler, K. F. 236, 240 Schweizer, A. 7, 11, 12, 40, 145 Schwöbel, Chr. 45, 339

Personenregister Seebeck, M. 21, 26, 55, 69, 71, 82, 83, 86, 315, 316 Seeberg, R. 42, 45 Sell, K. 11, 17 Semler, J. S. 1, 24, 125, 208, 232, 234, 248–252, 254, 257, 280, 287, 301, 302, 304, 317, 320, 328 Seydel, R. 16, 41, 99 Seyerlen, R. 48, 70, 71, 84–86, 89, 265, 314 Siegfried, K. A. 25, 29, 59, 71, 74, 84, 85, 265, 308, 309, 310, 314, 331, 332, 355 Smend, R. 54, 207, 215, 227, 254, 261, 293, 302, 308, 318 Snell, K. 39 Soden, W. von 296 Sparn, W. 32 Spinoza, B. 48 Stegmüller, W. 337, 358 Steinmetz, M. 68, 86, 316 Stephan, H. 9, 20 Stickel, J. G. 39 Stock, K. 31, 75, 91 Stöhr, M. 33 Stolz, F. 350, 352 Strauss, D. F. 3, 7, 170, 192, 217, 220, 221, 306, 318, 319, 340 Strohl, J. 61 Sydow, A. von 55, 67, 87 Talbot, W. F. 291 Tanner, K. 33 Taylor, Ch. 356 Thadden, R. von 32 Thilo, J. K. 47 Tholuck, A. 39, 252 Tillich, P. 7 Traub, F. 7, 40, 93 Trillhaas, W. 16 Troeltsch, E. 7, 8, 11, 18, 30, 42, 188, 339, 340 Tuch, J. Chr. F. 58, 265–267 Tuchmann, K. 254

401

Twesten, A. D. Chr. 38, 39, 44, 76 Tworuschka, U. 347 Tzschirner, H. G. 2, 3 Uehlinger, Chr. 353 Ulrich, P. 214 Ulrici, H. 111, 197 Vatke, W. 47, 217, 226, 227, 244, 257, 261, 262, 282, 318, 321 Vierhaus, R. 32 Voigt, F. 13 Volckmar, G. 221, 222, 230 Wagenhammer, H. 30 Wagner, F. 128, 320, 323, 343 Wallmann, J. 128 Wartenberg, G. 14 Weber, O. 357 Weippert, M. 352 Weiss, J. 7 Weiss, K. Ph. 44 Weischedel, W. 96 Weisse, Chr. H. 36, 94, 105, 120, Wellhausen, J. 56, 60, 71, 214, 226, 227, 261–263, 267, 268, 282, 293, 308– 310, 321 Wesseling, K.-G. 36 Wendt, H. 5, 72, 73 (De) Wette, W. M. L. 61, 207, 266, 282, 283, 285, 286, 288, 290, 302, 303, 308, 310, 318, 328 Wiener, G. B. 35 Winckler, H. 65 Windelband, W. 12, 134 Wischmeyer, J. 15, 19, 21, 22, 23, 27, 41, 68, 69, 74, 75, 81, 88, 91, 313, 315, 316, 342 Wobbermin, G. 327 Wolfes, M. 214 Wrecionko, P. 127 Wundt, W. 134, 335, 336 Zeller, E. 70, 76, 151, 152, 189, 303, 321 Zimmerli, W. 214, 215 Zimmern, H. 60, 62, 63, 65, 292, 295

Sachregister Abfassungszeit 266 Abhängigkeit 109, 124, 130, 131, 132, 150, 151, 155, 162, 197, 201, 202, 219, 307, 325 – schlechthinnige 112, 130 Abhängigkeitsbewusstsein 110, 150, 154, 156, 167, 198 Abhängigkeitsgefühl 130, 138, 143, 194, 202 das Absolute 100, 102, 107, 108, 112, 124, 126, 149, 174, 179, 195, 320 Absolutheit 345, 348 Altliberalismus 6, 8, 9, 45 Altorientalist 60 Altorientalistik 59, 60, 62, 297, 331 Alter Orient 294 Altes Testament 52, 55, 56, 59, 61, 65, 77, 79, 80, 85, 207, 214, 215, 226, 227, 242, 244, 246, 248, 253–255, 259, 261, 263, 264, 267, 269, 270, 278, 282–286, 289–291, 292–294, 297, 298, 300, 304, 308, 310, 311, 316, 318, 331–333, 353, 354, 358 Alttestamentler 22, 27, 44, 47, 56, 60, 61, 77 Analogie(n) 102, 104, 116, 147, 157, 188, 198, 228, 322 Analyse – dialektische 149 – empirische 116 Anschauung 95, 96, 98, 102, 105, 109, 114, 119, 120–123, 126, 136, 137, 139, 140, 190, 196, 332, 344 – bildende 140, 195 – innere 136, 138, 195 – produzierende 120 – religiöse 137, 139, 263, 326, – sinnliche 120 – unmittelbare 137 Anschauungsbilder 106, 139, 140 Anschauungsformen 97, 99, 191, 212 Anschauungskraft 344

Anthropologie 150, 188, 203, 336, 346, 355, 356 Anthropozentrismus 356 Apokalyptik 23, 43, 50, 51, 53, 77, 173, 232, 241–244, 309, 311, 328, 330, 343 Apokalypsen 241 Apologie, Apologetik 211, 293, 327 Apostel 211, 235, 241 Apostelgeschichte 208, 209, 217 Apostolikumsstreit 67 Apperzeption 96, 97 Applikation 276, 278 Apriori 121, 191 Archäologe, Archäologie 60, 61, 297, 353 Assur 223 Assyriologie, Assyriologe 24, 62, 64, 65, 80, 290, 291, 293, 294, 297, 316, 331, 354 Aufklärung 257 Ausdifferenzierung 90, 91 Ausleger 276, 277 Auslegung 254, 265, 269, 270, 273, 274, 277, 283, 287, 305, 309, 318, 328, 333 Auslegungsgeschichte 252, 253, 259, 269, 273, 333 Außenwelt 190 Autor 252, 276 Autorität 212 Babel-Bibel-Streit 24, 63, 291, 297, 311 Babylonien 299 Babylonismus 298–300 Befriedigung 196, 197 Begriff(e) 1–10, 93, 96, 101, 109, 114, 123, 141, 244, 257, 345, 346 Begriffskonstruktion 157 Bekenntnis 18, 19, 82 Bekenntnisschriften 66 Bekenntnistradition 13 Bekenntnistreue 38

404

Sachregister

Berufungspolitik 68, 313 Berufungsprotokoll 62, 69, 71, 86, 87, 89 Bewusstsein 90, 98, 101–104, 122, 124, 132, 138, 145–147, 151, 156–158, 160, 163, 164, 165, 169, 176, 189, 191, 198–204, 223, 241, 259, 274, 312, 317, 322, 325, 335, 344–346, 357 – gegenständliches 138 – religiöses 42, 138, 144, 156, 157, 159, 163, 164, 174, 176, 189, 191, 199, 203, 218, 219, 234, 266, 307, 326, 337, 345, 357 – sittliches 131, 145, 325 – unmittelbares 136, 160 Bewusstseinsakte 189, 190 Bibel, Heilige Schrift 120, 124, 207, 212, 246, 249, 253, 254, 283, 295, 304, 305, 308, 318, 328, 345 Bibelauslegung 306 Bibelkanon 186 Bibelkritik 204, 207, 302, 308, 318 Bibelwissenschaft 119, 124, 301, 317 Biblische Theologie 253, 258, 280, 281 Bild, Bildlichkeit 141, 146, 148, 149, 243 Bischofsamt 209 Briefliteratur 218, 232 Buchstaben 273 Bundesbuch 227 Bundesverhältnis 216 Bürgertheologie 21, 22 Christentum 2, 17, 21, 30, 31, 32, 33, 44, 51, 67, 76, 77, 79, 90, 93, 118, 128, 135, 143, 144, 145, 149, 160–172, 208, 209, 213, 216–218, 221, 222, 228, 232, 233, 236, 239, 241, 242, 244, 245, 247, 248, 258, 260–262, 294, 300, 302, 303, 305, 307, 309, 311, 312, 316, 317, 320, 323, 327– 331, 334, 338, 339, 347–351 Christentumsgeschichte 46, 208, 209 Christentumstheorie 32 Christentumsverständnis 32, 338 Christologie 144 Christus 144, 145 Christusbild 330, 331 Christusgeist 222 Christusgemeinde 222 Christusglauben 221, 330 Christuspartei 208, 232

Chronologie 235, 293 Danielbuch 241, 244, 272 Dasein 189, 193, 200 Daseinsverständnis 108, 123, 124 Deismus 103 Deduktion 116 Denken 109, 113, 176, 189, 203, 204, 248, 276, 322, 334, 344 – reflektierendes 108 – spekulatives 94 Denominationsbericht 39, 71, 72, 86, 89 Depotenzierung 108, 175 Deuten, Deutung 193, 297, 323, 327, 345 Deuteronomist 288 Deuteronomium 227, 267, 308 Deuteronomistisches Geschichtswerk 268 Dialektik 99, 119, 120, 122, 129, 149, 158, 189–191, 196, 200, 201, 257 Dichtung 278 Dignität 203 Ding an sich 99, 100, 121, 176 Dogma 36, 147, 163, 168, 170, 171, 172, 195, 219, 250, 253, 324, 338 Dogmatik 2, 13, 22, 36, 38, 41, 50, 76, 81, 83, 85, 86, 106, 122, 125–128, 130, 141, 143–149, 155, 159, 161, 167–170, 193, 212, 219, 249, 253, 254, 265, 280, 281, 301, 303, 313, 318, 319, 324, 332, 333, 336–339, 341, 351, 352, 357 Dogmatisierung 219 Dogmen 18, 117 Dogmengeschichte 23, 43, 48, 52, 53, 76, 77, 83, 85, 86, 171, 172 Dogmengeschichtsschreibung 171 Doppelseitigkeit 214, 216, 261 Dualismus 127 Ebionitismus 214, 217, 239, 329, Echtheit 211 Eckpfleiler 334 Einbildungskraft 105 Einleitung 246, 265, 267, 286, 289 – historisch-kritische 238, 245, 283, 286, 288, 290, 308, 318, 329 Einleitungsfragen 290 Einleitungswissenschaft 77, 245, 246, 250, 304 – historisch-kritische 61, 235 Einheitsgrund 193, 203, 348

Sachregister Einheitsstreben 112, 200, 202 Einheitstrieb 192, 193, 345 Einzelfaktum, Einzelvorgang 340, 341, 342 Eisenacher Attentat 67, 68, 313, 314, Elohist 267, 268, 289 Empfinden – religöses 152 Empirie 116, 321, 337 Empirismus 201, 204, Enderwartung 244 das Endliche 137, 148 Endlichkeit 110, 148, 150, 151, 194, 197, 201, 258 Entstehungsgeschichte 236, 245 Entstehungszeit 240 Entwicklung 114, 140, 168, 172, 199, 209, 217, 244, 247, 248, 261, 305, 310, 330, 347, 349, 352 – geschichtliche 51, 171 Entwicklungsgang 243 Entwicklungsgedanke 173, 262 Entwicklungsgeschichte 44, 76, 90, 143, 161, 164, 175, 229, 271, 316 Entwicklungsprozess 124, 158, 303, 329 Entwicklungsstufen 131 Entwicklungstheorien 259 Entzifferung 292, 294 Enzyklopädie 75, 91, 356 Erbsündenlehre 218 Erfahrung 94–99, 102, 104, 115, 119, 124, 126, 130, 134, 136, 137, 153, 161, 198, 202, 204, 205, 213, 274, 324, 344 – religiös(e) 126, 136–141, 279, 337 Erfahrungstatsachen 114, 127, 149 Erfahrungswelt 97, 134, 146, 191 Erfahrungswissenschaft 125, 336 Ergänzungshypothese 265, 266, 289, 290, 344 Erkennen, Erkenntnis 93–100, 119, 129, 157, 176, 199, 248, 249, 298, 332, 338, 344, 357, 358 – religiös(e) 94, 95, 103, 104, 106, 108, 120, 121, 128, 138–143, 147, 149, 191, 203, 213, 280, 341, 343 – empirisch(e) 97, 101, 121 – theoretisches 129, 337 – wissenschaftlich(e) 118, 120, 147 Erkenntnisformen 95, 121, 191 Erkenntnisgrund 141, 212

405

Erkenntnisquelle 213 Erkenntnistheorie 74, 93–98, 105, 106, 122, 144, 154, 176, 203, 305, 315, 317, 321, 333 Erkenntnisvermögen 344 Erleben, Erlebnis 135 – religiöses 137 Erlöser 225, 250, 338 Erlösung 272 Erlösungsreligion 162, 216 Erlösungstätigkeit 330, Erscheinungen 157, 302 Erscheinungsobjekte 101 Erscheinungsform 130 Erscheinungswelt 96, 168 Erscheinungsweisen 121 Erwartung – apokalyptische 244 Erweckungsbewegung 13, 16 Erzählungen 267 Erzväter 224 Eschatologie 168, 243 Esrabuch 61, 283, 284, 290, 308 Essäer, Essäismus 51, 210, 241 Ethik 81 Evanglien 48, 217, 218, 220, 221, 222, 237, 238, 240, 301, 330 Evangelienforschung 237, 238 Evangelienliteratur 237 Evangelienkritik 217 Evangelischer Bund 41, 45 Evangelisten 239 Evangelium 32, 213, 222, 238–240, 257, 331 Evolutionstheorie 27, 39 Exegese 1, 2, 18, 24, 29, 76, 122, 207, 215, 218, 221, 230, 247–249, 252, 253–255, 260, 261, 263, 264, 265, 269, 273–276, 280, 281, 287, 301, 304, 305, 307, 309, 313, 315, 318, 319, 329–333, 339, 341, 343, 354 – allegorische 275, 277 – alttestamentliche 23, 24, 25, 44, 54, 55, 58, 62, 71, 84, 228, 259, 260, 264, 283, 287, 307, 308, 310, 342, 352– 354 – dogmatische 275–277 – historisch-grammatische 253, 274, 276, 304

406 –

Sachregister

historisch-kritische 18, 49, 230, 247, 278, 286, 303, 304, 309, 318, 328, 331 – jüdische 287 – neutestamentliche 23, 27, 28, 38, 39, 44, 50, 76, 81, 84–87, 228, 240, 316, 328, 329, 339, 342 – literarhistorische 235–241, 342 – religionsgeschichtliche 299, 331 – theologische 253, 264, 278 Exil, Exilszeit 227, 242, 243, 283, 353 Exodus 266 Extraordinarius 36 das Ewige 101, 170 Fächerkanon 27, 91, 281, 315 Faktizität 355 Fakultät 265 – Philosophische 24, 27, 39, 57, 64, 75, 78, 80, 293 – Theologische 22, 23, 24, 27, 38, 39, 43, 47, 50, 57, 59, 62, 68, 69, 70, 72, 73, 75, 78, 80, 81, 82, 83, 87, 91, 226, 313, 314, 315, 342 Forschung 227, 228, 234, 237, 244, 249, 256, 265, 280, 282, 291, 294, 303, 307, 316, 322 – alttestamentliche 343 – historisch-kritisch 209, 213, 283, 308, 333, 345 – neutestamentliche 208, 343 Forschungsansatz 265 Forschungsgebiet 217 Forschungsergebnis 233 Forschungsgeschichte 207, 227, 249, 252, 290, 311, 333 Forschungsgrundlage 216 Forschungsimpuls 217, 220, 353 Forschungslage 226, 231 Forschungsschwerpunkte 231, 304 Fortschritt 242 Freiheit 130, 132, 149, 150, 151, 153, 155, 160, 162, 170, 193, 197, 198, 201, 202, 259, 323, 325, 327 Freiheistbewusstsein 21, 110, 150, 154, 167 Freiheitsgefühl 143 Freiheitstrieb 192, 193, 202, Frömmigkeit 107, 131, 152, 165, 178, 194, 219, 256, 307, 329, 334, 343, 356 Frühkatholizismus 233

Fundamentaldisziplin 79 Fundamentaltheologie 32, 91, 120 Fundamentalwissenschaft 264, 280, 281, 312 Galaterbrief 37, 49, 233, 235 das Ganze 113, Gattung 217, 221 Gedankenwelt 244, 247, 277, 339 Gebet 351 Gefühl 110, 111, 138, 150–153, 170, 176, 196, 221, 320, 321, 334 – religiöses 137–139, 326 Gefühlsbegriff 111, 112, 150–153, 171, 176 Gefühlsbestimmtheit 139, 140, 153 Gefühlsresonanz 111, 153 Gegenwartsrelevanz 300 Geist 101, 107, 108, 112, 113, 116, 122, 129, 134, 142, 151, 155, 157, 170, 194, 200, 204, 229, 257, 259, 273, 277, 313, 317, 322, 323, 332, 333, 335, 345, 357 – absoluter 112–114 , 122, 124, 153, 163, 172, 203 – endlicher 112, 113, 122, 124, 153, 154, 163, 203–205, 258, 309 – göttlicher 133, 141, 144, 167, 194, 202, 203, 215 – menschlicher 133, 141, 144, 192, 194, 196, 199, 202, 203 – religiöser 149, 157, 158, 161, 164, 217 – universaler 171 Geistesakt(e) 133, 141, 142, 350 Geistbegriff 200 Geistesfreiheit 240 Geistesgeschichte 124 Geistesleben 106–108, 128, 133, 136, 142, 143, 146, 159, 188, 189, 192– 194, 260, 326, 337, 344, 357 Geistesmacht 105 Geistesphilosophie 117–119 Geistesreligion 117–119, 162 Geisteswissenschaft 27, 135, 281, 312, 336, 357, 358 Geiststruktur 326 Geistzeugnis 210, 341 Gemeinde 144, 160, 232, 300 Gemeinschaft 144, 153, 163, 194, 205, 340, 349 Genesis 265

Sachregister Genesiskommentar 265 Gerechtmachung 205 Gesamtanschauung 231, 236, 316 Gesamtauffassung 237 Geschichte 95, 113, 115, 116, 122, 123, 158–161, 163, 164, 167, 169, 170, 171, 196, 198, 204, 210, 211, 216, 220, 223–225, 228, 231, 242, 244, 247, 252, 255, 258, 259, 262, 265, 268, 273, 275, 289, 292, 294, 297, 301, 302, 304, 305, 309, 310, 319, 328–332, 336, 337, 339, 344, 351, 355 – altorientalisch 63 – der Religion 142–145, 157, 337, 351 – des Christentums 127, 222, 305, 319, 330 – des Urchristentums 210, 211, 218, 329 – israelitische 262, 302 – urchristliche 172, 208, 216 Geschichte Israels 60, 62, 63, 214, 223, 225–227, 261–264, 267, 268, 282, 291–293, 308, 310, 331 Geschichtsbetrachtung 13, 171 Geschichtsbild 125, 210, 247, 328, 343 Geschichtsbücher 228 Geschichtsdarstellung 262 Geschichtsdaten 293 Geschichtsereignisse 164, 165 Geschichtsglaube 254 Geschichtsforschung 65, 69, 120, 122, 125, 171, 212, 236, 237, 293, 295, 296, 304, 328 Geschichtskonstruktion 198, 237, 300, 304, 342 Geschichtsmetaphysik 305, 315 Geschichtsphilosophie 13, 254, 259 Geschichtsprozess 302 Geschichtsschreibung 60, 227, 263, 282 Geschichtstheologie 21, 170 Geschichtsurkunde 211, 212 Geschichtsverständnis 245 Geschichtswerk 289 Geschichtswissenschaft 90, 170, 174, 247 Geschichtszusammenhang 340 Gesellschaft 345 Gesetz, Gesetze 214, 219, 224, 227, 233, 266–269, 349

407

Gesetzgebung 288 Gesetzesreligion 215, 216, Gesetzmäßigkeit 97–100, 104, 159, Gewissheit 129, 137, 160, 189, 190, 340 – religiös(e) 134, 137 – unmittelbare 187 Gewissen Gilgameschepos 298 Gläubige 204 Glaube, 17, 19, 126, 131, 133, 135, 145, 147, 149, 153, 155, 160, 188, 193, 194, 201, 204, 205, 212–214, 216, 219, 233, 254, 257, 258, 280, 305– 307, 312, 317, 319, 325, 326, 328– 330, 332, 334, 338, 339, 341, 343, 348–350, 352, 353, 356 Glaubensbekenntnis(se) 18 Glaubensbewusstsein 147 Glaubenserkenntnis 107, 147 Glaubensgemeinschaft 127 Glaubensgeschichte 285 Glaubensgewissheit 37, 345, 356 Glaubensleben 195, 357 Glaubenslehre, 95, 106, 126, 138, 181, 189, 303, 322, 346, 351 Glaubensmystik 219, Glaubensüberzeugung 127 Glaubenswissenschaft 94, 334, 338 Gnade 188, 205 Gnadenmittel 144, 213 Gnosis 36, 164, 172, 210, 219, 232, 245, 305, 306, 319, 328, 329, 343 Gnostizismus 36, 53, 245 Gott 102–108, 132, 139, 140, 141, 143, 151, 154, 156, 160, 189, 191, 194, 202–205, 216, 219, 224, 225, 229, 252, 258, 261, 302, 303, 310, 312, 322, 322, 324, 325, 329, 330, 334, 345, 350–352, 356 das Göttliche 137, 138, 151, 195 Gottesbegriff 104, 122, 124, 151–154, 164, 197, 198, 203, 229, 348 Gottesbeweis 36, 200 Gottesbewusstsein 94, 137, 143, 150, 151, 154, 167, 169, 195, 198–200, 203, 205, 230, 321 Gottesbezug 346 Gottesbund 215, Gottesdienst 113 Gotteserkennntis 194, 205, 225, 334, 344 Gottesgedanke 109, 159, 199, 325, 327

408

Sachregister

Gottesglaube 20, 31, 153, 164, 193, 229, 320, 345, 346 Gottesgemeinschaft 144, 327 Gottesherrschaft 215, 225 Gottesidee 104, 106–108, 110–113, 121, 123, 153, 155, 166–168, 192, 193, 199, 225, 299 Gotteskindschaft 148, 164, 218, 219 Gotteslehre 36, 106–108, 254 Gottesoffenbarung 164, 261 Gottesreich 137, 144, 214, 216, 229, 243, 312, 330 Gottessohnschaft 148 Gottesverehrung 194 Gottesverständnis 113 Gottesvolk 242 Gottesvorstellung 138, 165, 199 das Göttliche 104 Graf-Wellhausen-Hypothese 267 Grenzbegriff(e) 100–102, 108, 122, 132, 145–147, 178, 321, 322, 325, 344, 345 Griechentum 210 Grundanschauung 125 Grundlagendisziplin 265, 313, 333, 334 Grundlagenwissenschaft 335 Grundprinzipien 350 Grundschrift 267, 288–290 Grundtrieb 110, 111, 123, 148, 149, 151, 168, 194, 197, 199 Haggada 272 Haggai 283 Hebraismus 298, 299 Heidenchristentum 70, 165, 209, 219, 232, 233, 305, 306, 329 Heiliger Geist 213 Heiligkeit Gottes 299 Heilsbotschaft 30 Heilsereignis 20, 302 Heilserfahrung 212 Heilsgemeinschaft 216 Heilsgeschichte 250, 310 Heilsgewissheit 205 Heilsordnung 216 Hellenismus 328, 353 Hellenisierung 218, 306, 309, 330 Hermeneutik 24, 25, 29, 59, 79, 207, 230, 231, 248, 254, 260, 263, 264, 265, 276–279, 280, 287, 288, 302, 304, 312, 318, 332, 333, 346, 354, 358

– grammatische 277 – psychologische 277 Hiobbuch 57 Historie 249, 318 Historiographie 264, Historismus 19, 33, 172, 262, 333, 342 Historisierung 2, 19, 67, 207, 210, 293, 301, 303, 305, 328, 329 Homilien 234 – clemtinische 234 Humanismus 31 Ich, Ichheit 190, 191, 193, 194, 199, 321, 322 Idealismus 12, 118, 173 Idee(n) 93, 95, 123, 165, 172, 200, 201, 218–220, 254, 257–259, 299, 304, 305, 307, 330 Ideengeschichte 304 Identität 159, 257, 349, 353, 356 Identitätsphilosophie 258, Ignatiusbriefe 57 Ikonographie 353 Immanenz 103 Individualismus 237 Individualität 204, Individuum, Individuen 259, 322 Induktion 175 Inschriften 295, 296 Inspirationsbegriff 222, 303 Inspirationslehre 278 Interaktion 65, 66 Interdisziplinarität 75, 89 Interpretationspraxis 31, 346 Islam 167 Israel 162, 214, 216, 229, 248, 255, 259, 260, 262, 264, 285, 289, 298, 304, 308, 311, 352, 353 Jahwist 267–269 Jenaer Literaturzeitung 26, Jenaer Theologie 25, 26, 27, 51, 65, 72, Jenenser Erklärung 45, 55, 67, 87, 313 Jesaja 223 Jesus von Nazareth 219, 273, 329, 330 – Christus 144, 145, 148, 205, 212, 338 – geschichtlicher 221 – historischer 220, 306 – irdischer 222 Joelbuch 244, 270, 308, 309 Johannesevangelium 219, 222, 238, 240, 245, 305, 329

Sachregister Judaismus 210, 240 Judenchristen 209 Judenchristentum 47, 50, 70, 208–210, 219, 232, 233, 236, 237, 240, 245, 305, 329 Judentum 1, 53, 77, 160, 165, 167, 210, 215, 216, 218, 226, 241, 243, 244, 245, 249, 256, 304, 309, 311, 312, 328, 330 Kaiserreich 15 Kanon 1, 125, 213, 215, 246, 286, 301, 303, 317, 333, 356 Kantforschung 344 Kategorien 96–98, 104, 313, 357, 358 Katholizismus 236, 239 Kausalität 96–98, 101, 107, 110, 126, 144, 146, 317, 322, 334, 338, 342, 344 Kausalzusammenhang 96, 134, 147, 161, 192 Kausalschluss 9 Keilinschriften 24, 61, 62, 65, 291, 292, 295, 296, 298, 311 Keilschrift 24, 80, 291, 294 Keilschriftenentzifferung 292 Keilschriftforschung 62, 293, 295 Keilschriftgattung 291 Keilschriftzeichen 291 Ketzergeschichte 53, 125 Kindschaft 216, 312, 327 Kinder Gottes 259 Kirche 18, 217, 234, 248, 258, 274, 297, 307, 309, 320, 330 Kirchengeschichte 22, 44, 52, 84, 85, 87, 236, 239 Kirchenhistoriker 22, 209 Kirchenpolitik 45 Kirchenverfassung 37 Kirchenpolitik 46 Kirchliche Dogmatik 32 Klemensbriefe 47, 75, 236 Königsinschriften 292 – assyrische 292 Kongenialität 264, 277, 287 Konsistenz 124, 175 Konsitorialrat 69 Konstante – anthropologische 196–199 Konstruktion 149, 202 Kontextualisierung 293 Konvergenz 233, 254

409

Konvergenzlinien 29, 203, 207, 245, 305 Korintherbrief(e) 209, 211, 232, 233 Korporation 14, 68, 74, 82, 88, 314, 315, Korrelat 97, 102, 112, 133, 200, 202, 318, 345 Kriteriologie 263, Kritik 248, 252, 339 – grammatisch-philologische 252 – historische 252, 308, 318 – literarhistorische 240 – neutestamentliche 231 Kritikbegriff 245 Kritizismus 204 Kultur 16, 17, 316, 346 Kulturwissenschaft 30, 31 Kultus 111, 151, 254, 278, 351 Kultzentralisation 267 Kunst, Kunstlehre 276–279, 288, 358 Kyrus 283, 284 Leben 176, 202, 248, 355, 337 – geistiges 195 – geschichtliches 248 – religiöses 157, 357 – seelisches 204, 335– 337, 356, 357, 358 Leben-Jesu-Forschung 217, 220, 221, 306 Lebenserfahrung 249 Lebensgemeinschaft 133, 143, 202, 322, 334, 346 Lebensumstände 252 Lehrfreiheit 54, 67, 87 Lehrkörper, 22 Lehrsätze 253, 280 Lehrstuhl 43, 71, 81, 87, 313 Lehrveranstaltung(en) 28, 43, 77 Leitbegriff 345 Leitidee 242 Liberalismus 3, 4, 19, 32 – kirchlicher 37 – politischer 3, 14, 45 – theologischer 3, 5, 7, 16, 23, 37, 45, 342 Literalsinn 253, 274, 301 Literarhistorie 49 Literarkritik 311 Literatur 241, 246, 292 – biblische 246, 290 – religiöse 293 – urchristliche 231 Literaturgeschichte 245, 269, 286, 311

410

Sachregister

Literaturbildung 233 Logos 161, 164, 165, 168, 222, 229 Logik 103, 158, 164 Lukasevangelium 238 Luthertum 127 Manichäismus 319 Makkabäer, Makkabäerzeit 243 Manifestation 124, 222, 248, 261, 339, 341 Markusevangelium 237–240 Materialismus 39, 93, 95, 96, 98, 134, 135, 193, 326, 336 Matthäusevangelium 238, 239, 240 Mechanismus 130, 146, 155 Menschheit 144, 158, 218, 222, 297, 302, 330 Mensch, Menschsein 151, 196, 202, 205, 224, 225, 324, 325, 327, 335, 350, 351, 356, 357 Menschwerdung 113 Mentalität 22, 23, 342 Messias 250 Messiasbewusstsein 221 Messiasgemeinde 216 Messiasidee 226 Messiasreich 219 Metaphysik 99–104, 113, 120, 122, 123, 126, 141, 192, 317, 321, 322, 323, 337, 338, 344, 345, 358 – transzendentale 100 – logizistische 100 Methode – dogmatische 339 – historisch-kritische 212, 231, 247, 339, 340 – spekulative 116 Methodologie 290 Midrasch 272 Mission 219, Mittler 164, 169, 229, Monismus 103, 127, 144, 146, Monotheismus 143, 229, 237, 256, 352, 353 Moral 339 Morgenländische Gesellschaft 62, 65, 291 Mosaismus 211, 214, 224, 225, 256 Mythos 221, 319 Mysterium 133, 142

Natur 105, 129, 136, 142, 155, 195, 258, 317, 320, 322, 323, 325, 334, 335, 344, 357 Naturalisierung 112, 153 Naturalismus 12, 16, 260 Naturbestimmtheit 131, 144, 194, 327 Naturerkennen 134, 335 Naturkausalität 323 Naturreligion 143, 163, 225, 259, 319 Naturtrieb 165 Naturwesen 192, 325 Naturwissenschaft 26, 39, 134, 317, 336, Naturzusammenhang 130, 131, 136, 147, 153, 155, 202 Neutestamentler 209 Neues Testament 23, 37, 52, 76, 80, 84, 87, 125, 207, 208, 213–215, 220, 226, 227, 244–246, 249, 250, 276, 301, 310, 311, 329–331 Neukantianismus 12, 41, 89, 93, 95, 118–120, 315, 317, 333, 344 Neuplatonismus 210, Neutestamentler 28, 44 Neuzeit 32 Nominalprofessuren 27, 28, 80–87, 91, 315 Normativität 71, 315, 339, 341 Notwendigkeit 156, 198 Noumenon 101, 121, 122 Numeri 266 Oberhofprediger 69 Objekt 97–99, 100, 101, 110, 111, 123, 132, 138, 189, 191, 195, 205, 336, 337, 340, 357 Objektivierung 219, 307 Objektivität 205, 253 Offenbarung 36, 113, 114, 119, 131, 133, 141, 142, 148, 155, 163–166, 169, 212, 214, 216, 222, 223, 241, 256, 261, 262, 273, 299, 302, 309, 310, 312, 318, 332, 334, 350, 351, 355 – äußere 142 – fortschreitende 161 – geschichtliche 113, 148, 205, 318, 338 – göttliche 163, 164, 212, 261, 299, 332 – innere 142, 318 – übernatürliche 170 Offenbarungsbegriff 37, 74, 163, 222, 254–256, 300, 326, 351

Sachregister Offenbarungsgedanke 125 Offenbarungsgehalt 248, 307, 327 Offenbarungsgeschichte 114, 163, 165, 216, 310 Offenbarungsprinzip 165 Offenbarungsreligion 163, 215, 300 Offenbarungsurkunde 305 Offenbarungsverständnis 26, 165 Offenbarungswissen 226 Ontologie 150, 188, 204, 335, 336, 337, 357 Ordinariat, Ordinarius 22, 24, 27, 28, 38, 39, 43, 52, 59, 61, 64, 65, 72, 75, 81, 84, 88, 293, 297, 314 Orientalist 22, 63, 64 Orientalistik 63, 330 Orientgesellschaft 62, 297 Orientierungsmacht 294, 302 Orthodoxie 15, 56, 340 Pantheismus 103, 193 Partei 217, 234, 301, 305, 329 Parteibildung 211 Parteiengegensätze 49, 207, 210–212, 233, 234, 247, 304, 329 Partikularismus 31, 225, 230, 256, 258, 260, 298 Partikularität 273 Pastoralbriefe 209, 217, 232, 306, 318, 329 Patristik 23, 44, 53 Paulinismus 44, 45, 47, 48, 208, 217, 218, 233, 236, 239, 240, 307, 329 Paulusbriefe 217, 233, 235, 241 Pentateuch 227, 265, 266, 268, 288, 289, 307 Pentateuchforschung 57, 265, 266, 268, 269, 283, 290, 308, 309, 343 Pentateuchkomposition 268 Pentateuchkritik 25, 58, 265, 266, 268, 288, 290, 308 Pentateuchquellen 227 Perfektibilität 173, 302, 303 Periode, Periodisierung 217, 218, 236, 301 Perserzeit 353 Persönlichkeit 206 Persönlichkeit Jesu 209, 306 Person 137, 140, 144, 195, 217, 263, 264, 323, 324 Person Jesu 213, 218, 220, 221, 307, 329, 341, 343

411

Personalprofessuren 315 Petrusevangelium 238 Phänomen(e) 41, 134, 188, 232, 357 Phänomenologie 123, 204, Phantasie 102, 138, 196, 279 Philipperbrief 209 Philologie 64, 297, 336, 344 Philosophie 12, 18, 19, 27, 28, 29, 38, 93–128, 156, 159, 175, 189–191, 196, 221, 229, 254, 256, 257, 282, 303, 320, 336, 337, 339, 347, 356 – des Geises 117–119, 124 – griechische 36, – idealistische 13 – materialistische 27 – neuzeitliche 20 – religiöse 36 – spekulative 95 – spinozistische 48, 49 Philosophiegeschichte 45, 76 Pietismus 249 Politik 342 Polydämonismus 143 Polytheismus 143, 352 Positionalität 14, 15, 18, 20, 21, 22 Positivismus 12, 125 Positivität 17, 144, 169, 319, 338, 345, 349 Positionalität 145, 349 Präsenzort 201 Predigt 214, 218 Priester 271 Priesterkodex 267, 289 Priestertum 271 Priesterschrift 227, 267, 308 Primärquellen 354 Prinzip, Prinzipien 207, 231, 244, 248, 260, 261, 265, 269, 281, 283, 307, 308, 312, 333, 347 Privatdozent 35, 61, 265 Profangeschichte 262 Professor, Professur 14, 26, 36, 69, 78, 84–87, 226, 316, 342 Prolegomena 127, 261, 267, 293 Propädeutik 19, 116, 188, 286, 325 Propheten 226, 227, 254, 255, 267, 270– 273, 276 Prohetenforschung 271, 343 Prophetie 24, 53, 223, 226, 242, 243, 255, 256, 271, 273, 275, 330

412 –

Sachregister

Joel 24, 58, 59, 269, 270, 272, 275, 276, 279, 333 Prophetismus 19, 211, 214, 225, 273 Protestantenblatt 15 Protestantentag 66, 87 Protestantenverein 16, 45, 55, 66, 87 Protestantismus 1, 9, 14, 15, 16, 23, 37, 42, 51, 77, 118, 149, 212, 303, 347 Protestantische Kirchenzeitung 16, 52, 58, 73, 265, 268 Protestantismustheorie 22 Protologie 168 Psalmen 283 Pseudepigraphie(n) 232, 243 Pseudoclementinen 49 Psychologie 111, 126, 134, 135, 150–153, 188, 204, 279, 325, 334–336, 357, 358 – empirische 134, 178, 188, 202, 336 – experimentelle 180, 336 – deskriptiv-analytisch 336 – geisteswissenschaftliche – naturwissenschaftliche – physiologische 134 – verstehende 180 Pythagoräismus 210 Quellenbestand 354 Quellenforschung 300 Quellenkritik 235, 329 Quellenscheidung 266 Rationalismus 2, 14, 113, 119, 122, 124, 142, 160, 220, 255, 256 Rationalist 253 Rechtfertigung 204, 205 Rechtfertigungslehre, 20, 75, 93, 144, 204, 205, 208, 218, 351 Recognitionen – clementinische 234 Reflexionstätigkeit 118, 124 Reformation 147, 303 Reich Gottes 219 Religion 6, 16, 17, 30, 74, 90, 93, 105– 115, 122, 124, 126, 128–134, 137– 140, 143, 148, 149, 150–161, 162– 171, 177–182, 188–194, 196, 198, 201–203, 214–216, 218–220, 223, 227–229, 244, 247, 250, 254, 256, 257, 259–262, 285, 298–300, 302– 304, 306, 307, 310, 311, 312, 316, 318, 320–328, 332, 334, 336, 337,

339, 343, 344, 346, 347, 349–352, 355, 357 – alttestamentliche 214, 228, 254, 257, 258, 261, 275, 318 – christliche 32, 33, 80, 169, 224, 228, 229, 300, 310, 311, 316, 328, 330, 332, 345, 348 – des Geistes 117–119, 225 – ethische 143, 215, 216 – exegetische 215 – israelitische, Israels 78, 213, 215, 216, 223, 226–228, 250, 256, 260, 271, 293, 298, 299, 300, 304, 312, 327, 332, 355 – jüdische 215, 224, 225, 228, 229, 310 – mosaische 223, 226 – mythologische 143 – natürliche 169, 257 – vollkommene 162 Religionsanschauung 224 Religionsbegriff 19, 20, 31, 128–133, 148, 149, 151, 160, 162, 163, 169, 174, 175, 197, 201, 202, 214, 254, 257, 320, 322, 324–326, 334, 343, 345, 346, 348, 349 Religionsforschung 327 Religionsgeschichte 46, 49, 55, 72, 76, 90, 109, 111, 113, 122, 141, 143, 145, 157, 158, 162-–170, 177, 178, 197– 199, 215, 223, 256, 257, 264, 285, 294, 307, 308, 310, 311, 320, 327, 330–332, 337, 343, 348, 350, 351, 353, 355 – altorientalische 78 – Israels 214, 223, 226, 227, 257, 328, 352–355 Religionsgeschichtliche Schule 7, 242, 328, 331, 342, 343 Religiosität 166, 247 Religionskritik 176, 192, 326, 350, 351 Religionsphilosophie 19, 38, 42, 44, 46, 76, 93, 97, 99, 109, 111, 114–117, 120, 122, 123, 125, 126, 128, 142, 143, 147, 149, 150–153, 156–158, 166, 175, 176, 179, 188, 189, 197– 200, 202, 223, 226, 228, 229, 304, 305, 322, 327, 336, 337 Religionspolitik 53, 77 Religionspsychologie 114, 133-136, 141, 156–158, 166

Sachregister Religionstheologie(n) 128, 174, 321, 343 Religionstheorie 19, 128, 131, 149, 152, 154, 159, 170, 320, 324, 325 Religionsverachtung 136 Religionsverständnis 129–133, 155, 167, 169, 198, 202, 257 Religionswissenschaft 38, 45, 107, 123, 126, 127, 143, 154, 158, 159, 162, 198, 324, 334, 337, 338, 342, 347– 351, 357 Religiosität 17, 18, 162, 164 Renaissance 31 Restauration 15 Retter 226 Rezeptionsgeschichte 56, 248, 355 Richtung 42, 73, 82, 83, 87 – theologiegeschichtliche 29 – theologische 5, 6, 13, 14, 23, 83, 314 Ritschl-Schule 4, 5, 14, 20, 72, 73, 74, 169 Römerbrief 37, 219, 231, 233 Romantik 15 Rückbezug 249 Rückbindung 355 Sacharja 283 Sachproblem 341 Sammlung 246 Schlussredaktion 266 Schöpfungsgeschichte 283 Schöpfungsbericht 298 Schrift, Schriften 171, 210, 213, 231, 233, 234, 245, 246, 248–250, 274, 278, 279, 281, 301, 309, 310, 312, 333, 334, 339, 341 – alttestamentliche 355 – biblische 18, 246 – heilige 17, 246 – kanonische 246 – religiöse 279 – urchristliche 171, 340 Schriftanwendung 252, Schriftauslegung 249, 250, 252, 253, 261, 269, 270, 273, 279, 312, 317 Schriftforschung 217 Schriftgelehrsamkeit 271 Schriftsinn 250, 252 Schrifttum 209 Schriftverständnis 37, 208, 232, 329 Sozialgeschichte 26 Spätidealismus 94

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Seele 102, 356 Sein 102, 103, 188, 192, 200, 322, 339, 345, 357 Seinsurteile 129, 146, 323 Selbstanschauung 115, 196, 204 Selbstbehauptung 130, 131, 135–137, 192, 202 Selbstbewusstsein 94, 105, 108, 115, 136–139, 143, 150–154, 156, 168– 170, 189, 192, 195, 198, 199, 202, 203, 205, 258, 325 – frommes 175 – reflektiertes 116–119, 189 – religiöses 119, 157, 197 – transzendentales 119, 134, 189 – unmittelbares 94, 97, 118, 124, 138, 151, 170, 190, 191, 193–195, 204, 356, 357 Selbstbehauptung 194, 325 Selbstbeschreibung 349 Selbstbeziehung 141, Selbstdistanzierung 345 Selbstentfaltung 124 Selbsterfahrung 120, 122, 205 Selbsterkennen 105, 139, 191 Selbsterleben 323 Selbsterschließung 124, 161 Selbsterweis 351 Selbstgewissheit 118, 119, 134, 136, 191 Selbstheit 111, 150, 197 Selbstmitteilung 113, Selbstoffenbarung 124 Selbstüberschreitung 345 Selbstverständnis 110, 121 Selbstverwirklichung 111 Seligkeit 194 Semitismus 298–300 Sibyllinen 241, 243 Sintflutbericht 299 Sintfluterzählung 298 Sittenlehre 45, 93, 189, 322, 346 Sittlichkeit 20, 123, 152, 160, 258, 321, Sohn Gottes 219 Sohnschaft 137, 143, 144, 216, 312, Solarisierung 352 Soteriologie 169 Sozialgeschichte Spekulation 99, 160, 168, 171, 209, 274, 321, 343 Spätaufklärung 259 Spätidealismus 93

414

Sachregister

Spinozismus 48, Stammesreligion 143 Stifter 307 Streben 108 Streitschrift 293 Subjekt 20, 97, 98, 102, 104, 105, 120, 122, 123, 136–139, 146, 154, 157, 170, 188–191, 194, 195, 199, 202, 205, 336, 337, 344, 356, 358 Subjektivität 20, 96, 99, 100, 104, 258, 356 Substanz 96–98, 101, 103, 134 Sündenvergebung 205 Supranaturalismus 2, 4, 12, 111, 142, 223, 255 Symbol 127, 163, 195 Symbolisierung 165 Synkretismus 353 Synthesis, Synthese 97, 98, 115, 121, 149, 175, 191, 233, 304 Tätigkeit 110, 151, 159 Teleologie 126, 145, 147, 317, 322, 334, 344, 347 Tempelbau 61, 243, 283–285 Tendenz 206, 209, 233, 235, 301, 306 Tendenzcharakter 234, 329 Tendenzkritik 206, 209, 210, 217, 230, 232–235, 240, 305, 329 Text(e) 270, 274, 285, 287, 315, 333, 340, 358 – alttestamentliche 293, 297, 312 – biblischer(r) 250, 274, 277, 279, 280, 285, 295, 303, 307, 324 – neutestamentliche 301 – urchristliche 340 Textbehandlung 270 Textentstehung 287 Textgeschichte 250, 286 Textkritik 270, 283 Textsinn 287 Textverständnis 355 Theismus 36, 114, 164, 229 Theogonie 159 Theokratie 255 Theologie 11, 16, 17, 19, 28, 75, 90, 93– 128, 157, 159, 168, 171–174, 175, 188, 194, 203, 204, 209, 214, 215, 218, 221, 226, 230, 231, 234, 240, 247, 248, 250, 261, 268, 270, 271, 275, 280, 281, 282, 293, 297, 301, 303, 311, 312, 313, 315–327, 329,

332, 333, 334, 337–339, 341, 343– 348, 350–352, 355, 358 – alttestamentliche, des Alten Testaments 214, 228, 229, 253, 261, 264, 268, 283, 353, 355 – biblische 250, 253, 257, 281, 321, – christliche 31 – dialektische 8, 30, 31, 205, 352, 356 – dogmatische 247, 279, 281, 339 – exegetische 280, 340 – freie 9 – historische 18, 77, 80, 174, 247, 248, 279, 280, 313, 333, 339, 341 – liberale 1–11, 12, 14, 17, 21, 29, 30– 33, 188, 346, 356 – liberale Jenaer 11, 23, 28, 29, 67, 69, 73, 74, 87, 175, 176, 188, 201, 203–205, 207, 301–304, 309, 310, 313, 316, 317, 319–324, 326, 329, 330, 333, 334, 337, 339–341, 342, 345–347, 350, 351, 355, 356, 358 – metaphysische 19 – natürliche 76, 124, 169, 323, 327 – neukonfessionalistische 14 – positionelle 14, 220 – positive 4, 8, 67, 68, 268, 315 – praktische 48, 70, 76, 80, 81, 85 – protestantische 13, 27, 29, 154, 240, 248, 303, 319, 352 – religionswissenschaftliche 347 – restaurative 7 – spekulative 4, 117, 122 – systematische 18, 27, 28, 36, 76, 80, 81, 82, 84–87, 120, 280, 313, 327, 333, 341, 351, 352 – wissenschaftliche 6, 51, 115, 117, 170, 171, 212, 234 Theologiegeschichte 9, 11, 30, 45, 46, 76, 145, 216, 300 Theologiegeschichtsschreibung 2, 48, 215, 230 Theologiekonzeption 13, 19, 33, 39, 93, 174, 230, 313, 320, 321, 327, 338, 342, 343, 347, 350 Theologieverständnis 28, 29, 30, 93, 205, 307 Theologische Jahrbücher 23, 51 Theoriebegriff 346 Theozentrismus 356 Thessalonicherbrief 208, 210, 211, 329 Totalität 113, 190, 257, 277, 304

Sachregister Transzendentalphilosophie 21 Transzendenz 164, 229, 230, Trieb 110–112, 152, 159, 197, 198–202, 304 – religiöser 136-138, 166, 193, 195 Tübinger Schule 13, 47, 48, 217, 230, 239, 328, 342, 343 Typologie 272 Überlieferung – alttestamentliche 293, 310, 311, 315 – biblische 280, 295, 296, 302, 316, 328 – geschichtliche 353 – neutestamentliche 315 – religiöse 300, 311 Übernatürlichkeit 105 das Unendliche 101, 108, 111, 110, 137, 148, 198 Unendlichkeit 150, 151, 197, 225 Universalgeschichte 316 Universalität, Universalismus 30, 109, 110, 159, 170, 225, 256 Universität 18, 81, 85, 315 Universität Jena 14, 15, 21, 82, 342 Universitätsgeschichte 26 Universitätshierarchien 88 Universitätskurator 26, 55, 69, 70, 316 Universitätsprediger 43 Universitätsprofessor 77, Universitätstheologe 26, 45, 90 Universitätstheologie 14, 18, 19, 39, 69, 75, 90, 314, 342 Universitätsverwaltung 21, 69, 342 Universum 102, 137, 326 das Unvergängliche 170 Unvollkommenheit 258 Urapostel 235, 240, 245, 305 Urchristentum 36, 37, 45, 49, 53, 86, 171, 210, 211, 217, 219, 231–234, 239, 240, 245, 247, 248, 301, 306, 327, 329, 339–341, 343 Urchristenheit 208, 222 Urdatum 96, 190 Urgemeinde 219, 235, 238 Urgeschichte 61, 283, 289, 290, 308 Urkirche 48, Urkunde 212, 213, 236, 304 Urkundenhypothese 265, 266, 268, 289, 290, 308 Ursache 107, 345

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Ursprung 77, 110, 112, 127, 159, 173, 237, 243, 247, 339, 356 – des Christentums 339 – der Religion 130, 131, 136, 158, 159, 188, 192, 325 Ursprungsmythen 343 Vätererzählungen 227 Verankerung 174, 247, 350, 355, 356 Verfasserfrage 240 Verfasserschaft 211, Vergeistigung 106, 140 Vergleich – religionsgeschichtlicher 300 Verhältnis – religiöses 137, 139, 143, 225, 312, 324, 338, 349 Verhältnisbestimmung 258, 322, 324, 349, 355 Verkündigung Jesu 218, 219, 222 Vermittlung 235, 257, 274, 305 Vermittlungsgeschehen 151 Vermittlungstheologen 39, Vermittlungstheologie 7, 8, 12, 13, 74, 93, 220 Vernetzung 65–75, 87, 88 Vernunft 17, 32, 96, 113, 119, 150–153, 157, 159, 165, 168, 199, 254, 255, 305, 334, 345, 349 – reine 96–98, 122 Vernunftanlage 110, 153, 200, 202, Vernunftanschauung 114 Vernunftbegriff 175 Vernunftgehalt 111, 168 Vernunftglauben 305 Vernunfttätigkeit 110, 153, 202 Vernunfttrieb 123, 200 Vernunftursprung 199 Vernunftwesen 121, Versöhnung 148, 151, 156, 160, 201, 205, 235 Versöhnungsgeschehen 169 Versöhnungslehre 172 Verstandesbegriffe 98, 149 Verstehen 188, 277, 279, 281, 358 Verwaltungslisten – assyrische 292 Völkerpsychologie 336 Volk Israel 212, 224–226, 261 Volksbücher 268, 316 Volksglauben 259 Volksreligion 143, 227

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Sachregister

Volkssage 296 Volksüberlieferung 296 Vollzugsbegriff 346 Vorgeschichte – des Christentums 241, 261, 330 Vorrangstellung 247 Vorstellung(en) 96, 98, 106, 111, 134, 153, 177, 178, 190, 195, 219, 244, 253, 255, 258, 320, 322, 335, 357 – religiöse 94, 106, 139, 140, 141, 148, 203, 323, 324, 337, 338 Vorstellungsgehalte 153, 176 Vorstellungswechsel 134, 135, 335 Wahrheit 133, 158, 159, 193, 204, 221, 223, 224, 249, 301, 330, 331 – absolute 172 – religiöse 136 Wahrheitsanspruch 76, 127, 135, 351 Wahrheitsgehalt 123 Wahrnehmung 96, 357 Wahrnehmungsstoff 96, 98 Wechselbegriff 139, 142, 350 Wechselbeziehung 132, 141, 154, 194, 195, 202, 269, 270 Wechselverhältnis 131, 325 Weissagung 223, 242, 243, 256, 271, 272 – sibyllinische 241 Welt 103, 155, 156, 191, 193, 199, 203, 258, 322, 327, 330, 338, 346 Weltanschauung 11, 77, 93, 99, 106, 122, 126, 129, 135, 141, 147, 160, 161, 192, 193, 196, 214, 218, 317, 322–324, 349 – einheitliche 101, 106, 127, 143, 145, 146, 319, 324, 334, 338, 339 – materialistische 145, 146 – moderne 11, 317 – religiöse 143, 145, 146, 323 – teleologische 135, 317 – wissenschaftliche 145 Weltansicht 193 Weltbewusstsein 143, 151, 153, 154, 156, 168, 192, 198, 199, 201, 205, Weltbild 123 Welterfahrung 120, 122, 205 Welterkennen, Welterkenntnis 98, 100, 121, 122, 123, 125, 129, 135, 160, 165, 189, 193, 317 Weltentwicklung 112 das Weltganze 101

Weltgeschichte, Weltgeschehen 257, 341 Weltgrund 103, 104, 109, 110, 112, 121– 123, 345 Weltherrschaft 242, 243 Weltordnung 156 Weltreligionen 352 Weltschranke 15 Weltsinn 113 Weltüberlegenheit 105, 112, 122, 149 Weltverständnis 110, 121, 123 Weltwirklichkeit 102, 345 Weltzusammenhang 113 Wert, Werte 93, 249, 285 Werturteile 129, 144, 146, 263, 322, Wertsetzung 263, 295, 296 Wesen 11, 17, 105, 108, 127, 129, 148, 160, 166, 169, 170, 172, 241, 243, 244, 327, 349, 351 – des Christentums 118, 209, 247, 248, 339, 341 – des Menschen 162, 169, 194, 200, 225 – der Religion 17, 108, 109, 115, 128, 130, 150, 153, 155, 158, 161, 162, 165, 188, 198, 223, 324–326, 328, 335, 337, 356 – göttliches 196 – Gottes 162, 225 – intelligibles 131 – menschliches 150, 197 Wesensbestimmung 130, 171, 197 Wesensstruktur 337 Widerspruch 111, 135, 150, 151, 192, 197, 200, 243, 266 Wiedergeburt 205 Wiederkehr 242 Wiederkunft 219 Wille 111, 146, 152, 153, 176, 221, 224, 320 Willensmacht 339 Wirklichkeit 96, 97, 134, 190, 326, 336, 340, 351, 356 – göttliche 161 Wirklichkeitsgrund 124, 126 Wirklichkeitsverständnis 21, 124, 126 – religiöses 124, 126 Wirkungsgeschichte 355 Wissen 127, 212, 247, 248, 326, 328, 335, 339–341, 355, 357

Sachregister Wissenschaft 17, 31, 90, 91, 99, 104, 106, 126, 127, 135, 145, 161, 174, 193, 204, 207, 220, 246, 253, 257, 259, 260, 270, 278, 282, 286, 290, 293, 295, 302, 308, 312, 314, 321, 331, 333, 334, 336–339, 342, 343, 347, 348, 355, 358 – alttestamentliche 24, 226, 227, 248, 256, 258, 261, 308, 311, 331, 342, 352 – approximative 149 – empirische 133, 338 – neutestamentliche 171, 231, – theologische 103, 143, 314 Wissenschaftlichkeit 293, 296, 315, 338 Wissenschaftsdisziplin 296 Wissenschaftsfreiheit 18, 19, 314 Wissenschaftsgeschichte 9, 234, 294, 302 Wissenschaftslehre 110, 111, 276, 288, 358 Wissenschaftsorganisation 21, 26, 28, 75, 315, 316, 342 Wissenschaftskanon 145, 172

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Wissenschaftssystem 281, 312, 335 Wissenschaftstheorie 12, 18, 32, 128, 334, 339, 357 Wissenschaftsverständnis 26, 102, 149, 269 Wissensgebiete 204 Wortsinn 250, Wunder 222, 330 Wundererzählungen 255 Zeit – nachapostolische 240 Zeitalter 236, 239, 243, 244, 270, 275 – apostolisches 36 Zeitanschauung 285 Zeitbedingtheit 280 Zeitbindung 341 Zeitgebundenheit 212 Zentraldisziplin 339 Zeugnis 212, Zweck(e) 130, 147, 151, 257, 258, 259, 261 Zweckbestimmung 258 Zwecksetzung 147, 322