Liberale Gleichheit: Vermischte politische Schriften 9783050058207, 9783050056876

With his texts on philosophy, economics, and politics, John Stuart Mill (1806–1873) was one of the most influential thin

209 60 3MB

German Pages 325 [328] Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Liberale Gleichheit: Vermischte politische Schriften
 9783050058207, 9783050056876

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Erster Teil: Die liberale Zivilisierung der Welt
I. Zivilisation – Zeichen der Zeit (1836)
II. Einige Bemerkungen zur Nicht-Einmischung (1859)
Zweiter Teil: Die liberale Aktivierung des Bürgers
III. Das Gesetz gegen Verleumdungen und die Freiheit der Presse (1825)
IV. Die Rechtsansprüche der Arbeit (1845)
V. Gedanken zur Parlamentsreform (1859)
VI. Zentralismus (1862)
VII. Über Bildungsbeihilfen (1866)
Dritter Teil: Die liberale Emanzipation der Menschheit
VIII. Die Negerfrage (1850)
IX. Die Auseinandersetzung in Amerika (1862)
X. Die Macht der Sklaverei (1862)
XI. England und Irland (1868)
Personenregister

Citation preview

John Stuart Mill Liberale Gleichheit Vermischte politische Schriften Herausgegeben von Hubertus Buchstein und Antonia Geisler

Schriften zur europäischen Ideengeschichte Herausgegeben von Harald Bluhm

Band 7

John Stuart Mill Liberale Gleichheit Vermischte politische Schriften Herausgegeben von Hubertus Buchstein und Antonia Geisler

Akademie Verlag

Abbildung auf S. 7: John Stuart Mill, © Wikimedia Commons

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­biblio­ grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.­

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2013 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Stephan Butz, Berlin Druck: Concept Medienhaus, Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005687-6 E-Book: ISBN  978-3-05-005820-7 Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort ...................................................................................................................... Einleitung ..................................................................................................................

9 11

Erster Teil: Die liberale Zivilisierung der Welt I. Zivilisation – Zeichen der Zeit (1836) ....................................................... 73 II. Einige Bemerkungen zur Nicht-Einmischung (1859) ............................... 100

Zweiter Teil: Die liberale Aktivierung des Bürgers III. IV. V. VI. VII.

Das Gesetz gegen Verleumdungen und die Freiheit der Presse (1825) ..... Die Rechtsansprüche der Arbeit (1845) ..................................................... Gedanken zur Parlamentsreform (1859) .................................................... Zentralismus (1862) ................................................................................... Über Bildungsbeihilfen (1866) ..................................................................

117 154 176 203 238

Dritter Teil: Die liberale Emanzipation der Menschheit VIII. IX. X. XI.

Die Negerfrage (1850) ............................................................................... Die Auseinandersetzung in Amerika (1862) .............................................. Die Macht der Sklaverei (1862) ................................................................ England und Irland (1868) .........................................................................

247 257 274 297

Personenregister ........................................................................................................ 322

John Stuart Mill (1806–1873)

Vorwort

Dieser Band soll dazu beitragen, John Stuart Mill auch dem deutschsprachigen Publikum als einen ‚public intellectual‘ bekannt zu machen; als einen Autor, der seine politiktheoretischen Argumente und Positionen meistens erst im Zuge konkreter politischer Kontroversen formulierte, entfaltete und zuspitzte. Zwei der in diese Sammlung aufgenommenen Artikel sind bereits zu Lebzeiten Mills auf Deutsch erschienen. Sie finden sich in mittlerweile vergriffenen und schwer zugänglichen Ausgaben und wurden für diese Edition grundlegend überarbeitet. Die anderen neun Aufsätze dieses Bandes sind zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übertragen worden. Die Übersetzungen stammen von Veit Friemert und Shivaun Conroy. Die Herausgeber sind Herrn Friemert und Frau Conroy für ihre gründliche Arbeit und ihre Anregungen sehr dankbar; nach unserem Sprachempfinden ist es ihnen auf besondere Weise gelungen, den ‚Mill-Klang‘ der englischen Originaltexte in ihrer Melange aus sachlichen, lakonischen und polemischen Stilelementen in die deutsche Sprache zu transponieren. In der Planungsphase für diesen Band gaben Peter Niesen und Nadia Urbinati hilfreiche Hinweise bei der Auswahl der Texte von Mill. Für Hilfe bei der Texterstellung und Recherchen danken wir Tobias Müller, Martina Eberhardt und Steffi Krohn. Harald Bluhm danken wir für die Bereitschaft, den vorliegenden Band in die Reihe ‚Schriften zur Politischen Ideengeschichte‘ im Akademie-Verlag aufzunehmen. Berlin und Greifswald, im November 2012 Hubertus Buchstein und Antonia Geisler

+8%(5786%8&+67(,1$1721,$*(,6/(5

Einleitung: John Stuart Mill – Ein liberaler Intellektueller im politischen Handgemenge

John Stuart Mill1 hat eine schillernde Reputation. Auf der einen Seite wird er mit seinem engagierten und unverdrossenen Eintreten für Minderheitenrechte, Frauenemanzipation, Meinungsfreiheit, Demokratie und soziale Rechte als eine Ikone des aufgeklärten und progressiven politischen Denkens des 19. Jahrhunderts gefeiert. Auf der anderen Seite wird Mill als hoffungslos elitär, als Verteidiger politischer Ungleichheit, als ein unbarmherziger Verfechter des modernen Imperialismus und als einer der wichtigsten Ideologen des britischen Kolonialismus kritisiert. Die verschiedenen Bilder, die von Mill in der politischen Ideengeschichtsschreibung gezeichnet werden, lassen sich nur schwer miteinander vereinbaren. Die in diesem Band abgedrucken Texte sollen diesen bisherigen Bildern eine kräftige Kolorierung hinzufügen. Denn sie präsentieren Mill als einen Autor, der erst in der kontroversen Debatte und in der Polemik zur argumentativen Hochform auflief. Mill verstand sich nicht nur als Fachgelehrter, sondern als ein Intellektueller, der das gesamte lesende Publikum mit seinen Thesen zu den aktuellen Fragen der Zeit überzeugen wollte. Er betrieb mit seinen tagespolitischen Interventionen eine ‚public philosophy‘, der es weniger auf philosophische Differenzierung und Abstraktion ankam, sondern auf ihre politische Praktikabilität und argumentative Plausibilität. An der Beantwortung der praktischen Fragen der Zeit müssen sich die theoretischen Prinzipien der politischen Philosophie bewähren können. Mill wollte mit seinen Artikeln überzeugen. Wen er aber nicht überzeugen konnte, den wollte er wenigstens vor den Augen seines Publikums widerlegen, verurteilen oder ins Lächerliche ziehen. Anders als in seinen bekannteren größeren Arbeiten kam es Mill in seinen Essays und tagespolitischen Interventionen weniger auf den argumentativen Ausgleich zwischen verschiedenen Ansichten und Theorien an. Ihm lag mehr an der öffentlichwirksamen Forcierung und Zuspitzung. Oder, wie Bruce Kinzer schreibt: „theory generally blunted Mill’s radical edge; practice sharpened it“ (Kinzer 2007: 204). 1

Für Kommentare und Anregungen danken wir Harald Bluhm, Siri Hummel, Dirk Jörke und Tobias Müller sowie ganz besonders Hannah Bethke.

12

E: J S M – E  I

In diesem Sinne gehören die politischen Interventionen von Mill zum Kernstück seines Werkes. Geboren wurde John Stuart Mill am 20. Mai 1806 in London als erster Sohn von James und Harriet Mill.2 Seine Erziehung gilt heute als legendär, und zwar im Positiven wie im Negativen. Sein Vater hatte für den jungen John Stuart ein akribisches Curriculum ausgearbeitet, das unter anderem das Erlernen der altgriechischen Sprache bereits im Alter von drei Jahren vorsah. Schnell galt John Stuart als eine Art Wunderkind.3 Mit siebzehn Jahren trat er in den Dienst der East India Company, bei der einige Jahre zuvor auch sein Vater angestellt worden war, und blieb dort - unterbrochen nur von längeren Reisen auf den europäischen Kontinent - über fünfunddreißig Jahre. Der junge John Stuart Mill gehörte wie sein Vater zu den ‚Philosophical Radicals‘ und publizierte seit 1824 in schneller Folge eine Reihe von Artikeln zu verschiedenen aktuellen Themen der Gesellschaftsreform und zu Fragen der Geschichte und Kultur. Sein politisches Ziel, aus den unterschiedlichen Protestbewegungen in England eine starke ‚Radical Party‘ zu formen, scheiterte Ende der 1830er Jahre. Mill konzentrierte sich daraufhin zunächst auf die Publikation von grundlegenden philosophischen und ökonomischen Abhandlungen. 1843 erschien ‚A System of Logic‘ und 1848 ‚Principles of Political Economy‘. Obwohl Mill nie an einer Universität studiert hatte und nie an einer Universität lehren wollte, erlangten beide Bände in ihren fachlichen Gebieten Lehrbuchcharakter. Sie machten den Autor berühmt und die Bücher erlebten so hohe Neuauflagen in England und den USA, wo er ganz besondere Verkaufserfolge feierte, dass Mill finanziell ausgesorgt hatte. 1858 nahm er seinen Abschied von der East India Company. Nur wenige Wochen später starb seine Frau Harriet Taylor-Mill. In Reaktion auf diesen Schicksalsschlag stürzte sich Mill danach erneut ins öffentliche Leben und publizierte zahlreiche Artikel, Bücher und Broschüren. Im Jahre 1859 erschien das in weiten Teilen noch zusammen mit seiner Frau verfasste Buch ‚On Liberty‘ und die Broschüre ‚Thoughts on Parliamentary Reform‘. Zwei Jahre später folgten ‚Utilitarism‘ und ‚Considerations on Representative Government‘ und 1865 eine ausführliche Kritik der intuitiven Erkenntnistheorie in ‚An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy‘. Im selben Jahr zog Mill für die Liberalen in das englische Unterhaus ein und erwarb sich dort den Ruf eines ebenso exzentrischen wie radikalen Kritikers des britischen Establishments. Nachdem er sich im Parlament mehrfach vergeblich für das Frauenwahlrecht eingesetzt hatte und zudem 1868 bei der nächsten Parlamentswahl seinen Sitz wieder verlor, publizierte er 1869 das Buch ‚The Subjection of Women‘, in dem er sich für die Frauenemanzipation einsetzte und das er noch in enger Zusammenarbeit mit seiner verstorbenen Frau und seiner Stieftochter Helen Taylor geschrieben hatte. Bei allmählich schlechter werdender Gesundheit las, diskutierte und schrieb Mill unvermindert weiter bis an sein Lebensende. Er starb am 7. Mai 1873 in Avignon; noch im gleichen Jahr veröffentlichte seine Stieftochter das für die Zeit nach seinem Tod zurückgelegte Manuskript seiner ‚Autobiography‘. Die 2

3

Die umfassendste Biographie über Mill stammt von Richard Reeves (2007). Sehr informativ ist die knapper gehaltene deutschsprachige Biografie von Jürgen Gaulke (1996). Mehr als fünfzig Jahre später hat John Stuart Mill sein Erziehungsprogramm in seiner (erst posthum veröffentlichten) Autobiographie ausführlich geschildert und auch die damit verbundenen Leidenserfahrungen und psychischen Krisen nicht verschwiegen. Vgl. Mill (1873: 3-50).

E: J S M – E  I

13

größtenteils in den 1850er Jahren verfassten ‚Three Essays on Religion‘ hatte er wegen ihrer religionskritischen Stoßrichtung ebenfalls bis zu seinem Tod zurückgehalten – sie wurden 1874 publiziert. John Stuart Mill gilt in der heutigen politischen Ideengeschichtsschreibung als einer der wichtigsten Protagonisten des Liberalismus. Lebenslang bezeichnete er sich selbst voller Stolz als einen Liberalen. Als solcher wird er bis heute ebenso verehrt wie angegriffen und wird in regelmäßigen Abständen sein Werk im Hinblick auf seine aktuelle Bedeutung befragt. Zuletzt bot das zweihundertjährige Jubiläum seines Geburtstages im Jahre 2006 eine willkommene Gelegenheit, neue Artikel und Bücher über Mill zu publizieren. Die Debatten über Mill und seine Arbeiten finden aus nahe liegenden Gründen vor allem in England und den USA statt, aber Mill gehört zu den Autoren, deren Werk längst in sämtliche Weltsprachen übersetzt ist. Fast alle der oben genannten Schriften von Mill sind auch ins Deutsche übersetzt, zum Teil in einer ersten, fragmentarisch gebliebenen Werkausgabe, die in Absprache mit Mill von Theodor Gomperz begonnen wurde. Zum Teil wurden Texte von Mill auch in konkurrierenden oder späteren Übersetzungen ins Deutsche übertragen, manche Texte von ihm auch nur in Auszügen. Insgesamt ist die Quellenlage zum Werk von John Stuart Mill heute sehr gut. 1963 hatte John M. Robson eine kritische Ausgabe der Werke von Mill begonnen. Nach 33 Bänden konnte die Edition der ‚Collected Works of John Stuart Mill‘ im Jahre 1991 erfolgreich abgeschlossen werden. Sie enthält sämtliche bekannte Texte von Mill (in allen Textvarianten der unterschiedlichen Auflagen) sowie eine umfängliche Dokumentation seines voluminösen Briefwechsels. Es gibt mehrere Einführungen zu Mill und verschiedene Überblicksdarstellungen.4 Auch die Forschungen zu Mills Biographie können seit dem zusammenfassenden Standardwerk ‚John Stuart Mill. Victorian Firebrand‘ von Richard Reeves im Wesentlichen als abgeschlossen gelten (vgl. Reeves 2007). Mill verarbeitet in seinen Überlegungen und Thesen neben dem klassischen Utilitarismus eine Reihe anderer, miteinander konkurrierende geistige Strömungen seiner Zeit. In der Sekundärliteratur herrscht bis heute Uneinigkeit darüber, welche dieser Strömungen in Mills Weltanschauung zu welchen Phasen dominant geworden sind. Unbestritten ist, dass er sich seit den späten 1820er Jahren in einem auch persönlich schmerzlichen Prozess vom klassischen Utilitarismus der Versionen Jeremy Benthams und seines Vaters entfernt hatte. Während der klassische Utilitarismus die Erlangung des ‚größten Glücks der größten Zahl‘ aller Menschen zur normativen Richtschnur hatte, nimmt John Stuart Mill explizit eine qualitative Unterscheidung von ‚besseren‘ und ‚schlechteren‘ Wünschen vor. Pointiert schreibt er in seinem Buch ‚Utilitarismus‘: „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr“ (Mill 1859: 33).5 In der Sekundärliteratur werden für dieses „neo-Greek, neo-Renaissance or humanistic ideal“ (Skorupski 2006:26) als 4

5

Die beste knappe Einführung stammt von John Skorupski, der auch Herausgeber der ‚Cambridge Companion to Mill’, ist (vgl. Skorupski 2006). Von den etwas älteren Büchern bietet Alan Ryan die beste Überblicksdarstellung (vgl. Ryan 1988), von den neueren Dale E. Miller (vgl. Miller 2010). Zu den Unterschieden zwischen dem ‚klassischen Utilitarismus’ und dem ‚qualitativen Utilitarismus’ von John Stuart Mill vgl. Donner (1998).

14

E: J S M – E  I

besonders prägende Einflüsse verschiedene Autoren der deutschen und englischen Romantik, insbesondere Samuel T. Coleridge und Thomas Carlyle, genannt.6 Ebenso sehr wurde Mill durch die Schriften von François Guizot sowie Saint-Simon, Auguste Comte und insbesondere Alexis de Tocqueville geprägt. Aus der deutschen Tradition las er mit Begeisterung Texte der Romantiker in originaler Sprache. Zudem nahm er plakativ Anleihen bei Johann Wolfgang von Goethe und Wilhelm von Humboldt. Die humanistische Vorstellung vom ‚qualitativen Wachstum‘ des Menschen sah Mill am treffendsten im Ideal Goethes von der „Vielseitigkeit“ des Menschen aus dem ‚Wilhelm Meister‘ literarisch beschrieben, am besten in dem Humboldt entnommenen Bild von einem frei stehenden Baum, der sich in alle Richtungen wachsend entfaltet, metaphorisch formuliert und im Begriff ‚Bildung‘ der deutschen Romantiker zutreffend ausgedrückt.7 Die Orientierung an diesem Ideal und die Frage nach ihrer Umsetzung bildet gleichsam die Klammer, die nicht nur die in diesem Band versammelten Aufsätze, sondern Mills gesamtes Werk und Wirken zusammenhält.

Die liberale Zivilisierung der Welt Bei aller Polemik zielte John Stuart Mill mit seinen philosophischen, ökonomischen und politiktheoretischen Texten darauf, zutreffende Aussagen über gesellschaftliche und politische Fragen von globaler Reichweite zu machen. Er beanspruchte dies zum einen in diachronischer Perspektive, indem er ein universales Entwicklungsmodell der Menschheit von ihren barbarischen Anfängen bis zu den höheren Formen heutiger Zivilisation als Deutungsschema präsentierte. Zum anderen erhob Mill auch in einer weiteren Hinsicht einen universalen Geltungsanspruch, indem er in vielen seiner Arbeiten die Beziehungen zwischen verschiedenen Staaten und Völkern der Welt zueinander analysierte und daraus konkrete Handlungsempfehlungen ableitete. Von programmatischer Bedeutung sind in dieser Hinsicht vor allem die beiden Artikel ‚Zivilisation‘ (1836) und ‚Einige Bemerkungen zur Nichteinmischung‘ (1859). Mills Intention in diesen Beiträgen lässt sich auf die Kurzformel eines ‚liberalen Projektes der Zivilisierung der Menschheit‘ bringen.

6

7

Die verschiedenen Einflüsse, die Mill in den 1820er und 1830er Jahren rezipiert hatte, sind gut zusammengefasst bei Kinzer (2007: 43-76). Für die Bezugnahme auf Goethe vgl. Mills Autobiographie (Mill 1873: 13, 208) und zu Humboldts Ideal der ‚Originalität’ als anthropologischen Referenzpunkt vgl. ‚Über die Freiheit’ (Mill 1859: 83-89). Der Vergleich des Menschen mit einer ‚zarten Pflanze’ findet sich auch in den erziehungstheoretischen Überlegungen von Mill, beispielsweise in ‚Der Utilitarismus’ (Mill 1861a: 33) oder in ‚Die Hörigkeit der Frau’ (Mill 1869a: 39). Die Berufung auf Goethe in seinem Loblied auf die „many-sidedness“ trifft allerdings nicht präzise das, was Goethe unter Vielseitigkeit verstand, da Goethe ihr auch eine weitergehende epistemische Dimension beimaß. Zur zum Teil eigenwilligen Rezeption der deutschen Klassik und Romantik durch Mill vgl. die Interpretation von Rosenblum (1987: 125-151).

D  Z  W

15

Zivilisation – Zeichen der Zeit (1836) Mill verfasste das Manuskript zu dem Artikel ‚Zivilisation‘ im Herbst 1835 im Alter von 29 Jahren. Er hatte seit Beginn der 1830er Jahre Aufsätze zu verschiedenen innenpolitischen Themen verfasst und viel Zeit darauf verwendet, eine ‚Radical Party‘ zu etablieren.8 1840 sah er sich in seinen Bemühungen endgültig gescheitert und widmete sich von nun an weniger tagespolitisch bedeutsamen Themen; das erste große Produkt dieser Interessenverlagerung ist das 1843 erschienene ‚System of Logic‘. Der Essay ‚Civilization‘ fällt jedoch noch in die Jahre des ungestümen politischen Engagements. Veröffentlicht wurde er an herausgehobener Stelle in der ersten Ausgabe der ‚London and Westminster Review‘, die aus der Fusion der ‚Westminster Review‘, dem bisherigen Sprachrohr der ‚Philosophical Radicals‘, und der (seit 1834 von Mill als verantwortlichem Redakteur betreuten) ‚London Review‘ entstanden war und im April 1836 neu auf den Markt kam. Mit seiner ‚London and Westminster Review‘ sah sich Mill unversehens in der Rolle eines Quasi-Monopolisten auf dem englischen Markt für kritisches und radikales politisches Denken und er war entschlossen, gleich im ersten Heft die Programmatik des politischen Radikalismus in seiner umfassenden Perspektive darzulegen. Der Artikel erschien unter dem vollständigen Titel ‚Civilization – Signs of the Times‘ und für Mill waren die im Untertitel angemahnten Zeichen der Zeit zu diesem Zeitpunkt eindeutig zu erkennen. Aus heutiger Sicht ist Mills Artikel in einem doppelten Sinn programmatisch. Zum einen formuliert Mill darin generelle Überzeugungen und Reformvorschläge, die er in späteren Jahren zu verschiedenen Einzelthemen vertieft hat. Zum anderen ist der Artikel eine Art Regieanweisung an ihn selbst im Hinblick auf die thematischen Schwerpunkte seiner zukünftigen Arbeit. Damit nimmt dieser Aufsatz eine Art Scharnierfunktion für die anderen Artikel von Mill in dieser Sammlung ein und soll aus diesem Grund etwas ausführlicher kommentiert werden. Mill beginnt seine Überlegungen mit einer Definition des Begriffs der Zivilisation. Aus seiner Sicht ist Zivilisation die „menschliche Vervollkommnung im allgemeinen“. Ein Land könne dann als zivilisiert gelten, „wenn wir glauben, dass es eine höhere Stufe der Entwicklung erreicht, mehr von den besten Eigenschaften des Menschen und der Gesellschaft aufzuweisen hat, wenn es auf dem Weg zur Vollkommenheit weiter vorgeschritten, glücklicher, klüger, edler ist.“ (74).9 Die Interpretation, dass Zivilisation lediglich „besondere Arten der Vervollkommnung“ (74) umfasse, wird von Mill als unzureichend angesehen, weil es nicht ausdrücklich das gesamte menschliche Entfaltungspotential, sondern einseitig nur die Erhöhung des materiellen Reichtums im Blick habe. Diese begriffliche Differenzierung Mills ist zweifellos geprägt von seiner Lektüre der Arbeiten des französischen gemäßigten Liberalen Francois Guizot. Dessen ‚Histoire de la civilisation en Europe‘ war drei Monate zuvor veröffentlicht worden; Mill verfasste für die Januar-Ausgabe der ‚Westminster Review‘ eine ausführliche Rezension dieses 8 9

Zu diesen Aktivitäten von Mill vgl. Hamburger (1982: xxii-xlvi). Alle Seitenzahlen in dieser Einleitung ohne weitere Literaturangabe beziehen sich auf die Seitenzählung im vorliegenden Band.

16

E: J S M – E  I

Buches. Guizot, so Mill in dieser Besprechung, mache eine wichtige Unterscheidung zwischen „the improvement of society and outward life, and that of inward nature of man“ (Mill 1836: 374).10 Auch finden sich in seinen Vorstellungen starke Anleihen an die Idee der ‚cultivation‘ des romantischen Dichters und Philosophen Samuel T. Coleridge, die dieser folgendermaßen definiert hatte: „becoming more eminent in the best characterstics of Man and Society; farther advanced in the road to perfection; happier, nobler, wiser“ (zit. nach Reeves 2007: 103).11 Mills Vorstellung einer umfassenden menschlichen Vervollkommnung als „grand, leading principle“ (Habibi 1996: 79) basiert auf einer Grundannahme, die man als ‚Wachstumstheorem‘ oder ‚Entwicklungsdoktrin‘ bezeichnen kann. Unter Wachstum („growth“) versteht Mill einen Prozess positiven Wandels zu immer mehr Perfektion. Mill bezieht Wachstum als positiven Wert zwar primär auf Individuen, in zweiter Instanz aber auch auf Gruppen. Dabei haben die Formen des kollektiven Zusammenlebens aus seiner Sicht den entscheidenden Einfluss auf die Formung von Individuen und deren ‚character‘. Wachstum ist ein facettenreicher Prozess und entfaltet sich in verschiedene Richtungen. Ein Individuum hat an Wachstum gewonnen, wenn es sich selbst verbessert, wenn es Neues dazulernt, umfassend kulturell aktiv ist, mehr kann, geschickter ist oder mehr erlebt hat. In diesem Sinne ist Mill Anhänger eines ‚qualitativen Wachstums‘. Zugleich ist Wachstum prinzipiell unendlich, denn jeder einmal erreichte gute Zustand kann zukünftig immer noch etwas besser werden. In diesem Sinne ist Mill Anhänger einer perfektionistischen Ethik. Die Erfahrung und das Erleben von Wachstum – dies ist das anthropologische Zentrum seiner Überlegungen – gibt den Menschen das höchstmögliche Gefühl von Freude und Befriedigung, weshalb er diesen Prozess auch subjektiv als nützlich für sich erfährt. Nichtzivilisierte Gesellschaften befinden sich nach Mill im „rohen Naturzustand“ (75) und sind mit „Barbarei“ (75) gleichzusetzen. Über Angehörige dieser Gesellschaften weiß er zu berichten, dass sie „umher wandern und auf einem großen Gebiet dünn verstreut leben“ (75). „Wilde“ Menschen besäßen „körperliche Kraft, Mut, Unternehmungsgeist und oft sogar ein gewisses Maß von Intelligenz“ (77), aber da sie noch nicht die Fähigkeit entwickelt hätten, „gemeinsam zu handeln“ (77), blieben wilde Gesellschaften „schwach und arm“ (77). Hier müsse „jeder für seine eigenen Bedürfnisse sorgen“ (75), es herrsche „Selbstsucht“ (77) in ihnen, und die „Leidenschaften fügen sich keiner Berechnung“ (77), da der „Wilde sich selbst keine festen Regeln setzen“ (77) könne. Dementsprechend komme es in wilden Gesellschaften auch zu „keiner Kooperation“ (75), ausgenommen während gelegentlicher Kriegszüge. Und da „Recht und Gerechtigkeitspflege“ (75) fehle, könne jedes Gesellschaftsmitglied allein auf „seine persönliche Stärke oder List“ vertrauen und sei ansonsten allen gesellschaftlichen Fährnissen hilf10

11

Ähnlich auch Mills folgende Bemerkung in der gleichen Rezension: „When we say that a country advances in civilisation, we mean […] that a higher spiritual culture is introducing itself – that the individuals of whom society is made up, are advancing more and more towards the perfection of their nature – that the national mind is becoming wiser, nobler, more humane, or more refined, and that more numerous or more admirable individual examples of genius, talent, or heroism are manifesting themselves.” (Mill 1836: 374). Zum prägenden Einfluss von Coleridge auf Mill vgl. Turk (1988).

D  Z  W

17

los ausgeliefert. Der Zustand der Gesellschaft und die Charaktereigenschaften der ihr zugehörigen Menschen stabilisieren sich nach Mill gegenseitig auf niedrigem Niveau. Angehörige zivilisierter Gesellschaften haben demgegenüber gelernt, dass und wie man erfolgreich kooperiert. „Disziplin, d. h. vollkommenes Zusammenwirken“ (77) ist für Mill das wesentliche Attribut zivilisierter Gesellschaften. Für ihn gibt es keinen zuverlässigeren Prüfstein für den Fortschritt der Zivilisation als den Fortschritt in der Fähigkeit zur gesellschaftlichen Kooperation. In zivilisierten Gesellschaften kooperieren die Menschen bei der Arbeit, beim Handel, bei den Künsten und in der Wissenschaft permanent und „genießen die Freuden des geselligen Lebens“ (75). Der Schutz einer jeden Person und ihres Eigentums werden durch staatliche Institutionen gesichert, die ihrerseits den gesellschaftlichen Frieden garantieren. In solchen Gesellschaften kann sich eine intensive Pflege der „Künste des Lebens“ (75) entfalten; hier kommt es zu einem „fortschreitende[n] Wachstum des Reichtums und der Bevölkerung“ ( 75). Nur zivilisierte Gesellschaften seien in der Lage, Nationen auf Basis kollektiver politischer Identitäten zu bilden (75). All diese Elemente der Zivilisation, so Mill „bestehen in dem Europa unserer Tage und besonders in Großbritannien“ (Seite 75). Die positiven Beispiele, die Mill für das kooperative Zusammenwirken der Menschen im Land des zivilisatorischen Spitzenreiters England anführt, stammen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. An erster Stelle nennt er die Aktiengesellschaft, bei der mehrere Geldgeber ihre Finanzmittel zusammenlegen. Als ebenso wichtige Kooperationspraxis nennt er den „Geist der Gemeinsamkeit, die sich unter den arbeitenden Klassen herausgebildet hat“ (79) und der zur Gründung von Hilfsvereinen und Gewerkschaften geführt hat. Als ein anderes hervorstechendes Beispiel für die segensreichen Effekte gesellschaftlicher Kooperation führt er die „Zeitungspresse“ (79) an. Zeitungen, die ihrerseits arbeitsteilig erstellt werden, ermöglichen es jedem lesefähigen Bürger, sich über die Ansichten und Absichten seiner Mitbürger kundig zu machen, sich über den Parlamentsbetrieb zu informieren und sogar mit seinen Mitbürgern per Leserpost zu kommunizieren. Diese mediale Errungenschaft kann ihrerseits weitere politische Entwicklungen in Gang setzen. Die Zeitungspresse, so Mill, schafft die Voraussetzung dafür, es „dem Volke möglich [zu] machen, bei allen entscheidenden Fragen einen Gesamtwillen zu bilden und diesen Willen unwiderstehlich stark zu machen“ (80) und somit auch auf politischer Ebene verstärkt gemeinsam zu handeln. Unschwer ist den Ausführungen von Mill zu entnehmen, dass die Fähigkeit, miteinander kooperieren zu können, für ihn zu einer angeborenen Eigenschaft des Gattungswesens Mensch gehört, für deren Entwicklung es indes unterstützender gesellschaftlicher Rahmenbedingungen bedarf. Anders als Tiere können die Menschen kooperatives Verhalten leicht erlernen und durch stete Übung weiter verbessern. Kooperationsfähigkeit sei „wie alle schwierigen Dinge […] nur durch Übung“ (78) zu erlernen, und ganze Völkerschaften ließen sich nur allmählich und in kleinen Schritten dafür heranbilden. Es gebe aber eine „große Schule für gemeinsames Zusammenwirken“ (78): die „Arbeitsteilung“ (78). Mittels Teilung der Arbeit werden Aufgaben bewältigt und Probleme gelöst, die ein Mensch allein niemals bewältigen kann. Menschen lernen auf diesem Wege, sich zu disziplinieren, sich zur Erlangung eines gemeinsamen Zieles unterzuordnen und die Gründe für ihr diszipliniertes Verhalten einzusehen. Die Disziplinarmacht der moder-

18

E: J S M – E  I

nen industriellen Arbeitswelt hat nach Mill einen sämtliche Poren des gesellschaftlichen Lebens prägenden Einfluss. In der Literatur zu John Stuart Mill hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine bis heute heftig geführte Kontroverse darüber entsponnen, inwieweit er mit seiner Zivilisationstheorie und ihren politischen Implikationen die Ideale seines politischen Liberalismus verraten hat. Denn er bevorzugt normativ eindeutig die von ihm als ‚zivilisiert‘ identifizierten Gesellschaften, ordnet die meisten Gesellschaften auf dem Globus in die Kategorie ‚unzivilisiert‘ ein und begründet vor dem Hintergrund dieser Lageanalyse seine politischen Handlungsempfehlungen. Einige Kritiker erkennen bereits in Mills Unterscheidung zwischen zivilisierten und nicht-zivilisierten Gesellschaften einen eurozentristischen Kern des modernen Liberalismus und plädieren demgegenüber für eine Überwindung universalistischer Ansätze in der politischen Theorie.12 Mill hätte darauf vermutlich mit der Gegenfrage reagiert, ob die Kritiker ernstlich glaubten, dass ein Leben in permanenter Angst und Sorge um die eigene Sicherheit, ohne die technischen und medizinischen Errungenschaften der Moderne sowie ihrer kulturellen Produkte für Menschen tatsächlich eine gleichwertige Lebensqualität bieten würde. Gnädiger ist die neuere Literatur gegenüber Mill dort gestimmt, wo er sich gegen bestimmte Tendenzen in der modernen Gesellschaft seiner Zeit wendet. Diese Gesellschaftskritik nimmt ihren Ausgang in der Frage nach den weiteren „Folgen einer fortschreitenden Zivilisation“ (74). Mill zählt dazu das „Nachlassen individueller Tatkraft“ (83) beim Menschen, den Trend zur ausschließlichen Konzentration auf „Gelderwerb“ (84), „Trägheit und Feigheit“ (85) und eine Einstellung, die heute zuweilen mit dem Namen ‚Postheroismus‘ (Herfried Münkler) belegt wird. Die Menschen schenkten den Versprechen der Reklame Glauben und hören auf politische Scharlatane; nicht einmal die schöne Literatur sieht Mill von diesen Niedergangstendenzen verschont. Es würden viel zu viele Bücher geschrieben und niemand lese noch wirklich gründlich. Ihn treibt sichtlich die Sorge um, dass die dynamische englische Gesellschaft den Zenit ihrer Entwicklung überschritten hat und zuerst zu einer stationären Gesellschaft wird, um danach – wie vor ihr in der Antike die großen Zivilisationen in Ägypten, Griechenland und im Römischen Reich – in einen langsamen Degenerationsprozess einzutreten. Im Kern macht er für sämtliche gesellschaftliche Pathologien eine Dominanz des Gelderwerbs verantwortlich. Aus dem Blickwinkel kritischer Gesellschaftsdiagnosen des 20. Jahrhunderts zielt Mill dabei weniger auf eine Art ‚Dialektik des Zivilisationsprozesses‘ (im Sinne von Horkheimer und Adorno), sondern auf eine Kritik einer gleichsam ‚vereinseitigten‘ Zivilisation (im Sinne von Jürgen Habermas). Unsere Zeit, so Mill, hat auf „vielen Gebieten der menschlichen Vervollkommnung nicht dieselben Fortschritte [...] aufzuweisen“ (74). Sie scheint auf einigen Gebieten „stille zu stehen, auf anderen sogar zurück zu gehen“ (74). Abhilfe ist möglich, wenn es gelingt, die bisherigen Einseitigkeiten zu vermeiden. Auf seiner Reformagenda steht der Vorschlag, die Vielfalt gesellschaftlicher Kooperationsformen 12

Zu diesen kontrovers geführten Debatten vgl. Parekh (1995), Robson (1998), Zastoupil (1999), Bogues (2005), Mantena (2007), Pitts (2009) und Losurdo (2011). Einen guten Überblick über die verschiedenen Interpretationsansätze der Millschen Zivilisationstheorie im Zusammenhang mit den Themen Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus bietet Schultz (2007).

D  Z  W

19

zu stärken. Vor allem aber räumt Mill der Erziehung eine zentrale Funktion ein; in diesem Zusammenhang kritisiert er das staatliche Erziehungssystem und insbesondere die englischen Universitäten. Mit Blick auf politisch-institutionelle Reformen plädiert er für die Suche nach „Regierungsformen, die geeignet sind, den individuellen Charakter zu kräftigen“ (90). In dem Artikel über ‚Zivilisation‘ übernimmt Mill auch einige konservative Denkmotive seiner Zeit. Dazu gehört die Forderung nach einer leitenden intellektuellen Elite als Wächter der gegenwärtigen Zivilisationsstufe in England sowie seine Frage nach geeigneten institutionellen Absicherungen gegen die ‚Herrschaft des Mobs‘, die von ihm als eine der modernen Demokratie inhärente Gefahr angesehen wird. Zugleich distanziert sich Mill mit seiner Betonung der ‚qualitativen Entwicklung‘ in der Sache bereits von der Version des Utilitarismus, den sein intellektueller Ziehvater Jeremy Bentham (und ebenso sein Vater) vertreten hatten. Umso überraschter, so berichtet er in seiner Autobiographie, sei er darüber gewesen, dass sein Vater sich ihm gegenüber voll des Lobes über den Artikel geäußert habe, „obschon ich darin viele meiner neuen Ansichten niederlegte und namentlich mit ziemlichem Nachdruck die geistigen und moralischen Richtungen der Zeit in einer Weise und auf solchen Grundlagen kritisierte, die ich sicherlich nicht von ihm gelernt hatte“ (Mill 1873: 165). ‚Zivilisation‘ war der letzte Aufsatz seines Sohnes, dessen Veröffentlichung James Mill erlebte; er starb am 23. Juni 1836. Dass John Stuart Mill dem Artikel ‚Zivilisation‘ wichtige programmatische Bedeutung zumaß, wird darin deutlich, dass er ihn 1859 in den ersten Band seiner ‚Dissertations and Discussions‘ aufnahm. Mill nutzte diese Neuausgabe für eine redaktionelle Überarbeitung des Textes. John M. Robson, der Herausgeber der ‚Collected Works‘ von Mill, kommt in seiner vergleichenden Analyse der beiden Textvarianten zwar auf insgesamt 150 Formulierungsänderungen; die meisten Änderungen sind aber lediglich stilistischer Art oder ergänzende Korrekturen (vgl. Robson 1977: lxxxvii f.). Zu solchen Fällen gehört, wenn Mill in der Fassung von 1859 in einer Fußnote auf Thomas Carlyle als die tatsächliche Quelle eines seiner Gedanken verweist. In den anderen Fällen hat Mill versucht, seine Terminologie an die laufenden gesellschaftspolitischen Debatten in England anzupassen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Ersetzung der 1835 verwendeten Bezeichnung „Radicals“ als positivem Gegenbegriff zu den von ihm kritisierten „Conservatives“ durch das Wort „Democrats“ in der Fassung von 1859. Insgesamt zeigt der Vergleich der beiden Fassungen von 1836 und 1859, dass Mill weder im Hinblick auf seine Argumente noch in seiner Rhetorik substantielle Änderungenvorgenommen hatte.

Einige Bemerkungen zur Nicht-Einmischung (1859) Aus dem gleichen Jahr, in dem Mill ‚Zivilisation‘ für ‚Dissertations and Discussions‘ überarbeitete, stammt der Aufsatz ‚Einige Bemerkungen zur Nichteinmischung‘. Mill verfasste den Artikel im Herbst 1859 während eines Aufenthaltes in Avignon. Den unmittelbaren Anlass dazu hatte die öffentlich gewordene Absicht von Lord Palmerston gegeben, den französischen Bau des Suez-Kanals militärisch zu verhindern. Der Artikel berührt die Frage des außenpolitischen Umgangs von England sowohl mit einem

20

E: J S M – E  I

europäischen Nachbarn als auch innerhalb von Kolonialgebieten. Mill galt nicht nur als Experte auf dem Gebiet der englischen Kolonialpolitik, sondern war seit den 1840er Jahren einer der wichtigsten Amtsträger der britischen Kolonialverwaltung. Er hatte bereits als Siebzehnjähriger unter den Argusaugen seines Vaters bei der East India Company zu arbeiten begonnen und war dort insgesamt 35 Jahre geblieben. Zügig hatte er sich von der Position einer Hilfskraft im Büro seines Vaters auf Führungspositionen hochgearbeitet. In den 1840er Jahren war Mill zuständig für die Erziehungs- und Schulpolitik in Indien, später übernahm er die frühere Position seines Vaters. Nachdem die englische Regierung in Reaktion auf mehrere Aufstände der indigenen Bevölkerung in Indien die East India Company direkt dem britischen Staat unterstellte, sprach sich Mill zunächst öffentlich gegen diese Maßnahme aus und quittierte schließlich unter Protest seinen Dienst.13 Der Artikel ‚Einige Bemerkungen zur Nichteinmischung‘ ist die erste größere publizistische Arbeit, mit der Mill sich nach seiner Kündigung bei der East India Company zum Thema Außenpolitik in der englischen Öffentlichkeit zurück meldete. Der Artikel erschien in der Dezember-Ausgabe des Jahres 1859 von ‚Frazer’s Magazine‘, für das er in den folgenden Jahren noch eine Reihe weiterer Beiträge verfasste. Mill geht in seiner Autobiographie kurz auf diesen Artikel ein und teilt mit, dass er ihn mit der konkreten Absicht geschrieben hatte, die englische Außenpolitik gegen den notorischen Vorwurf zu verteidigen, sie diene rücksichtslos allein englischen Interessen. Stattdessen sei Großbritannien die große Ausnahme unter allen Nationen auf dem Globus, weil es mit seiner Handels- und Außenpolitik im Dienste des weltweiten Fortschritts stehe. Aus moralischer Perspektive seien die Interessen Großbritanniens in der gegenwärtigen Phase der Weltgeschichte größtenteils identisch mit denen des menschlichen Fortschritts (vgl. Mill 1873: 212f.). Mills Artikel stieß in der zeitgenössischen Öffentlichkeit in England auf viele positive Reaktionen, und er zeigte sich darüber sichtlich erfreut (vgl. Robson 1984: lxiii). Mill beginnt seinen Artikel gleich im ersten Satz mit der Feststellung, dass England ein exzeptionelles Land sei. Es übertreffe zwar mit seinem Reichtum und seiner Macht alle anderen Länder auf der Welt; dennoch sei es sein „erklärtes außenpolitisches Ziel […], andere Nationen in Ruhe zu lassen“ (100). Sowohl im Hinblick auf die Frage nach der Legitimität von militärischen Interventionen als auch im Hinblick auf die Ziele des englischen Kolonialismus bedeutete Mills Positionsnahme eine Revision von damals grundlegenden Ansichten liberal inspirierter Außenpolitik. Der Artikel ist der elaborierteste Versuch Mills, die Grundzüge einer neuen liberalen Doktrin der internationalen Beziehungen im zwischenstaatlichen Bereich zu skizzieren. Im Ergebnis liefert er nach Ansicht seiner heutigen Interpreten eine „very sophisticated defense of an expanding British Empire“ (Sullivan 1983: 617) sowie eines „cosmopolitian patriotism“ (Varouxakis 2007: 286). Diese Rechtfertigung verbindet Mill mit der konkreten Aufforderung an die Regierung Gladstone zu einer verstärkten politischen und notfalls auch militäri-

13

Mittlerweile gibt es eine umfangreiche und informative Literatur zur Karriere und zur Tätigkeit von Mill bei der East India Company und ihrer Bedeutung für seine politische Theorie, vgl. Harris (1964), Lloyd (1991), Zastoupil (1994), Peers (1999) und Moore (1999).

D  Z  W

21

schen Einmischung Englands auf dem europäischen Kontinent sowie einer veränderten Weiterführung der bisherigen britischen Kolonialpolitik. Mill zufolge muß „die ganze Doktrin der Nichteinmischung in die Angelegenheiten fremder Nationen dringend der nochmaligen Erwägung“ (107) unterzogen werden, weil bislang viel zu viele falsche Ansichten darüber kursierten. Deutlich widerspricht er einer aus rein nationalem Machtinteresse betriebenen Interventionspolitik. Gleichzeitig lehnt er auch einen prinzipiellen Isolationismus und Anti-Imperialismus ab. Mills eigene Doktrin versucht einen neuen Weg jenseits dieser beiden in der damaligen englischen Öffentlichkeit heftig diskutierten Grundpositionen zu finden. Grundlegend für Mills Doktrin ist die bereits in seinem Artikel ‚Zivilisation‘ vorgenommene Unterscheidung zwischen zivilisierten und unzivilisierten Völkern. Die Regeln des Kriegs- und Völkerrechts müssten berücksichtigen, ob es sich um Beziehungen zwischen zivilisierten Ländern oder solche zwischen zivilisierten und unzivilisierten Ländern handelt: „Es ist ein grober Fehler zu vermuten, dass dieselben zwischenstaatlichen Gepflogenheiten und dieselben Grundsätze zwischenstaatlichen Anstands einerseits zwischen verschiedenen zivilisierten Nationen und andererseits zwischen zivilisierten Nationen und Barbaren bestehen können.“ (108). Die „heiligen Pflichten” (108), welche zivilisierte Nationen einander im Hinblick auf Unabhängigkeit und Nationalstaatlichkeit schuldeten, seien gegenüber nicht-zivilisierten Ländern nicht bindend, da Unabhängigkeit für sie „entweder ein bestimmtes Übel bedeutet oder im besten Falle ein fragwürdiges Gut“ (108) sei. Wäre es den Spaniern oder Galliern nicht besser ergangen, wenn sie Teil des Römischen Reiches gewesen wären? Auch den Athenern aus der Ära von Perikles hatte Mill sechs Jahre zuvor in einer Buchbesprechung attestiert, mit ihren kriegerischen Interventionen dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen.14 Ein ausgeprägtes Nationalgefühl und den Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit finde man sowieso nur bei zivilisierten Menschen; beides zu wecken, sei Teil des kolonialen Entwicklungsprozesses: „Als Nation haben Barbaren keine Rechte, außer dem Recht auf eine solche Behandlung, die sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine Nation zu werden befähigt.“ (108) Demgegenüber müsse im Hinblick auf den Umgang der zivilisierten Völker untereinander die Frage der Kriegsführung „unter völlig anderen Prinzipien entschieden werden“ (110). Angriffskriege zum Zwecke der Landeroberung, der Profitsteigerung oder der Durchsetzung von Ideen und Religionen lehnt Mill ab: „Für eine Idee in den Krieg zu ziehen, wenn es sich bei diesem Krieg um einen Angriffs- und keinen Verteidigungskrieg handelt, ist genauso kriminell wie eine Kriegsführung zwecks Landnahme oder Profitsteigerung – denn unsere Ideen anderen Menschen aufzuzwingen, ist ebenso wenig vertretbar wie es zu rechtfertigen wäre, ihnen unseren Willen in irgendeiner anderen Hinsicht aufzuzwingen“ (107). In zivilisierten Nationen solle Friede der oberste Wert sein, weil nur im Frieden der internationale Handel florieren könne, der dazu beitrage, möglichst vielen Menschen die besten Entwicklungschancen zu bieten. England solle sich ohne Abstriche für den Freihandel einsetzen und deswegen auch darauf verzichten, 14

„The ambitious external policy of Athens [...] was most beneficial to the world and could not have been other than it was without crippeling [the Athenians – d. Hg] in their vocation as the organ of progress.” (Mill 1853: 321).

22

E: J S M – E  I

die französischen Pläne zum Bau eines Suezkanals zu verhindern trachten. Als stärkstes Land in Europa komme England die Aufgabe zu, als Friedensmacht auf dem gesamten europäischen Kontinent in Aktion zu treten. Die britische Regierung solle ankündigen, dass sie jedem europäischen Staat den Krieg erkläre, der es wagt, auf europäischem Boden einen Angriffskrieg zu beginnen. Mill sieht darin eine friedenssichernde Maßnahme für Europa, die zugleich dem moralischen Status Großbritanniens in der Welt zur Ehre gereichen würde: „Die erste Nation, die, mächtig genug ihrer Stimme Geltung zu verschaffen, Geist und Mut besitzt, zu verkünden, dass kein Schuss in Europa durch die Soldaten einer Macht gegen die rebellierenden Untertanen einer anderen abgefeuert werden dürfe, wäre das Vorbild aller Freunde der Freiheit in ganz Europa.“ (114). Auf die Frage, ob und inwieweit man im Falle von Bürgerkriegen oder Fraktionsstreitigkeiten in die inneren Angelegenheiten eines Landes eingreifen soll, lasse sich keine generelle Antwort finden, weil zuviel von den konkreten Umständen abhängt. Mill macht aber keinen Hehl daraus, wie skeptisch er dem Ansinnen gegenübersteht, Freiheit, Demokratie oder Fortschritt mit Hilfe von militärischen Interventionen zu etablieren. Letztlich müsse die Bevölkerung eines jeden Landes ihren eigenen Befreiungskampf führen. „Ein Volk ist frei und bleibt nur frei dann, wenn es entschlossen ist, frei zu sein.“ (112) Mill fährt fort: „Wenn die Freiheit von einem Volk – insbesondere einem solchen, dem sie noch nicht zur Norm geworden ist – so wenig geschätzt wird, dass es nicht bereit wäre, für sie zu kämpfen oder sie gegen jede Macht zu behaupten, die innerhalb des Landes […] rekrutiert werden kann, dann ist die Versklavung dieses Volkes nur eine Frage von Jahren oder Monaten.“ (112) Die Einmischung fremder Mächte würde innerhalb des Landes Ressentiments erzeugen und die Erfolgschancen eines freien Regierungssystems unterhöhlen. Zwar verteidigt Mill die europäischen Interventionen beim griechischen Aufstand gegen das Osmanische Reich 1830 und die Unterstützung der belgischen Rebellion gegen die Niederlande 1831, mahnt insgesamt aber zur Zurückhaltung beim Einsatz militärischer Mittel. Mills zurückhaltende Mahnung ließ den Artikel in den späten 1960er Jahren zu einem Schlüsseltext der amerikanischen Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg werden, der mehrfach nachgedruckt wurde (vgl. Walzer 2007: 347). Einige Jahre zuvor hatte ihn Kenneth Miller in einer der ersten größeren Arbeiten zu Mills Theorie der Internationalen Beziehungen ihn als eine Art ‚englischen Kant‘ interpretiert (vgl. Miller 1961). Die heutige Diskussion zu diesem Text ist kontroverser. So hat Michael Walzer Mill unlängst vorgehalten, dass dessen Thesen im Lichte der Erfahrungen mit dem zu langen Gewährenlassens des Deutschen Reiches vor Kriegsausbruch 1939 und angesichts der Herausforderungen durch den heutigen internationalen Terrorismus dringend einer Ergänzung zur Problematik des Präventivkrieges benötigten (vgl. Walzer 2007). Carol Prager sieht in Mill einen Autor, bei dem sich bereits die meisten skeptischen Einwände gegen die Versuche von NATO-Staaten nachlesen lassen, im Irak, Afghanistan oder Libyen mit Hilfe militärischer Mittel Demokratie und Freiheit längerfristig zu etablieren (vgl. Prager 2005). Zu einer anderen Akzentuierung gelangt Beate Jahn (2005 und 2009), die in Mill einen Vordenker für heutige Versuche westlicher Staaten sieht, mit militärischen Mitteln einen liberalen Imperialismus gegenüber nichtliberalen Staaten zu betreiben.

D  Z  W

23

Mill war ein offensiver Verteidiger des britischen Kolonialismus. Dies bedeutete einen Bruch mit den bis dato geltenden Grundsätzen des britischen Liberalismus zu dieser Frage. Adam Smith, David Ricardo, Jeremy Bentham und auch sein Vater James Mill waren noch entschiedene Gegner des englischen Kolonialismus und ebenso scharfe Kritiker der portugiesischen, spanischen und französischen Kolonialpolitik.15 In den 60 Jahren zwischen 1776 – der Publikation von Smiths ‚Reichtum der Nationen‘ – und 1836 – dem Todesjahr von James Mill – lautete ihre Kritik, dass England weder ökonomisch noch politisch von seinen Kolonien profitiere. Diese Feststellung traf nach ihren Berechnungen ohne Unterschied für beide Rechtsformen englischer Kolonien zu, sowohl für die weißen Siedlerkolonien als auch für die unmittelbare Kolonialherrschaft über indigene Völker. In allen Fällen sei der Kolonialbesitz ein Zuschussgeschäft, von dem lediglich einige Angehörige der englischen Aristokratie profitierten und diesen Profit auf Kosten der Mehrheit ihrer Landsleute und auf Kosten der Kolonisten einstrichen. Als Konsequenz ergab sich daraus die politische Forderung nach Unabhängigkeit für alle englischen Kolonien auf dem Globus. Im Unterschied zu Bentham und seinem Vater hatte sich John Stuart Mill seit Beginn seiner publizistischen Tätigkeit um eine offensive Begründung für die Machtposition des englischen Empire in der damaligen Welt bemüht. Seine Argumente hatten – wie Eillen Sullivan herausgearbeitet hat16 – eine ökonomische, eine kulturelle und eine machtpolitische Komponente und waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von ‚Einige Bemerkungen zur Nichteinmischung‘ teilweise bereits in anderen Büchern und Artikeln nachzulesen. Aber erst mit dem Artikel von 1859 gab Mill seinen bisherigen Überlegungen zur internationalen Politik eine Wendung zum Grundsätzlichen. Die ökonomische Rechtfertigung für den englischen Imperialismus und den Besitz von Kolonien hatte Mill 1848 im Schlusskapitel seiner ‚Principles of Political Economy‘ dargelegt (vgl. Mill 1848: 965-975). Im Anschluss an die in den 1820er Jahren in England neu aufgeflammte Diskussion über den Nutzen und Schaden des Kolonialismus17 war Mill zu der Überzeugung gelangt, dass England im mittlerweile erreichten Stadium einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft inzwischen mehr Kapital erzeuge, als es im eigenen Land profitabel anlegen könne. Ein Kapitalismus, der weiter wirtschaftlich florieren soll, stößt mit seinen nationalen Grenzen an eine Entwicklungsgrenze, die sich mit Notwendigkeit zu einer veritablen Finanzkrise fortentwickelt; ein Krisenszenario des modernen Kapitalismus, das Mill also schon vor Hobson und Lenin formulierte. Nun postulierte Mill zwar, dass es das gesellschaftspolitische Ziel sein müsse, den Kapitalismus ab einem gewissen Entwicklungsstadium in einen ‚stationary state‘ ohne zusätzliches wirtschaftliches Wachstum zu überführen und weitere Wachstumsbemühungen stattdessen nur noch auf die Bereiche von Kultur und der Entfaltung neuer menschlicher Fähigkeiten zu konzentrieren – allein, Mill hielt einen solchen stationären Kapitalismus erst dann für eine realistische Option, wenn es im Zuge politischer Reformen zu einer Begrenzung des weltweiten Bevölkerungswachstums und zu einer 15

16 17

Zur anti-imperialistischen Tradition des frühen englischen Liberalismus vgl. Winch (1997), Metha (1999), Pitts (2005 und 2009) sowie Cain (2011). Vgl. zum Folgenden Sullivan (1983). Vgl. dazu Winch (1965).

24

E: J S M – E  I

gerechten, d. h. an egalitären Grundsätzen orientierten Verteilung des Privateigentums gekommen sei.18 Solange dies nicht der Fall sei und solange für die meisten Länder der Welt selbst das gegenwärtige kapitalistische Stadium Englands noch in weiter Ferne liege, sei es unabdingbar, das wirtschaftliche Wachstum weiter zu forcieren und das überschüssige Kapitel aus den entwickelten kapitalistischen Ländern in Kolonien und anderen Ländern profitabel zu investieren. Mill glaubte, dass mit der Investition in Kolonien gleichsam zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen würden: Der heimische entwickelte Kapitalismus in England könne damit seiner ansonsten aufgrund des überschüssigen Kapitals drohenden Krise entkommen und andere Regionen der Welt würden mit der Hilfe des englischen Kapitals einen ansonsten niemals so leicht möglichen Entwicklungsschub machen. Die kulturelle Rechtfertigung des englischen Imperialismus bei Mill beruht auf der oben bereits ausführlich geschilderten Unterscheidung zwischen zivilisierten und nichtzivilisierten Völkern. Während er die Bewohner Englands mehrheitlich als zivilisiert ansah, charakterisierte er die Einwohner in Afrika, Asien und auch in Irland als unzivilisierte „Barbaren“ (108). Die Gradmesser für diese Beurteilung gaben Mills Annahmen über das Ausmaß an Gewalt und Brutalität in den zwischenmenschlichen Beziehungen sowie dem Mangel an Kooperation in diesen Gesellschaften. Mill schrieb dem englischen Imperialismus den moralischen Auftrag zu, zivilisierend auf die Bewohnerschaft von Kolonien einzuwirken. Bezüglich der Methode des angestrebten kulturellen Wandels war Mill Anhänger einer Art ‚Nebenprodukttheorie‘. Denn die wichtigsten Impulse für die Zivilisierung vormals barbarischer Menschen nahmen nach seiner Beobachtung weniger den direktem Weg von den Institutionen der formellen Bildung und Erziehung oder von politischen Institutionen, sondern gingen ganz nebenher aus den Notwendigkeiten des kapitalistisch organisierten Wirtschaftens mit seinen disziplinierenden und erzieherischen Effekten für alle daran Beteiligten hervor. Mill schlussfolgerte daraus, dass es deshalb in den englischen Kolonien zu keiner ‚Refeudalisierung‘ in Form großer Landgüter kommen dürfe, sondern dass die Kolonialmacht zugunsten von Gleichverteilung an Grund und Boden in die dortige Eigentumsordnung eingreifen müsse. Mills machtpolitische Rechtfertigung des englischen Imperialismus gestand zu, dass dadurch Großbritanniens Einfluss und Prestige in der Welt gestärkt werde. Für Mill war dies aber kein Ziel, das es aus nationalem Interesse anzustreben galt, sondern ein instrumentelles Interesse für den Fortgang der Weltgeschichte. In einem mächtigen und starken Großbritannien sah er den entscheidenden Akteur auf der internationalen Bühne, der weltweit den Fortschritt der Zivilisation vorantreiben könne. „Hinsichtlich des Reichtums und der Macht, die Reichtum verleiht“ (100), so Mill, übertreffe Großbritannien als Land „jedes andere bei Weitem“ (100). Diese Rolle müsse England zum Nutzen eines globalen Zivilisierungsprozesses weiter ausüben; und angesichts der Überbevölkerung im eigenen Land sei England seiner globalen kolonialen Aufgabe auch gewachsen. 18

Zu Mills Vision des ‚stationary state’ in seinen ökonomischen Schriften vgl. Mill (1848: 746-751). Gut zusammengefasst werden Mills Überlegungen in Kurfirst (1991). Dieter Birmbacher hat in seinem Nachwort zur deutschen Übersetzung von ‚Utilitarismus’ darauf aufmerksam gemacht, dass Mill mit diesen Überlegungen zu einem der wichtigsten Vordenker einer ökologisch orientierten Post-Wachstumsgesellschaft gezählt werden darf (vgl. Birmbacher 2010: 200f.).

D  Z  W

25

Nun war Mill ähnlich wie sein Vater weder blind für die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse in den Kolonien noch für die brutalen Aspekte der britischen Kolonialherrschaft. Mehrfach äußerte er sich dazu in aller Öffentlichkeit kritisch. 1866 verbiss er sich regelrecht in den Versuch, den ehemaligen Gouverneur von Jamaika, Edward John Eyre, wegen der von ihm angeordneten brutalen Niederschlagung eines Aufstandes strafrechtlich in England zu belangen. Auch sprach er sich mehrfach gegen das Vorgehen britischer Soldaten und ihrer Hilfstruppen in Indien aus und stieß damit in der englischen Öffentlichkeit auf heftige Abwehrreaktionen. Doch Mill kritisierte damit aus seiner Sicht lediglich bedauernswerte Mängel bei der Umsetzung eines im Kern guten Projektes; und so verband er seine Kritik auch mit organisatorischen Verbesserungsvorschlägen. Organisatorisch hielt er die rechtliche Konstruktion der East India Company für das beste administrative Modell. Wenn die Kolonialherrschaft der Regierung des Mutterlandes unmittelbar unterstellt wird, bestehe die Gefahr, dass die Regierung in ihrem kurzfristigen Interesse die Kolonie ausplündert und – angestachelt von ihrer in kolonialen Fragen unwissenden Bevölkerungsmehrheit – zu gewaltsamen Feldzügen gegen die Ureinwohner neigt, anstatt sich um Erziehung, Bildung und den Ausbau der Infrastruktur zu kümmern. In privaten Organisationen nach dem Muster der alten East India Company arbeiteten dagegen unabhängige Experten, die ihre Kenntnis der Kolonie zu ihrem Wohl nutzen könnten.19 Weder die sich häufenden Aufstände, die für einen klassischen Utilitaristen auf eine denkbar eindeutige Weise zum Ausdruck brachten, dass viele Inder die britische Herrschaft ablehnten, noch die diversen Skandale in der englischen Öffentlichkeit über die indische Kolonialherrschaft konnten Mill von seiner Grundüberzeugung abbringen. In einem Memorandum für ein Hearing vor dem britischen Unterhaus 1853 wurde er nicht müde, die bisherigen Errungenschaften der britischen Politik in Indien hervorzuheben. Ausführlich schildert er die Fortschritte der britischen Amtsträger bei der Entwicklung des Landes: umfassende Arbeitsbeschaffungsprogramme im Bereich der Entwässerung und des Kanal- und Straßenbaus, die Errichtung von Schulen und Universitäten, die Schaffung eines Eisenbahn- und Telegrafennetzes sowie den Aufbau eines organisierten Justiz- und Gefängniswesens. Für Mill waren dies Beispiele für die Erfolge gezielter Entwicklungspolitik. Im Hinblick auf die Entwicklung fremder Länder habe England wie kein anderes Land auf der Welt „a right to pride itself for having accomplished so much.“ (zit. nach Reeves 2007: 204). Mill verstand den englischen Kolonialismus als eine zielgerichtete und zeitlich begrenzte Einrichtung. Alan Ryan hat dieses Verständnis als einen „self-abolishing imperialism“ (Ryan 1999: 15) bezeichnet, weil er die unzivilisierten Gesellschaften idealerweise dazu befähigen sollte, ihre Geschicke möglichst bald selbst in die Hand zu nehmen. Vergleicht man seine Visionen über die koloniale Entwicklung mit der Wirklichkeit der damaligen britischen Kolonialpolitik, so fällt es allerdings schwer, sie in einer benevolenten Deutung als lediglich naiv zu charakterisieren und darin

19

Vgl. dazu Mills scharfe Abrechnung mit der Umstrukturierung der englischen Kolonialherrschaft in Indien im letzten Kapitel seines Buches ‚Betrachtungen über die repräsentative Demokratie’ (Mill 1861b: 259-277).

26

E: J S M – E  I

keine skrupellose Verdrängung der Realitäten oder gar das böswillige Interesse einer ideologischen Camouflage zu sehen. Ähnlich wie Mills Theorie der Zivilisation steht auch seine Verteidigung des britischen Imperialismus und des Kolonialismus in der heutigen Ideengeschichtsschreibung im Zentrum einer extrem kontrovers geführten Debatte, die aufgespannt ist zwischen dem Plädoyer einiger Liberaler wie beispielsweise Stephen Holmes, den menschenrechtlichen und universalistischen Kern der Position von Mill zu verteidigen (vgl. Holmes 2007), und dem Eurozentrismus-Verdikt post-kolonialistischer Autoren wie Domenico Losurdo (vgl. Losurdo 2011). Welche Deutung und welche Aktualisierung Mills man auch immer für die überzeugendste hält20 – in all diesen Debatten ist unbestritten, dass für Mill die Wünsche, Hoffnungen und kurzfristigen Interessen einer indigenen Bevölkerung, die sich nach seinem Urteil in einem gleichsam geschichtslosen Stadium befand, in moralischer Hinsicht irrelevant waren. An diesem Punkt wird deutlich, zu welch fatalen politischen Konsequenzen der an qualitativen Maßstäben orientierte Utilitarismus von John Stuart Mill im Unterschied zum klassischen Utilitarismus von Bentham führen kann. Für Mill galt nicht das größte Glück der größten Zahl aller Menschen als moralisch erstrebenswert, sondern sein qualitativer Hedonismus unterschied zwischen niederen und höheren Formen von Glückszuständen. Menschen, die sich kulturell und persönlich im Sinne des humanistischen Bildungsideals weiter entwickeln, sind demnach zu höheren Glückserfahrungen fähig als Menschen, für die geistige Interessen weniger im Vordergrund stehen. Mill zufolge muss es das Ziel der Politik des qualitativen Utilitarismus sein, möglichst vielen Menschen geistige und kulturelle Beglückungschancen zu bieten. Nach dieser Logik ist eine Gesellschaft, die das Wachstum von Selbständigkeit, Wissen, Handlungsmöglichkeiten und Kreativität fördert, insgesamt eine glücklichere Gesellschaft als eine Gesellschaft, die diese menschlichen Potentiale nicht pfleglich fördert, selbst wenn die Mehrheit der Menschen in der zivilisierten Gesellschaft unzufrieden ist. Mills Schriften zum Kolonialismus machen auf besondere Weise deutlich, welch zentrale Rolle er der Förderung und Entwicklung dieser Potentiale beimaß. Im Konfliktfall übertrumpfte der Entwicklungsgedanke alle anderen liberalen Werte wie körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung oder Freiheit. Sogar gegenüber dem für den klassischen Utilitarismus eindeutigen Fall der schieren Befriedigung dringendster Wünsche ohne unmittelbare Schädigung anderer Personen – etwa dem Wunsch, einfach nur in Ruhe gelassen zu werden – zählten die vermeintlichen Erfordernisse von ‚Entwicklung‘ für Mill als stärkere Gründe. Wie sein Vater, war auch John Stuart Mill niemals selbst in Indien gewesen. Er verfügte auch über keine Kenntnisse der in Indien gesprochenen Sprachen. Es wird sogar von einigen Autoren vermutet, dass er in seinem ganzen Leben selbst in London niemals einem Angehörigen der indigenen indischen Bevölkerung persönlich begegnet ist (vgl. Lloyd 1991: 45). Die Quellen seines gesamten Wissens über Indien und seiner Bewohner waren nach der Verabreichung des väterlichen Buches die offiziellen Berichte von britischen Amtsträgern sowie informelle Gespräche mit Reisenden aus Indien. Angesichts 20

Die Literatur zu diesem Thema ist mittlerweile nahezu unüberschauhbar. Wichtige Arbeiten zu dieser Debatte sind: Zastoupil (1994) und (1999), Habibi (1999), Bogues (2005), Varouxakis (2005), Mantena (2007), Schultz (2007), Smits (2008), Pitts (2009) und Bell (2010).

D  A  B

27

solch dürftiger Wissensquellen ist Mills souveräne Ignoranz gegenüber den Wünschen und Hoffnungen der damaligen indischen Bevölkerung mindestens ebenso irritierend wie sein selbstgewisser Paternalismus.

Die liberale Aktivierung des Bürgers Eine Serie von fünf Artikeln unserer Auswahl widmet sich innenpolitischen Themen Englands. Zwischen der Publikation des ersten und des letzten Artikels dieser Gruppe liegen 41 Jahre. Im Kern geht es Mill in diesen Artikeln um Freiheit als unerlässliche Voraussetzung für den individuellen und gesellschaftlichen Fortschritt sowie um die angemessene Bildung für alle Bürger, um ihnen die Mittel zur Wahrnehmung und verantwortungsbewussten Ausübung ihrer Freiheit zur Verfügung zu stellen. Damit setzt er einen Akzent, der ihn deutlich von anderen Liberalen abhebt. Für die Aktivierung des Bürgers ist es nach Mill unerlässlich, dass er sich eine eigene Meinung bilden, diese in der Öffentlichkeit frei äußern und mit anderen Bürgern frei diskutieren kann. In seinem Aufsatz ‚Das Gesetz gegen Verleumdungen und die Freiheit der Presse‘ (1825) setzt sich Mill für Presse- und Meinungsfreiheit ein. Ohne diese Freiheit sei der einzelne zur politischen Passivität verdammt. Und ohne eine kritische öffentliche Meinung, die die Regierung im Zaum und den Missbrauch der Macht durch die Herrschenden in Grenzen hält, stagniere auch die Gesellschaft als Ganzes in ihrer Entwicklung. Die Aktivierung sucht Mill auch in sozialer Hinsicht. In seiner Abhandlung ‚Die Rechtsansprüche der Arbeit‘ (1845) setzt er sich mit den damals diskutierten Reformvorhaben zur Verbesserung der Situation der englischen Arbeiterschaft auseinander. Die Qualität dieser Vorhaben misst er daran, ob sie die Arbeiter dazu befähigen, ihre Lebensbedingungen langfristig aus eigener Kraft auf ein höheres Niveau zu heben. Nur in einer in diesem Sinne angestrebte Aktivierung der Arbeiter zu gleichberechtigen Bürgern erkennt Mill eine Verbesserung ihrer bisher durch Elend und Unterdrückung geprägten Lage im England des 19. Jahrhunderts. Die liberale Aktivierung des Bürgers bedeutet also dessen aktive Einbindung in die Gesellschaft. Und mit seiner gesellschaftlichen Teilnahme geht auch eine Verantwortung für seine Mitbürger einher. Dies erfordert sittliche und einsichtige Bürger, die beispielsweise ihr Recht, an politischen Wahlen teilzunehmen, als eine Pflicht gegenüber ihren Mitbürgern verstehen. Diese Verbindung legt Mill in seiner Broschüre ‚Gedanken zur Parlamentsreform‘ (1859) dar, in der er seine eigenen Vorstellungen zur Reform des englischen Wahlsystems skizziert. Im Artikel ‚Zentralismus‘ (1862) diskutiert Mill das Für und Wider eines zentralistischen Staates sowie dessen Auswirkungen auf den einzelnen Bürger und den gesellschaftlichen Fortschritt. Die größte Gefahr für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung sieht er in staatlicher Überregulierung; diese hemme die Eigeninitiative und führe zu einer Deaktivierung von politischer Kultur und praktischen Fähigkeiten des Volkes. Mill legt dar, dass sich die für eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft erforderlichen Eigenschaften der Bürger nur dann entwickeln können, wenn die Bürger Zugang zu ei-

28

E: J S M – E  I

ner entsprechenden Ausbildung erhalten. Nun war der Zugang zu höherer Bildung im England des 19. Jahrhunderts zumeist den Angehörigen der oberen Klassen vorbehalten. Hinzu kam, dass es kein einheitliches Verwaltungssystem der Schulen in England gab. In seinem Gutachten ‚Über Bildungsbeihilfen‘ (1866) über durch Stiftungsgelder geförderte Schulen kritisiert Mill diese Umstände und gibt Empfehlungen zu einer grundlegenden Reform des englischen Schulwesens. In den fünf Texten wird Mill mit den Jahren im Ton moderater und im argumentativen Aufbau strukturierter, jedoch zieht sich die Suche nach Antworten auf die Aktivierungsfrage wie ein roter Faden durch alle Beiträge. Ihm geht es um die Förderung individueller Entwicklungspotentiale und um den gesellschaftlichen Fortschritt der Menschheit im Sinne seines oben geschilderten Verständnisses eines revidierten Utilitarismus. Dieses Grundanliegen spannt sich wie ein Netz um sämtliche seiner Beiträge zur englischen Innenpolitik.

Das Gesetz gegen Verleumdungen und die Freiheit der Presse (1825) Bei diesem Aufsatz handelt es sich um einen im April 1825 im ‚Westminster Review‘ erschienenen Beitrag des erst 19-jährigen Mill, und der Leser lernt ihn bereits hier als ebenso gründlichen wie polemisch begabten Autor kennen. Die Pressefreiheit in England bestehe nicht wegen, sondern trotz der englischen Gesetzgebung. Diese sei nämlich „der Pressefreiheit so nachteilig […] wie die des despotischsten Landes, das jemals existierte“ (118). Das durch die Richter ausgelegte Gesetz gegen Verleumdungen diene der Obrigkeit als Instrument, jedwede Kritik an sich und ihren Handlungen zu unterdrücken, und nur ihre Furcht vor der öffentlichen Meinung hindere sie daran, die Meinungsfreiheit gänzlich zu verbieten. Seit Beginn der 1820er Jahre waren in England die gerade erst verschärften Gesetze um die Tatbestände der üblen Nachrede und der Verleumdung von der Regierung verstärkt zur Anwendung gebracht worden. Zusammen mit der erheblichen Besteuerung von Zeitungen stellen diese Gesetze den Versuch dar, die öffentliche Kritik an der Regierung und an der bestehenden Ordnung zum Schweigen zu bringen. Viele Journalisten, Verleger regierungskritischer Zeitungen und Autoren wurden strafrechtlich verfolgt und auf Basis der neuen Gesetze zu Gefängnisstrafen von mehreren Jahren verurteilt. Insbesondere der Fall von Richard Carlile erregte Mills Aufmerksamkeit. Carlile, Atheist und Verleger der regierungskritischen Zeitung ‚The Republican‘, war bereits 1819 u. a. wegen Volksverhetzung und Gotteslästerung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden und wurde nach Absitzen seiner Strafe wegen desselben Vergehens erneut angeklagt und unter Arrest gesetzt. 1821 wurden auch seine Frau und seine Schwester – nachdem sie Carlile nacheinander als Herausgeber des ‚Republican‘ abgelöst hatten – wegen staatsgefährlicher Verleumdung zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt (vgl. Reeves 2007: 54f.). Dieser Gefahr setzte sich auch Jeremy Bentham aus, als er im Jahre 1823 den ‚Westminster Review‘ gründete, der fortan als Sprachrohr der um Bentham und James Mill versammelten ‚Philosophical Radicals‘ diente. Wie sehr der junge Mill in dieser Zeit unter dem Einfluss des Intellektuellenkreises um Bentham und James

D  A  B

29

Mill stand, lässt sich nicht nur daran erkennen, dass er zur Unterstützung seiner Argumentation sowohl aus den Schriften seines Vaters als auch von Francis Place – einem weiteren Vertreter der ‚Philosophical Radicals‘ – zitiert, sondern auch an seinem aggressiven kompromisslosen Grundton gegen Regierung und Gesetzgebung. Bentham und die ‚Philosophical Radicals‘ sahen die englische Gesetzgebung als Deckmantel für eine in Wirklichkeit repressive Praxis, mit der die Aristokratie ihre Macht festigte und beständig ausweitete. Die englische Presse müsse endlich von den Fesseln des völlig willkürlich angewendeten Verleumdungsgesetzes sowie allen anderen durch die Regierung auferlegten Beschränkungen befreit werden. Nur das Recht auf freie Meinungsäußerung, so der Intellektuellenkreis um Bentham weiter, ermögliche die Diskussionen, die notwendig seien, um dem aristokratischen System die notwendigen umfangreichen Zugeständnisse abzuringen und auf diesem Weg wichtige politische Reformen einzuleiten. Das Reformprogramm der ‚Philosophical Radicals‘ gründete sich auf die utilitaristische Ethik Benthamscher Prägung, wonach das größte Glück der größten Zahl als entscheidendes Bewertungskriterium für moralisch richtiges Handeln gilt. Neben der uneingeschränkten Pressefreiheit und der Ausdehnung des Wahlrechts auf die Arbeiterschaft umfassten die politischen Forderungen der ‚Philosophical Radicals‘ auch eine grundlegende Änderung des Strafvollzugssystems. Ein zentrales Argument, das Mill zur Verteidigung der Meinungsfreiheit anführt, betrifft die Verhinderung von Machtmissbrauch durch die Herrschenden: Ohne gesetzlich gesicherte Meinungs- und Pressefreiheit habe das Volk keine Möglichkeit, sich eigene Urteile zu bilden, insbesondere über die Qualität seiner Regierung. Eine Kontrolle der Regierung durch die öffentliche Meinung sei damit unmöglich und der Missbrauch von Macht durch die Herrschenden vorherbestimmt. Dazu biete nur die vollkommene Freiheit der Diskussion eine Alternative. Die Verleumdungsgesetze stünden dieser Diskussionsfreiheit im Weg. Durch derartige Gesetze werde „die Richterschaft dazu ermächtigt […] alle Meinungen zu unterdrücken, die sie in ihrer Weisheit für verderblich erklären mag “ (120). Dass es nun in England trotz der Gesetzgebung Diskussionsfreiheit gebe, erklärt Mill mit der Macht der öffentlichen Meinung. Diese verhindere, dass die Aristokratie allzu große Beschränkungen der Meinungsfreiheit vornehme; das Gesetz aber gestehe den Herrschenden jederzeit jedwede Einschränkung zu. Den Hinweis auf die angebliche Unwissenheit des Volkes, die es ihm unmöglich mache, die „richtigen Überzeugungen zu bilden“ (126) und die eine Gefahr für das Volk selbst darstelle, brandmarkte Mill als einen haltlosen Vorwand der Regierung, das Volk weiter versklaven zu dürfen. Unwissend sei die Bevölkerung nur deshalb, weil ihr das geeignete Heilmittel vorenthalten wird: „Dieses Heilmittel ist die Bildung; dessen wirksamstes Werkzeug wiederum ist Diskussion“ (126). Ohne Einschränkungen der Meinungsfreiheit gebe es zwar auch falsche Meinungen, diese seien dann aber zum einen zufällig durch die selbstverschuldeten Irrtümer der jeweiligen Meinungsvertreter entstanden und nicht dem Volk großflächig von den Herrschenden auferlegt. Zum anderen könne man darauf vertrauen, dass „die Wahrheit, wenn man ihr die gleiche Chance gibt, immer über den Irrtum siegen und zur Meinung der Weltöffentlichkeit“ (122) werden wird. Im zweiten Teil seines Artikels nutzt Mill die Ausführungen bekannter Richter zum Tatbestand der Verleumdung und setzt sich u. a. mit der Position von Francis Place

30

E: J S M – E  I

auseinander, um seine eigene Position herauszustellen. Place veröffentlichte seit Ende 1822 wöchentlich Essays unter dem Haupttitel „Constitutional Association. Practice of the Courts. Trial by Jury in Libel Cases“ im ‚British Luminary and Weekly Intelligencer‘. Mill hatte Places Essay bereits ein Jahr zuvor im ‚Morning Chronicle‘ besprochen und dessen Position folgendermaßen zusammengefasst: Für die in England momentan bestehende Pressefreiheit gebe es kein Recht, auf das man sich berufen könnte, sondern sie werde lediglich von den Obrigkeiten geduldet (Mill 1824: 91). Auch in seiner Schilderung der Rechtslage folgt er Place. Das ‚Gesetz gegen Verleumdung‘ stelle kein geschriebenes Gesetz mit einem klaren Regelwerk dar, sondern die Urteilsfindung sei wie in den bisherigen Prozessen über Gewohnheitsrecht und Präzedenzfälle geregelt. Aus diesem Grund sei eine präzise und rechtssichere Definition des inkrimierten Tatbestandes – also wann eine Verleumdung vorliegt – gar nicht möglich. Beim Fällen eines Urteils bedürfe es somit des Rückgriffs auf Präzedenzfälle, die lediglich den Juristen, nicht aber den urteilenden Geschworenen bekannt seien. In ihrem Urteil, ob ein Artikel, eine Äußerung etc. dem Tatbestand der üblen Nachrede entspricht oder nicht, müssten sich die Geschworenen daher auf die Empfehlungen des Richters verlassen. Die Richter seien aber weder durch eine konkrete Definition von ‚Verleumdung‘ gebunden noch durch die Präzedenzfälle, da es in der Urteilsfällung bislang wenig Übereinstimmung gab. Deshalb, so referierte Mill die Bestandsaufnahme von Place, werde der Tatbestand der Verleumdung von den Richtern in jedem einzelnen Fall faktisch neu definiert. Diese Rechtsunsicherheit sei politisch gewollt (Mill 1824: 91f.). In seinem Artikel folgt Mill der Analyse von Place in allen Punkten. In der richterlichen Praxis seien die Mehrzahl der Urteile in Verleumdungsprozessen Schuldsprüche, was nur aufgrund der im betreffenden Gesetz nicht vorhandenen Definition von ‚Verleumdung‘ möglich sei. In diesem Zusammenhang führt Mill die Ausführungen des Lordoberrichters (Lord Chief Justice) John Holt an, der Verleumdung als „eine in Druck oder Schrift, durch Zeichen, Bilder etc. geäußerte böswillige Diffamierung“ beschreibt, die bezweckt, eine Person „dem Hass, der Verachtung und dem Hohn der Öffentlichkeit auszusetzen“ (Holt zit. nach Mill, Seite 137). Mill sieht den Tatbestand der Verleumdung in Holts Definition allenfalls in Bezug auf Privatpersonen beschrieben, sie liefere aber keine Urteilsgrundlage, auf die sich andere Richter in Verleumdungsprozessen berufen könnten, in denen die Regierung als Kläger agiert. Weitere Definitionsversuche kritisiert Mill als politisch leicht durchschaubares Vorhaben, Verleumdung von der zivilrechtlichen Ebene zu abstrahieren und in den strafrechtlichen Bereich zu verschieben – Verleumdung wird dann zur Gefährdung der öffentlichen Ordnung, aus der Verleumdung einer Privatperson wird die Verleumdung der Verfassung, des Königs und der Regierung. Mill zitiert in diesem Zusammenhang seinen Vater aus dessen Artikel ‚Liberty of the Press‘ (1821), wo es heißt, dass „[d]as Definieren von Begriffen nicht die Stärke der englischen Legislative [sei] und englische Anwälte […] Sittenwidrigkeit immer heftig verurteilt und das entsprechende Wort in grober Weise missbraucht“ hätten (132). Am Ende seines Artikels sieht Mill seine anfängliche These bestätigt: Die Gesetzgebung in England bestrafe die kritische Auseinandersetzung mit der Regierung und ihrem Handeln, anstatt sie zu befördern. Dass die freie Meinungsäußerung in England trotz der repressiven Gesetzgebung noch existiere, sei nur damit zu erklären, dass eine derartige Freiheit bei aller Mühe nicht vollends unterdrückt werden kann. „[D]er Grund“ weshalb

D  A  B

31

sie nicht unterdrückt werden kann, ist die Furcht vor der öffentlichen Meinung“ (152). Eine aufgeklärte öffentliche Meinung und das Recht auf Meinungsfreiheit bedingten sich gegenseitig. Jedem Engländer müsse am Erhalt der freien Meinungsäußerung gelegen sein, denn nur die öffentliche Diskussion und der freie Austausch von Meinungen verhinderten einen Abfall Englands in Despotie und Stagnation. Mill emanzipierte sich – wie erwähnt – erst nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1836 auch in seinen öffentlichen Stellungnahmen vollständig vom Utilitarismus Benthamscher Prägung. Er orientierte sich nun an einer revidierten Form der utilitaristischen Ethik, die Benthams Glückskalkül um ein qualitatives Maß der Lust erweiterte. Mill unterscheidet darin zwischen körperlicher Lust und geistiger Lust, die im einen qualitativen Wert besitze und daher besonders erstrebenswert sei (vgl. Birmbacher 2000: 121124 und Skorupski 2006: 15-38). Vor dem Hintergrund dieser revidierten UtilitarismusKonzeption stellt Mill seine Forderung nach uneingeschränkter Meinungsfreiheit später in seiner Abhandlung ‚Über die Freiheit‘ (1859) mit seinem ‚liberty principle‘ auf ein anderes moralphilosophisches Fundament. Das Freiheitsprinzip besagt, dass „der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine genügende Rechtfertigung“ (Mill 1859: 19). Das Glück und der Fortschritt der Menschheit sind danach abhängig von der Freiheit, alle Meinungen zu hören und miteinander vergleichen zu können. Während Benthams Utilitarismus die Freiheit ausschließlich als ein Mittel zum Zweck ansah, schreibt der spätere Mill der Freiheit zusätzlich einen intrinsischen Wert zu. Die Freiheit des Individuums und der Respekt gegenüber seinen Meinungen und Auffassungen sind unverzichtbare Bestandteile des Nutzens. Die erforderliche Mäßigung und Ordnung bei der Äußerung und Diskussion von Meinungen in der Öffentlichkeit soll nicht durch ein gesetzliches Regelwerk, sondern intern über eine Art ungeschriebenen Verhaltenskodex erzeugt werden.21

Die Rechtsansprüche der Arbeit (1845) Mills revidierter Utilitarismus mit seiner qualitativen Dimension prägt auch seine Position in Fragen der sozialen Gerechtigkeit in dem Artikel ‚Die Rechtsansprüche der Arbeit‘. Der Artikel erschien 1845 im liberalen ‚Edinburgh Review‘, einer 1802 von Anhängern der Whig-Partei gegründeten Zeitschrift. Mill begrüßt darin die in den Jahren zuvor immer lauter gewordenen Forderungen nach einer Verbesserung der Situation der Arbeiterschaft, er kritisiert allerdings Pläne, dies primär über materielle Verbesserungen zu erreichen. Er spricht sich dagegen aus, die Arbeitgeber in die Rolle von wohltätigen Gebern zu drängen; dies sei eine falsche Nächstenliebe, denn sie schirme die Angehörigen der Arbeiterklasse von den natürlichen Missständen des Lebens ab und lasse sie 21

Zur Frage, inwieweit Mills sogenanntes Schadensprinzip, welches es Menschen verbietet, sich in die Handlungsfreiheit eines anderen einzumischen – es sei denn, sein Verhalten ziehe Dritte in Mitleidenschaft – mit einer uneingeschränkten Meinungs- und Pressefreiheit, vereinbar ist vgl. (Riley 2005).

32

E: J S M – E  I

nur noch länger in Abhängigkeitsverhältnissen verharren. Stattdessen setzt Mill auf ein Aktivierungsprogramm. In dem Jahrzehnt nach dem Reformakt von 1832 und der damit verbundenen Senkung des Wahlzensus hatte sich der Lebensstandard der englischen Mittelklasse erhöht, was zu einer stärkeren Interessenvertretung der Mittelklasse im Parlament führte. Für die englische Arbeiterklasse galt dies nicht. Obwohl sich die Wahlrechtsreform im Wesentlichen dem Druck der sich ab 1830 formierenden Arbeiterbewegung verdankte, blieb der großen Masse der Arbeiter das Stimmrecht weiter verwehrt, weil sie den 10-Pfund-Zensus nicht erfüllen konnten.22 Auch die soziale Schere zwischen der Arbeiterklasse und den Unterschichten auf der einen sowie der Mittelklasse und oberen Klassen auf der anderen Seite vergrößerte sich, denn das neue Armengesetz von 1834, das „New Poor Amendment Law“, schaffte die staatlichen Zuschüsse zu niedrigen Arbeitslöhnen ab und veranlasste die Sammlung der von Armut Betroffenen in sogenannten Arbeitshäusern. Unter dem Eindruck der sozialen Auswirkungen des neuen Armengesetzes gründete sich mehrere Organisationen der Armen- und Arbeiterbewegung. Eine dieser Organisationen war die „London Working Men’s Association“. In ihrer im Mai 1836 veröffentlichte „People’s Charter“ forderte sie das gleiche Stimmrecht für alle Männer über 21 sowie eine faire Aufteilung der Wahlbezirke. Die ‚Chartisten-Bewegung‘ und ihre Forderungen waren für Mill der Anlass, grundsätzlicher über die Perspektiven einer Emanzipation der Arbeiterklasse nachzudenken. Das Armengesetz und die daraus entstandene Diskussion trugen laut Mill entschieden dazu bei, dass „[d]ie Rechtsansprüche der Arbeit […] zu einer Tagesfrage geworden [sind]“ (154). Vereine und öffentliche Kundgebungen machten nun zunehmend auf die Lage der Arbeiterklasse aufmerksam, sodass sich auch das Parlament „zwar langsam, aber in immer höherem Grade dieser Forderung“ fügen musste (155). Mill nennt in dem Artikel auch noch einige andere zeitgenössische Publikationen, die die Aufmerksamkeit auf die Arbeiterfrage gerichtet hätten. Gleichsam als Aufhänger für die Präsentation seiner eigenen Überlegungen über die geeignetsten Mittel zur Verbesserung der Situation der Arbeiterklasse wählt Mill die Diskussion um Thomas Malthus Schrift ‚An Essay on the Principle of Population‘ aus dem Jahre 1798, die mittlerweile zu einem Klassiker in der zeitgenössischen englischen Debatte über die Entstehung von Armut und über Armutsbekämpfung geworden war. Malthus gelangte seinerzeit zu dem pessimistischen Schluss, dass die Nahrungsmittelproduktion mit der exponentiell anwachsenden Bevölkerungszahl nicht mithalten könne, weshalb zwangsläufig die Mehrzahl der Menschheit zu einem Leben in Hunger und Elend verdammt sei. Mill nimmt diese These auf und führt aus, dass sich mittlerweile eine optimistische Ansicht durchgesetzt habe, wonach aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung der gesamtgesellschaftliche Lebensstandard massiv angestiegen sei. Dieser Anstieg sei so hoch, dass es genügend Ressourcen gebe, um die soziale Lage der Arbeiter in England durchLohnerhöhungen und angenehmere Arbeitsbedingungen grundlegend zu verbessern. Des Weiteren setzt Mill sich mit drei zuvor erschienene Publikationen zur Arbeiterfrage kritisch auseinander. In seinen beiden Schriften ‚Chartism‘ (1840) und ‚Past and Present‘ (1843) machte Thomas Carlyle den Angehörigen der herrschenden Klassen in 22

Vgl. zum Folgenden Kluxen (1985: 540-566).

D  A  B

33

England moralische Vorhaltungen; so seien sie geldsüchtig und frönten dem Luxus, anstatt ihren traditionellen sozialen Fürsorgepflichten gegenüber den unteren Klassen nachzukommen. Ähnliche paternalistische Gedanken referiert Mill aus der Schrift ‚Claims of Labour‘ (1844) von Arthur Helps, der die Fürsorgepflichten der Arbeitgeber gegenüber ihren Arbeitern detailliert beschreibt und sich für die Förderung eines freundschaftlichen Verhältnisses zwischen beiden Seiten ausspricht. Für Mill bemißt sich dagegen die Qualität der Mittel zur Verbesserung der Situation der Arbeiterklasse allein daran, ob sie die Arbeiter dazu befähigt, ihre Lebensbedingungen aus eigener Kraft langfristig auf ein höheres Niveau zu heben. Das Wohl der Arbeiter an die Wohltätigkeit der oberen Klassen zu knüpfen, setze die Abhängigkeit und Unterdrückung nur weiter fort. Die Vorteile eines Sklaven ließen sich nicht mit „der Freiheit der Handlung unabhängiger Bürger“ (163) zusammenführen. Mills Rezeptur für die richtigen Mittel zur Emanzipation lautet: mehr Bildung. Eine soziale und politische Gleichberechtigung der Arbeiter lasse sich nur über den Weg einer angemessenen Ausbildung erreichen. Zur Illustration seiner These wählt Mill einen Vergleich zwischen dem Bildungsangebot für die Arbeiterklasse in England und Schottland. So erhielten die schottischen Bauern in den Kirchspielschulen einen Zugang zur Bildung, der über die Lektüre der Bibel hinausgehe. Mill beschreibt den schottischen Bauer als „ein überlegendes, beobachtendes und in der Folge dessen auch ganz natürlich ein sich selbst beherrschendes, moralisches und gebildetes menschliches Wesen, und nur deshalb, weil er ein lesendes und diskutierendes Wesen war“ (167). Im Gegensatz dazu fehle es in England zwar keineswegs an Geld zur Unterhaltung der Schulen, aber an dem Wunsch und Willen, den Kindern der Arbeiterklasse mehr als nur die Gebote der Bibel zu lehren. Gegen die von Arthur Helps präsentierte Vision, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich als „natürliche Genossen“ (167) verstehen sollten, wendet Mill ein, dass eine solche Vision nicht mehr zeitgemäß sei. Bei den Arbeitern habe man es mit Angehörigen einer Klasse zu tun, „die zu einem großen Teil bereits liest, diskutiert und sich über öffentliche Angelegenheiten ihre Meinung bildet“ (172). Der von Helps erwünschte Respekt sowie die freundschaftliche Verbundenheit zwischen den Klassen würden sich solange nicht entwickeln können, wie das typische Unterordnungsverhältnis in den Betrieben Bestand habe. Es könne sich bestenfalls um eine erzwungene Freundlichkeit handeln und dies würde „immer von einem entsprechenden Grad heimlicher Feindschaft begleitet sein“ (169). Als Alternative schwebt Mill die Erhebung der Arbeiter zu Teilhabern an den Unternehmen vor, auch wenn ein solches Ziel momentan noch utopisch anmute. Mill listet deshalb einige Reformvorschläge auf, die bereits innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung die Lage der Arbeiter verbessern würden. So nennt er ein zukünftiges „Law of Partnership“, welches es möglich mache, im industriellen Bereich mehrere kleine Ersparnisse in ein größeres Kapital umzuwandeln um dadurch Arbeitern den Weg zu einer Unternehmensgründung zu ebnen und sie aus ihrer vorherigen Abhängigkeit selbst zu Arbeitgebern zu befördern. Die Teilhaberschaft der Arbeiter an den Gewinnen des Unternehmens oder gar der Zusammenschluss von Arbeitern zum Zwecke der Gründung von Produktionsgenossenschaften (‚co-operative associations‘) zielt darauf ab, ihnen ein Eigentum zu verschaffen, das über ihre bloße Arbeitskraft hinausgeht und sie damit nicht

34

E: J S M – E  I

nur in ihrem Selbstbewusstsein stärkt, sondern letztlich auch ihr Interesse mit dem Erfolg des Unternehmens zusammenbringt. Darüber hinaus plädiert Mill für die Abschaffung der sogenannten Korngesetze, die er bereits in zwei im ‚Westminster Review‘ veröffentlichten Artikeln – ‚The Corn Laws‘ (1825) sowie ‚The New Corn Law‘ (1827) – heftig kritisiert hatte. Die Korngesetze gestatteten die Erhebung von Einfuhrzöllen auf importiertes Getreide, um so trotz sinkender Getreidepreise auf dem Weltmarkt den Getreideanbau im eigenen Land aufrecht zu erhalten und einer Abhängigkeit von ausländischen Importen zu entgehen. Während die Besitzer des Ackerlandes – der englische Landadel – von den Einfuhrzöllen profitierten, sähen sich die unteren Klassen durch die steigenden Brotpreise mit immer höheren Lebenskosten konfrontiert. Zwar lag Mill auch daran, die elenden Verhältnisse der Arbeiterklasse zu überwinden. Denn das Utilitätspinzip Mills passt nicht auf eine Gesellschaft, in der eine besitzlose Arbeiterklasse ausgebeutet und unterdrückt wird und in der die Eigentumsunterschiede für einen Teil der Bevölkerung existenzbedrohliche Ausmaße erreichen. Eine rein materielle Unterstützung der Armen würde ihm zufolge jedoch die Arbeitsanreize vernachlässigen oder gar zerstören. Mit dieser Ablehnung paternalistischer Fürsorgepolitik gegenüber der Arbeiterklasse schwamm Mill gegen den konservativen Strom der Zeit und gegen die Forderungen aus der Arbeiterbewegung selbst. Deren Vertreter verlangten eine verbesserte Lebensmittelversorgung, kürzere Arbeitszeiten und mehr Lohn, während Mill ihnen entgegnete, dass er ihnen zu mehr Freiheit verhelfen wolle. In späteren Schriften zur Arbeiterfrage – besonders öffentlichkeitswirksam in seinen posthum erschienenen ‚Chapters on Socialism‘ (1879) – äußerte Mill große Sympathien für die Theorien des Sozialismus. Allerdings bezog er sich dabei nicht auf dessen revolutionäre Spielarten oder den sich zu einer Lehre formierenden Marxismus. Er setzte vor allem auf eine evolutionäre Durchsetzung des genossenschaftlichen Prinzips. Mill erhoffte sich davon einen gesellschaftlichen Wandel, bei dem die Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums mit dem moralischen, intellektuellen und wirtschaftlichen Nutzen gemeinschaftlicher Produktion einhergeht. In der dritten Auflage seiner ‚Principles of Political Economy‘ trat er für ein reformiertes System der freien Marktwirtschaft ein. Zum einen setzte er die Hürden für die Enteignung von Privateigentum niedriger an: Wenn privates Eigentum an Produktionsmitteln oder Grund und Boden keinen Nutzen für die Gesamtgesellschaft bringe, dürfe es enteignet werden. Zum anderen plädierte Mill für die Einführung einer Erbschaftssteuer und einer Progressivsteuer. Seine Sympathie für den Sozialismus ist somit eher pragmatisch orientiert und bleibt innerhalb der Grenzen seines revidierten Utilitarismus, wonach der Freiheit ein unverfügbarer Eigenwert zukommt. Dem freien Wettbewerb misst Mill für Wachstum und individuelle Freiheit weiterhin eine hohe Bedeutung bei, nur müssen dazu faire Ausgangsbedingungen für alle Mitglieder der Gesellschaft vorhanden sein: „Daß […] jeder den gleichen Anspruch auf Glück hat, bedeutet, daß er den gleichen Anspruch auf die Mittel zum Glück hat“ (Mill 1861a: 108–109). Mills Sozialismus ist somit ein liberaler Sozialismus, oder besser: sein Liberalismus ist ein sozialer Liberalismus, da die sozialistischen Reformen der Förderung von Freiheit dienen sollen. Eine Aufgabe grundlegender Freiheitsrechte zugunsten von mehr Gleichheit verbietet sich in Mills Gedankenwelt (vgl. Baum 2007: 118–119).

D  A  B

35

Gedanken zur Parlamentsreform (1859) Die Argumentationsstrategie von Mill in ‚Die Rechtsansprüche der Arbeit‘ – sich der eigentlich angestrebten großen Reform zunächst über kleinere anzunähern – findet sich auch in seinen ‚Gedanken zur Parlamentsreform‘. Dieser Text erschien im Jahre 1859 zunächst als Broschüre und wurde im Jahre 1867 im dritten Band seiner ‚Dissertations and Discussions‘ unter dem Titel ‚Pamphlet, February 1859‘ neu veröffentlicht. Der Inhalt der Broschüre war zu wesentlichen Teilen bereits 1853 entstanden. Mill nahm den zu dieser Zeit aktuellen Gesetzesentwurf für eine Wahlreform, der den sogenannten „Great Reform Act“ aus dem Jahre 1832 ergänzen sollte, zum Anlass, seine eigenen Reformvorstellungen darzulegen. Der „The Representation of the People Act“, kurz: „Great Reform Act“, von 1832 hatte zum ersten Mal seit Jahrhunderten Veränderungen im englischen Wahlsystem vorgenommen; kleinen Gemeinden mit nur ein paar Hundert Wahlberechtigten wurden Sitze im Unterhaus entzogen und im Gegenzug den während der industriellen Revolution schnell gewachsenen Städten zugesprochen. Außerdem wurde das Wahlrecht auf die Mittelklasse ausgeweitet. Zwar gab es hier Einschränkungen – z. B. wurde der Zugang zum Wahlrecht nur den Haushaltsvorständen gewährt, dessen Haus mit einem jährlichen Steueraufkommen von mindestens zehn Pfund veranschlagt wurde –, aber immerhin stieg mit dieser Erweiterung die Zahl der Wahlberechtigten von 400.000 auf 650.000 an (vgl. Trevelyan 1936: 239-240). Mill beginnt seine Schrift mit der Feststellung, dass sich die öffentliche Meinung in ihrer Einstellung zu politischen Reformen geändert habe. Wo noch vor einigen Jahren Wandel unmöglich schien, wurde nun offen eine Änderung in der Zusammensetzung des Parlaments gefordert; und zwar nicht, weil dies irgendjemand besonders energisch verlange, sondern vielmehr, weil jedermann parlamentarische Reformen als etwas Richtiges ansehe. Das Vorfeld der Verabschiedung des „Great Reform Act“ war noch von heftigen politischen Auseinandersetzungen geprägt; wiederholte Blockaden des Gesetzesentwurfes durch die Tories ließen die Whig-Regierung resignieren, was außerhalb des Parlaments zu Demonstrationen führte, die nicht selten in gewalttätige Ausschreitungen umschlugen. Im Gegensatz zu diesen der Verabschiedung des „Great Reform Act“ vorausgegangenen Unruhen wurde der aktuelle Gesetzesentwurf ohne irgendwelche Aufregungen verabschiedet, was laut Mill nur daran liegen kann, dass der gesamtgesellschaftliche Fortschritt in den Rang eines „allgemeinen Gesetz[es] der öffentlichen Angelegenheiten erhoben [wurde]“ (177). Die Bevölkerung erhalte dadurch die Gewissheit, dass seine Regierung den Fortschritt beständig im Blick habe, wodurch sich die Notwendigkeit erübrige, auf übermäßige Reformen zu drängen. Solch ein durch Einigkeit und Kompromisse der politischen Akteure geprägter Vorgang lasse dann allerdings auch keine großen Veränderungen, sondern eher kleinere Anpassungen und halbe Sachen erwarten. Umso wichtiger sei es, dass diese Halbheiten trotzdem eine spürbare Veränderung hervorbringen, damit auch diejenigen, denen die Reformen nicht weit genug gehen, den Vorgang zumindest als einen Schritt in die richtige Richtung anerkennen könnten. Dazu muss der geplante Reformakt laut Mill zwei Kriterien erfüllen: Erstens muss er auf die schlechtesten Elemente des gegenwärtigen Systems abzielen. Zweitens muss die Reform so angelegt sein, dass sie zukünftigen

36

E: J S M – E  I

Anpassungen und Verbesserungen den Weg ebnet, anstatt ihn zu versperren; d. h. der Gesetzgeber muss die Angemessenheit und die Folgen der gegenwärtigen Anpassung für zukünftige Reformmaßnahmen berücksichtigen, um diesen die beste Grundlage zu bieten. Mill entwickelt seine Reformvorschläge unter Berücksichtigung dieser zwei Kriterien: Zunächst nennt er zwei Reformsäulen, die seiner Meinung nach die größten Übel des Systems beseitigen sollen. Erstens, die Zusammenfassung der Kleinstädte und Gemeinden zu größeren Wahlbezirken: Bisher entsendeten auch die kleinen Wahlkreise mit nur 200 bis 400 Wahlberechtigten ihre Repräsentanten ins Unterhaus. Diese Repräsentanten seien dann zu großen Teilen nichts anderes als die Delegierten der wohlhabendsten Familien dieser Gemeinden, und Korruption und Bestechung wurde Tür und Tor geöffnet. Der Reformakt von 1832 sollte diesen Missstand eigentlich beseitigen, indem die während der industriellen Revolution emporgeschossenen Großstädte mehr Sitze im Unterhaus erhielten, während den sogenannten ‚rotten an pocket boroughs‘ Sitze entzogen wurden. Trotzdem blieben auch Jahre nach der großen Reform noch genug dieser kleinen Gemeinden übrig, deren Abgeordnete entweder die Marionetten einiger weniger einflussreichen Familien waren oder solche, die ihr Geld in die Eröffnung von Gaststätten etc. investierten und sich so die Gunst der Wähler erkaufen konnten. Um diesen Missstand zu beseitigen, muss man aus der Sicht von Mill mehrere beieinander liegende kleine Städte, wie schon 1832 beabsichtigt, zu größeren Wahlbezirken bündeln. Dies neutralisiere den Einfluss von wohlhabenden Familien und verlagere die Wahlentscheidung von der privaten auf die öffentliche Ebene. Mills zweite Reformsäule ist die Befreiung der Kandidierenden von den Wahlkampfkosten. Er bezeichnet die Pflicht, dass der Kandidat die Wahlkampfausgaben selbst zu tragen hat, nicht nur als Bürde für den Kandidaten selbst, sondern hält sie auch in einer anderen Hinsicht für höchst schädlich: Die finanzielle Situation wurde zum einzigen Qualifikationskriterium für den Einzug ins Parlament. So wurde dem Wähler der Eindruck vermittelt, sein potentieller Repräsentant im Unterhaus müsse zunächst eine hohe Geldsumme aufbringen, um anschließend das öffentliche Interesse vertreten zu dürfen. Dabei würden die Wähler und auch die Kandidaten aus den Augen verlieren, dass die Abgabe der eigenen Stimme mit der Verpflichtung einhergehe, denjenigen auszuwählen, der der Interessenvertretung für würdig gehalten wird nicht aufgrund seines finanziellen Vermögens, sondern aufgrund seiner Fähigkeiten. Die für den Wahlkampf für alle Kandidaten gleichermaßen notwendigen Kosten sollten daher entweder von der Gemeindeverwaltung oder vom Staat übernommen werden.23 Vor diesem Hintergrund formuliert Mill drei weitere konkrete Reformvorschläge, die zum Erreichen eines in seinen Augen vollkommenen Repräsentativsystems notwendig sind.

23

Als Mill 1865 für die Whig-Partei ins Parlament einzog, hatte er sich im Vorfeld geweigert, einen Wahlkampf zu führen und zu finanzieren. Er erteilte dem „Westminster Liberal Electoral Committee“, das einzig dazu gegründet wurde, Mill im Wahlkampf zu unterstützen, eine Absage und beschränkte sich darauf, seine Meinung zu verschiedenen Themen schriftlich kundzutun (vgl. Reeves 2007: 356).

D  A  B

37

Erstens: Ein neues Pluralstimmrecht. Auch wenn Mill vehement für das allgemeine Wahlrecht eintritt, gesteht er nicht allen Wählern das gleiche Stimmengewicht zu. Sein Vorschlag für ein Pluralstimmrecht gewichtet die Stimmen nach dem Ausbildungsniveau des Wählers. Die Stimme eines Händlers solle beispielsweise stärker gewichtet werden als die Stimme eines gelernten Arbeiters, die Stimme eines Lehrers stärker als die eines Bauern. Diese Forderung begründet er damit, dass das Wahlrecht dem Einzelnen nicht nur Macht über sich selbst, sondern über alle Angehörigen der Gemeinschaft gebe, und diese Verantwortung stärker bei denjenigen liegen solle, die aufgrund ihrer höheren Bildung die Mechanismen und Belange der Gemeinschaft besser überblicken können. Um Anteile am pluralen Stimmrecht zu erhalten, müssten die potentiellen Wähler über Zertifikate ihr Bildungsniveau nachweisen; zusätzlich schlägt Mill eine Organisation vor, bei der jeder freiwillig Prüfungen ablegen und auf diesem Wege entsprechende Zertifikate – und in der Folge auch mehr Wählerstimmen – erwerben kann. Über dieses Vorgehen sollen die Auswahlkriterien für Abgeordnete von der finanziellen Ausstattung der Kandidaten auf deren Ausbildungsniveau verlagert werden. Bildung lasse sich zum einen ohne Weiteres prüfen und ermögliche zudem eine zuverlässigere Einschätzung der Qualitäten des potentiellen Abgeordneten. Mill war sich darüber im Klaren, dass ein derartiges Wahlrecht in seiner Zeit wenig Anklang finden würde. In seiner Autobiographie schreibt er, diese Ablehnung werde so lange bestehen, bis eine systematische Volksbildung geschaffen werde, die es erlaubt, die einzelnen Anforderungen für den Erwerb von mehreren Stimmen zu definieren und verbindlich festzusetzen (vgl. Mill 1873: 261–262). Mit dem pluralem Stimmrecht im Hinterkopf und den derzeitigen Hindernissen zur Realisierung dieses Reformvorhabens vor Augen reduziert Mill seinen Vorschlag vorerst auf ein von der Bildungsqualifikation abhängiges allgemeines Wahlrecht. Das Recht eines jeden Erwachsenen, über die politische Wahl Einfluss auf die öffentlichen Belange zu nehmen, gehöre zu einem vollkommenen Repräsentativsystem dazu. Diese Einflussnahme verleihe dem Einzelnen aber auch Macht über andere und erfordere Verantwortung für die Belange der Gesellschaft, womit sich Unbildung und Wahlrecht gegenseitig ausschließen würden. Da Mill das Bildungsangebot für die breite Bevölkerung als rückständig kritisiert, setzt er die Voraussetzungen zur Erlangung des Wahlrechts zunächst niedrig an: Um das Wahlrecht ausüben zu dürfen, müsse man mindestens des Lesens, Schreibens und Rechnens mächtig sein. Dieses Mindestmaß an Bildung ist nach Mills Meinung zwar immer noch nicht ausreichend, um das Wahlrecht und die damit einhergehende Verantwortung für die eigene Nation übernehmen und ausüben zu können, als Grundvoraussetzungen sieht er dies aber zumindest als einen Schritt in die richtige Richtung an. Zweitens: Die bessere Repräsentation von Minderheiten durch ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Für Mill gehen die Missachtung von Minderheiten und die Idee der Volksregierung nicht zusammen. Individuen, deren Interessen im Parlament nicht vertreten sind, würden zwangläufig bei der Behandlung eines sie betreffenden Problems übergangen. Mills Anliegen ist es, einerseits die Repräsentation der Minderheiten zu sichern, weshalb die Wahl des Parlaments nicht über eine einzige Liste erfolgen kann, für deren Kandidaten jeder Wähler nur eine Stimme vergeben kann. Andererseits dürfe die Minderheit nicht auf eine Ebene mit der Mehrheit gestellt werden. Mill schlägt daher vor, jedem Wahlkreis die Wahl von drei Abgeordneten zuzugestehen, wobei der Wähler bis

38

E: J S M – E  I

zu drei Stimmen für einen einzigen Kandidaten abgeben könne. Durch dieses personalisierte Verhältniswahlrecht könne der Wähler denjenigen Kandidaten auswählen, der sich jenseits seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei durch besondere persönliche Eigenschaften auszeichnet, die denen der anderen Kandidaten vorzuziehen sind. Auf diese Art und Weise „würden jene Kandidaten von der Stimmhäufung profitieren, die allgemein die rechtschaffensten und begabtesten Personen sind“ (193). Bereits einen Monat nach Erscheinen der ‚Gedanken zur Parlamentsreform‘ nahm Mill seinen Vorschlag zum Mehrstimmrecht allerdings wieder zurück. Veranlasst wurde er dazu durch die Lektüre des neu erschienenen Buches ‚Election of Representatives. Parliamentary and Municipial‘ von Thomas Hare. Obwohl nicht in erster Linie zum Schutz von Minderheiten gedacht, zog Mill das von Hare vorgeschlagene Wahlverfahren zur proportionalen Repräsentation der Wählerschaft seiner ursprünglichen Methode der Stimmenhäufung vor. Indem jede Gruppe von Wählern, deren Anzahl eine bestimmte Quote erreicht, berechtigt sei, einen Abgeordneten auszuwählen, würden Minderheiten zwar weiterhin überstimmt, könnten aber in Hares System nicht übergangen oder unterdrückt werden. Damit werde die wesentliche Schwäche des Repräsentativsystems behoben. Aus diesem Grund bezeichnet Mill Hares Verfahren in seiner Autobiographie als „den größten Fortschritt, dessen das System der Repräsentativ-Regierung fähig ist“ (Mill 1873: 210). Drittens: Die Beibehaltung der öffentlichen Stimmabgabe. Hatte Mill während der Reformbewegung im Vorfeld des „Great Reform Act“ gemeinsam mit den ‚Philosophical Radicals‘ in den 1830er Jahren zu den Verfechtern der geheimen Wahl gehört, so dokumentieren die ‚Gedanken zur Parlamentsreform‘ eine komplette Umkehr seiner Ansichten bezüglich dieser damals in allen Demokratien heftig debattierten Frage (vgl. Buchstein 2000: 628-630). Laut Mill beruht das Argument der Verfechter der geheimen Wahl im Wesentlichen auf der Gewährleistung einer von äußeren Einflüssen unabhängigen Wahlentscheidung. Der Einfluss aber, den z. B. Gutsherren, Arbeitgeber etc. auf den Wähler ausüben könnten, stellt für Mill eine weitaus geringere Gefahr dar als „die Selbstsucht oder selbstsüchtige Parteilichkeit des Wählers“ (195). Außerdem hätten sich die gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnisse in den vergangenen 30 Jahren derart gewandelt, dass nicht mehr von einer Hörigkeit der Mittelklassen gegenüber den oberen Klassen ausgegangen werden könne. Geheime Abstimmungen würden nun nicht mehr in erster Linie einen Schutz des Wählers bieten, sondern vielmehr eine leichte Gelegenheit, nach egoistischen Interessen ohne Berücksichtigung des Gemeininteresses abzustimmen: „In der Mehrzahl der Fälle ist die Abstimmung der Wähler […] jetzt nicht mehr die Wirkung eines Zwanges […], sondern der Ausdruck ihrer eigenen persönlichen oder politischen Neigungen“ (196). Dieses Vorgehen ist in Mills Augen umso ungerechter, als das Wahlrecht immer noch nicht alle Bevölkerungsmitglieder einbezieht. So hätten z. B. Frauen ein Recht zu erfahren, ob ihr Mann seine Stimme einem Kandidaten gibt, der sich für milde Strafen im Falle häuslicher Gewalt einsetzt. Doch auch für den Fall, dass durch den allgemeinen Anstieg des Bildungsniveaus das Wahlrecht irgendwann allen Bürgern zugestanden wird, hält Mill die öffentliche Stimmabgabe weiterhin für die angemessene Form. Die Mehrzahl der Wähler hat stets zwei Seelen in ihrer Brust, hat zwei Arten von Neigungen: „solche, die den eigenen Privatinteressen und solche, die den öffentlichen Interessen zugehören“ (199). Nur die Möglichkeit, das Stimmverhalten von den Mitbürgern genau beobachten zu lassen, biete genügend An-

D  A  B

39

reize, die eigenen Privatinteressen dem öffentlichen Interesse unterzuordnen. Mill setzt ausserdem darauf, dass der Zwang zur Stimmabgabe unter den Augen der Mitbürger ihren Mut und Bürgersinn fördert, da die Wähler auf diese Weise lernten, ihre Meinung öffentlich zu rechtfertigen. Die geheime Stimmabgabe begünstige politische Zurückhaltung und das Verbergen der eigenen Ansichten – für Mill ein Zeichen von Sklaverei –, während die öffentliche Stimmabgabe eine Art Schule der aktiven Demokratie sei.24 Nach Mill wird der gesamte gesellschaftliche Fortschritt behindert, wenn die Ausübung des Wahlrechts nicht dem öffentlichen Wohl, sondern den eigenen Interessen des Wählers dient. Doch wenn der Wähler nur lange genug nachdenkt und alle Argumente kennt, dann kann er das öffentliche Wohl eindeutig identifizieren. Mit dem Erhalt des Wahlrechts übernimmt der Bürger eine Verantwortung für die politische Gemeinschaft, derer er sich würdig erweisen muss. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Mill am Schluss seiner Broschüre dem im Rahmen des damals aktuellen Reformbills diskutierten Vorschlag – das Abhalten der Wahl im eigenen Haus zur Erleichterung der Stimmenabgabe – eine Absage erteilt. Um Reichen wie Armen, Jungen wie Alten die Abgabe ihrer Stimme gleichermaßen zu ermöglichen, unterstützt er stattdessen die damaligen Forderungen zur Errichtung von ausreichend vielen und angemessen auf die Wahlkreise verteilten öffentlichen Wahllokalen. Diejenigen Bürger, die ein so geringes Interesse an der Regierung ihres Landes haben, dass ihnen schon das Verlassen des eigenen Hauses als zu aufwendig erscheint, haben nach Mills Überzeugung das Wahlrecht sowieso nicht verdient. Der modernen Briefwahl und der Abstimmung am Computer oder Smartphone müsste nach dieser Argumentation ebenfalls eine klare Absage erteilt werden. Mills ‚Gedanken zur Parlamentsreform‘ verkörpern eine Art Vorab-Exemplar seines zwei Jahre später erschienenen Buches ‚Betrachtungen über die repräsentative Demokratie‘. In dem Buch finden sich wesentliche Inhalte der Broschüre wieder. Mill behandelt hier das von ihm als die beste Form der Volksverfassung bezeichnete Repräsentativsystem mit seinen Merkmalen, gesellschaftlichen Voraussetzungen und Funktionen. Mills Gedanken zum pluralen Stimmrecht, seine Ablehnung der geheimen Wahl sowie das von Thomas Hare übernommene Wahlverfahren zur Repräsentation von Minderheiten bilden die Grundlage für das siebte und achte Kapitel seiner Abhandlung über das Repräsentativsystem. Auch hinsichtlich der gewünschten Eigenschaften der in einem Gemeinwesen lebenden Bürger bieten Mills ‚Gedanken zur Parlamentsreform‘ eine Art Kurzfassung dessen, was er in seinen ‚Betrachtungen‘ als „wichtigste Komponente einer guten Regierung“ (Mill 1861b: 48) auf Seiten der Bürger bezeichnet: Sittlichkeit und Einsicht. Eine gute Regierung – so Mills Aussage sowohl in ‚Gedanken zur Parlamentsreform‘ als auch in ‚Betrachtungen über die repräsentative Demokratie‘ – zeichnet sich dadurch aus, dass sie stets den gesellschaftlichen Fortschritt im Blick hat. Dabei müsse der Gesetzgeber genau beachten, was mit den jeweiligen Menschen und Institutionen, die sich auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung befinden, tatsächlich möglich ist. Eine zu weitgehende Reform oder einen ungeeigneten Zeitpunkt hält Mill für gefährlich. Jede große Reform kann man nur über viele kleine Schritte umsetzen. 24

Zur kritischen Diskussion von Mills Ideen zur öffentlichen Stimmabgabe vgl. Lever (2007) und Buchstein (2013).

40

E: J S M – E  I

Zentralismus (1862) Der Artikel ‚Zentralismus‘ ist im April 1862 im ‚Edinburgh Review‘ erschienen. Die Problematik der Zentralisierung kreist nach Mill „um die Grenzen, welche den Bereich der Regierung von dem des individuellen und spontanen Handelns trennen und den der Zentralregierung von der lokalen Verwaltung“ (203). Die Frage nach dem Für und Wider eines zentralistischen Staates wird im 19. Jahrhundert heftig diskutiert. Dabei geht es stets auch um die Auswirkungen einer bestimmten Organisation des Staates auf das Verhältnis von Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und – dies gilt im Besonderen für Mill – den gesellschaftlichen Fortschritt (vgl. Bluhm 2004: 28). Mill beginnt seinen Artikel mit der Beobachtung, dass – ausgenommen England und die USA – das Prinzip des Zentralismus in allen großen zivilisierten Staaten in geradezu erstaunlichem Ausmaß praktiziert wird, so auch in Frankreich. Frankreich diente Mill Jahrzehnte lang als intellektuelle und politische Inspiration. Das Land der Revolutionen galt ihm als der Versuchsraum für das große demokratische Experiment. Mills Frankophilie erhielt jedoch einen deutlichen Dämpfer, nachdem sich 1851 Louis Napoleon durch einen Staatsstreich zum Präsidenten machte und ein Jahr später per Plebiszit zum Kaiser Napoleon III. gewählt wurde. Die Gewissheit, dass die Revolution nicht in die Demokratie, sondern in die Diktatur eines Napoleons III. geführt hatte, veranlasste Mill in den folgenden Jahren, sich verstärkt den Vereinigten Staaten Amerikas als einem möglichen Vorbild und Hoffnungsträger von Demokratisierungsbestrebungen zuzuwenden. Spätestens nach dem Sieg der Nordstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg feierte er die USA als Beispiel für die Tugenden der Selbsthilfe tatkräftiger Menschen und vom Volk geschriebenen Verfassungen. Gegenüber Frankreich verstärkten sich demgegenüber fortan seine politischen Vorbehalte (vgl. Reeves 2007: 201–202). Trotz seiner Enttäuschung über die politischen Entwicklungen in Frankreich stellt Mill hoffnungsfroh fest, dass die Mehrheit der Franzosen, an ihrer Spitze die Intellektuellen, nun endlich auch erkennen würden, was die Engländer schon lange in der Beobachtung der zentralistisch organisierten Staaten Europas wahrnahmen: Die Übermacht der Regierung und die durch sie vorangetriebene Überregulierung hätten nicht nur die politische Kultur gehemmt und verkümmern lassen, sondern ebenso die intellektuelle Entwicklung, die praktischen Fähigkeiten sowie das moralische Streben der Bevölkerung. Mill entfaltet seine Argumentation im Rahmen einer Besprechung der Schriften der beiden Franzosen Camille Hyacinthe Odilon Barrot und Charles Brook Dupont-White zu diesem Thema. Mit Blick auf deren Arbeiten kontrastiert er England, das zwar über eine zentral organisierte Regierung verfüge, sich aber auf der Ebene der Verwaltung durch Dezentralisierung auszeichne, mit dem durchweg zentralistisch organisierten Frankreich. Den Titel ‚Zentralismus‘ entnimmt er der Schrift ‚De la centralisation et de ses effets‘ (1861) von Odilon Barrot, den er zu denjenigen französischen Intellektuellen zählt, die die Übel des Zentralismus bereits erkannt haben. Anders verhält es sich mit dem Publizisten und Volkswirt Charles Brook Dupont-White, den Mill wegen seiner Befürwortung einer zentralistisch organisierten Politik und für sein Vertrauen in deren Problemlösungsfähigkeit kritisiert. Dupont-White betrachte zudem lediglich die Folgen des Zentralismus für die Nation in ihrer Gesamtheit und lasse gänzlich außer Acht, wel-

D  A  B

41

che Auswirkungen die zentralistische Staatsorganisation Frankreichs auf den einzelnen Bürger und dessen Fähigkeiten hat. Zustimmend referiert Mill die Kritik Odilon Barrots an der Maßlosigkeit des französischen Zentralismus: „Als maßlos betrachten wir eine Zentralisierung dann, wenn sie durch die Verwechslung jenseitiger und diesseitiger Macht oder durch das Bündnis beider, sei es für politische oder religiöse Zwecke, die Freiheit des Gewissens und der Religion direkt oder indirekt verletzt.“ (Odilon Barrot zit. nach Mill, Seite 208) Indem die Regierung z. B. die einzelnen Gemeinden zentral verwaltet, die Bestellung der Bürgermeister, Steuerbeamten, Lehrer übernimmt, anstatt dies den jeweiligen Gemeinden selbst zu überlassen, und indem sich die Regierungsbeamten bei Vergehen einer strafrechtlichen Verfolgung und Verantwortlichkeit vor den Gerichten entziehen können und den Bürgern jegliche Möglichkeit genommen wird, einen Beamten bei Machtmissbrauch zu verklagen, werde die Freiheit jedes einzelnen Bürgers mit Füßen getreten und die Bürger zu bloßen Automaten degradiert. Mill führt den entstehenden Gesinnungswandel im Hinblick auf die Zentralismusfrage in Frankreich vor allem auf den Einfluss von Alexis de Tocqueville zurück, der in seinem zweiten Band ‚Über die Demokratie in Amerika‘ (1840) auf die Gefahren eines maßlosen Zentralismus hinweist.25 Beansprucht die Regierung die politische Sphäre gänzlich für sich allein, entsteht nach Tocqueville auf Seiten der Regierung in einem zentralistisch organisierten System eine Verantwortlichkeit für ein umfassendes Wohlergehen der Individuen. Die sich ins Exzessive ausweitende Staatstätigkeit löse wiederum beim Einzelnen einen Abfall in die Passivität aus; die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen wird zur kollektiven Verantwortung des Staates für seine Bürger. Der Zentralismus, wie er derzeit in Frankreich immer noch vorherrsche, hemme die Entfaltung der französischen Bürger. Die wohlfahrtsstaatliche Ausrichtung mit paternalistischen Implikationen senke die Motivation der Bürger, selbst die Initiative zur Verbesserung ihrer Lebenssituation zu ergreifen, und halte sie klein. In Anbetracht des Ausmaßes, in dem die überbordende Bürokratie Frankreichs die Freiheit des Volkes zugunsten der Gleichheit einschränke, bezeichnet Tocqueville Frankreich letztlich als unfreie Demokratie. Die in Frankreich angestrebte Gleichheit – so schreibt Mill in Anlehnung an Tocqueville – sei allenfalls eine Gleichheit in Sklaverei, denn eine derartige Politik mache ihre Bürger zu abhängigen und willenlosen Untertanen. Nur wenn die Menschen lernen, Eigenverantwortung zu übernehmen, würden sie Freiheit erfahren. Wie Tocqueville in seinen beiden Büchern über Amerika, so spricht sich auch Mill für eine dezentralisierte Organisation aus. Er meint damit den Grundsatz, dass alle die Bürger betreffenden gesellschaftlichen Belange auch von diesen selbst geregelt werden können. In seiner Autobiographie berichtet Mill, er habe in hohem Maße von Tocquevilles Ausführungen zur Zentralisation profitiert, und schliesst sich ihm ausdrücklich an, wenn er schreibt, Tocqueville betrachte „diese praktische politische Tätigkeit des individuellen Bürgers nicht nur als das wirksamste Mittel, die sozialen Gefühle und den praktischen Verstand des Volks […] zu bilden, sondern auch als ein spezifisches Gegengewicht gegen einige von den charakteristischen schwachen Seiten der Demokratie und als notwendige Schutzwehr“ (Mill 1873: 156–157). Was den Aufgabenbereich der Regierung angeht, so 25

Zu Tocquevilles Ausführungen über den französischen Zentralismus siehe Bluhm (2004).

42

E: J S M – E  I

herrscht laut Mill in England genau die richtige Grundeinstellung: Das englische Volk empfinde zwar keine Befangenheit gegenüber dem Tätigwerden des Staates. Aber es herrscht dennoch die Grundüberzeugung, dass immer dann, wenn es angemessene private Alternativen zur Staatstätigkeit gibt, diese vorzuziehen sind. Mittlerweile sieht Mill auch in Frankreich diese Mentalität an Boden gewinnen, und selbst die energischen Verfechter des Zentralismus seien sich diesen Wandels bewusst. In Mills Augen bedingt primär die kompakte Organisation des französischen Staates – d. h. seine zentralisierte Regierung und Verwaltung auf allen Ebenen des Staates – den Fortbestand des Zentralismus. Indem der Staat durch zentrale Überorganisation die Passivität der Bürger fördere, sei er bei jedem weiteren gesellschaftlichen Fortschritt dazu angehalten, neu anfallende Aufgaben über Gesetze zu regeln und durchzuführen. Auf diese Grundproblematik wies Mill bereits in seinen ‚Betrachtungen über die repräsentative Demokratie‘ hin. Je länger die Praxis der zentralen Überorganisation vorherrsche, desto mächtiger und überladener werde die Regierung und desto mehr würden die Bürger in ihrem von politischer Passivität geprägten Alltag sozialisiert, während die charakterlichen Eigenschaften, die für den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt von zentraler Bedeutung sind – „geistige Regsamkeit, Unternehmungslust und Mut“ (Mill 1861b: 42) – verkümmern oder gar nicht erst ausgebildet würden. Die Gefahr besteht dann nicht etwa lediglich in gesellschaftlicher Stagnation, sondern in Rückschritt und Verfall: „Wenn irgendetwas in Bezug auf menschliche Unternehmungen als sicher gelten kann, so dies: daß wertvolle Errungenschaften nur solange bewahrt werden können, als jene Kräfte, die uns ihren Begriff verschafft haben, weiter wirksam sind. Dinge, die sich selbst überlassen bleiben, geraten unweigerlich in Verfall“ (Mill 1861b: 42). Für den Text ,Zentralismus‘ von Mill gilt, was sein Biograph Richard Reeves an einer Stelle schreibt, in ganz besonderer Weise: „It is […] dangerous to draw conclusions about Mill’s attitude to the role of the state from any single publication“ (Reeves 2007: 286). ‚Zentralismus‘ ergänzt Mills ‚Principles of Political Economy‘ (1848) und ‚Über die Freiheit‘ (1859), in denen er sich mit der Problematik auseinandersetzt, in welche Bereiche der Staat eingreifen darf und sogar sollte und in welche nicht. Seine Argumente gegen den Eingriff des Staates in die Freiheitssphäre des Individuums in seiner Freiheitsschrift geben dabei aber nur die eine Seite seiner Einstellung zu staatlichen Interventionen wieder und erwecken den Eindruck, er sei laissez-faire Politiken zugeneigter als er es letztendlich war. Doch eine Inanspruchnahme von Mill für eine neoliberale Agenda im 21. Jahrhundert steht seinen Intentionen diametral entgegen. In den 1848 in erster Auflage erschienenen ‚Principles of Political Economy‘ sparte Mill, wie auch in allen später erschienenen Auflagen, nicht mit Kritik gegenüber denjenigen, die eine grundsätzliche Abneigung gegen die Einmischung des Staates hegten. In einem Brief an seinen Freund John Austin aus dem Jahre 1847 schrieb Mill über den Aufgabenbereich einer Regierung: „I doubt if much more can be done in a scientific treatment to the question than to point out a certain number of pro’s and a certain number of con’s of a more or less general application […] leaving the balance to be struck in each particular case as it arises.“26 Ob der Staat gesellschaftliche Angelegenheiten zentral regeln 26

Brief John Stuart Mill an John Austin vom 13. April 1847. In: Ders., Collected Works, Band XIII. Toronto 1986, 712.

D  A  B

43

sollte oder es angebrachter ist, die Bürger selbst damit zu betrauen, ist für Mill eine von Fall zu Fall pragmatisch zu entscheidende Frage. In einem noch früheren Aufsatz über Samuel Taylor Coleridge machte Mill seine Position früh sehr deutlich. Danach dürfe die Regierung die Menschen zwar keinesfalls davon abhalten, ihre Meinung zu äußern, ihrer Beschäftigung nachzugehen oder mit ihren Gütern zu handeln, aber es spreche nichts dagegen, dass die Regierung ihre Macht und ihre finanziellen Ressourcen dafür einsetzt, das öffentliche Wohl zu fördern. Das betreffe solche Bereiche, in denen die einzelnen Bürger entweder über keine Handlungsmotivation oder nicht über die notwendigen Ressourcen zum Handeln verfügen: „[A] state ought to be considered as a great benefit society, or mutual insurance company, for helping (under the necessary regulations for preventing abuse) that large proportion of its members who cannot help themselves“ (Mill 1840a: 218). Als Beispiel für diese Art staatlicher Intervention nennt Mill auch im Aufsatz ‚Zentralismus‘ erwähnte Trinkwasserversorgung. Auch die aktivierende Rolle des Staates bei der Verbesserung der Situation der Arbeiterklasse fügt sich seinem Mills Verständnis über die Rolle des Staates ein. Der Staat greift in all jenen Bereichen unterstützend – oder besser: ermutigend – ein, die die Menschen entweder aus mangelndem Antrieb oder aufgrund mangelnder Ressourcen (noch) nicht aus eigener Kraft selbst regulieren können, aber immer unter der Prämisse, die Anreizstrukturen für Eigeninitiative zu schaffen und zu fördern, anstatt sie durch übermäßige Fürsorge zu zerstören. In diesem Zusammenhang darf die Bedeutung lokaler Institutionen bei Mill nicht unterschätzt werden, die er in seinem Buch ‚Gedanken über die repräsentative Demokratie‘ näher ausführt. Aus seiner Sicht entlasten lokale Institutionen im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung das Parlament von der „große[n] Anzahl von Sondergeschäften, deren Erledigung das Parlament Zeit kostet und die das Interesse der Parlamentarier beanspruchen und sie von der Erfüllung der eigentlichen Aufgaben der großen nationalen Körperschaft abhalten“ (Mill 1861b: 225). Ferner gelten die kommunalen Verwaltungsinstitutionen für Mill „als wichtigster Faktor in der [politischen] Erziehung“ der Bürger (Mill 1861b: 226). Da – und das steht für Mill unverrückbar fest – die politische Teilhabe bei der Mehrzahl der Bürger auch in einer repräsentativen Demokratie nicht über das Wählen ihrer Repräsentanten, das gelegentliche Verfassen von Leserbriefen oder die Lektüre von Zeitungen hinausgeht, Mill aber absichern möchte, dass sich alle aktiv am Gemeinwesen beteiligen und sich ihrer Verantwortung für die Gesellschaft bei ihrer Stimmenabgabe bewusst sind, spricht er den kommunalen Körperschaften eine Art Kompensationsfunktion zu. Weil die höheren Schichten die lokalen Ämter gewöhnlich eher meiden würden, sieht Mill hier gleichzeitig eine Chance, „jene so wichtige Bildung […] in die unteren Schichten der Gesellschaft [hineinzutragen]“ (Mill 1861b: 227). Da sich die lokalen Institutionen nicht mit der allgemeinen Staatspolitik beschäftigen, sondern in erster Linie über Erhebung und Verwendung von Gemeindesteuern entscheiden würden, sei es außerdem vertretbar, wenn diese Positionen nicht von den ‚Besten‘ bekleidet werden. Wie sich Mill die Beziehung zwischen zentralen und lokalen Institutionen im Ergebnis vorstellt, hat Oskar Kurer wie folgt treffend zum Ausdruck gebracht: „policy making centralized, administration mainly localized“ (Kurer 1989: 298). Damit das Kriterium der Effektivität gewährleistet bleibt, müsse die Zentralgewalt Richtlinien erlassen, an die sich alle kommunalen Institutionen zu halten haben: „Macht kann man dezentrali-

44

E: J S M – E  I

sieren, Wissen aber muß, soll es den größten Nutzen bringen, zentralisiert sein“ (Mill 1861b: 227). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Mill weder eindeutig als Zentralist noch als Dezentralist identifiziert werden kann; er nimmt vielmehr eine dritte, pragmatische und vermittelnde Position ein: Die Organisation der Staatstätigkeit wandelt sich entsprechend der erreichten Zivilisationsstufe und sollte davon abhängen, für wie hoch die Effektivität der verschiedenen institutionellen Ebenen im Hinblick auf die Regulierung gesellschaftlicher Angelegenheiten gehalten wird.

Über Bildungsbeihilfen (1866) Der Text ‚Über Bildungshilfen‘ ist der kürzeste Beitrag von Mill in diesem Sammelband, der die zentrale Rolle, die Bildung in seinem Liberalismus im Zusammenhang mit Eigenverantwortung und Wettbewerb spielt, exemplarisch ausleuchtet. Vom Textgenre handelt es sich hier um eine Stellungnahme Mills zum besten Einsatz von Bildungsbeihilfen im Falle von durch Stiftungsgelder geförderte Schulen, vor dem Taunton Schuluntersuchungsausschuss vorgetragen. Nachdem Mill 1865 auf Seiten der Whig-Partei für Westminster ins Parlament einzog, erhielten seine Ansichten größere öffentliche Aufmerksamkeit, was dazu führte, dass seine Meinung zu verschiedenen Themen häufiger angefragt wurde; so auch von den Inspektoren der Taunton Kommission, die zwischen 1864 und 1868 u. a. die Situation der durch Stiftungsgelder geförderten Sekundarschulen untersuchen sollte. Die Kommission enthüllte das mangelhafte Angebot in der Bereitstellung einer höheren Schulbildung (secondary education) sowie die ungleiche Verteilung und den Missbrauch von Ausbildungsbeihilfen. Die gutachterliche Stellungnahme, die Mill dem Ausschuss vortrug, entstand im Wesentlichen in Zusammenarbeit mit seinem lebenslangen Freund Edwin Chadwick,27 auf dessen Abhandlung ‚Copy of Two Papers Submitted to the [Education] Commissioners‘ er auch explizit verweist. Mills Gutachten bezieht sich auf die folgenden – im Vorfeld von der Taunton Kommission an ihn herangetragenen – Themen: Erstens die durch finanzielle Beihilfen geförderten Schulen zur Zweckdienlichkeit des Fortbestehens der unentgeltlichen Schulerziehung sowie eines festen Einkommens der Lehrer; zweitens den besten Weg, um Vorsorge für die zukünftige Verwaltung der Beihilfen zu treffen und deren Rückfall in die Wirkungslosigkeit zu verhindern; drittens die Sicherung der gegenwärtig vergeudeten Stiftungsgelder für Zwecke der Bildung; sowie schließlich die Möglichkeiten, das Angebot an geeigneten Lehrern zu sichern oder zumindest zu erhöhen. Ein Festgehalt für Lehrer, das über die Stiftungsgelder gesichert wird, lehnt Mill entschieden ab, denn er sieht genau in dieser Praxis den Grund für den enormen Misserfolg 27

Chadwick war von 1833 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1854 Mitglied der Poor Law Commission, eines Gremiums, das mit der Verwaltung der Gelder für die Armenfürsorge betraut war. Auf Chadwicks Bericht über die Hygienebedingungen und den gesundheitlichen Zustand der Arbeiterklasse Großbritanniens beruht die Gründung der „Health of Towns Commission“ im Jahre 1843, die maßgeblich zur Verbesserung der Gesundheitspflege im 19. Jahrhundert durch eine systematische Verbesserung der Hygienebedingungen beitrug.

D  A  B

45

von Ausbildungsbeihilfen. Der Fehler bestehe darin, dass in diesem Fall Interesse und Pflicht des Lehrers nicht aneinander gebunden seien: Ein Lehrer, der immer die gleiche Menge Geld verdient, habe ein Interesse daran, möglichst wenig Schüler zu unterrichten und das mit so wenig Aufwand wie möglich. Um zu gewährleisten, dass der Lehrer an qualitativ hochwertigem Unterricht für seine Schüler interessiert ist, müsse stattdessen die Höhe seines Gehaltes davon abhängen, wie gut oder schlecht die Ergebnisse der Arbeit eines Lehrers zu bewerten sind; wie gut also z. B. seine Schüler in Prüfungen abschneiden. Mill schlägt hier eine größere Prüfung vor, die von unabhängigen öffentlichen Prüfern durchgeführt und bewertet wird. Die Gehälter der Lehrer könnten anschließend proportional zu den Ergebnissen ihrer jeweiligen Schülergruppe festgelegt werden. Was die unentgeltliche Ausbildung für Schüler der Mittelschicht angeht, so hält Mill diese für nicht wünschenswert, denn die Mittelklasse sei durchaus zum Zahlen der Schulgelder in der Lage. Sie vollkommen von den Gebühren freizustellen, berge eine demoralisierende Tendenz. Aufgrund dessen lautet Mills Empfehlung, von den Angehörigen der Mittelklasse den Beitrag zu verlangen, den sie unter normalen Umständen aufzubringen in der Lage sind, und diesen Grundbeitrag mit Hilfe von Stiftungsgeldern aufzustocken, damit ihren Kindern die in diesem Rahmen bestmögliche Ausbildung angeboten werden kann. Zudem befürwortet Mill, den Schülern von Grundschulen (Elementary Schools) vermittels von Stiftungsgeldern das Erreichen einer höheren Bildungsstufe zu ermöglichen, wenn sie in den eigens dafür angesetzten Prüfungen im Wettstreit mit ihren Mitschülern entsprechend hohe Ergebnisse erzielen. Um die Stiftungsgelder angemessen zu verwalten und deren effiziente Nutzung zu gewährleisten, regt Mill an, alle durch Stiftungsgelder finanzierte Schulen unter die Aufsicht des sogenannten Privy Councils zu stellen. Dieser Kronrat war ein wichtiges Beratergremium für die englischen Monarchen; 1839 wurde aus seinen Reihen ein Komitee gegründet, welches die Verteilung der zu Bildungszwecken von der Regierung zur Verfügung gestellten Gelder überwachen sollte. Nach Mill kann nur die ständige Kontrolle durch ein derartiges Gremium, das die Autorität besitzt, sich als untauglich erweisendes Schulpersonal für die Entlassung vorzuschlagen, den effizienten Einsatz der Stiftungsgelder garantieren. Die Inspektoren, „Männer großer Erfahrung und Begabung“ (240), sollen vom Education Committee of Council ernannt und mit der örtlichen Aufsicht über die Verwendung der jeweiligen Gelder betraut werden. In der Beantwortung der Frage, wie in diesem Fall Macht und Verantwortlichkeit zwischen zentralen und lokalen Behörden verteilt sein soll und auf welcher Ebene die Ernennung und Entlassung des Lehrpersonals stattfinden soll, bleibt Mill der Linie des bedingten Zentralismus treu: Einerseits sollen Aufsichtspflicht und Einstellung von Lehrpersonal effektiv gestaltet werden, was für eine zentrale Organisation spreche, anderseits dürfe der Exekutive über den Privy Council nicht zu viel Macht über die Schulbildung des Landes zugestanden werden. Mill wählt hier einen Mittelweg: Jeder Bezirk von einer bestimmten Größe soll einen Schulausschuss bilden, dem die Amtsautorität über die im Bezirk ansässigen Schulen zukommt. Der Ausschuss setzt sich erstens aus den Einwohnern zusammen, die das größte praktische Interesse an einer angemessenen Ausbildung haben und an einer dementsprechend effektiven Nutzung der Ausbildungshilfen (lokal); sie werden von den Bezirkseinwohnern gewählt oder nominiert. Zweitens wird der Ausschuss erweitert durch einen Repräsentanten des

46

E: J S M – E  I

Education Committee des Privy Councils, der als Beirat fungiert (zentral). Mit diesem Vorschlag schirmt Mill einerseits die mit der Schulbildung betrauten lokalen Institutionen von einem zu großen Einfluss der Regierung ab, andererseits – und auch hier gilt erneut: „Macht kann man dezentralisieren, Wissen muss zentral bleiben“ – sichert Mill die Effektivität der lokalen Verwaltung über einen Repräsentanten des Privy Councils ab. Aufgrund des laut Mill „chaotischen Durcheinander[s] der englischen örtlichen Institutionen jedoch, die jede systematische Verbesserung der wirklichen Regierung des Landes dementsprechend behindern“ (241), müsse die Auswahl der Einwohner für den geplanten Schulausschuss in der Obhut der Inspektoren des Privy Councils liegen. Die Verschwendung der Spendengelder für wohltätige Zwecke ist nach Mill größtenteils darauf zurückzuführen, dass sie häufig Menschen zukommen, die nicht wirklich bedürftig sind. Um eine Verschwendung von Spenden in Zukunft zu verhindern, solle man sie lieber in die Bildung investieren, denn die mangelnde Bildung sei die Hauptursache von Armut. Wie in ‚Die Rechtsansprüche der Arbeit‘ sieht Mill in der ausschließlich finanziellen Unterstützung der Bedürftigen kein hinreichendes Mittel, um Armut zu beseitigen. Nur über eine Anhebung des Bildungsniveaus der unteren Schichten sei eine Verbesserung ihrer Situation zu erwarten. Um schließlich die Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von qualifizierten Lehrern sicherzustellen, setzt sich Mill für eine Lehrerausbildung in extra dafür eingerichteten Schulen ein. Bei der Lehrerbildung sei es wichtig, die Lehrer nicht nur inhaltlich, sondern auch pädagogisch zu schulen. Um ein breiteres Spektrum an Lehrpersonal zu erhalten, sollte des Weiteren die Position eines Lehrers nicht nur Ordensangehörigen offen stehen. Mill legt besonderen Wert auf ein unabhängiges Gremium, das die Qualität der Lehrer sicherstellt, die Qualität ihrer Lehre beaufsichtigt und beurteilt und die Autorität besitzt, unqualifiziertes Lehrpersonal zu entlassen. Trotz seiner Kürze ist dieser Artikel vor allem in Bezug auf Mills Position zum Zentralismus aufschlussreich. Was die Balance zwischen zentraler und dezentraler Organisation angeht, so schätzt Mill die Bildungswirkung der lokalen Institutionen und ebenfalls die dadurch erzielte Distanz zur Regierung. Gleichzeitig darf die Effektivität innerhalb der lokalen Behörden aber nicht darunter leiden, dass die hier Tätigen nicht das Niveau an Bildung vorweisen können, das Mill für die Repräsentanten im Parlament ansetzt, weshalb erstere – so beschreibt es Mill am Beispiel der Schulausschüsse – einen Experten zur Seite gestellt bekommen, dessen Ratschläge eine wesentliche Rolle bei den Entscheidungen spielen. Bei aller Wertschätzung der lokalen Selbstverwaltung als Institution geistiger Ausbildung setzt Mill den Befugnissen dieser Behörden auch (Sicherheits-)Schranken: „[S]elf-government should be as extensive as the general level of mental improvement allows. The deficiencies of mental improvement then justify a great deal of restrictions in practice.“ (Kurer 1989: 297). Ausführlicher behandelte Mill die Bedeutung und effektive Verwendung, vor allem aber die richtige Verwaltung von Ausbildungsbeihilfen drei Jahre später in seinem im ‚Fortnightly Review‘ erschienenen Artikel ‚Endowments‘ (Mill 1869b). Hier betont er erneut, was in ‚Educational Endowments‘ bereits deutlich wird: Der Missbrauch von Stiftungsgeldern könne nur verhindert werden, wenn ihre Verwaltung und Vergabe durch eine unabhängige Körperschaft geregelt wird. Wird dies Privatpersonen überlassen und einer regelmäßigen Kontrolle entzogen, ziehe dies zwangsläufig wenn

D  E  M

47

nicht groben Missbrauch, so doch zumindest eine ineffiziente Nutzung der Gelder nach sich. Außerdem betont Mill die Wichtigkeit der Bildung von Frauen und die Ungerechtigkeit, die diesbezüglich in der Verteilung von Stiftungsgeldern besteht: Die meisten Ausbildungsbeihilfen seien grundsätzlich für die Förderung sowohl von Jungen als auch von Mädchen vorgesehen; derzeit würden aber lediglich 18 Mädchen gefördert, im Gegensatz dazu 1192 Jungen (Mill 1869b: 630). Zusammen mit anderen Intellektuellen, wie z. B. Thomas Hare, kritisierte Mill die ineffiziente Nutzung von Stiftungsgeldern und die Ungleichbehandlung von Frauen gegenüber Männern in Bildungsfragen mehrfach öffentlich und empfahl den Aufbau eines umfassenden Systems der Sekundarschulbildung. In Reaktion auf diese Stellungnahmen wurde 1869 der „Endowed Schools Act“ verabschiedet mit dem Ziel, ein neues Verwaltungsmodell für Stiftungsschulen zu entwerfen, um die Verwendung der Gelder und somit auch die Ausbildung der Schüler effizienter zu gestalten. Mills weitergehende schulpolitische Forderungen blieben in diesem Reformprozess allerdings unerhört.

Die liberale Emanzipation der Menschheit Die letzten vier Beiträge unserer Auswahl dokumentieren John Stuart Mills politisches Engagement im Zusammenhang mit der Abschaffung der Sklaverei in den USA und den Unabhängigkeitsbestrebungen in Irland. Bei beiden Themen musste Mill sich mit tief verankerten Vorurteilen und rassistischen Überzeugungen seiner Zeitgenossen auseinandersetzen. Er sah sich in beiden Kontroversen in eine provozierende Außenseiterposition gedrängt, von der aus er umso vehementer versuchte, sein Eintreten gegen Unterdrückung und für liberale Gleichheit plausibel zu machen.

Die Negerfrage (1850) Den Anlass für den ersten Beitrag von Mill in dieser Reihe bot ein Artikel mit dem Titel ‚Occasional Discourse on the Negro Question‘, der im Frazer’s Magazine-Dezemberheft von 1849 erschienen war. Auch wenn der Artikel, wie es damals in vielen englischen Zeitschriften üblich war, ohne Namenszeichnung des Verfassers publiziert wurde, sprach sich Thomas Carlyles Name schnell als der seines Autors herum, zumal Carlyle Teile des Beitrages zuvor auf einer Rede in der Exeter Hall, einem beliebten Debattiersaal, vorgetragen hatte. Carlyle wandte sich in seinem Aufsatz gegen die englischen Unterstützer der Sklavenemanzipation in den USA. Er führte aus, dass farbige Menschen, die er mit abwertenden Worten wie „Black Quashee“28 oder „up to the ears in the pumpkins“ bezeichnete, zu einer „most inferior race“ gegenüber hellhäutigen Abkömmlingen von Europäern gehörten, denen er im Gegenzug bescheinigte, „more capable of wisdom“29 28

29

Der Ausdruck ‚Quashee’ stammt aus der Karibik und bezeichnet eine faulen, lachenden und permanent Wassermelonen essenden schwarzen Landarbeiter, der angeblich nur auf Peitschenschläge reagieren kann (vgl. Schultz 2007:110). Etymologisch leitet es sich aus der Sprache der Kreolen ab und bezeichnete ein Sonntagskind. Alle Zitate aus Carlyle (1849: 671 und 675).

48

E: J S M – E  I

zu sein. Aufgrund dieser geistigen Überlegenheit der weißen Rasse sei die Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten als die eigentlich natürliche Ordnung anzusehen, die deshalb erhalten bleiben müsse und für deren Bestand sich die englische Politik verstärkt einsetzen solle. Carlyles Artikel blieb nicht ohne Resonanzen und auch nicht ohne Widerspruch in mehreren englischen Zeitungen. In den Kreisen englischer und amerikanischer Rassisten wurde sein Artikel so beliebt, dass er unter Carlyles Autorschaft mit dem Titel ‚Occasional Discourse on the Nigger Question‘ als auflagenstarke Broschüre Verbreitung fand. Es ist ein Text, den der Ideenhistoriker Bart Schultz folgendermaßen charakterisiert: „it would be difficult to find a more badly racist tract in all of western history“ (Schultz 2007: 110). Heute fungiert der Text im intellektuellen Umfeld von Neo-Nazis als ideengeschichtliche Referenz. John Stuart Mill und der 1795 geborene Thomas Carlyle kannten sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nahezu zwanzig Jahre. Zu Beginn der 1830er Jahre hatte Mill engen Kontakt mit dem zehn Jahre älteren Übersetzer des ‚Wilhelm Meisters‘ und Texten deutscher Romantiker gesucht. Bald verband beide eine durch nächtelange Diskussionen geprägte Freundschaft und Carlyle gehörte zu dem Personenkreis, dem Mill anrechnete, ihm dabei geholfen zu haben, sich von der Philosophie des ‚trockenen‘ Utilitarismus seines Vaters und Benthams zu emanzipieren.30 In den vierziger Jahren wurde ihr persönlicher Kontakt zwar lockerer, aber trotz ihrer politischen Differenzen nicht feindselig. Dies änderte sich erst, als Mill auf den oben erwähnten Artikel von Carlyle in Form einer öffentlichen Replik reagierte. Für Mill repräsentierte dieser Artikel einen in weiten Kreisen Englands vorherrschenden Rassismus, dem auch beliebte Publikumsautoren wie Charles Dickens anhingen und dem man in der Öffentlichkeit mit harten argumentativen Schlägen begegnen müsse. Mills Replik erschien, ebenfalls zunächst anonym, im Januarheft von Frazer’s Magazine unter dem Titel ‚The Negro Question‘. Mill zufolge geht es bei der Debatte über die Sklaverei nicht um eines von vielen Themen der aktuellen Gesellschaftspolitik, sondern um ein Thema von zentraler Bedeutung. Die Sklaverei sei das Abscheulichste, was Menschen einander antun könnten. Sie sei ein auf Dauer gestellter unbegrenzter Despotismus gegenüber den legitimen Freiheitsrechten der durch sie Unterworfenen und deshalb eine zutiefst ungerechte Institution. Mill weist Carlyles süffisante Darstellung der amerikanischen Abolitionisten als „my philantropic friends“ zurück, nach der es sich bei ihnen um moralisch weiche und schwache Charaktere handele. Das genaue Gegenteil sei zutreffend, so Mill. Die Abolitionisten handelten aus starker moralischer Verantwortung, und sie scheuten bei ihren Aktionen auch vor Risiken für ihr Wohlergehen und ihre eigene Person nicht zurück. Carlyles Artikel sei dagegen ein „wahres Werk des Teufels“ (256), weil er eine Rechtfertigung dafür liefern wolle, „dass eine Art Menschen geborene Diener einer anderen Art Menschen sind“ (253). Vor allem setzt sich Mill mit der Behauptung von Carlyle auseinander, die Weißen seien intelligenter als Farbige, woraus sich letzthin ihr Überlegenheitsanspruch ableite. Eine solche Überzeugung gehöre zu Carlyles „Maniriertheit, die ihn fesselt wie das 30

Zur engen Beziehung zwischen Mill und Carlyle in den 1830er Jahren vgl. Kinzer (2007: 112145).

D  E  M

49

Wickelband das Wickelkind“ (253). Unter Rückgriff auf „die Gesetze der Charakterbildung“ (253) weist Mill diese Behauptung entschieden zurück. Wenn sich Carlyle mit diesen Gesetzen beschäftigt hätte, so führt er aus, dann „wäre ihm der Fehler erspart geblieben, jeden Unterschied, den er zwischen verschiedenen Menschen findet, einem ursprünglichen Unterschied ihrer Natur zuzuschreiben.“(253). Die „Naturgeschichte unserer Gattung“ belege in ausreichendem Maße, dass es ausschließlich die „äußeren Einflüsse“ und deren „Zufälle“ bzw. „günstige Gelegenheiten“ (254) sind, die die Fähigkeiten und Eigenschaften eines Menschen prägen. Als Illustration zieht Mill in seiner Argumentationsführung erneut den Vergleich mit Pflanzen heran: Zwei Bäume derselben Herkunft gedeihen ganz unterschiedlich, wenn ich sie in unterschiedliche Böden pflanze, sie unterschiedlichem Klima aussetze oder auf unterschiedliche Weise mit Wasser und Nährstoffen versorge. So wie mit den Bäumen verhalte es sich auch mit dem Menschen. Der Mensch habe zwar gattungsspezifische Veranlagungen, er sei bei seiner Geburt aber insofern eine Art ‚tabula rasa‘, als es im Wesentlichen erst die gesellschaftlichen Umstände und die Erziehung seien, die ihn zu der Person machen, die er ist. Normativ folgt aus dieser These eine Art negativer Evidenzanforderung: Menschen müssen solange als Träger gleicher Rechte betrachtet werden, bis es unumstößliche Evidenzen gibt, von diesem Grundsatz abzuweichen. Mit seinen Einwänden gegen Carlyle greift Mill auf Überlegungen zurück, die er bereits im sechsten Buch von ‚A System of Logic‘ (1843) präsentiert hatte. Mill rezipiert darin die sogenannte ‚Associations Psychology‘ britischer Empiristen wie David Hartley, die eine Theorie darüber entwickelt hatten, wie das menschliche Gehirn die Einflüsse seiner äußeren Umgebung wahrnimmt und diese Eindrücke lernend verarbeitet.31 Unter der Überschrift ‚On the Logic of the Moral Sciences‘ skizzierte Mill die Programmatik eines neuen wissenschaftlichen Gebietes, der „ethology“, deren Ziel es sein soll, zu fundierten empirischen Aussagen darüber zu gelangen, wie sich soziale Rahmenbedingungen konkret auf die Charakterbildung von Individuen und von sozialen Gruppen auswirken.32 Mill attackiert Carlyle in dem Artikel ‚Die Negerfrage‘ noch an einem weiteren Punkt, indem er die Konturen einer gesellschaftspolitischen Utopie jenseits der Arbeitsgesellschaft skizziert. Wenn Carlyle nach seinen eigenen Angaben geradezu darunter leide, ansehen zu müssen, wie versklavte Farbige, sobald sie nicht unter Androhung der Peitsche zur Arbeit gezwungen werden, untätig blieben, so stellten sich ihm zwei Fragen. Zum einen, worin sich Thomas Carlyle, der in London auch nicht gerade für seinen notorischen Fleiß bekannt sei, von den Negersklaven unterscheide. Zum anderen stelle sich die Frage, was für ein grundsätzliches Verhältnis der Mensch zur Arbeit einnehmen soll. Das gegenwärtig dominante protestantische ‚Evangelium der Arbeit‘ bedürfe drin31

32

Zur britischen ‚Association Psychology’ des 18. und 19. Jahrhunderts, der auch James Mill in seinem Buch ‚Analysis of the Phenomena of the Human Mind’ (1829) anhing, und ihren Einfluss auf John St. Mill vgl. Warren (1967). Vgl. Mill (1843: 70-85). Am sozialwissenschaftlichen Programm einer systematischen Ethologie hat Mill lebenslang festgehalten, er hat es aber auch in seinen späteren Jahren angesichts der für ihn zunehmend unübersichtlich erscheinenden Forschungslage im Bereich der aufblühenden Psychologie nicht mehr weiter ausgebaut (vgl. Feuer 1976 und Ball 2000).

50

E: J S M – E  I

gend der Ablösung durch ein „Evangelium der Muße“ (252). Gesellschaftliche Arbeit dürfe nicht zum Selbstzweck werden: „Der Wert der Arbeit kann […] nicht darin bestehen, allein zu anderer Arbeit zu führen, zu immer neuer Arbeit ohne Ende“ (252). Der gesellschaftliche Fortschritt müsse stattdessen in eine Richtung gehen, bei der die Menge an existenznotwendiger Arbeit durch technische Innovationen und eine faire Teilung der Arbeitsbelastung für jeden Menschen soweit verringert wird, dass jedem Menschen genügend Zeit bleibt, seinen kulturellen Interessen nachzugehen, sich um Freunde und Familie zu kümmern, die Natur zu genießen und sich anderweitig persönlich weiterzuentwickeln. Carlyle reagierte in der Öffentlichkeit nicht auf die Entgegnung von Mill, sondern tat sie nur in seinen Tagebüchern als „most shrill, thin, poor, and insignificant“ (zit. nach Collini 1984: xxi) ab. Mills Replik wurde nicht nur in England, sondern auch in den USA mehrfach nachgedruckt und avancierte zu einem viel zitierten Statement des Anti-Rassismus im 19. Jahrhundert, das seinerseits zur Zielscheibe von rassistischen Anthropologen in England und den USA wurde.33 Erst in der neueren akademischen Diskussion zu diesem Text ist zwischen den Interpreten Uneinigkeit entstanden, inwieweit Mill heute tatsächlich ohne Umstände als liberaler Ahnherr des Anti-Rassismus angesehen werden darf. Die Kritik an Mill lautet, dass er auch in diesem Text und vor allem an vielen anderen Stellen in seinem Werk eine Reihe unzulässiger Stereotypisierungen vorgenommen habe; die Verteidiger Mills halten dem entgegen, dass solche Klischees von Mill immer im Rahmen seiner (unausgeführten) Ethologie verstanden werden müssten, bei der alle Charaktereigenschaften, die Mill sozialen Gruppen zurechnet, letztlich umweltbedingt und damit revidierbar seien.34 Wie schwierig ein angemessenes Verständnis der damaligen Diskussionen heute noch ist, lässt sich nicht zuletzt an der Schwierigkeit ablesen, die ‚richtige‘ Übersetzung von einigen der damals im Englischen verwendeten Worte zu finden. Dass mit Worten Politik gemacht werden kann und wird, wussten bereits die rassistischen Zeitgenossen von Mill, als sie das Wort ‚negro‘ aus Carlyles Artikel in ‚nigger‘ für die Broschürenpublikation änderten. Heute stellen sich Fragen der adäquaten Wortwahl. Im englischen Sprachraum hat mittlerweile auch die Bezeichnung ‚negro‘ eine diskriminierende Bedeutung bekommen und ist zunächst durch das Wort ‚coloured‘ und später durch ‚african-American‘ oder ‚black‘ ersetzt worden. Im Deutschen werden im heutigen Sprachgebrauch zumeist ‚schwarz‘ oder ‚farbig‘ als Bezeichnungen gewählt. Der deutsche Ausdruck ‚Neger‘ (der wie das englische ‚negro‘ eine Entlehnung aus dem Französischen ‚nègre‘ über das Spanische ‚negro‘ ist), der noch bis in die 1970er Jahre in der seriösen Tagespresse zu finden war, wird heute als ebenso veraltet und diskriminierend wahrgenommen, wie das Wort ‚Mohr‘ (entlehnt aus ‚Maure‘), das vor allem im 17. und 18. Jahrhundert Verwendung fand. Wenn wir uns (im Unterschied zu unserer eigenen Wortwahl in dieser Einleitung) bei der Übersetzung der Texte von Mill dennoch für das Wort ‚Neger‘ entschieden haben, so wollen wir damit keinen maliziösen Protest gegen eine angeblich existierende ‚Political Correctness‘ ausgedrückt sehen, sondern die Bemühung dokumentieren, Mills Text 33 34

Zu diesen Angriffen vgl. Varouxakis (1998: 26-30). Vgl. Varouxakis (1998 und 2005) sowie Bogues (2005). Einen instruktiven Überblick über diese Debatte gibt Schultz (2007).

D  E  M

51

möglichst eng an die Sprachspiele und das Vokabular seiner deutschsprachigen Zeitgenossen heranzuführen.

Die Auseinandersetzung in Amerika (1862) Das publizistische Engagement Mills gegen Rassismus und Sklaverei setzte sich in seiner Unterstützung der Kampagne für die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten der USA fort. Mill hatte sich seit den 1830er Jahren lebhaft für die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in den ehemaligen englischen Kolonien in Amerika interessiert und versuchte seine englischen Landsleute zur Unterstützung der ‚richtigen‘ politischen Kräfte in den USA zu bewegen. Gut dokumentiert ist sein frühes Interesse an den USA in seinen Besprechungsessays von Alexis de Tocquevilles ‚Demokratie in Amerika‘, deren beide Bände er 1835 und 1840 jeweils gleich nach ihrem Erscheinen in Frankreich dem englischen Publikum ausführlich vorstellte. Mill fand in Tocquevilles Buch die Beschreibung der weltweit ersten modernen Demokratie in Aktion und dessen Urteil über dieses Experiment fand seine begeisterte Zustimmung. Zwar schloss er sich Tocquevilles Loblied auf die Dynamik, die Gleichheit und die Freiheit in der amerikanischen Gesellschaft an, er stimmte aber auch seinen Warnungen vor Atomisierung und Vermassungstendenzen in modernen Demokratien und den damit verbundenen Gefahren zu (vgl. Mill 1835 und 1840b). Ende der 1840er und zu Beginn der 1850er Jahre erfuhren Mills Urteile über die USA eine weitere positive Akzentverschiebung, die allerdings weniger mit Veränderungen jenseits des Atlantik als mit Mills Enttäuschung über das Scheitern der Revolution von 1848 in Frankreich und der Diktatur von Louis Napoleon zu tun hatten. Die USA, so ließ Mill 1854 amerikanische Journalisten in einem Interview wissen, würden in absehbarer Zeit zur dominierenden Weltmacht werden und dem Rest der Welt mit ihrer Demokratie als Vorbild dienen (vgl. Reeves 2007: 244). Ein solches Hohelied auf die amerikanische Demokratie war dort wohlgelitten, zumal Mill in den USA bereits eine feste Leserschaft hatte. Sein amerikanischer Verleger verdiente mit den diversen Neuauflagen von Mills ‚Logik‘ und dem Ökonomielehrbuch gutes Geld, Aufsätze von Mill wurden in Zeitungen und Zeitschriften in den USA nachgedruckt und 1857 wurde Mill zum Ehrenmitglied der ‚American Academy of Art and Sciences‘ ernannt. Als Mill sich gleich nach Ausbruch des Bürgerkrieges in den USA lautstark mit der Forderung nach Unterstützung der Nordstaaten und der Abschaffung der Sklaverei einmischte, wusste er, dass er auf beiden Seiten des Atlantiks viele Leser haben würde. Am 9. November 1860 war Abraham Lincoln von der Republikanischen Partei zum Präsidenten der USA gewählt worden. Sechs Wochen später, am 20. Dezember 1860, erklärte der Südstaat South Carolina wegen der sklavenfeindlichen Haltung der gewählten US-Regierung die Sezession, der sich in den folgenden Tagen und Wochen weitere Südstaaten anschlossen, die im Februar 1861 die ‚Konföderierten Staaten von Amerika‘ ausriefen. Unter Berufung auf die Einheit der Union proklamierte die Bundesregierung den Bürgerkrieg, und am 15. April 1861 begannen die Kampfhandlungen zwischen den in den USA verbliebenen Staaten des Nordens und den Sezessionisten in den Südstaaten. Der für beide Seiten äußerst verlustreiche Krieg sollte insgesamt

52

E: J S M – E  I

vier Jahre dauern, bis die Konföderierten am 9. April 1865 bedingungslos kapitulierten. Die sich nach der Wahl von Lincoln in den USA zuspitzende innenpolitische Situation zog Mill mindestens ebenso sehr in den Bann, wie zuletzt 1848 die Revolution in Frankreich. Die amerikanische Politik stand nun ganz oben auf der Liste seiner tagespolitischen Interessen, und Mill attestierte dem Bürgerkrieg in den USA schon im August 1861 „transcendant importance“35 für die Zukunft der Demokratie nicht nur auf dem amerikanischen Kontinent, sondern weltweit. Noch sechs Jahre nach den Ereignissen erklärte er – über sich in der dritten Person sprechend – einem Freund, er sei sich während des Bürgerkrieges vorgekommen, „as if he were himself an American citizen“.36 ‚Die Auseinandersetzung in Amerika‘ erschien im Februar-Heft von 1862 in ‚Frazer’s Magazine‘ und setzt die Debatte fort, die Mill 12 Jahre zuvor mit Carlyle geführt hatte. Der unmittelbare Anlass für den Artikel war der ‚Trent-Zwischenfall‘, der die schwerste diplomatische Krise zwischen Washington und London seit dem Unabhängigkeitskrieg ausgelöst und beide Länder an den Rand eines militärischen Konfliktes gebracht hatte. Da Mill das Wissen seiner damaligen Leser über den ‚Trent-Zwischenfall‘ und dessen Ausgang voraussetzte und nur in Andeutungen darüber schreibt, soll er für heutige Leser knapp in Erinnerung gerufen werden: Am 8. November 1861 kaperte ein Militärschiff der Nordstaaten das britische Postschiff Trent in neutralen Gewässern vor Cuba und nahm zwei Diplomaten der Konföderierten, die an Bord des Schiffes waren, in Gewahrsam. Die beiden Diplomaten waren in offizieller Mission der Südstaatenregierung unterwegs nach Europa, um dort bei den Regierungen in London und Paris für die militärische Unterstützung der Konföderierten zu werben. Die britische Regierung protestierte gegen diesen Übergriff und mobilisierte Truppen. Die ‚Times‘ und andere Zeitungen in England verschärften den Konflikt mit einer Reihe von Kommentaren, die einen Krieg gegen die Nordstaaten forderten. Nach intensiven diplomatischen Verhandlungen entließ die Regierung der USA die beiden des Hochverrats beschuldigten Gefangenen zum Jahreswechsel 1861/62 aus der Haft; gleichzeitig unterließ sie es aber, sich bei der englischen Regierung für die Militäraktion zu entschuldigen. Mit diesem Ausgang sahen schließlich beide Länder im Januar 1862 den Konflikt offiziell als beigelegt an.37 Mill hatte ‚Die Auseinandersetzung in Amerika‘ noch während der heißen Phase des Konfliktes zu schreiben begonnen und konnte die Arbeit daran abschließen, als dessen glimpflicher Ausgang bereits absehbar war. Erleichtert schreibt er zu Beginn des Artikels: „Der Welt ist eine Katastrophe erspart geblieben und England diese Schande“ (258). Heftig schilt er die englische Presse, die ein völlig falsches Bild von der Konfliktlage in den USA zeichne, und kritisiert damit auch langjährige politische Freunde aus dem Kreise der ‚Philosophical Radicals‘ wie John Roebuck, die den Südstaaten unter 35

36

37

John Stuart Mill, Brief an John Cairnes vom 18. August 1861, John Stuart Mill, Collected Works Band XV. Toronto 1986, Seite 738 John Stuart Milll, Brief an Samuel Woods vom 2. Juni 1867, John Stuart Mill, Collected Works Band XVI, Toronto 1986, Seite 1278. In seiner Autobiografie heißt es über den amerikanischen Bürgerkrieg: „ich fühlte von Anfang an, dass er für unabsehbare Zeiten einen Wendepunkt im Gang der menschlichen Angelegenheiten bedeuten würde.“ (Mill 1873: 217). Zur Trent-Affaire und der britischen Zeitungsberichterstattung vgl. Ferris (1977).

D  E  M

53

Berufung auf die Volkssouveränität das Recht auf Sezession zusprachen.38 Angesichts der Tatsache, dass der überwiegende Teil der billigen Baumwolle für die textilverarbeitende Industrie in England aus den Sklavenlatifundien der Südstaaten stammte und sich eine militärische Blockade der Handelsschiffe durch die Marine der Nordstaaten sofort in den Fabriken von Manchester und anderen Textilregionen bemerkbar machen würde, äußerte sogar Premierminister Gladstone öffentlich seine Sympathie und Unterstützung für den Süden. In seinem Artikel nimmt Mill den überstandenen Konflikt mit den Nordstaaten nicht nur zum Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Kritik an der englischen Außenpolitik gegenüber den amerikanischen Bürgerkriegsparteien, sondern auch für eine erneute generelle Auseinandersetzung mit der Sklaverei. Mill zufolge gibt es nur einen einzigen Grund für den Bürgerkrieg in den USA: das Beharren der Südstaaten auf der Sklaverei. Sämtliche anderen angeführten Gründe für diesen Krieg sah er als argumentatives Beiwerk oder Camouflage: „Die Welt weiß, was das Problem zwischen dem Norden und dem Süden über viele Jahre hinweg war und immer noch ist. Man dachte ausschließlich an die Sklaverei“ (262). Ausführlich schildert Mill seinen Lesern die Zwangslage, in der sich die Sklavenwirtschaft in den Südstaaten befindet. Da die auf den Sklavenplantagen betriebene Bauwollwirtschaft eine Monokultur sei, bleibe sie darauf angewiesen, regelmäßig neue Böden zu erschließen und zu nutzen. In ihrer Suche nach neuen Böden drängten die Südstaaten auf eine Ausweitung der Sklaverei auf weitere Gebiete des nordamerikanischen Kontinents. Diese Zwangslage hätten auch die politischen Akteure im Norden erkannt, weshalb sie die Ausbreitung der Sklaverei mit dem Ziel verhindern wollten, ihr insgesamt ein Ende zu bereiten. Für Mill entscheidet der Ausgang des amerikanischen Bürgerkriegs nicht nur über den Fortbestand der Union, sondern auch darüber, ob der Norden die Beendigung der Sklaverei durchsetzen kann oder ob die Eliten in den Südstaaten die Sklaverei beibehalten und auf weite Teile des amerikanischen Kontinents und der Karibik ausweiten können. Für ein Zurück zum status quo ante sieht Mill keinen Spielraum. Die militärischen Chancen für den Sieg der Nordstaaten schätzt Mill optimistischer ein, als es die damalige öffentliche Meinung in England tat. Wichtig sei, dass der Bürgerkrieg nicht mit einem Kompromiss gestoppt wird, denn die aristokratischen Eliten in den Südstaaten würden sich auch längerfristig nicht von Worten überzeugen, sondern nur von Waffen überwältigen lassen. Gegen einen Kompromiss zu Lasten der versklavten Menschen in den Südstaaten macht Mill mit emphatischen Worten auf die positiven Folgen eines gerechten Krieges für ein Land und seine Menschen aufmerksam: „Ein Krieg […], der andere Menschen vor tyrannischer Ungerechtigkeit schützt, […] der des Volkes eigener Krieg ist und ehrenvoller Zwecke wegen freiwillig von ihm geführt wird, ist oftmals das Mittel seiner Erneuerung. Ein Mensch, der nichts hat, wofür er zu kämpfen bereit wäre, den nichts mehr kümmert als seine persönliche Sicherheit, ist ein elendes Geschöpf, das keine Möglichkeit besitzt, frei zu leben“ (272). England, das mit dem ‚Slave Act of 1807‘ erst den Handel mit Sklaven und mit dem ‚Slavery Abolition Act‘ die Sklaverei für das gesamte Empire abgeschafft hatte (allerdings mit der bezeichnenden Ausnahme der von der East India Company verwalteten Gebiete) und in der internationalen Politik 38

Zur Unterstützung der Südstaaten durch englische Radikale vgl. Collini (1991: 140-143).

54

E: J S M – E  I

die Rolle des Hüters der Sklavenbefreiung beanspruchte, habe gar keine andere moralische Option, als den Norden im Bürgerkrieg zu unterstützen. Der Artikel von Mill wurde nicht nur in England, sondern auch in Neu-England nachgedruckt und fand allein in Boston mehrere Neuauflagen als Broschüre (vgl. Robson 1984: lxiv). Mill fügte ‚Die Auseinandersetzung in Amerika‘ nach Ende des Bürgerkrieges in den 1867 erschienenen dritten Band seiner ‚Dissertations and Discussions‘ ein. Am Text nahm er keine inhaltlichen Änderungen vor, fügte allerdings in einer (in unsere Edition aufgenommenen) Fußnote ein Zitat hinzu, in der ein Leser seines Artikels die Ziele und Aktionen der amerikanischen Abolitionisten positiver darstellt, als Mill dies getan hatte.

Die Macht der Sklaverei (1862) Acht Monate nach dem ersten Artikel zum amerikanischen Bürgerkrieg erschien als nächster Aufsatz ‚Die Macht der Sklaverei‘. Er erschien im Oktoberheft der ‚Westminster Review‘ und liest sich auf den ersten Blick wie eine bloße Zusammenfassung und Aneinanderreihung von Zitaten aus dem gleichnamigen Buch ‚The Slave Power‘ von John Elliot Cairnes. Mill hatte den fast 20 Jahre jüngeren irischen Ökonomen Cairnes kurz zuvor im Londoner ‚Political Economy Club‘ kennen gelernt und sich schnell mit ihm angefreundet, da beide ganz ähnliche Ansichten über den Utilitarismus, die Lösung des Irland-Problems, die Politische Ökonomie und – wie sich bald herausstellte – die Unterstützung der Nordstaaten in den USA hatten. Mill ermunterte Cairnes, eine ausführlichere Analyse der ökonomischen Hintergründe der Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten vorzulegen, und kommentierte Cairnes Thesen in Gesprächen und Briefen (vgl. Reeves 2007: 323f). Als das Buch im Herbst 1862 auf den Markt kam, nahm Mill dies sofort zum Anlass für seinen gleichnamigen Artikel, von dem er sich versprach „hinsichtlich der englischen Einstellung zu diesem Thema ein neues Kapitel aufschlagen zu können.“ (274). Ausführlich skizziert Mill hier noch einmal die prekäre Zwickmühle, in welche die Sklavenwirtschaft in den Südstaaten der USA gelangt sei. Und erneut verurteilt er die Sklaverei aus moralischen Gründen mit starken Worten. Zusätzlich zeigt er unter Berufung auf das Buch von Cairnes auf, dass es auch aus ökonomischen Gründen nicht sinnvoll sei, in den Südstaaten der USA an der Sklaverei festzuhalten. Der einzige ökonomische Vorteil der Sklaverei sei, dass sie sich vollständig durchorganisieren lasse. Das sei zugleich aber auch die Achillesferse für eine weitere wirtschaftliche Entwicklung der Südstaaten: „Ihre Mängel bestehen darin, dass sie widerwillig geleistet wird, keine qualifizierte Arbeit ist und ihr die Flexibilität fehlt“ (277). Sklaven könne man noch nicht einmal die einfachsten Maschinen anvertrauen, da sie keine Motivation haben, deren Technik verstehen zu wollen. Auch in Manufakturen ließen sie sich nicht beschäftigen. Anders als ein Sklave rechne der Lohnarbeiter. Ihm könne man mit Aussicht auf einen höheren Lohn einen starken Anreiz geben, sich weiter zu qualifizieren und damit sehr viel produktiver zu arbeiten. Mit Cairnes hebt Mill mehrere Unterschiede zwischen der Sklavenwirtschaft in der Antike und in den Südstaaten der USA hervor. Besonders betont er, dass die zeitge-

D  E  M

55

nössische Sklaverei kein mittelalterliches Rudiment sei, sondern dass sie erst aus der immensen Entwicklung des internationalen Handels der letzten Jahrzehnte erwachsen sei und sich zu einem organisierten System auf internationaler Ebene entwickelt habe. Angesichts dieser Tatsache sei es umso wichtiger, dass England als Führungsmacht auf den Weltmeeren eine aktive Rolle im Kampf gegen die Sklaverei einnimmt und sich mit den amerikanischen Nordstaaten mit dem Ziel verbündet, den internationalen Sklavenhandel auf den Weltmeeren zu unterbinden. In geradezu wütenden Worten kritisiert Mill die öffentliche Meinung in England. Fast nichts sei übrig geblieben von der stolzen englischen Tradition, in der man sich zu Anfang des Jahrhunderts gegen die Sklaverei entschieden habe. Mittlerweile sei es zu einer „befremdliche[n] Verkehrung der Geisteshaltung“ (289) gekommen. Insbesondere der ‚Times‘ hält er vor, in ihrer Berichterstattung mit der Südstaatenoligarchie zu paktieren. Die Südstaatler würden vor „Hochmut, Eigensinn, […] Selbstgefälligkeit [und] fanatischer Inbrunst“ (287) nur so strotzen. Ihnen gegenüber glaubt Mill nicht an die Macht von überzeugenden Worten. Gegen die moralische Ignoranz und die egoistischen Interessen der Sklavenhalter könne die Kraft des besseren Arguments nichts ausrichten. Entschieden unterstützt Mill alle Erfolg versprechenden Formen des Widerstandes – auch die Anwendung von Gewalt – gegen die Regierenden in den Südstaaten39 und stellt einmal mehr die moralische Mission der Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg heraus. Auch wenn Mill mit Cairnes und einigen anderen Aktivisten eine laute Stimme zugunsten der Nordstaaten in der englischen Debatte über den amerikanischen Bürgerkrieg war, war er mit seinen Ansichten ein Außenseiter in der britischen Öffentlichkeit. Dies brachte ihn jedoch nicht zum Schweigen. Im Gegenteil. Mehrfach nahm er an Demonstrationen und Versammlungen in London teil, in denen die britische Regierung zur Unterstützung des Nordens aufgerufen wurde. Mill sah in der Stellungnahme Englands zum amerikanischen Bürgerkrieg den moralischen Testfall für das Land, den zumindest er bestehen wollte. Sein öffentliches Engagement in der amerikanischen Frage veränderte das Bild, das viele Zeitgenossen von Mill hatten. „For the first time“, so fasst sein Richard Reeves die Reaktionen vieler Freunde und Bekannter Mills zusammen, „he was seen as a fervent polemicist rather than a careful thinker“ (Reeves 2007: 337). Mill geriet in den Ruf eines Exzentrikers und nicht wenige Freunde und politische Weggefährten rückten von ihm ab. Zumindest an der Oberfläche zeigte er sich von solchen Reaktionen unbeeindruckt. Anstatt sich nach seinen politischen Interventionen wieder primär mit theoretischen Fragen der Philosophie, Erkenntnistheorie oder Ökonomie zu beschäftigen, verstärkte er seine öffentliche Polemik in den folgenden Jahren, und sah sich durch den siegreichen Ausgang des amerikanischen Bürgerkrieges für den Norden und den späten Meinungsumschwung der englischen Öffentlichkeit zugunsten des Nordens in seinem kämpferischen Engagement letztlich bestätigt. Mill verzichtete für die englische Ausgabe seiner Artikelsammlung ‚Dissertations and Discussions‘ von 1867 zwar auf den Text ‚Die Macht der Sklaverei‘, er ließ ihn aber nur 39

Zur Rechtfertigung politisch motivierter Gewaltakte bei Mill mit Blick auf die USA vgl. Williams (1989: 108f).

56

E: J S M – E  I

um einige wenige Satzfehler verbessert in die in Boston erscheinende amerikanische Ausgabe von ‚Dissertations and Discussions‘ aufnehmen. Zuvor war der Aufsatz 1862 schon beim Verlag Crowen in New York als Broschüre erschienen und wurde mehrfach neu aufgelegt.

England und Irland (1868) Ein zweites großes Thema, bei dem Mill auf Konfrontation mit der öffentlichen Meinung in England ging, war die Irland-Frage.40 Auf der irischen Insel reicht die anglo-normannische Invasion, bei der die indigene Bevölkerung von ihrem Land vertrieben wurde, bis ins 15. Jahrhundert zurück. Ebenso lange wird auch von Widerstandsaktionen auf irischer Seite berichtet. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts betrieb die englische Krone eine systematische und massenhafte Ansiedlung von protestantischen Engländern und Schotten auf der irischen Nachbarinsel und übte eine Art Kolonialherrschaft über die indigene katholische Bevölkerung aus. Große Teile des Landes waren im Besitz englischer Aristokraten, die das Land an irische Bauern verpachteten. Nach der irischen Rebellion 1798 wurde Irland 1801 formell mit dem ‚Act of Union‘ zu einem integralen Teil Großbritanniens erklärt, womit die britische Regierung eine staatsrechtliche Konstruktion gefunden hatte, um ausländische Unterstützer von irischen Widerstandskämpfern als Invasoren verfolgen zu können. Mills frühes politisches Interesse an der Irland-Frage ist dokumentiert durch einen Artikel, ‚Ireland‘, den er im Alter von 19 Jahren schrieb. Mill berichtet darin ausführlich über die parlamentarischen Debatten in London zur Irland-Frage und holt zu einer „radical attack“ (Robson 1982: lvii) gegen die englische Unterdrückung der Iren aus (vgl. Mill 1826). Über zwanzig Jahre später widmete er sich erneut der irischen Frage. Zwischen 1845 und 1849 hatte die Kartoffelfäule große Teile der irischen Kartoffelernte, die die Ernährungsbasis der irischen Landbevölkerung war, vernichtet. In der Folge breitete sich über das gesamte Land eine Hungerkatastrophe aus, bei der eine Million Iren starben (12 Prozent der Bevölkerung), während die britische Regierung an ihrer Politik des laissezfaire festhielt und sich weigerte, Nahrungsmittel zu verteilen. Gleichzeitig exportierten die englischen Kolonialherren von Irland aus weiter Getreide auf die Nachbarinsel, und es wanderten zwei Millionen Iren nach Amerika aus. Mill war über die Politik der britischen Regierung empört und nahm an der publizistischen Debatte, wie mit der Krise in Irland umzugehen sei, lebhaft Anteil. Die Hungernsnot war ausgebrochen, als er mitten in seiner Arbeit an seinem Buch ‚Principles of Political Economy‘ vertieft war. Von Oktober 1846 bis Januar 1847 mischte er sich mit einer Serie von insgesamt 43 Artikeln in der Tageszeitung ‚The Morning Chronicle‘ selbst aktiv in die öffentliche Debatte ein. Für Mill war die irische Hungerkatastrophe, wie er zu Beginn des ersten Artikels seiner Serie schrieb, „the most unqualified instance of signal failure which the practical genius of the English people has exhibited” (Mill 1846a: 880). Seiner Meinung nach konnte eine längerfristige 40

Für weiterführende Lektüren zu Mills Engagement zu Irland sind Steele (1970a und b), Zastoupil (1983) und Kinzer (2001) zu empfehlen.

D  E  M

57

Lösung des Problems nur darin bestehen, dass die englische Regierung eine Neuverteilung der unkultivierten Ländereien vornahm, die im Besitz englischer Aristokraten waren, und sie mit Hilfe großer Trockenlegungsprojekte für den Ackerbau urbar machte. Mit solchen Maßnahmen ließen sich nicht nur unzählige Leben retten, sondern als eine Art Wiedergutmachungsgeste möglicherweise auch die Herzen der darbenden und unterdrückten Iren gewinnen: „We want something which maybe regarded as a great act of national justice – healing the wounds of centuries by giving, not selling“ (Mill 1846b: 929). Direkte Hungerhilfen allerdings lehnte auch Mill in diesen Artikeln ab. „We must give over telling the Irish that it is our business to find food for them. […] We must tell them, now and forever, that it is their business“ (Mill 1846c: 946). Zugleich sprach sich Mill auch gegen die Auswanderung der Iren in die USA aus. Warum solle man den Iren Land an einem anderen Ende des Globus überlassen, wenn es in Irland doch noch genügend urbar zu machende Flächen gebe? Gleichzeitig blieb Mills Stellungsnahme zur Auswanderungsfrage von seiner Zivilisationstheorie beeinflusst, denn hinter seiner Ablehnung stand auch eine pointierte Einstufung des kulturellen Niveaus der auswanderungswilligen Iren: „it is not well to select as missionaries of civilization a people who, in so great degree, yet maintain to be civilized.“ (Mill 1846d: 915). Der Angriff von Mill auf die Eigentumsansprüche der englischen Aristokraten auf der irischen Nachbarinsel stieß bei der konservativen ‚Times‘ wie auch bei der überwiegenden Mehrheit der Parlamentarier in London auf heftig ablehnende Reaktionen. In der englischen Öffentlichkeit überwogen Meinungsäußerungen zur irischen Katastrophe, nach denen das katholische Irland schlicht überbevölkert sei, die Iren somit selbst Schuld an ihrer Misere seien und jederzeit die Möglichkeit hätten, durch die Emigration auf die andere Seite des Atlantiks ein besseres Los zu wählen. Mill, dem seine Biografen ein gutes Gespür dafür attestieren, wie weit er in der Öffentlichkeit mit Argumenten und Vorschlägen gehen konnte, um sein Publikum nicht derart massiv vor den Kopf zu stoßen, dass es unempfänglich für das wurde, was er politisch durchsetzen wollte (vgl. Reeves 2007: 181, Kinzer 2007: 185f.), verzichtete nach den durchweg ablehnenden Reaktionen in der englischen Öffentlichkeit darauf, einen während dieser Monate ebenfalls verfassten weiteren Artikel mit dem programmatischen Titel ‚What Is to be Done with Ireland?‘ zu publizieren und ließ ihn für eine bessere Gelegenheit zur Publikation liegen (vgl. Robson 1982: lx). Mill bezeichnet das britische Regiment in Irland darin als Werk englischer Ignoranz und Überheblichkeit, als Ausplünderung der indigenen Bevölkerung und als Schande für die gesamte Menschheit. Die aktuelle Hungerkatastrophe sei eine voraussehbare Folge der unhaltbaren Eigentumsverhältnisse in Irland, „that vicious state having been protected and perpetuated by a wrong and superstitious English notion of property in land“ (Mill 1848b: 502). Die Versuche Mills in den 1840er Jahren, mit Reformvorschlägen zum Thema Irland die britische Regierung beeinflussen zu können, erwiesen sich, wie er auch in seiner Autobiographie rückblickend unumwunden einräumte, als totaler Fehlschlag (vgl. Mill 1873: 191f). Biografisch mündete dieser Fehlschlag in eine Lebensphase, in der Mill unter dem Gefühl politischer Einflusslosigkeit litt. Inhaltlich änderte er seine Positionen zur irischen Landreform allerdings nicht. Sie fanden sich in den verschiedenen Auflagen seiner ‚Principles of Political Economy‘ wieder, wo er große Ähnlichkeiten zwischen der irischen und indischen Agrarstruktur entdeckte (vgl. Mill 1848a: 321-337), und bildeten

58

E: J S M – E  I

die argumentative Basis für neue öffentliche Stellungnahmen zur Irland-Frage, mit denen Mill nach einem zeitlichen Abstand von weiteren 20 Jahren einen erneuten Anlauf nahm. Den richtigen Zeitpunkt, zu dem Mill die irische Frage öffentlich wieder ansprach, sah er mit seiner Wahl ins Unterhaus gekommen. Gleich in seiner zweiten Parlamentsrede im Februar 1866 griff er das Thema auf. Mittlerweile hatten sich die politischen Fronten auf beiden Seiten verhärtet. In Irland hatten die Feniasten, eine Gruppe innerhalb der irischen Unabhängigkeitsbewegung, die finanziell von in den USA lebenden Iren unterstützt wurde, mit Sabotageakten und mehreren Attentaten dem Konflikt eine zusätzliche militante Note gegeben. In ihrer Reaktion auf diese Gewaltakte suspendierte die liberale Regierung die Habeas Corpus Akte und räumte den Polizeibehörden das Recht ein, alle des Terrorismus Verdächtigten ohne gerichtliche Anhörung für ein Jahr im Gefängnis festhalten zu können. Mill sprach sich im Parlament, wenn auch vergeblich, strikt gegen das Sondergesetz aus. Ein solches Gesetz, so begründete er seine Ablehnung, sei eine unangemessene Freiheitsberaubung und „a cause of shame and humiliation to this country“ (zit. nach Reeves 2007: 395), weil jeder ausländische Beobachter der politischen Verhältnisse in Irland den Eindruck gewinnen müsse, Irland sei ein Land, das sich nur noch mit brutaler Macht von den Engländern regieren lasse. Mills Rede stieß auf breite Empörung. Nach Ansicht der meisten Zuhörer hatte er die britische Regierung stärker verurteilt als die irischen Gewalttäter. Freunde rieten ihm, zum Thema Irland in der Öffentlichkeit am besten einfach zu schweigen (vgl. Thompson 2007: 180f.). Doch im Mai 1867 wurde Mill erneut in der Irland-Frage aktiv. Er übernahm die Führung einer Delegation, die den Außenminister Earl of Derby in einem Gespräch in kleiner Runde davon überzeugen wollte, die Todesstrafe gegen Thomas ‚General‘ Burke, einen der militanten Führungskader der Nationalistenbewegung auf der irischen Insel, in eine Gefängnisstrafe umzuwandeln. Die harte Bestrafung des charismatischen irischen Nationalisten würde, so Mills pragmatisch vorgetragenes Argument, Burke in Irland zu einem Märtyrer machen und völlig unnötigerweise nur noch mehr Gewaltakte heraufbeschwören. Auf einer mit über 3000 Zuhörern überfüllten Versammlung am Abend des 25. Mai in der Londoner St. James Hall schlug Mill einen weniger auf Ausgleich gerichteten Ton an. Er ließ seiner Enttäuschung und Wut auf die englische Irlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte in seiner Rede freien Lauf. Er sprach England jedes moralische Recht ab, seine Herrschaft über Irland auszuüben, solange es nicht bereit sei, Irland und seine Bevölkerung in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Mill zeigte auch Verständnis für die zunehmende Militanz der irischen Nationalisten: „Their patience is worn out, and in most desperate circumstances they endevour to get rid of what they think misgovernment at the risk of their lives“ (zit. nach Reeves 2007: 396). Mills Rede wurde von den Zuhörern stürmisch gefeiert. Burkes Todesstrafe wurde kurz darauf ausgesetzt und Mill wurde in Irland dafür gerühmt, dazu entscheidend beigetragen zu haben. Die politische Ruhe war aber nur von kurzer Dauer. Bereits im Herbst 1867 verschärfte sich der Konflikt weiter. Die Fenians hatten damit begonnen, den bewaffneten Kampf für die irische Unabhängigkeit auch auf die englische Mutterinsel zu tragen und verübten mehrere Bobenanschläge. Im Gegenzug ließen die britischen Behörden Führungsmitglieder der Fenianisten verhaften und zum Tode verurteilen. Für Mill war die Zunahme der Militanz kein Grund, in der Sache von seiner Kritik an der englischen Irland-Politik abzurücken. Im Gegenteil: Er sah in dem irischen Terrorismus etwas, womit

D  E  M

59

schon längst hätte gerechnet werden müssen. Zudem hatte Mill angesichts der eklatanten Ungerechtigkeit der englischen Herrschaft tatsächlich auch gewisse Sympathien für den gewaltsamen irischen Widerstand, äußerte diese aber lediglich vorsichtig gegenüber Freunden (vgl. Williams 1989: 107f.). Dies war die Situation, in der Mill im Februar 1868 die Broschüre mit dem Titel ‚England and Irland‘ veröffentlichte, deren Text sich in dieser Sammlung findet. In seiner Autobiografie schreibt Mill, dass er endlich den Zeitpunkt habe kommen sehen, an dem „es nützlich werden konnte, meiner Ansicht vollständig Ausdruck zu verleihen“ (Mill 1873: 240). Mill schildert in dem Artikel erneut die Unzufriedenheit und Illoyalität der Iren gegenüber England. Die Erklärung, darin nur einen „Makel oder Schwäche des irischen Charakters“ (297) zu sehen, lehnt er ab. Ihr stellt er die Sicht „liberale[r] Engländer“ entgegen, als Ursache für die Probleme eine Summe „fortbestehender Ungerechtigkeiten“ (297) zu diagnostizieren: „Eine Nation, die ihre Untergebenen auf diese Art behandelt, kann nicht erwarten, von ihnen geliebt zu werden.“ (297) Aber, so fragt Mill rhetorisch, hat es in der englischen Politik der letzten Jahre nicht große Fortschritte gegeben, und hat sich der Problemdruck nach Abklingen der Hungersnot und mit dem Einsetzen der Auswanderungswellen nicht längst entspannt? Mill verneint diese Fragen: Alle grundlegenden Probleme seien ungelöst geblieben, und die Unzufriedenheit auf irischer Seite habe sich eher noch verschärft. Die oberen Klassen Englands hätten sich in einem „Wolkenkuckucksheim“ (298) bequem eingerichtet und seien von den Anschlägen der Fenianisten wie durch einen Donnerschlag erschreckt worden. „So tödlich ist der Hass“ (298) bei ihnen, dass er allein mit dem Ziel, England zu schaden, keine Rücksichten auf eigene Verluste nehme. Auf irischer Seite habe sich die frühere Empörung zu einer „leidenschaftlichen Entschiedenheit“ (299) verhärtet und kenne nur ein Ziel: die Engländer sollten gehen und das Land zukünftig von ihrer Anwesenheit verschonen. Als Ursache für die Unfähigkeit der Engländer, Irland und den aktuellen Widerstand zu verstehen, führt Mill das übertriebene englische Selbstbewusstsein an. Es bilde sich „keine andere zivilisierte Nation so viel auf die eigenen Institutionen und auf all ihre öffentlichen Verkehrsformen ein, wie die englische“ (300). Mill führt aber auch soziale Gründe für die mentalen Differenzen an, denn „keine andere zivilisierte Nation [ist] bezogen auf den Charakter ihrer Geschichte so von Irland verschieden oder so anders hinsichtlich der Grundlagen ihrer Sozialwirtschaft“ (300) wie die englische. Im Unterschied zu England sei Irland immer noch ein reines Agrarland. Während in England nur noch ein Drittel aller Bevölkerung von der Landwirtschaft lebe, sei es in Irland ähnlich wie auch in Russland nahezu die gesamte Bevölkerung. Deshalb hat für Mill die von ihm seit 40 Jahren unermüdlich thematisierte Landeigentumsfrage vor allen anderen Fragen überragende Bedeutung für Irland. Mill erneuert den von ihm favorisierten Landreformvorschlag und bettet ihn in eine gezielte politische Provokation ein, wenn er an den irischen Aufstand von 1797 und die Revolutionskriege gegen Frankreich erinnert. Fast wäre es den Franzosen mit ihrem charismatischen Revolutionsgeneral Luis Lazare Hoche gelungen, mit seiner Flotte in Irland anzulanden und die irischen Unabhängigkeitskämpfer zu unterstützen. Was, so fragt Mill maliziös, hätte General Hoche – wenn das Wetter die erfolgreiche Anlandung ermöglicht hätte – wohl mit Irland getan? Nun, die Pläne der französischen und irischen Revolutionäre sahen für diesen Fall vor, die englischen Großgrundbesitzer zu vertreiben und die Ländereien unter den irischen

60

E: J S M – E  I

Bauern aufzuteilen. Und dies, so Mill, sei richtig gewesen: „Was Hoche für den irischen Bauern oder seinesgleichen getan hätte, bleibt immer noch zu tun.“ (307). Bei der Lektüre dieser Passagen gelangt man zu der Erwartung, Mill würde sich für die Sezession Irlands aussprechen. Doch im geschickten argumentativen Aufbau von geradezu „ciceronischer Spielart“ (Hummel 2011: 60) macht Mill die Argumente für die irische Unabhängigkeit nur so stark, wie er sie anschließend übertrumpfen kann. Eine „vollständige oder eingeschränkte Trennung beider Länder“ (310) sei falsch, denn sie bedeute „Schmach des einen und […] gravierendes Missgeschick beider“ (310). Eine vollständige irische Unabhängigkeit könne schon aufgrund der geografischen Lage nicht im Interesse der beiden Inseln sein. Irland müsse als unabhängiger Staat das Bedürfnis nach militärischen Verbündeten verspüren und gerate deswegen mit ziemlicher Sicherheit in den Einflussbereich Frankreichs. Damit aber sei es notorisch in die Konflikte zwischen diesen beiden größeren Mächten hineingezogen. Eine solche Konstellation könne weder im Interesse Englands noch Irlands sein. Mill spricht sich aber auch gegen „ein enges Bündnis und eine dauerhafte Konföderation“ (312) zwischen einem eigenständigen Irland und England aus. Eine Konföderation könne nur zwischen „Völkern, welche gleiche Interessen und Empfindungen hegen“ (312) bestehen. Das sei in diesem Fall nicht zu erwarten, da bei jedem kontinentaleuropäischen Konflikt „die Sympathien der Engländer auf Seiten des Liberalismus, hingegen die Irlands mit Sicherheit auf Seiten des Papstes“ (312) – mit anderen Worten: auf Seiten des Unterdrückers eines jeden gesellschaftlichen Fortschritts – lägen. Schließlich verwirft Mill auch die Einrichtung eines „bloßen personalen Bandes mit der britischen Krone“ (313), wie es England mit Kanada gefunden hatte. Eine solche Konstruktion sei eine „Degradierung“ (313) Irlands. Mill zufolge sprechen auch innenpolitische Gründe in Irland dagegen, den Schritt in die Unabhängigkeit zu gehen. Einem unabhängigen Irland werde es kaum gelingen, eine „reguläre und ordentliche Regierung“ (311) aufzubauen; eher müsse erwartet werden, dass es durch eine „Phase teilweiser Anarchie hindurch müsste“ (311). Auch ein Bürgerkriegsszenario zwischen Protestanten und Katholiken könne Mill zufolge nicht ausgeschlossen werden. Mill plädiert deshalb dafür, staatsrechtlich alles beim Alten zu belassen, in Irland aber eine grundlegende Landreform durchzuführen. Er spricht sich für den Staat als Eigentümer und wirtschaftlichen Akteur aus, dem die Übernahme des Landes und dessen Verteilung als Pachtland an die irischen Kleinbauern obliegen solle. Die irischen Bauern benötigten die Garantie, dass sie als Pächter ihre Parzellen auch dann behalten können, wenn sie anfangs in wirtschaftliche Probleme geraten. Diese Garantie könne nur eine kraftvolle staatliche Aktivität bieten. Mill sah in dieser Form der Verstaatlichung ein Äquivalent zur Schaffung von kleinbäuerlichem Eigentum, welches „eine doppelt so hohe Produktivität erbringt“ (317) wie der vorherige Großgrundbesitz. Es bedürfe zudem weiterer staatlicher Wirtschaftsförderungen in Irland. Der Markt allein könne dies nicht schnell genug leisten: „Vorschüsse für Entwässerungsmaßnahmen und andere Verbesserungen sind in einem so armen und rückständigen Land wie Irland ökonomisch zulässig.“ (320). Besonderen Wert legte Mill auf die symbolische Anerkennung Irlands als einem zukünftig gleichberechtigten Teil des Empire: Der britische Thronerbe sollte fortan „jährlich für eine gewisse Zeit in Dublin residieren und Hof halten“ (320).

E  I   H

61

In seiner Autobiografie schrieb Mill über die Reaktionen auf ‚England und Irland‘ rückblickend lakonisch: „Die Schrift fand außer in Irland keine günstige Aufnahme.“ (Mill 1873: 240). Bezüglich der Reaktionen in der englischen Öffentlichkeit war diese Äußerung eine höfliche Untertreibung. Mit keiner seiner tagespolitischen Schriften war er bis dato in der englischen Öffentlichkeit auf solch heftige Ablehnung und so starken Widerspruch gestoßen. Selbst in etablierten Zeitungen wie der ‚Times‘, dem ‚Spectator‘ und dem ‚Economist‘ wurde Mill erbost vorgehalten, England zu beleidigen, den irischen Terrorismus zu unterstützen, sich als Kommunist entlarvt zu haben und geistig umnachtet zu sein.41 Mills Broschüre wurde zu einem öffentlichen Diskurs-Ereignis ersten Ranges. Sie wurde in Zeitungen diskutiert, und Mills Thesen waren Thema einer kontroversen Debatte im englischen Parlament (vgl. Black 1960: 59-63). Allein 1868 erschienen in England drei Neuauflagen und eine weitere im folgenden Jahr. Auch in Irland und in den USA fand die Broschüre hohen Absatz und war Thema in den dortigen Zeitungen. Erst mit etwas zeitlichem Abstand lichteten sich die Nebel der unübersichtlichen Debatte in der englischen Öffentlichkeit zum Thema Irland. Mills Aufsatz wurde, wie ein englischer Historiker rückblickend feststellte, zur „probably most influential single contribution“ (Black 1960: 53) der Debatten in England zur Reform der bisherigen IrlandPolitik. Mill erlebte noch, dass einige seiner Überlegungen beim liberalen Premierminister Gladstone auf positive Resonanz stießen, und er schrieb sich nicht ohne Stolz zu, mit seinen Forderungen eine Bresche für eine neue Betrachtungsweise des Irland-Problems in der englischen öffentlichen Meinung geschlagen zu haben. Als erstes legislatives Ergebnis der angefachten Reformdebatte brachte Gladstones ‚Irish Land Act‘ 1870 den irischen Pächtern mehr Garantien für ihr Ackerland. Acht Jahre nach Mills Tod wurden 1881 in einem zweiten ‚Irish Land Act‘ weiter gehende Schutzrechte für die irischen Pächter verabschiedet, bei deren Diskussion im Unterhaus die Argumente aus Mills 13 Jahre alten Broschüre erneut eine wichtige Rolle spielten (vgl. Steele 1970b). Insgesamt und auf längere Sicht allerdings konnte Mill mit seinen Überlegungen den Kurs der englischen Irland-Politik nicht in größerem Umfang beeinflussen. In dieser Sammlung ist der Text ‚England und Irland‘ in der Fassung der fünften englischen Auflage abgedruckt. Gegenüber den Fassungen von 1868 enthält sie keine Änderungen (außer weniger Fehlerverbesserungen), aber eine ergänzende Fußnote von Mill, in der er auf einige Kritiker seines Vorschlages zur Landreform eingeht. Diese Fassung hat Mill später auch in den dritten Band seiner ‚Dissertations and Discussions‘ übernommen.

Ein liberaler Intellektueller im politischen Handgemenge Das kontroverse und debattierende Moment der in diesem Band präsentierten Artikel von Mill lässt ihn als einen durchgängig dialogischen Denker erkennen. Häufig machte er von Argumenten anderer Gebrauch, referierte sie, modifizierte sie, nutzte Teile von ihnen strategisch für seine eigenen Ziele oder wendete sie genüsslich gegen ihre Urhe41

Zu diesen Reaktionen vgl. Reeves (2007: 398ff).

62

E: J S M – E  I

ber. Gern verwendete Mill Analogien als Mittel der Überzeugungsarbeit und Metaphern zur Illustration.42 Selbst die Tonart und den Zeitpunkt seiner öffentlichen Interventionen versuchte Mill im Vorfeld zu berechnen und dabei genau abzuschätzen, wie weit er argumentativ gehen könnte, um die Überzeugungen seines Publikums ändern zu können.43 Dabei war die gesellschaftliche Konformität seiner Positionen kein Kriterium für ihn. Im Gegenteil – Mill stilisierte sich mit seinen Ansichten gern als unkonventioneller Außenseiter auch dann, wenn seine Positionen gar nicht so weit abseits des damaligen Mainstreams lagen. Es ist deshalb nicht immer leicht, bei der Lektüre herauszufinden, worin genau Mills eigene Position bestand und an welchen Stellen er taktische Rücksichten genommen, Übertreibungen vorgenommen oder rein strategisch motiviert argumentiert hat. John Stuart Mill wäre nicht er selbst, wenn er nicht den Anspruch gehabt hätte, auf jede von ihm als wichtig erachtete Frage seiner Zeit in der Öffentlichkeit eine Antwort zu geben. Letztlich wollte er mit seinen publizistischen Interventionen Antworten auf die zwei zentralen Grundfragen einer jeden politischen Ethik und politischen Philosophie geben: Wie und nach welchen Maßstäben soll ich leben? Und wie und nach welchen Maßstäben sollen wir unser notwendiges Zusammenleben organisieren? Die Antworten, die Mill in seinen Schriften, Reden und Briefen während seiner fast 50 Jahre währenden produktiven Zeit auf diese Fragen gefunden hat, sind in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens weisen sie in ihrer gleichsam ‚intuitiven Tiefenstruktur‘ ein auffälliges Maß an Kontinuität auf; denn auch wenn Mill im langen Zeitraum zwischen 1825 und 1873 seine Position beispielsweise zum Sozialismus, zur IrlandFrage oder zum geheimen Wahlrecht revidiert hat, verbleiben seine neu formulierten Positionen innerhalb eines fest umrissenen Begründungszusammenhangs. Zweitens weisen Mills Antworten in ihrer thematischen Vielfalt eine mindestens ebenso bemerkenswerte interne Kohärenz auf, die sich zu einer umfassenden Vision eines ‚gehaltvollen Liberalismus‘ verdichten lassen und welche die Unterschiede zu seinen liberalen Vorgängern im 18. Jahrhundert sowie zum modernen Liberalismus im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts deutlicher als in seinen bislang im deutschsprachigen Raum bekannteren Schriften hervortreten lassen. Die Beiträge in dieser Sammlung lassen John Stuart Mill als einen Liberalen erkennen, dem es nicht auf die ethische Neutralität seiner Begründung ankommt. Mit seinem anthropologischen Bekenntnis zum Perfektionismus setzt er sich dafür ein, dass jeder Mensch befähigt wird, sich in möglichst vielen Hinsichten kulturell weiter zu entwickeln; auch der Staat und die anderen politischen Institutionen sollen diesem Ziel dienen. Mill ist kein Liberaler, der der individuellen Freiheit grundsätzlich den Vorzug vor dem Kollektiv einräumt. Mit seinem republikanischen Bekenntnis zur gemeinschaftlichen Verantwortung und politischen Partizipation setzt er sich für eine Ordnung des politischen Gemeinwesens ein, die alle Bürgerinnen und Bürger dazu anhält, sich aktiv in dessen Belange einzumischen. Bis heute hat John Stuart Mill in der politischen Philosophie und in der politischen Ideengeschichtsschreibung wenig von seiner facettenreichen Rezeption verloren. Seine 42 43

Zu Mills Argumentationsstil in seinen Artikeln vgl. Collini (1984: iix-xv). Beispiele finden sich bei Collini (1984: xiif.) und Reeves (2007: 434f.).

E A

63

Thesen, Überlegungen und Begründungen reizen regelmäßig zu Kontroversen. Die genauen Konturen von Mill als politischen Theoretiker lassen sich allerdings erst dann erkennen, wenn man nicht nur seine ‚großen‘ philosophischen und politiktheoretischen Schriften zur Hand nimmt, sondern zusätzlich einen Blick auf Publikationen wirft, in denen er sich beherzt in politische Tagesfragen einmischt und die Rolle eines ‚public intellectual‘ einnimmt. Wir möchten der deutschsprachigen Leserschaft diesen John Stuart Mill näher bringen und dazu ermuntern, sich von hier aus erneut mit seinen bereits bekannteren Werken zu beschäftigen.

Editorische Anmerkungen Diese Sammlung enthält insgesamt 11 Beiträge von John Stuart Mill. Zwei von ihnen sind bereits zu seinen Lebzeiten auf Deutsch erschienen. Die anderen neun Beiträge erscheinen in diesem Band erstmals vollständig auf Deutsch. Diese Übersetzungen stammen von Veit Friemert und Shivaun Conroy. Die Herausgeber sind den beiden Übersetzern für ihre gründliche Arbeit sehr dankbar. Als Grundlage für die Übersetzungen dienten die Textfassungen der von John M. Robson herausgegebenen ‚Collected Works of John Stuart Mill‘ (Toronto: Routledge), die zwischen 1963 und 1991 in 33 Bänden erschienen sind. Der Artikel ‚Zivilisation – Zeichen der Zeit‘ findet sich unter dem Titel ‚Civilisation‘ in der Übersetzung von Eduard Wessel in John Stuart Mill, ‚Vermischte Schriften. Politischen, philosophischen und historischen Inhalts‘, Band 1 (Fues’s Verlag: Leipzig 1874, Seite 1–39) und wurde erneut von Leonore Rapp in Auszügen übersetzt und als eigenständige Schrift veröffentlicht (München 1919: Dreiländerverlag). Auch der Artikel ‚Die Rechtsansprüche der Arbeit‘ ist erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Eduard Wessels in John Stuart Mill, ‚Vermischte Schriften. Politischen, philosophischen und historischen Inhalts‘, Band 2 (Fues’s Verlag: Leipzig 1875, Seite 68–96) erschienen. John Stuart Mill konnte Deutsch lesen und bekam Wessels Arbeit kurz vor seinem Tod zur Begutachtung vorgelegt; beide Übersetzungen Wessels tragen deshalb das Prädikat „mit Genehmigung des Verfassers“ auf dem Titelblatt der Buchausgaben. In den in diesem Sammelband abgedruckten Texten von Mill gibt es drei Arten von Anmerkungen, die jeweils entsprechend gekennzeichnet sind: Anmerkungen von John Stuart Mill selbst, Anmerkungen der Übersetzer sowie Anmerkungen der beiden Herausgeber. Letztere orientieren sich stark an den editorischen Kommentaren und Anmerkungen der verschiedenen Herausgeber der einzelnen Bände aus der Werkausgabe von John M. Robson. In den von Eduard Wessel übersetzten Beiträgen finden sich in beiden Texten mehrere Passagen, die aus dem Englischen sinnentstellt übertragen worden sind. Die Texte wurden deshalb von den Herausgebern mit den Versionen der englischen Werkausgabe abgeglichen und an verschiedenen Stellen ergänzt, korrigiert oder umformuliert. Wo erforderlich, sind auch Anmerkungen und Begriffsdefinitionen in den Fußnoten ergänzt worden. In einigen Beiträgen haben die Herausgeber der ‚Collected Works‘ fehlende Seitenangaben zu von Mill zitierten Werken anderer Autoren in eckigen Klammern ergänzt.

64

E: J S M – E  I

Der Einheitlichkeit wegen wurden sie als Anmerkung der Herausgeber in die Fußnoten verlegt. Dies trifft z. B. auf den Beitrag ‚Zentralismus‘ bezüglich der von Mill zitierten Abhandlung ‚La centralisation‘ von Charles Brook Dupont-White zu. Eckige Klammern im Text beinhalten, wenn sie keine Auslassungen oder Ergänzungen meinen, Termini der Übersetzungsvorlage. Diese wurden von den Übersetzern zur besseren Verständlichkeit übernommen. In einigen Fällen wurden Termini ohne Übersetzung in den Text übernommen, kursiviert und durch Anmerkungen der Übersetzer ergänzt; so z. B. im Beitrag ‚Über Bildungsbeihilfen‘: Die verschiedenen Typen des englischen Schulsystems weichen zu sehr von deutschen Verhältnissen ab, weshalb eine Übersetzung hier irreführend wäre.

Literatur Ball, Terence 2000: The Formation of Character: Mill’s Ethology Reconsidered, in: Polity 33, 25-48. Baum, Bruce 2007: J. S. Mill and Liberal Socialism, in: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.), J.S. Mill’s Political Thought: A Bicentennial Reassessment. New York, 98–123. Birmbacher, Dieter 2010: Nachwort, in: John Stuart Mill, Utilitarismus. Stuttgart, 198-207. Black, R. D. Collison 1960: Economic Thought and The Irish Question, 1817-1870. Cambridge. Bluhm, Harald 2004: Die Zentralisierung der Macht im modernen Staat, in: Karlfriedrich Herb/ Oliver Hidalgo (Hg.), Alter Staat – Neue Politik. Tocquevilles Entdeckung der modernen Demokratie. Baden-Baden, 25–48. Bogues, Anthony 2005: John Stuart Mill and the ,Negro Question‘. Race, Colonialism, and the Ladder of Civilization, in: Andrew Valls (Hg.), Race and Racism in Modern Philosophy. Ithaca, 217-234. Brady, Alexander 1977: Introduction, in: John Stuart Mill, Essays on Politics and Society, Part 1. Collected Works XVIII. Toronto 1977, ix-lxxi. Buchstein, Hubertus 2000: Öffentliches und Geheimes Stimmrecht. Eine wahlrechtshistorische und ideengeschichtlichliche Studie. Baden-Baden. Buchstein, Hubertus 2013: Public Voting and Political Modernization, in Jon Elster (Hg), Public and Private. Cambridge/Mass. (im Erscheinen). Burns, J.H. 1957: John Stuart Mill and Democracy, 1929-1861, in: Political Studies 5, 281-294. Cain, Peter J. 2011: Bentham and the Development of the British Critique of Colonialism, in: Utilitas 23, 1-24. Carlyle, Thomas 1840: Chartism. London. Carlyle, Thomas 1843: Past and Present. London.

L

65

Carlyle, Thomas 1849: An Occasional Discourse on the Negro Question, in: Fraser’s Magazine for Town and Country XL, 670-679. Collini, Stefan 1984: Introduction. In: John Stuart Mill, Essays on Equality, Law, and Education. Collected Works XXI. Toronto, vii-lv. Collini, Stefan 1991: Public Moralists. Political Thought and Intellectual Life in Great Britain 18501930. Oxford. Donner, Wendy 1998: Mill’s Utilitarianism, in: John Skorupski (Hg.), The Cambridge Companion to Mill. Cambridge, 255-292. Ferris, Norman B. 1977: The Trent-Affair. A Diplomatic Crisis. Knoxville. Feuer, L. S. 1976: John Stuart Mill as Sociologist. The Unwritten Ethology, in: John M. Robson/ Michael Laine (Hg.), James and John Stuart Mill – Papers of the Centenary Conference. Toronto, 86-110. Gaulke, Jürgen 1996: John Stuart Mill. Reinbek. Habibi, Don 1996: John Stuart Mill’s Grand, Leading Principle, in: Iyyun. The Jerusalem Philosophical Quarterly 45, 79-104. Habibi, Don 1999: The Moral Dimension of John Stuart Mill’s Colonialism, in: Journal of Social Philosophy 30, 125-146. Hamburger, Joseph 1982: Introduction, in: John Stuart Mill, Essays on England, Ireland, and the Empire. Collected Works VI. Toronto, vii-lii. Harris, A. 1964: John Stuart Mill. Servant of the East India Company, in: The Canadian Journal of Economics and Political Science 30, 185-202. Helps, Arthur 1844: Claims of Labour, an Essay on the Duties of the Employers to the Employed. London. Himmelfarb, Gertrud 1962: Introduction, in: John Stuart Mill. Essays on Politics and Culture. New York, VII-XXIV. Holmes, Stephen 2007: Making Sense of Liberal Imperialism, in: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.), J.S. Mill’s Political Thought. A Bicentennial Reassesment. Cambridge, 319-146. Hummel, Siri 2011: Der Freiheitsbegriff John Stuart Mills im Kontext des Kolonialismus. Magisterarbeit an der Universität Greifswald. Jahn, Beate 2005: Barbarian Thoughts. Imperialism in the Philosophy of John Stuart Mill, in: International Studies 31, 599-618. Jahn, Beate 2009: Mill, Kant und der liberale Internationalismus, in: Olaf Asbach (Hg.), Vom Nutzen des Staates. Staatsverständnisse des klassischen Utilitarismus. Baden-Baden, 249-268. Kinzer, Bruce L. 2001: England’s Disgrace? John Stuart Mill and the Irish Question. Toronto.

66

E: J S M – E  I

Kinzer, Bruce L. 2007: John Stuart Mill Revisited. Biographical and Political Explorations. New York. Kitscher, Philip 1998: Mill, Mathematics, and the Naturalist Tradition, in: John Skorupski (Hg.), The Cambridge Companion to Mill. Cambridge, 57-111. Kluxen, Kurt 1985: Geschichte Englands. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart. Kohn, Margaret/O’Neill, Daniel 2006: A Tale of Two Indias: Burke and Mill on Empire and Slavery in the West Indies and America, in: Political Theory 34, 192-226. Kurer, Oskar 1989: John Stuart Mill on Democratic Representation and Centralization, in: Utilitas 1, 291–299. Kurfirst, Robert 1991: Beyond Mathusianism: Demography and Technology in John Stuart Mill’s Stationary State, in: Utilitas 3, 53-67. Kurfirst, Robert 1996: John Stuart Mill on Oriental Despotism, Including Its British Variant, in: Utilitas 8, 73-87. Lloyd, Trevor 1991: John Stuart Mill and the East India Company, in: Michel Laine (Hg.), A Cultivated Mind: Essays on John Stuart Mill Presented to John M. Robson. Toronto, 44-79. Losurdo, Domenico 2011: Liberalism. A Counter History. London. Majeed, J. 1999: James Mill’s ‘The History of British India‘, in: Martin Moir/Douglas Peers/Lynn Zastoupil (Hg.), John Stuart Mill’s Encounter with India. Toronto, 53-71. Malthus, Thomas Robert [1798]: Das Bevölkerungsgesetz. München 1977. Mantena, Karuna 2007: Mill and the Imperial Predicament, in: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.), J.S. Mill’s Political Thought. A Bicentennial Reassessment. Cambridge, 298-318. Metha, Uday 1999: Liberalism and Empire. A Study in Nineteenth-Century British Liberal Thought. Chicago. Mill, James [1817]: The History of British India. 6 Bände, hg. von H. H. Wilson. New York 1968. Mill, John Stuart [1824]: Place’s on the Law of Libel, in: Ders., Newspaper Writings, Collected Works XXII. Toronto 1986, 91-99. Mill, John Stuart [1826]: Ireland, in: Ders., Essays on England, Ireland, and the Empire. Collected Works VI. Toronto 1982, 59-98. Mill, John Stuart [1835]: De Tocqueville in America (I), in: Ders., Essays on Politics and Society, Collected Works XVIII. Toronto 1977, 47-90. Mill, John Stuart [1836]: Guizot’s Lectures on European Civilization, in: Ders., Essays on French History and Historians, Collected Works XX. Toronto 1985, 367-393.

L

67

Mill, John Stuart [1838]: Bentham, in: Ders., Essays on Ethics, Religion and Society, Collected Works X. Toronto 1969, 75-115. Mill, John Stuart [1840]: Coleridge. In: Ders., Essays on Ethics, Religion and Society, Collected Works, Band X. Toronto 1969, 117-164. Mill, John Stuart [1840b]: De Tocqueville in America (II). In: Ders., Essays on Politics and Society, Collected Works XVIII. Toronto 1977, 153-204. Mill, John Stuart [1843a]: A System of Logic. Ratiocinative and Inductive. Ders., Collected Works VII und VIII. Toronto 1974. Mill, John Stuart [1843b]: Zur Logik der Moralwissenschaften. Übersetzt von Arno Mohr. Frankfurt/ M. 1997. Mill, John Stuart [1844]: Einige ungelöste Probleme der politischen Ökonomie. Hg. von Hans G. Nutzinger. Marburg 2008. Mill, John Stuart [1846a]: The Condition of Ireland [1], Morning Chronicle vom 5. Oktober 1846. In: Ders., Newspaper Writings, Collected Works XXIV. Toronto 1986, 879-882. Mill, John Stuart [1846a]: The Condition of Ireland [11], Morning Chronicle vom 23. Oktober 1846. In: Ders., Newspaper Writings, Collected Works XXIV. Toronto 1986, 913-916. Mill, John Stuart [1846a]: The Condition of Ireland [13], Morning Chronicle vom 2. November 1846. In: Ders., Newspaper Writings. Collected Works XXIV. Toronto 1986, 927-930. Mill, John Stuart [1846a]: The Condition of Ireland [27], Morning Chronicle vom 7. Dezember 1846. In: Ders., Newspaper Writings. Collected Works XXIV. Toronto 1986, 978-980. Mill, John Stuart [1848a]: Principles of Political Economy with some of their Applications to Social Philosophy. Herausgegeben von William Ashley. London / New York 1909. Mill, John Stuart [1848b]: What Is to Be Done With Ireland? In: Ders., Essays on England, Ireland, and the Empire. Collected Works VI. Toronto 1982, 497-504. Mill, John Stuart [1853]: Grote’s History of Greece II in: Ders., Essays on Philosophy and the Classics, Collected Works XI. Toronto 1978, 307-338. Mill, John Stuart [1859]: Über die Freiheit. Übersetzt von Bruno Lemke. Stuttgart 2010. Mill, John Stuart [1861a]: Der Utilitarismus. Übersetzt von Dieter Birmbacher. Stuttgart 2010. Mill, John Stuart [1861b]: Betrachtungen über die repräsentative Demokratie. Übersetzt vom Hannelore Irle-Dietrich. Paderborn 1971. Mill, John Stuart [1869a] (zusammen mit Harriet Taylor Mill und Helen Taylor): Die Hörigkeit der Frau. Übersetzt von Jenny Hirsch. Frankfurt/M. 1991. Mill, John Stuart [1869b]: Endowments, in: Ders., Essays on Economics and Society, Collected Works V. Toronto 1967, 613–630.

68

E: J S M – E  I

Mill, John Stuart [1873]: Autobiographie. Übersetzt von Jean-Claude Wolf. Hamburg 2011. Mill, John Stuart [1879]: Chapters on Socialism. In: Ders., Essays on Economics and Society. Collected Works V. Toronto 1967, 703-735. Miller, Dale E. 2010: John Stuart Mill. Moral, Social and Political Thought. Cambridge. Miller, Kenneth E. 1961: John Stuart Mill’s Theory of International Relations, in: Journal of the History of Political Ideas 22, 493-514. Moir, Martin/Peers, Douglas/Zastoupil, Lynn (Hg.) 1999: John Stuart Mill’s Encounter with India. Toronto. Moore, Robin J. 1991: John Stuart Mill and Royal India, in: Utilitas 3, 84-106. Parekh, Bhikhu 1995: Liberalism and Colonialism, in: Ders./Jan N. Pieterse (Hg.), The Decolonization of Imagination. London, 81-97. Peers, Douglas M. 1999: Imperial Epitaph. John Stuart Mill’s Defense of the East India Company, in: Martin Moir/Douglas Peers/Lynn Zastoupil (Hg.), John Stuart Mill’s Encounter with India. Toronto, 198-220. Pitts, Jennifer 2005: A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France. Princeton. Pitts, Jennifer 2009: Bentham und John Stuart Mill über das britische Empire, in: Olaf Asbach (Hg.), Vom Nutzen des Staates. Staatsverständnisse des klassischen Utilitarismus. Baden-Baden, 269-291. Prager, Carol A.L. 2005: Intervention and Empire: John Stuart Mill and International Relations, in: Political Studies 53, 621-640. Reeves, Richard 2007: John Stuart Mill. Victorian Firebrand. London. Robson, John M. 1977: Textual Introduction, in: John Stuart Mill. Essays on Politics and Society, Collected Works XVIII. Toronto, lxxi-xcv. Robson, John M. 1982: Textual Introduction, in: John Stuart Mill. Essays on England, Ireland, and the Empire. Collected Works VI. Toronto 1982, liv-lxvi. Robson, John M.1984: Textual Introduction, in: John Stuart Mill, Essays on Equality, Law, and Education. Collected Works XXI. Toronto, lvii-lxxxiii. Robson, John M. 1998: Civilization and Culture as Moral Concepts, in: John Skorupski (Hg.), The Cambridge Companion to Mill. Cambridge, 338-371. Rosenblum, Nancy 1987: Another Liberalism. Romanticism and the Reconstruction of Liberal Thought. Cambridge. Ryan, Alan 1988: The Philosophy of John Stuart Mill. London.

L

69

Ryan, Alan 1999: Introduction, in: Martin Moir/Douglas Peers/Lynn Zastoupil (Hg.), John Stuart Mill’s Encounter with India. Toronto, 7-18. Schultz, Bart 2007: Mill and Sidgwick, Imperialism and Racism, in: Utilitas 19, 104-130. Skorupski, John 2006: Why Read Mill Today? New York. Smits, Katherine 2008: John Stuart Mill on the Antipodes: Settler Violence against Indigenous Peoples and the Legitimacy of Colonial Rule, in: Australian Journal of Politics and History 51, 115. Steele, E. D. 1970a: John Stuart Mill and the Irish Question: The Principles of Political Economy 1848-1865, in: Historical Journal 13, 216-236. Steele, E. D. 1970b: John Stuart Mill and the Irish Question: Reform, and the Integrity of the Empire, in: Historical Journal 13, 419-450. Sullivan, Eileen P. 1983: Liberalism and Imperialism. J.St. Mill’s Defense of the British Empire, in: Journal of the History of Ideas 44, 599-617. Thompson, Dennis F. 2007: Mill in Parliament. When Should a Philosopher Compromise?, in: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.), J.S. Mill’s Political Thought. A Bicentennial Reassesment. Cambridge, 166-199. Tocqueville, Alexis de [1835/1840]: Über die Demokratie in Amerika. München 1984. Trevelyan, George Macaulay 1936: British History in the Nineteenth Century (1782-1901). London. Turk, Christopher 1988: Coleridge and Mill. Aldershot. Urbinati, Nadia 2002: Mill on Democracy. From the Athenian Polis to Representative Democracy. Chicago. Varouxakis, Georgios 1998: John Stuart Mill on Race, in: Utilitas 10, 17-32. Varouxakis, Georgios 2005: Empire, Race, Euro-Centrism. John Stuart Mill and his Critics, in: Bart Schultz/Georgios Varouxakis (Hg.), Utilitarianism and Empire. Lanham, 129-152. Varouxakis, Georgios 2007: Cosmopolitan Patriotism in J. St. Mill’s Political Thought and Activism, in: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.), J.S. Mill’s Political Thought. A Bicentennial Reassesment. Cambridge, 277-297. Walzer, Michael 2007: Mill’s ,A Few Words on Non-Intervention‘. A Commentary, in: Nadia Urbinati/Alex Zakaras (Hg.), J.S. Mill’s Political Thought. A Bicentennial Reassessment. Cambridge, 347-356. Warren, Howard C. 1967: A History of Associations Psychology. New York. Williams, Geraint 1989: J. S. Mill and Political Violence, in: Utilitas 1, 102-111.

70

E: J S M – E  I

Winch, Donald 1965: Classical Political Economy and Colonies. Cambridge. Winch, Donald 1997: Bentham on Colonies and Empire, in: Utilitas 9, 147-154. Yasukawa, Ryuji 1991: James Mill on Peace and War, in: Utilitas 3, 197-214. Zastoupil, Lynn 1983: Moral Government: J. St. Mill on Ireland, in: Historical Journal 16, 707-717. Zastoupil, Lynn 1994: John Stuart Mill and India. Stanford. Zastoupil, Lynn 1999: India, J. St. Mill and ,Western Culture‘. In: Martin Moir/Douglas Peers/Lynn Zastoupil (Hg.), John Stuart Mill’s Encounter with India. Toronto, 111-149.

Erster Teil: Die liberale Zivilisierung der Welt

I Zivilisation – Zeichen der Zeit (1836)

Das Wort Zivilisation hat, wie viele andere Bezeichnungen der Philosophie der menschlichen Natur, eine doppelte Bedeutung. Es bezeichnet bisweilen die menschliche Vervollkommnung im Allgemeinen, bisweilen aber auch gewisse besondere Arten von Vervollkommnung. Wir pflegen ein Land zivilisierter als ein anderes zu nennen, wenn wir glauben, dass es eine höhere Stufe der Entwicklung erreicht, wenn es mehr von den besten Eigenschaften des Menschen und der Gesellschaft aufzuweisen hat, wenn es auf dem Wege zur Vollkommenheit weiter vorgeschritten, glücklicher, klüger, edler ist. Dies ist der erste Sinn des Wortes. Im anderen Wortsinnn steht es nur für die besondere Art und Weise der Vervollkommnung, die eine reiche und mächtige Nation von Wilden oder Barbaren unterscheidet. In diesem Sinne können wir auch von den Lastern oder dem Elend der Zivilisation sprechen, und dieser Sinn des Wortes ist es ebenso, der es möglich macht, ernsthaft die Frage danach aufzuwerfen, ob die Zivilisation im Ganzen ein Gut oder ein Übel ist. Wir unsererseits sind über diesen Punkt entschieden ohne Zweifel. Wir glauben, dass die Zivilisation etwas Gutes ist, dass sie viel Gutes verursacht und nichts von Allem, was gut ist, ausschließt. Aber wir glauben auch, dass es vieles Gutes gibt, manches vom höchsten Wert, wofür die Zivilisation in diesem Sinne nicht Sorge trägt, und dass sie sogar die Tendenz besitzt, manches Gute zu hindern – eine Tendenz, der wir allerdings wiederum etwas entgegensetzen können. Eine nähere Untersuchung dieser Tendenzen wird viele der charakteristischen Züge unserer Zeit in grelles Licht stellen. Die gegenwärtige Epoche ist in einem ausgezeichneten Grade eine Epoche der Zivilisation im engeren Sinne, gleich ob wir das, was sie bereits geleistet, oder den reißenden Fortschritt zu noch größeren Leistungen, in dem sie begriffen ist, ins Auge fassen. Indessen scheint uns, dass unsere Zeit auf vielen anderen Gebieten menschlicher Vervollkommnung nicht dieselben Fortschritte oder dieselbe Aussicht auf Fortschritte aufzuweisen hat; auf einigen scheint sie stillzustehen, auf anderen sogar zurückzugehen. Überdies sind die unausweichlichen Konsequenzen einer fortschreitenden Zivilisation ein Thema, das eine nähere Prüfung zu erfordern scheint, als es in der Regel erfahren hat; dazu gehört die veränderte Lage, in welche

74

D  Z  W

der Fortschritt die Menschheit versetzt hat und täglich mehr und mehr versetzt sowie die gänzliche Unanwendbarkeit alter Regeln auf diese Lage und die Notwendigkeit neue Regeln und Verfahrensweisen anzunehmen, wenn wir uns die Wohltaten des neuen Zustandes sichern oder die des alten erhalten wollen. Wir gebrauchen in diesem Artikel das Wort Zivilisation nur in einem engen Sinne, also nicht als Synonym von Vervollkommnung, sondern als direktes Gegenteil zum rohen Naturzustand oder zur Barbarei. Was auch immer die charakteristischen Kennzeichen des sogenannten wilden Lebens sein mögen, das Gegenteil derselben oder diejenigen Eigenschaften, welche eine Gesellschaft annimmt, wenn sie jene ablegt, werden wir mit dem Wort Zivilisation bezeichnen. So besteht beispielsweise ein wilder Stamm aus einer Handvoll Individuen, die umherwandern oder auf einem großen Gebiet dünn verstreut leben. Demnach bezeichnen wir eine dichte Bevölkerung, die in festen Wohnsitzen lebt und in großen Massen gesammelt Städte und Dörfer bewohnt, als zivilisiert. Im wilden Leben muss ein jeder für seine eigenen Bedürfnisse sorgen. Wir finden hier keine Kooperation, außer im Krieg und auch dann nur in einem sehr beschränkten Maßstab. Auch finden Wilde im Allgemeinen keinen großen Gefallen am gegenseitigen geselligen Verkehr. Wo also menschliche Wesen in großen Massen vereinigt für gemeinsame Zwecke tätig sind und die Freuden des geselligen Lebens genießen, nennen wir sie zivilisiert. Im wilden Leben ist nichts oder doch nur sehr wenig von Recht und Gerechtigkeitspflege zu finden und ebenso wenig von einer Kollektivkraft der Gesellschaft, um die Individuen vor gegenseitigem Unrecht zu schützen. Jeder vertraut nur auf seine persönliche Stärke oder List und wo diese versagen, da ist er in der Regel hilflos. Wir nennen deshalb ein Volk zivilisiert, bei welchem die gesellschaftlichen Anordnungen zum Schutz der Personen und des Eigentums seiner Mitglieder ausreichend sind, um den Frieden aufrechtzuerhalten, das heißt die große Masse der Bevölkerung veranlasst wird, die Bürgschaft ihrer Sicherheit in den Institutionen der Gesellschaft zu suchen, und unter normalen Umständen auf die Verteidigung ihrer Interessen durch ihre körperliche Stärke und ihren persönlichen Mut, sei es nun in Form des Angriffes oder der Verteidigung, zu verzichten. Die einzelnen Bestandteile der Zivilisation sind sehr facettenreich, aber bei näherer Betrachtung wird man erkennen, dass es dennoch angebracht ist, sie zusammenzufassen. Die Geschichte und ihre eigene Natur beweisen hinlänglich, dass sie immer zusammen beginnen, gleichzeitig existieren und einander in ihrem Wachstum begleiten. Wo sich eine genügende Kenntnis der Künste des Lebens und eine Sicherheit der Person und des Eigentums eingestellt hat, welche hinreicht, um ein fortschreitendes Wachstum des Reichtums und der Bevölkerung möglich zu machen, wird das Gemeinwesen auch immer dauernd in Bezug auf alle die eben aufgezählten Elemente fortschreiten. Diese Elemente bestehen in dem Europa unserer Tage – und besonders in Großbritannien – in einem ausgezeichneteren Grade und in einem Zustand rascherer Entwicklung als in irgendeinem anderen Teil der Erde und zu irgendeiner anderen Zeit. Wir wollen einige von den Folgen, welche dieser Zustand hoher und fortschreitender Zivilisation bereits hervorgebracht hat oder in kurzer Zeit hervorbringen wird, näher betrachten. Das bemerkenswerteste Ergebnis der fortschreitenden Zivilisation besteht im Übergang der Macht von einigen Wenigen auf die breite Masse der Bevölkerung, die im Vergleich zum Einzelnen immer bedeutsamer wird.

Z – Z  Z ()

75

Die Ursachen, Beweise und Folgen dieses Gesetzes menschlicher Verhältnisse verdienen einer näheren Betrachtung. Es gibt in der Geschichte der Menschheit zwei Grundbedingungen für Macht und Einfluss; die eine ist das Eigentum, die andere geistige Kraft und Bildung. Beide Bedingungen sind in früheren Stadien der Zivilisation auf eine kleine Zahl von Personen beschränkt. In den Anfängen der Zivilisation existiert die Macht der Massen nicht, weil Eigentum und Einsicht außerhalb eines kleinen Kreises des Gemeinwesens nicht vorhanden sind und selbst dann, wenn sie vorhanden wären, die Besitzer kleinerer Anteile, weil ihnen die Fähigkeit des Zusammenwirkens fehlt, nicht im Stande sein würden, den Besitzern der größeren ihren Einfluss streitig zu machen. In den weiter zurückgebliebenen Ländern des heutigen Europas und in dem gesamten Europa einer noch nicht sehr fernliegenden Zeit finden wir das gesamte Eigentum in einer kleinen Zahl von Händen konzentriert, während der Rest des Volkes mit wenigen Ausnahmen entweder aus dem militärischen Gefolge und den Untergebenen der Eigentümer oder aus Leibeigenen besteht, die von ihren Herren nach Belieben beraubt, misshandelt und ausgeplündert werden. Zwar kann man von keiner Epoche sagen, dass es buchstäblich keinen Mittelstand gegeben hätte; allerdings war diese Klasse außerordentlich schwach an Zahl wie an Macht, während die arbeitende Bevökerung im Schweiße ihres Angesichtes mit dem mühsamen Werk ihrer Hände bei aller Anstrengung kaum mehr als einen spärlichen und ungewissen Unterhalt zu verdienen vermochte. Das Kennzeichen dieses gesellschaftlichen Zustandes war die extreme Armut und Ohnmacht der Massen und die ungeheuerste Bedeutung und unumschränkte Macht einer kleinen Zahl von Personen, deren jede in ihrer eigenen Sphäre kein Gesetz und keinen Herrn anerkannte. Wir müssen es der Geschichtsschreibung überlassen, die allmähliche Entstehung der Handel und Gewerbe treibenden Klassen und die allmähliche Befreiung der Landbevölkerung darzustellen, die Unruhen und Umwälzungen, welche diese Wechsel begleiten und die außerordentlichen Veränderungen in Einrichtungen, Ansichten, Gewohnheiten und dem ganzen geselligen Leben zu schildern, welche sie in ihrem Gefolge hatten. Wir brauchen den Leser nur aufzufordern, sich eine Vorstellung von der ganzen Bedeutung der Worte „Emporkommen eines Mittelstandes“ zu machen, um dann über das ungeheure Anwachsen der Zahl und des Eigentums dieser Klasse in jeder folgenden Generation in Großbritannien, Frankreich und Deutschland nachzudenken und darüber, was für eine völlig neue Erscheinung eine Arbeiterklasse ist, die solche Löhne empfängt, wie ihn fast sämtliche Fabrikarbeiter, das heißt der überwiegende Teil der Arbeiterbevölkerung des Landes, jetzt in der Regel erhalten: Er möge sich dann selbst fragen, ob man von solchen unerhörten Ursachen nicht auch ganz unerhörte Wirkungen erwarten müsse. So viel jedenfalls ist offensichtlich, dass wenn in dem Maße als die Zivilisation fortschreitet, Eigentum und Einsicht sich auf diese Weise unter den Millionen mehr und mehr verbreiten, die Zivilisation notwendig die eine Wirkung haben muss, dass derjenige Anteil an diesen Elementen der Macht, der nur einem Individuum gehört, dem natürlichen Gang der Dinge nach mehr und mehr von seinem Einfluss verlieren wird. Auch werden alle zu entscheidenden wichtigen Fragen mehr und mehr durch die Bewegungen der Massen entschieden werden, vorausgesetzt, dass deren Fähigkeit zur Kooperation Schritt mit dem Fortschritt ihrer Hilfsmittel hält. Aber wer kann ernstlich bezweifeln, dass dies

76

D  Z  W

der Fall ist? Es gibt keinen zuverlässigeren Prüfstein für den Fortschritt der Zivilisation als den Fortschritt in der Fähigkeit der gesellschaftlichen Kooperation. Man betrachte den Wilden. Er besitzt körperliche Kraft, Mut, Unternehmungsgeist und oft sogar ein gewisses Maß von Intelligenz. Was ist es also, das alle wilden Gemeinwesen schwach und arm macht? Derselbe Grund, der die Löwen und Tiger gehindert hat, das Menschengeschlecht schon längst zu vernichten: die Unfähigkeit gemeinsam zu handeln. Nur zivilisierte Wesen können sich verbinden. Jede soziale Verbindung ist ein Kompromiss und verlangt um eines gemeinsamen Zweckes willen die Aufopferung eines Teils unseres persönlichen Willens. Der Wilde kann es nicht ertragen, ein solches Opfer zu bringen. Seine geselligen Gefühle können nicht einmal vorübergehend seine Selbstsucht beherrschen und die Regungen seiner Leidenschaft fügen sich keiner Berechnung. Nehmen wir ferner den Sklaven. Er ist sehr wohl daran gewöhnt, seinen Willen unterzuordnen, aber nur den Befehlen seines Herren und nicht eines höheren Zweckes wegen. Es fehlt dem Sklaven die nötige Einsicht, um sich einen solchen Zweck auch nur vorzustellen. Vor allem kann er sich selber keine feste Regel setzen und würde ihr, selbst wenn er es könnte, nicht treu bleiben. Er ist es gewöhnt, beherrscht zu werden, aber nicht sich selbst zu beherrschen. Wenn nicht ein Einpeitscher mit der Peitsche direkt neben ihm steht, zeigt er sich sogar noch unfähiger als der Wilde einer Versuchung zu widerstehen oder seine Neigungen im Zaum zu halten. Wir haben hier extreme Fälle gewählt, damit die Tatsache, die wir erläutern wollen, umso deutlicher hervortreten kann. Die Bemerkung selbst gilt aber ganz allgemein. Im selben Maß, indem sich ein Volk dem Zustand von Wilden oder Sklaven nähert, zeigt es sich mehr und mehr unfähig, gemeinsam zu handeln. Nehmen wir selbst den Krieg, dem wichtigsten Geschäft eines barbarischen Volkes. Welch eine klägliche Rolle haben barbarische oder halbzivilisierte geknechtete Nationen seit jeher, von dem Tag von Marathon an, einem zivilisierten Volk gegenüber gespielt! Warum? Weil die Disziplin der Krieger mehr vermag als ihre Zahl, und weil Disziplin, das heißt vollkommenes Zusammenwirken, ein Attribut der Zivilisation ist. Um auf unsere Zeit zu kommen, so legt der Krieg auf der iberischen Halbinsel ein beredtes Zeugnis von der Unfähigkeit eines unvollständig zivilisierten Volkes ab, sich zum Zusammenwirken für einen gemeinsamen Zweck zu vereinigen. Bei aller Begeisterung, welche das spanische Volk in seinem Kampf gegen Napoleon an den Tag legte, vermochte keiner seiner militärischen oder politischen Führer in Übereinstimmung mit einem anderen zu handeln; keiner wollte den dringendsten Bedürfnissen der gemeinsamen Sache auch nur ein Jota von seiner Bedeutung, seinem Ansehen, seiner Meinung opfern. Weder Generäle noch Soldaten mochten sich den einfachsten Regeln der Kriegskunst fügen. Wenn es ein Interesse gibt, von dem sich erwarten lässt, dass es selbst auf den Geist eines Wilden einen zwingenden Einfluss üben muss, so ist es gewiss das Verlangen mit vereinten Kräften einen furchtbaren Nachbar niederzuwerfen, dem kein einzelner allein mit Erfolg zu widerstehen hoffen kann. Und doch sind nur zivilisierte Völker jemals fähig gewesen, einen solchen Bund zu bilden. Auch die eingeborenen Fürsten Indiens sind von den Engländern einer nach dem anderen besiegt worden. Die Türkei schloss Frieden mit Russland gerade in dem Augenblick, als die Franzosen dieses Land mit Krieg überzogen. Die Völker der alten Welt vermochten sich nie zu einem Bund gegen Rom zu vereinigen, sondern wurden nacheinander verschlungen, da immer ein Teil von ihnen bereit war, die übrigen unterjochen

Z – Z  Z ()

77

zu helfen. Unternehmungen, welche das freiwillige Zusammenwirken vieler voneinander unabhängiger Kräfte erfordern, sind immer gescheitert, wenn sie von anderen als hochzivilisierten Nationen in die Hand genommen wurden. Es lässt sich unschwer erkennen, warum diese Unfähigkeit, gemeinsam zu handeln, gerade für Wilde charakteristisch ist und warum sie mit der Zunahme an Zivilisation verschwindet. Wie alle schwierigen Dinge kann man auch Kooperation nur durch Übung erlernen und um es im großen Rahmen anwenden zu können, muss ein Volk Schritt für Schritt in kleinen Portionen dafür erzogen werden. Nun besteht der ganze Gang der fortschreitenden Zivilisation aus einer Reihe solcher Übungen. Der Feldarbeiter in einem rohen Zustand der Gesellschaft arbeitet allein und selbst wenn mehrere durch den Willen eines Herrn zusammengebracht werden, arbeiten sie nur nebeneinander, nicht miteinander. Ein Mann gräbt ein Stück Land um und ein anderer dicht bei ihm ein gleiches Stück. Wo kann ein solcher unwissender Feldarbeiter, der sein Land mit seinen eigenen Händen und zusammen höchstens mit seiner Frau und seinen Kindern beackert, lernen, mit anderen Menschen zu kooperieren? Die Arbeitsteilung – die Ausführung von Aufgaben, die durch keine noch so große Zahl an Leuten einzeln vollendet werden könnten – ist die große Schule der Kooperation. Was für eine eindringliche Übung bietet zum Beispiel die Schifffahrt, sobald sie einmal über ihre ersten rohen Anfänge hinaus entwickelt ist. Die Sicherheit aller auf dem Schiff hängt von der Wachsamkeit und Sorgfalt ab, mit der jeder Einzelne den Teil der gemeinsamen Aufgabe erfüllt, welcher ihm zugewiesen ist. Kriegerische Unternehmungen, die der Disziplin und Leitung bedürfen, sind eine ähnliche Schule, und ebenso die verschiedenen Tätigkeiten des Handels sowie die Industrie, welche die gleichzeitige Verwendung vieler Hände für einen und denselben Zweck erheischen. Durch solche Unternehmungen lernen die Menschen den Wert von vereinter Kraft kennen. Sie sehen, wie sie vieles mit der größten Leichtigkeit leistet, was ohne sie gar nicht geleistet werden könnte und lernen so auf praktischem Weg sich einer Leitung unterzuordnen und als gegenseitig voneinander abhängige Teile eines zusammengesetzten Ganzen zu handeln. Ein Volk, das auf diese Weise durch das Geschäft seines täglichen Lebens zur Kooperation herangebildet wird, erlangt bald auch die Fähigkeit, diese Gewohnheiten auf andere Bereiche zu übertragenn, denn es ist ein ganz allgemein gültiger Satz, dass der einzige Weg ein bestimmtes Verfahren zu erlernen, darin besteht, ein ähnliches Verfahren unter leichteren Umständen tatsächlich zur Anwendung zu bringen. Die einmal erlangte Gewohnheit der Disziplin befähigt die Menschen zu allen anderen Leistungen, welche Disziplin und die Unterordnung unter ein festes Regelwerk voraussetzen. Sobald die Menschen nicht mehr jeder Leitung widerstreben und fähig sind einzusehen, welchen Vorteil sie bringt, werden sie auch reif sein jedes Ziel zu erreichen, das durch Kooperation erreicht werden kann und von dem sie sich wohltätige Ergebnisse versprechen zu können glauben. Da also die allgemeine Verbreitung von Eigentum und Einsicht sowie die Fähigkeit zur Kooperation zu den charakteristischen Merkmalen eines Zustandes hoher Zivilisation gehören, so haben wir zunächst zu beachten, in welcher beispiellosen Weise sich alle diese Elemente in den letzten Jahren entwickelt haben. Kein Mensch kann die reißende Schnelligkeit verkennen, mit welcher das Eigentum in den Hauptländern Europas – vor allem auf unserer Insel – zugenommen hat und noch täglich weiter zunimmt. Das Kapital der industriellen Klassen fließt in andere Länder

78

D  Z  W

und in wilde Spekulationen aller Art. Das Gesamtkapital, welches allein jährlich von Großbritannien exportiert wird, übersteigt wahrscheinlich den gesamten Reichtum der blühendsten Handelsrepubliken des Altertums. Dieses insgesamt so große Kapital ist jedoch aus vielen kleinen Anteilen zusammengesetzt, die in der Regel so klein sind, dass die Eigentümer ohne andere Subsistenzmittel von ihrem Erträgnis allein nicht leben könnten. Während das in den Händen der Massen befindliche Vermögen derart angewachsen ist, hat der Wohlstand der höheren Klassen keinen im Entferntesten entsprechenden Aufschwung genommen. Zwar sind manche große Vermögen angehäuft, viele sind aber auch ganz oder teilweise verschwendet worden. Die Erben der außergewöhnlich bedeutenden Vermögen frönen – als Klasse betrachtet – in der Regel einem Lebensstil, der ihr gesamtes Einkommen, und zwar als es seinen höchsten Punkt erreicht hatte, in Anspruch nimmt. Die unausbleiblichen Einkommensschwankungen haben deshalb zur Folge, dass sie mit ihrem Lebensstil immer tiefer in Schulden geraten. Die englischen Großgrundbesitzer haben, wie sie uns selbst beständig vorerzählen, zum großen Teil so hohe Hypothekenlasten zu tragen, dass viele von ihnen aufgehört haben, die wirklichen Eigentümer ihrer Güter zu sein. In anderen Ländern sind die großen Besitzungen ohnedies längst in kleinere Teile aufgeteilt worden, sei es in Frankreich durch die Revolution und das revolutionäre Erbfolgerecht, sei es in Preußen von einer dem Wesen nach demokratischen, der Form nach hingegen absoluten Regierung durch eine Reihe an Verordnungen. Was desweiteren das Wissen und die Intelligenz anbelangt, so ist es ja bereits ein Gemeinplatz unserer Zeit geworden, dass die Masse des Mittelstandes und selbst der Arbeiterklasse den oberen Klassen beinahe in die Hacken treten. Wenden wir uns nun dem Fortschritt zu, den dieselben Massen in der Fähigkeit und Gewohnheit der Kooperation gemacht haben, so werden wir ihn ebenso überraschend finden. Gab es je eine Periode, in welcher die Tätigkeit der Industrie eine Ausdehnung erreicht hatte, die sich auch nur im Entferntesten mit ihren gegenwärtigen riesigen Dimensionen vergleichen lässt? Waren jemals gleichzeitig an einem und demselben Arbeitsvorgang so viele Hände beteiliegt wie heutzutage fast in allen Zweigen der Industrie und des Handels? Welch ungeheuren Umfang haben die Geschäfte gewonnen, die jetzt von Aktiengesellschaften betrieben werden, das heißt von vielen kleinen Kapitalien, die zu einem großen verschmolzen sind! Das ganze Land ist von Vereinen bedeckt, von Assoziationen für politische, religiöse, philanthropische Zwecke. Die wichtigste unter allen neuen Erscheinungen aber ist der Geist der Gemeinsamkeit, der sich in der Arbeiterklasse herangebildet hat. Die gegenwärtige Generation hat den Anfang der ArbeiterHilfsvereine gesehen und heute haben sie ebenso wie die – bedenklicheren – Gewerkschaften das ganze Land wie mit einem Netz überzogen. Ein noch mächtigeres, obwohl weniger auffallendes Werkzeug der Vereinigung wird jetzt erst allgemein zugänglich: die Zeitungspresse. Mittels der Zeitungen dringt die Stimme der Vielen laut und vernehmlich zu jedem Individuum. Aus der Zeitung erfährt jeder, dass auch andere fühlen, was er fühlt und dass er, sobald er selbst dazu bereit ist, auch sie dazu bereit finden wird, diesen Empfindungen gemäß zu handeln. Die Zeitung ist der Telegraph, der das Signal durch das Land trägt. Sie ist das Banner, um das sich alles schart. Erst die hunderte von Zeitungen, aus denen gleichzeitig dieselbe Stimme ertönt, und die Schnelligkeit der Mitteilung, welche der Fortschritt der Verkehrsmittel möglich machte, haben unser gesamtes Land in

Z – Z  Z ()

79

den Stand gesetzt, sich zu jener gleichzeitigen energischen Kundgebung eines entschlossenen Willens zu vereinigen, welche schließlich die Parlamentsreform durchgesetzt hat. Wie jeder beoebachten kann, sind diese Entwicklungen noch längst nicht an ihr Ende gelangt und sie werden es dem Volke möglich machen, bei allen entscheidenden Fragen einen Gesamtwillen zu bilden und diesen Willen unwiderstehlich stark zu machen. Kann man damit nun sagen, dass diejenigen Individuen oder Klassen, welche bisher eine bevorzugte Stellung einnahmen, gegenüber dieser wunderbaren Steigerung physischer und geistiger Kraft auf Seiten des Volkes ein irgendwie entsprechendes Maß geistiger Tüchtigkeit und sittlicher Energie entwickelt haben? Niemand, so glauben wir, wird diese Frage bejahen wollen. In unseren höheren Klassen ist zwar eine Zunahme der Humanität und eine Abnahme der Bigotterie wie auch der Anmaßung und des Kastendünkels zu verzeichnen. Gelinde gesagt ist bei ihnen aber keine Zunahme glänzender Fähigkeiten, sondern eine starke Abnahme an Kraft und Energie festzustellen. Trotz aller Vorteile unseres Jahrhunderts, trotz aller Hilfsmittel und aller Erleichterung geistiger Bildung, die sie gewährt, trotz aller Anregungen und Belohnungen, die sie dem überlegenen Talent bietet, wird man in den Annalen Europas kaum eine bewegte Periode nachweisen können, die so wenig hervorragende Erscheinungen auf dem Gebiet der moralischen und intellektuellen Welt zu Tage gefördert hat wie unsere Epoche. Dass wir auch diese Folgen erwarten mussten, solange kein Versuch gemacht wird, die natürliche Tendenz der Zivilisation zu berichtigen, werden wir sogleich nachzuweisen Gelegenheit haben. Aber selbst wenn die Zivilisation nichts täte, als das Hervorragende abzuschwächen, würde sie durch die Hebung des allgemeinen Niveaus doch eine ganz ähnliche Wirkung erzielen. Wenn die Massen an die Macht gelangen, können ein Individuum oder eine kleine Zahl von Individuen nur noch durch Einflussnahme auf diese Massen etwas Bedeutendes leisten. Diese Einflussnahme wird aber immer schwieriger, weil die Zahl derer täglich wächst, die miteinander wetteifern, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wir halten deshalb unseren Leitsatz für erwiesen, dass durch das natürliche Wachstum der Zivilisation die Macht von den Individuen auf die Massen übergeht und dass der Einfluss und die Bedeutung des Individuums im Vergleich zu der Wichtigkeit der Massen mehr und mehr zusammenschrumpft. Die Veränderung, die sich in dieser Weise vollzieht und zum großen Teil bereits vollzogen hat, ist die größte, folgenreichste und unwiderruflichste, den die Geschichte der Entwicklung der Gesellschaft je zu verzeichnen gehabt hat. Wer darüber nachdenken kann, ohne sofort einzusehen, dass eine so gewaltige Revolution allen bestehenden Normen über Regierung und Verfassung ihre Brauchbarkeit nimmt und alle Praxis und alle Voraussagungen, die sich bloß auf frühere Erfahrungen stützen, vollkommen wertlos macht, würde damit nur beweisen, dass ihm die erste und wesentlichste Bedingung für den Beruf eines modernen Staatsmanns abgeht. „Es bedarf“, wie Herr von Tocqueville sagt, „einer neuen politischen Wissenschaft für eine ganz neue Welt.“1 Das ganze Bild der Gesellschaft hat sich komplett verändert, die natürlichen Grundlagen der Macht haben endgültig ihren Ort gewechselt. Und doch gibt es noch Leute, die von der Pflicht reden, für die alten Einrichtungen einzustehen und an 1

Anmerkung der Herausgeber: Alexis Clérel de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, 2 Bde., Paris: Gosselin 1835 und 1840; hier Bd. 1, S. 11.

80

D  Z  W

der englischen Verfassung von 1688 festzuhalten! Was noch mehr verwundert ist, dass dies dieselben Leute sind, welche ansonsten anderen vorzuwerfen pflegen, dass sie auf Verschiedenheiten der Umstände keine Rücksicht nähmen und allen gesellschaftlichen Zuständen ohne Unterschied ihre abstrakten Theorien aufnötigen wollten. Wir legen all denen, die sich Konservative nennen, die Frage ans Herz, ob sie es wirklich, während die vornehmste Macht in der Gesellschaft in die Hände der Massen übergeht, noch für möglich halten, die Massen daran zu hindern, diese Macht ebensowohl in der Regierung wie anderswo zur Geltung zu bringen? Der Triumph der Demokratie oder – mit anderen Worten – der Triumph der öffentlichen Meinung hängt nicht von der Ansicht irgendwelcher Individuen oder irgendeiner Klasse von Individuen darüber ab, ob sie diesen Triumph für wünschenswert halten oder nicht, sondern von den natürlichen Gesetzen des steigenden Wohlstandes, von der Ausbreitung des Wissens und dem Fortschritt und der immer zunehmenden Erleichterung des menschlichen Verkehrs. Wenn Lord Kenyon oder der Herzog von Newcastle diesen Tendenzen Einhalt gebieten könnten, dann hätten sie wirklich einmal etwas erreicht in ihrem Leben. In Syrien oder in Timbuktu braucht man nicht zu fürchten, dass die Demokratie alsbald die Herrschaft erlangen wird. Aber derjenige muss ein armseliger Politiker sein, der nicht weiß, dass jede heranwachsende gesellschaftliche Kraft sich letztlich, sei es mit guten oder schlechten Mitteln, immer den Weg an die Regierung bahnen wird. Die Verteilung der verfassungsmäßigen Macht kann von derjenigen der wirklichen gesellschaftlichen Macht nicht lange sehr abweichen, wenn nicht eine gewaltsame Umwälzung ausbrechen soll. Selbst wenn die Institutionen, die den Fortschritt der Demokratie behindern, durch irgendein Wunder erhalten blieben, würden sie doch diesen Fortschritt höchstens verlangsamen. Die Verfassung Großbritanniens könnte hinfort ganz ungeändert bleiben und wir würden deshalb doch um nichts weniger unter der Herrschaft der öffentlichen Meinung stehen, die von Tag zu Tag unwiderstehlicher wird. Bezüglich des Aufkommens der Demokratie gibt es für einen vernünftigen Menschen zwei Standpunkte. Sie hängen davon ab, ob er die Massen für reif hält oder nicht, den entscheidenden Einfluss auf ihr Geschick, den sie zu erlangen im Begriff sind, in einer Weise zu üben, welche im Vergleich mit dem gegenwärtigen System als ein Fortschritt zu betrachten wäre. Wenn er sie für reif genug hält, wird er die demokratische Bewegung unterstützen, oder, falls er glaubt, dass sie auch ohne ihn rasch genug vorschreitet, ihr wenigstens nicht in den Weg treten. Wenn er dagegen die Massen für noch nicht reif hält, das Recht einer vollständigen Kontrolle und Ausübung der Regierung zu praktizieren, und wenn er gleichzeitig sieht, dass man sie, mögen sie nun reif sein oder nicht, nicht mehr lange wird hindern können, dieses Recht zu erlangen, dann wird er alle seine Bemühungen darauf richten, zu ihrer Vorbereitung auf die Demokratie beizutragen. Er wird also auf der einen Seite alle ihm zu Gebote stehenden Mittel anwenden, um die Massen klüger und besser zu machen und auf der anderen Seite würde er alles daran setzen, die schlummernde Energie der wohlhabenden und gebildeten Klassen aufzurütteln und dahingehend zu wirken, dass die Jugend dieser Klassen mit der gründlichsten und wertvollsten Kenntnis ausgestattet und dass alle individuelle Größe, die im Lande vorhanden ist oder herangebildet werden kann, in volle Tätigkeit versetzt werde, um auf diesem Wege eine Macht zu schaffen, die der bloßen Macht der Massen bis zu einem gewissen Grad den Rang streitig machen und auf sie vielleicht einen zu ihrem eigenen Besten

Z – Z  Z ()

81

und heilsamen Einfluss ausüben kann. Es wäre vollkommen begreiflich, wenn ein vernünftiger Mann, der ernstlich in solche Bemühungen begriffen wäre, es wünschenswert finden sollte, mehr Zeit dafür zu gewinnen und es deshalb für gut hielte, wenn der Strom der Demokratie, so unaufhaltsam er auch ist, sich für einige Zeit mit weniger Ungestüm fließen lassen ließe. Konservativen einer solchen Art könnten alle Demokraten, die sich einen ebenso freien Blick und ein ebenso unbefangenes Urteil bewahrt haben, ebenso offen und herzlich die Hand reichen wie den meisten ihrer eigenen Gesinnungsgenossen. Und wir sprechen aus einer eingehenden Kenntnis der klügsten und hochgesinntesten Menschen dieser Klasse, wenn wir es auf uns nehmen, dafür einzustehen, dass sie niemals schnöde ihre eigenen politischen Pläne in einem Geist oder mit einer Leidenschaft verfolgen, welche vernünftige Bemühungen zugunsten dessen vereiteln könnten, was ihnen zuerst am Herz liegt: die Bildung des Verstandes und die Veredlung des Charakters aller Klassen ihrer Mitbürger. Wo aber findet man in der gesamten politischen Partei, die sich selbst konservativ nennt, auch nur einen einzigen Mann, der sich zu solchen Ansichten bekennt? Wird diese Partei die kurze Frist, die sie durch ihren Widerstand gegen die Demokratie allenfalls zu gewinnen hoffen darf, dafür verwenden, das Volk geeigneter zu machen, die demokratische Gewalt zu üben, wenn die Zeit dafür gekommen sein wird? Würde sie sich nicht weit eher jedem derartigen Vorhaben nach dem Grundsatz widersetzen, dass Wissen Macht ist und dass ihre weitere Verbreitung das gefürchtete Übel nur umso näher rücken würde? Merken die führenden Konservativen im Ober- und Unterhaus des Parlaments überhaupt, dass der Charakter der höheren Klassen einer Erneuerung bedarf, um sie für eine schwierigere Aufgabe und einen heftigeren Kampf zu befähigen, als sie bislang zu bestehen hatten? Oder genügt ihnen der jetztige Charakter eines Torylords oder eines Landedelmannes oder eines Pastors der Staatskirche bereits vollkommen? Ist nicht die bestehende Verfassung der beiden Universitäten – dieser Korporationen, deren spezielle Pflicht es wäre, dem schwächenden Einfluss, welchen die Verhältnisse der Zeit auf den individuellen Charakter ausüben, entgegenzuwirken und eine Reihe von Geistern in die Gesellschaft auszusenden, die nicht bloße Geschöpfe ihrer Zeit sein sollen, sondern dazu befähigt, ihrer Generation als Anführer auf der Bahn der Erneuerung und der Vervollkommnung voranzugehen – der Universitäten, die diese spezielle Pflicht bis heute auf die unverzeihlichste Weise vernachlässigen und die, wie es mit vernachlässigten Pflichten in der Regel geht, sogar das Bewusstsein deren Existenz aus ihrem Gedächtnis verloren haben – ist nicht die bestehende Verfassung und mit ihr das gegenwärtige System dieser Universitäten mit all seinen Missbräuchen, unter denen die Ausschließung der Dissenters noch der kleinste ist, in den Augen eines jeden Torys etwas, wofür er zwar vielleicht nicht, wie er vorgibt, im letzten Graben zu sterben, wohl aber etwas, für das er bis zur letzten Abstimmung im Parlament zu stimmen bereit ist? Die Kirche, ihrer Bestimmung nach das zweite große Werkzeug nationaler Kultur, ist längst – wir sprechen hier von der Regel und nicht von den Ausnahmen – in ein Werkzeug zur Entmutigung aller Bildung verkehrt worden, die mit blindem Gehorsam gegen hergebrachte Lehren und bestehende Autoritäten im Widerstand steht. Welcher Tory aber denkt daran, mit dieser Institution irgendwelche Änderungen vorzunehmen, außer etwa solche, die darauf berechnet sind, ihre Gegner einigermaßen zu besänftigen und ihr äußeres Aussehen für das Auge etwas weniger abschreckend zu machen? Welcher To-

82

D  Z  W

rypolitiker wird sich nicht jeder Maßregel aufs Äußerste widersetzen, die verhüten soll, dass die kirchlichen Stellen als Versorgungsplätze für bestimmte Familien, die kirchlichen Würden als Belohnung für politische und private Dienste verwendet werden? Den Torys, denjenigen wenigstens, welche mit dem Parlament in Beziehungen stehen oder amtliche Stellungen einnehmen, liegt wenig daran gute Institutionen zu haben oder auch nur die gegenwärtig bestehenden zu erhalten. Das einzige was sie wünschen, ist, sie zu ihrem Vorteil auszubeuten solange sie bestehen. Wir tragen keine Bedenken es als unsere Überzeugung auszusprechen, dass bei Vielen, welche entschiedene Gegner dieser alten Einrichtungen in ihrer gegenwärtigen Gestalt sind, ein wahrerer Geist der Erhaltung in Bezug auf alles Gute lebt, was die Grundsätze und anerkannten Zwecke jener Einrichtungen enthalten, als bei der Mehrzahl von denen, die sich Konservative nennen. Wohl aber gibt es manche wohlmeinenden Personen, die stets den Eifer für einen Zweck mit hartnäckigem Festhalten an einer bestimmten Art von Mitteln, die bereits wirklich oder angeblich für diesen Zweck angewendet werden, zu verwechseln geneigt sind. Sie müssen erst noch lernen, dass die Korporationen von Männern, die unter dem Vorwand Zwecke zu erfüllen, um die sie sich niemals ernstlich kümmern, in angesehenen und bedeutenden Stellungen leben, das größte Hindernis für eine Veränderung sind und dass sich jeder, dem es ernsthaft darum zu tun ist, sie erreicht zu sehen, auf einen wahren Vernichtungskrieg mit ihnen und ihren Bundesgenossens gefasst machen muss. Soviel über die politischen Auswirkungen der Zivilisation. Ihre moralischen Wirkungen, auf die wir bisher nur einen flüchtigen Blick geworfen haben, bedürfen noch einer vertieftenden Erläuterung. Man kann sie nach zwei Kategorien betrachten. Die eine umfasst den unmittelbaren Einfluss der Zivilisation auf den individuellen Charakter. Der anderen gehören alle die moralischen Wirkungen an, welche sich aus der Bedeutungslosigkeit ergeben, der das Individuum im Vergleich mit den Massen immer weiter anheimfällt. Eine der Wirkungen eines Zustandes weit vorgeschrittener Zivilisation ist das Nachlassen individueller Tatkraft oder vielmehr ihre ausschließliche Beschränkung auf den engen Kreis derjenigen Bestrebungen des Individuums, die auf Gelderwerb gerichtet sind. Mit dem Fortschreiten der Zivilisation wird der Mensch in seinen dringendsten und nächsten Interessen immer mehr von den allgemeinen Einrichtungen der Gesellschaft und in demselben Grade immer weniger von seinen eigenen Bemühungen abhängig. In einem rohen Zustand der Gesellschaft hängt die persönliche Sicherheit eines Mannes, der Schutz seiner Familie, seines Eigentums, selbst seine Freiheit, größtenteils von seiner Körperkraft und geistigen Energie oder Verschlagenheit ab. In einem zivilisierten Zustand wird ihm alles dies durch äußerliche Vorkehrungen gesichert. Die größere Milderung der Sitten sichert ihn vor vielen Gefahren, denen er früher ausgesetzt war, während er sich in Bezug auf alles Übrige mit stets wachsender Sicherheit auf den Soldaten, den Polizeibeamten, den Richter und dort, wo die Wirksamkeit und Makellosigkeit dieser Werkzeuge, wie es gewöhnlich der Fall ist, hinter dem Gang der allgemeinen Zivilisation zurückbleibt, auf die mehr und mehr erstarkende öffentliche Meinung verlassen kann. Als Anregung zur Aktivierung seiner Tatkraft bleibt noch das Verlangen nach Reichtum und Mehrung des persönlichen Ansehens, die Leidenschaft der Philanthropie und die Liebe zur tätigen Tugend. Aber die Ziele, welchen diese verschiedenen

Z – Z  Z ()

83

Gefühle zustreben, sind eine Sache der freien Wahl, nicht der Notwendigkeit und außerdem wirken diese Gefühle durchaus nicht mit gleicher Stärke auf alle Gemüter. Dem einzigen Ziel, dem man eine gewisse Allgemeinheit zusprechen kann, ist das Streben nach Reichtum und da Reichtum für die Mehrzahl der Menschen auch das einfachste Mittel zu bieten scheint, nahezu alle anderen ihrer Neigungen zu befriedigen, so konzentriert sich fast die ganze Tatkraft einer hochzivilisierten Gesellschaft in der Verfolgung dieses einen Zieles. Nur bei den einflussreichsten Klassen, deren Energie, wenn sie überhaupt vorhanden wäre, sich im größten Maßstab geltend machen und die bedeutendste Wirkung üben könnte, ist das Verlangen nach Reichtum in der Regel bereits so weit befriedigt, dass sie selten geneigt sein werden, sich zum Zweck einer weiteren Vermehrung ihrer Glückgüter Gefahren und Leiden auszusetzen oder sich gar freiwillig einer großen Anstrengung zu unterziehen. Hinzu kommt noch, dass dieselben Klassen schon in Folge ihrer bevorzugten Stellung ein großes persönliches Ansehen genießen. Außer den hohen Staatsämtern gibt es demnach kaum etwas, was bei Männern in dieser Lage den Ehrgeiz anregen könnte. Zu einer Zeit, da ein großer Edelmann diese Ämter nur zu verlangen brauchte, um sie zu erhalten, und da ihm die Pflichten seines Amtes keine größere Mühe machten als die Verwaltung seiner Privatgüter, schien der Besitz einer derartigen Stellung einem solchen Manne ohne Zweifel wünschenswert genug. Sobald diese Ämter aber zu Posten werden, welche mit schwerer Arbeit, mit Plagen und Sorgen aller Art verbunden sind und außerdem nur um den Preis einiger vorausgegangenen Bemühungen zu haben sind, stellt sich erfahrungsmäßig immer heraus, dass unter den Männern, die nicht gewohnt sind ihre Vergnügungen und ihre Bequemlichkeit zu opfern, sich immer nur sehr wenige finden, bei denen die Aussicht auf diese Stellungen als ein Antrieb zur Tätigkeit wirkt oder einen bemerkenswerten Grad von Charakterstärke hervorzurufen vermag. So kommt es, dass in hochzivilisierten Ländern, und namentlich bei uns, die Energie der Mittelklassen sich fast ausschließlich dem Gelderwerb zuwendet und die der höheren Klassen mehr und mehr im Erlöschen begriffen ist. Noch einen anderen Umstand gibt es, auf den wir viele von den guten und schlechten Eigenschaften zurückführen können, welche unsere Zivilisation von der Rohheit früherer Zeiten unterscheiden. Eine der Wirkungen der Zivilisation, um nicht zu sagen einer ihrer wesentlichsten Bestandteile, liegt darin, dass der Anblick und selbst die Vorstellung von körperlichem Schmerz denjenigen Klassen, welche die Wohltaten der Zivilisation im vollen Umfang genießen, mehr und mehr ferngehalten wird. Der Zustand fast beständiger persönlicher Kämpfe, welche die Verhältnisse früherer Zeiten nötig machten und denen sich kaum irgendjemand, welches auch seine Stellung in der Gesellschaft sein mochte, ganz entziehen konnte, mussten jeden Menschen an den Anblick von Härte, Rohheit und Gewalttätigkeit, an das Ringen eines unbezähmbaren Willens mit dem Anderen und an das wechselseitige Dulden und Zufügen von Schmerz gewöhnen. Diese Dinge erschienen deshalb auch in den Augen der besten und durch tätiges Wohlwollen hervorragendsten Männer jener Zeiten keineswegs so empörend, wie sie uns erscheinen müssten und die Geschichte hat uns häufig Handlungen solcher Männer verzeichnet, die man allgemein bei einem Menschen unserer Zeit als Zeichen einer sehr weitgehenden Gefühllosigkeit betrachten würde. Sie nahmen es leichter, damit Schmerz über andere zu verhängen, weil sie es selber mit dem Schmerz leichter nahmen. Wenn wir von Handlungen der Griechen und Römer sowie unserer eigenen Vorfahren lesen, die eine

84

D  Z  W

große Gleichgültigkeit und Verhärtung gegen menschliches Leiden zu verraten scheinen, so müssen wir deshalb nicht glauben, dass diejenigen, welche sie begingen, so gewesen sind, wie wir werden müssten, um ähnliche Handlungen begehen zu können. Den Schmerz, welchen sie anderen zufügten, waren sie gewohnt aus sehr geringfügiger Veranlassung freiwillig auch über sich selbst ergehen zu lassen; er erschien ihnen durchaus nicht als ein so großes Übel, wie er uns erscheint und für uns wirklich ist und diese Auffassung übte durchaus keinen herabwürdigenden Einfluss auf ihren Charakter aus. In unserem Zeitalter hat im Vergleich mit jenen Zeiten die Notwendigkeit eines persönlichen Zusammenstoßes zwischen zwei Menschen fast ganz aufgehört. Alle jene notwendigen Teile des Geschäfts der Gesellschaft, welche einen Menschen verpflichten können, das unmittelbare Werkzeug oder ein Augenzeuge eines Vorganges zu sein, der anderen Wesen körperlichen Schmerz bereitet, sind unter allgemeiner Zustimmung gewissen eng begrenzten Klassen von Menschen zugewiesen: dem Richter, dem Soldaten, dem Wundarzt, dem Metzger, dem Scharfrichter. Für die meisten Menschen in einer behaglichen Lebensstellung ist jeder andere Schmerz als der, welchen Krankheit und Zerfall dem Körper und die unvermeidlichen Sorgen des Lebens der Seele bereiten, etwas, das sie mehr aus Beschreibung als aus wirklicher Erfahrung kennen. Besonders gilt das von den Klassen, in welchen eine verfeinerte Auffassung des Lebens herrscht und mehr und mehr Boden gewinnen, denn die Verfeinerung besteht großenteils darin, dass die Menschen nicht allein den Anblick des wirklichen Schmerzes, sondern selbst alles zu ersparen suchen, was zu unangenehmen und quälenden Vorstellungen führen kann. Wir können nebenbei bemerken, dass dies nur durch eine solche Vollendung mechanischer Techniken praktizierbar ausführbar ist, wie sie in einem rohen Zustand unmöglich wäre. Da nun die meisten Arten des Schmerzes und der Qual denjenigen, welche wenig Erfahrung darin haben, weit unerträglicher erscheinen als denjenigen, welche diese Erfahrung in ausgedehntem Maß besitzen, so ist die natürliche Folge, dass im Vergleich mit früheren Zeiten die reicheren Klassen zivilisierter Gemeinwesen an Liebenswürdigkeit und Menschlichkeit sehr viel gewonnen, an Heroismus dagegen sehr viel eingebüßt haben. Der Heroismus besteht wesentlich darin, dass man um eines würdigen Zweckes willen bereit ist, das Schmerzliche oder Unangenehme zu tun und zu leiden – vorzüglich aber zu tun. Wer sich die Fähigkeit dafür nicht frühzeitig aneignet, wird nie einen großer Charakter entwickeln. In den verfeinerten Klassen, in der ganzen Schicht der Gesellschaft, die man in England unter dem Namen Gentlemen umfasst, hat sich allmählich eine Art moralischer Verweichlichung eingeschlichen, die zu jedem Ringen untauglich macht. Sie schrecken vor jeder Anstrengung, vor allem was lästig und unangenehm ist, zurück. Dieselben Ursachen, welche sie träge machen und ihren Unternehmungsgeist lähmen, geben ihnen zumindest in der Regel wenigstens die Fähigkeit, unvermeidliche Übel stoisch zu ertragen. Heroismus jedoch ist eine aktive, keine leidende Eigenschaft und überall wo es nötig ist, den Schmerz nicht bloß zu ertragen, weil man es nicht anders kann, sondern ihn freiwillig aufzusuchen, werden wir von den Männern unserer Tage nicht allzu viel erwarten dürfen. Sie möchten sich keiner Anstrengung unterziehen, möchten keinen Spott und das Gerede böser Zungen ertragen. Sie haben nicht einmal mehr den Mut, jemanden, den sie häufig sehen, auch einmal etwas Unangenehmes zu sagen. Selbst mit einer großen Menge hinter sich können sie der Kälte einer kleinen Intrige, wenn sie sie umgibt, nicht erfolgreich trotzen. Trägheit und Feigheit als das allgemeine Merkmal ei-

Z – Z  Z ()

85

nes ganzen Zeitalters sind eine neue Erscheinung. Mit einigen Modifikationen, die sie durch den unterschiedlichen Charakter der jeweiligen Nationen erfährt, ist sie eine natürliche Folge des Fortschritts der Zivilisation und sie wird fortdauern, bis sie endlich auf ein System der Erziehung trifft, das geeignet ist, ihr wirksam etwas entgegenzusetzen. Wenn auf diese Weise die Quelle großer Tugenden versiegt, so wird das Laster auf der anderen Seite allerdings einigen durchaus wirksamen Einschränkungen unterworfen. Die Herrschaft der öffentlichen Meinung widersetzt sich zum wenigsten den ungebührlichsten Lastern, und da diese einschränkende Gewalt an Stärke zunimmt und gewisse Klassen oder Einzelpersonen ihre prägende Ausnahmestellung verlieren, ist diese Veränderung für die äußere Wohlanständigkeit des Lebens höchst günstig. Auch kann nicht geleugnet werden, dass die Ausbreitung selbst solchen Wissens, wie es die Zivilisation notwendig mit sich bringt, keine geringe Neigung zeigt, das Normalmaß der öffentlichen Meinung, wenn auch nur teilweise, zu berichtigen, viele jener Vorurteile und abergläubischer Vorstellungen zu untergraben, welche bewirkten, dass die Menschen sich um solcher Dinge willen hassten, die keinen Hass verdienten, ihnen ein richtigeres Urteil über das Wesen und den Zweck menschlicher Handlungen zu geben und ihnen ein genaueres Abwägen der Beweise möglich zu machen, auf Grund derer sie ihre Mitmenschen verurteilen oder preisen, mit einem Wort: Ihre Billigung mit einer größeren Sicherheit guten, ihre Missbilligung schlechten Handlungen zuzuwenden. Welche Grenzen diesem Fortschritt gezogen sind, wenn keine andere Art von Kultur mit derjenigen Hand in Hand geht, welche die natürliche Begleiterin der Zivilisation ist, brauchen wir hier jetzt nicht weiter zu untersuchen. Genug, dass diese Grenzen ein weites Gebiet umfassen und dass derjenige Grad des Fortschritts in der allgemeinen Einsicht, der Besänftigung der Gefühle und der Abnahme verderblicher Irrtümer, wie sie natürlicherweise aus dem wachsenden Reichtum und der allgemeinen Verbreitung der Leselust hervorgehen, ausreichen wird, das Urteil des Publikums über Handlungen und Personen, so weit als tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, einsichtsvoller und richtiger zu gestalten. Hier aber zeigt sich eine andere Verzweigung der Zivilisationswirkungen, die zu unserem großen Erstaunen vergleichsweise geringe Beachtung findet. Das Individuum verliert sich so sehr in der Menge, dass es – trotz des wachsenden Einflusses der Meinungen im allgemeinen – dazu neigt, sich immer weniger auf wohlbegründete Meinungen, auf die Meinungen derer zu stützen, die es kennt. Ein fest in sich gegründeter Charakter ist heute gleichermassen schwieriger zu gewinnen wie auch leichter zu entbehren. In einer kleinen Gesellschaft, wo jeder jeden kennt, wird die öffentliche Meinung, soweit sie in den ihr gebührenden Schranken bleibt, ihre heilsamsten Wirkungen entfalten können. Nehmen wir den Fall eines Kaufmannes in einer kleinen Landstadt: Jeder seiner Kunden kennt ihn seit langer Zeit genau; ihre Meinung über ihn haben sie sich nach oft wiederholten Begegnungen gebildet. Wenn er sie auch einmal über die Qualität seiner Ware betrügen konnte, so konnte er doch nicht hoffen, sie lange täuschen zu können. Er kann sich nach keinen anderen Kunden umsehen, wenn er die jetzigen verliert. Aber er darf hoffen, dass sich – wenn seine Ware wirklich das ist, was sie zu sein vorgibt – diese Tatsache bei der geringen Zahl an Konkurrenten leicht herumspricht und anerkannt wird und sie ihm als Privatmann und als Geschäftsmann einen guten Ruf verschaffen wird. Ganz anders gelagert ist der Fall eines Mannes, der sein Geschäft in den von Menschengewühl erfüllten Straßen einer großen Stadt eröffnet. Wenn er sich bloß auf die

86

D  Z  W

Qualität seiner Ware und auf die Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit verlässt, mit der er hält, was er verspricht, so kann er zehn Jahre ohne einen einzigen Kunden bleiben. Sei er auch noch so ehrenhaft, er ist gezwungen an allen Straßenecken herauszuposaunen, dass seine Waren unter allen Waren der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die allerbesten sind. Wenn er dies, so unwahr es auch immer sein mag, nur laut genug verkünden kann, um die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen und zugleich seiner Ware für den Verkauf einen trügerischen Anschein zu geben vermag, den man mit einem oberflächlichen Blick nicht sogleich durchschauen kann, so wird sein Geschäft blühen und gedeihen, selbst wenn kein Kunde ein zweites Mal in seinen Laden kommt. Man hat in den letzten Jahren viel darüber geklagt, dass auf gewerblichem wie auf geistigem Gebiet Scharlatanerie und Reklame mehr und mehr ihr Unwesen treiben, aber niemand scheint bemerkt zu haben, dass dies die natürlichen Früchte einer ins Ungeheure gesteigerten Konkurrenz und eines Zustandes der Gesellschaft sind, bei dem jede Stimme, die nicht die allerschrillsten Töne anzuschlagen weiß, in dem allgemeinen verworrenen Getöse untergehen muss. Der Erfolg auf einem so überfüllten Terrain hängt nicht mehr davon ab, was eine Person ist, sondern davon, was sie zu sein scheint; die Eigenschaft der leichten Verkäuflichkeit wird an Stelle aller anderen, wesentlichen Eigenschaften das Ziel des Strebens. Kapital und Arbeit werden weniger dazu eingesetzt, etwas zu tun, als dazu anderen Leuten einzureden, dass man es getan hat. Unsere Zeit hat dieses Übel seinen Höhepunkt erreichen sehen. Marktschreierei hat es natürlich schon immer gegeben, aber sie galt als Beweis für den Mangel vollwertiger Qualität und es gab ein Sprichwort welches lautet, dass die gute Ware sich selbst lobt! Erst unserer Epoche ist es vorbehalten zu sehen, wie sogar der ehrliche Geschäftsmann durch die harte Notwendigkeit und die sichere Aussicht, von seinem unehrlichen Konkurrenten überholt zu werden, zur Marktschreierei gezwungen wird. Jetzt gelten Kunstgriffe, welche die öffentliche Aufmerksamkeit anziehen können, zum ersten Mal als ein notwendiger Bestandteil der Berufsausbildung selbst eines tüchtigen Mannes. Die Geschicklichkeit in diesen Kunstgriffen bietet eine sicherere Gewähr des Erfolges als irgendeine andere Fähigkeit. Derselbe Drang der Konkurrenz treibt die Geschäftswelt mehr und mehr zu dem Wagstück eines Spiels, bei dem es sich um alles oder nichts handelt und dieser Umstand in Verbindung mit den Schwierigkeiten, welche einer sicheren Berechnung auf einem so ausgedehnten Feld des Handels entgegenstehen, lässt den Bankrott nicht länger als eine Schande erscheinen, weil er nicht länger ein beinahe untrügliches Anzeichen von Unehrlichkeit und Torheit ist. Der Misskredit, der ihm noch anhaftet, trifft ihn leider hauptsächlich deshalb, weil er ein Beweis von Armut ist! So verliert die öffentliche Meinung ein anderes von jenen einfachen Unterscheidungszeichen des Verdienstes, die sie richtig anzuwenden versteht und gerade die Ursache, welche sie in ihrem Gesamteinfluss so mächtig macht, schwächt zugleich die Bestimmtheit und Stärke, mit der ihr Urteil das einzelne Individuum trifft. Die wachsende Bedeutungslosigkeit des Individuums innerhalb der Masse übt aber nicht bloß einen schädlichen Einfluss auf private Tugenden aus. Sie verdirbt auch die Quelle, aus der die Vervollkommnung der öffentlichen Meinung selbst entspringen soll; sie verdirbt die öffentliche Unterweisung; sie schwächt den Einfluss der gebildeten Minderzahl auf die Massen. Die Literatur hat mehr als alle anderen menschlichen Erzeugnisse unter der allgemeinen Krankheit gelitten. Solange es nur

Z – Z  Z ()

87

wenige Bücher gab und überhaupt wenige lasen außer denen, die gewohnt waren, die besten Schriftsteller zu lesen, wurden die Bücher in der wohlbegründeten Annahme geschrieben, dass sie sorgfältig und, wenn sie es verdienten, mehrmals gelesen würden. Wenn ein Buch von wirklichem Wert erschien, konnte man sicher sein, dass das gesamte Lesepublikum davon hören würde und hoffen, dass es in diesem Kreis allgemeine Verbreitung finden werde. Sein Erfolg wurde gesichert durch seine wirklichen Vorzüge auch ohne blendende Ausstattung, und selbst wenn es blendend ausgestattet war, fiel es in Vergessenheit, sofern es nicht echten Wert aufzuweisen hatte. Der Erfolg war auf der Seite dessen der gut, nicht dessen, der viel schrieb. Er belohnte den arbeitssamen und gelehrten, nicht den oberflächlichen und schlecht unterrichteten Autor. Jetzt ist es gerade umgekehrt. „Wir leben in einem lesenden Zeitalter, und gerade weil sie eine Zeit des Viellesens ist, hat ein Buch, welches das Resultat tiefen Nachdenkens ist, vielleicht weniger Aussicht richtig und mit Nutzen gelesen zu werden als in irgendeiner früheren Zeit. Die Welt liest zu viel und zu rasch, um gut lesen zu können. Als es noch wenige Bücher gab, war es eine Arbeit, die Zeit und Mühe kostete, eines gründlich zu lesen. Was mit Nachdenken geschrieben war, wurde mit Nachdenken gelesen und mit dem Wunsch, soviel als möglich von dem Wissensmaterial mitzunehmen. Was aber soll man tun, wenn fast jeder, der die Buchstaben kennt, schreiben kann und will? Es ist schwer zu wissen, was man lesen soll, wenn man nicht alles liest. Durch die Presse wird jetzt soviel von dem Geschäft der Welt besorgt, dass wir wissen müssen, was gedruckt wird, wenn wir wissen wollen, was vorgeht. Die öffentliche Meinung drückt mit einem so ungeheuren Gewicht auf die Waagschale der Ereignisse, dass Ideen ohne eigenen Wert durch die bloße Tatsache an Bedeutung gewinnen, dass sie Ideen sind und irgendwo außerhalb von Bedlam wirklich existieren. Die Welt überfüllt sich in Folge dessen mit geistiger Nahrung und stopft sie eilig in großen Bissen hinunter, um nur recht viel zu sich zu nehmen. Nichts mehr wird langsam oder zweimal gelesen. Man überfliegt ein Buch mit derselben Geschwindigkeit wie einen Zeitungsartikel und es lässt auch kaum einen dauerhaften Eindruck zurück. Es ist dies einer von den Gründen, weshalb so wenige Bücher von einigem Wert geschrieben werden. Die Löwin in der Fabel rühmt sich damit, dass sie zwar nur ein Junges zur Welt bringe, dass dieses Junge aber ein Löwe sei. Wenn aber jedes Löwenjunge für eins zählt und jeder junge Hase ebenfalls für eins, so ist der Vorteil ganz auf Seiten der Hasen. Wenn jeder Einzelne schwach ist, so kann nur noch die Menge etwas gelten. Was Wunder also, dass die Zeitungen alles aus dem Felde schlagen? Ein Buch bringt kaum eine größere Wirkung hervor als ein Leitartikel, deren es im Jahr 365 geben kann. Derjenige, der sonst ein gutes Buch schreiben sollte und geschrieben haben würde, wirft seine Gedanken oder was er fälschlich für Gedanken hält, jetzt stattdessen in aller Eile in einen Artikel für eine Zeitschrift hin. Das Publikum ist dabei in der Lage eines trägen Mannes, der es nicht über sich bringen kann, sich mit großer geistiger Anstrengung seinen eigenen

88

D  Z  W Angelegenheiten zuzuwenden und auf das deshalb nicht der, welcher am klügsten, sondern der, welcher am häufigsten spricht, den größten Einfluss gewinnt.“2

Daher kommt es, dass die Literatur täglich mehr und mehr einen ephemeren Charakter annimmt. Bücher von wirklicher Gründlichkeit werden kaum noch geschrieben und selbst größere Zeitschriften gelten schon als zu schwere Kost. Selbst die Länge eines Überblicksartikels über einen ernsten Gegenstand ist schon zu groß, um die Aufmerksamkeit wach halten zu können. In Bezug auf die momentan attraktiven Gattungen der Literatur – also Romane und Unterhaltungszeitschriften – hat trotz der erheblich gestiegenen Nachfrage das Angebot die Nachfrage mittlerweile so sehr überflügelt, dass ein Roman zu einer selten einträglichen Spekulation geworden ist. Nur im Fall ganz außerordentlicher Attraktion zahlt ein Buchhändler dem Autor heute noch ein Honorar für das Verlagsrecht. Da sich die Schwierigkeiten des Erfolgs steigern, werden alle anderen Bestrebungen dieser einen mehr und mehr untergeordnet. Die Literatur sinkt mehr und mehr zu einem bloßen Spiegelbild der landläufigen Ansichten herab und hat ihre Mission, diese Ansichten zu klären und zu veredeln, so gut wie ganz aufgegeben. Es sind uns in diesem Land nur noch zwei Wege übrig geblieben, die es einem individuellen Geist möglich machen können, einen bedeutenden direkten Einfluss auf den Geist und das Geschick seiner Mitbürger zu üben: die Stellung als Parlamentsmitglied und die Tätigkeit als Herausgeber einer Londoner Zeitung. In diesen beiden Positionen kann ein Einzelner noch viel bewirken, weil die Macht der Institution in beiden Fällen groß ist und die Zahl der Beteiligten keine große Zunahme zulässt. Eines dieser Monopole wird der Konkurrenz eröffnet werden, sobald die spezielle Zeitungsbesteuerung wegfällt. Die Bedeutung der Zeitungspresse in ihrer Gesamtheit, wenn man sie als Stimme der öffentlichen Meinung betrachtet, wird dadurch wachsen, der Einfluss des einzelnen Schriftstellers, der zur Bildung dieser Meinung mitwirkt, notwendig abnehmen. Wir könnten dies bedauern, wenn wir nicht wüssten, welchen Zwecken dieser Einfluss jetzt dient und ohne Zweifel auch weiter dienen wird, solange Zeitungen eine bloße Kapitalanlage für kaufmännische Spekulation sind. Gibt es dagegen kein Heilmittel? Ist der Verfall persönlicher Energie, die Abschwächung des Einflusses, den überlegene Geister auf die Menge üben, die Zunahme der Marktschreierei und die verminderte Wirksamkeit der öffentlichen Meinung als einschränkende Macht – ist alles dies der Preis, den wir notwendigerweise für die Wohltaten der Zivilisation zahlen müssen? Können diese Übel nur dadurch vermieden werden, dass wir die Verbreitung des Wissens behindern, das Streben nach Kooperation entmutigen, den Fortschritt in den Künsten des Lebens verbieten und die weitere Zunahme des Reichtums und der Produktion gewaltsam niederdrücken? Sicherlich nicht. Alle jene Vorzüge, welche die Zivilisation allein nicht bietet, können dennoch neben der Zivilisation bestehen blieben. Ja, nur in Verbindung mit ihr werden sie ihre schönsten Früchte tragen. Alles, was wir Gefahr laufen zu verlieren, können wir erhalten, alles was wir verloren 2

Anmerkung von Mill: Aus einem Aufsatz des Verfassers, der in die gegenwärtige Sammlung nicht aufgenommen ist [Anmerkung der Herausgeber: John Stuart Mill (1832) Besprechung von „Austin’s Lectures on Jurisprudence“, in Tait’s [Edinburgh] Magazine IX, Dezember 1832, S. 343].

Z – Z  Z ()

89

haben, können wir wiedergewinnen und zu einer bis dahin noch nicht gekannten Vollendung bringen. Aber nicht dadurch, dass wir untätig die Hände in den Schoß legen und die Dinge sich selbst überlassen, noch weniger dadurch, dass wir unsere Kraft in einem lächerlichen Kampf gegen unvermeidliche Tendenzen vergeuden, sondern dadurch, dass wir Gegentendenzen schaffen, die sich mit jenen natürlichen Tendenzen verbinden und sie modifizieren. Die Übelstände liegen darin, dass das Individuum in der Menge verloren geht und machtlos wird und dass der individuelle Charakter schlaff und tatlos wird. Das Mittel gegen das erstere Übel ist größere und bessere Kooperation der Individuen miteinander; das Mittel gegen das zweite Übel sind nationale Erziehungsanstalten und Regierungsformen, die geeignet sind, den individuellen Charakter zu kräftigen. Da die Verwirklichung des ersteren einen Wechsel in den Gewohnheiten der Gesellschaft voraussetzt, kann sie nur allmählich in dem Grade erfolgen, wie es sich als Bedürfnis fühlbar macht. Aber der Drang der Umstände beginnt sie bereits jetzt bis zu einem gewissen Umfang herbeizuführen. Vor allem Großbritannien, das die übrigen Länder der alten Welt an Umfang und Schnelligkeit der Anhäufung von Reichtum weit übertrifft, ist die Klasse der kleinen Händler und Produzenten in Folge des Sinkens des Kapitalgewinns, welcher durch die ungeheure Zunahme der Bevölkerung und des Kapitals hervorgerufen wird, in raschem Verschwinden begriffen, weil sie es unmöglich finden von ihrem verminderten Kapitalgewinn zu leben und das Geschäft aller Art konzentriert sich immer mehr in den Händen derer, welchen große Kapitalien zur Verfügung stehen, mögen diese nun reiche Individuen oder Aktiengesellschaften sein, die durch die Vereinigung vieler kleiner Kapitalien gebildet werden. Wir gehören zu denen, welche glauben, dass dieser Fortschritt entweder zum Verschwinden aller Konkurrenz führen muss oder dass die gesamten produktiven Hilfsquellen des Landes innerhalb einer gewissen Reihe von Generationen (wenn überhaupt jemals) von einer allgemeinen Genossenschaft des gesamten Gemeinwesens für gemeinsame Rechnung verwaltet werden wird. Wir glauben aber, dass die Vervielfältigung der Konkurrenten es in allen Geschäftszweigen und in allen Berufsarten, immer schwieriger macht den Erfolg allein durch Leistung und immer leichter macht, ihn durch trügerischen Schein zu erreichen. Wir glauben auch, dass ein beschränkendes Prinzip zu dieser Konkurrenz im Geist der Kooperation gefunden werden kann. In jedem überfüllten Wirtschaftssektor wird sich unter den Individuen die Tendenz einstellen, ihre Arbeit und ihr Kapital zu vereinigen bis schließlich Käufer oder Arbeitgeber nicht mehr zwischen unzähligen Individuen, sondern nurmehr zwischen wenigen Gruppen auswählen müssen. Das Konkurrenzprinzip bleibt so wirksam wie immer, aber die Zahl der Konkurrenten wird auf eine überschaubare Menge begrenzt werden. Ein solcher Geist der Kooperation tut vor allem den höheren geistigen Klassen und Berufsarten not. Das Quantum an kostbarster menschlicher Arbeit, das hier aus Mangel an Kooperation auf die sträflichste Weise vergeudet wird, ist gar nicht berechenbar. Welch ein Trauerspiel z. B. bietet der ärztliche Beruf! Hier ein berühmter Arzt, auf dem eine größere Arbeitsmenge lastet, als irgendein Sterblicher ertragen kann und der dann auch seine Arbeit so summarisch verrichtet, dass sie in vielen Fällen besser ungetan geblieben wäre; in den benachbarten Straßen zwanzig unglückliche Männer, die mit ebenso viel Mühe und ebenso viel Kosten herangebildet worden sind wie er, um dassel-

90

D  Z  W

be zu leisten wie er und die möglicherweise auch dasselbe zu leisten im Stande wären, deren Fähigkeiten aber nutzlos rosten und die selbst Not und Mangel leiden, weil es ihnen an Beschäftigung fehlt! Bei besseren gesellschaftlichen Einrichtungen würden diese zwanzig eine Gruppe von Hilfsarbeitern unter der Leitung ihres geschickteren Kollegen bilden, der jetzt – vorausgesetzt, dass er wirklich der tüchtigste Arzt seiner Gruppe und nicht bloß ein erfolgreicher Betrüger – seine Zeit damit verschwendet, Mittel gegen Schnupfen und Kopfschmerzen zu verordnen, ein Geschäft, das er bei einer klügeren Ökonomie der menschlichen Hilfsquellen seinen Mitarbeitern überweisen könnte, um seine reifere Kraft und größere Erfahrung ganz dem Studium und der Behandlung solcher geheimnisvoller und schwieriger Fälle zu widmen, deren Natur die Wissenschaft noch nicht genügend ergründet hat und für die gewöhnliche Kenntnis und Geschicklichkeit nicht ausreicht. Auf diese Weise würden alle Fähigkeiten ihre Verwendung finden und da man die höchsten Aufgaben den höchsten Kräften vorbehielte, so würde in der Lösung derselben ein Fortschritt stattfinden, während das Alltagsbedürfnis dabei gleichfalls auf seine Kosten käme. Vor allem aber in der Literatur wäre eine solche Veränderung eine dringende Notwendigkeit. Hier hat sich das System individueller Konkurrenz so ziemlich erschöpft und die Dinge können kaum viel länger so bleiben, wie sie jetzt sind. Die Literatur ist ein Bereich der Produktion, der für die höchsten Interessen der Menschheit wichtiger ist als jeder andere, ein Bereich, dessen höchste und wichtigste Leistungen am meisten dazu beitragen, die Meinungen und den Charakter kommender Geschlechter zu bilden – weit mehr, als irgendein anderer Produktionsbereich, der jenseits des Beurteilungsvermögens der grossen Masse des Publikums liegt. War es doch selbst zu einer Zeit, wo dieses Publikum noch viel geringer an Zahl und viel ausgewählter war, eine allgemein zugestandene Tatsache, dass der einzige Lohn, den ein Schriftsteller ersten Ranges erwarten durfte, der Ruhm bei der Nachwelt sei. Diesen Ruhm konnte in jenen Zeiten jeder, der seiner würdig war, zuversichtlich erwarten, denn jedes gute Buch, das damals erschien, hatte sichere Aussicht von den guten Richtern, so gering auch ihre Zahl war, gelesen zu werden und da die Erinnerung an ein Buch in diesen Tagen noch nicht sogleich durch hundert neue Bücher verdrängt wurde, so behielten sie den empfangenen Eindruck im Gedächtnis und überlieferten ihn in aller Frische und Lebendigkeit der Nachwelt. In unseren Tagen aber ist es bei der ungeheuren Menge von Schriftstellern, die für unsere Epoche ebenso bezeichnend ist wie die Menge der Leser und bei der Art wie wir zu lesen gezwungen sind, kaum möglich, dass eine literarische Publikation, die nicht während der Zeit ihrer Neuheit einen Eindruck macht, überhaupt noch Eindruck mache. Ein Buch zündet entweder gar nicht oder es wird so gelesen, dass die Erinnerung daran sich bald verflüchtigt. Gute wie schlechte Bücher fristen nur ein Eintagsdasein. Dagegen gibt es kein Mittel, solange dem Publikum keine anderen Führer zu Gebote stehen, die seine Aufmerksamkeit dem wirklich Lesenswerten zuwenden können, als buchhändlerische Anzeigen und leichtfertige, hastige Kritiken in Zeitungen und kleinen Zeitschriften. Mit der Zeit wird sich eine Abhilfe in irgendeiner organisierten Vereinigung der leitenden Geister einer Epoche finden lassen, die es möglich machen wird, dass Werke ersten Ranges, gleichviel welcher Klasse und welcher Meinung sie angehören, gleich bei ihrem ersten Erscheinen den Stempel der Billigung von Männern tragen,

Z – Z  Z ()

91

deren Namen und Autorität schwer ins Gewicht fallen. Es gibt viele Gründe, weshalb wir noch lange auf eine solche Vereinigung werden warten müssen, aber trotz riesiger Mängel in Plan und Ausführung war die „Gesellschaft zur Verbreitung nützlichen Wissens“ ein so beträchtlicher Schritt auf dieses Ziel hin, wie man ihn bei unseren gegenwärtigen geistigen Zuständen von einem ersten Versuch irgend erwarten konnte. Die Literatur hat in unserem Land zwei große Zeitalter gehabt und sie muss muss jetzt in ein drittes treten. Das Zeitalter der Mäzene ist vorbei, wie Johnson schon vor einem Jahrhundert erklärte. Das Zeitalter der Buchhändler eilt, wie Mr. Carlyle erklärt,3 mit raschen Schritten seinem Ende entgegen. In dem ersteren lag an sich nichts Erniedrigendes, ebenso wenig wie in dem zweiten an sich etwas Unabhängiges und Liberales. Jedes von beiden hat große Dinge geleistet und seine Blüte gehabt. Vielleicht kommt bald die Zeit, wo die Schriftsteller als eine Gesamtgenossenschaft ihre eigenen Mäzene und ihre eigenen Buchhändler sein werden. Diese Dinge wollen aber ihre Zeit haben. Das andere große Erfordernis, die Wiedergeburt des individuellen Charakters unter unseren gebildeten und reichen Klassen durch eine auf diesen Zweck berechnete Einrichtung unserer Institutionen und vor allem unserer Erziehungsanstalten, ist ein Gegenstand von größter Dringlichkeit, für den schon jetzt sehr viel mehr geschehen könnte, wenn nicht der Wille und die Einsicht dazu fehlen würden. Unglücklicherweise ist dies eine Frage, bei der für die Verbreitung und die Einprägung vernünftiger Anschauungen noch fast alles zu tun übrig bleibt. Denn alles, was wir einprägen möchten, alles was uns als das Lebensprinzip dieser Frage erscheint, alles worauf nach unserer Ansicht das Heil der nächsten und aller kommenden Geschlechter beruht, hat das Unglück, beinahe in gleichem Grade den populärsten Lehren unserer eigenen Zeit und den Vorurteilen derer zu widerstreben, welche die leere Hülse von allem hochhalten, was aus alten Zeiten stammt. Wir liegen gleichzeitig im Streit mit den Bewunderern von Cambridge und Oxford, Eton und Westminster und mit der Mehrzahl derer, welche auf eine Reform dieser Anstalten mit Entschiedenheit drängen. Wir betrachten das System dieser Anstalten, wie es seit zwei Jahrhunderten gehandhabt wurde, mit einem Gefühl, das der äußersten Abscheu nicht mehr sehr fern liegt. Wir glauben auch nicht, dass ihre Schäden geheilt werden könnten, wenn man sie nur in engere Verbindung mit alledem setzen wollte, was man mit einem Modeausdruck „das Geschäft der Welt“ zu nennen pflegt, wenn man nämlich die klassischen Studien und die Logik, welche noch immer zu den offiziellen Unterrichtsgegenständen gehören, beseitigen wollte, um moderne Sprachen und Experimentalphysik an ihre Stelle zu setzen. Ganz im Gegenteil – wir wünschen einen weit wirksameren und gründlicheren Unterricht in den Klassikern und der Logik als bisher und wir würden diesen Studien noch andere hinzufügen, die zu dem sogenannten Geschäft jedes vernünftigen Wesens gehören, nämlich die Stärkung, Erweiterung und Veredelung seiner geistigen Fähigkeiten und seines Charakters. Die Sorge für die empirische Kenntnis, welche die Welt verlangt und die das Betriebskapital aller auf Geldgewinn gerichteten Bestrebungen ist, dürfen wir beruhigt der Welt selbst überlassen. Uns genügt es, wenn es gelingt, der Jugend einen Geist 3

Anmerkung der Herausgeber: Thomas Carlyle, „Boswell‘s Life of Johnson“. Fraser’s Magazine V, Mai 1832, S. 396–397.

92

D  Z  W

einzuflößen und Gewohnheiten in ihr heranzubilden, die sie befähigen, solche Kenntnis leicht zu erlangen und gut zu gebrauchen. Dass dies nicht die Ansichten der Allgemeinheit sind, wissen wir recht gut, aber wir glauben, dass es die Ansichten der klügsten und besten Männer aller Parteien sind und es freut uns, unsere Meinung durch ein Zitat aus einem Werk bestätigt zu sehen, das ein Freund der Universitäten geschrieben hat, der seiner politischen Gesinnung nach weit eher ein Konservativer als ein Liberaler ist. Sein Buch enthält, obwohl es wirklich und nicht bloß der Form nach ein Roman ist, viele scharfsinnige und geistreiche Gedanken und das Ergebnis ausgedehnter psychologischer Erfahrung, gleichzeitig aber enthält es, wie wir zugeben müssen, viel karikierende Züge und manche verletzende, wenn auch nach unserer Überzeugung unabsichtliche Entstellung und Verdrehung von Ansichten, die mit der philosophischen Richtung des Autors nicht übereinstimmen. „Sie glauben (ein Geistlicher ist der Sprecher), dass die Universität die Jugend für eine erfolgreiche Laufbahn in der Gesellschaft vorzubereiten hat; ich glaube, dass ihre einzige Aufgabe die ist, ihr den männlichen Charakter zu geben, der es ihr möglich machen soll, den Einflüssen der Gesellschaft zu widerstehen. Es ist mir nicht darum zu tun den Beweis zu liefern, dass ich Recht habe, und dass jede Universität, die nicht von dieser Basis ausgeht, in ihrer Kindheit gebrechlich und in ihrem Mannesalter nutzlos oder schädlich sein wird; nur so viel will ich behaupten, dass dies die Ansicht derer war, welche Oxford und Cambridge gründeten. Ich fürchte, dass ihre Nachfolger allmählich dieses Prinzip aus dem Auge verlieren, dass sie nachgerade zu glauben beginnen, es sei ihre Aufgabe, geschickte Advokaten und brauchbare Ministerialsekretäre herzustellen, dass sie sich geschmeichelt fühlen, wenn die Welt ihnen zu der Güte des Artikels gratuliert, den sie ihr geliefert haben und dass diese kleinliche Eitelkeit bei ihnen den Willen und die Fähigkeit aufsaugt, große Männer hervorzubringen, die von ihrer Generation verachtet werden und die ihre Generation vor der Verachtung kommender Zeiten schützen. Ein oder zwei solche Männer auf jedes Menschenalter [sagte der Liberale] können sehr nützlich sein, aber die Universität sendet uns jährlich zwei- bis dreitausend junge Männer aus. Ich denke doch, Sie werden zufrieden sein, dass ein Teil davon Alltagsarbeit verrichtet. Ich wünsche sogar ein weit arbeitsameres und tätigeres Geschlecht heranzubilden als das jetzige, erwiderte der Geistliche, Männer die ausdauernder in der Anstrengung und weniger ungeduldig im Streben nach Lohn sind, aber alle Erfahrung, – ein Ding, welches wenigstens die Schulen noch nicht verachten dürfen, wenn sich auch die Welt ein solches Vorrecht gestattet, – alle Erfahrung spricht gegen den Satz, das beste Mittel, um sich einen Vorrat von guten Durchschnittsmenschen zu sichern, bestehe darin, dass man nichts Höheres anstrebt. Ich weiß, dass neun Zehntel derer, welche die Universität aussendet, dazu bestimmt sind Holz zu fällen und Wasser zu tragen, aber wenn ich alle zehn Zehntel für diesen Zweck erziehe, so können Sie sich darauf verlassen, dass das Holz schlecht gefällt und das Wasser vergossen wird. Steckt euch ein

Z – Z  Z ()

93

hohes Ziel; richtet euer System so ein, dass ein großer Mann danach gebildet werden kann und ihr werdet in euren kleinen Männern eine Mannheit finden, von der ihr euch nichts träumen ließet. Aber wenn irgendein geschickter Schönredner oder ein glücklicher Postenjäger sich bis auf die Spitze der Leiter hinaufgeschwindelt hat und dann die ganze Universität anstatt sich von der Kreatur loszusagen und sich damit zu entschuldigen, dass auch die gesündeste Mutter eine formlose Fehlgeburt zur Welt bringen kann, sich bewundernd hinstellt und um die Größe ihrer Leistung der ganzen Welt zu verkünden aus vollem Halse schreit: „Wir haben es dem Burschen gelehrt!“ – wenn der Hass, den weltliche Männer der Religion immer und der Gelehrsamkeit überall da zeigen, wo sie lehrt zu fliegen und nicht zu kriechen, nicht mehr einem offenen, herzhaften Widerstand, sondern vielmehr dem trügerischem Versuch einer Beweisführung begegnet, dass beide auch dem Geschäft zu Gute kommen – ist es da ein Wunder, wenn zuletzt ein armseliges, bettelhaftes Gefühl sich der ganzen Masse unserer jungen Leute bemächtigt, wenn sie alle edlen Taten gering schätzen lernen, keinen höheren Maßstab mehr anerkennen als die Meinung der Welt und sich keinen schöneren Lohn mehr denken können, als sich unter lautem minutenlangem Beifallsruf niederzusetzen?“4 Nichts kann richtiger und eindringlicher sein als die Darstellung, welche der Verfasser von den Zielen gibt, welche die Universitätserziehung verfolgen sollte. Nur in Bezug auf eine seiner Behauptungen sind wir nicht mit ihm einverstanden. Wir glauben nämlich nicht, dass diese Ziele jemals erreicht wurden, oder in Übereinstimmung mit dem Prinzip, welches stets die Grundlage der englischen Universitäten gebildet hat und das leider nicht auf sie allein beschränkt geblieben ist, überhaupt jemals erreicht werden konnten. Die Schwierigkeit, welche sich noch immer einer zweckmäßigen Reform unserer alten akademischen Institutionen oder der Gründung von neuen Anstalten entgegenstellt, die geeignet wären, große Geister heranzubilden, liegt darin, dass man zu diesem Zweck damit beginnen müsste, eine Vorstellung von dem Ziel nicht bloß der akademischen Erziehung, sondern jeder Erziehung gänzlich auszurotten, die bei den Verteidigern und bei fast allen Gegnern der Universitäten gleichermaßen tief wurzelt. Welches ist diese Vorstellung? Dass es Zweck der Erziehung ist, nicht etwa den Zögling in den Stand zu setzen selbst beurteilen zu können, was wahr und was recht ist, sondern dafür zu sorgen, dass er dasselbe für wahr und für recht halte, was wir dafür halten, – dass lehren so viel heißt als unsere eigenen Ansichten einimpfen und dass es unser Geschäft ist, nicht Denker oder Forscher zu bilden, sondern Jünger. Das ist der tiefliegende Irrtum, das eingewurzelte Vorurteil, gegen das jeder wahre Reformierer des englischen Erziehungswesens ankämpfen muss. Ist es erstaunlich, dass keine großen Geister in einem Lande erstehen, wo es als ein Kennzeichen eines großen Geistes gilt, dass er mit den Ansichten der kleinen Geister übereinstimmt? Wo jede Anstalt für Pflege geistiger Interessen, die das Land überhaupt besitzt, die Kirche, die Universitäten und auch beinahe jede Ge4

Anmerkung von Mill: Aus dem Romane „Eustace Conway“, der Herrn Maurice zugeschrieben wird. [Anmerkung der Herausgeber: John Frederick Denison Maurice: Eustace Conway: or, The Brother and Sister. 3 Bde. London: Benthley 1834. Bd. 2, S. 79–81].

94

D  Z  W

meinde der Dissidenten auf dem Grundsatz beruhen, es sei ihre Aufgabe, nicht etwa dafür Sorge zu tragen, dass das Individuum beseelt von einem glühenden, kräftigen und uneigennützigen Streben nach Wahrheit in die Welt trete, nicht dafür, dass man ihm den vollkommen freien Gebrauch dieser Mittel ermögliche, nicht dafür, dass es durch den ungehemmten Verkehr mit den Gedanken und Taten der großen Geister, die ihm vorangegangen sind, zugleich den Mut erhalte, alles zu wagen, was Wahrheit und Gewissen erheischen und die Bescheidenheit die Gründe der Ansichten anderer wohl zu erwägen, ehe er sich für eine entgegengesetzte selbständige Ansicht entscheidet, nicht für alles dies – o nein! – sondern dafür, dass alle Studien und Spekulationen des Zöglings darauf hinauslaufen, eine ganz bestimmte Art von Meinungen wenigstens in Worten als die seinen anzuerkennen! Das gilt für den Triumph des Systems, für sein Verdienst in den Augen der Gottheit, für den größten Segen, den es dem Zögling gewähren kann. Wenn er nur an diesen Ansichten festhält, so kommt wenig darauf an, ob er sie auf fremde Autorität oder auf Grund selbständiger Prüfung annimmt und was noch schlimmer ist, es kommt wenig darauf an, durch welche Versuchungen der Eitelkeit oder des Interesses, durch welche freiwillige oder unfreiwillige Fälschung seines Denkens, durch welche Abtötung seiner edelsten Gefühle dies Resultat erreicht wird, ja es liegt sogar wenig daran, ob für seinen Geist die Worte bloße Worte sind oder etwas Wirkliches vorstellen, in welchem Sinn er jene Reihe von begünstigten Sätzen annimmt oder ob er gar keinen Sinn damit verbindet. Wurden jemals große Geister auf diese Weise gebildet? Sicherlich niemals. Die wenigen großen Geister, welche unser Land hervorgebracht hat, haben sich beinahe allem zum Trotz heranbilden müssen – gegen alles, was man irgend tun konnte, um ihr Wachstum zu ersticken. Und alle einigermaßen hervorragenden Denker, welche die Kirche aufzuweisen hat, sind entweder in Epochen freierer religiöser Bewegungen oder zu einer Zeit aufgewachsen, wo der Anstoß des großen Aktes geistiger Emanzipation, der die englische Kirche ins Leben rief, sich noch nicht gänzlich erschöpft hatte. Der Strom des geschmolzenen Metalls, der aus dem Ofen quoll, floss gerade noch einige Schritte weiter, ehe er zur harten Masse erstarrte. Dass die englischen Universitäten durchweg nach dem Prinzip vorgegangen sind, das geistige Band der Menschheit müsse auf festgeschriebenen Grundsätzen beruhen, das heißt auf dem Versprechen an bestimmte Lehren zu glauben, dass all ihr Tun und Treiben darauf hinausläuft, ihre Zöglinge, gleichviel durch welche Mittel, dahin zu bringen, dass sie sich in Ansichten fügen, welche andere für sie aufgestellt haben, dass der Missbrauch der menschlichen Fähigkeiten, den John Locke unter dem Namen Prinzipientrichterei (principling) so nachdrücklich bekämpft hat, ihre einzige Methode in Religion, Politik, Moral und Philosophie ist – das alles ist allerdings sehr verwerflich, aber dieselbe Praxis finden wir eben sowohl außerhalb wie innerhalb ihrer Mauern und sie ist nur insoweit für sie eine Schande, als schon seit einem Jahrhundert eine bessere Lehre von überlegenen Geistern verkündet worden ist, mit denen sie sich pflichtgemäß in intellektueller Beziehung auf einem Niveau hätten erhalten sollen. Dass sie aber, wenn nur dies eine Ziel erreicht wurde, sich um gar nichts weiter kümmerten, dass ihnen, wenn sie nur kirchlich gesinnte Männer bilden konnten, gar nichts daran lag, religiös gesinnte zu bilden, dass es ihnen, wenn sie nur Tories erzogen, gleichgültig war, ob sie Patrioten erzogen, dass sie, wenn es ihnen nur gelang die Ketzerei zu unterdrücken, gar nicht danach fragten, ob der Preis dafür in Verdummung zu bezahlen sei – das ist es, was die besondere Schmach

Z – Z  Z ()

95

und Schande dieser Institutionen ausmacht. Während sie für den Charakter engherziger Sektiererei und für die Ausschließung aller derer, welche sich ihrer Gedankenfreiheit nicht mit einem Federstrich entäußern wollten, mit einem Eifer einstanden, als handle es sich um eine Lebensfrage, zeigt sich in dem System der Universitäten kaum eine Spur davon, dass man an irgend sonst etwas ernstlich denke. Fast alle Professoren sind zu reinen Pfründeverzehrern degeneriert; fast keiner der Professoren hält jemals eine Vorlesung. Einer von den wenigen großen Gelehrten, welche die eine oder die andere der beiden Universitäten seit einem Jahrhundert aufzuweisen hat, ein Mann übrigens, der schon als großer Gelehrter dorthin kam, der Reverend Connop Thirlwall, hat die Welt damit bekannt gemacht, dass an seiner Universität nicht einmal die Theologie – nicht einmal die Theologie der englischen Kirche – regulär gelehrt werde. Dass er für diesen Akt von Ehrlichkeit seine Stelle im Vorstand seines Kollegiums verlor, ist einer von den alltäglichen Beweisen mehr, dass es für zwanzig Männer ungleich sicherer ist ihre Pflicht zu vernachlässigen, als für einen Mann sie, wegen dieser Vernachlässigung anzuklagen. Die einzigen Studiengebiete, zu denen wirklich ermutigt wird, sind die Antike und Mathematik, beides ausgesprochen wertvolle Studiengebiete, wiewohl das letztere in seiner Funktion als exklusives Mittel zur Schärfung des Verstandes deutlich überschätzt wird. Mr. Whewell, eine große Autorität gegen seine eigene Universität, hat unlängst eine Flugschrift veröffentlicht, hauptsächlich in der Absicht nachzuweisen, dass die Art mathematischer Leistungen, durch welche man in Cambridge seine Auszeichnungen für Rechengewandheit gewinnt, gerade eben nicht dazu geeignet ist, eine überlegene Intelligenz heranzubilden.5 Die bloße Schale und Hülse syllogistischer Logik an der einen Universität, der kümmerlichste Brocken von Locke oder Paley an der anderen – das ist alles, was hier und dort von moralischer und psychologischer Wissenschaft gelehrt wird.6 Als Mittel für die Erziehung des größeren Publikums sind die Universitäten absolute Nullen. Die englische Jugend wird dort nicht erzogen. Die Leistungen irgendwelcher Art, die erforderlich sind, um die Abschlüsse zu erlangen, sind in Cambridge beschämend. In Oxford sind, wie wir glauben, die Anforderungen seit einigen Jahren etwas angehoben worden, aber noch immer sehr niedrig. Herausragende Abschlüsse werden nur durch harten Kampf gewonnen und wenn wenigstens die Bewer5

6

Anmerkung von Mill: Der Verfasser der gelehrten und verständigen Rezension in der Edinburgh Review [Sir W. Hamilton], der ein beinahe überflüssiges Aufgebot von Beweisgründen und Zitaten gegen den in Hrn. Whewells Flugschrift nur nebenher aufgestellten Satz von dem großen Nutzen der Mathematik als Bildungsmittel ins Feld führt, hätte unseres Erachtens die Tatsache nicht unerwähnt lassen dürfen, dass die weit direktere Tendenz jener Flugschrift mit der von ihm selbst vertretenen Ansicht teilweise zusammenfällt. [Anmerkung der Herausgeber: Siehe „Study of Mathematics—University of Cambridge“, Edinburgh Review LXII, Januar 1836, S. 409–455]. Wir können allerdings die Ausführung nicht ebenso sehr loben wie die Absicht: Hrn. Whewells Darstellung ist unbestimmt und er strebt immer nach größerer metaphysischer Tiefe als ihm verliehen ist; allein seine Hauptthese ist wahr und belangreich und es gereicht ihm zu nicht geringer Ehre, dass er diese wichtige Wahrheit klar erkannt und mit so viel Nachdruck ausgesprochen hat. Anmerkung von Mill: Eine Ausnahme markieren in Oxford die Ethik, Politik und Rhetorik des Aristoteles. Diese bilden einen Teil des Kurses der klassischen Unterweisung und sind in so weit eine Ausnahme, von der sonst auf beiden Universitäten ziemlich getreulich beobachteten Regel, von der alten Literatur nur die am wenigsten nützlichen Teile zu beachten.

96

D  Z  W

ber um solche Auszeichnungen einen geistigen Gewinn davontrügen, so wäre das System nicht ganz wertlos. Aber was haben die Gewinner erster Preise selbst in der Mathematik geleistet? Hat Cambridge seit Newton ein einziges großes mathematisches Talent hervorgebracht? Wir meinen nicht einen Euler, einen Laplace oder Lagrange, sondern nur einen Mann, wie Frankreich sie in derselben Periode händevoll aufzuweisen hat. Wie viele Bücher, welche die Geschichte, antike Objekte, die Philosophie, Kunst und Literatur der Alten in ein neues Licht stellen, sind seit der Reformation an unseren Universitäten entstanden? Man vergleiche sie doch nur mit dem, was nicht Deutschland, sondern selbst Frankreich und Italien auf diesem Gebiet geleistet haben. Was tun unsere Universitäten, wenn sie öffentlich anerkennen, dass ein Gelehrter sich in seinem Studium ausgezeichnet habe? Sie geben ihm ein Einkommen, nicht damit er fortfahre zu lernen, sondern für das, was er bereits gelernt hat, nicht damit er etwas tue, sondern für das, was er bereits getan hat und stellen dabei die einzige Bedingung, dass er ein mönchisches Leben führe und nach sieben Jahren die Livrée der Kirche anlege. Sie zwingen Menschen für hohe Gebühren, ihre Waffen bereit zu halten, verlangen aber nie, dass sie fechten sollen.7 Sind dies etwa die geeigneten Anstalten zur Erziehung von Menschen, die im Stande sein sollen, siegreich gegen die schwächenden Einflüsse unserer Zeit anzukämpfen und der schwachen Seite der Zivilisation die Stütze einer höheren Bildung zu leihen? Und doch ist es gerade das, was wir von diesen Anstalten oder, wenn sie es nicht leisten können, von anderen verlangen müssen, die an ihre Stelle treten sollen. Der allererste Schritt zu ihrer Reform sollte darin bestehen, aus ihnen den Sektengeist gänzlich auszutreiben, nicht durch die kleinliche Maßregel, dass man Dissentern gestattet sie zu besuchen und sich in orthodoxer Sektiererei unterrichten zu lassen, sondern dadurch, dass man aller Unterweisung im Sinne einer bestimmten Sekte ein Ende macht. Das Prinzip einer dogmatischen Religion – einer dogmatischen Moral, einer dogmatischen Philosophie – dies ist es, was mit der Wurzel ausgerissen werden muss, nicht bloß eine besondere Äußerung dieses Prinzips. Der eigentliche Grundstein für die Erziehung großer Geister muss die Anerkennung des Grundsatzes sein, dass es ihre Aufgabe ist, das größtmögliche Maß geistiger Kraft hervorzurufen und die intensivste Liebe zur Wahrheit einzuflößen und zwar ohne die geringste Rücksicht auf die Ergebnisse, zu welchen die Ausübung dieser Kraft führen kann, selbst auf die Gefahr hin, dass der Schüler zu Meinungen gelangt, die denen seiner Lehrer diametral zuwiderlaufen. Wir sagen dies, nicht weil wir Meinungen für unwichtig erachten, sondern gerade weil wir ihnen eine unermessliche Bedeutung beilegen. Denn in dem Verhältnis, wie es uns gelingt einen höheren Grad geistiger Kraft, eine stärkere Liebe zur Wahrheit hervorzurufen, steigert sich auch die Gewissheit, dass im Ganzen und Großen, was auch in irgend einem besonderen Falle geschehen mag, wahre Meinungen das Ergebnis sein werden. Die Entwicklung geistiger Kraft und werktätiger Liebe 7

Anmerkung von Mil (1859): Vieles von dem, was hier den Universitäten vorgeworfen wird, hat aufgehört wahr zu sein. Die Gesetzgebung hat zuletzt ihr Recht der Einflussnahme in Kraft treten lassen und selbst vorher hatten diese Körperschaften bereits so entschieden den Weg der Reform betreten wie irgendeine andere Institution Englands. Ich lasse aber diese Seiten als einen historischen Beleg und als einen Beitrag zur Beleuchtung zeitweiliger Strömungen unverändert.

Z – Z  Z ()

97

zur Wahrheit wird unmöglich, wenn man dem Forschenden seine Resultate vorschreibt und ihn von vornherein davon in Kenntnis setzt, man erwarte, dass er zu bestimmten Ergebnissen gelangen werde. Es wäre falsch zu verlangen, dass der Lehrer seine eigenen Ansichten nicht als die wahren hinstellen und nicht mit aller Kraft versuchen sollte, ihre Wahrheit in das hellste Licht zu setzen. Täte er dies nicht, so würde er die schlechteste aller geistigen Gewohnheiten nähren, die Gewohnheit nämlich, über keine Frage Gewissheit zu erlangen oder zu erwarten. Der Lehrer selbst aber sollte auf keinen bestimmten Glauben verpflichtet sein und die Frage sollte nicht die sein, ob seine eigenen Meinungen die wahren sind, sondern ob er über die anderer Leute gut unterrichtet ist und ob er die Beweise für abweichende Ansichten unparteiisch darstellt, sooft er seine eigenen geltend macht. In diesem Geist werden alle großen Fragen von den Lehrkanzeln Deutschlands und Frankreichs herab behandelt. Als allgemeine Regel wenigstens wird dort der ausgezeichnetste Lehrer ohne Rücksicht auf seine besonderen Ansichten gewählt und dieser lehrt demnach auch in dem Geist der freien Forschung und nicht in dem des dogmatischen Autoritätenzwangs. Das ist das Prinzip alles akademischen Unterrichts, der die Bildung großer Geister anstrebt. Die Fülle der einzelnen Gegenstände kann nicht mannigfaltig und umfassend genug sein. Alte Literatur würde in einem solchen System des Unterrichts einen bedeutenden Platz einnehmen, weil sie uns die Gedanken und Handlungen vieler großer Geister in den verschiedensten Richtungen geistiger Größe vorführt und zwar in einer Weise vorführt, die zehnmal eindrucksvoller und zehnmal besser geeignet ist, ein edles und hohes Streben wachzurufen, als es in irgendeiner modernen Literatur der Fall ist. So sehr auch die landläufigen Methoden des klassischen Unterrichts diese Eindrücke abschwächen, ist es doch ganz unberechenbar, was wir diesen Elementen verdanken, die den einzigen veredelnden Zug in dem sklavischen, mechanischen Ding bilden, was die Neuzeit Erziehung nennt. Auch dürfen wir unter den heilsamen Wirkungen einer vertrauten Bekanntschaft mit den Denkmälern der alten Welt, namentlich Griechenlands, nicht vergessen, dass sie uns lehren, innere Größe inmitten von Meinungen, Gewohnheiten und Einrichtungen, die den unsrigen so fern stehen wie möglich, zu würdigen und zu bewundern, dass sich auf diese Weise in uns ein Geist umfassender und allgemeiner Duldsamkeit entwickeln kann, der sich auf Einsicht und nicht auf Gleichgültigkeit gründet und dass wir uns gewöhnen, geistiger Kraft und wahrem Adel des Charakters unsere aufrichtigen und herzlichen Sympathien entgegenzubringen. Würden doch nur die Sprachen und die Literatur des Altertums so gelehrt, dass die glorreichen Bilder, die sie uns vorführen, in lebenswarmer Wirklichkeit vor dem Auge des Lernenden stünden, dass sie nicht als ein caput mortuum, als eine fremdartige Substanz, die auf den Gang seiner Gedanken und den Ton seines Gefühls gar keine Wirkung äußert, auf dem Boden seines Geistes liegen blieben, sondern in diesem kreisen, von ihm aufgesogen und ein Teil seiner selbst werden könnten! Dann würden wir sehen, wie unendlich mehr noch diese Studien für uns leisten könnten, als sie bisher geleistet haben. Eine wichtige Stelle in dem Erziehungssystem, wie wir es uns vorstellen, würde die Geschichte einnehmen, weil sie das Archiv aller großen Dinge ist, welche die Menschheit vollbracht und weil sie, in philosophischem Geiste studiert, dem Lernenden eine gewisse Perspektive verleiht und ihn mit der Wirkung großer Ursachen vertraut macht. Auf keinem anderen Weg kann er sich die großen Prinzipien, welche den Fortschritt

98

D  Z  W

der Menschheit und den Zustand der Gesellschaft regeln, so einleuchtend sie ihm auch als abstrakte Wahrheiten sein mögen, so vollständig und klar zur Anschauung bringen. Nirgends sonstwo wird ihm die unendliche Mannigfaltigkeit der menschlichen Natur so lebendig vor die Seele treten und in gleich wirksamer Weise alles Engherzige oder Einseitige in seiner Auffassung ihres Wesens berichtigen; nirgends sonstwo wird er so überzeugende Beweise für die erstaunliche Bildsamkeit unserer Natur und für die wunderbaren Wirkungen finden, welche ehrliches Bemühen unter guter Leitung auf sie ausüben kann. Die Literatur unseres eigenen Volkes und anderer moderner Völker sollte zugleich mit der Geschichte oder vielmehr als ein Teil derselben studiert werden. In dem Gebiet der reinen Denktätigkeit würden wir den höchsten Platz der Logik und der Philosophie des Geistes zuweisen, der ersteren als ein Mittel zur Pflege und Förderung aller Wissenschaften, der letzteren als der Wurzel, aus der sie alle erwachsen. Es braucht wohl kaum betont werden, dass die erstere nicht als ein bloßes System technischer Regeln, die letztere nicht als eine bloße Verkettung abstrakter Sätze vorgetragen werden dürfte. Nirgends macht sich mit gleicher Stärke die auf allen Geistesgebieten so stark hervortretende Tendenz geltend, ohne rechtes Verständnis Meinungen in den Geist aufzunehmen, bloß weil sie aus gewissen zugestandenen Prämissen zu folgen scheinen und sie dort als bloße Worthülsen, denen alles Leben und aller Inhalt fehlt, liegen zu lassen. Der Schüler muss dazu angeleitet werden, sein eigenes Bewusstsein zu befragen, sich selbst zu beobachten, mit sich selbst Versuche anzustellen; durch kein anderes Verfahren wird er jemals etwas über den menschlichen Geist erfahren. Mit diesen Studien sollte man alle jene Wissenschaften verbinden, in denen man durch einen Denkprozess von größerer Länge und Feinheit zu großen und sicheren Ergebnissen gelangt. Zwar sollen nicht alle Menschen diese Wissenschaft studieren, aber alle einige davon und einige alle. Man kann sie in Wissenschaften der reinen Schlussfolgerung teilen, wie es die Mathematik ist, und in Wissenschaften, welche teils auf etwas weit Schwierigerem, nämlich auf ausgedehnter Beobachtung und Analyse beruhen. Dahin gehören ihrem grundlegenden Bestandteil nach selbst die Wissenschaften, auf welche sich mathematische Verfahrensweisen anwenden lassen und ferner alle die Wissenschaften, welche sich auf die menschliche Natur beziehen. Die Philosophie der Moral, der Politik, des Rechts, der Volkswirtschaft, der Poesie, der bildenden Kunst sollten ebenfalls Gegenstände systematischer Unterweisung bilden und von den ausgezeichnetsten Lehrern vorgetragen werden, die zu finden sind. Und diese sollte man nicht nach besonderen Lehren wählen, zu denen sie sich zufällig bekennen, sondern nach dem Grad ihrer Befähigung Schüler zu bilden, die kenntnisreich und selbständig genug sind, um sich die Lehre, der sie folgen wollen, selbst zu wählen. Und weshalb sollte man die Religion nicht in derselben Weise lehren? Nur dadurch wird man den ersten Schritt zur Ausgleichung des religiösen Streites tun und erst dann wird der Geist der englischen Kirche wahrhaft katholisch, das heißt allgemein und nicht mehr sektiererisch, der Freiheit des Gedankens und dem Fortschritt des menschlichen Geistes günstig und nicht feindlich sein. Was die politischen und sozialen Veränderungen anbelangt, die nach unserer Ansicht zusätzlich zu den Reformen im Erziehungswesen notwendig sind, um den Charakter der höheren Klassen umzubilden und zu erneuern, so würde selbst eine ganz summarische Behandlung dieses Themas eine längere Abhandlung nötig machen. Wenigstens der allgemeine Grundgedanke, von der alle diese Änderungen auszugehen hätten, lässt sich hier

Z – Z  Z ()

99

aber kurz angeben. Die Zivilisation hat dem Besitz aller einmal erlangten Vorteile eine Sicherheit und Festigkeit verliehen, welche es einem reichen Mann möglich macht, das Leben eines Sybariten zu führen und sich doch sein ganzes Leben hindurch eines Grades von Einfluss und Ansehen zu erfreuen, wie man ihn in früheren Zeiten nur durch persönliche Tätigkeit erwerben oder festhalten konnte. Wir können das, was die Zivilisation bewirkt hat, nicht ungeschehen machen und durch Unsicherheit des Eigentums und Gefahr für Leib und Leben die Energie der höheren Klassen wieder aufstacheln. Das einzig verbliebene Mittel, das die Gesellschaft zur Verfügung hat, ist die Aussicht auf Ehre und Einfluss und diese sollte man so viel wie möglich als Anreiz zur Ermutigung verwenden. Das Wichtigste, was durch soziale Veränderungen für die Vervollkommnung der höheren Klassen geschehen kann, das was der Fortschritt der Demokratie unmerklich, aber sicher herbeiführen wird, ist die Aufhebung jeder Art von unverdienter Auszeichnung, so dass nurmehr ein einziger Weg zu Ruhm und Vormachtstellung offen bleibt: der der persönlichen Fähigkeiten und Leistungen. (Überarbeitung der Übersetzungen von Eduard Wessel [1874] und Leonore Rapp [1919] durch Hubertus Buchstein)

II Einige Bemerkungen zur Nicht-Einmischung (1859)

In Europa gibt es ein Land, das vom Umfang seines Herrschaftsgebietes her dem größten gleicht, hinsichtlich des Reichtums und der Macht, die Reichtum verleiht, jedes andere bei Weitem übertrifft und dessen erklärtes außenpolitisches Prinzip darin besteht, andere Nationen in Ruhe zu lassen. Kein Land befürchtet von ihm ausgehende aggressive Absichten oder neigt zu solchen Befürchtungen. Seit jeher ist es üblich, dass sich der Starke des Schwachen bemächtigt und mit Gleichmächtigen um die Vormacht zu streitet. Diese Nation jedoch ist anders. Sie wird sich behaupten und sich der Bemächtigung durch andere widersetzen. Sollten andere Nationen die Einmischung in ihre Angelegenheiten unterlassen, wird sie sich auch nicht in deren Angelegenheit einmischen. Jeder von ihr unternommene Versuch, Einfluss auf jene auszuüben, sei es auch durch Überredung, erfolgt eher im Interesse der anderen als des eigenen: im Streit, der zwischen anderen Staaten ausgebrochen ist, zu vermitteln, nicht enden wollenden Bürgerkriegen Einhalt zu gebieten, Feinde zu versöhnen, sich für eine nachsichtige Behandlung der Besiegten einzusetzen, und schließlich die Ächtung des von einer Nation verübten Verbrechens zu bewirken, das wie der Sklavenhandel eine Schande für die Menschheit ist. Diese Nation hat nicht den Wunsch, sich auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen; sie möchte darüber hinaus keine Vorteile für sich, die nicht auch alle anderen erlangen können. Sie schließt keine Verträge ab, die einseitige Handelsvorteile festschreiben. Wenn sie durch Angriffe von Barbaren zu einem erfolgreichen Krieg gezwungen und vermöge ihrer siegreichen Waffen in die Lage versetzt wird, die Freiheit des Handels zu gebieten, so fordert sie damit für sich nur das, was sie auch für die ganze Menschheit fordert. Die Kosten des Krieges sind die ihren, die Früchte teilt sie in brüderlicher Gleichheit mit der gesamten Menschheit. Ihre Häfen und ihr Handelsverkehr sind so frei wie Luft und Himmel. Alle Nachbarn können auf sie zählen, entweder ohne für ihre Ansprüche zu zahlen oder wenn doch dann in der Regel nur so wenig, wie die eigenen Bürger abzugeben genötigt sind. Auch kümmerte es sie nicht, falls die anderen ihrerseits alles für sich behielten und in eifersüchtigster und engstirnigster Weise Gütern wie Kaufleuten den Zugang verwehrten.

E B  N-E ()

101

Eine Nation, die sich eine solche Politik zu Eigen macht, ist in der Welt ein Novum – und zwar scheinbar ein solches Novum, dass viele dies nicht glauben können, wenn sie diese Nation betrachten. Es ist eines der uns in menschlichen Angelegenheiten alltäglich begegnenden Paradoxa, dass sie sich in Hinblick auf außenpolitische Fragen dem Verruf ausgesetzt sieht, eine solche Nation zu sein, die egoistisch und selbstbezogen ist, die an nichts anderes denkt, als ihre Nachbarn auszutricksen und auszumanövrieren. Vorstellbar ist, dass ein Feind oder jemand, der sich einbildet, ein Rivale zu sein, aber im Wettbewerb abgeschlagen ist, sich in einem übellaunigen Moment mit einer solchen Anklage Luft verschaffen möchte. Dass dies aber die akzeptierte Meinung der Beobachter ist und zur Volksmeinung werden sollte, muss dann sogar jene überraschen, die mit den Tiefen menschlichen Vorurteils vertraut sind. Dies ist aber die gegenwärtig am weitesten verbreitete Auffassung der englischen Außenpolitik auf dem Kontinent. Wir sollten uns nicht einbilden, dass es sich hierbei nur um eine Täuschung seitens unserer Feinde handelt oder jener Menschen, die ihre eigenen Gründe haben, zum Hass gegen uns aufzustacheln, das heißt eine Gruppe von Personen, die alle protektionistischen Schriftsteller und die Sprachrohre aller Despoten und des Papsttums umfasst. Je untadliger und löblicher unsere Politik auch ist, desto wahrscheinlicher ist zu erwarten, dass diese Persönlichkeiten sie falsch darstellen und über sie herziehen. Unglücklicherweise beschränkt sich diese Überzeugung nicht auf jene, die durch sie beeinflussbar sind; die fragliche Überzeugung wird darüber hinaus mit der ganzen Hartnäckigkeit eines Vorurteils von zahllosen Personen geteilt, die von diesem Vorurteil frei sind. So fest sind sie davon überzeugt, dass sie trotz ihrer gewohnten Höflichkeit ihre völlige Skepsis gegenüber dem Dementi des Engländers nicht verbergen können, sollte er versuchen, dieses Vorurteil zu beseitigen. Sie sind fest davon überzeugt, dass von englischen Staatsmännern bezogen auf auswärtige Verhältnisse kein Wort gesagt und keine Handlung getan wird, denen als prinzipielles Motiv nicht ein spezifisch englisches Interesse zugrunde liegt. Jede gegenteilige Verlautbarung scheint ihnen ein zu lächerlich durchsichtiger Versuch zu sein, als dass er ihnen zumutbar wäre. Jene, die uns am freundlichsten gesonnen sind, glauben uns ein großes Zugeständnis zu machen, indem sie bekennen, der Fehler liege weniger beim englischen Volk als bei der englischen Regierung und der Aristokratie. Uns wird nicht einmal zugutegehalten, unserem eigenen Interesse mit dem klaren Bekenntnis zu folgen, dass auch politisch gesehen Ehrlichkeit am längsten währt. Sie glauben, dass wir immer anderes im Sinne haben als das, was wir bekennen: Die abwegigste und unplausibelste Annahme eines selbstsüchtigen Zwecks scheint ihnen glaubwürdiger zu sein als etwas so Unglaubliches wie unser Desinteresse. Nur um ein Beispiel von vielen zu geben: Als wir uns die Aufhebung der Negersklaverei1 zwanzig Millionen kosten ließen (eine ungeheure Summe in ihren Augen) und zum selben Zweck die schiere Existenz unserer westindischen Kolonien, wie jeder dachte, in Gefahr brachten bzw., wie viele dachten, zerstörten, glaubte man, und glaubt es noch immer, dass unsere feierlichen Beteuerungen nur die Welt täuschen sollten und wir durch dieses aufopferungsvolle Verhalten etwas Verborgenes zu erlangen suchten, das weder begreif- noch beschreibbar ist und das darauf hinaus läuft, andere Nationen zu ruinieren. Der Fuchs, der seinen Schwanz verloren hat, ist verständlicherweise daran interessiert, 1

Anmerkung von Mill: Durch 3 & 4 William IV. c. 73 (1833).

102

D  Z  W

seine Nachbarn davon zu überzeugen, die ihrigen loszuwerden.2 Wir aber, so denken unsere Nachbarn, schneiden uns unseren prächtig buschigen Schwanz ab, den längsten und stattlichsten von allen, in der Hoffnung, einen unerklärlichen Vorteil zu erlangen, indem wir andere veranlassen, dasselbe zu tun. Töricht ist der Versuch, dies alles verächtlich zu machen – indem wir uns einreden, es sei nicht unsere Schuld und jene, die uns nicht glauben, würden niemals glauben, selbst wenn einer von den Toten aufstünde. Nationen wie Einzelpersonen sollten ein gewisses Maß an Schuld bei sich suchen, wenn sie bemerken, dass andere gemeinhin schlechter über sie denken als sie glauben, dies zu verdienen; auch wissen sie womöglich, dass es irgendwie ihre Schuld ist, wenn nahezu jeder außer ihnen selbst sie für gerissen und heuchlerisch hält. Nicht nur aus dem Grund, dass England erfolgreicher als andere Nationen das erzielt, was alle zu erzielen bestrebt sind, denken sie, England jage diesem Ziel beharrlicher und entschlossener nach. In der Tat gibt ihnen das in starkem Maße Anlass dazu, diesem Glauben zuzuneigen und ihm gegenüber offen zu sein. Für gewöhnlich wird angenommen, dass jene, die den Preis gewonnen haben, darum gekämpft haben müssen; dass überragender Erfolg der Ertrag beharrlicheren Mühens sein muss. Wird sich aber offensichtlich gewöhnlicher Methoden enthalten, um Wettbewerber abzuschlagen, und sind sie dennoch abgeschlagen, neigen die Menschen zu der Auffassung, es handele sich bei den verwendeten Mitteln um weit raffiniertere und unergründlichere Methoden. Diese vorgefasste Meinung lässt sie in allen Winkeln nach Anzeichen suchen, welche die egoistische Interpretation unseres Verhaltens stützen würden. Wenn unser gewöhnliches Handeln mit dieser Sichtweise nicht übereinstimmt, suchen sie nach Abweichungen davon und betrachten diese als wirkliche Anzeichen der unserem Handeln innewohnenden Ziele. Ferner akzeptieren sie buchstäblich alle Äußerungen, durch welche wir gewöhnlich uns selbst als schlimmer darstellen, als wir es sind – Äußerungen, die man oft von englischen Staatsmännern, aber nahezu nie von denen anderer Länder vernehmen kann. Dies geschieht teils deshalb, weil Engländer im Unterschied zur übrigen Menschheit sich so sehr davor scheuen, ihre Tugenden zu bekennen, dass sie sich stattdessen sogar Untugenden zuschreiben, teils aber auch, weil fast alle englischen Staatsmänner, während ihnen der Eindruck, den sie bei Ausländern hinterlassen, in einem Maße gleichgültig ist, das ihnen keiner dieser Ausländer zutraut, grob fahrlässig annehmen, dass niedrigere Beweggründe die einzigen sind, die dem Gemüt ihrer nichtaristokratischen Landsleute zugänglich sind, und es immer ratsam (wenn nicht gar notwendig) ist, diese in den Vordergrund zu stellen. Deshalb ist jeder, der im Auftrag Englands spricht oder handelt, im Namen der Besonnenheit wie der Pflicht strengstens gehalten, jeden der beiden Anlässe für Fehldeutungen zu vermeiden: den Wahn einzudämmen, man handele aus niederen Motiven, wobei die wirklichen Motive des Handelns höher stehen, und den Fehler zu vermeiden, einige wenige Fälle des Handelns aus jenen Handlungsprinzipien willkürlich und verkehrt herauszuheben, die niedriger stehen als jene, die uns normalerweise leiten. Diese beiden heilsamen Warnungen werden gegenwärtig von unseren praktisch orientierten Staatsmännern auf eklatante Weise missachtet. 2

Anmerkung der Herausgeber: Äsop, „Der Fuchs mit dem gestutzten Schwanz“.

E B  N-E ()

103

Wir stehen nunmehr vor einer jener entscheidenden Situationen, die seltener als einmal pro Generation eintreten, da die ganze Entwicklung der Ereignisse in Europa und der längerfristige Lauf der europäischen Geschichte möglicherweise vom Verhalten und der Beurteilung Englands abhängen. In einem solchen Moment ist es schwer einschätzbar, ob unsere Staatsmänner eher durch den Frevel der Rede oder den Frevel der Tat unseren Feinden am effektivsten in die Hände spielen und deren schädlicher Fehldeutung unseres Charakters und unseres Anstandes als Volk den Anschein verleihen, gerechtfertigt zu sein. Beschäftigen wir uns zuerst mit den Freveln der Rede: Welche Art Sprache wird während der gegenwärtigen europäischen Krise von jedem englischen Minister oder von fast jedem Mann der Öffentlichkeit und beträchtlichen politischen Gewichts bemüht, wenn er sich in einer Rede an das Parlament oder seine Wählerschaft richtet? Die ewige Wiederholung des schäbigen Refrains: „Wir haben uns nicht eingemischt, weil keine englischen Interessen auf dem Spiel standen.“ „Wir sollten nicht intervenieren, wenn keine englischen Interessen betroffen sind.“ England wird dadurch als ein Land dargestellt, dessen bedeutendste Männer sich nicht schämen zu bekennen, als Politiker einer Handlungsregel zu folgen, welcher niemand, der nicht besonders niederträchtig ist, auf Dauer bezichtigt werden könnte, als Maxime der privaten Lebensführung zu folgen: für andere keinen Finger zu rühren, wenn sich kein eigener Vorteil damit verbindet. Viel spricht für die Auffassung, dass eine Nation ihren Nachbarn helfen sollte, sich der Unterdrückung zu entledigen und freie Institutionen zu erlangen. Viel spricht aber auch für die Auffassung jener, die behaupten, eine Nation sei unfähig, für eine andere zu urteilen und zu handeln und eine jede sei auf sich selbst gestellt und solle nach Maßgabe eigenen Könnens und Wollens ihren Vorteil suchen oder ihren Nachteil hinnehmen. Von allen Einstellungen aber, die eine Nation hinsichtlich der Frage der Intervention einnehmen kann, liegt die niederträchtigste und schlimmste in dem Bekenntnis, sich nur dann einzumischen, wenn dies den eigenen Zwecken dient. Eine jede Nation wäre berechtigt zu sagen, es scheine, „dass für Sie folglich Nichteinmischung keine Frage des Prinzips ist. Wenn Sie von einer Einmischung Abstand nehmen, so nicht deshalb, weil Sie diese für falsch hielten. Sie haben keine Bedenken sich einzumischen, nur darf dies nicht im Interesse derer geschehen, in deren Angelegenheiten Sie sich einmischen. Diese dürfen nicht annehmen, dass Sie in irgendeiner Weise um deren Wohl bekümmert sind. Das Wohl der anderen gehört nicht zu dem, was Ihnen wichtig ist. Sie sind allerdings zu intervenieren bereit, wenn dadurch für Sie etwas herausspringt.“ Das ist der offenbare Sinn der Bekundung. Wenn man für Engländer schreibt, erübrigt es sich eigentlich zu sagen, dass dies nicht das ist, was unsere Herrscher und Politiker wirklich meinen. Ihre Gedanken werden durch ihre Sprache nicht korrekt vertreten. Von dem, was sie sagen, meinen sie nur einen Teil. Sie wollen wirklich in Abrede stellen, sich zum Wohle anderer Nationen in deren Angelegenheiten einzumischen. Sie lehnen dies mit aller Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit ab. Aber den anderen Teil dessen, was ihre Worte ausdrücken, meinen sie nicht: den Willen nämlich, durch Einmischung irgendein Interesse Englands befördern

104

D  Z  W

zu können. Was sie im Sinne haben, ist nicht das Interesse Englands, sondern dessen Sicherheit. Eigentlich meinen sie, dass sie zum Handeln bereit sind, wenn Englands Sicherheit bedroht oder eines seiner Interessen in feindseliger und ungerechter Weise gefährdet ist. Dies ist nicht mehr, als alle anderen Nationen tun, die hinreichend mächtig sind, sich selbst zu schützen, und niemand stellt ihnen dieses Recht in Frage. Es handelt sich um das übliche Recht der Selbstverteidigung. Aber wenn wir dies meinen, warum in Gottes Namen nutzen wir jeden möglichen Anlass dazu, statt dies zu sagen, etwas völlig anderes zu behaupten? Nicht Selbstverteidigung, sondern Selbstverherrlichung ist der Sinn, den unsere Worte in fremden Ohren annehmen. Nicht nur zu schützen, was wir besitzen, und dies nur gegen unfaire List, nicht aber gegen fairen Wettbewerb, sondern unseren Besitz grenzenlos zu mehren, sei der Grund dafür, dass wir Ausländern zufolge die Freiheit für uns beanspruchen, sie zu bedrängen und uns in ihre Angelegenheiten einzumischen. Wenn es den voreingenommensten Beobachtern unmöglich ist, von unserem Tun her zu erweisen, dass wir irgendwelche Handelsmonopole beabsichtigen oder akzeptieren würden, so besagt dies für sie nur, dass wir weit listiger dieses Ziel verfolgen. Es ist eine unter kontinentaleuropäischen Politikern, insbesondere jenen, die sich auszukennen glauben, anerkannte Meinung, dass die bloße Existenz Englands von der unablässigen Erschließung neuer Märkte für unsere Produkte abhängt, dass die Jagd nach diesen für uns eine Angelegenheit von Leben und Tod ist und wir jederzeit bereit sind, jede Verpflichtung öffentlichen oder zwischenstaatlichen Anstands mit den Füßen zu treten, sollte die Alternative dazu sein, in dieser Jagd für einen Moment innezuhalten. Es wäre überflüssig, auf das vollkommene Unwissen und Missverstehen aller Gesetze des nationalen Reichtums und aller die Handelslage Englands betreffenden Tatsachen zu verweisen, welche diese Auffassung voraussetzt. Unwissen und Missverstehen dieser Art sind leider auf dem Kontinent weit verbreitet. Nur langsam, wenn auch wahrnehmbar, weichen sie der voranschreitenden Vernunft. Möglicherweise noch über mehrere Generationen werden wir von ihnen beeinflusst werden. Wäre es von unseren praktisch orientierten Politikern zu viel verlangt, dass sie zuweilen diese Dinge berücksichtigen sollten? Dient es irgendeinem guten Zweck, uns zu artikulieren, als ob wir keine Bedenken hätten, das zu bekunden, was wir nicht nur Bedenken haben zu tun, sondern dessen bloße Idee uns nie in den Sinn kommt? Warum sollten wir den Charakter verleugnen, den wir wahrlich für uns reklamieren könnten, nämlich in unserem Handeln als Nation die unvergleichlich gewissenhafteste aller Nationen zu sein? Unter allen Ländern, die hinreichend mächtig sind, um ihren Nachbarn gefährlich werden zu können, sind wir vielleicht das einzige, dessen Gewissensbisse hinreichen, um es davon abzuschrecken. Wir sind das einzige Volk, in dem keiner Gesellschaftsschicht das Interesse oder der Ruhm der Nation als hinreichende Entschuldigung für ungerechtes Handeln gilt; wir sind das einzige, welches wachsam, misstrauisch und zu feindseliger Kritik geneigt jene Handlungen der eigenen Regierung betrachtet, denen man sicherlich in anderen Ländern mit Begeisterung applaudieren würde – Handlungen, durch die Land angeeignet oder politischer Einfluss ausgeübt wird. Weil wir in Wirklichkeit besser als andere Nationen sind, zumindest was den negativen Teil zwischenstaatlichen Anstands betrifft, sollten wir aufhören, durch die von uns genutzte Sprache uns schlechter zu machen, als wir es sind. Wenn wir schon auf unsere Sprache Acht geben müssen, so sind wir um vieles mehr verpflichtet, auf unser Tun zu achten und dürfen es nicht akzeptieren, uns eine Einzel-

E B  N-E ()

105

frage betreffend von irgendeinem unserer führenden Männer zu einer Handlungsweise verleiten zu lassen, die im völligen Gegensatz zu unseren gewöhnlichen Handlungsprinzipien steht. Eine solche Handlungsweise, wäre sie ein angemessenes Beispiel unseres Tuns, müsste die falschen Anschuldigungen unserer schlimmsten Feinde bewahrheiten und deren Darstellung rechtfertigen, wir würden nicht nur das Wohl anderer Nationen nicht achten, sondern darüber hinaus deren Wohl und das unserige für unvereinbar halten und alles dafür tun, andere davon abzuhalten, einen Nutzen auch dort zu erlangen, wo wir ihn mit ihnen teilen sollten. Diesen schädlichen und man ist versucht zu sagen nahezu unsinnigen Fehler begehen wir offensichtlich gerade im Falle des Suezkanals. In Frankreich wird gemeinhin geglaubt, der englische Einfluss auf Konstantinopel, mit Nachdruck ausgeübt, um das Projekt zum Scheitern zu bringen, sei das wirkliche und einzige unüberwindbare Hindernis seiner Ausführung. Unglücklicherweise stützen darüber hinaus die öffentlichen Verlautbarungen unseres gegenwärtigen Premierministers nicht nur diese Überzeugung, sondern rechtfertigen die Behauptung, dass wir dieses Projekt deshalb ablehnen, weil es der Meinung unserer Regierung zufolge das Interesse Englands schädigen würde.3 Wenn Nationen Pflichten, unter ihnen auch Unterlassungspflichten, zum Wohle der Menschengattung haben, dann ist es schwer einschätzbar, ob die Torheit oder eher die moralische Verwerflichkeit unseres Handelns am peinlichsten ins Auge fällt – sollten wir diesem Kurs und sollten wir ihm aus diesem Beweggrund folgen. Es handelt sich hierbei um ein Projekt, dessen Machbarkeit in der Tat umstritten ist, von dem aber niemand versucht hat zu leugnen, dass es im Falle seiner Umsetzung dem Handel erweiterte Möglichkeiten und folglich der Produktion weitere Anreize bieten, aber auch die Beförderung des Verkehrs und folglich der Zivilisation bewirken würde, womit es unter den großen industriellen Errungenschaften der modernen Zeit eine herausgehobene Stellung beanspruchen könnte. Das Ersinnen neuer Mittel zur Effektivierung von Arbeit und Ausgaben in der Industrieproduktion ist die Aufgabe, mit der sich der Erfindergeist der Menschheit zum großen Teil gegenwärtig beschäftigt. So wird dieser Plan, falls er umgesetzt werden sollte, zur Ersparnis der Umschiffung eines ganzen Kontinents auf einem der größten Seewege des Weltverkehrs beitragen. Der ungehinderte Zugang zum Handel ist die Hauptquelle jener materiellen Zivilisation, welche in den rückständigeren Regionen der Erde die notwendige Bedingung und der unerlässliche Erzeugungsmechanismus der moralischen ist. Dieser Plan verkürzt praktisch um die Hälfte die Entfernung zwischen den kommerziell gesprochen sich selbst zivilisierenden Nationen der Welt und den bedeutendsten und wertvollsten der nicht zivilisierten. Der Atlantic Telegraph genießt deshalb weltweite Bedeutung, weil er die Übertragungsgeschwindigkeit allein von Geschäftsnachrichten verkürzt. Der Suezkanal hingegen würde den Übertragungsweg der Güter selber verkürzen, und zwar in einem solchen Maß, dass sie dadurch um ein Vielfaches vermehrt würden. Nehmen wir an – weil es gegenwärtig eine zu unenglische Vermutung wäre, darin mehr als eine bloße Annahme sehen zu wollen – nehmen wir also an, die englische Nation würde durch diesen großen Gewinn für die zivilisierte wie die unzivilisierte Welt 3

Anmerkung der Herausgeber: Siehe z. B. Henry John Temple, Speech on the Isthmus of Suez Canal-Resolution (1. Juni, 1858; Commons), PD, 3. Reihe, Bd. 150, Sp. 1379–1384.

106

D  Z  W

ein bestimmtes englisches Interesse gefährdet oder geschädigt sehen. Nehmen wir zum Beispiel an, England befürchtete, durch Abkürzung des Seeweges ausländischen Kriegsflotten den Zugang zu seinen östlichen Besitzungen zu erleichtern. Mit dieser Annahme wird dem Geist der Nation kein gewöhnliches Maß an Feigheit und Dummheit zugeschrieben. Andernfalls müsste erkannt werden, dass dieselbe Sache, welche die Ankunft eines Feindes erleichtert, zugleich auch den Beistand erleichtert, dass französische Verbände schon früher in den östlichen Meeren waren und wir mit ihnen vor nahezu einem Jahrhundert bereits Seegefechte geführt hatten, dass wir gewiss auch ohne die Hilfe irgendeines Kanals mit ihnen konfrontiert würden, falls wir jemals in die Lage kommen sollten, Indien nicht mehr gegen sie verteidigen zu können, und dass unser Vermögen, einem Feind zu wiederstehen, nicht davon abhängt, seinem Kommen ein kleineres oder größeres Hindernis in den Weg zu stellen, sondern in der Größe unserer Macht besteht, mit der wir ihm entgegentreten können, wenn er kommt. Nehmen wir jedoch an, England würde vom Erfolg des Projektes in einer besonderen Hinsicht mehr geschädigt, als es durch die bedeutende Zunahme des Handelsverkehrs als größte Handelsnation von ihm profitierte. Räumen wir dies erst einmal ein, so stelle ich die Frage, was dann? Gibt es irgendwelche sittlichen Grundsätze christlicher oder profaner Art, die eine Nation dazu berechtigen, der übrigen Menschheit einen großen Gewinn zu verweigern, weil die Folgen des Gewinnerwerbs durch andere für diese Nation in irgendeiner Weise absehbar zu Unannehmlichkeiten führen könnten? Steht es einer Nation frei, als praktischen Grundsatz anzunehmen, dass das, was gut für die Menschheit ist, schlecht für sie selbst ist, und dass sie sich diesem Grundsatz folgend zu wiedersetzen habe? Was bedeutet dies anderes, als zu erklären, dass ihr Interesse und das der Menschheit unvereinbar sind, dass sie, zumindest in dieser Hinsicht, der Feind der Menschheit ist? Wie sollte sie sich dann aber beklagen, wenn sich im Gegenzug die Menschheit zu ihrem Feind erklärt? Sollte eine Nation sich zu einem solch schrecklichen Prinzip bekennen und ihm folgend handeln, so würde dies die übrige Menschheit dazu berechtigen, sich gegen sie zu verbünden und niemals mit ihr Frieden zu schließen, ehe deren Macht, wenn das Bündnis diese nicht zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt hätte, zumindest so weit gebrochen ist, dass diese Nation nie wieder ihr Eigeninteresse dem allgemeinen Wohl der Menschheit vorziehen könnte. Ein solch niederträchtiges Gefühl findet sich im britischen Volk nicht. Es pflegt seinen Vorteil nicht darin zu sehen, die weltweite Zunahme von Reichtum und Kultur zu behindern, sondern darin, diese zu befördern. Der Widerstand gegenüber dem Suezkanal ist nie ein nationaler Widerstand gewesen. Im Allgemeinen hat die Öffentlichkeit, bei all ihrer üblichen Gleichgültigkeit in außenpolitischen Fragen, nicht darüber nachgedacht, sondern (außer in den Fällen, die sie besonders erregt haben) die Leitung ihrer Außenpolitik völlig jenen überlassen, die allein innenpolitisch verknüpfter Ursachen und Gründe wegen nun einmal im Amt sind. Was in Fragen des Suezkanals im Namen Englands getan wurde, haben Individuen getan, wahrscheinlich im Wesentlichen gar nur eine Person.4 Kaum einer ihrer Landsleute hat die Absichten dieser Person gefördert oder geteilt und der Großteil jener, die der Frage überhaupt ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben (leider sehr wenige), hat sich ihr allem Anschein nach widersetzt. 4

Anmerkung der Herausgeber: Henry John Temple, Lord Palmerston.

E B  N-E ()

107

Der Plan jedoch ist (so wird gesagt) undurchführbar. Warum sollten wir uns aber, wenn es sich so verhält, mit ihm beschäftigen? Warum sollten wir uns, wenn der Plan scheitert, unnötigerweise der Unmoral bezichtigen und uns unnötig den Makel zuziehen, den Versuch seiner Umsetzung zu verhindern? Ob der Plan gelingt oder scheitert, ist eigentlich eine völlig irrelevante Überlegung. Sollte er jedoch mit Sicherheit scheitern, wäre unsere Ablehnung nicht nur unmoralisch, sondern darüber hinaus, und zwar im selben Maße, töricht. Dieser Annahme zufolge würden wir nämlich der Welt die Auffassung zur Schau stellen, dass unser Interesse mit ihrem Wohl unvereinbar ist, während wir, sollte das Scheitern des Projektes uns wirklich irgendwie zum Vorteil gereichen, diesen Vorteil schon dadurch sichern könnten, dass wir uns einfach ruhig verhielten. Der Autor der vorliegenden Abhandlung neigt, soweit er sich mit der Sachlage vertraut gemacht hat, persönlich der Auffassung jener zu, die der Überzeugung sind, dass der Plan nicht ausgeführt werden kann, zumindest nicht mit den vorgesehenen Mitteln und Geldern. Aber dies ist eine Überlegung, die Anteilseigener anzustellen haben. Die britische Regierung betrachtet es nicht als zu ihren Aufgaben gehörig, Individuen, auch wenn sie britische Staatsbürger sind, davon abzuhalten, ihr eigenes Geld in erfolglosen Spekulationen zu verschleudern, selbst wenn dann keine Aussicht auf großen öffentlichen Nutzen besteht, falls es zum Erfolg kommen sollte. Falls sie aber, und zwar zu Lasten ihres Eigentums, als Wegbereiter für andere gehandelt haben und der Plan, obwohl er für die ersten, die ihn verfolgten, scheitern sollte, dann aber in ihren Händen oder denen anderer letztlich den Nutzen im erwarteten Gesamtumfang für die Welt im Ganzen erbrächte, dann wäre dies nicht das erste und auch nicht das hundertste Mal, dass einem unprofitablen Unternehmen ein solches Endergebnis beschieden wäre. Es scheint, dass die ganze Doktrin der Nichteinmischung in die Angelegenheiten fremder Nationen dringend der nochmaligen Erwägung bedarf – wenn davon die Rede sein kann, dass sie als wirklich sittliches Problem überhaupt schon bedacht worden ist. In letzter Zeit haben wir von der Bereitschaft gehört, für eine Idee in den Krieg zu ziehen. Für eine Idee in den Krieg zu ziehen, wenn es sich bei diesem Krieg um einen Angriffs- und keinen Verteidigungskrieg handelt, ist genauso kriminell wie eine Kriegsführung zwecks Landnahme oder Profitsteigerung – denn unsere Ideen anderen Menschen aufzuzwingen, ist ebenso wenig vertretbar wie es zu rechtfertigen wäre, ihnen unseren Willen in irgendeiner anderen Hinsicht aufzuzwingen. Sicherlich gibt es Fälle, in denen der Waffengang erlaubt ist, ohne selbst angegriffen oder mit einem Angriff bedroht worden zu sein; und es ist sehr wichtig, dass die Nationen rechtzeitig wissen sollten, um welche Fälle es sich hierbei handelt. Es gibt wenige Fragen, mit denen sich Moralphilosophen und politische Philosophen dringlicher beschäftigen sollten, wobei es hier darum ginge, einen Grundsatz oder ein Kriterium zu finden, anhand dessen über die Vertretbarkeit einer Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder und (was manchmal genauso fraglich ist) über die Vertretbarkeit des Verzichts auf Einmischung endgültig und rational nachvollziehbar befunden werden könnte. Wer immer diesen Versuch unternimmt, wird mehr als eine grundlegende Unterscheidung anerkennen müssen – was der öffentlichen Meinung noch völlig unvertraut und denjenigen gemeinhin entgangen ist, die sich dieser Frage in der Manier moralischer Empörung widmen. So gibt es (beispielsweise) einen erheblichen Unterschied zwischen dem Fall, in welchem die betreffenden Nationen auf dem gleichen oder annährungsweise gleichen Stand der

108

D  Z  W

Zivilisation stehen, und jenen, in welchem sich eine der betreffenden Parteien auf einem hohen und die andere auf einem sehr niedrigen sozialen Entwicklungsstand befindet. Es ist ein grober Fehler zu vermuten, dass dieselben zwischenstaatlichen Gepflogenheiten und dieselben Grundsätze zwischenstaatlichen Anstands einerseits zwischen verschiedenen zivilisierten Nationen und andererseits zwischen zivilisierten Nationen und Barbaren bestehen können – ein Fehler, den kein Staatsmann begehen kann, unabhängig davon, wie es sich bei jenen verhält, die aus einer gesicherten und der Verantwortung enthobenen Position heraus Staatsmänner kritisieren. Aus der Vielzahl von Gründen dafür, dass dieselben Grundsätze nicht auf so unterschiedliche Situationen anwendbar sind, zählen die beiden folgenden zu den bedeutendsten: Zum einen gehört zu den üblichen Grundsätzen zwischenstaatlichen Anstands die Gegenseitigkeit. Aber Barbaren werden sich nicht auf der Basis von Gegenseitigkeit verhalten. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass sie Grundsätze einhalten. Ihr Geist ist einer solch großen Anstrengung nicht fähig und auch ihr Wille ist nicht hinreichend durch entfernter liegende Beweggründe bestimmt. Zum anderen gilt für Nationen, die noch immer barbarisch sind, nicht der Phase entwachsen zu sein, in welcher es wahrscheinlich zu ihrem eigenen Nutzen ist, als Besiegte unter der Herrschaft von Fremden zu stehen. Unabhängigkeit und Nationalstaatlichkeit bilden, obwohl von wesentlicher Bedeutung für die angemessene Entfaltung und Entwicklung eines hinreichend gebildeten Volkes, generell für diese Hindernisse. Die heiligen Pflichten, welche zivilisierte Nationen in Hinblick auf die Unabhängigkeit und Nationalstaatlichkeit einander schulden, sind gegenüber jenen nicht bindend, welchen Nationalstaatlichkeit und Unabhängigkeit entweder ein bestimmtes Übel bedeuten oder im besten Falle ein fragwürdiges Gut. Als Eroberer waren die Römer sicherlich nicht besonders zimperlich, aber wäre es für Gallien oder Spanien, Numidien oder Dakien besser gewesen, niemals zum Römischen Reich gehört zu haben? Wird jedwedes Verhalten einem barbarischen Volk gegenüber als eine Verletzung des Völkerrechts [law of nations] dargestellt, so zeigt dies nur, dass wer so spricht, sich niemals mit dem Gegenstand beschäftigt hat. Es ist durchaus möglich, dass damit bedeutende Prinzipien der Sittlichkeit verletzt werden; aber als Nation haben Barbaren keine Rechte, außer dem Recht auf eine solche Behandlung, die sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine zu werden befähigt. Die einzigen Gesetze der Sittlichkeit, die in der Beziehung zwischen der Regierung einer zivilisierten Nation und einer Regierung von Barbaren Anwendung finden, sind die allgemein sittlichen Regelungen zwischen Mensch und Mensch. Deshalb gründet die Kritik, die so häufig am Verhalten der Franzosen in Algerien und dem der Engländer in Indien geübt wird, wie es scheint, hauptsächlich auf einem falschen Prinzip. Weil der wirkliche Maßstab, anhand dessen man ihr Vorgehen einschätzen könnte, niemals festgeschrieben worden ist, ermangeln sie eines solchen Kommentars und einer solchen Kritik, die in der Tat verbessernd wirken würden; wohingegen das Vorgehen anhand eines Maßstabs gemessen wird, der auf die praktisch mit solchen Handlungen Befassten keinen Einfluss zu haben vermag. Denn diese wissen wohl, dass jener Maßstab nicht beachtet werden kann und wenn er beachtet werden könnte, nicht beachtet werden sollte, weil dies keinen zu einem besseren Menschen machte, viele jedoch zu erheblich schlechteren. Die Regierung einer zivilisierten Nation kann nichts für barbarische Nachbarn. Wenn sie in der Tat solche Nachbarn hat, kann sie sich nicht immer auf eine defensive Einstellung beschränken – die eines bloßen, den Angriff ab-

E B  N-E ()

109

wehrenden Widerstandes. Nach einer längeren oder kürzeren Zeit der Nachsicht wird sie sich gezwungen sehen, diese zu erobern oder ein solches Maß an Autorität auszuüben und ihnen damit den Willen zu brechen, womit sie allmählich in einen Zustand der Abhängigkeit von ihr geraten. Ist dieser Punkt erreicht, stellen sie in der Tat keine ernst zu nehmende Gefahr mehr dar, allerdings ist die Regierung der zivilisierten Nation nunmehr so stark mit dem Auf- und Abbau ihrer Regierungen beschäftigt und sind diese mittlerweile derart gewohnt, sich auf sie zu verlassen, dass sie für alle Übel moralisch verantwortlich ist, die sie ihnen zu tun erlaubt. Dies ist die Geschichte der Beziehung der britischen Regierungen zu den Fürstenstaaten Indiens. Sie konnte sich ihrer eigenen indischen Besitzungen solange nicht sicher sein, bis sie die militärische Macht dieser Staaten gebrochen hatte. Eine despotische Regierung existiert aber nur durch ihre militärische Macht. Als wir ihnen die ihrige genommen hatten, waren wir der Natur der Sache nach genötigt, ihnen stattdessen die unsrige anzubieten. Um ihnen den Verzicht auf große eigene Heere zu ermöglichen, haben wir uns verpflichtet, uns ihnen zur Verfügung zu stellen; sie wiederum verpflichteten sich, eine solche Streitmacht zu empfangen, die uns in der Tat zu Herren des Landes machte. Wir versprachen, dass diese Macht den Zwecken dienen soll, denen eine Streitmacht zu dienen hat, nämlich den Fürsten gegen alle äußeren und inneren Feinde zu verteidigen. Indem sie so dem Schutz einer zivilisierten Nation sicher waren und frei von der Furcht einer inneren Rebellion oder äußeren Eroberung – worin die einzige Gewähr der Zügelung ihrer Leidenschaften und des Erhalts der Charakterstärke eines asiatischen Despoten besteht –, wurden die Regierungen der Fürstenstaaten so tyrannisch und erpresserisch, dass sie das Land ruinierten oder in einen Zustand kraftlosen Schwachsinns versanken, womit alle ihnen Unterworfenen, die nicht in der Lage waren, sich mittels eigener bewaffneter Gefolgsleute zu verteidigen, zur Beute eines jeden wurden, in dessen Sold eine Bande Grobiane stand. Die britische Regierung spürte, dass diese bedauerliche Sachlage ihr eigenes Werk war, folgte diese doch aus der Stellung, in welche sich die Regierung ihrer eigenen Sicherheit wegen den Fürstenstaaten gegenüber gebracht hatte. Wäre dieser Zustand durch ihre Duldung immer weiter fortgeschrieben worden, hätte sie zu Recht zu den schlimmsten politischen Übeltätern gezählt werden müssen. Sie hatte sich in einigen (leider nicht in allen) Fällen bemüht, Vorkehrungen gegen diese Missstände durch einen speziellen Vertragsartikel zu treffen, welcher den Fürsten verpflichtet, seine Regierung zu reformieren und zukünftig in Übereinstimmung mit den Ratschlägen der britischen Regierung zu regieren. Zu den Verträgen, in welchen eine Klausel dieser Art eingefügt worden war, gehörte jener mit dem Fürstenstaat Oude.5 Über mehr als fünfzig Jahre ließ es die britische Regierung zu, dass diese Verpflichtungen völlig ignoriert wurden, nicht ohne häufig Beschwerden zu erheben und gelegentlich Drohungen auszusprechen, aber ohne jemals mit diesen Drohungen ernst zu machen. Während dieses halben Jahrhunderts war England für eine Mischung aus Tyrannei und Anarchie moralisch verantwortlich, deren Beschreibung durch jene, die sich auskennen, jeden entsetzen wird, der sie liest. Die Maßnahme, durch welche die Regierung von Britisch Indien letztlich Verträge aufhob, die so hartnä5

Anmerkung der Herausgeber: „Treaty with the Nawaub Vizier, Saadit Ali” (10. November 1801), in: Hertlet’s Commercial Treaties, hg. v. Lewis Hertslet, et al., 31 Bde., London, 1820–1925, Bd. VIII, S. 663.

110

D  Z  W

ckig verletzt worden waren, und die Macht übernahm, um die Verpflichtung zu erfüllen, die sie vor langer Zeit auf sich genommen hatte, nämlich dem Volk von Oude eine erträgliche Regierung zu geben, ist keinesfalls das politische Verbrechen, als das man es häufig ignoranterweise bezeichnete, sondern die kriminell verspätete Erfüllung einer unbedingten Verpflichtung.6 Auch die Tatsache, dass nichts von dem, was die Regierung der Ostindien-Kompanie in diesem ganzen Jahrhundert getan hatte, sie in England so unbeliebt machte wie diese Intervention, ist eines der deutlichsten Beispiele dessen, was im früheren Teil dieser Abhandlung hervorgehoben wurde – die Empfänglichkeit der englischen öffentlichen Meinung dafür, jeder Handlung, durch welche Territorium oder Einkünfte von anderen Staaten erworben werden, mit Missgunst zu betrachten, und sich auf die Seite jeder Regierung zu stellen, so unwürdig diese auch sei, die nur scheinbar unser Land der Ungerechtigkeit bezichtigen kann. Unter zivilisierten Völkern allerdings – Mitgliedern einer Gemeinschaft gleicher Nationen, wie das christliche Europa – erscheint diese Frage aus einer anderen Perspektive und muss unter völlig anderen Prinzipien entschieden werden. Für den Leser wäre es eine Zumutung, über die Unmoral von Eroberungskriegen oder die Eroberung selbst als Folge eines rechtmäßigen Krieges diskutieren zu wollen, die Einverleibung irgendeines Kulturvolkes in den Herrschaftsbereich eines anderen – es sei denn, dies geschieht durch deren eigene spontane Wahl. Bis zu diesem Punkt gibt es unter ehrbaren Menschen keine Meinungsverschiedenheiten, auch nicht hinsichtlich des Frevels, den ein von uns eigennützig geführter Angriffskrieg bedeuten würde, es sei denn, er wäre notwendig, um ein uns offensichtlich bedrohendes Unrecht abzuwenden. Strittig ist jedoch die Einmischung in die Regelung der inneren Angelegenheiten eines anderen Landes – ob eine Nation das Recht hat, in den Bürgerkriegen oder Fraktionsstreitigkeiten einer anderen Partei zu ergreifen. Im Wesentlichen aber ist strittig, ob sie darin gerechtfertigt ist, dem Volk eines anderen Landes im Kampf um die Freiheit Hilfe zu leisten, oder ob sie einem Land eine bestimmte Regierung oder bestimmte Institutionen verordnen kann, und dies entweder als das Beste für das Land selber rechtfertigt oder als notwendig für die Sicherheit der Nachbarn dieses Landes. Von diesen Fällen ist nur der eines Volkes, das für die Freiheit kämpft, eine Unterscheidung wert oder ein solcher, welcher zumindest theoretisch möglicherweise einander wiedersprechende moralische Überlegungen aufwerfen wird. Über die anderen genannten Fälle braucht schwerlich diskutiert zu werden. Die Beihilfe für die Regierung eines Landes zur Unterdrückung des eigenen Volkes, unglücklicherweise der weit häufigste Fall ausländischer Einmischung, muss sich niemand, der in einem freien Land schreibt, die Mühe machen anzuprangern. Eine Regierung, welche die Folgebereitschaft ihrer eigenen Bürger nur mit fremder Hilfe geltend machen kann, ist eine Regierung, die nicht existieren sollte, wobei die Unterstützung durch Fremde schwerlich jemals etwas anderes darstellt als die Sympathie einer Despotie für eine andere. Ein diskussionswürdiger Fall 6

Anmerkung der Herausgeber: Siehe „Draft of Treaty between the East India Company and the King of Oude“, PP, 1856, XLV, 597–599. Am 4. November 1856, als der König von Oude die Unterzeichnung des Vertrags verweigerte, übernahmen die Briten die Regierung des Königreichs, wie James Andrew Broun Ramsay beschreibt. Siehe ders., „Minute by the Governor-General of India, Concurred in by the Commander-in-Chief“ (13. Febr. 1856), PP, XLV, 643–653.

E B  N-E ()

111

ist jener eines sich in die Länge ziehenden Bürgerkriegs, in dem die Kräfte der Kontrahenten so ausgewogen sind, dass eine schnelle Entscheidung unwahrscheinlich ist, oder falls sie doch wahrscheinlich sein sollte, die siegreiche Seite dann nur die Möglichkeit hat, die unterlegene durch eine solche Härte der Maßnahmen unter Kontrolle zu halten, die der Menschheit wiederstrebt und die dem bleibenden Wohl des Landes nachteilig ist. In diesem Ausnahmefall scheint es mittlerweile zugestanden, dass die benachbarten Nationen berechtigt sind oder ein mächtiger Nachbar mit Einwilligung der übrigen berechtigt ist, die Forderung zu erheben, der Konflikt möge beendet und eine Versöhnung auf Grundlage gleicher Übereinkunft erzielt werden. In dieser Weise beschriebene Interventionen wurden wiederholt in der gegenwärtigen Generation durchgeführt, und zwar mit einer solchen allgemeinen Zustimmung, dass man die Auffassung hegen kann, sie habe mittlerweile die Legitimität einer Maxime dessen, was Völkerrecht genannt wird. Zu nennen wäre hier die Einmischung europäischer Mächte in den Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei und den zwischen der Türkei und Ägypten. Noch mehr gilt dies für den Konflikt zwischen Holland und Belgien. Die Intervention Englands in Portugal vor einigen Jahren, die vermutlich noch weniger in Erinnerung geblieben ist als die anderen, weil sie ohne den Einsatz militärische Kräfte erfolgte, gehört ebenfalls dazu. Damals mutete die Einschaltung als schlechte und betrügerische Stützung der Regierung gegenüber ihrem Volk an, und zwar deshalb, weil sie genau zu dem Zeitpunkt erfolgte, als die Volkspartei einen deutlichen Vorsprung erzielt hatte und kurz davor zu stehen schien, die Regierung zu stürzen oder sie zur Einwilligung zu zwingen. Wenn aber jemals ein politisches Unternehmen zu Beginn den Eindruck schlechter Absichten vermittelte, schließlich aber doch durch das Ergebnis gerechtfertigt werden konnte, dann war dies ein solches. Denn statt einer Partei zum Aufstieg zu verhelfen, erwies es sich als wirklich heilsame Maßnahme: So wurden innerhalb einiger Jahre aus den Führern der sogenannten Rebellion ehrbare und erfolgreiche Minister unter dem Thron, gegen den sie noch vor kurzem fochten. 7 Bezüglich der Frage nach der Berechtigung eines Landes, dem Volk eines anderen im Kampf gegen dessen eigene Regierung für freie Institutionen zu helfen, wird die Antwort unterschiedlich ausfallen, nämlich je nachdem, ob das Joch, welches das Volk abzuwerfen versucht, das einer rein einheimischen Regierung ist oder das Fremder; wobei als Fremdregierung auch eine solche zählt, die sich nur durch fremde Hilfe an der Macht halten kann. Sollte sich der Widerstand nur gegen einheimische Herrscher richten und gegen die durch diese Herrscher zu ihrer Verteidigung mobilisierbare einheimische Macht, dann lautet die Antwort, die ich auf die Frage nach der Rechtfertigung einer Intervention gebe, im Allgemeinen „nein“. Denn in nahezu keinem Fall kann sichergestellt werden, dass eine Intervention, auch wenn sie erfolgreich wäre, den Menschen selbst zugute käme. Die einzige wirklich aussagekräftige Prüfung hinsichtlich der Eignung eines Volkes für öffentliche Institutionen wäre, ob dieses Volk oder ein Teil von ihm, der dafür hinreichend ist, sich in der Auseinandersetzung zu behaupten, keine Mühe und Gefahr für seine Befreiung scheut. Ich bin mir aller hier möglichen Einwände bewusst. So kann, wie ich wohl weiß, geltend gemacht werden, dass die Tugenden frei7

Anmerkung der Herausgeber: Nuño José de Mendonça Rolim de Moura Barreto, Herzog von Loulé, und Bernardo Sá de Bandeira.

112

D  Z  W

er Menschen nicht in der Schule der Sklaverei gelehrt werden und dass ein Volk, falls es nicht für die Freiheit geeignet ist, dennoch, um jede Möglichkeit erhalten zu können, diese Eignung zu erwerben, zuvörderst frei sein sollte. Dies wäre überzeugend, wenn die empfohlene Intervention ihnen wirklich Freiheit brächte. Jedoch besteht das Übel darin, dass die Freiheit, die ihnen andere vermachten, statt dass sie von ihnen selbst käme, dann keine wirkliche und dauerhafte Freiheit wäre, wenn sie die Freiheit nicht in dem Maße schätzen, das erforderlich ist, um sie selbst einheimischen Unterdrückern abzutrotzen. Ein Volk ist frei und bleibt frei nur dann, wenn es entschlossen ist, frei zu sein; denn weder seine Herrscher noch irgendein anderer Teil der Nation könnte es in diesem Falle zwingen, es nicht zu sein. Wenn die Freiheit von einem Volk – insbesondere einem solchen, dem sie noch nicht zur Norm geworden ist – so wenig geschätzt wird, dass es nicht bereit wäre, für sie zu kämpfen oder sie gegen jede Macht zu behaupten, die innerhalb des Landes, selbst durch jene, welche über die öffentlichen Einnahmen verfügen, rekrutiert werden kann, dann ist die Versklavung dieses Volkes nur eine Frage von Jahren oder Monaten. Entweder wird die Regierung, die sich das Volk selbst gegeben hat, oder irgendein militärische Führer oder eine Gruppe von Verschwörern, die die Regierung zu unterwandern plant, alle öffentlichen Institutionen rasch beseitigen – es sei denn, es passt ihnen in der Tat besser, sie bestehen zu lassen, und sich damit zufrieden zu geben, deren bloße Form zu wahren. Denn es ist für jene, die über die Exekutive verfügen, es sei denn, der Wille eines Volkes zur Freiheit ist stark ausgeprägt, ein Leichtes, jede Institution den Zwecken des Despotismus anzupassen. Es gibt keine absolute Sicherheit gegen diesen beklagenswerten Ausgang, selbst in einem Land nicht, das seine Freiheit selbst erlangt hat, wie sich an schlagenden Beispielen der alten und neuen Welt zeigen lässt. Wird Freiheit aber für das Volk errungen, dann hat es in der Tat kaum Aussichten, diesem Schicksal zu entgehen. Hatte ein Volk aber das Missgeschick einer solchen Regierung, unter der sich Gefühle und Tugenden, die für die Aufrechterhaltung der Freiheit notwendig sind, nicht selbständig entwickeln können, so haben diese Gefühle und Tugenden die besten Entstehungsbedingungen in einem mühsamen Kampf, den dieses Volk selbst führen muss. Menschen entwickeln Bindungen an das, wofür sie lange gefochten und Opfer gebracht haben; sie lernen das zu schätzen, womit ihre Gedanken stark beschäftigt sind. Ein Kampf, in dem viele aufgerufen sind, sich für ihr Land hinzugeben, gleicht einer Schule, in der sie lernen, das Interesse ihres Landes über das eigene zu stellen. In einem Land, das sich einer freien Regierung erfreut, wird es selten – nie zu sagen, wäre zu weit gegriffen – klug oder rechtens sein, die Bestrebungen eines anderen Landes zu unterstützen – es sei denn, allein als moralischen Rückhalt seiner Auffassung –, den dortigen Herrschern dieselbe Wohltat abzutrotzen. Davon auszunehmen sind natürlich all die Fälle, in denen eine solche Unterstützung als Maßnahme legitimer Selbstverteidigung zählt. Falls dieses Land sich seiner Freiheit wegen, die eine ständige Anklage gegen eine jede Despotie und eine Aufmunterung darstellt, sich ihrer zu entledigen, durch den Angriff einer Koalition kontinentaler Despoten bedroht sieht (ein durchaus möglicher Fall), sollte sie die Partei des Volkes in jeder Nation des Kontinents als seine natürlichen Verbündeten betrachten: Die Liberalen müssten ihm das sein, was die Protestanten Europas für die Regierung der Königen Elizabeth waren. Sollte darüber hinaus eine Nation aus Gründen der Selbstverteidigung gegen einen Despoten Krieg geführt haben und

E B  N-E ()

113

das seltene Glück nicht nur erfolgreichen Widerstands besitzen, sondern auch über die Bedingungen des Friedensschlusses bestimmen zu können, ist sie zu fordern berechtigt, keinen Vertrag zu schließen, es sei denn mit einem anderen Herrscher als einem solchen, dessen bloße Existenz eine beständige Bedrohung ihrer Sicherheit und Freiheit darstellen mag. Diese Ausnahmen bringen nur die Gründe der Regel deutlicher zum Vorschein. Denn sie hängen nicht von einer Fehlerhaftigkeit dieser Gründe ab, sondern von höheren Überlegungen und stehen unter einem anderen Prinzip. Aber der Fall eines Volkes, das sich gegen ein fremdes Joch erhebt, oder gegen eine einheimische, durch fremde militärische Gewalt aufrechterhaltene Tyrannei, zeigt die Gründe für die Nichteinmischung aus dem entgegengesetzten Blickwinkel: Denn in diesem Fall bestehen die Gründe selbst nicht. Ein der Freiheit in höchstem Maße verbundenes Volk, das außerordentlich befähigt ist, freie Institutionen zu verteidigen und einen sinnvollen Gebrauch von ihnen zu machen, mag unfähig sein, diese gegen die militärische Macht einer anderen, viel stärkeren Nation zu behaupten. Einem in solchem Maße unterdrückten Volk Hilfe zu leisten, heißt nicht, das Gleichgewicht der Kräfte zu stören, von welchem die beständige Aufrechterhaltung der Freiheit in einem Lande abhängt, sondern dieses Gleichgewicht wieder herzustellen, wenn es bereits ungerechterweise und mit Gewalt gestört worden war. Damit die Doktrin der Nichteinmischung als legitimes Prinzip der Sittlichkeit gelten kann, muss es von allen Regierungen anerkannt werden. Die Despoten wie auch die freien Staaten müssen darin einwilligen, durch diese gebunden zu sein. Wenn nicht, dann wird das Bekenntnis der freien Länder zu dieser Doktrin zu dem traurigen Ergebnis führen, dass die falsche Seite den Falschen helfen mag, aber die richtige den Richtigen nicht helfen darf. Eine Einmischung zum Zwecke der Nichteinmischung ist immer gerecht, immer sittlich, wenn auch nicht immer vernünftig. Obwohl es ein Fehler wäre, einem Volk Freiheit zu geben, das diesen Segen nicht zu schätzen vermag, so kann doch das Beharren darauf nur rechtens sein, dass es, falls es die Freiheit doch schätzt, nicht in seinem Streben nach ihr durch fremden Zwang gehindert werden soll. Möglicherweise wäre es für England (selbst unabhängig von der Frage der Vernunft) nicht richtig gewesen, Ungarn in seinem noblen Kampf gegen Österreich beizustehen, obwohl die österreichische Regierung für Ungarn in gewisser Hinsicht ein ausländisches Joch gewesen ist. Als aber der russische Despot, nachdem sich die Ungarn in diesem Kampf als mögliche Gewinner gezeigt hatten, intervenierte und durch die Vereinigung seiner militärischen Kräfte mit denen Österreichs die Ungarn, an Händen und Füßen gefesselt, ihren aufgebrachten Unterdrückern zurückgab, wäre es ein ehrenwertes und tugendhaftes Vorgehen Englands gewesen zu erklären, dass dies nicht sein solle und dass England, sollte Russland der falschen Seite zu Hilfe kommen, der richtigen Seite zu Hilfe kommen würde. Es wäre möglicherweise nicht mit der Rücksicht zu vereinbaren, die jede Nation auf ihre eigene Sicherheit zu nehmen hat, wenn England im Alleingang diese Haltung eingenommen hätte. Aber gemeinsam mit Frankreich wäre ein solches Handeln möglich gewesen, eine russische Militärintervention in diesem Falle niemals zustande gekommen oder allein für Russland verheerend gewesen. Durch ihre Unterlassung haben diese Mächte nur erreicht, fünf Jahre später gegen Russland kämpfen zu müssen, und zwar unter schwierigeren Bedingungen und ohne auf Ungarn als Verbündeten zählen zu können. Die erste Nation, die, mächtig genug ihrer Stimme Geltung zu verschaffen, Geist und Mut besitzt zu verkünden, dass kein Schuss in Europa

114

D  Z  W

durch die Soldaten einer Macht gegen die rebellierenden Untertanen einer anderen abgefeuert werden dürfe, wäre das Vorbild aller Freunde der Freiheit in ganz Europa. Allein diese Proklamation wird die nahezu sofortige Emanzipation jedes Volkes sicher stellen, dass die Freiheit in einem solchen Maß wünscht, dass es fähig ist, sie aufrechtzuerhalten. Die Nation aber, die dies verkündet, wird sich binnen kurzem an der Spitze einer Allianz freier Völker wiederfinden, die so mächtig ist, dass sie den Bestrebungen trotzt, von verbündeten Despoten zerstört zu werden, so groß deren Zahl auch sei. Dieser Gewinn ist zu ruhmreich, um nicht früher oder später von einem freien Land ergriffen zu werden. Möglicherweise ist aber die Zeit nicht fern, dass England, sollte es diese heroische Rolle nicht ihres Heroismus wegen spielen, gezwungen sein wird, sie aus Gründen seiner eigenen Sicherheit zu übernehmen. (Übersetzt von Veit Friemert und Shivaun Conroy)

Zweiter Teil: Die liberale Aktivierung des Bürgers

IEE Das Gesetz gegen Verleumdungen und die Freiheit der Presse (1825)

Die zwei Veröffentlichungen, die diesem Aufsatz vorstehen, sind von beachtlichem Wert. Wir zögern somit nicht, sie unseren Lesern als einer eingehenden Prüfung würdig zu empfehlen. Bei der ersten handelt es sich zugestandenermaßen, obwohl kein Name auf dem Titelblatt erscheint, um das Erzeugnis eines bekannten und bewährten Volksfreundes.1 Sie besteht aus einer Folge von Abhandlungen, welche, die letzte ausgenommen, vor nahezu zwei Jahren in einer Wochenzeitung erschienen sind, und schließt eine summarische Präsentation vieler der Grässlichkeiten ein, die das sogenannte Gesetz gegen Verleumdungen und dessen Anwendung beinhalten. Auch gibt sie einen kurzen Bericht über die Aktionen einer Gruppe von Männern, welche, nunmehr in Vergessenheit geraten, einstmals unter dem Namen „Constitutional Association“ verrufen waren. Wir werden nicht behaupten wollen, dass der Autor den Gegenstand erschöpfend behandelt hat, glauben aber, dass ihm die nicht geringe Ehre gebührt, uns – in den engen Grenzen, in denen er sich der ursprünglichen Rahmenbedingungen wegen bewegen musste – vieles, insbesondere viel Sachdienliches, mitgeteilt zu haben. Mr. Mences Schrift fand unsere Aufmerksamkeit, weil sie mit dem Hinweis angekündigt worden war, sich der Constitutional Association zu widmen. Was von einer unter solchem Vorzeichen stehenden Schrift zu erwarten ist, haben unsere Leser keine Möglichkeit zu erfahren. Wir aber brauchten in unserer Lektüre nicht lange, um zu erkennen, dass es sich bei Mr. Mence nicht um einen demütigen Anwärter auf ministeriale Gönnerschaft handelt, der damit zufrieden wäre, den Absichten jener zu dienen, die den menschlichen Geist in beständiger Knechtschaft halten, sondern um eine Person, die selbst bei Gefährdung des eigenen beruflichen Erfolgs nicht davor zurückschreckt, die Fehler bestehender Institutionen bloßzustellen, um jemanden, der es wagt, großen und bedeutenden Wahrheiten Ausdruck zu verleihen, wie unannehmbar diese den Reichen 1

Anmerkung der Herausgeber: Francis Place, Die Abhandlungen (die letzte ausgenommen) erschienen zuerst in wöchentlichen Fortsetzungen auf der Titelseite des British Luminary and Weekly Intelligencer vom 3. November bis zum 22. Dezember 1822.

118

D  A  B

und Mächtigen auch immer sind, und der allein schon dann Hochachtung verdiente, wenn er seine Aufgabe mit weit geringerer Befähigung erfüllt hätte, als er zu zeigen vermochte. Ohne eine kritische Untersuchung der Vorzüge und Mängel dieser beiden Schriften vorzunehmen, ergreifen wir die hier gebotene Möglichkeit, unsere Ansichten über den hochbedeutsamen Gegenstand vorzustellen, auf den sie sich beziehen. Wir werden uns den Ausführungen der einen und der anderen Schrift oder beider bedienen, sooft dies unserem Zweck besonders passend zu sein scheint. Unsere Ausführungen erfolgen in zwei Teilen: In einem Teil erörtern wir die allgemeine Frage, in welchem Maße sich Beschränkungen der Pressefreiheit als auf vernünftigen Prinzipien der politischen Philosophie ruhend verstehen lassen; in einem zweiten geben wir einen kurzen Überblick über die englische Gesetzgebung [English Law] und die Lehrmeinungen englischer Juristen zu diesem Gegenstand. Wir versprechen den Nachweis dafür zu erbringen, dass die englische Gesetzgebung der Pressefreiheit so nachteilig ist wie die des despotischsten Landes, das jemals existierte, und folglich das Maß an jener Freiheit, dessen man sich in diesem Land erfreut, nicht Folge der Gesetzgebung ist, sondern ungeachtet ihrer besteht. In Hinblick auf die allgemeine Frage hat man zumeist in sehr pauschaler Weise entschieden. Oft wird erstens angenommen, dass die Inanspruchnahme der Presse in jeder anderen als einer gewissen Art und Weise von unfassbarer Niederträchtigkeit sei und es zweitens deshalb die Pflicht der Richter [magistrate]2 wäre, diese Gefahr durch Bußgeld oder Haftstrafe zu bannen – wenn nicht gar durch Maßnahmen, die noch zuverlässiger und unmittelbarer wirksam sind. Nun hat aber der Verfasser des Artikels „Liberty of the Press“ im Ergänzungsband der Encyclopaedia Britannica das Beispiel einer völlig anderen Art Überlegung gegeben und – was bisher nie vollständig und konsistent getan wurde – die Gedanken hervorgehoben, um welche es bei dieser Frage wirklich geht. Unser Ehrgeiz beschränkt sich darauf, ihm hier zu folgen und uns von seinen Prinzipien leiten zu lassen. Wir werden uns bemühen, die Sophisterei zu entwirren, und die verderblichen Pläne der Feinde der Diskussionsfreiheit entlarven. Es liegt uns wirklich fern, daran zu zweifeln, dass die Presse in straffälliger Weise Anwendung finden kann. Sie mag zum Werkzeug nahezu eines jeden nur erdenklichen Verbrechens werden. „Es gibt nahezu kein Recht, zu dessen Verletzung, nahezu keine Amtshandlung der Regierung, zu deren Beeinträchtigung die Presse nicht als Werkzeug dienlich ist. Die Straftaten, die zu begehen die Presse die Fähigkeit besitzt, sind in der Tat nahezu deckungsgleich mit dem Gesamtbereich des Verbrechens. Allerdings ist es nicht notwendig, eine die Presse betreffende gesonderte Definition einer jeden solchen Verletzung oder Beeinträchtigung zu geben. Damit würde das Strafgesetzbuch nur ein zweites Mal geschrieben werden: Man be-

2

Anmerkung des Übersetzers: „magistrate“ wurde durchgängig mit „Richter“ (plural) oder „Richterschaft“ übersetzt.

D G  V   F  P ()

119

schriebe zuerst ein jedes Vergehen wie es normalerweise erscheint und dann erneut für die Fälle, in denen die Presse das spezielle Werkzeug ist. Erforderte die Abwehr der Rechtsverletzung eine gesonderte Definition dem jeweiligen Instrument entsprechend, welches als Mittel zum Zwecke der verschiedenen Vergehen dienen könnte, würde das die Grenzen eines Strafgesetzbuches sprengen. Generell gesehen ist das Tatwerkzeug oder Mittel ein unwesentlicher Sachverhalt. Die Rechtsverletzung selber und das Ausmaß der Furcht, das mit ihr verbunden sein mag, sind die Dinge, die hauptsächlich zählen. Wird ein Mensch in Todesangst versetzt und seiner Geldbörse beraubt, so ist es ohne Belang, ob er mit einer Pistole oder einem Schwert bedroht wird. Zum Protokoll eines Diebstahls, Betrugs oder Mordes ist die Darstellung der verschiedenen Weisen, auf denen diese Rechtsverletzungen herbeigeführt werden können, nicht erforderlich. Dass der tatsächliche Rechtsbruch genau beschrieben wird, genügt. Das Ziel ist es, der Rechtsverletzung nicht nur dann vorzubeugen, wenn diese durch die eine oder andere Art von Mitteln begangen wird, sondern generell, mit welchem Mittel auch immer. Personen und Eigentum betreffend hat man es immer für hinreichend gehalten, die Handlungen in allgemeiner Weise zu bestimmen, durch die Rechtsverletzungen herbeigeführt werden können. Man ist hierbei auch immer der Überzeugung gewesen, ebenso die Fälle einzuschließen, in denen die Presse gleich allen anderen Mitteln dazu dienen kann, den Zweck des Rechtsbruchs zu bewirken. Keiner hat jemals ein Gesetz im Sinn gehabt, das speziell die Presse angesichts der Fälle zügeln sollte, in denen sie für die Verübung eines Mordes oder Diebstahls dienstbar gemacht werden kann. Hinreichend ist ein Gesetz, das den bestraft, der eines Mordes oder Diebstahls schuldig ist, ob er nun die Presse oder irgendein anderes Mittel genutzt hat, um sein Ziel zu erreichen.“34

3

4

Anmerkung von Mill: Artikel „Liberty of the Press“ [1821] (im Ergänzungsband der [4., 5. und 6. Auflage der] Encyclopaedia Britannica, gegen Anfang). [Anmerkung der Herausgeber: James Mill, Essays (London [1825]), S. 3–4. J. St. Mill nutzt diesen Text statt den des Ergänzungsbandes.] Diese wertvolle Abhandlung stammt aus der Feder von Mr. Mill, dem Historiker BritischIndiens. [Anmerkung der Herausgeber: Der abschließende Verweis bezieht sich auf The History of British India, 3 Bde., London 1817 (1818).] Anmerkung von Mill: Mit ziemlicher Klarheit hat Montesquieu den einzigen Fall erkannt, in dem die Bekundung von Meinungen und Gefühlen strafrechtsrelevante Tatbestände sein könnten. Er riskierte es allerdings nicht, der Sache über den Bereich der Worte hinaus nachzugehen; auch hat er sich in diesem Bereich auf den Fall jener Worte beschränkt, die hochverräterisch genannt werden.„Ein anderes ist es mit Worten, die bei einer Handlung vorfallen, denn diese participieren sodann von der Natur der Handlung. Wer auf den Marktplatz hintreten, und das Volk zum Aufstand reizen wollte, der würde sich allerdings des Hochverraths schuldig machen, weil die Worte die Handlung begleiten, und ein Theil davon ausmachen. Aber alsdann sind es nicht sowohl die Worte, welche man bestraft, als die Handlung, bei welcher sie gebraucht wurden. Zum Verbrechen werden Worte nur dann, wenn sie mit einer strafbaren Handlung in unmittelbarer Verbindung stehen, und entweder Ursache oder Folge davon sind. Aber auf Freiheit ist sodann nicht weiter zu rechnen, wenn man die Worte, anstatt sie zum Merkmal eines Kapitalverbrechens zu machen,

120

D  A  B

Es gibt allerdings einige Arten von Handlungen, auf die bezogen die Presse, wenn nicht als das einzige so doch jedenfalls als das effizienteste Werkzeug betrachtet werden kann: die Veröffentlichung von Tatsachen und die Bekundung von Meinungen. Unter die eine oder die andere dieser beiden Rubriken fallen die Gebrauchsweisen der Presse, gegen welche sich das Gesetz gegen Verleumdungen prinzipiell richtet. Es wird nicht behauptet, dass sich in der Sprache der englischen Gesetzgebung das Wort Verleumdung [libel] strikt auf nur eine Bedeutung begrenzt. Im Gegenteil umfasst es eine Reihe von Handlungen sehr verschiedener Natur. Diese gleichen einander kaum, es sei denn in Hinblick auf die Strafen, die ihnen durch die autorisierten Gesetzesinterpreten beigeordnet worden sind. Ein mit einer Geldforderung verbundener Drohbrief gilt als Verleumdung, ein anstößiges Bild ebenfalls. Fürs Erste jedoch werden sich unsere Bemerkungen auf die Fälle der Veröffentlichung von Tatsachen und der Bekundung von Meinungen beschränken. Um mit dem Letzteren zu beginnen: Wenn die Richterschaft ermächtigt wird, alle Meinungen zu unterdrücken, die sie in ihrer Weisheit für verderblich erklären mag – welcher Kontrolle hat sich dann ihre Macht zu fügen? Was garantiert, dass jene nicht missbraucht wird? Ohne ein bestimmtes Maß an Sicherheit wird nämlich jede Macht, und natürlich auch diese, gewiss missbraucht werden, sooft ihr Missbrauch eben ihrem Inhaber zweckdienlich ist. Englische Juristen rühmen sich der Definition des Hochverrats – das Delikt sei so genau definiert, dass nichts mehrdeutig, nichts dem Zufall oder dem Ermessen des Richters überlassen bleibe. Diese sei, so erklären sie uns, eines der wesentlichen Bollwerke unserer Freiheit. Das besagt aber auch, dass falls die Entscheidung, was und was nicht Hochverrat ist, dem Ermessen des Richters überlassen wäre, als Hochverrat all das gelten würde, was der Regierung missfällt. Warum aber sollte im Fall des Hochverrats eine Definition erforderlich sein, im Fall der Verleumdung aber nicht? Nimmt die Regierung Fehlentscheidungen weniger ernst? Ist der Richter weniger von der Regierung abhängig? Ist eine packed special jury5 weniger unterwürfig? Oder sind Richter und Gericht engelsgleich, sollten sie über die Anklage der Verleumdung richten, und menschlich nur dann, wenn es um Hochverrat geht? Es wäre eine kühne Behauptung, dass den Richter zu ermächtigen, über Rufschädigung zu befinden, etwas anderes wäre als eine Umschreibung dessen, die Regierung dazu zu ermächtigen. Die Regierung aber ist daran interessiert, dass das Volk hinsichtlich vieler Dinge, und diese sind deren wichtigste, nicht wahre sondern falsche Überzeugungen hegt. Deshalb wird sie mit Sicherheit in diesen Fällen, wenn sie die Macht dazu hat, nicht die falschen und schädlichen Meinungen, sondern die großen und bedeutenden Wahrhei-

5

zum Verbrechen selbst macht.“ Anmerkung des Übersetzers: Montesquieu, Der Geist der Gesetze, 1. Bd., 12. Buch, 12. Kap., Görlitz 1804, S. 368f. Anmerkung des Übersetzers:„To pack“ im Sinne von ‚eine Geschworenenbank (etc.) mit den eigenen Leuten besetzen‘. Zum „jury-packing“ siehe Jeremy Bentham, The Elements of the Art of Packing, as applied to Special Juries, particularly in Cases of Libel Law, London 1821. Zur Institution der special jury in der Geschichte der englischen Rechtssprechung siehe James C. Oldham, „The Origins of the Special Jury“, in: The University of Chicago Law Review, Bd. 50, 1 (Winter, 1983), S. 137–221.

D G  V   F  P ()

121

ten unterdrücken: Die Herrschenden sind daran interessiert, dass das Volk in Fragen der Politik sklavische Überzeugungen hegt; gleichfalls sind sie daran interessiert, dass es in Fragen der Religion sklavische Überzeugungen hegt. Alle Meinungen, ob über Politik oder Religion, die nicht sklavisch sind, wird die Regierung, wenn sie sich traut, sicherlich verbieten. Die Herrschenden sind daran interessiert, das Volk möge glauben, dass sie auf die bestmögliche Weise handeln. Deshalb wird die Regierung die größten Anstrengungen unternehmen, all das zu verhindern, was das Volk geneigt macht, daran zu zweifeln, und darüber hinaus alle Kritik unterdrücken, wie verdient sie auch immer sei. Sollte diesen Bestrebungen Erfolg beschieden, sollte alle Kritik zum Schweigen gebracht worden sein, so wäre ihre Herrschaft auf ewig gesichert, in welchen Maße auch immer sie das Volk damit beraubten und unterdrückten. Dies ist so greifbar, dass ein Mensch entweder unaufrichtig oder geistesschwach sein muss, um es zu leugnen. Niemand wird, so nehmen wir an, öffentlich behaupten, dass Herrschern die Macht zustehen sollte, all die Meinungen zu verbieten, die sie verderblich nennen mögen – all die Meinungen, die ihnen möglicherweise unlieb sind. Wo liegt dann aber die Grenze? Wie groß sollte der Ermessensspielraum der Richter sein, Meinungsäußerungen zu unterdrücken? Ließe er sich so begrenzen, dass ihnen die Macht bliebe, wirklich verderbliche Meinungen zu verbieten, sie aber nicht die Macht hätten, jede Meinung zum Schweigen zu bringen, welche die unumschränkte Erweiterung ihrer Macht ablehnte? Schon auf den ersten Blick ist offenkundig, dass eine solche Grenze nicht gezogen werden kann. Falls die Veröffentlichung von Meinungen beschränkt werden sollte, nur weil sie verderblich sind, muss jemand darüber befinden, welche Meinungen verderblich und welche nicht verderblich sind. Offenkundig gibt es keine zweifelsfreie und universelle Regel, anhand deren man über die Nützlichkeit oder Schädlichkeit einer Meinung befinden könnte. Offenkundig ist auch, dass eine Person, die frei von einer solchen Regel als Entscheidungsträger autorisiert wird, ein Despot ist. Wer entscheidet, welche Meinungen erlaubt und welche verboten werden sollten, verfügt den Menschen Meinungen. Menschen können sich nämlich keine Meinungen zu eigen machen, wenn man es nicht duldet, dass diese Meinungen zuvor dem eigenen Urteil zugeführt werden. Wer immer den Menschen Meinungen verfügt, kontrolliert vollständig ihre Handlungen und kann diese ganz ohne Risiko für seine eigenen Zwecke handhaben. Daraus scheint unmittelbar zu folgen, dass es nichts gibt, was zwischen vollständiger Meinungsfreiheit und vollständiger Despotie läge. Immer dann, wenn man die Herrschenden des Landes mit einer bestimmten Portion Macht zur Unterdrückung von Meinungen ausstattet, stattet man sie mit aller Macht aus. Die gesamte Macht zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit würde, wenn sie ausgeübt werden könnte, zu einem bisher ungekannten Maß an Despotie führen – denn es gibt kein Land, in welchem die Macht zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit jemals, in Wirklichkeit, völlig schrankenlos gewesen wäre. Wie aber, könnte man fragen, lässt sich, wenn doch eine gewisse Macht zur Verhinderung von Meinungsäußerungen zu haben bedeutet, diesbezüglich alle Macht zu haben, die Tatsache der Diskussionsfreiheit erklären, die in Großbritannien in beträchtlichem Maße praktisch besteht – da doch die Regierung dieses Landes sicherlich über

122

D  A  B

diese Macht in bestimmtem Maße verfügt? Warum wird die Diskussionsfreiheit geduldet, wenn die Regierung doch die Macht hat, sie zu vernichten? Warum? Aus demselben Grund, weshalb es bei uns ein Habeas-Corpus-Gesetz6 gibt und eine Regierung, in deren Macht es steht, es auszusetzen oder zu widerrufen; aus demselben Grund, weshalb es Geschworenen zuweilen erlaubt ist, einen Gefangenen für unschuldig zu erklären, den die Aristokratie zu vernichten wünscht; aus demselben Grund, weshalb man uns nicht mit den höchsten Steuern belegt, die man uns abnötigen kann, ohne unsere Fähigkeit zu beeinträchtigen, brauchbare Sklaven zu sein. Die Aristokratie fügt sich diesen Einschränkungen nicht, weil sie sie mag, sondern deshalb, weil sie es nicht wagt, sie aufzuheben. Das entspricht auch dem Prinzip der britischen Verfassung selber. Selbst ein türkischer Sultan ist in seinem Handeln durch die Furcht eingeschränkt, Aufruhr zu entfachen. Die Macht, die Presse an die Kette zu legen, mag gleich jeder anderen Macht in ihrer Ausübung durch die öffentliche Meinung eingeschränkt sein, und in Großbritannien war sie in sehr großem, jedoch bei weitem nicht hinreichendem Maße auf diese Weise eingeschränkt und ist dies immer noch. Per Gesetz jedoch – ungeachtet der Behauptungen von Juristen, denen sie, wenn ihnen daran gelegen ist, keine Skrupel haben, zu widersprechen – gibt es hinsichtlich der die Aristokratie interessierenden Gegenstände keine Diskussionsfreiheit in diesem Lande, wie wir anhand allgemeiner Prinzipien schon gezeigt haben und im Folgenden anhand der tatsächlichen Äußerungen der höchsten Rechtsautoritäten erweisen werden. Die einleitende Untersuchung wäre allerdings unvollständig, wenn wir nach der Diskussion der Folgen der Beschränkung der Presse nicht auch die Folgen untersuchen würden, sie nicht zu beschränken. Auf den ersten Blick ist klar, dass die Übel der Freiheit, worin auch immer sie bestehen mögen, nie größer sein können, als die Übel ihrer Beschränkung. Sollten Menschen sich ihre eigenen Meinungen bilden, so würden diese Meinungen schlimmstenfalls falsche Meinungen sein. Dieses Übel wäre, wie wir gesehen haben, nicht zufällig sondern unvermeidlich, sollten die Menschen irgendeiner anderen Person erlauben, Meinungen für sie zu bilden. Auch wäre es unmöglich, dass die im Zustand der Freiheit gebildeten Meinungen, selbst die überspanntesten, an Verderblichkeit jene überträfen, die im Interesse der Herrscher liegen und welche diese folglich den Willen hätten, den Menschen vorzuschreiben. Gibt es doch keine verderblicheren Meinungen als jene, die dazu tendieren, die Macht der Willkür zu verewigen. Allerdings besteht hier ein großer Unterschied: Unter einem freiheitlichen System würde nicht nur der Irrtum, sondern auch die Wahrheit publik; auf Dauer aber kann der Sieg der Wahrheit über den Irrtum nicht ausbleiben. Unter einem System der Beschränkung jedoch wären die von den Behörden publik gemachten Irrtümer die verderblichsten überhaupt und deren Widerlegung nicht erlaubt. Dass die Wahrheit, wenn man ihr die gleiche Chance gibt, immer über den Irrtum siegen und zur Meinung der Weltöffentlichkeit wird, ist eine Behauptung, die auf den allgemeinsten Prinzipien ruht, in welchen die menschliche Natur gründet, und für welche es ein Leichtes wäre, Zeugnisse nahezu eines jeden Autoren zusammenzubringen, der in irgendeinem Bereich der Politik, Moralphilosophie oder Theologie bewandert ist – welche 6

Anmerkung der Herausgeber: 31 Charles II, c. 2 (1679).

D G  V   F  P ()

123

politische Orientierung er auch immer hegen mag. Es handelt sich um eine Behauptung, die selbst jene, die Meinungen beschränken wollen, nicht zu bestreiten wagen. Beständig erheben sie den Einwand, ihre Meinungen würden die Diskussion nicht scheuen, deren einzige Wirkung es ihnen zufolge hingegen wäre, die unwiderlegbare Gewissheit dieser ihrer Meinungen in einem noch helleren Licht als zuvor erscheinen zu lassen. Und doch scheuen sie sich nicht, Männer für etwas zu bestrafen, das – wären ihre Beteuerungen zutreffend – nicht Strafe sondern Dank verdiente. Obwohl jedoch die schlimmsten Feinde der Diskussionsfreiheit nicht leugnen, dass Diskussionen prinzipiell gesehen in der Tendenz zur Offenlegung der Wahrheit führen, gibt es doch, wenn man ihnen hier folgt, eine bestimmte Anzahl von Gegenständen, bei denen die Diskussion nicht zur Aufklärung sondern zur Irreführung neigt. Zu diesen Gegenständen gehören all jene, auf die bezogen die Herrschenden daran interessiert sind, Menschen irrezuführen: die Staatsreligion [political religion of the country], die politischen Institutionen des Landes und das Verhalten wie der Charakter seiner Machhaber. Zum ersten dieser Themen haben wir unsere Überzeugungen in aller Ausführlichkeit bereits in der dritten Ausgabe7 übermittelt, sodass wir uns hier vorwiegend auf die drei übrigen beschränken werden, die sich im Wesentlichen alle auf eines zurückführen lassen. Dass es keinen Gegenstand von größerer Wichtigkeit gibt, muss niemandem gesagt werden. Wenn man dies sagt, so sagt man, es gebe keinen Gegenstand, von dem es wichtiger wäre, Menschen über ihn korrekt zu informieren. Weil die Stabilität einer guten Regierung vollständig davon abhängt, vom Volk als gute Regierung anerkannt zu werden, so ist andererseits die Reform einer schlechten Regierung vollständig von der Überzeugung des Volkes abhängig, dass sie eine schlechte Regierung ist. Mit der Richtigkeit der Einschätzung, mit der das Volk über die Güte seiner Regierung befindet, ist sein ganzes Glück verbunden. Denn zum schlechten Regieren gehört jedes Unheil, das imstande ist, die Menschheit zu befallen. Schlechtes Regieren ist ebenso die Folge dessen, dass die Menschen eine gute Regierung für eine schlechte wie eine schlechte Regierung für eine gute halten. Wir legen hier besonderen Wert auf die Feststellung von Grundprinzipien, weil die von den Herrschenden in dieser Frage gewählte Ausdrucksweise nahelegt, dass es in der Tat eines der größten Verhängnisse für ein Volk ist, eine gute Regierung für eine schlechte zu halten, während es kein oder schlimmstenfalls ein weit geringeres Übel wäre, eine schlechte für eine gute Regierung zu halten. Jedoch ist das Übel, wie wir bereits gesehen haben, in beiden Fällen das gleiche – oder besser gesagt, ist das eine hauptsächlich deshalb ein Übel, weil es zum anderen führt: Dass das Volk schlecht von einer guten Regierung denkt, sollte prinzipiell bedauert werden, weil dies das Volk veranlassen mag, eine schlechtere zu billigen. Sollte es daher einen Gegenstand geben, hinsichtlich dessen die Menschen die Meinungsbildung nicht ohne größte Gefährdungen in Kauf zu nehmen anderen überlassen können, dann ist es jener. Und wenn man diese Macht nicht ohne sich zu gefährden

7

Anmerkung der Herausgeber: William Johnson Fox. „Religious Prosecutions“, Westminster Review II, Juli 1824, S. 1–26.

124

D  A  B

anderen überlassen kann, dann darf man sie am allerwenigsten den Herrschenden des Landes überlassen. Wären die Menschen gezwungen, ihre Meinungen vorbehaltlos durch jemanden bilden zu lassen, der daran interessiert sein könnte, sie zu der Überzeugung zu bringen, dass ihre Regierung schlechter sei, als sie es ist, würde dies zugegebenermaßen die größten Übel zur Folge haben. Schlecht über eine gute Regierung und gut über eine schlechte Regierung zu denken, sind Übel gleichen Ausmaßes. Sollte also jenen das Privileg anvertraut werden, den Menschen Meinungen hinsichtlich ihrer Regierung zu verfügen, die daran interessiert sind, sie zur Überzeugung zu bringen, ihre Regierung sei besser, als sie es ist, dann lässt sich konsistent nicht behaupten, dass dieses Übel weniger schädlich sei. Dass die Herrschenden an einer solchen Überzeugung interessiert sind, leugnen wir nicht. Welche Schlussfolgerung ist daraus zu ziehen – oder besser gesagt: Wie ist die Schlussfolgerung zu vermeiden, dass all die Übel schlechten Regierens verewigt werden, wenn es Herrschenden darüber zu entscheiden erlaubt ist, welche Meinungen das Volk hinsichtlich seiner Regierung hegen soll? Eine solche Entscheidung wird jedoch von Herrschern getroffen, und zwar jedes Mal dann, wenn sie eine Person dafür bestraften, dass diese Institutionen oder das Verhalten der Regierung kritisiert – sofern die Herrscher nicht auch gewillt sind, bei gleichem Strafmaß, Lobesbekundungen zu ahnden. Die Bekundung einer Meinung zu verbieten und die einer anderen zu ermuntern, bedeutet klarerweise, eine Entscheidung zu treffen. Die Kritik der Herrschenden mit Strafen zu belegen, während man deren Lobpreisung erlaubt, besagt, das Volk habe von seiner Regierung, ob diese nun gut oder schlecht ist, gut zu denken, und bedeutet, die wirksamsten Mittel zu ergreifen, das Volk zu einem solchen Verhalten zu nötigen. Gegen diese Argumentation lässt sich kein rationaler Einwand geltend machen. Sicherlich lassen sich Trivialitäten dagegen vorbringen – es gibt aber wenige Schlussfolgerungen gleicher Bedeutsamkeit, gegen die sogar triviale Einwände nahezu haltlos sind. Wenn behauptet wird, dass wer Diskussionen beschränkt, über die Meinungen der Menschen befindet, und dass Herrscher, falls ihnen gestattet wird, ihren Untertanen die Meinungen zu diktieren, wobei sie daran interessiert sind, von allen Meinungen die verderblichsten zu wählen, ihrem Interesse folgend handeln werden, dann lässt sich möglicherweise nur folgender Einwand erheben. Man kann nicht behaupten, dass Diskussion zu behindern nicht bedeutet, über Meinungen zu befinden, auch nicht, dass Herrschende kein Interesse daran hätten, eine schlechte Wahl zu treffen. Man könnte jedoch vorbringen, dass unsere Herrschenden Männer sind, in denen das Vertrauen des Volkes ruht, und dass sie, obwohl sie offenbar interessiert sind, eine schlechte Entscheidung zu treffen, dieses Interesse außer Betracht lassend eine gute Entscheidung treffen. Auf einen solchen Gipfelpunkt der Absurdität mögen Menschen in ihrer Absicht getrieben werden, unverantwortliche Macht zu verteidigen. Zuerst werden sie jede Möglichkeit des Machtmissbrauchs dreist verneinen. Ist dies nicht länger möglich, suchen sie Zuflucht bei den Charaktereigenschaften der Individuen und beharren mit gleichem Starrsinn darauf, man könne der Macht in ihren Händen vertrauen und brauche nicht zu befürchten, dass sie missbraucht werde. Dies ist ein Kompliment, mit Hilfe dessen gegenwärtige Herrscher, wer immer sie auch sein mögen, stets so viel erhalten werden, wie sie zahlen können – verstorbene Herrscher haben weniger Glück. Dass alle Herrscher

D G  V   F  P ()

125

vergangener Zeiten ihre Macht missbrauchten, wenn ihnen das möglich war, ist zugegeben. Zugunsten der Gegenwart sei jedoch eine Ausnahme zu machen. Allerdings ist dies ein Gedankengang von der Sorte, die gegenwärtig bei keinem auf Zustimmung treffen wird. Wir lassen uns nicht in Zeiten zurückversetzen, in denen man Herrscher nicht als menschenähnlich betrachtete und frei von allen Leidenschaften und Begierden verstand, die gewöhnliche Menschen in die Irre leiten. Wenn uneingeschränkte Macht ohne sie zu missbrauchen möglich ist, dann hinweg mit der britischen und all den anderen Verfassungen und lasst uns zurückkehren zur Despotie unserer weisen und ehrwürdigen Vorfahren! Sollten Menschen jedoch jede uneingeschränkte Macht missbrauchen, so wird vom Missbrauch auch die Restriktion der Pressefreiheit betroffen sein. Wenn sich Herrscher aller anderen Möglichkeiten bedienen, um sich zu Despoten zu machen, so werden sie jenes einfache und wirksame Mittel nicht übergehen, alle Meinungen, soweit sie dies wagen, zu unterdrücken, welche der Ausweitung ihrer Herrschaft feindlich gegenüberstehen. Vollständige Freiheit der Diskussion ist, wie bereits gezeigt, hierzu die einzige Alternative. Die auf verschiedenartigste Weise gegen das Prinzip der Diskussionsfreiheit nachdrücklich vorgebrachten Einwände laufen im Grunde auf eine einzige Behauptung hinaus: das Volk sei unfähig, richtige Meinungen zu bilden. In den Augen all der verhüllten und unverhüllten Parteigänger des Despotismus bildet diese Mutmaßung in der Tat den Schlussstein. Es ist das unaufhörliche und bislang leider erfolgreiche Bestreben der Herrschenden, Glauben zu machen, dass ein jeder Versuch, Sicherheiten darüber zu erlangen, dass ihre Macht nicht zum eigenen sondern dem Wohle der Gemeinschaft genutzt werde, die schrecklichsten Katastrophen bewirken würde. Mit dieser Überzeugung verbindet sich ihre immer gleiche Gepflogenheit, jene zu diffamieren, die sie zu versklaven suchen. Wäre es dem Volk erlaubt, sich eigene Meinungen zu bilden, so wählte es, wie man unterstellt, mit Sicherheit die verderblichsten und gefährlichsten. Völlig unfähig, eigenständig zu denken oder zu handeln, würde es gewiss – ausgenommen, die Furcht vor Priestern und der Aristokratie würde es im Zaume halten – zum willfährigen Instrument in den Händen aufrührerischer Demagogen, die es dazu nutzten, die gesamte bestehende Macht zu untergraben und alles in wildeste Anarchie und Unordnung zu stürzen. Diese Sprache ist, nebenbei gesagt, eine gute Illustration der Unparteilichkeit des Gesetzes gegen Verleumdung: Beschränkt es doch die Verbreitung auch der unvorteilhaften Wahrheiten über die Aristokratie, während es die Verbreitung aller Art unvorteilhafter Lüge über das Volk mit voller Nachsicht betrachtet, vielfach aber auch ermutigend begleitet. Das Komplott, das sie für ihre Zwecke benötigen, wäre somit vollständig. Will man einen Hund schlagen, so wird man einen Stock schnell finden. Auf diese Weise verfahren sie mit dem Volk. Ob es nun darum geht, das Volk mittels eines stehenden Heeres zu nötigen oder mittels eines Verleumdungsgesetzes mundtot zu machen, das Motiv ist in jedem Fall reinste Güte: den harmlosen, nämlich aristokratischen Teil der Menschheit vor den gefräßigen Rachen jener Wölfe und Tiger zu schützen – dem Volk. Eine solche Sprache legt es darauf an, Menschen mittels Furcht, nicht aber durch Vernunft zu bewegen. Andernfalls würde eine kurze Überlegung zeigen, dass die These von der Unfähigkeit der Menschen, würde man sie zugestehen, nichts besagt, oder zumindest nichts für diesen Beweiszweck. Selbst wenn Menschen der Verstandeskraft in solchem Maß ermangelten, dass sie zwischen Wahrheit und Irrtum überhaupt nicht zu

126

D  A  B

unterscheiden wüssten, wäre die Schlussfolgerung praktisch dieselbe. Denn es gibt nur die Alternative, sie ihre eigenen Überzeugungen bilden zu lassen, oder die Meinungsbildung denen zu überantworten, die daran interessiert sind, sie zu täuschen. Ein unwissender Mensch hätte, selbst wenn er rein willkürlich entschiede, zumindest die Chance, zuweilen richtig zu entscheiden. Wer jedoch jede Überzeugung übernimmt, die ihm die Herrschenden diktieren, wird immer dann falsch liegen, wenn sie daran interessiert sind – und das heißt hinsichtlich der bedeutsamsten Themen. Eine andere Frage, die denen nicht gefällt, welche die Unwissenheit der Menschen zum Vorwand ihrer Versklavung nehmen, wäre: Warum sind sie unwissend? Denn für diese Frage gibt es nur eine Antwort: Wenn sie unwissend sind, dann genau aus dem Grunde, dass ihnen das Diskutieren, welches allein die Unwissenheit aufzuheben in der Lage ist, vorenthalten wird. Obwohl ihre Herren es vorteilhaft finden mögen, ihre Unwissenheit als unheilbar zu betrachten, nehmen wir uns die Freiheit, gegen diese Schlussfolgerung Bedenken zu erheben, bis das geeignete Heilmittel erprobt worden ist. Dieses Heilmittel ist Bildung; dessen wirksamstes Werkzeug wiederum ist Diskussion. Der Diskussion liegt somit notwendig die Tendenz inne, ihren eigenen Übeln abzuhelfen. Hinsichtlich der Übel jedoch, die der unzulässigen Verehrung der Autorität entspringen, gibt es eine solche Heilung nicht. Je länger die Krankheit ohne den heilenden Einfluss der Diskussion anhält, desto hartnäckiger wird sie. Was ist aber mit der Behauptung selbst, mit deren Hilfe so viele Schreckensgespenster heraufbeschworen worden sind – der Unfähigkeit des Volkes nämlich, richtige Überzeugungen zu bilden –; welche Beweismittel gibt es für sie? Etwa die Geschichte? Nein, denn die Geschichte zeigt, dass die Menschen in dem Maße sittlich, verständig und zufrieden sind, in dem es ihnen erlaubt wird, eigene Meinungen zu bilden. Hingegen hat sich das Volk gerade in jenen Ländern, in denen man alles unternommen hat, um Diskussionen zu unterbinden, dann als höchst unverständig und bösartig erwiesen, wenn es erst einmal aus seiner gewöhnlichen Apathie geweckt worden ist. Kein Volk, das sich je einer freien Presse erfreuen konnte, hätte sich Auswüchsen wie jenen der französischen Revolution schuldig machen können. Welcher Trick hat es Regierungen dann ermöglicht, den vagen Verdacht einer von Diskussionen ausgehenden Gefahr unter dem ungebildeten Teil der Menschheit weithin zu verbreiten? Indem sie sich des universellen Gesetzes der Menschennatur bedienten, wonach Menschen sich vor dem fürchten, was sie nicht verstehen, und jene sich durchweg am meisten fürchten, die am wenigsten zur Vorausschau in der Lage sind. Die Übel, die sie erleiden, haben ihnen die Gewohnheit erträglich gemacht. Dem Wandel aber, dessen Folgen sie nicht absehen können, begegnen sie mir Schrecken und Abscheu. Obwohl die Geschichte nicht erweist, das Diskussionen Unheil erzeugen, sondern das Gegenteil, so bezeugt sie doch in mannigfaltiger Weise, dass Diskussionen Wandel bewirken – allerdings in keinem guten, wohl aber in jedem schlechten Ding: schlechten Gesetzen, einer schlechten Rechtspflege, einer schlechten Regierung. Dass sie zu solcherart Wandel führen, ist der wirkliche Grund, weshalb nach ihnen verlangt wird, aber auch jener, warum kurzsichtige Personen vor ihnen zurückschrecken. Auch besteht keine Schwierigkeit, den Verstand eines jeden zu überzeugen, der dem Gegenstand seine ruhige und sachliche Aufmerksamkeit widmet. Die wirkliche Schwierigkeit besteht darin, Ängste zu stillen. Man kann kein Vertrauen in jemanden setzen, dessen Befürchtungen uns immer fehl am Platz zu sein scheinen. Nichts ist mehr zu

D G  V   F  P ()

127

fürchten als die Gewohnheit, immer dann etwas zu fürchten, wenn etwas zum Wohle der Menschheit vorgeschlagen wird. Der Mann, der das Unheil immer von den vielen für die vielen, niemals aber von den wenigen befürchtet, scheint uns ein Gegenstand einer sehr verständlichen Befürchtung zu sein. Das Unwissen der Menschen ist ein bloßer Vorwand für eine grundlegende Verhaltensweise, der man auch ohne einen solchen Vorwand folgen würde. Das zeigt die geringe Beachtung, die ihm die Herrschenden in ihrem eigenen praktischen Tun schenken. Der angemessene Umgang mit unwissenden Personen ist es, so sagen sie ungelogen, sie vor Täuschung zu schützen. Da nun die Herrschenden nicht wagen, öffentlich Unfehlbarkeit für sich zu beanspruchen, können sie nicht leugnen, dass Täuschung auf beiden Seiten vorliegen kann: auf der des Lobes wie der des Tadels. Dem Lob der Herrscher und der Institutionen wird jedoch breitester Spielraum eingeräumt, allein die Kritik wird eingeschränkt. Einem jeden steht es frei, die Regierung und ihre Amtsträger besser darzustellen als sie es sind; dem Ausmaß sind hier keine Grenzen gesetzt. Wehe aber dem, der sich, mit welchem Wahrheitsgehalt auch immer, beide zu beschuldigen erdreistet! Sieht das so aus, als glaube man, die Menschen seien unwissend? Nein, man scheint zu befürchten, sie seien zu hellsichtig. Nun scheint es nicht besonders stimmig zu sein, wenn jene, deren Argumentation sich vollständig auf die Unfähigkeit der Menschen zur Urteilsbildung stützt, dieser Unfähigkeit dadurch abzuhelfen vorschlagen, ihnen nichts als ex parte-Darlegungen zu präsentieren. Beseitigt man die Unfähigkeit zur Urteilsbildung, indem man nur einer Seite Gehör verschafft? Wird Unwissenheit abgeholfen, indem man mit ihr so verfährt, dass selbst größtmögliche Weisheit kaum der Irreführung entginge? Es wäre zum Lachen, wenn es nicht Empörung hervorriefe, dass die Unwissenheit der Menschen den Vorwand dafür bildet, ihnen die Mittel der Urteilsbildung zu verweigern, während sie exakt ihrer Unwissenheit wegen dieser Mittel aufs Nötigste bedürften. In anderen Ländern wird behauptet, die Leute hätten öffentliche Angelegenheiten nicht zu beurteilen. Ihnen Beweismittel vorzuenthalten ist deshalb jedenfalls stimmig. In diesem Land jedoch ist die Urteilsbildung der Menschen eine anerkannte Forderung; dennoch wird behauptet, sie sollten nur eine Seite hören! Als Rückhalt dieser grässlichen Absurdität dient, in Ergänzung der großartigen Annahme von der Unfähigkeit der Menschen, eine weitere Petitio principii: Man nimmt an, dass die Menschen ihre Herrscher hassen und stark dazu neigen, zu deren Ungunsten zu urteilen – sowohl was diese selbst als deren Taten betrifft. Diese Annahme ist gänzlich abwegig. Es gibt im Gegenteil keine Tatsache, auf die bezogen das Zeugnis der Erfahrung beständiger wäre als die einer starken Veranlagung der Menschen, von ihren Herrschern und deren Institutionen besser zu denken als diese es verdienen. Die Liebe zur Bequemlichkeit, vielleicht das stärkste Prinzip der menschlichen Natur und bei der Mehrzahl der Menschen unvergleichlich stärker ausgeprägt als die Hoffnung auf irgendeinen entfernten und zufälligen Vorteil, drängt die Menschen beständig dazu, Neuerungen zu meiden und sich mit den Dingen, wie sie sind, zufriedenzugeben.8 Mit welchem Erfolg sie dies tun, kann jeder selbst in Erfahrung bringen. Wer hat nicht 8

Anmerkung der Herausgeber: Die abschließende Wendung des Satzes, die von den philosophischen Radikalen oft ironisierend verwendet wurde, entstammt vermutlich dem Titel von William

128

D  A  B

hundert Fälle beobachtet, in denen Übel ohne Not ertragen wurden, in der Hoffnung auf ein Gutes, das dann leichtfertig preisgegen wurde, was das Übel dann verschlimmerte? Ist dann die Annahme nicht widersprüchlich, dass bezogen auf öffentliche Angelegenheiten der Fall dem entgegengesetzt sein sollte? Auch ist die Liebe zur Bequemlichkeit nicht das einzige, beständig dazu dienende Prinzip, die Urteile der Menschen zugunsten ihrer Herrscher zu entstellen. Derjenige muss die Menschheit mit dem Vorsatz, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, betrachten, der die übermäßige Ehrfurcht der Armen für Titel, Rang und Besitz nicht zu sehen vermag, die der eingelebten Neigung der Menschen entspringt, jene Vorteile zu überschätzen, über die sie nicht verfügen und welche von Adam Smith zu den ergiebigsten Quellen falscher Moralurteile gezählt worden ist, die namhaft gemacht werden können.9 Da sich diese beiden Prinzipien ganz auf der einen Seite befinden und ihnen nichts als die Vernunft gegenübersteht, muss das Wissen unter den Menschen weit fortgeschritten sein, ehe sie lernen, Herrscher allein dann zu ehren, wenn diese geehrt zu werden verdienen. Dementsprechend legt die gesamte Geschichte Zeugnis von der Beständigkeit ab, mit der schlimmsten Regierungen in fast allen Ländern der Erde erlaubt wurde, sich zu behaupten. Aber die Verfechter von Restriktionen kann man gefahrlos auffordern, ein Beispiel aus der Geschichte dafür zu nennen, dass ein Volk sich gegen eine gute Regierung erhoben und diese gestützt hat. Die Verehrung, die das Volk seinen Herrschern entgegenbringt, ist von solcher Stärke und Beständigkeit, dass sie bisher nur durch die gnadenloseste Unterdrückung ausgemerzt werden konnte. Welche Charakterisierung wäre somit zu harsch für das Verhalten jener, die verhinderten, dass diese Ansichten, gleich allen anderen verderblichen Ansichten, mit dem Fortschritt der Zivilisation verschwinden; die jenen Meinungen und Argumenten kein Gehör schenkten, die dazu neigen, der übertriebenen Verehrung eines jeden, ob guten oder schlechten Herrschers entgegenzuwirken, demgegenüber aber jenen Ansichten Raum ließen, die dazu tendieren, diese blinde Verehrung einschließlich all der aus ihr folgenden Leiden zu verewigen? Obwohl unsere Ansichten zum Thema der Diskussionsfreiheit in religiösen Fragen bereits ausführlich dargelegt worden sind, werden wir aus einer Abhandlung zitieren, auf die wir schon Bezug genommen haben. Damit soll nur gezeigt werden, dass die gleichen Argumente, die von uns bereits in direkterem Bezug auf die Politik vorgebracht worden sind, auch für die Religion gelten. „In verschiedenen ihrer Gestaltungen gründet Religion in den meisten Ländern als Institution auf dem Staat. Sollte die Pressefreiheit in Bezug auf diese so ungebunden sein, wie sie es, wie wir gesehen haben, in Bezug auf alle anderen staatlichen Institutionen sein sollte? Wenn jemand behauptet, sie sollte es nicht sein, so ist es an ihm zu zeigen, wieso die Prinzipien, welche auf andere Institutionen anwendbar sind, in diesem Fall ihrer Anwendung versagen.

9

Godwins Things As They Are; or, The Adventures of Caleb Williams, 3 Bde., London 1794. Anmerkung des Übersetzers: deutsch: Caleb Williams oder Die Dinge, wie sie sind, Leipzig 1962. Anmerkung der Herausgeber: Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments (1759), 6. Aufl., 2 Bde., London, Edinburgh 1790, Bd. 1, S. 146, Teil 1, Sektion III, Kap. iii. Der Passus, auf den hier Bezug genommen wird, erschien zuerst in dieser Auflage.

D G  V   F  P ()

129

Es ist, wie wir zeigen konnten, bezogen auf alle übrigen Institutionen für die Menschen gefährlich, anderen außer ihnen zu erlauben, die Meinungen zu bilden, die sie hegen sollen. Nichts ist so gewiss wie die Tatsache, dass es für sie gefährlich wäre, anderen außer ihnen in Fragen der Religion diese Erlaubnis zu erteilen. Sollten sie sich der Macht begeben, ihre religiösen Überzeugungen selbst zu wählen, so würden sie sich jeder Macht begeben. Hinlänglich ist bekannt, mit welcher Leichtigkeit all das in Fragen religiöser Überzeugung überführbar ist, wovon die grenzenlose Macht der Herrscher und die größtmögliche Erniedrigung des Volkes abhängen. Die Doktrin vom blinden Gehorsam und der Widerstandslosigkeit war eine religiöse Doktrin. Wer einen beliebigen Mann oder eine beliebige Gruppe von Männern darüber befinden lässt, was als religiöse Überzeugung gelten soll und was nicht, macht diese Männer umgehend zu Despoten. Dies ist so offensichtlich, dass es weder eine Erläuterung noch ein Beweis verlangt. Hätten aber die Menschen auch in diesem Falle ihre Meinungen selbst zu bilden, müsste auch der Diskussion die Freiheit gegeben werden. Die gleichen Behauptungen, die sich hinsichtlich anderer Institutionen als wahr erwiesen haben, sind auch auf diese Institution bezogen wahr. Keine Überzeugung sollte gegenüber einer anderen das Nachsehen haben, es sei denn vermöge der Beibringung von Gründen der gegenteiligen Überzeugung.“10 Der Gedankengang, der auf die darin bestehende Gefährlichkeit Bezug nimmt, Regierungen zu erlauben, ihren Untertanen die Religion vorzuschreiben, ist, so zwingend er auch sein mag, nur einer von vielen, die dafür sprechen, Menschen ihrem eigenen Verstand folgen zu lassen – in religiösen wie in allen anderen Fragen. In jenen Zeiten, in denen die geringste Meinungsverschiedenheit hinsichtlich eines solchen Gegenstandes als völlig hinreichend dafür galt, die unglückliche Minderheit auf den Scheiterhaufen zu bringen, war es nicht verwunderlich, dass auch der Unglaube als Verbrechen betrachtet wurde. Jetzt jedoch, da kein Mann der Kirche so wenig daran denkt, einen Kalvinisten zu verfolgen, oder ein Kalvinist die Absicht hat, einen Mann der Kirche zu verfolgen, wie es uns in den Sinn kommt, einen Mann zu strafen, weil er zufälligerweise größer oder kleiner ist, als wir es sind, ist es wirklich befremdlich, dass jemand der Tatsache gegenüber blind sein sollte, dass dieselben Gründe, derentwegen er zum Freund der Toleranz in anderen Fällen wird, ihn auch dazu verpflichten, den Unglauben zu tolerieren. Nachdem wir die Frage der Bekundung von Meinungen geklärt haben, bleibt zu überlegen, ob es Fälle gibt, in denen hinreichende Gründe dafür sprechen, die Feststellung von Tatsachen einzuschränken. Eingestandenermaßen sind Tatsachen und Meinungen nicht völlig gleiche Fälle. Falsche Meinungen müssen der wahren Meinungen wegen toleriert werden. Denn es ist unmöglich, irgendeine Grenze zu ziehen, die wahre von 10

Anmerkung von Mill: Artikel „Liberty of the Press“, gegen Ende der Ausführungen [Anmerkung der Herausgeber: Essays, S. 34].

130

D  A  B

falschen Meinungen scheiden könnte. Einen entsprechenden Grund dafür, die Veröffentlichung falscher Tatsachenbehauptungen zu dulden, gibt es nicht. Die Wahrheit oder Falschheit einer behaupteten Tatsache ist keine Frage der Meinung sondern der Beweislast und kann gefahrlos denen überantwortet werden, welchen das Geschäft der Entscheidung per Beweisführung in anderen Fällen obliegt. Jedoch wird von Rechtsanwälten geltend gemacht, dass die Feststellung von Tatsachen auch jenseits der Ahndung falscher Tatsachenbehauptungen Einschränkungen unterworfen werden sollte. Es gebe, so behaupten sie, einige Tatsachenbehauptungen, die nicht öffentlich gemacht werden dürften, selbst wenn sie zuträfen. Hierbei ist zu beachten, dass der gleiche Gedankengang, welcher die Forderung nach völliger Freiheit der Meinungsäußerung erweist, auch besagt, dass wirkliche Sachverhalte völlig frei geäußert werden sollten. Es ist offensichtlich, dass wahre Überzeugungen auf Tatsachen beruhen müssen. Sollten also Herrscher die Macht besitzen, hinsichtlich irgendeiner Angelegenheit, z. B. ihres eigenen Verhaltens, den Menschen all die Tatsachen vorzuenthalten, an deren Enthüllung ihnen nicht gelegen ist, dann verordnen sie ihnen in der Tat Meinungen über diese Angelegenheit, und zwar ganz so, als ob sie die Macht darüber per ausdrücklicher Verfügung ergreifen würden. Es gibt allerdings einen einzigen Fall, auf den bezogen man bezweifeln könnte, ob die Erlaubnis, die Wahrheit vorbehaltlos zu verkünden, angemessen ist. Der Fall tritt ein, wenn die Wahrheit, ohne der Öffentlichkeit irgendwie von Nutzen zu sein, darauf zielt, Privatpersonen Ärger zu bereiten. Zugestandenermaßen gibt es solche Fälle, auch ist zu konzedieren, dass es wünschenswert wäre, die Wahrheit in diesen Fällen zu unterdrücken – falls dies anders als durch gesetzliche Verordnung oder Tyrannei erreicht werden könnte. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass es neben den Fällen, in denen eine für Einzelne unerfreuliche Wahrheit der Öffentlichkeit von keinerlei Nutzen ist, auch solche gibt, in denen die Öffentlichkeit den größten Nutzen aus ihr zieht. Ferner ist zu beachten, dass es sich bei den Wahrheiten, deren Kenntnis der Öffentlichkeit von größter Wichtigkeit ist, genau um jene handelt, die Einzelnen den größten Ärger bereiten – deren Laster und Torheiten sie nämlich enthüllen. Allerdings haben Rechtsanwälte der Tories, denen keine Doktrin zu extravagant ist, so sie nur ihre Macht oder die ihrer Dienstherren zu stützen bezweckt, die Behauptung aufgestellt, dass kein Mann irgendein Recht habe, einen anderen zu tadeln. Denn dies sei ein Rechtsakt, den kein Individuum legitimiert sei zu vollziehen. Die Enthüllung von Lastern und Torheiten sei keinesfalls einer der bedeutendsten Dienste für die Menschheit, sondern bedeute eine schwerwiegende und unverantwortliche Anmaßung eines Vorrechts.11 Wir hoffen, dass niemand anderes als die Rechtsanwälte der Tories so tollkühn ist, die Zustimmung zu Doktrinen wie diesen zu erklären. Dann wäre nämlich keinem mehr die Entscheidung zuzutrauen, welche Wahrheiten nützlich und welche ohne Bedeutung sind. Unterdrückte man beide, würden die Folgen von beispiellos schlimmerem Übel sein, als sie es wären, wenn man erlaubte, 11

Anmerkung von Mill: Siehe Holt über das Gesetz gegen Verleumdung, passim. [Anmerkung der Herausgeber: Francis Ludlow Holt, The Law of Libel, In Which Is Contained, a General History of This Law in the Ancient Codes, and of Its Introduction, and Successive Alterations, in the Law of England Comprehending a Digest of All the Leading Cases upon Libels, from the Earliest to the Present Time. London: Reed, Dublin: Phelan, 1812.

D G  V   F  P ()

131

dass beide sich Gehör verschaffen. Die praktischen Schlussfolgerungen dessen brauchen nicht genannt zu werden. Wir haben noch eine Ausflucht zu bemerken, auf die man häufig zurückgreift, seit die Verbreitung liberaler Auffassungen es gefährlich werden ließ, der Diskussion mit dem gleichen Maß an Feindschaft zu begegnen, zu dem man sich ehemals bekannt hatte. Wir meinen die Auffassung, dass eine besonnene und faire Diskussion erlaubt, eine verspottende und verschmähende aber zu tadeln sei. Diese Doktrin ist seit kurzem derart in Mode, dass der Großteil unserer Leser vermutlich glaubt, sie sei Gesetz. Es gibt richterliche Dicta, denen zufolge das zutrifft. Anderen Dicta derselben Richter folgend gilt jedoch auch als Gesetz, dass jede Diskussion – selbst die bloße Behauptung bekannter Tatsachen – als Rufschädigung betrachtet werde müsse, es sei denn, die Diskussion beleuchtet nur eine Seite. Zu dieser Doktrin, welche wie gerade gesagt in Mode gekommen ist, muss eine Bemerkung gemacht werden. Zunächst lässt sich anmerken, dass Spott und Schmähung ohne großes Risiko toleriert werden können, wenn man das Argumentieren gefahrlos erlauben kann. Denn bei allen bedeutsamen Fragen bestimmt letztlich, in der Bilanz, immer das bessere Argument die Entscheidung der Mehrheit. Erstens gilt, schon von der Natur der Waffen her, dass Schmähung und Spott in der Hauptsache in Bezug auf jene eingesetzt werden, die ihren Entschluss bereits gefasst haben. Sie mögen Parteigänger animieren, sind aber nicht dazu geeignet, Konvertiten zu erzeugen. Wenn ein Mann seiner Meinung nicht aus Überzeugung abschwört, so wird er kaum dazu gebracht werden, wenn er merkt, dass man ihn deshalb verhöhnt oder verunglimpft, weil er sie hegt. Solche Maßnahmen bewirken für gewöhnlich nur, dass er mit noch größerer Beharrlichkeit zu seiner Meinung steht als bisher. Zweitens aber lassen sich Spott und Schmähung, wenn sie von der einen Seite verwendet werden, auch von der anderen nutzen – und gegen die Unwahrheit gewendet aus offensichtlichen Gründen wirksamer als gegen die Wahrheit. Nächstens kann man fragen, warum der Ausschluss, dem Spott und Schmähung unterliegen sollen, nicht unparteiisch erfolgt. Wenn sich aus der Verwendung dieser Waffen ein Nutzen ziehen lässt, warum ist dieser hinsichtlich einer Gruppe von Meinungen erlaubt, einer anderen jedoch vorenthalten? Oder ist es so, dass Spott und Schmähung nur dann in die Irre führen, wenn sie auf Seiten der Gegner der Herrschenden Verwendung finden? Wird einer Kritik abgesprochen, von Nutzen zu sein, der Lobpreisung dies aber zugesprochen, so gleicht das einem Totalverbot der Kritik, obwohl es weniger schwerwiegend wäre. Sollte damit überhaupt etwas bewirkt werden, dann dies: Es verschafft der Lobpreisung ein unzulässiges Übergewicht. Es bewirkt, dass Menschen besser über ihre Herrscher denken, als diese es verdienen, und befähigt letztere in diesem Maße zu strafloser Tyrannei. Als Beispiel nehme man an, einem Autor sei es erlaubt, in beliebig vielen Worten mitzuteilen, dass Minister oder das Parlament in falscher Weise gehandelt haben, etwa durch Beteiligung an einem ungerechten Krieg. Falls der Autor dies aber nicht nur mitteilt, sondern auch seiner Empörung darüber Ausdruck verleiht, sei er zu bestrafen. Indem er seine Empörung ausdrückt, gibt er zu verstehen, dass dieses Handeln seiner Meinung nach von großem Übel ist und dessen Akteure Strafe verdienen. Nimmt er davon Abstand, seiner Empörung Ausdruck zu verleihen, sagt er gewissermaßen, das

132

D  A  B

Handeln sei nicht von großem Übel und die Handelnden verdienten keine Strafe. Ist es also nicht von erheblicher Bedeutung, dass die Öffentlichkeit in Kenntnis gesetzt werden soll, ob dieses Handeln von großem Übel ist oder nicht? Ob die Akteure Verbrecher sind oder das Gegenteil von Verbrechern? Wir stehen ganz hinter den mannhaften und liberalen Gesinnungen, die Mr. Mence in dieser Frage hegt: „Es ist nicht nur kein Verbrechen sondern eine unbedingte Pflicht, Verbrechen niemals regungslos, kalt und ohne die Stimme gerechter und ehrlicher Empörung zu konstatieren. Indem es die Ausübung dieser Pflicht unterdrückt, befördert und bestärkt jedoch unser Gesetz oder angebliches Gesetz gegen Verleumdungen jede Art Laster. Es zerstört und untergräbt Anstand und Sitte des Volkes.“ (Bd. 1, S. 162)12 Diese Übel, so gravierend sie sein mögen, sind nicht die größten, welche mit dem Verbot von Spott und Schmähung einhergehen. Auch klammern sich die Herrschenden nicht nur deshalb so fest an das Vorrecht, diese Waffen verbieten zu können, weil sie jeglichen Nutzen, welchen diese erbringen, ausschließlich für sich sicherstellen wollen. Sie tun dies wesentlich deshalb, weil sie ganz genau wissen, dass es in ihrer Macht steht, jede unvorteilhafte Darstellung zu unterdrücken, wenn ihnen die Unterdrückung von Spott und Schmähung erlaubt ist. Wer sollte darüber befinden, was eine Schmähung ist und was eine faire und maßvolle Diskussion? Niemand anderes als die Herrschenden selbst, denn das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Jede Kritik ist eine Schmähung. Wer kritisiert, schreibt ein Fehlverhalten zu. Selbst einem Irrtum zu erliegen, ist im Falle jener ein Fehlverhalten, denen die Verwaltung der grundlegenden Angelegenheiten einer Gemeinschaft anvertraut ist. Wenn zu irren bedeutet, das Wohl einer Nation zu gefährden, ist es ein Verbrechen im Falle jener, die dem Irrtum nicht entgehen können, wenn sie am Ruder bleiben wollen. So ist selbst die Zuschreibung von Irrtum gleichbedeutend mit Schmähung und ließe sich so verstehen, dass sie sich letzterer bedient. Schon die bloße Behauptung eines kapitalen Verbrechens ist eine Schmähung. Sie verweist auf eine moralische Schuld und soll darauf verweisen. Sollte die Behauptung dies nicht leisten, ist sie damit mangelhaft. Deshalb ist es unmöglich, Schmähungen zu verbieten, ohne zugleich jede Diskussion zu verbieten oder den Herrschenden die Entscheidung zu überlassen, welche Art Diskussion strafbar und welche frei sein sollte. „Die Frage ist, ob eine sittenwidrige [indecent] Diskussion verboten werden sollte. Um sie zu beantworten, müssen wir natürlich nachfragen, was mit sittenwidrig gemeint ist. Ist der Terminus im englischen Gesetz über Verleumdung, in welchem ihm ein so herausgehobener Platz zukommt, nicht definiert? Bislang ist das Definieren von Begriffen nicht die Stärke der englischen Legislative und englische Anwälte haben Sittenwidrigkeit immer heftig verurteilt und das entsprechende Wort in grober Weise missbraucht. Somit ist ‚sittenwidrig‘ immer ein Terminus gewesen, unter den ein Richter bei jedem gegebenen

12

Anmerkung der Herausgeber: Richard Mence. The Law of Libel. 2 Bde, in 1. London: Pople, 1824.

D G  V   F  P ()

133

Anlass all das, was ihm nicht genehm war, problemlos rubrizieren konnte. ‚Gesittet‘ [decent] und ‚was dem Richter gefällt‘ sind nahezu synonym.“13 Und solange sittenwidrige Diskussionen per Gesetz verboten sind, werden sie synonym bleiben. Die von uns hier entlarvte Lehrmeinung ist nur eine der Ausflüchte, auf welche englische Herrscher, aus ihrer merkwürdigen Situation heraus, zurückzugreifen genötigt sind. In anderen Ländern, in denen es darum geht, ein System des unverhüllten Despotismus aufrechtzuerhalten, ist es die erklärte Lehrmeinung der Machthaber, das Volk sei zum rechten Urteil völlig unfähig und dessen Anmaßung, Urteilen zu wollen, eine entsetzliche Sünde. Das Volk habe kein Recht, so wird hier behauptet, sich über die Handlungen der Regierung irgendeine Meinung zu bilden. Mit ihren Herrschern hätten sie nichts weiter zu tun. Sie sollten ihnen nur gehorchen.14 Die Richter, welche die absolute Kontrolle über die Handlungen aller haben sollten, die sich unter ihrer Herrschaft befinden, sollten ebenso die gleichermaßen unbeschränkte Macht über deren Meinungen besitzen. Dieser Doktrin kommt, falls sie keine anderen Verdienste hat, zumindest die Empfehlung zu, schlüssig zu sein. Die Sprache der englischen Herrscher war bis zur englischen Revolution von 1688 genau die gleiche. In dieser Zeit wurde jedoch eine neue Regierungsform etabliert, zu welcher es aus dem populären Bestreben heraus kam, sich Königen zu widersetzen. Dabei konnte die Regierung das Zugeständnis nicht vermeiden, dem Volk das Urteil über Herrscher und Institutionen zu erlauben. Denn dies ihnen zu verweigern, hätte bedeutet, das Prinzip preiszugeben, auf welchem ihre eigene Herrschaft gründete. Gleichzeitig sann diese Regierung, welche dieselben Interessen wie jede andere Regierung hatte, darauf, jede Kritik an ihrem Vorgehen so weit als möglich zu unterdrücken. Demgemäß ist der Kurs, den sie seit dieser Zeit verfolgt, der eines fortwährenden Kompromisses. Sie hat in aller Ausführlichkeit und völlig zweifelsfrei eingeräumt, jede Diskussion über alle die Regierung und die Gesetzgebung betreffenden Dinge solle frei sein. Sie hat sogar behauptet, das Vorrecht der gründlichen Prüfung der Handlungen seiner Regierung sei das Geburtsrecht eines jeden Engländers – dass wir ihm alles verdanken, was uns am Herzen liegt, dass ohne dieses ein gutes Regieren nicht garantiert werden kann. Gleichzeitig behauptet sie – angesichts dieser umfassenden Gelübde –, die Kritik bestehender Regierungen solle nicht erlaubt sein, und hat das Vorrecht praktisch selbst in die Hände genommen, solche Kritik nach Belieben mit voller Härte des Gesetzes zu bestrafen. In diesem Hin und Her folgen die englischen Anwälte den englischen Herrschern. Wir werden unsere ersten Beispiele Mr. Holts gepriesener Abhandlung zum Gesetz über Verleumdung entnehmen. Es handelt sich hierbei um ein Werk, von dem der selige Lord Ellenborough, ehemals Vorsitzender Richter der King’s Bench gesagt hat, es bringe seine eigenen Ansichten getreu zum Ausdruck, und das nunmehr unter Anwälten generell als eines ihrer Standardwerke zählt. Ein solches Werk lässt sich als unanfechtbare Autorität 13

14

Anmerkung von Mill: Artikel „Liberty of the Press“, a.a.O. [Anmerkung der Herausgeber: Essays, S. 30], Anmerkung der Herausgeber: Vgl. Samuel Horsley, Rede vom 6. Nov., 1795, in: The Speeches in Parliament of Samuel Horsley, hg. v. H. Horsley, Dundee 1813, S. 167–168.

134

D  A  B

betrachten, sowohl hinsichtlich des Gesetzes selbst als auch der auf das Gesetz bezogenen Ansichten der Herrscher. Man beachte, was Mr. Holt über die unaussprechliche Bedeutung freier Diskussion mitteilt: „Unsere Verfassung in ihrer tatsächlich gegenwärtig existierenden Gestalt, in einer von den Fehlern des Aberglaubens geläuterten Kirche und in einem System der Freiheit, das gleichermaßen feudaler Anarchie wie monarchistischer Despotie fern steht, ist nahezu vollständig – unter dem Schutz der Vorsehung – der Ertrag einer freien Presse. Diese war es, welche den Geist der Menschen aus der Apathie wachrüttelte, in welcher die Unkenntnis ihrer Rechte und der Pflichten ihrer Herrscher sie verharren ließ. Durch sie wurde das Wissen um Moral und Religion, welche die Fundamente der Freiheit bilden, Lichtstrahlen gleich gebrochen, vervielfältigt und verbreitet. Statt in den Messen der Kirche zu existieren und vereinzelt da, wo Schulen und Universitäten sind, wurde sie zu der Atmosphäre, in der wir alle leben und die wir alle atmen. Der Presse verdankt sich das, was in der Tat hauptsächlich die moderne von der alten Welt unterscheidet: die öffentliche Meinung. Eine einzige Frage reicht hin, um die Bedeutung dieses Themas klar zu erkennen: Würde es dem gegenwärtigen Stande des Wissens und der Sittlichkeit gemäß einem Nero oder Tiberius erlaubt sein, hier zu leben oder zu herrschen?“ (1. Aufl., S. 39, 40)15 Wer würde es ausgehend von dieser Textstelle nicht für die Glaubenslehre englischer Anwälte halten, dass die Menschheit all das, was ihr am teuersten ist, der Kritik bestehender Institutionen verdankt – einer Kritik, dazu bestimmt, einen grundsätzlichen Wandel, sowohl den Staat als die Kirche betreffend, und selbst die Entthronung und Tötung eines schlechten Landesherrn zu bewirken? Man bemerke nun die Worte, die derselbe Autor nur einige Seiten weiter wählt: „In jeder Gesellschaft kann deshalb die Freiheit der Presse mit Recht innerhalb jener Grenzen beschränkt werden, die für die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung der Gesellschaft und ihrer Handlungsfähigkeit nötig sind.“ (S. 45f.)16 Die Rede von „jeder Gesellschaft“ lässt keine Ausnahmen zu. Sie beschließt in sich die schlimmste wie die beste Regierung. Mr. Holts Aussage in dieser Textstelle zufolge wären alle Regierungen aufrechtzuerhalten, so schlecht sie auch immer sind. Denn sie alle sind bestehende Ordnungen, und allein dies ist eine hinreichende Empfehlung. Es ist in der Tat die freie Presse, der wir eine „von den Fehlern des Aberglaubens geläuterte Kirche“ und ein „System der Freiheit“ verdanken, das „gleichermaßen feudaler Anarchie wie monarchistischer Despotie fern steht“. Da diese aber aus der Überwindung eines früher bestehenden Systems resultieren und die „Grenzen […], die für die Aufrechterhaltung der Einrichtung und ihrer Ausübung nötig sind“, keinesfalls überschritten werden dürfen, hätten die Schriften, die zur Revolution führten, unterdrückt werden müssen und dieses große Ereignis mit all seinen ruhmreichen Folgen hätte niemals stattfinden dürfen. Deshalb besteht der Unterschied zwischen der Lehrmeinung der Herrscher in England und jener der Herrscher andernorts nur dem Namen nach und bezeugt keinerlei Unter15 16

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Holt, The Law of Libel. Anmerkung der Herausgeber: Ebd.

D G  V   F  P ()

135

schied ihrer wirklichen Ansichten, sondern nur ihrer Macht, ihnen gefahrlos Ausdruck geben zu können. Sollte den Grundprinzipien der menschlichen Natur irgendein Wahrheitsgehalt zukommen oder dem Gedankengang, welcher der britischen Verfassung zugrundeliegt, irgendeine Wertigkeit, dann gibt es keinen Herrscher, der nicht, soweit er dies könnte, jede Kritik an ihm, den von ihm ergriffenen Maßnahmen oder Regelungen, die zu seiner Autorität beitragen, unterdrücken würde. Die britische Verfassung geht von der Annahme aus, dass Herrscher immer geneigt sind, ihre Macht zu missbrauchen, und gewiss auch jede Kontrolle zu beseitigen, die darauf zielt, ihren Machtmissbrauch zu verhindern. Die wirkliche Kontrolle des Missbrauchs aller Art besteht aber in einer freien Presse. Deshalb ist es von höchster Bedeutung zu bemerken, dass Herrscher das größtmögliche Interesse daran haben, die Pressefreiheit zu vernichten, dass sie absolut genötigt sind, letztere zu hassen, dass sie sich hartnäckig weigern, sie in auch nur unbedeutendster Weise zu erweitern – ohne immer einen feststehenden und richtiggehenden Plan zu ihrer Vernichtung an der Hand haben zu müssen –, und dass sie jede Gelegenheit willig ergreifen, sie so weit als praktisch möglich zu beschränken. Die Notwendigkeit, diese Einstellung durch sprachliche Tricks zu verschleiern, hat unsere Herrschenden gelehrt, eine Reihe von fintenreichen Phrasen zu ersinnen, durch die es ihnen gelingt, das Recht der Diskussionsfreiheit zu gewähren und im selben Atemzug zu entziehen. Zugleich dienen sie ihnen dazu, eine Petitio principii zugunsten ihrer Sache immer dann zu fabrizieren, wenn sie veranlasst sind, einen unausstehlichen Schriftsteller zu bestrafen. Ein solcher Trick, der ihnen viele gute Dienste erwiesen hat, ist die wohlbekannte Beteuerung, sie seien Freunde der Freiheit der Presse aber Feinde ihrer Zügellosigkeit. Untersuchen wir, was das bedeutet. Die Freiheit der Presse ist, so wird uns gesagt, eine gute Sache. Das heißt, die Diskussion habe, wenn nicht in allen so doch, wie wir annehmen, wenigstens in einigen Fällen, frei zu sein. Die Zügellosigkeit der Presse jedoch ist, so scheint es, von übel, was, wie wir annehmen müssen, bedeutet, es gebe bestimmte andere Fälle, in denen die Diskussion nicht frei sein solle. Aber um welche Fälle handelt es sich da? Wir erhalten darüber keine Auskunft. Denn statt die Unterscheidung kenntlich zu machen, ist das Wort „Zügellosigkeit“ nur ein vages Attribut der Schuldzuweisung. Unsere Herrschenden meinen damit notwendigerweise, sie hätten darüber zu befinden, was Freiheit der Presse ist und was Zügellosigkeit. Das aber heißt, über alle Macht zu verfügen, den Menschen die Meinungen zu verordnen. Man erlaube ihnen zu entscheiden, was Zügellosigkeit ist und was nicht, und jede Angelegenheit wird als Zügellosigkeit rubriziert werden, die eine Kritik an ihnen beinhaltet, jede Doktrin, die sich der unbeschränkten Erweiterung und Fortdauer ihrer Macht widersetzt. Damit ist in der Tat, in den Worten von Mr. Mence gesagt, „die Freiheit der Presse die Freiheit, schmeichelnd, kriecherisch, oberflächlich und langweilig zu schreiben, aber nicht die Freiheit, aufrichtig und der Sache verpflichtet oder so zu schreiben, dass damit Aufmerksamkeit oder Interesse für Menschen und Sitten oder Fragen der Politik, des Rechts, der Religion oder Moral erweckt werden kann.“ (Bd. 1, S. 206)17 17

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Mence, The Law of Libel.

136

D  A  B

Es bleibt nun noch darzustellen, in welchem tatsächlichen Zustand sich das Gesetz dieses Landes bezogen auf die Pressefreiheit befindet. Hierfür ist es zweckmäßig, den sehr sorgfältig durchdachten Versuch zu betrachten, den Mr. Mence unternommen hat, nämlich zu erweisen, dass das Gesetz für die Diskussionsfreiheit nicht so ungünstig ist, wie dies gemeinhin angenommen wird. Das Gesetz, auf dem der Straftatbestand der Verleumdung sich im Ganzen gründet, besteht nur in dem gemeinen oder ungeschriebenen Gesetz [common law], aus Präzedenzfällen und in Form des Gewohnheitsrechts. Dieser Umstand ist jedoch nicht charakteristisch für den Tatbestand der Verleumdung, vielmehr besteht mehr als die Hälfte des englischen Rechts in dieser Form. Mr. Mence behauptet, und versucht nachzuweisen, und hat möglicherweise wirklich (wir werden an dieser Stelle eine so unbedeutende Untersuchung nicht anstellen) nachgewiesen, dass die Präzedenzfälle, auf denen das Gesetz gegen Verleumdungen gründet, nicht älter sind als die Star Chamber ist (auch die Erfindung des Buchdrucks ist nicht älter). Mr. Mence schließt daraus, sie bildeten deshalb, um hier eine juristische Bezeichnung zu nutzen, kein good law. Deshalb gebe es kein Gesetz gegen Verleumdungen und deshalb seien die angeblichen Verleumdern auferlegten Strafen gesetzeswidrig.18 Mr. Mence ist indes nicht zur Gesetzesauslegung befugt. Allein Richter haben zu entscheiden, was Gesetz ist und was nicht. Es ist zutreffend, dass die Fälle der Unterlassung weit zahlreicher sind als die der Vollstreckung und aus dem Blickwinkel der Vernunft gesehen gleichermaßen als Präzedenzfälle zu gelten hätten. Es ist zutreffend, dass Richter nach Belieben eine Sache verhandeln oder sie zu verhandeln sich weigern und auf diese Weise mittels des Gesetzes – unter dem Vorwand seiner Anwendung – totiesquoties-Ablass betreiben. Allerdings kann nichts so entsetzlich sein, nichts mit allen Vorstellungen eines guten Gesetzes oder einer guten Rechtspflege derart in Widerspruch stehen wie dies. Das in Frage stehende Übel ist aber untrennbar mit dem System des Gewohnheitsrechts verbunden. Und wenn das Gesetz gegen Verleumdungen streng genommen kein gutes Gesetz ist [good law], so lässt sich schwerlich behaupten, dass wir überhaupt eine Rechtsprechung [any law] haben, weil sogar vom Parlament erlassene Rechtsvorschriften [statutes] zum Großteil auf dem Gewohnheitsrecht gründen, die Vergehen als gegeben annehmen und sich allein auf die Festlegung des Strafmaßes beschränken. An sich ist es wenig bedeutsam, was das Gesetz ist, wenn seine Anwendung schlecht ist. Höchst bedeutsam ist allerdings, die Öffentlichkeit nicht glauben zu machen, dass das Gesetz, wenn es vollstreckt wird, Sicherheit gewähre, wenn es in Wahrheit überhaupt keine Sicherheit gewährt. Weil Mr. Mence in dieser Frage eine, wie wir glauben, völlig abwegige Auffassung hat, halten wir es für notwendig, unsere Leser vor der Irreführung durch einen Autoren zu warnen, von dem sie ansonsten viele Kenntnisse erlangen können. Unsere eigene Auffassung über den Zustand des Gesetzes werden wir zum Teil dem Werk von Mr. Holt entnehmen, das eine Auswahl von Fällen enthält und, wie wir bereits

18

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Mence, The Law of Libel, Bd. 1, S. 287–386.

D G  V   F  P ()

137

hervorgehoben haben, von Lord Ellensboroughs ganzer Autorität19 getragen ist. Teilweise werden wir uns aber auch auf die Dicta der Richter selbst beziehen. Wenn es darum geht zu ermitteln, welche Bedeutung das englische Gesetz dem Terminus Verleumdung verleiht, ist es selbstverständlich, erst einmal danach zu fragen, welche Definition von Verleumdung es enthält. Unsere Antwort darauf ist: keine; nichts wurde jemals angeführt, was den Namen einer Definition verdient. Mr. Holt sagt: „Verleumdung [libel] ist eine in Druck oder Schrift, durch Zeichen, Bilder etc. geäußerte böswillige Diffamierung, die darauf zielt, entweder eine verstorbene Person in der Absicht zu verleumden, die ihr gedenkenden Lebenden zu provozieren, oder eine lebende zu dem Zweck, sie dem Hass, der Verachtung und dem Hohn der Öffentlichkeit auszusetzen.“ (S. 50)20 Was ist lächerlicher, als eine solche Definition – auch mit ihrer Zurschaustellung vermeintlicher Exaktheit –, bewehrt durch Referenzen auf nicht weniger als sechs Rechtsautoritäten,21 vorzubringen, im unmittelbar folgenden Satz die einzelnen Arten von Verleumdung aufzuzählen und dabei von der Verleumdung der Religion, der Moral und der Verfassung zu sprechen.22 Mr. Holts – von wem auch immer ersonnene – Definition meinte offensichtlich nur private Rufschädigung und wird unverständlich, wenn man sie auf anderes anwendet. Sie setzt notwendigerweise eine verleumdete Person voraus. Religion, Moral etc. sind keine Personen, weder lebendige noch verstorbene, sondern abstrakte Begriffe. Schon als Definition privater Rufschädigung betrachtet, ist sie über die Maßen verderblich. Denn sie besagt, dass jener, welcher Übel bekanntmacht, welcher anders gesagt die einzige wirksame Garantie gegen deren weltweite Verbreitung ergreift, sich nach englischem Recht eines Verbrechens schuldig mache. Diese Doktrin hat Mr. Holt keine Bedenken, an anderer Stelle offen zu bekennen.23 Nun handelt es sich hierbei immerhin um einen Definitionsversuch. Suchen wir in anderen juristischen Werken nach einer Definition von Verleumdung, so finden wir nichts als Fiktionen. Verleumdung sei strafbar, weil sie, so wird uns da mitgeteilt, eine öffentliche Ruhestörung bewirken könne. Die in Verruf gebrachte Person mag aus ihrer Verstimmung heraus den Verleumder tätlich angreifen und sich so des Verbrechens der Körperverletzung schuldig machen. Deshalb sei es angemessen, dass das Gesetz seinen Rechtsschutz auch dem Verleumder angedeihen lässt und ihn vor der drohenden Gefahr eines eingeschlagenen Schädels schützt, indem es über ihn eine einjährige Haftstrafe verhängt. Jemanden an der Nase zu zwicken ist dieser Lesart zufolge krimineller als jede Rufschädigung, wird dies doch mit weit größerer Wahrscheinlichkeit zu jener Art Vergeltung führen, auf die hier angespielt wird. So armselig diese Fiktion auch ist, dient sie Anwälten dennoch dazu, eine exzellente Gesetzesmaxime – „je größer die Wahr19

20 21

22 23

Anmerkung der Herausgeber: Holts Werk ist Edward Law, Lord Ellenborough, gewidmet (S. iii– iv). Anmerkung der Herausgeber: Siehe Holt, The Law of Libel. Anmerkung der Herausgeber: William Blackstone, Edward Coke, William Hawkins, John Holt, Lloyd Kenyon und Thomas Wood. Anmerkung der Herausgeber: Siehe Holt, The Law of Libel, S. 51. Anmerkung der Herausgeber: Ebd., Kap. X, S. 160–220.

138

D  A  B

heit, desto größer die Verleumdung“ – aufzustellen. Ein schlechter Mensch sei, so wird unterstellt, einfacher zu provozieren als ein guter Mensch und eine wahre Anklage ist gewöhnlich verletzender als eine falsche. Das bringe den Ankläger in größere Gefahr, niedergeschlagen zu werden! „Man könnte mit nahezu gleichem Recht behaupten [sagt Mr. Mence], es sei verbrecherisch, im Sinne der strafrechtlichen Sanktion, dass eine Person Geld mit sich herumträgt – damit nicht ein Schurke dazu verleitet wird, ihren Geldbeutel zu stehlen oder ihr den Schädel einzuschlagen. Der gegenwärtigen Gesetzeslage folgend würde die Strafe in einem solchen Fall den Dieb statt den Versucher treffen. In Fällen vorgeblicher Verleumdung wäre dem öffentlichen Frieden zumindest im gleichen Maße und der Sache der Moral weit besser entsprochen, wenn nicht der Mann bestraft würde, der die Verderbtheit enthüllt und sie der verdienten Verachtung zuführt, sondern jener, dessen verderbtes Verhalten enthüllt ist und der zu seinen Verbrechen noch das weitere hinzufügt, der Schande zu trotzen und jener Person Gewalt anzutun, die ihn zurecht und verdienstvollerweise entlarvt hat.“ (Bd. 1, S. 136)24 Nun ist der Leser begierig zu erfahren, zu welchem Zweck diese alberne Fiktion erdacht wurde. Der Zweck bestand darin, eine Verleumdung statt zu einem nur zivilrechtlichen Tatbestand zu einem solchen des Strafrechts zu machen. Wäre sie als Verleumdung unter die Rubrik Verletzung des Zivilrechts gefallen, so hätte man erst einmal prüfen müssen, ob eine solche Verletzung überhaupt zugefügt wurde. Die Schadenssumme wäre über einen fairen Ausgleich für die tatsächliche und erwiesene Schädigung nicht hinausgegangen. Um die Verleumdung zu einer Störung der öffentlichen Ordnung zu machen, musste sie zu einer Art tatsächlicher öffentlicher Ruhestörung [breach of the peace] stilisiert werden, welche – vermöge einer weiteren, gleichermaßen niederträchtigen Fiktion – dann die Ruhe des Königs meint. Auf diese Weise wurde aus der Schädigung des Rufes eines Individuums eine Beleidigung des Königs. Engländer, die zu hören und zu glauben gewohnt sind, das Gesetz sei die Vollendung menschlicher Vernunft,25 werden verwundert zur Kenntnis nehmen, dass kaum eines seiner Prinzipien, einschließlich seiner triftigen, auf etwas gründet, das besser als die obengenannte Fiktion wäre. In fictione juris semper aequitas sagen die Anwälte. Sie würden diese Behauptung nicht vorzubringen wagen, sicherte die Apathie der Öffentlichkeit nicht hinreichend, dass sie fraglos geglaubt wird. Dennoch haben wir hier zumindest einen Fall (und jeder, der das Gesetz ohne den Vorsatz studiert hat, alles wie es sein sollte vorzufinden,26 kann noch viele andere aufzeigen), da solche Fiktionen für die verderblichsten aller Zwecke erdacht wurden. Diese formaljuristische Definition konnte nur solange zufriedenstellen, wie der Tatbestand der Verleumdung auf Individuen beschränkt war und alles Übrige als Ketzerei und 24 25

26

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Mence, The Law of Libel. Anmerkung der Herausgeber: Siehe Edward Coke, The First Parts of the Institutes of the Lawes of England, London 1628, S. 97 (Buch 2, Kap. VI, Sekt. 138). Anmerkung der Herausgeber: Siehe Jeremy Bentham, A Fragment on Government (1776), in: Works, hg. v. John Bowring, 11 Bde., Edinburgh, London, Dublin 1843, Bd. 1, S. 230.

D G  V   F  P ()

139

Hochverrat galt. Als sich jedoch die Zeiten änderten und man Menschen für Rufschädigung nicht mehr hängen, ausweiden und vierteilen konnte, war es an den Richtern, eine Definition zu finden, die ihnen, ohne den Anschein dessen zu erwecken, tatsächlich unbegrenzte Macht verschaffen sollte. Der selige Lord Ellenborough, der aufgrund der größeren Unverfrorenheit seines Charakters die verderbliche Doktrin weniger befangen und verblümt zu äußern pflegte, sagte einmal von der King’s Bench aus, Verleumdung sei all das, was irgendjemanden kränkt.27 Das räumte mehr ein, als unbedenklich sein konnte. Damit wurde für rechtsgültig anerkannt, dass es dem englischen Gesetz und dessen Anwendung durch englische Richter zufolge ein Verbrechen ist, öffentlichen Amtsträgern oder einzelnen Personen entweder Fehler oder Schuld zuzuschreiben. Denn wenn man jemandem auch nur Fehler zuschreibt, dann wird dies, obwohl es nicht in jedem Falle wirklich als Kränkung wirken mag, so doch immer tendenziell so wirken. Der Wortlaut einer Anklage wegen öffentlicher Rufschädigung, der mangels einer Definition, so ist anzunehmen, beabsichtigt, einige Hinweise zu Sinn und Bedeutung der Klage zu liefern, besagt, das Handeln des Angeklagten führe „dazu, unseren Herrn, den König, und seine Verwaltung“, oder „die Verfassung und Regierung des Königreiches“ oder „die beiden Häuser des Parlaments“ oder „die Rechtspflege und Schwurgerichtsverhandlungen“ etc. „in beträchtlichem Maße öffentlich zu verabscheuen und in Verruf zu bringen“.28 Lord Ellenboroughs Dictum ist nicht besser als dieses geeignet, den Richter bei der höchst verderblichen Machtausübung zu unterstützen. Es sei ein krimineller Akt, Herrscher „zu verabscheuen und in Verruf zu bringen“. Aber Abscheu ist die legitime Folge von Schuld und Verruf die legitime Folge von Torheit. Herrschenden Schuld oder Torheit, absichtliche oder unabsichtliche Fehler zuzuschreiben, ist deshalb laut englischem Gesetz ein Verbrechen. Die Definitionsversuche, so mangelhaft sie auch immer sein mögen, stellen nur Ausnahmen dar. Im Allgemeinen wird behauptet, Verleumdung könne oder solle, obwohl sie zu bestrafen sei, nicht definiert werden. Fürwahr haben die Verschwörer gute Gründe, den Tatbestand der Verleumdung unbestimmt zu lassen. Denn sie würden es nicht wagen, all das in eine Definition einzubeziehen, was erfordert wäre, um die Konspiration zu unterstützen. Sie würden es nicht wagen, vermöge eines speziellen Gesetzes die ganze Macht in ihre Annahmen einzubeziehen, der sie sich durch Usurpation zu erfreuen hoffen. Sollten sie eine Definition aufstellen, die alles enthielte, was sie sich wünschen, dann wäre das, was gemeinhin empfunden würde, Erschütterung. Weder sie noch andere Menschen könnten diese allgemeine Kenntnisnahme ertragen. Keine Ungereimtheit kann allerdings gröber sein als die, in welche sie dies bringen muss: Beharrlich behaupten sie, Verleumdung sei nicht definierbar, dennoch sagen sie, zwölf – unbelesene – Männer hät-

27

28

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Edward Law, Charge to the Jury in the Trial of William Cobbett, 1804, in: A Complete Collection of State Trials, hg. v. Thomas Bayly Howell, 34 Bde., London 1809–1828, Bd. XXIX, Sp. 49. Anmerkung der Herausgeber: Für eine ähnliche Formulierung siehe die Anklageschrift im „Trial of John Lambert and James Perry, for a Libel upon His Majesty George the Third.“, ebd., Bd. XXXI, Sp. 335–336, vgl. 60 George III und 1 George IV, c. 8 (1819).

140

D  A  B

ten darüber zu befinden, was Verleumdung ist und was nicht. Wie kann einer wissen, was eine allgemeine Regel unter sich befasst, wenn er nicht weiß, was die Regel ist? Zur Frage der Verleumdung der Verfassung findet sich die folgende Bemerkung von Mr. Holt: „Wenn das Gesetz das Subjekt in seinen Rechten schützt und jeden Eingriff in diese bestraft, so schützt es weit mehr das System, dem sich all diese Rechte verdanken und durch das allein es aufrechterhalten werden kann. Die Regierung und die Verfassung bilden ein gemeinsames Erbe; jeder Angriff auf diese, der ihre Beständigkeit und Sicherheit beeinträchtigt, stellt in gewissem Maße einen Angriff auf jeden Einzelnen im Staate dar und betrifft die Rechte aller. Sollte es das größte unseren Gesetzen bekannte Verbrechen sein, jene Verfassung und jenes Gemeinwesen gewaltsam zu unterminieren, welche vermöge der Weisheit und des Heldenmuts unserer Vorfahren errichtet und gefestigt wurden, dann stellt der Versuch, sie ihrer zuverlässigsten Unterstützung zu berauben – ihrer Verehrung, Hochachtung und Zuwendung durch das Volk –, sicherlich ein Verbrechen, zwar geringeren, aber immer noch enormen Ausmaßes dar. Daher gilt als Maxime des englischen Rechtssystems, die sich als natürliche Folge und einfache Ableitung aus dem großen Prinzip der Selbstverteidigung erschließt, als Verleumdung und Vergehen jede Art von Angriff in Wort und Schrift zu betrachten, deren Ziel darin besteht, die Organisation, Ordnung und Einrichtung all dessen mutwillig zu diffamieren und in ungehöriger Weise zu verleumden, was das allgemeine Rechts- und Regierungssystem des Landes ausmacht.“ (S. 74)29 Angesichts der Zurschaustellung logischer Stringenz, die Mr. Holts Buch auszeichnet, ist es durchaus bemerkenswert, ihn – und zwar an der bedeutsamsten Stelle überhaupt – bei Äußerungen zu ertappen, die aller bestimmten und exakten Bedeutung ermangeln. Diese Unklarheit kann nur ein Ziel haben: die absolute Macht zu verbergen, welche die von ihm genutzten Worte dem Richter übertragen sollen. Zunächst einmal beliebt es ihm, die Verfassung als eine Person vorzustellen. Er spricht von Diffamierung und Verleumdung der Verfassung, als ob ein abstrakter Terminus diffamiert oder verleumdet werden kann. Es geht aber auch um mutwillige Diffamierung und um ungehörige Verleumdung. Ob durch diese Attribute dem Sinn etwas hinzugefügt oder genommen wird, können wir, wie wir bekennen müssen, nicht begreifen. Was ist die Verfassung anderes als allein die Gesamtheit aller Sicherheiten für gutes Regieren, welche sich dem bestehenden Gesetz mehr oder weniger vollständig verdanken, worin diese Sicherheiten auch immer bestehen mögen?30 Wenn das Wort Verfassung eine Bedeutung haben sollte, dann diese. Wenn aber metaphorisch von der Verleumdung der Verfassung gesprochen wird, so kann damit nur gemeint sein, dass diese Sicherheiten als nicht hinreichend für die Verhinderung schlechten Regierens

29 30

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Holt, The Law of Libel. Anmerkung der Herausgeber: Vgl. James Mill, „Government“ (1820), in: Essays, S. 16–119; Jeremy Bentham, „Constitutional Code“, in: Works, Bd. IX, S. 9.

D G  V   F  P ()

141

dargestellt werden, dass die Verfassung als eine solche vorstellig wird, die ihr Ziel nicht erreicht. Überlegen wir, was es zu sagen bedeutet, die Sicherheiten für gutes Regieren, welche wir im Ganzen genommen Verfassung nennen, seien ihrem Ziel nicht angemessen. Es bedeutet, dass wir zumindest in bestimmtem Maße der Verfassung ermangeln oder überhaupt keine Verfassung haben und die Herrschenden über die Macht verfügen, uns ungestraft zu tyrannisieren. Wenn dies wahr ist, so wird dies nicht öffentlich behauptet werden, weil es bekanntzumachen nicht besonders löblich wäre. Deshalb muss angenommen werden, es sei nicht wahr. Ohne jenen zu erlauben, die dies verneinen, gehört zu werden, kann es nicht bewiesen werden. Es wird deshalb unbewiesenermaßen angenommen. Entsprechend dieser Doktrin ist es den Herrschenden in England unbenommen, unbewiesenermaßen anzunehmen, dass ihre eigene Form der Regierung die bestmögliche sei. Gleichermaßen unbenommen sollte es allen anderen Herrschern sein, gleiches zugunsten jeweils ihrer Regierung anzunehmen. Jedoch wird nicht behauptet werden können, dass alle Regierungsformen die besten seien. Deshalb lautet die Doktrin für das englische Gesetz, wie es uns Mr. Holt erklärt, jeder Herrscher in jedem Land dürfe zu Recht annehmen, dass die abscheulichste aller Regierungen die beste sei, und könne es ausgehend von dieser Annahme für völlig angemessen halten, Strafen beliebiger Höhe über jene zu verhängen, die sich anmaßen, ihre Exzellenz in Frage zu ziehen. Höhere Autoritäten als Mr. Holt haben die gleiche Doktrin vorgebracht. So sagt Lord Camden: „Alle Regierungen müssen sich Verleumdungen widersetzen. Wann immer Gerichte oder Geschworene mit ihnen befasst sind, werden sie sich ihnen widersetzen. Sollten Verleumdungen nicht durch Geschworene unterbunden werden, so kann sich das als verhängnisvoll für die Freiheit erweisen, die Regierung zerstören und zu Anarchie führen. Tyrannis aber ist besser als Anarchie und die schlimmste Regierung besser als keine.“31 Ziemlich deutlich wird hier zu verstehen gegeben, dass die schlimmste Regierung darin gerechtfertigt ist, all jene zu strafen, die sie mit der Abscheu betrachten, die sie verdient. Die Prämissen sind dabei genauso erbaulich wie die Schlussfolgerung: Wenn eine tyrannische Regierung gestürzt wird, so kann auf sie Anarchie folgen; Anarchie aber ist, der Auffassung von Lord Camden und Mr. Holt zufolge, von größerem Übel als die schlimmstmögliche Regierung. Ausgerechnet Adam Smith dachte da anders. Dieser große Philosoph und praktische Sachverständige der Menschennatur war davon überzeugt, dass Despotie „für Sicherheit und Muße zerstörerischer ist als selbst die Anarchie“.32 Seiner Lordschaft steht es jedoch, wie wir glauben, frei, jeden nur möglichen Gewinn aus dieser Annahme abzuleiten. Wir aber geben zu bedenken, dass auf die schlimmstmögliche Regierung, wenn ihr die Anarchie folgen kann, auch eine gute Re31

32

Anmerkung von Mill: Entick v. Carrington, 2 Wils. K. B. 275, bei Holt, S. 75–76 [Anmerkung der Herausgeber: 95 English Reports 818]. Anmerkung von Mill: Essay on the History of Astronomy, [Anmerkung der Herausgeber: in: Essays on Philosophical Subjects, hg. v. Joseph Black und James Hutton, London 1795], S. 27.

142

D  A  B

gierung folgen könnte. Wie aber muss es um den Geist einer Person bestellt sein, wenn sie, angesichts dieser Aussicht, vor wenigen Jahren der Anarchie Angst hätte, falls diese erforderlich wären! In dieser Untersuchung haben wir mit Bedacht die Annahme vermieden, die britische Verfassung sei wirklich nicht die bestmögliche. Es ist jedoch deutlich, wie sehr es die Überzeugungskraft des Arguments stärken würde, wenn sie es nicht wäre. Wären wir so entschieden davon überzeugt, dass die britische Verfassung die bestmögliche Regierung ist, wie wir davon überzeugt sind, dass sie es nicht ist, so sollten wir selbst eine solche Regierung einem beträchtlichem Risiko aussetzen, anstatt sie durch Mittel zu stützen, die für den Schutz der besten Regierung einsetzbar sind, aber gleichfalls dazu dienen können, all die schlimmsten Gräuel der schlechtesten zu verewigen. Wenn aber die Verfassung wirklich unvollkommen sein sollte – und wer könnte gegenteiliges behaupten, wenn jenen, die dies leugnen, der Widerspruch nicht gestattet wird –, wie sehr würde das die Gräuel verschlimmern; und was sollten wir in diesem Fall von jenen halten, die eine schlimme Sache durch Mittel zu befördern frevelhaft bestrebt sind, die auch die beste Regierung mit Schrecken zurückweisen sollte! In bestimmtem Maße scheint Mr. Holt zu merken, dass der verderbliche Zweck des Gesetzes selbst durch die vage und ausweichende Sprache hindurch scheint, in die er sie gehüllt hat. Nachdem er sagte, die Richter hätten die Macht, all das zu ahnden, was ihrem möglichen Urteil nach darauf zielt, die Verfassung „der zuverlässigsten Unterstützung zu berauben – ihrer Verehrung, Hochachtung und Zuwendung durch das Volk“, hält er es für angebracht, etwas in der Absicht zu sagen, es so aussehen zu lassen, als hätten sie diese Macht nicht. „Die Verfassung dieses Landes, die nichts als vollendete Vernunft ist, erkennt jedem Mann das Recht zu, ein allgemeines oder individuelles Ungemach darzulegen und auf Fehler selbst in den höchsten Kreisen der Richterschaft zu verweisen. In der Tat ist die Verfassung zu vernünftig, um nicht anzuerkennen, dass das vorzüglichste Interesse des Staates wie der menschlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit die Wahrheit ist. Deshalb hat sie ein offenes Ohr für wirkliche und nutzbringende Wahrheit aller Art. Weil sie aber diese Wahrheit von menschlichen Wesen empfängt und deshalb nur erwarten kann, diese vermischt mit menschlichen Leidenschaften und durch diese verfälscht zu erhalten, wird sie häufig eine natürliche Erregtheit um der Wahrheit willen verzeihen und ignorieren, die diese hervorbringt. Dies ist die Eigenart der Verfassung in Hinblick auf öffentliche Verleumdungen in guten Zeiten. Aber jedes Recht hat seine Grenzen. Das Recht wird von der Verfassung gewährt, soweit dies notwendig und heilsam dahingehend ist, Könige an ihre Pflichten zu erinnern und Parlamente an ihre treuhänderischen Aufgaben. Das Recht findet dort sein Ende, wo seine Umsetzung die Dauerhaftigkeit und gebührende Bedeutung der Regierung gefährdet, das heißt an der Stelle, an welcher sie keinem anderen Zweck dient, als die urzuständliche Anarchie wiederzubeleben sowie Unzufriedenheit und Aufruhr im Staate zu verbreiten.“ (S. 76)33 33

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Holt, The Law of Libel.

D G  V   F  P ()

143

Es fällt nicht leicht, all die willkürlichen Annahmen aufzuzählen, all die Kunstgriffe und Ausflüchte, welche diese Textstelle enthält. Zunächst wird angenommen, dass „die Dauerhaftigkeit und gebührende Bedeutung der Regierung [zu] gefährde[en]“ (so die Worte von Mr. Holt), keinem anderen Ziel dienen könne, als „die urzuständliche Anarchie wiederzubeleben“ – was exakt die Annahme ist, die von alters her alle schlechten Herrscher zu ihren eigenen Gunsten fraglos unterstellen. Zweitens werden wir in Kenntnis gesetzt, dass das Recht auf nichtvorteilhafte Darstellung insoweit gewährt wird, als es dazu dient, „Könige an ihre Pflichten zu erinnern und Parlamente an ihre treuhänderischen Aufgaben“, nicht aber insoweit, als dadurch „Unzufriedenheit und Aufruhr im Staate“ verbreitet werden. So sprach der Herrscher des Mongulreiches. Seine Untertanen mochten zu seiner Kenntnisnahme ihre Missstände äußern, die er dann nach eigenem Belieben beseitigt hätte – allerdings mit der Einschränkung, die Untertanen auf der Stelle um einen Kopf kürzer zu machen, sollte er ihnen zufälligerweise ihre Darstellungen verübeln.34 Drittens jedoch scheint selbst dieses beschränkte Recht auf nichtvorteilhafte Darstellung nur in guten Zeiten gewährt zu werden, wobei die Entscheidung, was gute Zeiten sind und was nicht, natürlich der Regierung selber überlassen bleibt. Unschwer lässt sich vorstellen, was ein solcher Richter für gute Zeiten erklären würde. Solange die Menschen sich völlig ruhig verhielten und jeder Anflug hörbarer Kritik dem gewinnträchtigen Missbrauch keine Gefahr bedeutete, ließe sie Kritik tolerieren, schlichtweg deshalb, weil es keinen Grund für ihre Unterdrückung gäbe. Sobald aber das Gefühl entstünde, dass etwas falsch läuft, etwas nach Erneuerung verlangt, sobald sich die Möglichkeit ergäbe, dass nichtvorteilhafte Darstellungen, wenn sie nur fortgesetzt erfolgen, schließlich den Herrschenden ein bestimmtes Maß an Besserung abringen würden – dann wäre die Zeit zu erklären gekommen, dass die „Dauerhaftigkeit und gebührende Bedeutung der Regierung“ gefährdet sei; dann ist die Zeit gekommen, die Habeas-Corpus-Akte auszusetzen, und, wie Mr. Pitt, den starken Arm der Macht auszustrecken, um jeden Schriftsteller zu vernichten, der sich anzudeuten erdreistet, dass nicht alles zum Besten bestellt sei.35 Ein Zugeständnis wird allerdings in der oben zitierten Textstelle gemacht (wie aufrichtig, werden wir noch sehen). Wir erfahren, dass die Verfassung Kritik erlaube, wenn nicht immer und zu allen Fragen, so doch manchmal und zu manchen Fragen. Man beachte nun Mr. Holts Worte, die sich einige Seiten später finden: „Falls“ ein Schriftsteller, der den „gesunden Respekt missachtend, den man der Autorität und dem Bestehen eines jeden Systems schuldet, zur Beseitigung der Missstände des Staates vorschlägt, die Achtung vor den Gesetzen zu mindern, so wird ihn das Ge34

35

Anmerkung der Herausgeber: Siehe den Bezug auf den Herrscher Jahangir in: William Finch, „Observations of William Finch, Merchant, Taken out of his Large Journall“, in: Samuel Purchas, Purchas His Pilgrims, 4 Bde., London 1625, Bd. I, S. 439.] Anmerkung der Herausgeber: Zu Pitts Wirken siehe „The King’s Proclamation against Seditious Writings“, (21. Mai 1792), in: Parliamentary History of England, hg. v. William Cobbett und John Wright, 36 Bde., London 1806–1820, Bd. XXIX, Sp. 1476–1477; siehe auch 34 George III, c. 54 (1794).

144

D  A  B

setz für jemanden halten, der das zum Zwecke der Anarchie missbraucht, was ihm zur Verteidigung des Gesetzes gegeben worden war.“ (S. 103)36 An dieser Stelle möchten wir die Aufmerksamkeit unserer Leser nicht auf den Glaubenssatz richten, dass nicht nur ein gutes, sondern ein jedes System aufrechterhalten werden solle. Hier geht es uns um die Erklärung, dass nichts getan werden dürfe, das die Achtung vor den Gesetzen mindert. Dass ein Gesetz minderwertig sein mag, in welchem Maße auch immer, dürfe nicht bekanntgemacht werden. Auch dürfe keine Darstellung gegeben werden, welche die Menschen davon überzeugen würde, dass es außer Kraft gesetzt werden solle. Was aber ist dann von den Beteuerungen zu halten, die Verfassung erkenne an, dass „das vorzüglichste Interesse des Staates […] die Wahrheit ist“, dass sie „ein offenes Ohr für wirkliche und nutzbringende Wahrheit aller Art“ habe? Ist davon nichts anderes zu halten, als dass es leere Phrasen sind, ekelerregend ob ihrer Scheinheiligkeit, so verderblich wie falsch, die nur vorgebracht werden, um die Menschen glauben zu machen, Verfassung und Gesetz seien besser als sie es wirklich sind? Von der Verleumdung der Verfassung geht Mr. Holt über zur Verleumdung des Königs und dessen Regierung. Wir werden ihm auf dem Wege zu diesem Thema folgen, versprechen allerdings unseren Lesern, sie hier, nach allem bereits Gesagten, nicht zu lange in Anspruch zu nehmen. Hinsichtlich der generellen Ansichten, die Mr. Holt zum Gesetz in dieser Frage hegt, wurde bereits ein Textausschnitt zitiert. Wir stellen ihn hier ungekürzt vor: „Jeder Engländer hat ein unzweideutiges Recht, öffentliche Angelegenheiten freimütig zu diskutieren, da ihn, ausgehend von der erneuerbaren Natur des vom Volk gebildeten Teils unserer Verfassung wie des Privilegs, seine Vertreter wählen zu können, ein spezielles und ein allgemeines Interesse mit ihnen verbindet. Er ist berechtigt, auf Irrtum und Missbrauch bei der Leitung der Staatsgeschäfte zu verweisen und unbehindert und maßvoll jeder Frage nachzugehen, die mit der Rechtsordnung des Landes in Verbindung steht. Falls jedoch sein Ziel, statt das der nüchternen und aufrichtigen Erörterung eines vernünftigen und seine eigenen Interessen wahrenden Mannes zu sein, darin besteht, Dinge zu verfälschen und einen Vorwand für Zwietracht zu suchen; falls er, statt sich der respektvollen Sprache der Klage und des angemessenen Einspruchs zu bedienen, einen Ton und ein Benehmen zu eigen macht, die dem Einzelnen als eines Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft nicht geziemen; falls er den gesunden Respekt missachtend, den man der Autorität und dem Bestehen eines jeden Systems schuldet, zur Beseitigung der Missstände des Staates vorschlägt, die Achtung vor den Gesetzen zu mindern; falls er hinsichtlich eingebildeter Irrtümer und Missbräuche wahllos Böswilligkeit unterstellt; falls er, kurz gesagt, die Freiheit der Presse dazu nutzt, eine heimtückische Absicht verbergend, private Empfindungen zu verletzen und Frieden, Einrichtung und Ordnung des Staates zu stören, so wird ihn das Gesetz für

36

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Holt, The Law of Libel.

D G  V   F  P ()

145

jemanden halten, der das zum Zwecke der Anarchie missbraucht, was ihm zur Verteidigung des Gesetzes gegeben worden war.“ (S. 102–103)37 Um dieses Dogma zu entlarven, reichen wenige Worte. Zunächst erweist sich die Unterscheidung zwischen der erlaubten und der verbotenen Kritik als eine solche, die nicht die Kritik sondern die Absicht betrifft. Wie aber lässt sich die Absicht belegen? Durch die Schärfe der Kritik? Nein, denn sicherlich kann man daraus, dass jemand scharf kritisiert, nicht schließen, dass er notwendigerweise eine falsche Darstellung gibt – es sei denn, man behauptet, Regierungen würden nie so handeln, dass sie eine scharfe Kritik verdienten. Um Besserung zu erzielen, muss man Mängel aufzeigen. Indem man Mängel aufzeigt, bringt man die Regierung in Misskredit. Indem man Mängel aufzeigt und nach Heilmitteln sucht, zeigt man seine Bosheit – in der Tat dieselbe Art Bosheit, die ein Mann sich selbst gegenüber zeigt, indem er zum Arzt geht, um sich über die Mangelhaftigkeit seiner gesundheitlichen Verfassung aufklären zu lassen und ihr abzuhelfen. In manchen seiner Worte scheint Mr. Holt anzudeuten, was er an anderer Stelle leugnet, nämlich dass frei kritisiert werden könne, sofern dabei keine böswilligen Absichten unterstellt werden. „Das Gesetz“, schreibt er, „entspricht hier unseren Pflichten. Schmähung und das Unterstellen böswilliger Absichten sind offenkundig einem guten Zweck nicht dienlich. Gewiss kann kein Mann eine solche Frechheit rechtfertigen, auch nicht gegenüber einer Privatperson. Die Gesellschaft aber sollte hinreichend Achtung genießen, um etwas von ihrer Heiligkeit ihren Amtsträgern zu vermitteln.“ (S. 103)38 Was mit der Achtung gegenüber der Gesellschaft gemeint ist und was mit der Vermittlung ihrer Heiligkeit an ihre Amtsträger, geben wir nicht vor, verstanden zu haben. Was von Mr. Holt, oder den Richtern, unter böswilligen Absichten verstanden wird, ist uns nicht bekannt. Möglicherweise versteht er unter böswilligen Absichten – im Unterschied zu unbeabsichtigtem Fehlverhalten – Verbrechertum, wobei wir hier der Behauptung, dass dessen Bloßstellung keinem guten Zweck dienen könne, entschieden unsere Zustimmung verweigern. Ist es denn nicht bedeutsam, dass die Öffentlichkeit über den Charakter jener in Kenntnis gesetzt werden sollte, in deren Händen ihr ganzes Glück liegt? Um dieses Dogma auf die Ebene der Straftaten von Privatpersonen anzuwenden: Würde Mr. Holt behaupten, dass die Unterscheidung zwischen vorsätzlichem Mord und zufälligem Totschlag keinem guten Zweck dient? Dieser Teil des Gesetzes gegen Verleumdung, wie er von den Richtern und Mr. Holt erläutert worden ist, wird, gleich allen anderen seiner Teile, bewusst in einer solchen Unklarheit gelassen, dass er jeden Publizisten absoluter richterlicher Willkür aussetzt. Für Mr. Holt ist all das Verleumdung, dessen Zweck darin besteht, „Dinge zu verfälschen und einen Vorwand für Zwietracht zu suchen“. Worin aber besteht Zwietracht? Sie besteht darin, Ministern zu widersprechen. Was heißt verfälschen? Eine Unwahrheit verkünden. Wer aber befindet darüber, was eine Unwahrheit ist? Die Regierung. Diese hat also in ihrer eigenen Sache zu richten, hat über Wahrheit und Falschheit einer Anklage eines Verbrechens oder eines Fehlverhaltens wegen zu entscheiden, dessen sie selbst be37 38

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Holt, The Law of Libel. Anmerkung der Herausgeber: Ebd.

146

D  A  B

zichtigt wird, und falls sie die Anklage für haltlos erklärt, wird sie alle Macht besitzen, den Ankläger so hart es ihr beliebt zu strafen! Vielleicht ließe sich denken, Mr. Holt habe das Gesetz verfälscht. Um zu beweisen, dass er dies nicht getan hat, werden wir hier folgend einige richterliche Dicta zitieren. Denn nichts könnte hinsichtlich der Gesetzwidrigkeit aller Kritik an der Regierung eindeutiger sein. Lord Holt: „Sie behaupten, es könne keine Verleumdung sein, wenn es sich bei dem, was ins schlechte Licht gerückt wird, um keine bestimmte Person handelt. Es ist aber eine sehr eigenartige Auffassung zu sagen, es sei keine Verleumdung, sich abfällig über die Regierung zu äußern, wenn man bestrebt ist, die Menschen zu der Ansicht zu bewegen, die Regierung arbeite korrupter Personen wegen schlecht, die in Dienststellen der Marine oder der Heeres angestellt sind. Wer behauptet, korrupte Offiziere würden eingesetzt, um Angelegenheiten zu verwalten, bezieht sich sicherlich abfällig auf die Regierung. Werden Männer nicht dafür zur Verantwortung gezogen, dass sie Menschen zu einer schlechten Meinung über die Regierung bewegen, kann keine Regierung fortbestehen.“39 Diesem Richter zufolge darf nichts erlaubt werden, was darauf zielt, Menschen eine schlechte Meinung über die Regierung zu vermitteln. Dass jede Kritik dies zum Ziele habe, ist eine überflüssige Bemerkung. Jede Kritik ist deshalb verboten. Lord Oberrichter Raymond: „Selbst der persönliche Charakter eines Menschen darf nicht verunglimpft werden, weder direkt noch indirekt. Denn es gibt gesetzlich bestimmte Rechtsmittel, die, falls jemand eine Person verletzt haben sollte, Abhilfe schafften, ohne ihn seines Charakters wegen böswillig zu verunglimpfen. Noch weniger sollte es erlaubt sein, den Charakter eines Richters, eines Staatsministers oder einer anderen öffentlichen Person direkt oder indirekt zu beflecken. Das Gesetz betrachtet es als einen gravierenderen Verstoß, eine Person in öffentlicher Funktion zu verleumden. Es bringt die Regierung in Verruf, wenn Ihre Majestät korrupte Richter etc. ersetzen muss, und trägt dazu bei, Aufruhr zu verbreiten und den Frieden des Königreichs zu stören.“40 Dies lehrt uns zweierlei: erstens, dass nichts zu sagen erlaubt ist, was als explizite oder implizite Verleumdung der Regierung verstanden werden kann; und zweitens, dass alle 39

40

Anmerkung von Mill: [Anmerkung der Herausgeber: John Holt, „Charge to the Jury in the Trial of John Tutchin“, 1704, in:] Holt K.B. 424 [Anmerkung der Herausgeber: 90 English Reports 1133], und [Howell,] State Trials, Vol. XIV, Sp. 1128, bei Holt, S. 108. Anmerkung von Mill: [Anmerkung der Herausgeber: Robert Raymond, „Speech in the Trial of Richard Francklin“, 1731, in: Howell,] State Trials, Bd. XVII [Anmerkung der Herausgeber: Sp. 658–659], bei Holt, S. 111.

D G  V   F  P ()

147

Personen, ob öffentliche oder Privatpersonen, per Gesetz vor aller Bloßstellung eines jeden Fehlverhaltens geschützt sind, wie offenkundig und gemeinschaftsschädigend dies auch immer sei. Sir Philip Yorke (später Lordkanzler Hardwicke): „Er (der Buchdrucker) darf nichts publizieren, was sich in abfälliger Weise auf den Charakter, das Ansehen und die Amtsführung seiner Majestät oder deren Minister bezieht.“41 Diese Auffassung, welche Mr. Holt mit besonderem Beifall würdigt (S. 111),42 ist im Grunde genommen dieselbe wie die des davor Zitierten, enthält allerdings den Zusatz des Verbots auch der Kritik selbst an speziellen Maßnahmen. Die „Amtsführung seiner Majestät oder deren Minister“ dürfe nicht herabgesetzt werden. Im Gerichtsverfahren gegen Woolston wegen eines deistischen Werkes43 bemerkte das Gericht, „dass die christliche Religion in diesem Königreich als Staatskirche gegründet ist [is established]. Deshalb werden sie44 es nicht erlauben, Bücher zu schreiben, die geeignet sind, etwas an dieser Gründung zu ändern.“45 Das Christentum muss zu einem Werkzeug der Verfolgung werden, weil es eine Gründung ist; keine Bücher dürfen geschrieben werden, die dazu geeignet sind, Gründungen [establishments] zu ändern? Was für eine Doktrin ist das? Lord Ellenborough: „Es ist keine neue Doktrin, dass im Falle einer Publikation, die dazu bestimmt ist, das Volk zu entfremden, weil diese, ob durch Hohn oder Schmähung, im Volk eine Abneigung gegenüber der Regierung erregt, die für diese Publikation verantwortliche Person die Strafe des Gesetzes auf sich zieht. Dies ist ein Verbrechen und ist immer als Verbrechen betrachtet worden, ob es nun in der einen oder anderen Verkleidung erscheint.“46 Nachdem wir ähnliche Doktrinen so umfänglich kommentiert haben, sind wir nicht genötigt, Zeit dafür zu verwenden. In den beiden Prozessen, die gegen Mr. Wooler im Jahre 1817 wegen aufrührerischer Verleumdungen geführt wurden, finden sich ähnliche Dicta zuhauf, sowohl von Seiten des Generalstaatsanwalts, der die Anklage vertrat, als auch der des Richters, der den Vorsitz führte. Wir zitieren aus einem Bericht, der den Abdruck eines Manuskripts enthält, dessen wortwörtliche Aufzeichnung sich einem Meister der Kurzschrift verdankt. Bei dieser Gelegenheit äußerte sich der damalige Generalstaatsanwalt und gegenwärtige 41

42 43

44

45

46

Anmerkung von Mill: Ebd. [Anmerkung der Herausgeber: „Speech for the Plaintiff in the Trial of Richard Francklin“, 1731, in: Howell, State Trials, Bd. XVII, Sp. 658–659, bei Holt, S. 112.]. Anmerkung der Herausgeber: Siehe Holt, The Law of Libel. Anmerkung der Herausgeber: Vor Gericht gestellt wurde Thomas Woolston 1729 wegen seines Werkes A Discourse on the Miracles of Our Saviour, in View of the Present Controversy between Infidels and Apostates, 6 Teile, London 1727–1729. Anmerkung des Übersetzers: Mit „sie“ ist das Gericht gemeint. Siehe Edinburgh Review or Critical Journal, No. CXVIII, Edinburgh 1834, S. 389f. Anmerkung von Mill: [Anmerkung der Herausgeber: Robert Raymond, Speech in the Trial of Thomas Woolston, 1729, in: 94 English Reports 113,] Holt, S. 55. Anmerkung von Mill: Klage des Königs v. Cobbett, bei Holt, S. 119.

148

D  A  B

Master of the Rolls und, wenn der Bericht recht haben sollte, zukünftige Lordkanzler mit folgenden Worten: „Den Ministern jeder Regierungsform, ob einer Monarchie oder einer anderen bestehenden Regierungsform zugehörig, niederträchtige und verwerfliche Motive finanzieller oder einer anderen und schlimmeren Art zu unterstellen, nämlich jene Verwerflichkeit, die aus dem Wunsch entspringt, die Freiheiten und die Verfassung ihres Landes zu zerstören und den Staatsbürgern das Glück zu rauben, das Gesetze und Verfassung vermitteln sollten, stellt, so erlaube ich mir, offen und ohne Gefahr des Widerspruchs seitens eines Anwalts dieses Landes zu behaupten, eine Verleumdung der ihre Amtsgeschäfte führenden Regierung, der Minister, die in dieser Regierung beschäftigt sind, dar.“47 Einem unbedachten Leser mag es auf den ersten Blick scheinen, dass der Fortschritt des Zeitgeistes etwas bewirkt habe, selbst beim Generalstaatsanwalt seiner Majestät. Die Doktrin, wonach jede Kritik an Ministern Verleumdung sei, traute man sich nicht mehr, öffentlich anzuerkennen. Wozu man sich jedoch bekannte, war Folgendes: Wenn Minister die Verfassung zu untergraben beabsichtigen, wenn sie das unterminieren wollen, was dem Generalstaatsanwalt zufolge unsere einzige Garantie gegen jeden Schrecken darstellt, den die Menschheit in allen Perioden der Geschichte von der Hand schlechter Herrscher erdulden musste, wenn Minister diese Garantie aufzuheben und uns in solche üblen Verhältnisse zurückzuwerfen beabsichtigen – dann sollte keinem erlaubt sein, dies zu sagen. Wir leugnen, dass dies eine unredliche Interpretation ist. Ist es möglich oder ist es nicht möglich, dass Minister den Wunsch hegen, unfehlbar zu sein? Sollte geantwortet werden, eine solche Absicht sei zwar möglich, werde ihnen aber in diesem Fall zu unrecht zugeschrieben, so erwidern wir darauf: Falls bisher einige Minister despotische Absichten gehegt haben, dann hegen vielleicht auch gegenwärtige Minister solche Absichten. Das, was alle Erfahrung als gewiss erweist, sollten wir nicht für unmöglich halten, nur weil der Generalstaatsanwalt es für richtig hält, dies zu leugnen. Diesem bescheidenen Anspruch hatte er jedoch keine Bedenken, den Vorzug zu geben. „Sie (die Minister) würden nicht ihren Willen zum allgemeinen Gesetz erheben – aber nicht deshalb, weil sie dies nicht wagen, sondern, so erlaube ich mir festzustellen, weil sie dies nicht können und dazu nicht willens sind.“48 Wir sollen hier glauben, dass Minister keine Männer gewöhnlicher Tugend sind, auch nicht Männer außergewöhnlicher Tugend, sondern Wesen, die unendlich höher als alle Menschen stehen, die je existierten und jemals existieren werden. Das englische Gesetz sagt etwas anderes. Dieses Gesetz geht immer von der Annahme aus, dass Menschen ihren Interessen folgend handeln. Das Prinzip reicht so weit, das das Gesetz von einem 47

48

Anmerkung von Mill: Trials of Mr. Wooler [Anmerkung der Herausgeber: d. h. Thomas Jonathan Wooler, A Verbatim Report of the Two Trials of Mr. T. J. Wooler, Editor of the Black Dwarf , London 1817], S. 5–6. [Anmerkung der Herausgeber: Der Generalstaatsanwalt zu dieser Zeit war Samuel Shepherd. Mill verwechselt diesen mit dem Zweiten Kronanwalt [Solicitor-General], Robert Gifford, der im Jahre 1825 Master of the Rolls war und der als der kommende Lordkanzler galt.] Anmerkung von Mill: Ebd., S. 14.

D G  V   F  P ()

149

Mann, der durch Meineid einen Shilling gewinnen würde, annimmt, dass er einen Meineid leisten würde, und ihm das Zeugnis verweigert. Hier aber wird uns nicht nur die Unterstellung abverlangt, dass die denkbar größten Versuchungen schwächer seien als die Tugend der Minister, sondern auch, dass ein Mann hart zu bestrafen sei, der andeutet, das Gegenteil treffe zu. Warum aber? Weil dies das ipse dixit des Generalstaatsanwalts seiner Majestät ist. Der gegenwärtige Oberrichter [Chief Justice] Abbott geruhte aus gleichem Anlass, wie dies in letzter Zeit üblich ist, zwei einander widersprechende Grundsätze vorstellig zu machen, die beide dank seiner Verkündung selbstredend gleichermaßen englisches Gesetz geworden sind. „Jedem Staatsbürger steht es frei, Maßnahmen der Regierung zu diskutieren, sofern er dies vernünftig, ehrlich und unvoreingenommen tut. Sollte eine Person jedoch, statt allgemeine oder besondere Maßnahmen zu durchdenken und zu diskutieren, es vorziehen, die Regierung oder die Urheber jener Maßnahmen vor den Augen der Welt zu verunglimpfen und zu verleumden, dann zieht sie sich die Härte des Gesetzes zu. Wenn ich dies so formulieren darf: Wo das Überlegen endet und Verunglimpfung und Verleumdung beginnen, findet sich die Stelle, an welcher ein richterliches Urteil zu bilden ist.“49 Das ist der eine Grundsatz. Kurz danach legt er – in einem Passus, der zu lang ist, um ihn hier zu zitieren – den anderen vor und lobt Lord Holt dafür, ihn vorgelegt zu haben.50 Dieser besagt, es sei verleumderisch, die Regierung in irgendeiner Weise in ein schlechtes Licht zu stellen [to reflect upon], das heißt zu kritisieren, und die beiden Häuser des Parlaments zu diskreditieren, das heißt wiederum: zu kritisieren. Wir wählen den moderateren der beiden Grundsätze – jener, der besagt, das Nachdenken sei erlaubt, Verunglimpfung und Verleumdung aber seien verboten. Welchen Nutzen hat das Nachdenken? Wie wir annehmen dient es dazu, Schlüsse zu ziehen. Alles Nachdenken erfolgt, so verstehen wir das, um der Schlussfolgerung willen. Nachdenken scheint verdienstvoll und zweckmäßig zu sein; ist es zweckmäßig, Schlüsse zu ziehen? Sind diese vorteilhaft, dann ja; sind sie es nicht, dann nein. Denn im letzteren Fall wären sie Verunglimpfung und Verleumdung. Wir könnten noch viele, auf diesen folgende Fälle zitieren. Doch sollten wir hier innehalten, einerseits deshalb, weil wir bereits hinreichend Zeugnisse vorgelegt haben, andererseits deshalb, weil die Verhandlungen jüngeren Datums nicht in einer ebenso amtlichen Form veröffentlicht worden sind. Nicht, dass wir etwa nichts zu dem Prozess gegen Mr. Harvey wegen Verleumdung eines lebenden Königs oder zu dem gegen Mr. John Hunt wegen Verleumdung eines verstorbenen51 zu sagen hätten, lässt uns davon Abstand nehmen, speziell darauf zu verweisen, was Anwälte und Richter anlässlich dieser denkwürdigen Ereignisse mitteilten. Wir tun dies deshalb nicht, weil es nicht in unserer Macht stand, verlässlichere Autoritäten als Zeitungsberichte zu zitieren, und 49 50 51

Anmerkung von Mill: Ebd., S. 80. Anmerkung der Herausgeber: Ebd., S. 82. Anmerkung der Herausgeber: Gegen Daniel Whittle Harvey wurde 1823 wegen Verleumdung von Georg IV prozessiert, gegen John Hunt 1824 wegen Verleumdung von Georg III.

150

D  A  B

uns die Wahrheit unserer Aussagen nicht hinreicht. Wir möchten letztere schon von der bloßen Möglichkeit des Verdachts befreien, falsch zu sein. Wir vermerkten die Überschrift „Verleumdung der beiden Häuser des Parlaments“52 allein deshalb, weil Mr. Holt zufolge das einzige, dem sich der Einfluss der öffentlichen Meinung über beide Versammlungen verdankt, nämlich die Veröffentlichung der Protokolle ihrer Sitzungsberichte, ungesetzlich ist. Unter der Überschrift „Verleumdung der Gerichte“53 schreibt Mr. Holt: „Zweifelsohne gehört es naturgemäß zur Freiheit der Presse, auf friedfertige und gemäßigte Weise die Entscheidungen und Urteile eines Gerichtshofes zu diskutieren, sogar auf Fehler hinzuweisen und, gesetzt, dies geschieht in der Sprache und der Einstellung aufrichtiger Kritik, das zu monieren, was offensichtlich falsch ist – wobei allerdings eine Beschränkung besteht: Keiner der Parteien dürfen unwahre oder unehrenhafte Motive unterstellt werden.“54 „Jedweder öffentliche Tadel der Rechtspflege ist“, so fährt er fort, „ohne Frage verleumderisch.“55 Hier haben wir zwei Behauptungen: dass das Gesetz Kritik erlaube und dass es Kritik nicht erlaube. Wir werden nun sehen, welche von beiden durch richterliche Dicta gestützt wird, uns dabei aber darauf beschränken, den ersten Fall zu zitieren, von dem Mr. Holt selbst unter dieser thematischen Unterabteilung berichtet. Richter Buller: „Nichts ist von größerer Wichtigkeit für die öffentliche Wohlfahrt, als dem Tadel und der Kritik ein Ende zu setzen, denen die Gerichte unseres Landes so häufig ausgesetzt sind. Sie können sinnvoll nicht verwendet werden und die nachteiligsten Folgen zeitigen. Es mag Fälle geben, in denen Richter und Geschworene sich irren. Für diese bietet das Gesetz ein Gegenmittel. Die geschädigte Partei ist berechtigt, jedem Weg zu folgen, den das Gesetz zur Aufhebung dieses Irrtums erlaubt. Sollte eine Person jedoch – wie im gegenwärtigen Fall – in schriftlicher Form, oder durch gedruckte Publikationen oder irgendein anderes Mittel versuchen, die Verhandlungen eines Gerichts zu verleumden, so wird dies ersichtlich dazu führen, die Ausübung der Rechtspflege zu schwächen und letztlich das eigentliche Fundament der Verfassung zu untergraben.“56 Das Gesetz bietet ein Gegenmittel! Ja, die geschädigte Partei kann, soweit sie sich das zu leisten vermag, bei demselben Richter, der sie verurteilt hatte, ein neues Verfahren beantragen. Sollte wie durch ein Wunder darin eingewilligt werden, kann sie wieder vor dem Gericht erscheinen, das dann erneut gegen sie verhandelt – unter dem Vorsitz 52 53 54 55 56

Anmerkung der Herausgeber: Francis Holt, Kap. VI, S. 121–136. Anmerkung der Herausgeber: Ebd., Kap. VII, S. 137–149. Anmerkung von Mill: Ebd., S. 144. Anmerkung der Herausgeber: Ebd. Anmerkung von Mill: [Anmerkung der Herausgeber: Francis Buller, Judgement in the Case of R. v. Archer, 1788, in: 100 English Reports 113,] Holt, S. 145.

D G  V   F  P ()

151

desselben Richters oder eines seiner Amtskollegen, der demselben finsteren Interesse57 anhängt, sowie einer Gruppe von Geschworenen, die demselben Einfluss unterliegt. Der Zweifel sollte uns aber gestattet sein, ob diese Partei wirklich eine so gute Aussicht hätte, auf diese Weise eine Wiedergutmachung zu erlangen, dass damit andere Mittel hinfällig wären, oder ob sie irgendeine Aussicht sie zu erzielen hätte, falls es ihr nicht möglich wäre, die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Leider konnte sich die dem obigen Diktum innewohnende Auffassung, es sei ein kriminelles Vergehen, die Verhandlungen eines Gerichts zu kritisieren, und jeder, der sich anmaßt, dies zu tun, ein Feind der Rechtspflege, vermöge der Kunstgriffe der Richter und der Einflussnahme der Herrscher tief im Bewusstsein der Engländer verankern. Lange Zeit war es die vorherrschende Maxime, dass die Rechtspflege vor jedem Verdacht zu bewahren sei, auf sie bezogene kritische Überlegungen [reflections] nicht statthaft seien – als ob guten Richtern und guter Rechtsprechung irgendein Schaden dadurch entsteht, dass man schlechte Richter und eine schlechte Rechtsprechung bloßstellt, als ob es nicht das größtmögliche Unrecht an einem guten Richters darstellt, dass man es der Öffentlichkeit unmöglich macht, ihn von einem schlechten zu unterscheiden. So wenig bedarf das Verhalten der Richter der Kontrolle, dass es kaum eine Gruppe öffentlicher Amtsträger gibt, die ihrer mehr bedarf. Sie werden von der Regierung ernannt, sie sind des Weges wegen, den sie, um ernannt zu werden, gehen müssen, zwangsläufig ganz der bestehenden Macht zugeneigt, sie haben zumeist Söhne oder Neffen, die beim Gericht angestellt sind und für die sie gewöhnlich, deren Aufstieg verpflichtet, nach Gönnerschaft seitens der Regierung suchen, sie verfügen über so viel Macht, dass diese, wenn in die Waagschale der Regierung geworfen, letztere zur Despotie machte, sodass durch kein noch so großes Opfer seitens der Herrscher ihre Zusammenarbeit erlangt werden kann – solch großen Versuchungen ist so schnell keine andere Gruppe von Personen ausgesetzt. Dass diese Versuchungen für die Tugend selbst der besten Richter immer zu groß waren, erweist schon der Blick in die Protokolle der Prozesse wegen Verleumdung. „Beständig rühmen wir uns (so der Autor jenes Pamphlets, das gemeinsam mit dem Werk von Mr. Mence zu Beginn unserer Abhandlung betrachtet worden ist) der Rechtschaffenheit der Richter. Unter den gegenwärtigen Umständen sind die amtierenden Richter immer die besten Richter, die vernünftigsten und redlichsten Männer – Männer, die niemals unrecht handeln noch Unrecht dulden werden, Männer, die jene nicht ertragen, die das Gesetz zu verdrehen suchen oder dessen Schwächen ausnutzend andere schädigen. Wehe dem, der sich erdreisten sollte, das Verhalten eines lebenden Richters in Frage zu stellen! Wie gering ist jedoch die Anzahl der verstorbenen Richter, deren Verhalten nicht in Frage gestellt worden ist? Auch dafür gibt es Gründe. Wären die Richter wirklich und wahrhaftig von der ausführenden Gewalt unabhängig und wären die Menschen frei, wie sie es sein müssten, es aber mit Zustimmung 57

Anmerkung der Herausgeber: Zu dieser Formulierung („sinister interest“) siehe z. B. Bentham, Plan of Parliamentary Reform (1817), in: Works, Bd. III, S. 440, 446.

152

D  A  B der Richter niemals sein werden, das Verhalten eines lebenden Richters in dem Maße zu prüfen, dass kein Richter törichte oder ungerechte Handlungen ungestraft vollziehen könnte, dann würden sehr wenige solcher Handlungen vollzogen. Hätte man diese Vorsichtsmaßnahmen ergriffen und sich dieser Freiheit in vergangener Zeit erfreut, dann würde es die seit Ewigkeiten zunehmenden Missstände nicht geben, hätten wir ein präzises, eindeutiges und taugliches Gesetz; auch wäre die Rechtspflege wirklich völlig verschieden von jener, die wir zu erleben gezwungen sind.“58

Wir betrachten es somit als eines der vielversprechendsten Zeichen der Zeit, dass diese unkritische Ehrfurcht vor allen Instrumenten der Rechtsprechung im Schwinden begriffen ist und nun begonnen wird, den richterlichen Prozessakten die kritische Aufmerksamkeit zu widmen und den Verfehlungen der Richter die Missbilligung zu erteilen, die sie verdienen. Zugleich möchten wir diese Gelegenheit ergreifen, unserer Überzeugung Ausdruck zu geben, dass sich dieser bedeutende und heilsame Wandel in erheblichem Maße den unermüdlichen Anstrengungen des Morning Chronicle verdankt, einer Zeitschrift, die wir ihrer Vorzüglichkeit vielfältigster Art wegen seit längerer Zeit gewohnt sind, zu Rate zu ziehen, welche aber insbesondere in ihrer scharfen Kritik an der Sprache und dem Verhalten richterlicher Amtsträger ein Maß an wirklicher Tapferkeit, an Befähigung und Sittlichkeit in höchster und unüblichster Form gezeigt hat, die wir jedoch allzu selten in der Fachpresse dieses Landes das Glück hatten zu erleben. Die beiden nachstehenden Schlussfolgerungen können, wie wir glauben, nunmehr als vollständig gesichert gelten: Das englische Gesetz, wie es seine autorisierten Interpreten, die Richter, vermitteln, verbietet jede unvorteilhafte Darstellung von Institutionen, der Regierung und ihrer Handlungen – wie aufrichtig auch immer diese Richter bisweilen jene Auffassung abstreiten mögen. Folglich ist die Diskussionsfreiheit allein deshalb erlaubt, weil sie nicht unterdrückt werden kann. Der Grund, weshalb sie nicht unterdrückt werden kann, ist die Furcht vor der öffentlichen Meinung. Nachdem wir nun unsere beiden Behauptungen begründet haben, bleibt uns nur noch, sie der ernsthaftesten Erwägung unserer Leser zu empfehlen. Obwohl häufig publizistisches Thema, wird die Bedeutung der Diskussionsfreiheit kaum wirklich durch jene gewürdigt, die sich, wiewohl nicht selber der Gefahr ausgesetzt, ihre Märtyrer zu werden, fälschlicherweise durch die Verletzung dieser Freiheit kaum beeinträchtigt sehen. Tatsächlich geht allerdings die Diskussionsfreiheit jedes Mitglied der Gemeinschaft gleichermaßen an. Ihr Wert kommt dem Wert guten Regierens gleich, denn ohne sie ist gutes Regieren nicht möglich. Ist sie erst einmal beseitigt, so werden nicht nur alle bestehenden Missbräuche verewigt, sondern kommen sogleich all die, welche durch sie im Laufe der Zeiten überwunden wurden, gemeinsam mit jener Beschränktheit und Idiotie, vor der sie der einzige Schutz ist, zu neuem Leben. Man vergegenwärtige sich die Schrecken einer orientalischen Despotie – vor dieser und Ärgerem schützt uns allein die Presse. Nun wende man seine Vorstellungskraft, statt sie nur 58

Anmerkung von Mill: [Anmerkung der Herausgeber: Place, On the Law of Libel,] S. 5–6.

D G  V   F  P ()

153

auf irgendein bestehendes Beispiel der Wohlfahrt und guten Regierens zu richten, auf die äußersten Grenzen des mit der Menschennatur zu vereinbarenden Glücks und erblicke das, was mit der Zeit erreicht werden kann, wenn die Einschränkungen aufgehoben werden, unter denen die Presse allein der Sicherheit der Inhaber verderblicher Macht wegen immer noch leidet. Dies sind die Segnungen einer freien Presse – und immer aufs Neue ist zu wiederholen: Es gibt keine Pressefreiheit ohne die Freiheit der Kritik. (Übersetzt von Veit Friemert)

EV Die Rechtsansprüche der Arbeit (1845)

„Personen von nachdenklichem Geist“, heißt es in der Einleitung zu diesem kleinen Bande,1 „sind geneigt, gelegentlich eine große Verachtung gegen ihre Zeit zu empfinden, für deren Unwahrheit, Torheit und Anmaßung sie ein so scharfes Auge besitzen; und ich zweifle nicht, dass mancher unsere Zeit als eine Periode der Schwäche und Entartung betrachtet. Indessen machen sich Zeichen eines wachsenden Interesses für die Rechte der Arbeit bemerkbar und dies ist an sich eine vielversprechende Erscheinung, über die wir uns mehr zu freuen haben, als über alle die mechanischen Triumphe, welche wahrscheinlich sowohl die, welche unsere Zeit erheben, wie die, welche sie herabsetzen möchten, als dasjenige bezeichnen würden, worin ihre eigentliche Bedeutung und ihr eigentliches Verdienst zu suchen ist.“ 2 Es ist richtig, dass jetzt viele ernstlicher als zuvor danach fragen, „wie die große Masse des Volkes genährt, gekleidet und unterrichtet wird und ob die Verbesserung ihrer Lage mit der Verbesserung in der Lage der mittleren und oberen Klassen irgendwie gleichen Schritt hält“.3 Und viele teilen die Ansicht des Autors, die wir zitieren, dass die Antwort auf die Fragen unbefriedigend ausfallen wird. Auch ist das neuerwachte Interesse an der Lage der Arbeiter keineswegs auf Personen von dem Gefühl und der Überlegung unseres Autors beschränkt. Den Ansprüchen der Arbeiter an das Gewissen und die Philanthropie der begünstigteren Klassen und dem wachsenden Gewicht, das die Rücksicht dieser Klassen auf ihr eigenes Interesse jenen Ansprüchen verleiht, gesellt sich jetzt auch noch der flüchtigere Reiz der letzten neuen Mode bei. Die Rechtsansprüche der Arbeit sind eine Tagesfrage geworden; die Strömung der öffentlichen Versammlungen, Subskriptionen und Vereine hat sich seit einiger Zeit entschieden dieser Richtung zugewendet und manche kleinere Gegenstände, die früher die öffentliche Aufmerksamkeit 1

2 3

Anmerkung der Herausgeber: Arthur Helps, The Claims of Labour. An Essay on the Duties of the Employers to the Employed, London: Pickering, 1844. Die hier von Mill angeführten Zitate stammen nicht, wie Mill schreibt, aus der Einleitung, sondern aus dem ersten Kapitel. Anmerkung der Herausgeber: Ebd., S. 2-3. Anmerkung der Herausgeber: Ebd., S. 3.

D R  A ()

155

beschäftigten, sind entweder in dieser Frage aufgegangen oder von ihr bei Seite gedrängt worden. Selbst das Parlament, das sich selten eher um Tendenzen der öffentlichen Meinung kümmert, als bis sie zu mächtig geworden sind, um sich ungestraft übersehen zu lassen, wird in jeder Session mit immer größerer Dringlichkeit eingeladen, dafür zu sorgen, dass die arbeitenden Klassen mehr verdienen, weniger arbeiten oder in anderen Beziehungen besser gestellt werden sollen, und in jeder Session fügt es sich mehr oder minder bereitwillig, zwar langsam, aber in immer höherem Grade dieser Forderung. Dass dies Streben heilsam und vielversprechend ist, wird nicht leicht jemand in Abrede stellen, aber man würde sich täuschen, wenn man annehmen wollte, dass es nicht auch seine besonderen Gefahren hat oder dass das Geschäft, Gutes zu tun, das einzige ist, für welches bloßer Eifer ohne Kenntnis und Umsicht genügt. Ein Wechsel vom Schlechten zum Rechten lässt sich selbst in kleinen Dingen leichter wünschen und besprechen als durchführen. Die Gesellschaft kann nicht ohne alle Gefahr in einer ihrer wichtigsten Angelegenheiten plötzlich von selbstsüchtiger Schlaffheit zu rastloser Tätigkeit überspringen. Sie hat noch erst eine lange und schwere Lehrzeit zu überstehen, deren Verlauf uns noch oft an das Wort Fontenelles erinnern wird, dass die Menschen erst dann auf die richtige Bahn kommen, wenn sie all die verschiedenen Abarten des Irrtums durchgemacht und erschöpft haben. Aber wie dem auch immer sein möge, man darf die Bewegung nicht hemmen oder entmutigen. Wenn es uns vorbehalten ist, bei dem Versuch, der Not der arbeitenden Klassen abzuhelfen, das Begehen großer Missgriffe in der Praxis sehen zu müssen, gerade so wie bereits so viele Irrtümer in der Theorie verfochten worden sind, so wollen wir die Schuld davon nicht in dem Übermaß des Eifers suchen. Die Gefahr liegt darin, dass die Leute im Allgemeinen die Frage wichtig genug finden werden, um ihr anderer Leute Interessen, aber nicht um ihr die eigenen Interessen zu opfern, und dass die wenigen, welche vorangehen, der Sache zwar ihr Geld, ihre Zeit und sogar ihre Bequemlichkeit opfern, aber um ihretwillen doch nicht bereit sein werden, das zu tun, was die meisten Menschen so viel schwerer finden – nämlich sich der schrecklichen Arbeit des Denkens zu unterziehen. Aus verschiedenen Gründen wird es zweckmäßig sein, diese menschenfreundliche Bewegung bis auf ihren kleinen und unscheinbaren Anfang zurückzuverfolgen, ihre eigentliche Quelle nachzuweisen und zu zeigen, wie gemischt die Zuflüsse waren, die von Zeit zu Zeit ihren Strom verstärken. Wir sind geneigt, ihren Ursprung mit einem Ereignis in Verbindung zu bringen, das nach der gewöhnlichen Auffassung jede andere ehrenvolle Auszeichnung eher zu verdienen scheinen könnte als diese – nämlich mit dem Erscheinen der Schrift des Hrn. Malthus über Bevölkerung.4 Obwohl man diese Behauptung vielleicht als ein Paradoxon betrachten wird, so ist es doch historisch wahr, dass erst seit jener Zeit eine dauernde Verbesserung in der Lage der arbeitenden Klassen von denkenden Männern als möglich 4

Anmerkung der Herausgeber: Thomas Robert Malthus, Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society. With Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and Other Writers, London: Johnson, 1798. Mill erwähnt keine konkrete Ausgabe, auf die er sich bezieht. Vermutlich hat er die 5. Ausgabe, in 3 Bde. gelesen (London: Murray, 1817) – die zu der Zeit, in der Mill an dem hier vorliegenden Artikel saß, neueste Ausgabe von Malthus Buch.

156

D  A  B

betrachtet wurde. Wir wissen, dass dies nicht der Schluss war, den man ursprünglich aus der von Hrn. Malthus nachgewiesenen Wahrheit zog. Sogar von ihm selbst wurde jene Wahrheit zuerst als ein unerbitterliches Gesetz verkündet, das die Armut und Verkommenheit der großen Masse der Menschheit als unabänderlich hinstelle und alle Visionen von einer unbegrenzten sozialen Verbesserung, die eine benachbarte Nation so furchtbar aufgewühlt hatten, für immer ein Ende machen müsse. Wie ich glaube, verdankte das Prinzip des Hrn. Malthus diesen feinen vermeintlichen Folgesätzen ebenso seinen anfänglichen Erfolg bei den reichen Klassen wie auch einen großen Teil seiner dauernden Unpopularität unter den ärmeren. Indessen konnte diese Auffassung seiner Tendenzen nur so lange die herrschende bleiben, als die Theorie selbst nur unvollständig bekannt war und fristet sich jetzt nur in jenen dunkeln Winkeln fort, in welche seither kein weiteres Licht gedrungen ist. Der erste Verkünder einer Wahrheit ist nicht immer der beste Richter über ihre Tendenzen und Folgen, aber Hr. Malthus gab bald die irrtümlichen Schlüsse auf, die er anfangs aus seinem berühmten Prinzip gezogen, und eignete sich eine ganz andere Auffassung an, die jetzt nahezu von allen geteilt wird, welche seine Lehre anerkennen. Solange die notwendige Beziehung zwischen der Zahl der Arbeiterbevölkerung und ihrer Entlohnung der Beachtung entgangen war, hielt man (in Folge einer jener Täuschungen, vor welchen die menschliche Natur noch immer so wenig gesichert ist) die an äußerste Not grenzende Armut der großen Klasse, die man als eine allgemeine Tatsache verstand, für unvermeidlich – für eine Vorkehrung der Natur oder wie manche sagten, für eine Schickung Gottes; für einen Teil der menschlichen Bestimmung, der nur in individuellen Fällen eine teilweise Milderung durch private oder öffentliche Wohltätigkeit zulasse. Die einzigen Personen, welche diese Ansichten nicht zu teilen schienen, waren diejenigen, welche Fortschritte in der Naturkenntnis und mechanischen Kunst prophezeiten, die hinreichen würden, um die Grundbedingungen der menschlichen Existenz auf dieser Erde zu ändern oder diejenigen, welche sich zu der Lehre bekannten, dass die Armut ein von der Tyrannei und Raubsucht der Regierungen und der Reichen künstlich geschaffenes Ding sein. Selbst ein Denker wie Adam Smith, der uns der Zeit nach so nahe steht und allen seinen Vorgängern so weit vorausgeeilt war, glaubte nicht über das Zugeständnis hinausgehen zu sollen, dass die Arbeiter allenfalls bei einer reißend schnellen Entwicklung des öffentlichen Wohlstandes in eine günstige Lage kommen könnten, 5 das heißt also bei einem Zustande, der noch nie mehr als einen kleinen Teil der Erdoberfläche auf einmal umfasst hat und nirgends bis ins unbegrenzte dauern kann; auch er war der Ansicht, dass sie bei einem stationären Zustand, also bei demjenigen Zustand, dem in einer begrenzten Welt, die aus einer ihren Eigenschaften nach unveränderlichen Materie gebildet ist, die Dinge stets zustreben müssen, notwendig mit Entbehrungen und Mühsalen aller Art zu kämpfen haben würden. Die Ideen der einsichtsvollsten Männer, welche Hrn. Malthus vorausgingen, führten also in der Tat zu jenen trostlosen Vorhersagen, für die man seine Lehre hat verantwortlich machen wollen. Aber alle diese Befürchtungen verschwanden, sobald man die Wahrheiten, welche Hr. Malthus ans Licht gebracht hat5

Anmerkung der Herausgeber: Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. With a Commentary by the Author of “England and America” [E. G. Wakefield]. 4 Bde., London: Knight, 1835-9. Hier 1. Bd., S. 179ff.

D R  A ()

157

te, richtig zu verstehen begann. Man sah dann ein, dass die Vermehrungsfähigkeit der menschlichen Gattung, wie die der Tierwelt überhaupt, da sie die mögliche Vermehrung der Subsistenzmittel, abgesehen von ganz ungewöhnlichen Umständen, weit überbietet, überall durch eines der beiden einschränkenden Prinzipien, den Hungertod oder Klugheit und Wissen, kontrolliert werden muss und kontrolliert wird; dass unter der Einwirkung dieses Kampfes der Lohn gewöhnlicher ungeschulter Arbeit immer und überall (wenn man von zeitweiligen Schwankungen und ganz ausnahmsweisen Konjunkturen ausgeht) auf dem niedrigsten Punkt stehen wird, auf den er mit Einwilligung der Arbeiter herabgedrückt werden kann, auf dem Punkt nämlich, unter den er nicht sinken kann, ohne dass sie auf die Fortpflanzung ihrer Gattung verzichten; dass dieses Minimum, obgleich überall für Menschenglück und Menschenwürde viel zu niedrig, doch an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden sein kann und dass es in einem fortschreitenden Lande im Ganzen die Tendenz hat, zu steigen. Diese Erwägungen lieferten eine genügende Erklärung des Zustands äußerster Armut, in welchem man die Mehrzahl der Menschen fast überall vorgefunden hatte, ohne dass man deshalb an eine in der Natur des Falles begründete Notwendigkeit, an irgendeine allgemeine Ursache zu glauben hätte, die von den anderen Ursachen verschieden wäre, welche den menschlichen Fortschritt überhaupt so langsam und unvollständig machen, wie er in der Tat ist. Und diese Erklärung bot die sichere Hoffnung, dass alles was jenen Fortschritt beschleunigt, auch auf die physische Lage der arbeitenden Klasse eine entscheidende Wirkung äußern werde. Alles, was die Zivilisation des Volkes im Allgemeinen hebt, was die Menschen gewöhnt, ihre Ansprüche in Bezug auf Unterhalt, Bequemlichkeit, Befriedigung des Geschmacks und Lebensgenüsse nach einem höheren Maßstab zu bemessen, gewährt auch an sich schon nach dieser hoffnungsvollen Auffassung der menschlichen Aussichten das Mittel, die Bedürfnisse zu befriedigen, die es hervorruft. Diese Auffassung lehrt uns auch in jeder moralischen oder intellektuellen Wohltat, die der Masse des Volkes erwiesen wird, zugleich eine Bürgschaft ihres physischen Vorteils zu sehen, ein Mittel, das die Arbeiter in den Stand setzt, ihre weltlichen Umstände zu bessern, und zwar nicht dadurch, dass sie, wie ihnen sooft empfohlen wird, nach dem landläufigen Ausdruck „in der Welt emporzukommen“ und aus ihrem Stande zu entschlüpfen suchen, als ob das Geschick, von seiner Hände Arbeit leben zu müssen, nur dann erträglich sein könne, wenn es bloß die Einleitung zu etwas anderem ist, sondern dadurch, dass der Stand selbst auf eine höhere Stufe des physischen Gedeihens und der Selbstachtung erhoben wird. Das sind die Aussichten, welche das vielgeschmähte Bevölkerungsprinzip der Menschheit eröffnet hat. Allerdings gibt es uns auch ferner noch die Lehre, dass jeder Versuch, dasselbe Resultat auf anderem Wege zu erreichen, jeder menschenfreundliche Plan, der seine bewegende Kraft in etwas anderem als in seinem Einfluss auf die Geister und die von ihm unmittelbar oder mittelbar geförderten Gewohnheiten des Volkes sucht, notwendig unfruchtbar bleiben muss, insofern es sich um eine allgemeine Wirkung wohltätiger Art handelt, die er erreichen will. Und da demnach diese Lehre in entscheidenden Gegensatz zu jenen Plänen wohlfeiler Menschenfreundlichkeit tritt, die den Neigungen der Menschen so gut, aber den Anordnungen der Natur so schlecht entsprechen, so dürfen wir uns nicht wundern, dass die Beziehung „Malthusianer“ oder „Nationalökonom“ sooft als gleichbedeutend mit gefühllos, hartherzig und Feind der Armen betrachtet wird – lauter Anschuldigungen, die soweit von der Wahrheit entfernt sind, dass unter allen

158

D  A  B

Denkern von einigen Ansprüchen auf besonnenes Urteil gerade diejenigen, welche die Lehre von Malthus im vollsten Umfang anerkennen, die hoffnungsvollste Ansicht von der künftigen sozialen Lage der Arbeit hegen und die dauernde Steigerung ihrer Entlohnung am nachhaltigsten zum Angelpunkt ihrer politischen Spekulationen gemacht haben. Wenn nun aber auch die dauernde Stelle, welche die Verbesserung der Lage der Arbeiterbevölkerung gegenwärtig in dem Geist denkender Männer einnimmt, von der Zeit herrührt, in der die Untersuchungen von Malthus die Gesetze, welche diese Lage bestimmen, in ein helles Licht stellen, so müssen wir uns doch nach anderen Gründen umsehen, um die Popularität zu erklären, welche diesem Gegenstand als einer bloßen Tagesfrage zu Teil geworden ist, und wir glauben diese Gründe in der Bewegung und Aufregung des öffentlichen Geistes zu finden, die auf den Sieg des Reformgesetzes6 folgte. Es wurde während der Reformkrise vorausgesagt, dass nach Verlauf der Zeit, die vergehen müsste, um die Folgen des Gesetzes deutlich zu Tage treten zu lassen, ihre direkten Wirkungen, die so lebhaft besprochen wurden, sich als ganz unerheblich im Vergleich mit jenen indirekten Wirkungen erweisen würden, die noch gar keinen Gegenstand der Erörterung bildeten und an die kaum irgendjemand zu denken schien. Diese Prophezeiung ist im vollsten Maße in Erfüllung gegangen. Sowohl Freunde wie Feinde des Reformgesetzes scheinen jetzt einigermaßen davon überrascht, dass sie dieser Maßregel, insofern es sich dabei um eine durchgreifende Änderung der Verfassung handelte, eine so große Bedeutung im guten oder im bösen Sinn beigelegt haben. Ihre indirekten Folgen aber sind über alle Berechnung hinausgegangen. Die Reihe von Ereignissen, welche mit der Katholikenemanzipation7 begann und mit dem Reformakt abschloss, hat es zum ersten Mal der gegenwärtigen Generation praktisch zum Bewusstsein gebracht, dass wir in einer Welt des Wechsels leben. Sie gab den alten Gewohnheiten den ersten gewaltigen Stoß und leistete auf politischem Gebiet, was die Reformation auf dem religiösen geleistet hatte, indem sie die Vernunft statt der Autorität zum anerkannten Maßstab der Dinge erhob. Indem sie dem Publikum klarmachte, dass wir auf einer neuen See schiffen, zerstörte sie die Kraft der instinktiven Abneigung gegen jeden neuen Kurs. Reformen haben noch immer Widerstand von Seiten derjenigen zu erwarten, deren Interessen sie berühren oder zu berühren scheinen, aber die Neuerung steht nicht mehr in ihrer Eigenschaft als bloße Neuerung von vornherein unter dem Bann. Das bestehende System hat sein Prestige verloren; es hat aufgehört, das System zu sein, zu dessen Verehrung die Tories herangebildet zu werden pflegten und ist noch nicht das geworden, was die Liberalen zu ersehnen gewohnt waren. Wenn nun ein weitverbreitetes soziales Übel auf von dieser Denkweise geprägte Geister traf, so war mehr Aussicht vorhanden als zu irgendeiner Zeit während der letzten zwei Jahrhunderte, dass man es mit dem wirklichen Wunsch, ein Gegenmittel zu finden oder wenigstens ohne den vorhergefassten Entschluss, alles beim Alten zu lassen, prüfen werde. Dass die Missstände in der Lage der Arbeiterklasse dem Geist der Nation in der nachdrücklichsten Weise vorge-

6 7

Anmerkung der Herausgeber: 2 & 3 William IV, c. 45 (1832). Anmerkung der Herausgeber: Mit dem katholischen Emanzipationsgesetz erhielten die Katholiken in Großbritannien und Irland alle Bürgerrechte. Siehe 10 George IV, c. 7 (1829).

D R  A ()

159

führt werden sollten, dafür sorgten diese Klassen selbst. Der Inbegriff ihrer Beschwerden wurde in der Volkscharte8 verkörpert. Die demokratische Bewegung unter den arbeitenden Klassen, die man gewöhnlich Chartismus nennt, bezeichnete den ersten offenen Bruch zwischen den Interessen, Gefühlen und Ansichten der Arbeiterbevölkerung und jenen der oberen Klassen. Es war die Auflehnung fast des gesamten tätigen Talentes und eines großen Teils der physischen Kraft jener Bevölkerung gegen ihre Stellung in der Gesellschaft. Ein solcher Protest musste auf die gewissenhaften und mitfühlenden Geister unter den herrschenden Klassen einen starken Eindruck machen. Sie konnten nicht umhin, sich mit Besorgnis zu fragen, was sich denn darauf erwidern lasse und wie man die bestehenden gesellschaftlichen Anordnungen denen gegenüber rechtfertigen könne, welche sich durch dieselben benachteiligt fühlten. Es schien höchst wünschenswert, die Wohltaten, welche die Armen jenen Anordnungen verdankten, weniger fraglich zu machen und sie in greifbarere Form zu bringen, die sich nicht so leicht dem Blick entziehen könne. Wenn die Klagen der Armen berechtigt waren, so hatten die höheren Klassen ihre Herrscherpflichten nicht erfüllt; waren sie unbegründet, so hatten jene Klassen ebenfalls ihre Pflicht versäumt, indem sie die Armen so roh und unwissend aufwachsen ließen, das sie solchen schädlichen Täuschungen zugänglich wurden. Während die von den Arbeitern geltend gemachten politischen Ansprüche einen Teil der Mitglieder der begünstigteren Klasse in dieser Weise beeinflussten, gab es wieder andere, auf welche jene Erscheinung eine ganz verschiedene Wirkung hatte, die aber zu demselben Resultat führte. Während nämlich die einen aus den physischen und moralischen Umständen, die sie in ihrer Umgebung wahrnahmen, die Überzeugung schöpften, dass die Lage der arbeitenden Klasse berücksichtigt werden sollte, kamen andere zu der Einsicht, dass sie sicher berücksichtigt werden würde, gleichviel ob man es wünsche oder nicht. Aus dem Sieg von 1832, den man der Schaustellung, wenn auch nicht der wirklichen Anwendung physischer Gewalt verdankte, hatten diejenigen eine Lehre gezogen, welche nach der Natur des Falles die physische Gewalt immer auf ihrer Seite haben und die nur einer vollständigeren Organisation bedurften, welche bereits in raschem Fortschritt begriffen war, um ihre physische Gewalt in eine moralische und soziale zu verwandeln. Es ließ sich nicht länger darüber streiten, dass etwas geschehen müsse, um die Masse des Volkes mit dem bestehenden Zustand der Dinge mehr auszusöhnen. So lange Ideen nicht von äußeren Umständen begünstigt werden, pflegt ihre Wirkung in menschlichen Dingen weder eine rasche noch eine unmittelbare zu sein und auf der anderen Seite können die günstigsten äußeren Umstände ungenutzt vorbeigehen und fruchtlos bleiben, weil die der Konjunktur entsprechenden Ideen fehlen. Wenn aber die rechten Umstände und die rechten Ideen zusammentreffen, so pflegt die Wirkung bald 8

Anmerkung der Herausgeber: Die ‚Volkscharte‘ (engl. ‚People’s Charter‘) war ein 1836 von der sogenannten „London Working Men’s Association“ ausgearbeiteter Gesetzesentwurf, bestehend aus 39 Artikeln. Er forderte, u. a. gleiches Stimmrecht für alle Männer über 21, eine gleichmäßige Aufteilung der Wahlbezirke sowie die Abschaffung der Vermögensqualifikation für Wahlkandidaten. Um die ‚Volkscharte‘ formierte sich der sogenannte ‚Chartismus‘; eine demokratische Arbeiterbewegung im England der 1830er und 1840er Jahre, die sich mittels der Forderung nach politischen Reformen für die Emanzipation der Arbeiterklasse einsetzte.

160

D  A  B

zu Tage zu treten. Wie die Dinge damals lagen, setzen wir einen großen Teil der Wirkung auf Rechnung gewisser Schriftsteller, die das, was manche entweder dachten oder zu denken begannen, zum ersten Mal ausdrücklich aussprachen. Zu diesen Schriftstellern ist Hr. Carlyle zu zählen, dessen „Chartismus“9 und „Einst und jetzt“10 offen das waren, was vieles in seinen früheren Schriften nebenbei gewesen war, eine entrüstete Strafrede, die den höheren Klassen ihre Unterlassungssünden gegen die unteren vorhielt und die ihr Verhalten in dieser Beziehung den nach seiner Ansicht weit wirksameren Bemühungen der Herrschergewalten früherer Zeiten gegenüberstellt. Als Vertreter dieser wie jener Ansicht fand er Bundesgenossen, die von dem gerade entgegengesetzten Punkt des politischen Horizontes kamen; in all denen, die der Geist des Widerstrebens gegen die demokratischen Tendenzen ihrer Zeit mit der größten Heftigkeit in die Richtung des feudalen und priesterlichen Übergewichtes weggetrieben hatte. Wie man in den Zeiten der Stuarts von kirchlichen und staatlichen Puritanern sprach, gibt es jetzt auch neben den kirchlichen Puseyiten11 eine Art staatlicher Puseyiten; Männer nämlich, die mit Sehnsucht nach jener Zeit zurückblicken, wo alle sozialen Ideen des Armen darin gipfelten, dass er dem nächsten großen Grundbesitzer Gehorsam zu leisten und von ihm Schutz zu erwarten habe, und die einstweilen das Recht des Armen auf Schutz vertreten in der Hoffnung, dass der Gehorsam nachfolgen werde. Um die Erklärung des Aufschwungs, welchen das Mitgefühl für die Armen gewonnen hat, zu vervollständigen, darf man nicht übersehen, dass bis vor kurzen nur wenige ihre wahre Lage ausreichend kannten. Die Agitation gegen das Armengesetz,12 schlecht wie sie ihrem Gegenstand und ihrer Wirkung nach war und ist, hatte doch das Gute, dass sie unaufhörlich die Aufmerksamkeit auf einzelne Fälle von Elend lenkte. Die von der Armengesetzkommission angeregten Nachforschungen und die amtlichen Untersuchungen der letzten Jahre haben eine Menge Tatsachen ans Licht gebracht, die einen großen Eindruck auf das Publikum machten und die Parteikämpfe, die sich um die Korngesetze13 entspannen, wurden vielfach Veranlassung, die Armut und das Elend großer Massen des Volkes zu enthüllen. Die Partei der Landwirte suchte sich an ihren Gegnern durch grelle Schilderungen der unter den Fabrikarbeitern herrschenden Not und Verkommenheit zu rächen und die Liga zahlte ihnen ihre Angriffe mit Zinsen heim, indem sie die ländlichen Bezirke von Emissären bereisen ließ und die beklagenswerte Armut der ländlichen Arbeiter dem Publikum bekannt machte. Aus allen diesen verschiedenen Gründen ist ein Gefühl geweckt worden, das bald bei Wahlen ebenso einflussreich sein würde, wie die Antisklavereibewegung vor einigen 9 10 11

12 13

Anmerkung der Herausgeber: Thomas Carlyle. Chartism. London: Fraser, 1840. Anmerkung der Herausgeber: Ders., Past and Present. London: Chapman and Hall, 1843. Anmerkung der Herausgeber: Als ‚Puseyiten‘ werden die Anhänger des nach dem Englischen Kleriker und Oxford-Professor Edward Bouverie Pusey (1800–1882) benannten ‚Puseyismus‘ bezeichnet – ein Zweig der um 1830 innerhalb der anglikanischen Kirche entstandenen OxfordBewegung, die entgegen der von den Whigs angestrebten Liberalisierung der Kirche eine Rückbesinnung auf die Kirchenväter forderten und somit die dem Anglikanismus zugrunde liegenden katholischen Prinzipien stärker zu betonen suchten. Anmerkung der Herausgeber: 4 & 5 William IV, c. 76 (1834). Anmerkung der Herausgeber: Eingeführt mit 55 George III, c. 26 (1815) und abgeschafft mit 9 & 10 Victoria, c. 22 (1846).

D R  A ()

161

Jahren war und das über ein gleiches Kapitel verfügen würde, wie die Missionsgesellschaften, wenn es nur ein ebenso bestimmtes Ziel verfolgte. Der Strom fließt einstweilen in einer Menge kleiner Kanäle. Vereine zum Schutz der Näherinnen, der Gouvernanten, Gesellschaften zur Verbesserung der Wohnungen der arbeitenden Klassen, zur Anlage von Bädern, Parks und Promenaden für die Armen, sind plötzlich emporgeschossen. Der Antrag auf ein Einschreiten der Gesetzgebung zum Zweck der Abkürzung der Arbeitszeit in den Fabriken hat im Unterhaus starke Minoritäten und einmal sogar eine vorübergehende Majorität erzielt und es mehren sich die Versuche, mit Einwilligung der Arbeitgeber eine ähnliche Abkürzung in manchen Zweigen des Kleingewerbes durchzusetzen. In den ländlichen Bezirken findet jeder Plan zur Beschäftigung der Arbeitslosen, mag er nun parteilich sein oder nicht, seine Verfechter und die Bewegung zu Gunsten des „Zuweisungssystems“ [allotment system] wird immer allgemeiner. Wenn diese und andere Versuche, der Not abzuhelfen, dem Publikum nur in dem Lichte von Akten gewöhnlicher Mildtätigkeit erscheinen, so würden sie in der öffentlichen Erörterung keinen so beträchtlichen Raum einnehmen und keines besonderen Kommentars bedürfen. Sein Geld zu Almosen hergeben, ist bei uns wie in den meisten anderen Ländern nie eine seltene Tugend gewesen. Mildtätige Anstalten und Leistungen von Beiträgen zur Unterstützung von Armen waren bereits in Menge vorhanden, und wenn neue Formen des Leidens und neue Arten von Leidenden, die man früher übersehen hatte, jetzt der öffentlichen Beachtung empfohlen wurden, so war nichts natürlicher, als dass man für sie dasselbe tat, was man schon für andere getan hatte. Die Menschen geben gewöhnlich Almosen, um ihrem Gefühl des Mitleidens Genüge zu tun oder durch Verwendung eines Teiles ihres Überflusses zur Linderung der Not einzelner Leidender eine ihnen nach ihrer Ansicht obliegende Pflicht zu erfüllen; darüber hinaus denken sie nicht und sind auch in der Regel dazu nicht befähigt. Aber das ist nicht der Geist, in welchem diese neuen Pläne der Mildtätigkeit erdacht sind. Sie werden als Abschlagszahlungen auf die große soziale Reform in Vorschlag gebracht. Sie werden als Beginn einer neuen moralischen Ordnung oder als Wiederbelebung einer alten moralischen Ordnung gefeiert, in welcher die großen Eigentümer wieder ihre Stelle als väterliche Beschützer der weniger begünstigten Klassen einnehmen sollen und die angeblich, sobald sie einmal fest begründet ist, Friede und Einheit in die Gesellschaft zurückführen, und zwar nicht die Armut, was kaum für wünschenswert zu gelten scheint, wohl aber die grellsten Formen des Lasters, der Entbehrung und des physischen Elends beseitigen soll. Was bisher auf dieser glänzenden, dem Fortschritt eröffneten Bahn getan wurde, ist sehr wenig im Vergleich mit den Gegenständen, die man als Ziel hinstellte und mit den Theorien, die man proklamierte. Diese Theorien beschränken sich jetzt nicht mehr auf den Kreis spekulativer Männer und erklärter Philanthropen; sie sind durch emsige, von Tag zu Tag wiederkehrende Einprägung jedem Zeitungsleser geläufig gemacht worden. Es ist deshalb nicht überflüssig, zu erwägen, ob diese Theorien und die Erwartungen, die man auf sie baut, vernünftig oder chimärisch sind und ob der Versuch, sie auszuführen, sich voraussichtlich mit der Natur des Menschen und der Welt, in der er lebt, schließlich als vereinbar erweisen wird oder nicht. Es wäre unbillig gegen diese Theoretiker, sie nach irgendetwas zu beurteilen, was bereits angefangen oder auch nur projektiert worden ist. Wollte man sie fragen, ob sie irgendetwas ersprießliches für das allgemeine Interesse der Arbeiter von einer Gesellschaft der Arbeiterfreunde oder von einer Gesell-

162

D  A  B

schaft für notleidende Näherinnen erwarten, so würden sie antworten, dass sie das nicht tun, dass alles derartige nur der erste Keim ist, aus dem sie einen stattlichen und weitschattenden Baum heranzuziehen hoffen, dass ihre Absichten nicht bloß dahin gehen, die Übel einer niedrigen Entlohnung der Arbeit zu mildern, sondern dass sie durchaus einen hohen Lohn erreichen müssten, „einen ehrlichen Tagelohn für ein ehrliches Tagewerk“,14 wie sich die Arbeiter während der letzten Unruhen ausdrückten, dass sie hoffen, es so weit zu bringen und mit nichts Geringerem zufrieden sein werden. Hier also haben wir den Boden, auf dem wir ihnen im ehrlichen Kampf begegnen können. Das Ziel ihrer Bestrebungen ist auch das unsere. Es handelt sich bei der Frage lediglich um die Mittel und nicht um den Zweck. Diese Mittel wollen wir jetzt etwas näher ins Auge fassen. Ihre Theorie scheint in kurzen Worten folgende zu sein: Dass es eine spezielle Obliegenheit der begüterten Klasse und besonders der Arbeitgeber und Grundeigentümer sei, für das Wohlbefinden der Arbeiterbevölkerung zu sorgen; dass diese stets gute Löhne zahlen sollten; dass sie ferner all den Arbeitgebern, die nicht in diesem Sinne handeln, ihre Kundschaft, ihre Empfehlung und alle sonstigen Vorteile, die zu ihrer Verfügung stehen, zu entziehen hätten; dass sie gegen eine gute Entlohnung eine so große Anzahl von Personen beschäftigen sollten, als ihnen ihre Mittel irgend erlaubten; dass sie die tägliche Arbeitszeit auf eine Stundenzahl zu beschränken hätten, die mit physischem Behagen und der nötigen Muße zur Erholung und Fortbildung verträglich wäre; dass sie endlich, wenn sie Ländereien zu verpachten oder Häuser zu vermieten haben, keinen höheren Zins verlangen und erhalten sollten als einen solchen, der mit Leichtigkeit gezahlt werden kann, und dass sie bereit sein sollten, um eines solchen leicht zu zahlenden Zinses willen, warme, luftige, gesunde und geräumige Arbeiterwohnungen für jede beliebige Zahl von jungen Paaren zu bauen, die danach Verlangen trügen. All das wird zwar nicht in direkten Worten gesagt, aber was gesagt wird, kommt alldem wenigstens sehr nahe. Diese Prinzipien bilden den Maßstab, nach welchem wir täglich die Handlungsweise von Klassen und von Individuen abmessen und verurteilen sehen, und wenn diese Prinzipien nicht wahr sind, so ist die neue Lehre sinnlos. Wir können diese Darstellung als ein treues Gemälde der „neuen moralischen Welt“15 betrachten, welche die jetzige philanthropische Bewegung zu schaffen beabsichtigt. Die Menschheit wird oft von Theologen und Moralisten vor einem unvernünftigen Übermaß der Erwartungen gewarnt. Wir legen größeren Wert auf die weniger umfassende Warnung vor Inkonsequenz in den Erwartungen. Der gesellschaftliche Zustand, den uns jenes Gemälde vorführt, ist denkbar. Wir wollen gegenwärtig nicht untersuchen, ob er auch nur als bloße Utopie betrachtet unter allen anderen der wünschenswerteste sei. Wir fragen nur, ob die Fürsprecher eines solchen Zustandes der Gesellschaft bereit sind, mit ihm zugleich auch seine unvermeidlichen Konsequenzen hinzunehmen. Es ist vollkommen möglich, den höheren Klassen als moralische oder gesetzliche Verpflichtung aufzuerlegen, dass sie für das Wohlverhalten und die Wohlfahrt der unteren Klassen verantwortlich sein sollen. Es hat Zeiten und Örtlichkeiten gegeben, in denen dies wirklich bis zu einem gewissen Grad der Fall war. Es existieren gesellschaftliche 14 15

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Carlyle, Past and Present, S. 24 und passim. Anmerkung der Herausgeber: Siehe Robert Owen, The Book of the New Moral World. London: Wilson, 1836.

D R  A ()

163

Zustände, in denen es als anerkannte Pflicht jedes Besitzers von Ländereien gilt, nicht nur alle Personen, die auf denselben leben und arbeiten, in ausreichender Weise mit Nahrung, Kleidung und Wohnung zu versehen, sondern auch so vollständig für ihre gute Aufführung verantwortlich zu sein, dass er alle anderen für jeden Schaden, den sie anrichten, für jede Rechtsverletzung, die sie sich zu Schulden kommen lassen, entschädigen muss. Das muss sicherlich der ideale Zustand derjenigen Gesellschaft sein, welche die modernen Philanthropen herbeiführen möchten. Und wer sind die glücklichen Arbeiter, die sich der Segnungen dieser weisen Ordnung der Dinge erfreuen? Die russischen leibeigenen Bauern! Es existieren auch noch andere Arbeiter, und zwar Arbeiter, die nicht bloß den Acker bauen, sondern in großen fabrikähnlichen Anstalten beschäftigt sind, für die selbst in unserem Land und in unserer Zeit die Gesetze in der Weise vorsorgten, dass sie die Arbeitgeber anhielten, ihnen gesunde Nahrung zu liefern und sie mit ausreichender Kleidung und Wohnung zu versehen. Wer waren diese Arbeiter? Die Sklaven auf einer westindischen Plantage! Die Beziehung, welche man zwischen den Grundherren und Fabrikanten einerseits und den Arbeitern andererseits einführen möchte, ist also keineswegs eine beispiellose. Die ersteren sind schon manchmal genötigt worden, die letzteren zu erhalten, ihnen Arbeit zu verschaffen oder sie als Müßiggänger zu ernähren. Aber diese Verpflichtung hat nie existiert und kann und wird nie existieren, ohne dass ihr die absolute oder nahezu absolute Gewalt derer, welche den Unterhalt zu gewähren haben, über diejenigen, welche ihn zu empfangen berechtigt sind, als Gegengewicht beigesellt wäre. Eine solche Beziehung hat aber zwischen Menschen nie bestanden, ohne sofort den Charakter des abhängigen Teiles herabzuwürdigen. Sollen wir andere Beispiele von Fällen wählen, in welchen die Dinge nicht ganz so weit auf die Spitze getrieben werden? Es gibt Regierungen in Europa, die es als ihre Pflicht betrachten, für die physische Wohlfahrt und das behagliche Leben des Volkes zu sorgen. Dahin gehört die österreichische Regierung, soweit es sich um ihre deutschen Länder handelt, und einige von den kleineren deutschen Regierungen. In diesen Staaten finden wir die Eheschließung strengen Beschränkungen unterworfen; niemand erhält eine Heiratsbewilligung, wenn er der Behörde nicht den Nachweis liefert, dass er eine vernünftige Aussicht hat, eine Familie ernähren zu können. Man hätte erwarten sollen, dass die Apostel der neuen Theorie wenigstens auf so viel vorbereitet sein würden. Sie können unmöglich der Ansicht sein, dass die arbeitenden Klassen die Freiheit der Handlung unabhängiger Bürger mit den Vorteilen der Sklaven verbinden sollen. Es gibt nur zwei Arten der gesellschaftlichen Existenz für menschliche Wesen; sie müssen entweder die natürlichen Folgen ihrer Missgriffe im Leben tragen oder die Gesellschaft muss solche Missgriffe durch Vorkehrungen oder Strafe zu verhüten suchen. Für welche der beiden Arten werden sich die modernen Philanthropen entscheiden? Wenn es wirklich allen, deren Besitz für etwas mehr als ihren bloßen Unterhalt ausreicht, obliegen soll, allen, die sich darum melden, guten Lohn und ein behagliches Heim zu bieten, so kann es doch sicherlich nicht beabsichtigt werden, den letzteren zu gestatten, auf Kosten anderer dem Instinkt der Vermehrung zu folgen, bis alle auf dieselbe Stufe gebracht worden sind, wie sie selber. Wir hätten deshalb erwartet, dass die Philanthropen auf die Bedingungen eingehen und ein Maß von Einschränkung befürworten würden, dass gerade ausreichend wäre, um zu verhüten, dass das Gute, was sie beabsichtigen, ein weitaus überwiegendes Übel nach sich ziehe. Zu unserer großen

164

D  A  B

Überraschung finden wir, dass gerade sie der häuslichen Freiheit der Armen kein Jota vergeben wollen. Der Sturm der Entrüstung gegen die Armengesetze findet unter ihnen seine hauptsächlichsten Organe. Weit davon entfernt, zuzugeben, dass ein Mann außerhalb des Armenhauses irgend einer Beschäftigung unterworfen werden dürfe, die ihm nicht seine eigene Klugheit diktiert, sträuben sie sich sogar dagegen, ihm eine solche Beschränkung auferlegen zu lassen, während er tatsächlich auf Kosten anderer ernährt wird. Sie sind es, die von Armenbastillen sprechen. Sie können es nicht ertragen, dass auch nur ein Arbeitshaus eine Stätte der Regelung und der Zucht sein soll, dass auch nur dort irgendein äußerer Zwang geübt werde. Ihr bitterster Vorwurf gegen das gegenwärtige Unterstützungssystem ist der, dass es die Trennung der Geschlechter erzwinge. Die höheren und mittleren Klassen sollen und würden wahrscheinlich auch bereit sein, dem Zweck einer Verbesserung der Lage der gegenwärtigen Arbeitergeneration einen sehr beträchtlichen Teil ihrer Mittel zu opfern, wenn sie hoffen könnten, dadurch auch der zukünftigen Generation ähnliche Vorteile zuzuwenden. Weshalb aber sollte man sie auffordern, diese Opfer zu bringen, bloß damit das Land eine größere Anzahl Bewohner erhalte, die in ebenso großer Armut leben und dem äußersten Mangel ebenso ausgesetzt sein würden, wie die bedürftigen Klassen es jetzt sind? Wenn jeder, der zu wenig hat, von den Besitzenden verlangen kann, aus diesem zu wenig mehr zu machen, so gibt es keinen Ausweg als Beschränkungen der Eheschließung in Verbindung mit Strafbestimmungen wegen unehelicher Geburt, die so streng sein müssten, dass es kaum möglich sein würde, sie unter einem sozialen System geltend zu machen, unter dem jeder Erwachsene wenigstens dem Namen nach sein eigener Herr ist. Ohne derartige Vorkehrungen würde das verheißene Millennium in wenig mehr als einem Menschenalter die Bewohner jedes beliebigen Landes in Europa auf dieselbe Stufe allgemeiner Armut herabdrücken. Wenn man also beabsichtigt, dass das Gesetz oder die besitzenden Klassen die Vermehrung der Bevölkerung überwachen oder regeln sollen, so möge man uns das einfach sagen und darüber belehren, wie man das anfangen will. Ohne Zweifel wird man uns aber entgegnen, dass etwas Derartiges unerträglich sein würde, dass man bei dem gegenwärtigen Zustand der englischen Gesellschaft und öffentlichen Meinung an solche Dinge nicht im Traum denken dürfe, dass bei dem Geist der Gleichheit und der Liebe zur individuellen Freiheit, die selbst die ärmsten Klassen durchdringen, niemand geneigt sein werde, um den Preis reichlichen Essens und Trinkens die Regelung seiner persönlichen Angelegenheiten der Entscheidung eines Anderen zu unterwerfen. Dann sind aber auch alle Pläne, welche die Löhne der Regelung durch Angebot und Nachfrage entziehen und die Arbeiter durch andere Mittel erheben wollen, als durch solche Änderungen in ihrer geistigen Verfassung und ihren Gewohnheiten, die sie selbst zu geeigneten Hütern ihrer physischen Lage machen, nichts Anderes als Pläne, die darauf abzielen, das Unvereinbare zu vereinbaren. Vor faktischem Mangel an den notwendigsten Lebensbedürfnissen und vor jedem Übermaß körperlichen Leides sollten sie unter angemessenen Bedingungen durch öffentliche oder private Wohltätigkeit geschützt werden und wir hoffen, dass sie es bereits sind. Aber selbst, wenn das ganze Einkommen des Landes in der Form von Arbeitslöhnen und Armentaxen unter sie verteilt würde, so wäre doch eine dauernde Verbesserung ihrer Lage nicht zu erreichen, solange sie selbst sich nicht ändern.

D R  A ()

165

Und wie soll diese Änderung erfolgen, solange wir fortfahren, ihnen immer zu wiederholen, dass ihr Lohn für sie geregelt werden wird und dass es nicht ihre, sondern anderer Leute Aufgabe ist, die Löhne hoch zu erhalten? Alle Klassen sind bereit genug, auch ohne Zureden zu glauben, dass alle ihre Leiden nicht ihrer eigenen Schuld, sondern den Verbrechen anderer zuzuschreiben sind und dass es dem Verbrecher Straflosigkeit zugestehen hieße, wenn sie versuchen wollten, durch irgendeine Bemühung oder ein Opfer von ihrer Seite die Übelstände zu beseitigen. Die französische Nationalversammlung hat vielfach Tadel erfahren müssen, weil sie in rhetorischem Stil von den Menschenrechten sprach und dabei ganz vergaß, etwas von den Pflichten zu sagen. Ganz denselben Missgriff lässt man sich jetzt in Bezug auf die Rechte der Armut zu Schulden kommen. Sicherlich würde niemand seiner Menschenfreundlichkeit etwas vergeben, wenn er in Erwägung ziehen wollte, dass es zwei verschiedene Dinge sind, den Reichen zu sagen, dass sie sich der Armen annehmen sollen oder den Armen zu sagen, dass die Reichen sich ihrer anzunehmen haben, und dass es heutzutage naiv wäre, glauben zu wollen, die Armen würden etwas nicht hören, weil es nicht für ihre Ohren bestimmt ist. Es ist allerdings sehr wahr, dass die Reichen in Bezug auf ihr Verhalten gegen die Armen viel zu verantworten haben. Was aber ihre Armut anbelangt, so hätten ihnen die Reichen in keiner anderen Weise helfen können als dadurch, dass sie sie bestimmen, sich selbst zu helfen; und wenn wir einerseits die Reichen auffordern, diese Unterlassung gut zu machen, andererseits aber nach besten Kräften den Armen vorpredigen, dass sie die Lektion nicht zu beachten brauchen, so müssen wir in der Tat sehr wenig von den Gefühlen und Lehren kennen, die den Geist der Armen bereits erfüllen. Wenn wir in dieser Weise fortfahren, kann es uns vielleicht gelingen, die Gesellschaft durch eine sozialistische Revolution zu sprengen, aber die Armen und ihre Armut werden dabei noch schlimmer wegkommen als bisher. Das erste Mittel besteht also darin, dass wir uns enthalten, unserem eigenen Zweck direkt entgegenzuarbeiten. Das zweite und nächstliegende ist die Erziehung. Und in der Tat ist dies, wenn man das Wort in seinem weiteren Sinne auffasst, nicht bloß das vornehmste, sondern das einzige Mittel. Eigentlich bildet alles, was auf die Geister der Arbeiter einwirkt, ihre Erziehung. Ihre Geister werden aber, ganz wie die anderer Leute, durch die Gesamtheit ihrer sozialen Verhältnisse beeinflusst und oft ist der Teil ihrer Erziehung, den man gewöhnlich mit diesem Namen bezeichnet, gerade der am wenigsten wirksame. Aber selbst die Bedeutung einer Erziehung in diesem verhältnismäßig engen Sinn kann kaum überschätzt werden. Wir haben kaum mehr als einen schwachen Anfang dessen gesehen, was schon bloßer Schulunterricht für das Land zu leisten vermöchte. Die religiösen Rivalitäten, welche leider den Preis bilden, um den wir nach dem Gang unserer Geschichte das Maß religiöser Freiheit erkaufen mussten, das wir besitzen, haben bis jetzt jeden Versuch vereitelt, die Wohltat allgemein zu machen. Indessen, wenn die Kinder verschiedener Verbände nicht zusammen unterwiesen werden können, so können sie doch getrennt Unterricht erhalten. Und wenn wir nach dem Eifer schließen dürfen, den die Kirche und die Diffenters an den Tag gelegt, sowie nach den Summen, die sie aufgebracht haben, seit die Regierungsmaßregel vor zwei Jahren aufgegeben wurde, so fehlt es keineswegs an Geldmitteln für den Unterhalt von Schulen, selbst wenn man ganz von der Hilfe absieht, die der Staat sicherlich gewähren wird. Unglücklicherweise fehlt etwas, was keine Geldmittel ersetzen können, nämlich der rechte und aufrichtige Wunsch,

166

D  A  B

den Zweck zu erreichen. Es hat während der letzten dreißig Jahre Schulen genug in England gegeben, um das Volk zu regenerieren, wenn nur überall dort, wo die Mittel sich vorfanden, auch der Zweck wünschenswert erschienen wäre. Nicht überall, wo Schulen existieren, existiert auch der Wunsch zu erziehen. Man wünscht vielleicht, dass die Kinder die Bibel lesen, in den kirchlichen Schulen auch, dass sie den Katechismus hersagen lernen. In den meisten Fällen ist ein schwacher Wunsch vorhanden, dass sie mehr lernen, in vielen Fällen herrscht eine entschiedene Abneigung dagegen. Schullehrer sind, wie andere öffentliche Beamte, selten geneigt, mehr zu tun, als von ihnen verlangt wird, aber wir glauben, dass der Armenunterricht beinahe die einzige Amtspflicht ist, bei deren Erfüllung die Zahlenden ihre eigenen Beauftragten mehr hemmen als antreiben. Ein Lehrer, der mit dem Herzen bei seiner Arbeit ist und die Unterweisung etwas weiter auszudehnen sucht, sieht sich oft in seinem Streben am meisten durch die Besorgnis der Gönner und Aufsichtsräte behindert, welche fürchten, die Armen könnten „überbildet“ werden, und wird genötigt, die handgreiflichsten Ausflüchte anzuwenden, damit ihm nur gestattet wird, die ersten Anfangsgründe des Wissens zu lehren. Die vier Grundrechenarten verdanken ihre Duldung oft nur dem Umweg durch lächerliche Fragen über Jacobs Lämmer oder der Zahl der Apostel und Patriarchen und nur durch Karten von Palästina können Kinder in der Geographie unterrichtet werden, die erst noch zu lernen haben, dass Europa, Asien, Afrika und Amerika Erdteile sind. Es lässt sich nicht weiter mit denjenigen streiten, welche glauben, dass dies der Weg ist, Religion zu lehren oder dass ein Kind die Bibel umso besser verstehen wird, je weniger es lernt, irgendetwas anderes zu verstehen. Wir unterlassen es hier, die Fälle näher zu beleuchten, in welchen kirchliche Schulen nur zu dem Zweck eröffnet wurden, durch den Einfluss von Vorgesetzten die Kinder aus einer bereits bestehenden Diffenterschule wegzuziehen, worauf man dann, sobald dieser Zweck erreicht und die Diffenterschule geschlossen war, auch die rivalisierende Schule ruhig eingehen ließ. Ein Vorgehen in diesem Geiste muss jedem wohlmeinenden Menschen unerträglich erscheinen, der eine Ahnung davon hat, wie wertvoll selbst die gewöhnlichste Kenntnis für den Armen ist. Wir wissen nicht, wie es damit in anderen Ländern und unter einem Volke von behenderem Geiste steht, aber in England wird in einem kaum glaublichen Grad alles, was bei der niedrigsten Klasse der Arbeiterbevölkerung moralisch verwerflich ist, durch das niedrige Maß ihrer Verstandeskräfte genährt, wenn nicht geradezu erzeugt. Die kindische Leichtgläubigkeit, mit der diese Arbeiter alles aufnehmen, was aus ihrer eigenen Klasse kommt; ihre Unfähigkeit, das zu beobachten, was vor ihren Augen vorgeht; ihr Ungeschick, bei anderen Gesinnungen zu begreifen oder für möglich zu halten, die sie zu erwarten nicht gelernt haben und die sie bei sich selbst nicht wahrnehmen – das alles sind charakterliche Eigenschaften von Personen geringer geistiger Begabung in allen Klassen. Was aber ohne Erfahrung nicht in gleicher Weise glaubhaft erscheinen würde, ist ein Mangel an Räsonnement und Berechnung, der sie gegenüber ihrem unmittelbaren Eigeninteresse gleichgültig sein lässt. Wenige haben genügend erwogen, wie sehr jeder, der diesen Leuten auch nur die gewöhnlichste weltliche Weisheit einflößen und sie auch nur den Berechnungen selbstsüchtiger Klugheit zugänglich machen könnte, ihre Handlungsweisen in allen Beziehungen des Lebens verbessern und den Boden für das Wachstum richtiger Gefühle und würdiger Neigungen frei machen würde.

D R  A ()

167

Um zu ermessen, was Schulen leisten können, brauchen wir nur an das zu denken, was schottische Kirchspielschulen in früherer Zeit geleistet haben. Der Fortschritt des Wohlstandes und der Bevölkerung hat den Mechanismus dieser Schulen überholt und besonders in den Städten sind sie nicht mehr vom selben Nutzen; aber wie viel verdankt ihnen nicht der schottische Bauer! Seit zwei Jahrhunderten finden wir im schottischen Bauern, im Vergleich mit Menschen derselben Klasse in anderen Verhältnissen, ein überlegendes, beobachtendes und in Folge dessen auch ganz natürlich ein sich selbst beherrschendes, moralisches und gebildetes menschliches Wesen und nur deshalb, weil er ein lesendes und diskutierendes Wesen war; und dies verdankt er vor allem den Kirchenschulen. Was ist während dieser ganzen Zeit der englische Bauer gewesen? Wir können uns deshalb versichert halten, dass man nie zu viel tun wird, wenn man dem Armen Gelegenheit gibt, seine Fähigkeiten zu üben, und sich bemüht, ihm eine möglichst große Fülle mannigfacher Ideen zugänglich zu machen. Wir begrüßen darum mit Freuden die wohlfeilen Bibliotheken, die selbst dem Ärmsten einen mehr oder minder belehrenden und, was ebenso wichtig ist, auf Erweckung seines Interesses berechneten Stoff liefern. Indessen bilden Bücher und Buchwissen nicht die ausschließliche, ja nicht einmal die hauptsächliche Grundlage für die Erziehung der arbeitenden oder irgendwelcher anderer Klassen. Leseschulen sind nur sehr unvollkommene Dinge, wenn sie nicht systematisch mit Gewerbeschulen in Verbindung gebracht werden; und zwar sollen diese ihre Zöglinge nicht bloß zu besseren Arbeitern, sondern zu vollkommeneren menschlichen Wesen heranbilden. Durch das Tun werden die Fähigkeiten mehr geweckt als durch Worte, mehr wenigstens als durch Worte, die von keinem Tun begleitet sind. Was uns Not tut, sind Schulen, in denen die Kinder nicht nur lernen ihre Hände, sondern zur Leitung ihrer Hände auch ihren Geist zu gebrauchen; Schulen, in denen sie unterwiesen werden, die Mittel dem Zweck anzupassen; die sie damit vertraut machen, wie dieselbe Arbeit durch verschiedene Verfahrensweisen geleistet werden kann und die sie mit dem Verstand deutlich begreifen lehren, worin der Unterschied zwischen der richtigen und der falschen Art des Vorgehens bei industriellen Verrichtungen besteht. Mittlerweile würden sie sich nicht nur Geschicklichkeit im Gebrauch ihrer Hände, sondern auch Gewohnheiten der Ordnung und der Regelmäßigkeit aneignen, die ihnen für ihr späteres Leben vom größten Nutzen sind und mit der Bildung des Charakters mehr zu tun haben, als sich mancher träumen lässt. Solche Dinge würden mehr, als man gewöhnlich glaubt, dazu beitragen, diese vernachlässigten Geschöpfe in verständige Wesen zu verwandeln – in Wesen, die einer Voraussicht fähig und für Vernunftgründe und Motive, die sich an ihre Einsicht wenden, empfänglich sind; und demnach auch nicht von jenen völlig sinnlosen Arten des Fühlens und Handelns beherrscht werden würden, welche gebildete und denkende Personen, die mit ihnen in Berührung kommen, so sehr in Staunen setzen. Wenn aber Erziehung in diesem engeren Sinne ihr Bestes getan hat, ja sogar schon um sie in den Stand zu setzen, ihr Bestes zu tun, ist noch eine andere Art Erziehung erforderlich, die keine Schule zu geben vermag. Was man einem Kind in der Schule lehrt, wird wenig wirken, wenn die Verhältnisse, in die es sich versetzt sieht, sobald es herangewachsen ist, mit jenen Lehren im Widerspruch stehen. Wir können den Versand eines Menschen bilden, aber wie, wenn er ihn nicht gebrauchen kann, ohne mit seiner Lage unzufrieden und der ganzen Ordnung der Dinge gegenüber, die ihn umgibt, feind-

168

D  A  B

lich zu werden? Die Gesellschaft zieht die Menschen zum Guten oder zum Bösen noch weit mehr durch ihr Verhalten gegen sie als durch direkte Unterweisung heran. Ein Gefühl für diese Wahrheit ist der schönste Zug an der neuen philanthropischen Bewegung und ihre Anerkennung ist von Bedeutung, welche Missgriffe man auch immer bei ihrer praktischen Anwendung zunächst begehen mag. In dem vorliegenden Buch sowie in den besten anderen Schriften über die philanthropische Seite der Frage, die jüngst erschienen sind, kommt die starke Überzeugung zum Ausdruck, dass von einem gesunden Zustand der Gesellschaft und von der sozialen oder auch nur physischen Wohlfahrt des Armen nicht die Rede sein kann, solange zwischen ihm und dem Reichen keine andere Beziehung besteht, als dass der erstere von dem letzteren seinen Lohn oder auch, wie wir hinzufügen können, sein Almosen empfängt; solange kein Gefühl des Zusammenwirkens und des gemeinsamen Interesses die natürlichen Genossen verbindet, die man jetzt Arbeitgeber und Arbeiter nennt. Mit einem Teil dieser Sätze stimmen wir überein, obwohl wir glauben, dass der Fall zu grell dargestellt ist. Eine gut erzogene Arbeiterklasse könnte und würde auch wahrscheinlich ihre Lage auf eine hohe Stufe physischer Wohlfahrt erheben oder wenigstens sehr weit von der drückendsten Not entfernt halten, da sie für diesen Zweck nur denselben Grad gewohnheitsmäßiger Klugheit zur Anwendung zu bringen hätte, den wir in den mittleren Klassen gewöhnlich geübt sehen; nehmen doch die Mitglieder derselben selten die Verantwortlichkeit auf sich, die mit der Gründung eines Hausstandes verknüpft ist, wenn sie nicht einige Aussicht haben, eine Familie in der ihrer Stellung entsprechenden Weise erhalten zu können. Wir glauben auch, dass in diesem Fall die Armen der fortwährenden Obsorge der Reichen, welche nach der neuen Lehre dem ärmsten Nächsten gegenüber die ganze Pflicht des Menschen ausmacht, sehr wohl entraten könnten. Da wir keinen notwendigen Grund abzusehen vermögen, weshalb die Armen hoffnungslos abhängig sein sollten, so betrachten wir sie auch nicht als dauernde Objekte für die Ausübung der besonderen Tugenden, deren wesentlichstes Ziel darin besteht, die Erniedrigung und das Elend der Abhängigkeit zu mildern. Das Bedürfnis aber eines höheren Grades von Mitgefühl und Gemeinsamkeit des Interesses zwischen der Masse des Volkes und denjenigen, welche man herkömmlicherweise als ihre Leiter und Regierer zu betrachten pflegt, braucht keine Übertreibung zu Hilfe zu nehmen. Wir glauben keinem anderen in dem Wunsche nachzustehen, dass „klingende Münzen“ nicht länger „ausschließlich das Band zwischen Mensch und Mensch bilden“,16 dass sich der Arbeitgeber und der Arbeiter gegenseitig als befreundete Bundesgenossen und nicht als feindliche Rivalen betrachten sollten, von denen der eine verlieren muss, was der andere gewinnt. Während wir aber soweit den neuen Lehren beipflichten, will es uns doch scheinen, dass einige von denen, welche sie predigen, sich auf der falschen Seite nach dem umsehen, was sie suchen. Die gesellschaftlichen Beziehungen früherer Zeiten und die der Gegenwart sind nicht dieselben und können es nicht sein. Die wesentlichen Bedürfnisse der menschlichen Natur mögen zu allen Zeiten die nämlichen sein, aber jede Zeit hat ihre besonderen Mittel, sie zu befriedigen. Das Feudalwesen kann, auch mit den stärksten Modifikationen, nicht als der Typus gelten, dem die Einrichtungen und Sitten der Gegenwart entsprechen können. Eine Zeit, welche die Eisenbahnen geschaffen hat, die den Beschäftigung suchenden Ar16

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Carlyle, Past and Present, S. 44 und passim.

D R  A ()

169

beiter mit seiner Familie für wenig Schillinge fünfzig Meilen weit führen, in welcher der Feldarbeiter seine Zeitung liest und in Versammlungen, welche er selbst einberufen hat, Reden über die schlechten Lohnverhältnisse hält – eine solche Zeit ist nicht danach angetan, dass ein Mensch gegen den anderen Gefühle ehrfurchtsvoller Ergebenheit hegen könnte, bloß weil er auf seinem Grund und Boden geboren ist. Gehorsam im Austausch für Schutz ist ein Handel, den man nur macht, wenn der Schutz unter keiner anderen Bedingung zu haben ist. Gehorsam im Austausch für Lohn ist eine ganz andere Sache. Auch auf einen solchen Handel werden Menschen eingehen, wenn sie die Not dazu treibt, aber von Freiwilligkeit und Dankbarkeit kann bei einem solchen Vertrag nicht die Rede sein. Der Respekt, welchen heutzutage ein Mann seinem „Bruder auf Erden“ erweist, bloß weil dieser reich und er selbst arm geboren wurde, ist entweder Heuchelei oder Servilität. Wirkliche Anhänglichkeit, ein echtes Gefühl der Unterordnung kann jetzt nur noch das Resultat persönlicher Eigenschaften sein und setzt solche auf beiden Seiten gleichmäßig voraus. Wo diese fehlen, wird die erzwungene äußere Hochachtung immer von einem entsprechenden Grad heimlicher Feindschaft begleitet sein; vielleicht wird sich diese nicht gegen das Individuum richten, da ein so vorübergehendes Verhältnis für ein Übermaß von Hass und Liebe keinen Raum lässt, aber sie wird die Form jener dumpfen Missstimmung gegen die Arbeitgeber annehmen, die in unserem Lande unter der ganzen Arbeiterklasse herrscht. Unter den Korrektiven für diese tiefverwurzelte Entfremdung der Gemüter wird mit besonderem Nachdruck die Bedeutung des persönlichen Benehmens hervorgehoben. In den „Rechtsansprüchen der Arbeit“ wird auf diesen Punkt das meiste Gewicht gelegt. Das Buch enthält über diesen Gegenstand zahlreiche Aphorismen, wie man sie von dem Autor der „Betrachtungen in geschäftsfreien Stunden“17 und der „Gedanken in der Zelle und im Getümmel“18 erwarten konnte. Wer geneigt wäre zu kritisieren, könnte vielleicht einwenden, dass diese ernsten und gedankenvollen Aussprüche vornehmlich die Pflichten beleuchten, die jedermann gegen jedermann obliegen und sich mehr auf die Bildung unseres eigenen Charakters und menschliche Verhältnisse überhaupt als auf das besondere Verhältnis zwischen Reichen und Armen beziehen. Nicht insoweit als es sich besonders um die Armen handelt, sind diese Lehren notwendig. Die Fehler der Reichen gegen die Armen sind die allgemeinen Fehler. Das Benehmen, das sich gegen die Armen ziemt, ist das Nämliche, das sich gegen jedermann ziemt. Den Engländern als Nation im Allgemeinen macht man mit Recht den Vorwurf, dass sie nicht verstehen, freundlich, höflich und rücksichtsvoll gegen die Gefühle anderer zu sein. In ganz Europa stehen sie in diesem Ruf und sie haben von anderen Nationen nicht nur in der Kunst mit Anmut dienstfertig und liebenswürdig zu sein, sondern in der Kunst es überhaupt nur zu sein, noch sehr viel zu lernen. Alles, was die gewöhnlichen Gefühle menschlicher Wesen gegeneinander dem christlichen Maßstab näher bringt, wird auch ein besseres Benehmen gegen jedermann und folglich auch gegen die Armen mit sich bringen. Aber es sind nicht in besonderer Weise die Armen, gegen die sich dieser Fehler des nationalen Charakters kehrt. Im Gegenteil, soweit es sich um die Reichen als Individuen im Gegensatz zu ihrer 17

18

Anmerkung der Herausgeber: Arthur Helps, Essays Written in the Intervals of Business, London: Pickering, 1841. Anmerkung der Herausgeber: Ders., Thoughts in the Cloister and the Crowd, London: Wix, 1835.

170

D  A  B

Gesamthaltung im öffentlichen Leben handelt, darf man wohl sagen, dass der aufrichtige Wunsch, den Armen freundlich zu begegnen, unter ihnen allgemein ist. Wo sich die in England so seltene Eigenschaft echter Geselligkeit in Verbindung mit so viel Kenntnis der Gefühle und der ganzen Art der arbeitenden Klassen vorfindet wie erforderlich ist, damit man ihnen sein Interesse in nützlicher Weise zeigen kann, sind auch jetzt schon wertvolle Resultate erzielt worden. Der Autor der „Rechtsansprüche der Arbeit“ hat sich ein Verdienst erworben, indem er das Verhalten eines edelmütigen und charaktervollen Fabrikbesitzers weiteren Kreisen bekannt machte, den er nicht nennt, von dem man aber weiß, dass es Hr. Samuel Greg ist, dessen Briefe an Hrn. Leonhard Horner19 er vielfach zitiert. Hr. Greg schlug zum Teil den nächstliegenden Weg ein, indem er gute Arbeiterwohnungen baute, ihnen Gartengründe zuwies, Schulen errichtete und so weiter. Das eigentliche Wesen seines Planes aber bestand darin, mit den Arbeitern selbst bekannt zu werden, Interesse an ihren Beschäftigungen zu zeigen, an ihren geselligen Vergnügungen teilzunehmen und einer Auswahl aus ihrer Mitte – Männer, Frauen und jüngeren Personen – periodisch Zutritt zu der Gesellschaft und dem Verkehr seines Hauses zu gewähren. Er hat ein Beispiel und Vorbild von dem geliefert, was unter dem vielgeschmähten Fabriksystem für das Volk geschehen kann. Und in nichts zeigt sich sein Beispiel empfehlenswerter als in der Festigkeit, mit welcher er das wesentlichste Prinzip aller wirksamen Philanthropie aufrechterhält. „Das Motto auf unserem Banner“, sagt er, „ist Aide-toi, le ciel t’aidera. Es ist dies das Prinzip, dass ich beständig im Auge zu behalten suche. Es ist das einzige Prinzip, nach welchem man irgendjemand mit Sicherheit helfen kann, das einzige, das zu verhüten vermag, dass Wohlwollen zu einer giftigen Quelle moralischen Unheils werde.“20 Sein Experiment ist seit vielen Jahren mit dem besten Erfolg gekrönt worden. Doch möchten wir, wenn es große soziale Übelstände zu heilen gilt, nicht allzu viel Gewicht darauf legen. Der erste Urheber eines solchen Planes ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine Persönlichkeit, deren natürliche und erworbene Eigenschaft sie besonders befähigen, das Vertrauen und die Anhänglichkeit ungeschulter Geister zu gewinnen. Wenn dieser Geist sich unter den Arbeitgebern weit verbreiten sollte, so würde sich vielleicht in jedem größeren Bezirk der ein oder der andere Mann dieser Art finden lassen, aber man könnte nie erwarten, dass die Majorität aus solchen Männern bestehen würde. Selbst Hr. Greg musste, wie er uns selbst sagte, damit beginnen, unter seinen Arbeitern eine Auswahl zu treffen. Er musste zunächst seine „Urbevölkerung los werden“. Er sagte: „Wir bemühten uns, soweit als möglich Familien zu finden, die wir als achtbar kannten oder von denen wir annehmen konnten, dass sie es sein würden und die, wie wir hofften, sich hier niederlassen und bei uns bleiben würden, wenn man ihnen eine behagliche Lage schaffe; hätten sie einmal eine heimatliche Stätte gefunden und sich selbst bereitet, so würden sie auch allmählich jenen rastlosen Wandertrieb ablegen, der einen charakteristischen Zug der Fabrikbe-

19

20

Anmerkung der Herausgeber: Samuel Greg, Two Letters to Leonard Horner, Esq., on the Capabilities of the Factory System, London: Taylor and Walton, 1840. Anmerkung der Herausgeber: Ebd., S. 26.

D R  A ()

171

völkerung bildet und vielleicht das größte unter all den Hindernissen ist, die sich ihrem dauernden Fortschritt entgegenstellen.“21 Es liegt in der Natur der Dinge, dass Arbeitgeber, die so hoch über dem Durchschnitt stehen, auch Arbeiter, die über dem Durchschnitt stehen, an sich ziehen und dauernd bei sich zurückhalten werden, solange anderswo ein ebenso wünschenswertes Los nicht zu finden ist. Aber die gewöhnliche Menschennatur ist ein so armseliges Ding, dass eine ähnliche Handlungsweise nicht notwendig dieselbe Liebe und denselben Einfluss nach sich ziehen würde, sobald sie nicht mehr einen Kontrast zu der Gleichgültigkeit anderer Arbeitgeber bilden würde. Die Dankbarkeit der Menschen gilt ungewöhnlichen und unerwarteten Leistungen. Das alles nimmt den Bemühungen des Hrn. Greg nichts von ihrem Wert. Jeder, dem es gelingt, eine gewisse Anzahl Arbeiter weiter vorwärtszubringen, hat ebenso viel zur Hebung der Klasse getan und alle solche guten Einflüsse haben die Tendenz, sich auszubreiten. Um aber ein dauerndes Band zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu schaffen, dürfen wir nicht auf die Resultate zählen, welche sich in Ausnahmefällen ergeben, die wahrscheinlich viel von ihrem wohltätigen Einfluss verlieren würden, sobald sie die Regel geworden wären. Wenn es uns gestattet ist, in einer Frage, bezüglich derer fast jeder Denker seine besondere Utopie hat, auch die unsrige zu haben, und wenn wir das Prinzip nennen sollen, von dem wir hoffen, dass es in einer noch fernen Zukunft das Meiste dazu tun wird, die wachsende Kluft auszufüllen, welche diejenigen, die im Schweiß ihres Angesichts arbeiten, von denen trennt, die von dem Ertrag früherer Arbeit leben; wir würden sagen, dieses Prinzip sei die Erhebung des Arbeiters von der Stellung eines bloßen Mietlings, der in der Arbeit der Produktion bloß ein gekauftes Werkzeug darstellt und an dem Werk an sich kein weiteres Interesse hat, zu einer Stellung, die ihn gewissermaßen zu einem Teilnehmer des Geschäftes macht. Die Methode, Untergebenen, in die man Vertrauen setzen muss, anstatt eines festen Gehalts einen Anteil an dem Ertrag zu gewähren, ist in kaufmännischen Kreisen auf Grund des Nutzens, den sie dem Arbeitgeber bringt, längst bekannt und gebräuchlich. Die Weisheit, die selbst in der weltlichen Auffassung des Wortes darin liegt, das Interesse des Untergebenen mit dem Zweck, der durch seine Verwendung erreicht werden soll, in Verbindung zu bringen, ist in der Theorie so allgemein anerkannt, dass es wohl nicht chimärisch ist, zu erwarten, dies Verfahren werde eines Tages auch in der Praxis eine ungleich ausgedehntere Anwendung finden. In irgendeiner Form dieses Verfahrens sehen wir das einzige oder wenigstens das durchführbarste Mittel, die „Rechte der Industrie“ mit den Rechten des Eigentums in Einklang zu bringen, die Arbeitgeber zu wirklichen Häuptern des Volkes zu machen, die ihre Schaaren bei einem Werk führen und leiten, an dem diese selbst ein Interesse haben – bei einem Werk der gemeinschaftlichen Arbeit und nicht der bloßen gezahlten Dienstleistung, und die die höhere Entlohnung, welche sie für ihren Anteil an der Arbeit erhalten, durch den höheren Wert ihrer Mitwirkung rechtfertigen.22 21 22

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Greg, S. 5-6. Anmerkung von Mill: In den klugen und interessanten „Lettres Politiques” von Hrn. Charles Duveyrier [Anmerkung der Herausgeber: 2 Bde., Paris: Amyot 1843, Bd. 2, S. 258 ff.] wird ein Ansatz besprochen, durch den dieses Prinzip in kleinem Rahmen von einem Pariser Arbeitgeber erfolg-

172

D  A  B

Indessen wollen wir, ohne künftige Veränderungen in den Sitten oder in den Beziehungen der verschiedenen gesellschaftlichen Stände ins Auge zu fassen, in Erwägung ziehen, was sofort und von Seiten der Gesetzgebung geschehen kann, um die physische und geistige Lage der Arbeiterbevölkerung zu heben. Und hier dürfen wir nicht vergessen, dass wir es mit einer Klasse zu tun haben, die zu einem großen Teil bereits liest, diskutiert und sich über öffentliche Angelegenheiten ihre Meinungen bildet. Auch dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, dass wir in einer politischen Zeit leben, in welcher das Verlangen nach politischen Rechten oder der Missbrauch politischer Privilegien von Seiten ihrer Inhaber die vorherrschenden Ideen in den Geistern der meisten lesenden Menschen bilden – in einer Zeit überdies, deren Geist einen jeden antreibt, eher ehrlich Spiel zu verlangen, um sich selbst helfen zu können, als Hilfe von anderen zu suchen oder zu erwarten. In solch einer Zeit und für die Behandlung von Menschen in dieser geistigen Verfassung ist das, was Not tut, eher Gerechtigkeit als Güte. Mindestens können wir sagen, dass Güte nur wenig Anerkennung finden und sehr wenig von den Wirkungen der Güte auf die Personen äußern wird, die ihren Gegenstand bilden, so lange die Ungerechtigkeit gegen sie oder das, was sie für Ungerechtigkeit halten müssen, fortdauert. Wenden wir dies zum Beispiel auf die Korngesetze an. Werden die Armen euch dafür danken, dass ihr ihnen Geld als Almosen gebt; dass ihr beisteuert, um für sie Bäder zu errichten und Parks anzulegen oder dafür, dass ihr nach dem Vorschlag von Lord John Manners Cricket mit ihnen spielt, wenn ihr gleichzeitig ihr Brot besteuert, um eure Einkünfte zu erhöhen? Wir könnten Reformen begreifen, welche sagen: das Volk wird nicht besser daran sein, was wir auch tun mögen, und weshalb sollten wir um eines so winzigen Resultats willen unsere Einkünfte opfern oder unsere Börsen auftun? Was wir aber nicht begreifen können sind Menschen, die mit der einen Hand Almosen geben und mit der anderen dem Arbeiter sein Brot nehmen. Können sie sich wundern, wenn das Volk zu ihnen sagt: weshalb gebt ihr nicht euren ungerechten Gewinn her, anstatt uns ein kümmerliches Bruchstück von dem zuzuwerfen, was uns von Rechtswegen gebührt? Einer von den Übelständen dabei ist noch der, dass dieser Gewinn so sehr übertrieben wird. Wer sich mit der Frage beschäftigt hat, weiß, dass die Grundherren durch die Korngesetze sehr wenig gewinnen und dass die indirekten Folgen der Abschaffung jener Gesetze ihnen auch dies wenige bald zurückerstatten würden. Die fort und fort empfundene Verbitterung über schweres Unrecht, die reich in die Praxis umgesetzt werden konnte. Der Name dieses Menschen ist Leclaire, von Beruf ist er Anstreicher; er hat sein Verfahren und seine Fortschritte in einer Broschüre mit dem Titel „Répartition des Bénéfices du Travail en 1842” veröffentlicht. Hr. Leclaire zahlt seinen Arbeitern, und anderen Angestellten, feste Gehälter oder wöchentliche Löhne. Ebenso weist er sich selbst eine festgelegte Vergütung zu. Wenn der Jahresabschluss erfolgt, wird der Überschussgewinn unter allen Beteiligten, Hr. Leclaire inbegriffen, im Verhältnis zu ihren festgelegten Löhnen aufgeteilt. Im Ergebnis erwies sich Hrn. Leclaires Vorgehen als äußerst erfolgreich; sowohl für seine Arbeiter als auch für ihn: Nicht einer von ihnen, der auch nur 300 Tage gearbeitet hatte, verdiente in dem Jahr, in dem Hr. Leclaire die Geschäftsbücher veröffentlichte, weniger als 1500 Franken (£ 60); und einige sogar erheblich mehr. In den Bergbaurevieren von Cornwall sind die Bergarbeiter in ihrem Betrieb ausnahmslos gemeinsame Unternehmer; und hinsichtlich ihrer Klugheit und Unabhängigkeit, ihres Wohlverhaltens sowie hinsichtlich ihrer von Wohlstand geprägten Lebensverhältnisse, ist keine arbeitende Bevölkerung auf dieser Insel vergleichbar mit den cornischen Bergleuten.

D R  A ()

173

jede Annäherung des Gefühls zwischen den Klassen unmöglich macht, solange auch nur die Erinnerung daran fortdauert, wird um eines ganz unerheblichen pekuniären Vorteils willen lebendig erhalten. Es gibt noch einige andere Übungen, deren Beseitigung in Erwägung gezogen werden muss, wenn man ernstlich auf die neuen Lehren eingehen will. So scheint es mir zum Beispiel, dass die Teilnahme an den geselligen Versammlungen und Lustbarkeiten der Landbevölkerung sich sehr schlecht mit der Erhaltung des Wildstandes vertragen würde. Wenn Reiche und Arme das Kricketspiel gemeinschaftlich betrieben, warum sollten sie dann nicht mit der Jagd dasselbe tun? Wir gestehen, dass wir uns, wenn wir von den ungeheuren Jagdgehegen lesen, die nur zu dem Zweck erhalten werden, damit vornehme Persönlichkeiten an einem Tag Hunderte von wilden Tieren zusammenschießen können, des Staunens über den kindischen Geschmack nicht zu erwehren vermögen, der das eine Lustbarkeit nennt, gerade so wie wir den Mangel an richtigem Gefühl beklagen, der um einer Belustigung willen von Generation zu Generation diese Quellen des Verbrechens und der Verbitterung jener Klassen offen hält, deren Beschützung jetzt zur Modesache geworden ist. Auch müssen wir durchaus glauben, dass irgendetwas nicht ganz in der Ordnung ist, wenn man jetzt so viel von dem Wert spricht, den verfeinernde und bildende Geschmacksrichtungen für das Volk haben würden – wenn man vorschlägt, für die Armen Parks und Ziergärten anzulegen, damit sie die den Reichen und Armen gemeinsamen Gaben der Natur, Sonne, Luft und frisches Grün in ausgedehntem Maße genießen können und wenn bei alledem das gerade entgegengesetzte Verfahren, Wege zu versperren und Gemeinland einzufrieden, ungestört im Gang bleibt. Ist das nicht ein zweites Beispiel dafür, wie man mit der einen Hand gibt und mit der anderen weit mehr wegnimmt? Wir betrachten jede weitere Einfriedung von Gemeinland mit der äußersten Eifersucht. In dem größten Teil unserer Insel befindet sich, abgesehen von den Berg- und Sumpfgegenden, sicherlich mehr Land im Zustand natürlicher Wildnis, als zu wünschen ist. Diejenigen, welche England manchen Teilen des Kontinents ähnlich machen möchten, in denen jeder Fußbreit Boden eingehegt und mit den Spuren menschlicher Arbeit bedeckt ist, sollten bedenken, dass dies dort, wo es stattfindet, nicht für den Gebrauch und zum Besten der Reichen, sondern der Armen stattfindet, und dass in den Ländern, wo kein Gemeinland übrigbleibt, die Reichen keine Parks haben. Das Gemeinland ist der Park der Bauern. Jedes Argument, das sich für seine Verwandlung in Ackerland zur Erzielung eines größeren Ertrages geltend machen lässt, gilt a fortiori auch für den Park, der gewöhnlich viel fruchtbarer ist. In dem einen wie dem anderen Fall würde die Ausführung in der vorgeschlagenen Weise die Armen nur zahlreicher, aber nicht zufriedener machen. Was soll man aber dann sagen, wenn das Gemeinland, wie es sooft geschieht, den Armen entzogen wird, um ganz oder teilweise den eingehegten Luftgründen der Reichen hinzugefügt zu werden? Ist die kümmerliche und trotz ihrer Kümmerlichkeit nicht einmal immer gewährte Entschädigung durch einen kleinen Streifen Land für jeden Häusler, der eine Gans auf das Gemeinland trieb, ein Ersatz, der den Armen im Allgemeinen, den Naturfreund oder künftige Generationen für diese Beraubung auf gesetzlichem Wege schadlos halten kann? Das sind also Dinge, die man zu vermeiden hat. Zu den nächstliegenden Dingen, die man zu tun hat, gehört die Beseitigung aller jener Einschränkungen und künstlichen

174

D  A  B

Hindernisse, welche Gesetz- und Fiskalsysteme den Versuchen der Arbeiter, ihre eigene Verbesserung zu fördern, in den Weg stellen. Diese Hindernisse kommen oft von einer Seite, von der man sie nicht erwarten sollte, wie ein paar Beispiele beweisen werden. Vor einigen Jahren erteilte die Gesellschaft zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse in einem wohlmeinenden Aufsatz, der an die Arbeiter gerichtet war und die Vorurteile, die manche unter ihnen gegen die „Ansprüche des Kapitals“ hegen, berichtigen sollte, den Arbeitern einige Ratschläge, welche zu jener Zeit viel von sich reden machten. Sie ermahnten sie nämlich „sich selbst zu Kapitalisten zu machen“.23 Den meisten Arbeitern, die diese Aufforderung lasen, dürfte sie als eine Ironie erschienen sein, aber einige von den intelligenteren unter ihnen wussten ihr einen Sinn abzugewinnen und es leuchtete ihnen ein, dass es einen Weg gebe, auf dem sie sich zu Kapitalisten machen könnten. Natürlich fiel es ihnen nicht ein, das jeder für sich es dahin bringen könne, aber wenn sie ihre geringen Mittel zu einem gemeinschaftlichen Fonds vereinigten und ein Geschäft mit zahlreichen Teilnehmern oder eine Aktiengesellschaft bildeten, so konnten sie, wie ihnen schien, ihre eigenen Arbeitgeber werden, der Mitwirkung der Empfänger von Kapitalgewinnen entbehren und den ganzen Ertrag der Arbeit unter sich teilen. Dies war ein höchst wünschenswertes Experiment. Es wäre von großem Wert gewesen, zu ermitteln, ob ein großes industrielles Unternehmen, wie zum Beispiel der Betrieb einer Fabrik, nach diesem Prinzip durchgeführt werden könne. Wenn der Versuch gelang, so lagen die wohltätigen Folgen auf der Hand; wenn er sich nach einer ausreichenden Probe als unpraktisch erwies, so lieferte auch sein Scheitern eine höchst wertvolle Lehre. Den Arbeitern wäre damit bewiesen, dass der Gewinn der Arbeitgeber nur der Preis ist, den man notwendig für die Überlegenheit des Geschäftsbetriebes zahlen muss, welche aus dem Antrieb des individuellen Interesses hervorgeht, und dass der Kapitalist, wenn er auch das kostspieligste Element in dem Mechanismus der Produktion ist, dennoch seine Kosten in vollem Maße hereinbringt. Es stellte sich aber heraus, dass die Mängel der Gesetzgebung über Kompaniegeschäfte in ihrer Anwendung auf Gesellschaften mit zahlreichen Mitgliedern Schwierigkeiten boten, welche es undurchführbar machten, den Plan einer Probe unter normalen Bedingungen zu unterziehen. Hier also haben wir etwas, was das Parlament für die Arbeiter tun könnte. Der Erlass eines guten Gesetzes über Kompaniegeschäfte, das die Bildung von Kapitalien für Zwecke der Industrie durch die Vereinigung von kleinen Ersparnissen in jeder nur möglichen Weise erleichtern würde, wäre eine wirkliche Wohltat. Es würde damit nicht eine ideelle Beschwerde beseitigt, sondern eine, die tief gefühlt wird, und zwar vor allem von den intelligentesten und charaktervollsten Mitgliedern der Klasse, die am meisten geeignet und am besten befähigt sind, einen wohltätigen Einfluss auf ihre Standesgenossen zu erlangen und zu üben. Um ein weiteres Beispiel anzuführen, so hört man es oft als eine der traurigsten Seiten der gesellschaftlichen Verfassung unserer ländlichen Bezirke beklagen, dass der Stand der bäuerlichen Freigutbesitzer ganz ausgestorben ist, dass kein verbindendes Mittelglied mehr zwischen dem bloßen Feldarbeiter und dem großen Pächter besteht, keine etwas höher stehende Klasse, in die der Arbeiter sich durch Fleiß und Sparsamkeit aufzuschwingen hoffen könne, dass die Ersparnisse, die der Arbeiter macht, für ihn eher eine 23

Anmerkung der Herausgeber: Charles Knight, The Rights of Industry: Addressed to the WorkingMen of the United Kingdom, London: Knight, 1831, S. 56 und passim.

D R  A ()

175

Last und eine Sorge als eine Wohltat sind, weil ihm die Möglichkeit fehlt, sie an Ort und Stelle anzulegen, wenn er nicht einen Kaufladen in einer Stadt oder einem Dorf eröffnen will, wo man wahrscheinlich einen weiteren Laden nicht braucht, wo er sich erst mit geringer Aussicht auf Erfolg neue Lebensgewohnheiten bilden muss und wo er selbst im Falle des Gelingens nicht länger seinesgleichen als ermutigendes Vorbild dienen kann. Ist es nun nicht eigentümlich, dass das Stempelamt, falls er Gelegenheit fände, sein Geld in einem kleinen Fleck Landes anzulegen, dazwischentreten und von dem Geschäft seinen Zoll einfordern muss? Überdies ist die Taxe, welche der Staat bei der Übertragung kleiner Besitztümer erhebt, gering genug im Vergleich zu den Taxen, welche die Sachwalter erheben. Die Stempeltaxe steht in einem bestimmten Verhältnis zu dem Geldbetrag; dagegen sind die Gebühren, welche die Sachwalter berechnen, für große und kleine Geschäfte dieselben und die Schuld daran liegt fast ganz bei der mangelhaften Gesetzgebung. Der einzige wirtschaftliche Grund, weshalb die Übertragung von Landbesitz schwieriger oder kostspieliger sein sollte als die Übertragung dreiprozentiger Staatspapiere, ist doch nur darin zu suchen, dass es in dem ersten Fall mehr Umstände macht, die Identität des Geschäftsobjektes festzustellen; alles Übrige ist nur die Folge technischer Schwierigkeiten, die in der veralteten Praxis des Feudalismus ihren Ursprung haben. In der Macht der Regierung liegt es nicht minder, manche Ursachen eines schlechten Gesundheitszustandes zu beseitigen; doch wäre es überflüssig, bei einem Gegenstand zu verweilen, auf den bereits amtliche Berichte so vielfach die Aufmerksamkeit gelenkt haben. Je wirksamer die Regierung irgendeine ihrer anerkannten Pflichten erfüllt, je eifriger sie irgendeinen Plan verfolgt, der das allgemeine Beste zu fördern vermag, desto wohltätiger erweist sie sich auch für die Armen. Soweit es sich um Pläne handelt, die bestimmt sind, den arbeitenden Klassen speziell Beschäftigung zu verschaffen oder ihre Lebensweise zu verbessern, so lässt sich ein für allemal behaupten, dass zu ihrer Beurteilung ein einfaches Prüfungsmittel genügt. Ist der Beistand derartig und wird er in solcher Weise gewährt, dass er sie schließlich von der Fortdauer ähnlichen Beistandes unabhängig machen wird? Ist dies nicht der Fall, so kann man einem solchen Plan höchstens nachrühmen, dass er unschädlich ist. Soll er mehr als dies sein, so muss er notwendig die wohlgegründete Aussicht besitzen, im Laufe der Zeit auf eigenen Füßen stehen zu können. Auch scheint es uns, dass man selbst unter den günstigsten Voraussetzungen jenen Plänen eine zu große Bedeutung beimisst. Dürfte man Erziehung und gerechte Gesetze als gegeben betrachten, so würde die ärmere Klasse ebenso befähigt sein, wie irgendeine andere Klasse, für ihre eigenen persönlichen Gewohnheiten und Bedürfnisse Sorge zu tragen. (Überarbeitung der Übersetzung von Eduard Wessel (1875) durch Antonia Geisler)

R Gedanken zur Parlamentsreform (1859)

Nahezu die gesamte Schrift, einschließlich der Erörterung der geheimen Wahl, wurde vor fünf Jahren in Erwartung des Reformgesetzes der Regierung von Lord Aberdeen verfasst. Die Ursachen, die in jenem Zeitraum der Behandlung des Themas selbst im Wege standen, verhinderten auch die Veröffentlichung dieser mit dem Thema befassten Bemerkungen. Die damals formulierten Überzeugungen wurden durch nachträgliche Überlegungen nur bekräftigt. Sie werden nunmehr veröffentlicht, weil ihre Veröffentlichung, wenn überhaupt, dann zum gegenwärtigen Zeitpunkt, die Aussicht hat, von Nutzen zu sein.1 Etwa eine Generation nach Verabschiedung der ersten Wahlrechtsreform, ist die gesetzgebende Gewalt dabei, aus einer Art allgemeiner Zustimmung heraus, eine zweite zu verordnen.2 Dieser Beschluss erfolgt unter Bedingungen, die in deutlicher Weise von denen verschieden sind, unter denen Verfassungsänderungen üblicherweise angekündigt und, zumindest unmittelbar, zuwege gebracht werden. Zu dem allseits erwarteten Wandel werden die Machthaber nicht durch stürmische und respekteinflößende Bekundungen der öffentlichen Meinung gedrängt, auch hatte er sich nicht in Zeichen umfassender Unzufriedenheit mit der Arbeit der bestehenden politischen Institutionen angekündigt. Dass das Gesetz zur Wahlrechtsreform des Jahres 1832 ohne einen bewaffneten Aufstand verabschiedet werden konnte, wurde als beträchtliche Leistung empfunden. Allem Anschein nach wird jenes des Jahres 1859 Gesetz werden, ohne irgendein ungewöhnliches Maß an selbst gewaltfreier Aufruhr erfordert oder verursacht zu haben. Dies ist um so beachtenswerter, als seit dem Jahre 1832 zu verschiedenen Zeiten eine viel größere Unzufriedenheit die öffentlichen Angelegenheiten betreffend als gegenwärtig zu verzeichnen war, ein weit stärkeres Empfinden tatsächlicher Missstände, verbunden mit einem weitaus größe1

2

Anmerkung des Übersetzers: Diese Vorbemerkung von Mill befindet sich im Original auf einer dem eigentlichen Text vorausgehenden Seite. Anmerkung der Herausgeber: Siehe „A Bill to Amend the Laws relating to the Representation of the People in England and Wales, and to facilitate the Registration and Voting of Electors“, 22 Victoria (28. Februar 1859), Parliamentary Papers 1859 (1. Sitzung), II, 649–715.

G  P ()

177

ren Ausmaß materiellen Leidens, das mit mehr oder weniger Anspruch auf Wahrheit oder Glaubwürdigkeit auf Mängel der Institutionen oder der gesellschaftlichen Ordnung zurückgeführt werden konnte. Doch hatte zu keinem dieser Zeitpunkte irgendein Vorschlag zu einer weiteren Parlamentsreform auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg; hingegen ist jetzt eine jede am Staat beteiligte Partei und nahezu jeder einzelne Politiker von Bedeutung verpflichtet, eine solche Maßnahme zu unterstützen. Eine Änderung in der Zusammensetzung des Parlaments hat deshalb zu erfolgen, weil eine solche Änderung von jedermann als an sich richtig verstanden wird, statt aus dem Grunde, dass sie ein jeder entschieden herbeiwünschte oder er sich von ihr irgendein großes oder bemerkenswertes praktisches Ergebnis erwartete. Bei dieser so offensichtlich ungewöhnlichen Sachlage handelt es sich um eines der zufriedenstellendsten Zeichen der Zeit wie auch um eine bedeutsame Veranschaulichung des neuen Charakters, welcher der Politik dieses Weltreiches vor sechsundzwanzig Jahren durch den großen Sieg des Volkes dauerhaft verliehen worden ist. Die Wahlrechtsreform und Sammlung wie Wettstreit der Kräfte des Fortschritts und des Beharrens, welche die fünfzehn Jahre zwischen 1832 und 1846 prägten, haben den Fortschritt zum allgemeinen Gesetz der öffentlichen Angelegenheiten erhoben – den Fortschritt an sich, um seiner selbst willen, nicht aber nur jene Sonderfortschritte, die irgendein Teil der Öffentlichkeit glaubt durch seine eigenen unmittelbaren Interessen beanspruchen zu können. Das Ergebnis hat die Behauptung bestätigt, die von aufgeklärten Radikalen immer aufgestellt worden ist – dass eine wirklich vom Geist des Fortschritts geprägte Regierung, eine solche, unter der mit Sicherheit alles, was in Bezug auf die von ihr erlassenen Gesetze oder ihre Regierungsgeschäfte weiten Kreisen als Übelstand gilt, berichtigt werden wird (wie allmählich und behutsam auch immer dies geschehen mag), die politischen Sehnsüchte des britischen Volkes befriedigt, und dass dieses Volk nicht dazu neigt, auf solche Verfassungsänderungen zu drängen, die weiter als jene gehen, die sich in natürlicher Abfolge aus der Arbeit einer fortschrittlichen Regierung ergeben. Diese vernünftige Versicherung ist dem britischen Volk jetzt gewiss. Im Ergebnis dessen hat es ein solches Maß an Vertrauen entwickelt, all das rechtzeitig erlangen zu können, was es als fortschrittlich erkannt hat, dass es sich kaum zur Aufwiegelung bemüßigt sieht, um das Gewünschte lärmend und aufdringlich zu fordern – während die Liebe zum Fortschritt an sich, jenseits seiner Bindung an besondere oder persönliche Interessen in den Gedanken der Menschen eine weit positivere Stellung einnimmt als jemals zuvor. Dies ist die einzige Erklärung dafür, dass eine Parlamentsreform von den Führern aller Parteien und über das gesamte Meinungsspektrum hinweg für politisch notwendig erachtet wird, obwohl es kaum eine Zeit gab, in der weniger Lärm zu ihren Gunsten zu hören war. Eine Verfassungsreform, die unter solchen Umständen vorgelegt, durch eine Art einstimmige Übereinkunft aller Parteien begrüßt, jedoch von keiner dieser Parteien leidenschaftlich eingefordert und sicherlich auch nicht heftig und begeistert unterstützt wird, kann nicht der Erwartung genügen, mehr als einen sehr bescheidenen Wandel in der gegenwärtigen Verteilung der politischen Macht zuwege zu bringen. Keine nennenswerte Gruppe gegenwärtiger Politiker wünscht mehr, auch mangelt es an aktiven Kräften außerhalb, um sie dazu befähigen, dies zu tun, sollten sie sich dazu entschließen. Was auch immer von der gegenwärtigen Regierung oder einer jeden, die ihr voraussichtlich

178

D  A  B

folgt, vorgeschlagen werden sollte, wird eine halbe Sache, eine Art Kompromiss sein. Sie wird vielen, möglicherweise der Gesamtheit der demokratischen Reformer, weit weniger erscheinen als ihre gerechtfertigten Ansprüche. Ein Umbau des Systems der politischen Vertretung nach festen und endgültigen Regeln ist nicht das, was augenblicklich erwartet oder versprochen wird. Die Meinungslage und die Lage der europäischen Politik sind gegenwärtig für eine solche Maßnahme nicht günstig. Andererseits ist es unabdinglich, dass die Reform nicht nur dem Namen nach erfolgt, dass ein wirklicher Wandel stattfindet, eine grundlegende Verbesserung eintritt, die ein jeder, den sie keinesfalls auf Dauer zufriedenstellt, als Fortschritt anerkennt, und die hinreichend Gutes verspricht, um tatsächlich geschätzt zu werden. Wirklich bedenkenswert ist deshalb, welches die wertvollsten Eigenschaften sind, die eine Halbheit auszeichnen. Denn unterhalb dieser sollte sie keinen Reformer auch nur auf Zeit zufriedenstellen. Nun bedarf eine akzeptable Teilreform zumindest zweier Erfordernisse: Erstens sollte sie auf die wirklich schlimmsten Merkmale der gegenwärtigen Ordnung zielen. Da sie nicht vorgibt, alles zu erledigen, sollte sie das tun, was am meisten nottut, sollte Abhilfe da schaffen, wo diese vordringlich ist. Zweitens muss die Teilreform mit Blick auf zukünftige Änderungen entworfen werden, die möglicherweise darauf folgend zu erwarten sind. Das heißt aber nicht, es sei unerlässlich, die Teilreform in der Absicht zu gestalten, weitere Änderungen zu beschleunigen, sondern diese dann zu leiten und zu regulieren, wenn sie auf der Tagesordnung stehen. Ein Abgeordneter ist dazu verpflichtet, nicht allein über die gegenwärtigen Wirkungen seiner Maßnahmen nachzudenken, sondern auch darüber, welchen Einfluss die heute von ihm erlassenen Verordnungen auf die seiner Nachfolger haben mögen. Welche Änderungen er auch immer herbeiführt – sie sollten ein Schritt in jene Richtung sein, in welche ein weiterer Vorstoß wünschenswert ist oder hernach wünschenswert sein wird. Seine Teilreform sollte so gestaltet sein, dass sie jene Prinzipien anerkennt und verkörpert, welche einer vollständigen Maßnahme die beste Grundlage böte, falls keine Hindernisse bestünden. Die erste Bedingung – die bestehende Ordnung an ihrer problematischsten Stelle zu treffen – wird in beträchtlichem Umfang durch jede Maßnahme erfüllt, welche die kleinen Wahlkreise beseitigt. Der verwerflichste Aspekt der gegenwärtigen Verfassung der politischen Vertretung besteht nicht in der geringen Anzahl der Wähler in ihrer Gesamtheit. Zweifellos sind es zu wenige. Es werden deren immer zu wenige sein, solange Menschen ausgeschlossen sind, deren Zulassung nicht auf Kosten der Güte der Gesamtheit gehen würde. Auch sind gegenwärtig Zulassung und Ausschluss der Willkür überantwortet: In großen Städten und parliamentary boroughs3 werden Personen zur Wahl zugelassen, die in allen anderen Städten und Landkreisen ausgeschlossen bleiben. Welche Bedingung oder Auswahl von Bedingungen auch immer festgelegt werden mögen, es wäre sinnvoll, dass es überall die gleichen sind. Allerdings ist dies nicht das schlimmste Übel. Es ließe sich beseitigen, ohne in der Sache irgendetwas entscheidend zu ändern, weder was die Zusammensetzung des Unterhauses betrifft noch die Anreize, denen seine Mitglieder ausgesetzt sind. 3

Anmerkung der Übersetzers: Parliamentary boroughs sind Verwaltungseinheiten, vorwiegend städtischer Wohngebiete, die Abgeordnete ins britische Unterhaus entsandten. Der Begriff kam in Großbritannien nach der Wahlrechtsreform des Jahres 1832 in Umlauf.

G  P ()

179

Der größte Missstand besteht nicht darin, dass nur ein Bruchteil des Gemeinwesens das Wahlrecht besitzt, sondern dass die Mehrheit der Abgeordneten von einem sehr kleinen Bruchteil dieses Bruchteils gewählt wird. Sitz allen Übels sind die kleinen Wahlkreise, die zwischen 200 und 400 Wähler zählen – ein Übelstand, den das Reformgesetz des Jahres 1832 ausmerzen wollte und, wie man glaubte, ausgemerzt hatte. Viele dieser Wahlkreise sind nach wie vor pocket boroughs4 und die von ihnen gewählten Mitglieder nahezu gänzlich die Strohmänner einiger einflussreicher Familien der Gegend, wie dies etwa für die Abgeordneten von Gatton und Old Sarum gegolten hatte. Die anderen sind zum Großteil der Preis des Meistbietenden. Falls die gegenwärtige Gesetzgebung5 die unverhohlene Bestechung zu einem so riskanten Unternehmen gemacht haben sollte, dass Bewerber davon lieber die Hände lassen, wird jener den Erfolg für sich verbuchen können, der den Großteil seines Geldes in die Eröffnung von Wirtshäusern [public houses] steckt oder mit ihm Agenten, Stimmenwerber und Drucker anheuert sowie Sitzungszimmer finanziert. Sind die Interessen vor Ort unentschieden, so werden jene den Ausschlag geben, die den schlimmsten Teil der Wählerschaft ausmachen – jene nämlich, die Geld oder Trunkenheit verdorben hat. Zwischen den nomination boroughs und den corrupt boroughs6 stehend, sind ein Großteil der Abgeordneten immer noch das, was sie vor dem Jahr 1832 waren: entweder Abgeordnete Einzelner oder Vertreter ihres eigenen Geldbeutels. Wo immer die winzigen Wahlkreise nicht unter der Knute eines Einzelnen stehen, wird jeder neue Wahlkampf mehr und mehr zu einer bloßen Sache des Geldes. Dies ist selbst in großen Wahlkreisen ein zunehmender Missstand. Von den kleinen ist er nahezu untrennbar, auch kann von ihnen zukünftig nichts anderes erwartet werden als der weitere sittliche Verfall. Reformgegner bekennen sich zu der Auffassung, politische Rechte sollten dem Eigentum und der Bildung vorbehalten werden. Indem sie an den kleinen Wahlkreisen [boroughs]7 festhalten, überantworten sie einen großen und nahezu überwiegenden Teil der Vertretung den Bedürftigen, Abhängigen und Ungebildeten. Um dieses Übel zu beseitigen, ohne die Trennung zwischen den städtischen Wahlkreisen und denen der Grafschaften [counties] aufzuheben – ein Wandel, der auch wenn wünschenswert gegenwärtig nicht zu erlangen ist – gibt es ein naheliegendes Mittel: die Vereinigung kleiner Städte zu Wahlbezirken [districts of boroughs], wie sie bereits in Wales und Schottland existieren. Dieses Hilfsmittel wurde von Lord John Russell in den von ihm im Jahre 1852 eingebrachten „Parliamentary Representation Bill“8 übernommen – allerdings leider in einer so verkehrten Gestalt, dass es niemanden zufriedenstellte und größere Störungen verursachte als es zu beseitigen half. 4

5 6

7

8

Anmerkung des Übersetzers: Pocket boroughs sind jene kleinen Wahlkreise, die unter dem effektiven Einfluss eines Grundbesitzers standen, die dieser also „in der Tasche“ hatte. Anmerkung der Herausgeber: Siehe 17 & 18 Victoria, c. 102 (1854). Anmerkung des Übersetzers: Nomination boroughs sind jene Wahlkreise, deren Abgeordnete Strohmänner – nominees – sind, corrupt borroughs hingegen solche, deren Abgeordnete an den Meistbietenden gehen. Anmerkung des Übersetzers: „boroughs“ wurde durchgängig entweder mit „kleine Wahlkreise“ oder „städtische Wahlkreise“ übersetzt. Anmerkung der Herausgeber: „A Bill to Extend the Right of voting for Members of Parliament, and to amend the Laws relating to the Representation of the People in Parliament“, 15 Victoria (12. Februar 1852), Parliamentary Papers, 1852, III, 353–396.

180

D  A  B

Eines der Prinzipien, auf dem Lord John Russells Gesetzesvorlage erklärtermaßen ruhte, bestand darin, keinen Wahlrechtsentzug zuzulassen. Er hatte damit möglicherweise recht, denn wenn überhaupt dann sind nur wenige der kleinen Wahlkreise in dem Maße unbedeutend, dass es notwendig wäre, sie von der Vertretung ganz auszuschließen. Aber Lord John Russell hielt es für erforderlich, einen jeden kleinen, bereits bestehenden städtischen Wahlkreis zur Keimzelle einer eigenständigen Gruppe von Stadtgemeinden [townships] zu machen. Er vergrößerte die Wahlkreise durch die Angliederung unbedeutender Gebiete in der Nachbarschaft, statt im weiteren Umkreis bedeutsame Städte ohne Vertretung einzubeziehen. In keinem Fall hielt er es für zulässig, zwei Orte in ein und demselben Bezirk einzubegreifen, die bereits Abgeordnete ins Parlament wählten. Um den allerersten Eintrag in der Liste als Beispiel zu nehmen: Berkshire besitzt zwei kleine, nur wenige Meilen voneinander entfernte Wahlkreise: Abingdon mit 312 Wählern und Wallingford mit 428 Wählern. Statt nun diese Orte und ein halbes Dutzend andere in einem Bezirk zu vereinigen, suchte Lord John Russell nach zwei noch kleineren Ortschaften in doppelter Entfernung und schlug Farringdon dem einen, Wantage dem anderen Wahlkreis zu, die damit statt einem guten Wahlkreis zu gleichen zwei schlechten gleichkamen – so schlecht wie die gegenwärtigen oder doch nur in sehr geringem Maße besser. Die nächste Grafschaft, Buckinghamshire, enthält zwei Wahlkreise, deren jeder zwei Mitglieder wählt, obwohl der eine (Marlow) nur 354 Wähler, der andere (Wycombe) nur 346 Wähler besitzt. Mit der Bildung eines Bezirks wäre es selbstverständlich, aus diesen Wahlkreisen einen zu machen. Auch würde nur ein Mitglied ihrer vereinten Bedeutung gerecht. Lord Russell ließ jedem der Wahlkreise ihre beiden Mitglieder. Er baute die Wahrkreise nur aus, indem er vier kleine Ortschaften hinzunahm, die von den gegenwärtigen Wahlkreisen weiter entfernt waren als diese voneinander. Während das Problem der Vertretung kleiner Gemeinden somit notdürftig gelöst war, blieben viele, über das ganze Land verstreute Städte, die sie der Bevölkerung und Bedeutung nach weit übertrafen, wie gegenwärtig ohne Vertretung. Die neuen Orte, die hinzugenommen wurden, um einen Bezirk zu bilden, gingen nie über den kleinsten Teil dessen hinaus, das, wie man annahm, das Minimum einer respektablen Wählerschaft gewährt. So wurde Reigate, seinerzeit ein nomination borough, der nach Erweiterung verlangte, nur die Stadt Dorking zugeschlagen, während Croydon, Kingston und Epsom nicht berücksichtigt wurden, obwohl es sich bei ihnen um Städte in unmittelbarer Nachbarschaft handelt, die alle einen gleichen oder größeren Anspruch darauf hatten, vertreten zu werden. Wäre dieser Plan angenommen worden, so hätte dies die Landkarte Englands mit derart willkürlich verteilten Gruppen kleiner Flecken übersät, dass die ganze Idee der zu Bezirken vereinten Wählerschaften [districts of boroughs] in Verruf gekommen wäre. Auch die Klagen, zu denen gegenwärtig Anlass besteht, hätten statt weniger zu werden, in mancher Hinsicht zugenommen. Dennoch wären die kleinen Wählerschaften, entgegen der erklärten Absicht, klein geblieben und würden mehr denn je ländliche, unter allen gewöhnlichen Umstanden den benachbarten Grundbesitzern unterworfene Wählerschaften sein. Die Dörfer mit 1 000 Einwohnern und die Städte mit 2 000 bis 3 000 Einwohnern, die ausgewählt wurden, um auf eine bestimmte Größe zu kommen, hätten eine klare Stärkung des landwirtschaftlichen Einflusses im Unterhaus bedeutet. Es ist möglich, allerdings nahezu unwahrscheinlich, dass die Korruption nachgelassen hätte.

G  P ()

181

Der lokalen Einflussnahme wäre all das zugekommen, was die Macht des unmittelbaren Geldes verloren hätte, und die Bezirksmitglieder wären nichts als eine minderwertige Gruppe von Grafschaftsmitgliedern gewesen. Ist aber der Leitgedanke, mehrere städtische Wahlkreise zu vereinigen, erst einmal anerkannt, was wäre dann naheliegender, als alle gegenwärtig bestehenden Wahlkreise und alle nichtvertretenen Städte über einer bestimmten Einwohnerzahl (zum Beispiel 5 000) – unter Aussparung all jener, deren Bedeutsamkeit als bereits bestehende oder noch zu schaffende Wahlkreise sie zu einem eigenen oder mehr als einem Mitglied berechtigt – geographisch angemessen in Gruppen zusammenzulegen, wobei darauf zu achten wäre, dass jede Gruppe etwa dieselbe Anzahl von Wählern haben sollte. Es gibt keinen ersichtlichen Grund dafür, warum dieser Plan nicht angenommen wurde, außer jenem unangebrachten Bedenken dagegen, zwei bestehende Wahlkreise zu vereinigen. Wenn ein gegenwärtig bestehender Wahlkreis einer in einer Gruppe werden soll, was ändert sich dann für die Wähler, ob sie nun mit anderen verbunden sind, die bereits Wähler waren, oder allein mit solchen, die erst neuerdings wahlberechtigt sind? Was wäre absurder als dass Calne und Chippenham, beides nomination boroughs und in der Tat aneinander grenzend als eine Art Doppelsternensystem fortbestehen sollten, deren jeder sein eigenes Planetensystem hätte (wie in Lord John Russells Entwurf), oder dass Amesbury und Downton aus Plan A [Schedule A]9 genommen werden, um gemeinsam mit der kleinen Gemeinde von Wilton einen zusätzlichen Wahlkreis zu bilden, statt sie dem benachbarten Salisbury zuzuschlagen? Nachdem aufgrund reiflicher Überlegung die geeignete Gesamtzahl von Mitgliedern, die kleine Städte vertreten sollen, festgelegt ist, sollte allen Orten jener Größenordnung, die sie politisch zur Bezeichnung, Stadt zu sein, berechtigt, die Teilhabe daran zugestanden werden. Je größer die Anzahl der in jedem Bezirk einbegriffenen Orte ist, desto besser sind die Aussichten auf eine anerkennenswerte Entscheidung. Dies würde eine größere Wahrscheinlichkeit eröffnen, dass sich die örtlichen Einflüsse durch Familien und Innungen gegenseitig neutralisieren. Außerdem bestünde mit Hilfe strenger Maßnahmen gegen alle Arten von Korruption eine gewisse Hoffnung darauf, dass die Entscheidung über die Vertreter bisweilen öffentlicher statt privater Gründe wegen getroffen wird. Nach Lord John Russells gescheitertem Versuch brachte Lord Aberdeens Regierung einen weiteren Entwurf zur Gesetzesreform vor das Parlament, an dem Lord John Russell ebenfalls beteiligt war.10 In dieser zweiten Vorlage wurde das Prinzip der Zusammenlegung der Wahlkreise, das der vorhergehende Entwurf so ungeschickt vorgebracht hatte, völlig preisgegeben und erneut auf den alten Plan zurückgegriffen, einigen Gemeinden das Wahlrecht völlig zu entziehen, anderen wiederum die Anzahl der Vertreter von zwei Abgeordneten auf einen zu verringern. Die ihnen entzogene Vertretung sollte auf einzelne, bisher nicht vertretene Städte übergehen oder der Vertretung jener Wahlkreise hinzugezählt werden, die man zu einer größeren Anzahl an Mitgliedern berechtigt 9

10

Anmerkung des Übersetzers: Siehe dazu Paul Scherer, Lord John Russell. A Biography, London 1999, S. 49ff., insb. S. 55–57. Anmerkung der Herausgeber: „A Bill further to amend the Laws relating to the Representation of the People in England and Wales“, 17 Victoria (16. Februar 1854), in: Parliamentary Papers, 1854, V, 375–418.

182

D  A  B

befand als jener, über die sie bereits verfügten. Die meisten der bisher verkündeten privaten Reformvorhaben folgten derselben Vorstellung, zu welcher ein umfangreicher Entzug des Wahlrechts gehört. All diese Entwürfe sind, sofern sie von kleinen und abhängigen Wahlkreisen befreien, gut und lobenswert. Allerdings geschieht dies, wie ich glaube, auf eine Weise, die fragwürdiger ist als die, welcher zufolge jene kleinen Wahlkreise zu Wahlbezirken zusammenzulegen sind. Erstens würden viele Wähler das Wahlrecht völlig verlieren, die so gut wie andere zur Wahl von Vertretern berechtigt sind, allerdings nicht dazu, eigene Vertreter zu haben. Zweitens aber wird mit dieser Methode das Ausmaß weit unterboten, in dem sie andere zur Wahl berechtigt. Denn die verbesserte Neuverteilung des Stimmrechts durch Zusammenlegung der Wahlkreise sorgt auch für eine beträchtliche Erweiterung der Vertretung. Selbst die 10-£-Haushaltsvorstände aller nicht zur Parlamentsvertretung berechtigten Städte mit mehr als 5 000 Einwohnern würden der Wählerschaft einen großen zahlenmäßigen Zuwachs bescheren, und zwar ohne dass dies mit Abstrichen bei der Eignung verbunden wäre oder mit irgendeinem Wandel, der Beunruhigung hinsichtlich der Bedingungen erregen könnte, unter denen das Stimmrecht ausgeübt würde. Sollte tatsächlich jeder Wähler der Wahlkreise, die keine Abgeordneten entsenden, wie auch jeder 10-£-Haushaltsvorstand der Städte, die keine Vertretung haben, eine Stimme für die Grafschaft erhalten und zwar vermöge der Übernahme des Vorschlags von Mr. Locke King (der schon einmal vom Unterhaus bestätigt worden ist)11 in den neuen Reformentwurf, würden die beiden gerade genannten Einwände belanglos – in diesem Fall aber nur, um einem noch verhängnisvolleren zu weichen. Eine solche Maßnahme wäre nämlich fast identisch mit dem völligen politischen Niedergang der Landbezirke. Außerhalb der wenigen Gegenden, in denen Freisassen [yeomanry] noch existieren, wie in Cumberland, Westmoreland oder in gewissem Umfange noch in North Yorkshire und Kent, gibt es in der Landbevölkerung zwischen Grundherren und Landarbeitern keine andere Schicht als die der Pächter [farmers]. Ein Landarbeiter wird ein 10-£-Wahlrecht nicht erwerben, die Pächter und Grundherrn wiederum würden zusammengenommen von den 10-£-Haushaltsvorständen aller englischen Kleinstädte zahlenmäßig weit übertroffen. Um der Landbevölkerung die ihr angemessene Beteiligung an der Vertretung unter jeder Form einheitlichen und umfassenden, nahezu allgemeinen Wahlrechts zu ermöglichen, scheint es absolut notwendig zu sein, den städtischen Wählern in der Regel den Zutritt zur Wählerschaft in den Grafschaften zu verweigern. Der einzige Ausweg besteht darin, sie zur Gänze oder in ihrer großen Mehrheit eigene Wählerschaften bilden zu lassen. Als Einwand gegen die Bildung von zu Bezirken vereinten Wahlkreisen ist vorgebracht worden, sie würde Wahlen verteuern. Die Kandidaten bräuchten, wie behauptet wurde, so viele Wahlkampfbüros wie es Wahlkreise gäbe sowie in entsprechendem Ausmaß andere Dinge. In Bezug auf diese spezielle Frage trägt der Einwand nicht weit, denn er würde für jede andere Art der Bildung von Bezirkswählerschaften in gleichem, wenn nicht gar in größerem Maße gelten. Es gibt keine Wahl, die davon frei wäre – es sei denn, 11

Anmerkung der Herausgeber: Siehe „A Bill to Extend the franchise in Counties in England and Wales, and to improve the Representation of the People in Respect of such franchise“, 21 Victoria (27. April 1858), Parliamentary Papers, 1857–1858, I, 561–564.

G  P ()

183

es handelt sich um Wahlen für einzelne Städte, oder gar für Kleinstädte: Hat nämlich die Stadt eine bestimmte Größe, werden die Kandidaten immer mehrere Büros, den Vierteln oder städtischen Bezirken entsprechend, besitzen. Allerdings verweist die Bemerkung auf einen der bemerkenswertesten Fehler des bestehenden Wahlsystems – jenen Fehler, welcher dem der Vielzahl kleiner Wählerschaften den Vorrang streitig zu machen in der Lage ist und gegen den der neue Entwurf zur Gesetzesreform, um der Unterstützung wert zu sein, eine entschiedene und wirksame Vorkehrung bereitstellen sollte. In einem zuverlässigen Repräsentativsystem gäbe es keine die Wahlen betreffenden Aufwendungen, die zu Lasten des Kandidaten gingen. Die Auswirkungen dessen wären ganz und gar schädlich. Politisch gesehen schaffen sie eine Eigentumsbedingung schlimmster Art. Die alte Eigentumsbedingung, die von jedermann aufgegeben und schließlich abgeschafft wurde, forderte von einem Parlamentsmitglied nur Vermögensbesitz. Diese jedoch verlangt, dass er Vermögen aufgewendet hat. Schlimmer aber ist die Eigentumsbedingung in sittlicher Hinsicht, nicht nur wegen der verschwenderischen und sittlich verwerflichen Eigenart eines Großteils der Aufwendungen, sondern auch durch die verderbliche Auswirkung der dem Wähler eingeprägten Vorstellung, dass die von ihm gewählte Person einen großen Geldbetrag für die Erlaubnis zu entrichten habe, der Öffentlichkeit zu dienen. Erwartet jemand von seinem Anwalt, dass er für die Freiheit bezahlt, für ihn den Prozess zu führen, oder von seinem Arzt, dass er dies für die Erlaubnis tut, ihn von einer Krankheit zu heilen? Ganz im Gegenteil bezahlt er ihnen eine beträchtliche Summe dafür, ihrer Geschäfte zu walten. Wenn das Amt eines Parlamentsabgeordneten als öffentlicher Vertrauensbeweis empfunden würde, das niemand moralisch berechtigt ist, anderer Gründe wegen auf sich zu nehmen als dem, den mit ihm verbundenen Pflichten zu genügen, ließe es sich auch nur für einen Moment erdulden, dass die betreffende Person zuzüglich zur unvergüteten Erfüllung dieser Pflichten zudem einen großen Betrag für das Recht bezahlt, sie zu erfüllen? Eine solche Vorgehensweise ist der sicherste Ausweis dafür, dass die Stimme für einen Kandidaten entweder als ihm erwiesene Hilfe zählt, um ihn seine privaten Zwecke erreichen zu lassen, zumindest aber als seiner Eitelkeit erwiesene Anerkennung, wofür er dann bereit sein sollte, einen Gegenwert zu entrichten. Offenbar sind es schlechte Politiker, die nicht um die enorme Wirksamkeit solcher mittelbaren sittlichen Impulse wissen. Jedoch gibt es in diesem Land kaum etwas, dem Staatsmänner und öffentliche Amtsträger weniger Beachtung schenken. Es sind die beiläufigen Umstände öffentlichen Handelns, Umstände, in denen sich die auf dieses Handeln bezogenen gesellschaftlichen Erwartungen aussprechen, die unwiderruflich das sittliche Gefühl bestimmen, welches diesem Handeln im Bewusstsein eines Durchschnittsmenschen zukommt. Solange dem Kandidaten das Amt eines Parlamentsmitglieds weniger eine zu erfüllende Pflicht als eine erbetene persönliche Gefälligkeit zu sein scheint und die Gepflogenheiten weltweit dieser Einstellung entsprechen, wird keine Anstrengung nützen, um in dem gewöhnlichen Wähler das Gefühl zu verankern, dass die Wahl eines Parlamentsmitglieds auch eine Verpflichtung sei und es ihm nicht freistehe, seine Stimme anderer Überlegungen wegen zu vergeben als der persönlicher Eignung. Die für eine Wahl erforderlichen Aufwendungen, welche allen Kandidaten gleichermaßen gelten, sollten, so ist oft gefordert worden, entweder durch die Gemeindeverwaltung [municipal body] oder den Staat erbracht werden. Hinsichtlich der Unkosten des Kandidaten selber, für seine Wahlkampfbüros, seine Wahlwerbung, auch seine Druckkosten

184

D  A  B

und die Aufwendungen für seine öffentlichen Versammlungen, ist es in jeder Hinsicht besser, sie ganz zu unterlassen, es sei denn, sie verdanken sich der freiwilligen Hingabe seiner Unterstützer oder werden von diesen bezahlt. Selbst jetzt gibt es verschiedene Parlamentsmitglieder, deren Wahl sie nichts gekostet hat, deren gesamte Unkosten ihre Wählerschaft bestreitet. Hinsichtlich dieser Abgeordneten können wir völlig versichert sein, dass sie öffentlicher Beweggründe wegen gewählt wurden, dass eher als alle anderen sie die Männer sind, die der Wähler entweder der von ihnen vertretenen Prinzipien oder der Dienste wegen, die man sie für befähigt hält zu erbringen, wirklich gewählt sehen möchte. Jedes andere Parlamentsmitglied mag, selbst unter der Vermutung einer aufrichtigen Wahl, nicht als der beste Mann, sondern – soweit sich dies wissen lässt – als der beste reiche Mann gewählt werden, den man bekommen konnte. Sollte gefragt werden, auf welchem Wege das hier hervorgehobene Ziel verwirklicht werden kann, so gibt es, wie ich glaube, einen einzigen, der voraussichtlich wirksam wäre. Kein bloßes Verbotsgesetz würde den Zweck bewirken, wirksam wäre hingegen vermutlich, einem jeden Parlamentsmitglied vor Aufnahme seiner Abgeordnetentätigkeit die Ehrenerklärung abzuverlangen, er habe weder Geld noch Geldeswert für seine Wahl weder direkt noch indirekt gezahlt, sowie die eidesstattliche Verpflichtung, er werde dies auch nicht tun. Eine Ehrenerklärung wird, seltene Ausnahmen ausgenommen, von denen, die aller Voraussicht nach ins Parlament gewählt werden, nach wie vor nicht auf die leichte Schulter genommen. Wohl bin ich mir der Tatsache bewusst, dass die Wahrhaftigkeit auch eines so gebilligten Bekenntnisses dann nicht belastbar ist, wenn das öffentliche Dafürhalten ihm die Geltung entzogen hat und die Erklärung, wie im Falle politischer Eidesleistungen, möglicherweise nur noch als bloße Formsache gilt. Jedoch zeigt der große Widerwille dagegen, ein solches Dementi ausnahmslos, selbst im Falle von Bestechung, zu verlangen, dass man dem Bekenntnis eine bestimmte Wirksamkeit zugesteht. Auch bin ich der Überzeugung, dass die Nachlässigkeit, die hinsichtlich der Inhalte öffentlicher, gesetzlich geforderter Erklärungen vorherrscht, der Tatsache geschuldet ist, dass sie Zwecken wegen eingefordert werden, welche die Öffentlichkeit nicht billigt und in den meisten Fällen nicht billigen sollte. Die öffentliche Meinung duldet ein falsches Dementi nur dann, wenn sie die dementierte Sache bereits geduldet hat. Mir ist aber nicht bewusst, dass sich die Duldung auf jeden Fall erstreckt, in dem die Verpflichtung – wie es in diesem sein sollte – durch Strafen für Meineid Nachdruck erhält. Mögen Gesetz und öffentliche Meinung zu dem Zweck zusammenwirken, Wahlkampfausgaben aufzuheben, und die Aberkennung der Ehre wird verpflichtend sein. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass eine Gesetzesvorlage wie die von uns erwartete, eine Maßnahme, die auf einen Kompromiss abzielt und von der nicht behauptet wird, sie bewirke eine Änderung der Grundlagen, sondern nur, dass sie allein solche Nachbesserungen einführe, die mit den bestehenden Übereinkommen ihrem allgemeinen Umriss nach übereinstimmen, eine Gesetzesvorlage also, die nicht den Wünschen jener zu entsprechen vermag, denen das bestehende System von Grund auf fehlerhaft zu sein scheint, zwei Bedingungen zu genügen hätte: Sie sollte die verwerflichsten Elemente des bestehenden Systems beseitigen oder abschwächen und so weit als möglich die Prinzipien, welche am geeignetsten dafür sind, eine umfassende Erneuerung zu leiten, anerkennen und verkörpern – sodass sie einer weiteren Verbesserung nicht im Wege stünde, sondern im Gegenteil ein Schritt in die Richtung wäre, in der allein nach dieser

G  P ()

185

gesucht werden müsste. Das erste der beiden Themen ist bereits erörtert worden, das schwierigere zweite muss noch erörtert werden. Um einschätzen zu können, wie diese Teilreform den Prinzipien einer umfassenden Reform anzumessen wäre, muss überlegt werden, worin diese Prinzipien bestehen. Über diesen Gegenstand ist ein ganzes Jahrhundert lang häufig diskutiert worden, wobei allerdings, wie dies bei allen großen Themen der Fall ist, noch vieles zu sagen bleibt. Wir sollten bestrebt sein, uns die Idealvorstellung einer Repräsentativregierung zu vergegenwärtigen, wie entfernt, um nicht zu sagen zweifelhaft auch immer die Hoffnung scheinen mag, diese wirklich zu erlangen. Wir folgen dabei der Absicht, das gegenwärtige Tun möge, soweit realisierbar, in Richtung des Bestmöglichen weisen und die Wirklichkeit dem Maßstab des Rechten näher bringen und nicht von ihm abrücken – wie groß der Abstand von diesem Maßstab immer noch bleiben mag. Obgleich wir nur vom Londoner Hafen zu dem von Hull segeln, sollten wir uns dennoch am Polarstern orientieren. So scheinen mir erstens in jeder auf politischer Repräsentation beruhenden Ordnung, die als vollkommen gelten kann, alle erwachsenen Menschen12 befähigt zu sein, vermöge des Wahlrechts in bestimmtem Maße auf die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten Einfluss zu nehmen. Man mag einwenden, dass der größte Teil oder doch ein sehr großer der Bevölkerung in diesem Land wie in anderen Ländern nicht dazu taugt, politischen Einfluss auszuüben, dass diese Menschen damit Missbrauch trieben und es unmöglich ist, auf eine Zukunft vorauszuschauen, in der ihnen das Wahlrecht gefahrlos anvertraut werden könnte. Ich bin nicht bereit, all das zu bestreiten. Allerdings scheint mir das Bedürfnis, irgendeinem Teil der Gemeinschaft diese Aufgabe vorzuenthalten, nichts anderes als ein sehr großes Übel zu sein. Regierungen, Lehrer und Einzelne haben jeder an seinem Platz die Pflicht und Schuldigkeit, gegen dieses zu kämpfen und nie eher zu ruhen, als ihnen ein merklicher Fortschritt auf dem Weg seiner Beseitigung gelungen ist. Es ist bedeutsam, dass ein jeder der Regierten eine Stimme in der Regierung besitzen sollte, weil kaum erwartet werden kann, dass die Menschen ohne Stimme gegenüber jenen, denen eine Stimme zukommt, nicht ungerechterweise zurückgestellt werden. Noch bedeutsamer ist das Wahlrecht als Mittel der nationalen Bildung. Eine von jeder Beteiligung am politischen Geschäft ausgeschlossene Person ist kein Bürger. Er empfindet nicht wie ein solcher. Regen Anteil an der Politik zu nehmen, ist in der modernen Zeit das erste, das den Geist in Richtung allgemeiner Interessen und Betrachtungen hebt – der erste Schritt aus den engen Grenzen der Selbstsüchtigkeit des Einzelnen wie der Familie, die erste Bresche in das beschränkte Einmaleins tagtäglicher Beschäftigungen. Die Person, die in einer freien Gesellschaft lebend sich nicht für Politik interessiert, es sei denn, ihr wurde gelehrt, sich dafür nicht zu interessieren, muss zu schlecht informiert sein, zu töricht oder zu eigennützig, um für sie Interesse zu finden, wobei wir darauf 12

Anmerkung von Mill: Ich übergehe die Frage, ob geistesgestörte oder wegen der Verübung eines Verbrechens verurteilte Personen Ausnahmen von dieser allgemeinen Regelung bilden. In Anbetracht der unmittelbaren Einflussnahme ihrer Stimmen würde es kaum lohnen, sie auszuschließen. Jedoch als Mittel des erhabenen Ziels genommen, der Ausübung des Wahlrechts den Charakter eines sittlichen Tuns zu verschaffen, wäre es vielleicht angebracht, im Falle jener Verbrechen, die ein sehr geringes Empfinden gesellschaftlicher Verpflichtungen offenbaren, die Aberkennung dieses und anderer bürgerlicher Rechte als Teil der Strafe gelten zu lassen.

186

D  A  B

setzen können, dass sie sich um nichts kümmern wird, was sie oder ihre persönlichen Beziehungen nicht betrifft. Wer immer fähig ist, ein gemeinsames Interesse mit seinesgleichen, mit seinem Land oder mit seiner Stadt zu empfinden, wird sich für Politik interessieren. Jedoch an ihr ein Interesse zu nehmen und dabei keine Stimme zu beanspruchen, ist unmöglich. Besitz und Ausübung politischer Rechte – und unter anderen Rechten auch des Wahlrechts – gehören zu den wesentlichen Instrumenten der sittlichen wie der gedanklichen Schulung des Volksgeistes. Eine jede Regierung muss solange als äußerst unvollkommen gelten, bis ein jeder, der sich den Gesetzen zu fügen aufgefordert ist, in Hinblick auf deren Verabschiedung und Anwendung eine Stimme oder die Aussicht auf diese besitzt. Sollte aber jeder das gleiche Stimmrecht besitzen? Dies ist eine völlig andere Behauptung, meiner Beurteilung nach eine solche, die offenkundig so falsch ist wie die andere wahr und bedeutsam. An dieser Stelle, und dies ist eine Frage des Prinzips, trennt sich mein Weg von dem der demokratischen Reformer. Gemeinsam mit ihnen sehe ich dem allgemeinen Wahlrecht als letztendlichem Ziel freudig entgegen und widerspreche doch im Ganzen ihrer Befürwortung von Wahlbezirken, die sie als ein Mittel verstehen, der Stimme jedes Einzelnen gleiches Gewicht zu verleihen. Jedermann habe, so behaupten sie, ein gleiches Interesse daran, gut regiert zu werden, ein jeder habe deshalb den gleichen Anspruch darauf, seine eigene Regierung beaufsichtigen zu können. Ich könnte dem zustimmen, wenn die Kontrolle der Herrschaft über einen selbst wirklich das wäre, worum es ginge. Wozu ich allerdings beizupflichten aufgefordert bin, ist die Behauptung, dass jeder Einzelne den gleichen Anspruch haben solle, die Herrschaft über andere Menschen zu beaufsichtigen. Die Macht, welche das Wahlrecht verleiht, ist nicht nur die über einen selbst, sondern auch die Macht über andere. Das Maß an Aufsicht, das ein Wähler über seine eigenen Belange auszuüben befähigt ist, übt er auch über die Belange eines jeden anderen aus. Nun kann in keiner Weise zugestanden werden, dass alle Personen den gleichen Machtanspruch über andere besitzen. Die Ansprüche verschiedener Menschen auf eine solche Macht unterscheiden sich in dem Maße, in dem sich deren Befähigungen unterscheiden, jene nutzbringend auszuüben. Wenn behauptet wird, dass alle Personen in jeder durch die Gesellschaft anerkannten rechtlichen Hinsicht gleich sein sollten, so wende ich ein: nicht ehe alle den gleichen Wert als Menschen besitzen. Tatsächlich aber ist eine Person nicht so gut wie jede andere. Ein politisches Gebäude auf Voraussetzungen zu gründen, die mit der Wirklichkeit in Widerspruch stehen heißt, die Regeln vernünftigen Verhaltens auf den Kopf zu stellen. Sehen wir vorläufig einmal von einer Betrachtung des sittlichen Wertes ab, für welchen – obwohl sogar bedeutsamer als der der Bildung – eine geeignete Prüfung zu finden nicht so einfach ist: Eine Person, die nicht lesen kann, ist hinsichtlich des menschlichen Lebenszwecks weniger gut als eine, die lesen kann. Eine Person, die lesen, aber nicht schreiben oder rechnen kann, ist weniger gut als eine solche, die all dies kann. Eine Person, die lesen, schreiben und rechnen kann, jedoch nichts über die Eigenschaften natürlicher Gegenstände weiß, nichts über andere Orte und Länder oder die Menschen, die vor ihr gelebt haben, oder die Gedanken, Meinungen und Gebräuche ihrer Mitgeschöpfe allgemein, ist weniger gut als eine Person, die um diese Dinge weiß. Eine Person, die nicht – weder durch Lektüre oder im Gespräch – mit den weisesten Gedanken der weisesten Männer und den großen Vorbildern zuträglichen und tugendhaften Lebens

G  P ()

187

Bekanntschaft gemacht hat, ist nicht so gut wie eine, die mit diesen bekannt ist. Eine Person, die sich diese vielfältigen Kenntnisse eingeprägt, sie aber nicht verarbeitet hat – sie nicht klar und im Zusammenhang darzustellen vermag und zu keinem Zeitpunkt ihren eigenen Geist bemüht oder einen eigenständigen Gedanken aus eigener Beobachtung, Erfahrung oder Folgerung gewonnen hat, ist hinsichtlich keiner menschlichen Aufgabe so gut wie eine solche, für welche dies zutrifft. Niemand würde, ganz gleich um welches seiner eigenen Belange es geht, seine Angelegenheiten nicht von einer Person größeren Wissens und größerer Klugheit regeln lassen, statt von einer solchen, die weniger weiß und weniger klug ist. Niemand würde, wäre er verpflichtet, seine Interessen beiden gemeinsam anzuvertrauen, nicht wünschen, das der Gebildetere und Kultiviertere von beiden das größere Sagen hat. Das ist keine Rechtfertigung dafür, den weniger Gebildeten zum Sklaven, zum Leibeigenen oder zum bloß Abhängigen eines anderen zu machen. Die Unterwerfung eines beliebigen Einzelnen unter einen anderen oder einer beliebigen Schicht unter eine andere wird immer und unausweichlich verheerend in ihren Auswirkungen auf beide sein. Die Ausübung von Macht über welchen Teil der Menschheit auch immer ist, sollte sie ohne die Verpflichtung erfolgen, diesen zu Rate zu ziehen, nur dann hinnehmbar, wenn er sich in einem unentwickelten oder halbbarbarischen Zustand befindet. Unter allen zivilisierten Umständen sollte Macht niemals von der Notwenigkeit unabhängig sein, an die Vernunft zu appellieren und sich durch Motive zu empfehlen, welche sie vor dem Gewissen und in den Empfindungen der Regierten rechtfertigen. Auf dem gegenwärtigen Stand der Gesellschaft und unter den Bedingungen von Repräsentativ-Institutionen gibt es keinen anderen Weg, diese Notwendigkeit den herrschenden Schichten wie auch allen anderen Personen in der Gemeinschaft zu vermitteln als dadurch, einem jeden ein Stimmrecht zu verleihen. Ein großer Unterschied besteht jedoch zwischen der Weigerung, der großen Mehrheit das Stimmrecht zu verleihen, und der Auffassung, die Stimme eines jeden Einzelnen dieser Mehrheit solle genau so viel zählen wie die der gebildetsten Person in der Gemeinschaft – verbunden mit dem Zusatz, dass diese im Namen der Gleichheit in Wirklichkeit solange weit mehr zählen würde, wie die Ungebildeten den Gebildeten zahlenmäßig stark überlegen sind. In der Moral gibt es so etwas wie ein Recht auf Macht über andere nicht, die Wahlstimme aber ist diese Macht. Wenn alle das Stimmrecht besitzen, wird es vom Prinzip her gerecht und von der Sache her notwendig sein, ein Verfahren festzusetzen, das der Stimme des gebildeteren Wählers ein größeres Gewicht verleiht, ein Mittel, wodurch das eigentlich wertvollere Gesellschaftsmitglied, jenes, das die allgemeinen Dinge des Lebens betreffend fähiger und beschlagener ist, über ein auf die Regelung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten anwendbares größeres Wissen verfügt, so weit dies machbar ist, herausgehoben werden sollte und ihm ein vorrangiger Einfluss zu verschaffen ist, der seinen größeren Befähigungen entspricht. Der unmittelbarste Weg, auf dem sich dies bewirken ließe, wäre die Einführung einer Mehrzahl von Stimmen zugunsten jener, bei denen begründet anzunehmen wäre, dass sie über ein höheres Wissen und eine gebildete Persönlichkeit verfügen. Wenn jeder gewöhnliche, ungelernte Arbeiter eine Stimme erhielte, sollte jeder Facharbeiter, dessen Tätigkeit einen geübten Geist und die Kenntnis einiger Gesetze der äußeren Natur verlangt, zwei erhalten. Ein Vorarbeiter oder Meister, dessen Tätigkeit ein etwas größeres

188

D  A  B

Maß an allgemeiner Bildung verlangt wie auch einige sittliche und verstandesmäßige Fähigkeiten, sollte vielleicht drei besitzen. Ein Landwirt, Handwerker oder Händler, der eine noch größere Reihe von Vorstellungen und Kenntnissen benötigt wie auch das Vermögen, viele Handlungen gleichzeitig auszuführen und zu überwachen, sollte drei oder vier erhalten. Der Angehörige eines Berufsstandes, für den eine lange, sorgfältige und systematische geistige Bildung Voraussetzung ist – ein Jurist, ein Arzt oder Chirurg, ein Geistlicher jeder Konfession, ein Literat, ein Künstler, ein öffentlicher Amtsträger (oder jedenfalls der Angehörige eines jeden geistigen Metiers, dessen Zugehörigkeit eine erfolgreich bestandene Prüfung voraussetzt) – sollte fünf oder sechs besitzen. Der Absolvent einer Universität oder eine Person, die frei zum Mitglied irgendeiner Gelehrtengesellschaft gewählt wurde, ist zumindest zu einer solchen Anzahl von Stimmen berechtigt. Ein Zeugnis, das bescheinigt, einen vollständigen Lehrgang an irgendeiner Lehrstätte absolviert zu haben, die öffentlich als eine die höheren Bereiche des Wissens lehrende Einrichtung anerkannt ist, sollte zu einer Mehrzahl von Stimmen berechtigen. Auch sollte es eine Organisation geben, die ehrenamtlich im ganzen Land Prüfungen durchführt (entsprechend dem Beispiel der von der Universität Oxford auf so kluge und gerechte Weise festgelegten Prüfungen für die Mittelschichten13 ), bei der eine jede Person vorstellig werden kann, um dort von unparteiischen Prüfern ein Zeugnis zu erhalten, das ihr die Kenntnisse und Fertigkeiten bescheinigt, die sie zum Erwerb einer bestimmten Anzahl von Stimmen berechtigt, bis hin zur Höchstzahl, die einem Einzelnen zu besitzen erlaubt ist. Die Annahme höherer Weisung allein vermöge finanzieller Befähigung ist im Rahmen der gegenwärtig von uns in Betracht gezogenen Gruppe von Maßnahmen unstatthaft. Diese Annahme wird oft enttäuscht und ist für jene, gegen die sie sich richtet, immer ärgerlich. Bedeutsam ist die Sicherstellung von Bildung. Bildung lässt sich umstandslos prüfen bzw. liefert weit aussagekräftigere Indizien, als Einkommen, Steuerzahlungen oder der Wert des Hauses erbringen können, das eine Person bewohnt. Die Vollkommenheit eines Wahlrechts würde also darin bestehen, einer jeden Person eine Stimme zu verleihen, jeder gut ausgebildeten Person der Gemeinschaft aber mehr als eine, wobei der Umfang soweit praktisch möglich ihrem Umfang an Bildung zu entsprechen hätte. Auch ist keines dieser Bestandteile eines vollkommenen Repräsentativsystems ohne das andere zulässig. Solange das Wahlrecht vollkommen auf nur eine beschränkte Schicht begrenzt ist, hat diese Schicht keine Veranlassung, die Mehrstimmenabgabe einzuführen – die unter solchen Bedingungen vermutlich nur eine Oligarchie innerhalb einer Oligarchie schaffen würde. Wenn andererseits die zahlreichste Schicht, welche den Umfang ihrer Bildung betreffend die niedrigste ist (ausgenommen ehrenwerte Ausnahmen auf der einen Seite und erbärmliche auf der anderen), den Bessergebildeten das Recht verweigert, kraft ihrer höheren Befähigungen über eine solche Vielzahl von Stimmen zu verfügen, die verhindern mag, immer und hoffnungslos durch die verhältnismäßig gesehen Unfähigen überstimmt zu werden, dann muss sich die zahlenmäßige Mehrheit einer Beschränkung des Wahlrechts auf einen solchen Teil ihrer Mehrheit un-

13

Anmerkung des Übersetzers: Siehe dazu: The Gentleman’s Magazine and Historical Review, Dezember 1858, S. 594–603.

G  P ()

189

terwerfen oder einer solchen Verteilung der Wahlkreise, die den notwendigen Ausgleich zwischen Anzahl und Bildung auf andere Weise bewirkt.14 Da die Zeit noch nicht reif dafür ist, ein auf den gerade dargestellten Prinzipien beruhendes Repräsentativsystem zu erlangen oder auch nur zu erbitten, sind praktische Überlegungen dahingehend anzustellen, welche Maßnahme jetzt umgesetzt werden kann, die diesen Prinzipien in irgendeinem Umfang entspricht und diese anerkennt wie auch deren weitergehende Anwendung, statt sie zu erschweren, erleichtert, wenn die Umstände dies verlangen oder zulassen sollten. Ein Mittel für diesen Zweck ist ganz offenkundig. Allgemein wird zugestanden, dass die erwartete Maßnahme, was immer sie sonst noch enthalten mag, eine beträchtliche Erweiterung des Wahlrechts beinhalten sollte. Dies wird erreicht werden, wenn die Erweiterung abhängig von einer Bildungsqualifikation erfolgt. Vom Prinzip her ist das Repräsentativsystem selbst seiner demokratischsten Auslegung nach an die Bedingung eines gewissen Bildungsgrades geknüpft. Nie dürfen wir die Erkenntnis aus den Augen verlieren, dass die Stimme für einen Parlamentsabgeordneten Macht über andere bedeu14

Anmerkung von Mill: Ein Weg, dies zu bewirken, ist mit beachtlichem Nachdruck in einer an Lord Palmerston gerichteten Denkschrift eingeklagt worden. Sie trägt die Unterschriften vieler herausragender Persönlichkeiten von Literatur und Wissenschaft. [Anmerkung der Herausgeber: Siehe „The Educational Franchise“, The Times, 19. Dezember 1857, S. 8.] Gefordert wird, bestimmten Schichten und Berufen, die man ihrer Art nach für gebildet hält, eine eigenständige Vertretung zu verleihen. Die Personen, aus denen sie sich im ganzen Land zusammensetzen, sollen als gesonderte Wählerschaft eingetragen werden und eine große Anzahl ausschließlich ihnen zugewiesener Vertreter besitzen, die von ihnen in örtlichen Bezirken gewählt werden. Das Ziel dieses Plans stimmt mit dem überein, das ich im Auge habe. Bei aller aufrichtigen Hochachtung, die ich angesichts einiger der angefügten Namen empfinde, kann ich doch nicht glauben, dass dies ein gangbarer Weg ist, dieser Schwierigkeit zu begegnen. Keine Erfindung könnte geeigneter sein, das der Bildung und der Bildungsschicht selber zugewiesene Vorrecht unbeliebter zu machen und Widerspruch wie Rivalität zwischen den Vertretern der Gebildeten und der mutmaßlich Ungebildeten festzuschreiben. Auch würde ich nicht erwarten, dass die in besonderer Weise und vermöge ihrer beruflichen Tätigkeiten gebildeten Schichten auf irgendeinem anderen Wege mit solcher Gewissheit gute eigene Vertreter wählten als dies bei einer gemischten Wählerschaft der Fall wäre, von der sie einen wertvollen Bestandteil bildeten. Es ist eine traurige Wahrheit, jedoch eine solche, welche die Erfahrung aller Akademien und gelehrten oder wissenschaftlichen Körperschaften zeigt, dass die Stimmen einer ausgewählten Schicht gebildeter Menschen kaum den wirklich Gebildetsten unter ihnen zukommen. Nicht die Genies, die der Körperschaft voraus sind und diese zwingen voranzuschreiten, sondern die gelehrigen und unbedenklichen Unbedeutenden, die hervorragenden Vertreter ihrer durchschnittlichen Zusammensetzung, sind jene, die sie mit Freuden anerkennt. Der wirklich bedeutende Mann ist im Gegenteil der Bewerber, den sie höchst wirkungsvoll einer gemischten Wählerschaft vorstellig machen könnte. In diesem Fall wie in allen anderen Fällen ist es nicht die Aufteilung in Schichten von Personen und deren von der jeweils anderen getrennte Organisation, sondern deren Vereinigung mit anderen, von ihnen sehr verschiedenen Schichten, welche die Interessen und Überzeugungen beseitigt, die diese Schichten hegen. Wer Abgeordneter zu sein wünscht, sollte sich nicht auf Empfehlungen stützen, die sich an eine Schicht, sondern auf solche, die sich an Überzeugungen und Interessen wenden, die allen Schlichten gemeinsam sind. Der einfache wie der gebildete Geist hat in ihm seinen Vertreter zu sehen. Andersfalls werden seine Worte und Gedanken beim ersteren nicht nur auf taube Ohren stoßen, sondern schlimmer noch in ihnen möglicherweise ein Gefühl des Widerstands erregen.

190

D  A  B

tet und dass es ein Recht auf die Macht über andere schlechterdings nicht gibt. Wer immer sie auszuüben wünscht, ist verpflichtet, die dafür notwendigen Befähigungen in dem Maße zu erwerben, in dem ihm dies möglich ist. Ich habe meiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass im bestmöglichen Repräsentativsystem ausnahmslos jede Person eine Stimme haben würde. Dies heißt aber nicht, ein jeder sollte sie bedingungslos erhalten, sondern die Bedingungen sollten derart sein, dass ein jeder ihnen genügen kann. Der höchste Grad an Bildung, den zu erreichen von jedem gerechterweise zu erwarten ist, sollte allen Anwärtern als unabweisbare Bedingung für die Ausübung des Wahlrechts gelten. Gegenwärtig ist die Gesellschaft hinsichtlich der Bereitstellung von Bildung so rückständig wie in Bezug auf die Anerkennung ihrer Ansprüche. Auch ist der allgemeine, für den Unterricht in England geltende Maßstab so niedrig, dass die Anzahl der Wähler geringer als gegenwärtig wäre, wenn man mehr als die bloßen Grundlagen einfordern würde. Jedoch ließe sich zu Recht sagen, dass heutzutage jedermann, der dies wünscht, Lesen, Schreiben und die einfachen Rechenregeln erlernen kann. Auch gibt es keinen Grund, warum nicht ein jeder, der sich als Wähler registrieren möchte, im Beisein des mit der Registratur Beauftragten einen Satz in englischer Sprache abschreiben oder eine Rechnung nach dem Dreisatz durchführen sollte. Ist das Prinzip einer Bildungsqualifikation somit erst einmal aufgestellt, können danach die Anforderungen steigen, wenn im Gegenzug mehr zu erlangen ist. Aber ein Haushaltswahlrecht oder gar ein allgemeines Wahlrecht mit diesem geringen Umfang an Bildungsvoraussetzungen wäre vermutlich zuverlässiger als ein beschränkteres Wahlrecht ohne diese. Lesen, Schreiben und Rechnen stellen nur eine niedrige Stufe schulischer Bildung dar – aber auch diese wäre möglicherweise hinreichend gewesen, Frankreich vor der gegenwärtigen Zersetzung zu bewahren. Die Millionen von Wählern, die im Gegensatz zu nahezu jeder gebildeten Person des Landes Louis Napoleon zum Präsidenten kürten, waren hauptsächlich Bauern, die weder lesen noch schreiben konnten und deren Wissen um Männer öffentlichen Ansehens selbst dem Namen nach auf mündliche Überlieferung beschränkt war. Wenn es überhaupt ein zugleich liberales und konservatives politisches Prinzip geben sollte, so ist es das einer Bildungsqualifikation. Niemand ist so illiberal, niemand so engstirnig in seiner Gegnerschaft dem Fortschritt gegenüber, niemand so abergläubisch den dümmsten und schlimmsten überlieferten Gebräuchen verhaftet wie die Ungebildeten. Niemand ist so gewissenlos, niemand so begierig, nach dem zu greifen, was nicht ihnen sondern anderen gehört, als die Ungebildeten im Besitz der Macht. Ein ungebildeter Geist ist nahezu unfähig, die Rechte anderer klar zu erkennen. Die Furcht, die Menschen mit Eigentum früher vor dem allgemeinen Wahlrecht hatten, ist erheblich schwächer geworden. Sollte es eine Verfassung untergraben, so wird dies, wie die jüngste Geschichte gezeigt hat, wahrscheinlich zugunsten von Despotie wie von Demokratie erfolgen. Welchen Charakter das mutmaßlich am meisten zu fürchtende Übel auch immer haben mag, kein Freund des Fortschritts kann wollen, dass die vorherrschende Macht Personen in der geistigen und sittlichen Verfassung der englischen arbeitenden Schichten übergeben werden sollte; und kein Konservativer muss Einwände erheben, wenn das Wahlrecht jenen Schichten zum Preis eines bescheidenen Maßes an nützlicher und ehrenwerter Anstrengung gewährt wird. Die Beteiligung an politischen Rechten als Gegenleistung eines geistigen Fortschritts hat, neben den offensichtlichen, viele unvorhergesehene Wirkun-

G  P ()

191

gen. Sie würde mehr bewirken als nur die besten Mitglieder der arbeitenden Schichten zuzulassen und die schlimmsten auszuschließen, mehr als eine ehrenvolle Unterscheidung zugunsten der Gebildeten zu treffen und ein zusätzliches Motiv dafür zu schaffen, nach Bildung zu streben. Sie würde bewirken, dass das Wahlrecht mit der Zeit in einem völlig anderen Licht erscheint; dass es, anders als heute, da es dem Wähler als ein Besitz gilt, von dem er seinem eigenen Interesse und Belieben folgend Gebrauch macht, ihm als ein anvertrautes öffentliches Gutes verständlich wird. Sie würde die Ausübung des Wahlrechts als eine Sache des Urteils kennzeichnen, und nicht der Neigung, als eine öffentliche Aufgabe, auf welche ein Anrecht zu haben sich aus der Eignung zu ihrer klugen Erfüllung ergibt. Niemand wird vorgeben, dass sich diese Wirkungen in ihrer Ganzheit bei einer so niedrigen Bildungsqualifikation erzielen lassen, wie sie Lesen, Schreiben und Rechnen darstellen. Sie wäre aber ein beachtlicher Schritt in Richtung auf diese. Das reine Novum des Erfordernisses – die Erregung und Diskussion, die es in der sie hauptsächlich betreffenden Klasse hervorrufen würde – wäre die beste Art Bildung, würde ihren Geist erhellen, sie in einer völlig neuen Art denken, sie politische Rechte und Verbindlichkeiten anerkennen lassen. Dass allen, die diesen einfachen Bedingungen genügen, das Wahlrecht zuerkannt werden sollte, kann solange nicht erwartet werden, geschweige denn erwünscht sein, bis auch Maßnahmen getroffen sind, mit höheren Unterrichtsstufen zusätzliche und mehr Einfluss bewirkende Stimmrechte zu verknüpfen. Ohne eine solche Vorkehrung müsste die dauerhaft gelten sollende Bildungsprüfung viel strengere Kriterien ansetzen. Was nun den praktisch tätigen Staatsmännern ins Bewusstsein gerückt werden sollte, ist die Einsicht, dass jede Minderung der geldwerten Qualifizierung zum Zwecke der Erweiterung des Wahlrechts auf eine größere Anzahl der Mitglieder der arbeitenden Klasse an die weitere Bedingung einer Bildungsprüfung zu binden ist. Es wäre damit aber nicht erforderlich, bereits registrierten Wählern das Wahlrecht wieder zu entziehen. Für neue Bewerber sollte die Prüfung allerdings zwingend erforderlich sein. Wenn alle Haushaltsvorstände oder auch nur die aller 5-£-Haushalte ohne Unterschied des Geschlechts – warum sollten beim Zählen der Stimmen dort Unterschiede gemacht werden, wo dies beim Erheben der Steuer nicht der Fall ist? – als Wähler zugelassen würden, und zwar unter der Bedingung, dem mit der Registratur Beauftragten zu belegen, lesen, schreiben und rechnen zu können, so wäre das ein grundlegender Fortschritt im bestehenden Repräsentativsystem. Dies ist also ein wichtiges Prinzip, das der zu erwartende Gesetzesentwurf zur Wahlrechtsreform, ohne bis zu Neuerungen gehen zu wollen, die jedermann ängstigen müssen, einführen könnte. Ein weiteres Prinzip, diesem seiner Bedeutung nach allerdings nachgeordnet, das gleichfalls zum gegenwärtigen Anlass in die Verfassung aufgenommen werden könnte, betrifft die Vertretung von Minderheiten. Ich neige zu der Auffassung, dass das Vorurteil, welches zweifellos in den Köpfen der Demokraten gegen dieses Prinzip existiert, nur deshalb besteht, weil sie dessen Logik nicht hinreichend bedacht haben. Es ist ein überaus demokratisches Prinzip – eine unausweichliche Folge, die aus den Thesen zu ziehen ist, die dem demokratischen Glaubenssatz zugrundeliegen. Selbst die Regierung rein numerischer Mehrheiten erfordert, dass jede Anzahl entsprechend ihres Umfangs zählen soll. Undemokratisch ist es, wenn der Minderheit gestattet wird, die Mehrheit zu überwiegen. Allerdings erfordert das

192

D  A  B

Prinzip des allgemeinen Wahlrechts, dass, soweit machbar, jede Minderheit in der Wählerschaft durch eine Minderheit in der vertretenden Körperschaft repräsentiert werden sollte. Ein jedes Wahlverfahren, dass dieses Ziel aus den Augen verliert, ist mit der Idee einer Volksregierung unvereinbar, es fasst die Meinung der Gemeinschaft nicht korrekt zusammen. Eine wirkliche Volksvertretung besteht dann nicht, wenn drei Fünftel der Bevölkerung das gesamte Unterhaus wählen und die restlichen zwei Fünftel keine Vertreter haben. Dies wäre nicht nur keine Regierung durch das Volk, es wäre nicht einmal eine Regierung durch die Mehrheit des Volkes, denn die Regierung läge praktisch in den Händen einer Mehrheit der Mehrheit. Ein Parlament mag sich vermöge allgemeinen Wahlrechts bilden und die reine Mehrheit des Volkes vertreten, und wiederum, wenn es Gesetze beschließt, dies durch eine Mehrheit aus ihren Reihen tun. So kann es sein, dass die regierende Körperschaft, ist sie erst einmal durch diesen zweifachen Verdrängungsprozess beeinträchtigt, nur die Meinungen oder Absichten von wenig mehr als einem Viertel der Bevölkerung vertritt. Wenn Zahlen der Maßstab sein sollten, dann dürfte ein Drittel der Bevölkerung wirklich nicht über zwei Drittel der Vertretung verfügen. Hingegen sollte jedes Drittel der Bevölkerung zu einem Drittel der Vertretung berechtigt sein. Obwohl dies unmöglich mit Genauigkeit abgesichert werden kann, ist es doch besser, das Problem anzugehen, als Minderheiten im Ganzen zu missachten. Würde das Unterhaus von der gesamten Bevölkerung aufgrund einer einzigen Liste gewählt, so wäre jedem klar, dass dieser Wahlmodus die Minderheit völlig entrechtet. Die Partei, die zahlenmäßig die stärkste wäre, würde ohne Opposition regieren, bis ihr Machtmissbrauch einen Umschwung der öffentlichen Meinung bewirkte. Die gesamte Partei würde augenblicklich aus dem Amt gejagt und die gleiche unbeschränkte Herrschaft an ihre Gegner fallen. Im gegenwärtigen Fall spüren die Menschen eine ähnliche Schwierigkeit nicht, denn sie rechnen damit, dass die Partei, die in einigen Orten in der Minderheit ist, andernorts die Mehrheit erlangt und die Minderheiten vor Ort gewissenmaßen durch die Kandidaten der Mehrheiten ihrer eigenen Geisteshaltung andernorts vertreten sind. Dies trifft zweifelsohne in beträchtlichem Maße zu. Auch wird dies gemeinhin im Falle jener großen Teile der öffentlichen Meinung zutreffen, die alle Schichten durchdringen und die Gesellschaft nahezu gleichmäßig teilen. In anderen Fällen gilt dies nicht. So werden die Protestanten in Frankreich vermutlich in keiner Wählerschaft die zahlenmäßige Mehrheit bilden. Sollte sich die Politik momentan irgendeinem Problem zuwenden, das für die Protestanten von speziellem Interesse ist, wären diese ohne jede Vertretung. Unter den Bedingungen allgemeinen Wahlrechts würde die Klasse der bloßen Handarbeiter in jedem Wahlbezirk eine große Mehrheit bilden, allein aufgrund einer örtlichen Verwaltungseinteilung des Landes. Deshalb könnte es geschehen, dass jedes einzelne Mitglied der Legislative die Meinungen und Empfindungen allein der Handarbeiter vertritt. Um Minderheiten die Möglichkeit zu geben, vertreten zu werden, ohne sie mit Mehrheiten gleichzustellen, wäre es erforderlich, dass jede Wählerschaft zumindest drei Mitglieder wählt – und ich wage zu behaupten, dass diese Anzahl hinreichend ist und keine Wählerschaft eine größere Anzahl wählen dürfte. Wenn Menschen für eine lange Liste wählen, werden sie für gewöhnlich das wählen, was ihnen eine Gruppe Politiker anbietet, welche die Organisation der Wahlen in ihre Hände genommen haben. Bei einer so großen Anzahl spielen persönliche Kenntnisse oder Vorlieben keine Rolle. Folglich

G  P ()

193

werden die Menschen selbstverständlich jene wählen, die man ihnen als die Kandidaten ihrer Partei anbietet. Unter der Annahme, dass jede Wählerschaft drei Vertreter wählt, gibt es zwei Vorschläge, denen zufolge eine Minderheit, die ein Drittel der Wählerschaft umfasst, eines der Mitglieder wählen kann, indem sie einvernehmlich handelt und auf nichts anderes zielt. Dem einen Vorschlag zufolge sollte jedem Wähler nur erlaubt sein, für zwei oder gar nur für einen zu stimmen, obwohl drei zu wählen sind. Dem anderen folgend, verfügt der Wähler über seine drei Stimmen, kann aber alle drei auf einen Kandidaten vereinigen. Der erste der beiden Entwürfe wurde in die Gesetzesvorlage zur Wahlrechtsreform der Regierung Lord Aberdeens übernommen. Jedoch zögere ich nicht, eindeutig dem zweiten den Vorzug zu geben, für welchen Mr. James Garth Marshall in einer profunden und schlüssigen Schrift eingetreten ist.15 Der zuerst genannte Entwurf wird unter allen Umständen und zwangsläufig unbeliebt sein, weil er die Vorrechte des Wählers beschneidet. Der letztere hingegen erweitert diese. Ich bin sogar bereit zu behaupten, das die Zulassung der Stimmenhäufung [cumulative vote], das heißt der Möglichkeit, bis zu drei Stimmen auf einen einzelnen Kandidaten zu versammeln, bereits an sich, also unabhängig von ihrer Auswirkung auf die Vertretung von Minderheiten, das Wahlverfahren ist, das den Wünschen des Wählers den präzisesten Ausdruck verleiht. Dem bestehenden Entwurf nach kann ein Wähler, der drei Stimmen hat, diese den drei Kandidaten geben, die er ihren Mitbewerbern vorzieht. Möglicherweise wünscht er aber den Erfolg des einen in weit größerem Maße als den der beiden anderen und ist deshalb sogar bereit, die Stimmen für diese preiszugeben, um die Erzielung seines größeren Wunsches wahrscheinlicher zu machen. Diesem Teil seines Wunsches kann er gegenwärtig in seiner Wahl keinen Ausdruck verleihen. Er mag zwei seiner Stimmen völlig preisgeben, hat aber keine Möglichkeit, dem von ihm bevorzugten Wunsch mehr als eine Stimme zu verleihen. Warum aber sollte die bloße Tatsache der Vorzugswürdigkeit zählen, in keiner Weise aber der Grad dieser Vorzugswürdigkeit? Das Vermögen, einem einzelnen Kandidaten mehrere Stimmen zu geben, wäre für jene von großem Vorteil, deren Ansprüche darauf, gewählt zu werden, sich aus vorzugswürdigen persönlichen Eigenschaften ergeben, nicht aber aus der Tatsache, dass sie bloße Symbole einer bestimmten Ansicht sind. Gibt nämlich ein Wähler seine Stimme einem Kandidaten aufgrund der Zusagen, die dieser gegeben hat, oder weil er derselben Partei wie er selbst angehört, dann wird er den Erfolg dieses Individuums nicht stärker wünschen als den eines anderen, der die gleichen Zusagen gegeben hat oder derselben Partei angehört. Wenn es ihm um die Wahl speziell eines Kandidaten geht, dann tut er dies einer Sache wegen, die diesen persönlich von allen anderen Kandidaten derselben Partei unterscheidet. Sollte es keine beherrschende Einflussnahme vor Ort zugunsten eines Individuums geben, würden jene Kandidaten von der Stimmhäufung profitieren, die allgemein die rechtschaffensten und begabtesten Personen sind oder die den Ruf haben, solche zu sein. In der vorhergehenden Betrachtung der wesentlichen Aspekte einer neuen Parlamentsreform hat die geheime Abstimmung keine Erwähnung gefunden. Ich hoffe nun, genügend Gründe vorbringen zu können, warum diese der Betrachtung wert ist – allerdings 15

Anmerkung der Herausgeber: Minorities and Majorities; their relative rights. A letter to the Lord John Russell, M. P. on Parliamentary Reform, London 1853.

194

D  A  B

nicht als Teil der Maßnahmen, die zur Reform der Repräsentation gehören sollten, sondern als jene, die nicht dazu gehören sollten. Mir scheint das geheime Wahlrecht, eine äußerst richtige und begründbare Forderung in jener Zeit, als sie ursprünglich erhoben worden war, gegenwärtig und noch mehr in kommender Zeit weit eher von Schaden als von Nutzen zu sein. Die geheime Abstimmung ermöglicht dem Wähler, seine eigenen privaten Vorlieben, ob selbstsüchtig oder selbstlos, zur vollen Entfaltung zu bringen, ohne ihn zu veranlassen, diese angesichts der Meinungen und Wünsche anderer aufzuschieben – es sei denn, diese beeinflussen seine eigenen. Daraus folgt, worauf die Freunde der geheimen Abstimmung immer hingewiesen haben, dass Geheimhaltung in den Fällen wünschenswert ist, in denen die auf den Wähler durch den Willen anderer einwirkenden Motive ihn wahrscheinlich irreführen werden, er hingegen wie er sollte wählen würde, wenn man ihm seine eigenen Vorlieben ließe. Daraus folgt gleichermaßen, und auch dies ist die Auffassung der Freunde der geheimen Abstimmung, dass dann, wenn die Vorlieben des Wählers dazu angetan sind, diesen in die Irre zu führen, ihn jedoch das Verantwortungsgefühl anderen gegenüber davor bewahren mag, nicht Geheimhaltung sondern Öffentlichkeit geboten ist.16 16

Anmerkung von Mill: Dieser Maßstab ist klar und deutlich von einem Philosophen aufgestellt worden, der mehr als jeder andere seiner Generation dafür verantwortlich ist, dass die geheime Wahl zum Glaubenssatz der Vertreter der Parlamentsreform wurde: „Es gibt Umstände, unter denen der Gebrauch der geheimen Wahl von Vorteil ist; es gibt aber auch Umstände, unter denen er schadet. Wenn wir stets den Zweck vor Augen haben, auf den alle Institutionen erklärtermaßen gerichtet sind, wird es uns nicht schwerfallen, die Grenze zwischen beiden zu bestimmen. Ein Wähler kann als jemand verstanden werden, welcher der Wirkung zweier Gruppen von Interessen ausgesetzt ist: einerseits Interessen guter oder schlechter Art, auf die bezogen er vom Willen anderer Menschen abhängt; andererseits solchen Interessen, in Bezug auf welche er nicht als von irgendeinem bestimmten Menschen oder irgendeiner bestimmten Gruppe von Menschen abhängig gelten kann. In manchen Fällen lenken ihn die Interessen, für welche er nicht von anderen abhängig ist, in die richtige Richtung. Falls keine anderen Interessen auf ihn einwirken, wird er in Fällen wie diesen für diese Richtung stimmen. Wirken jedoch Interessen auf ihn, die von anderen Menschen abhängen, die mächtiger als die vorhergehenden sind und ihn in die entgegengesetzte Richtung drängen, so wird er für die entgegengesetzte Richtung stimmen. Es ist deshalb erforderlich, ihn vor der Einwirkung dieser Interessen zu schützen. Erreicht wird dies, indem ihm ermöglicht wird, geheim zu wählen. In diesem Falle kann nämlich jener, der ihn andernfalls in seiner Abstimmung nötigen würde, gar nicht wissen, in welche Richtung seine Wahl geht. Deshalb würde in all den Fällen die geheime Wahl eine großartige und unschätzbare Garantie sein, in welchen die unabhängigen Interessen des Wählers, jene, die im wahrsten Sinne des Wortes seine eigenen zu nennen sind, eine gute und nützliche Wahl vorschrieben, der Wähler zugleich aber der Einflussnahme zum Guten wie zum Bösen durch andere Menschen ausgesetzt wäre, deren Interessen ihm eine niederträchtige und boshafte Abstimmung vorschrieben …Es gibt jedoch eine Reihe anderer Fälle, in denen jene Interessen des Wählers, die ihren Ursprung wesentlich in ihm selbst und nicht in anderen Menschen haben, in eine nachteilige Richtung weisen, und in welchen er keiner anderen Einflussnahme durch Interessen anderer Menschen als solchen ausgesetzt ist, die ein jeder gemeinsam mit der übrigen Gemeinschaft besitzt. Wäre dem Wähler in diesen Fällen die geheime Wahl erlaubt, würde er gewiss seinem finsteren Interesse folgen. Wäre er aber gezwungen, in der Öffentlichkeit zu wählen, hätte er allen Auflagen zu entsprechen, welche die unverwandt auf seine Tugend wie seine Gaunerei gerichtete Aufmerksamkeit der Gemeinschaft sicherlich zuwege bringen wird. In solchen

G  P ()

195

Aus diesem Grunde befürworten weder Konservative noch Reformer die geheime Abstimmung im Parlament selbst. So sehr er auch gegen irreführende Einflüsse von außen geschützt ist, würde ein Parlamentsabgeordneter oftmals doch durch falsche Wahlentscheidungen seine Privatinteressen bedienen. Die wesentliche Absicherung gegen diesen Vertrauensbruch jedoch ist die Öffentlichkeit seiner Stimme wie auch die Auswirkung, welche jene Meinung auf seine Denkweise hat, die sich andere hinsichtlich seines Verhaltens bilden werden. Vor dreißig Jahren war die Behauptung noch richtig, dass das Hauptübel, vor dem man sich bei Parlamentswahlen schützen müsse, gerade dasjenige sei, das man durch die geheime Abstimmung beseitigen könne, nämlich die Ausübung von Zwang durch Gutsherren, Arbeitgeber oder Kunden. Gegenwärtig bildet meiner Ansicht nach die Selbstsucht oder die selbstsüchtige Parteilichkeit des Wählers selbst eine weit ergiebigere Quelle von Übeln. Eine unlautere und schädliche Abstimmung wird jetzt, wie ich überzeugt bin, weit häufiger durch das persönliche Interesse des Wählers oder das Interesse seiner Schicht oder durch die eigene niedere Gesinnung veranlasst, als durch irgendeine Besorgnis vor Unannehmlichkeiten, die ihm von Seiten anderer bereitet werden könnten, und allen jenen Einflüssen würde er sich, wenn die Abstimmung eine geheime wäre, ganz ohne Scheu und frei von jedem Schamgefühl und jeder Verantwortlichkeit hingeben können. In einer Zeit, die uns noch nicht sehr fern liegt, befanden sich die höheren und reicheren Schichten im Vollbesitz der Regierungsgewalt. Ihre Macht bildete den Gegenstand der vornehmsten Beschwerde des Landes. Die Gewohnheit, nach dem Geheiß eines Gutsherrn oder Arbeitgebers zu stimmen, war so fest verankert, dass kaum etwas anderes als ein starker Aufschwung der Volksbegeisterung, wie er in der Regel nur bei einer guten Sache vorzukommen pflegt, sie zu erschüttern vermochte. Eine Abstimmung, die allen jenen Einflüssen Trotz bot, war deshalb in den meisten Fällen eine ehrliche und patriotische, jedenfalls aber war sie, gleichviel von welchen Beweggründen sie diktiert wurde, beinahe ausnahmslos eine gute Abstimmung, da sie dem Erzübel, der überwuchernden Einflussnahme der Oligarchie, entgegentrat. Hätte man den Wähler zu jener Zeit in die Lage versetzen können, sein Stimmrecht wenigstens frei und ohne Gefährdung seiner persönlichen Interessen, wenn auch nicht ehrlich oder einsichtsvoll zu üben, so wäre dies ein großer Gewinn gewesen, denn es wäre damit das Joch der damals herrschenden Macht gebrochen worden, jener Macht, die geschaffen hatte und aufrecht hielt, was an den Staatseinrichtungen und der Verfassung schlecht und verwerflich war: der Macht der Gutsherren und Stimmenhändler. Die geheime Abstimmung wurde nicht angenommen, aber der Fortschritt der Verhältnisse hat in dieser Beziehung ihre Arbeit verrichtet und verrichtet sie, in zunehmendem Maße, auch jetzt noch. Der politische und gesellschaftliche Zustand des Landes hat sich in allen Beziehungen, die bei dieser Frage in Betracht kommen, sehr geändert und ändert sich noch alle Tage. Die höheren Schichten sind jetzt nicht mehr die Herren des Landes. Man müsste blind gegen alle Zeichen der Zeit sein, um zu glauben, dass die mittleren Fällen wäre die geheime Abstimmung nur eine Aufforderung, Unheil zu stiften.“ [James] Mill’s History of British India. [Anmerkung der Herausgeber: 3. Aufl., 6 Bde., London 1826, Bd. III, S. 451–452.]

196

D  A  B

Schichten noch ebenso fügsam gegen die höheren, und die arbeitenden Schichten noch ebenso abhängig von den höheren und mittleren sind, als es vor einem Vierteljahrhundert der Fall war. Die Ereignisse dieses Vierteljahrhunderts haben nicht nur jeder Schicht ihre eigene Stärke bewusst gemacht, sondern die Angehörigen der unteren Schichten auch in die Lage versetzt, den Mitgliedern der jeweils höheren mit einer weit kühneren Stirn gegenüberzutreten. In der Mehrzahl der Fälle ist die Abstimmung der Wähler, mag sie nun den Wünschen jener höher gestellten Personen entsprechen oder nicht, jetzt nicht mehr die Wirkung eines Zwanges, zu dessen Ausübung nicht mehr dieselben Mittel zu Gebote stehen, sondern der Ausdruck ihrer eigenen persönlichen oder politischen Neigungen. Selbst die Fehler des gegenwärtigen Wahlsystems sind ein Beweis dafür. Die Zunahme der Bestechlichkeit, über die man so laute Klagen führt, und die Übertragung der Ansteckung auf Ortschaften, die früher von dieser Krankheit frei waren, legen Zeugnis davon ab, dass die Einflüsse vor Ort nicht mehr im Vordergrund stehen, dass die Wähler mit ihrer Abstimmung sich selbst und nicht anderen Leuten gütlich tun wollen. Ohne Zweifel ist in den Grafschaften und den kleineren Wahlkreisen noch immer ein beträchtlicher Rest von unterwürfiger Abhängigkeit zu finden, aber sie liegt nicht mehr im Geiste der Zeit und die Gewalt der Umstände arbeitet unablässig darauf hin, sie zu vermindern. Ein guter Pächter kann heutzutage überzeugt sein, dass seinem Gutsherrn gerade so viel an ihm liegt, wie ihm an seinem Gutsherrn, und ein erfolgreicher Geschäftsmann ist vollkommen in der Lage, sich von der Gunst irgendeines besonderen Kunden unabhängig zu fühlen. Bei jeder neuen Wahl mehrt sich die Selbständigkeit, mit der die Wähler ihr Stimmrecht gebrauchen. Weit mehr als ihre äußere Lage bedarf jetzt ihre Gesinnung der Emanzipation. Sie sind nicht mehr bloßes Werkzeug eines fremden Willens, das dazu verwendet wird, die Macht in die Hände einer leitenden Oligarchie zu legen; die Wähler selbst sind dabei, zur Oligarchie zu werden. Genau in demselben Verhältnis, in dem die Abstimmung des Wählers durch seinen eigenen Willen bestimmt wird und nicht durch das Belieben eines anderen, der über ihn verfügen kann, nähert sich seine Stellung mehr und mehr der eines Parlamentsmitgliedes, und die Öffentlichkeit wird immer unerlässlicher. So lange noch ein Teil des Gemeinwesens unvertreten bleibt, ist die Beweisführung der Chartisten gegen die geheime Abstimmung in Verbindung mit einem beschränkten Stimmrecht anfechtbar. Die gegenwärtigen Wähler und die große Mehrzahl derer, welche begründete Aussicht haben, durch irgendeine neue Gesetzesreform das Stimmrecht zu erhalten, gehören der Mittelschicht an und haben ebenso wie Gutsherren oder große Fabrikanten das Interesse ihrer besonderen Schicht, das sie von den arbeitenden Schichten unterscheidet. Würde das Stimmrecht auf alle geschulten Arbeiter ausgedehnt, so würden oder könnten wenigstens auch diese noch immer ein besonderes, von dem der ungeschulten Arbeiter verschiedenes Interesse haben. Nehmen wir an, dass es allen Männern gewährt werde, dass das, was früher fälschlich allgemeines Stimmrecht genannt wurde und jetzt mit dem abgeschmackten Namen Mannheitsstimmrecht [manhood suffrage] bezeichnet wird, zum Gesetz des Landes erhoben werde, so würden die Wähler noch immer ein besonderes Klasseninteresse im Gegensatz zu dem Interesse der Frauen besitzen. Wir brauchen uns nur den Fall vorzustellen, dass die Volksvertretung sich mit irgend einer speziell die Frauen berührenden Frage zu beschäftigen hätte, dass es sich zum Beispiel darum handelte, ob den Frauen gestattet werden soll, akademische Grade zu erwerben, ob die

G  P ()

197

milden Strafen, die das Gesetz über brutale Schurken verhängt, die ihre Ehefrauen täglich beinahe tot prügeln, durch wirksamere Bestimmungen ersetzt werden sollen, oder auch, um ein anderes Beispiel zu wählen, dass irgendjemand im britischen Parlament mit dem Antrag hervorträte, den verheirateten Frauen solle ein Verfügungsrecht über ihr Eigentum zugestanden werden, wie es in Amerika ein Staat nach dem anderen nicht durch ein bloßes Gesetz, sondern durch eine besondere Bestimmung der revidierten Verfassung anordnet. Haben in einem solchen Falle Frau und Töchter eines Mannes kein Recht zu wissen, ob er für oder gegen einen Kandidaten stimmt, der diese Vorschläge zu unterstützen bereit ist? Natürlich wird man dagegen einwenden, dass diese Gründe ihr Gewicht nur von der Voraussetzung eines ungerechten Zustandes des Stimmrechtes herleiten, dass die Nichtwähler, deren Meinung den Wähler voraussichtlich dazu bestimmen könnte, seine Stimme ehrlicher und besser zu verwenden, als er es ohne ihren Einfluss getan hätte, das Stimmrecht mehr verdienen als er, dass sie es sofort erhalten sollten und jeder, der dazu taugt, Wähler zu beeinflussen, auch dazu taugt, ein Wähler zu sein, dass alle diejenigen, denen der Wähler billigerweise verantwortlich gemacht werden dürfe, selbst Wähler werden und als solche unter dem Schutz der geheimen Abstimmung stehen sollten, um vor dem ungebührlichen Einfluss mächtiger Individuen oder Schichten gesichert zu sein, denen man nicht die Möglichkeit lassen dürfe, sie zur Verantwortung zu ziehen. Dieses Argument ist bestechend, und ich habe es einst für triftig gehalten. Jetzt aber erscheint es mir falsch. Wer dazu taugt, Wähler zu beeinflussen, taugt deshalb noch nicht dazu, selbst ein Wähler zu sein. Die letztere Stellung gibt eine weit größere Macht als die erstere, und es kann jemand für die geringere politische Verrichtung reif sein, ohne dass man ihm deshalb auch schon mit Sicherheit die Ausübung der höheren anvertrauen kann. Die Meinungen und Wünsche der ärmsten und rohesten Arbeiterschichten können als ein Einfluss unter manchen anderen eine sehr nützliche Wirkung auf die Entschließungen der Wähler wie auf die der Legislative haben, und trotzdem würde es vielleicht noch sehr schädlich sein, wenn man ihnen im gegenwärtigen Zustand ihrer Moral und Intelligenz die volle Ausübung des Stimmrechtes zulassen, und dadurch den überwiegenden Einfluss in die Hände geben wollte. Gerade dieser vermittelte Einfluss derer, denen das Stimmrecht fehlt, auf diejenigen, welche es besitzen, ist besonders dazu geeignet, durch sein fortschreitendes Wachstum den Übergang zu jeder neuen Ausdehnung des Stimmrechtes sanfter zu machen und das Mittel zu bieten, um derartige Änderungen, sobald ihre Zeit gekommen ist, in friedlicher Weise zu bewerkstelligen. Indessen ist für die Frage noch eine andere, tiefergreifende Erwägung maßgebend, die man bei keiner politischen Betrachtung außer Rechnung lassen sollte. Es ist nämlich eine an sich ganz unbegründete Vorstellung, dass die Öffentlichkeit und das Gefühl der Verantwortlichkeit gegen das Publikum nur dann vorteilhaft sein können, wenn das Publikum befähigt ist, sich ein gesundes Urteil zu bilden. Es hieße den Nutzen der öffentlichen Meinung sehr oberflächlich beurteilen, wenn man voraussetzen wollte, dass sie nur dann heilsam wirken kann, wenn es ihr gelingt, eine unbedingte und gleichförmige Unterordnung unter alle ihre Gebote zu erzwingen. Beständig von anderen beobachtet zu werden und sich gegen andere verteidigen zu müssen, ist für niemand so wichtig, als gerade für diejenigen, deren Art zu handeln der Meinung anderer zuwiderläuft, weil sie dadurch genötigt werden, auf eine sichere Grundlage ihrer eigenen Meinung achtzugeben. Nichts

198

D  A  B

wirkt so stabilisierend, wie die Notwendigkeit, einem Druck entgegenzuarbeiten. Wer nicht gerade unter der vorübergehenden Herrschaft leidenschaftlicher Aufwallung steht, wird nichts tun, was ihn besonderem Tadel aussetzen könnte, außer wenn er nach einem von ihm selbst vorherbedachten und selbstbeschlossenen Plan handelt, was immer das Zeichen eines besonnenen und überlegten Charakters ist, und in der Regel, wenn der Handelnde nicht ein von Grund aus schlechter Mensch ist, auf ehrliche und starke persönliche Überzeugungen schließen lässt. Selbst die bloße Tatsache, dass man von seiner Handlungsweise Rechenschaft zu geben hat, ist ein mächtiger Beweggrund, sich einer solchen zu befleißigen, die sich mindestens als leidlich anständig darstellen lässt. Sollte jemand meinen, dass die bloße Verpflichtung, einigermaßen den Anstand zu wahren, kein sehr erhebliches Hemmnis des Missbrauchs der Macht ist, so würde er damit nur beweisen, dass er nie veranlasst worden ist, die Handlungsweise von Menschen zu beobachten, welche sich der Notwendigkeit einer solchen Rücksichtnahme für überhoben erachten. Die Öffentlichkeit ist schon dadurch ganz unschätzbar, dass sie Dinge hindert, bei welchen jede Möglichkeit einer halbwegs haltbaren Verteidigung wegfällt, dass sie zur Überlegung nötigt und einen jeden zwingt, bevor er handelt, sich darüber klar zu werden, was er sagen will, wenn er für seine Handlungen zur Verantwortung gezogen wird. Aber es wird doch einmal, so ließe sich einwenden, die Zeit kommen, wenn sie auch noch nicht angebrochen ist, da alle Menschen tauglich sein werden, Wähler zu sein, und kraft dieser ihrer Tauglichkeit alle, Männer wie Frauen, das Stimmrecht erhalten werden; wenigstens dann wird von der Gefahr einer Klassengesetzgebung nicht länger die Rede sein können; die Wähler, die dann das Volk sind, können kein anderes Interesse mehr haben, als das allgemeine; selbst wenn Individuen noch mit Rücksicht auf ihre Privat- und Klasseninteressen ihre Stimmen abgeben, so werden doch derartige Rücksichten für die Mehrheit nicht mehr maßgebend sein, und da es keine Nichtwähler mehr geben wird, denen die Wähler verantwortlich gemacht werden müssten, wird die Wirkung der geheimen Abstimmung, die nur noch die gemeinschädlichen Einflüsse ausschließt, durchaus wohltätig sein. Selbst damit kann ich mich nicht einverstanden erklären. Ich bin der Ansicht, dass die geheime Abstimmung selbst dann nicht wünschenswert wäre, wenn sich das ganze Volk für das allgemeine Stimmrecht eignen sollte und es erhalten hätte. Zunächst glaube ich nämlich, dass sie unter solchen Umständen als ganz überflüssig gelten müsste. Denken wir uns nur einen Zustand, wie ihn diese Annahme voraussetzt, ein allgemein gebildetes Volk und jedes erwachsene menschliche Wesen im Besitz des Stimmrechtes. Wenn selbst da, wo die Wähler nur einen kleinen Teil des Volkes ausmachen und der Mehrzahl der ganzen Bevölkerung fast jede Bildung fehlt, die öffentliche Meinung bereits die herrschende Macht in letzter Instanz ist, wie jeder sieht und sehen muss, so ist es ein Hirngespinst, anzunehmen, dass in einem Gemeinwesen, dessen Mitglieder sämtlich lesen können und sämtlich stimmberechtigt sind, gegen deren Neigung von Gutsherren und reichen Leuten eine Macht geübt werden könnte, deren Abschüttelung die mindeste Schwierigkeit machen würde. Während aber unter solchen Umständen das Schutzmittel der Geheimhaltung überflüssig würde, wäre auf der anderen Seite die Kontrolle durch die Öffentlichkeit ebenso notwendig wie jemals. Die allgemeine Erfahrung der Menschheit müsste durchaus trügerisch sein, wenn die bloße Tatsache, dass jemand einer aus

G  P ()

199

dem Gemeinwesen ist und dass seine Stellung keinen ausgesprochen feindlichen Gegensatz zwischen seinen und den allgemeinen Interessen in sich schließt, auch schon genügen sollte, um die Erfüllung einer öffentlichen Pflicht, die ihm obliegt, abzusichern, wenn auch jede anregende oder hemmende Rücksicht auf die Meinung der Mitbürger wegfällt. Der besondere Anteil des einzelnen Mannes an dem allgemeinen Interesse erweist sich in der Regel selbst dann, wenn ihn keine Privatinteressen in entgegengesetzte Bahnen ziehen, keineswegs als ausreichend, um zu bewirken, dass er ohne äußere Beweggründe seiner Pflicht gegen die Öffentlichkeit nachkommt. Ebenso wenig kann man zugeben, dass unter der Herrschaft des allgemeinen Stimmrechtes die geheime Abstimmung ebenso ehrlich ausfallen würde wie die öffentliche. Der Satz, dass die Wähler, wenn sie das ganze Gemeinwesen bilden, kein Interesse daran haben können, gegen das Interesse des Gemeinwesens zu stimmen, wird sich bei näherer Prüfung als eine Behauptung erweisen, die wohlklingender als gehaltreich ist. Obwohl das Gemeinwesen als ein Ganzes, wie schon aus den Worten selbst hervorgeht, kein anderes Interesse haben kann, als sein Gesamtinteresse, so ist dies doch bei den einzelnen Individuen keineswegs der Fall. Eines Mannes Interesse besteht in allen Dingen, für die er sich interessiert. Jeder Mensch hat so viele Interessen, wie er Gefühle hat, mögen diese Gefühle Neigungen oder Abneigungen, Gefühle selbstsüchtiger Natur oder edlerer Art sein. Man kann nicht sagen, dass irgendeines dieser Interessen an sich genommen „sein Interesse“ ausmacht; er ist ein guter oder schlechter Mensch, je nachdem er die eine oder die andere Klasse von Interessen vorzieht. Ein Mann, der zu Hause ein Tyrann ist, wird geneigt sein, mit der Tyrannei zu sympathisieren, sofern diese sich nicht gegen ihn selbst richtet, und es ist beinahe ausgemacht, dass er mit dem Widerstand gegen Tyrannei nicht sympathisiert. Ein neidischer Mann wird gegen Aristeides stimmen, weil man ihn den Gerechten nennt. Ein selbstsüchtiger Mann wird einen noch so unerheblichen Privatvorteil seinem Anteil an dem Vorteil vorziehen, der seinem Vaterlande aus einem guten Gesetz erwachsen würde, weil seine Geistesgewohnheiten ihn geneigt machen, seine Sonderinteressen vorzugsweise zu berücksichtigen und er diese am besten zu beurteilen vermag. Eine große Zahl von Wählern wird zwei verschiedene Klassen von Neigungen haben, solche, die den eigenen Privatinteressen und solche, die den öffentlichen Interessen zugehören. Die letzteren sind die einzigen, zu denen er sich öffentlich bekennen möchte. Es ist immer die beste Seite ihres Charakters, welche die Menschen sich herauszukehren bemühen, selbst denen gegenüber, die nicht besser sind als sie selber. Eine unehrliche oder gemeine Abstimmung aus Gewinnsucht, Bosheit, Groll, persönlicher Rivalität, selbst aus Rücksicht auf Interessen oder Vorurteile einer Klasse oder Sekte, wird immer leichter bei dem geheimen als bei dem öffentlichen Verfahren vorkommen. Und es gibt Fälle – sie können mit der Zeit häufiger werden –, in denen beinahe die einzige Rücksicht, welche einer Mehrheit von Schurken noch einige Zurückhaltung auferlegt, in ihrer unwillkürlichen Achtung vor der Meinung einer anständigen Minderheit besteht. Fühlt sich nicht in einem solchen Falle, wie es der jener Staaten von Nordamerika war, welche die Zahlung ihrer Schulden verweigerten, der grundsatzlose Wähler noch einigermaßen durch die Scham eingeengt, die er empfinden muss, wenn er einem ehrlichen Mann ins Gesicht blickt? Da nun der geheimen Abstimmung, selbst unter den günstigsten Umständen, alle diese Vorteile zum Opfer fallen müssten, erfordert der Nachweis ihrer Notwendigkeit

200

D  A  B

weit stärkere Gründe als die, welche bisher für sie angeführt wurden, um so mehr, als dieselben täglich an Gewicht verlieren. Man darf nicht vergessen, dass die geheime Abstimmung als nichts anderes als ein notwendiges Übel verteidigt werden kann und verteidigt werden konnte. Notwendig mag sie zuweilen gewesen sein, von Übel aber war sie in jedem Fall. Verschleierung ist zu allen Zeiten einer leidlich aufgeklärten Moral vom sittlichen Empfinden der Menschheit verurteilt worden, es sei denn, sie war eines übergeordneten Beweggrundes wegen erforderlich. Wenn nun aber eines der umfassenden Ziele nationaler Bildung darin bestehen sollte, Mut und Bürgersinn zu befördern, ist es höchste Zeit, den Menschen die Pflicht zu lehren, ihre Meinungen öffentlich zu vertreten und öffentlich ihren Meinungen folgend zu handeln. Verstellung in allen ihren Formen ist ein Ausweis von Sklaverei. Niemand wird von Sklaven die Tugenden freier Männer erwarten, keiner die Mittel für angenehm erachten, durch welche Sklaven ihre Befreiung bewirken. Zu Anfang wehren sie sich im Verborgenen. Ist jedoch der offene Widerstand an der Zeit, muss jener die Seele eines Sklaven haben, welcher der Waffe des Sklaven den Vorzug gibt, wie sehr ihn auch das Misstrauen anderen gegenüber dazu bewegen mag, deren Gebrauch zu billigen. Auch trifft zu, was die Gegner der geheimen Abstimmung immer mahnend behauptet haben – dass sie selbst bei Annahme ihrer Notwendigkeit nur auf Kosten vieler Lügen ihre Wirkung erzielt. Die Freunde der geheimen Abstimmung geben sich der schwachen Hoffnung hin, sie werde der Wahlwerbung ein Ende bereiten. Sollte sie wirklich diese Aussicht eröffnen, würde dies die gegen sie gerichtete Einrede erheblich entkräften. Jedoch liegt ein solches Ergebnis weder in der Natur des Menschen noch der Dinge. Solange Menschen existieren, besteht der unmittelbarste Weg dafür, die Stimme eines Menschen zu erlangen, darin, ihn darum zu bitten. Auch dann werden Menschen ein Versprechen erbitten, wenn sie keine positive Garantie dafür besitzen, dass sich an das Versprechen gehalten wird. Ein Mensch, der glaubt, Macht über einen anderen zu haben, und geneigt ist, diese Macht tyrannisch zu gebrauchen, wird den anderen fragen, wem dieser seine Stimme gibt, auch wenn er keine Garantie auf eine wahre Antwort erhalten wird, sondern nur dessen scheinbare Wahrhaftigkeit oder Verstellung erfährt. Der Wähler mag unter Berufung auf allgemeine Prinzipien jede Antwort verweigern. Sollte er allerdings nicht als Mann hoher Grundsätze bekannt sein, würde ihm die Weigerung zu Recht als hinreichender Nachweis dafür ausgelegt werden, dass seine wirkliche Antwort das offenbaren würde, was er zu verbergen interessiert ist. Befürworter der geheimen Abstimmung haben behauptet, der Wähler greife auf solche ausweichenden Antworten zurück, welche die Wahrung der Integrität im Falle dreister Fragen zu geben erlaubt. Aber eine ausweichende Antwort auf eine erste Frage ist nur dann erfolgreich, wenn sie einem Gleichgestellten gegenüber erfolgt, der sich nicht für berechtigt hält, eine zweite zu stellen. Ferner aber sind die meisten der Wähler für solche Ausflüchte nicht gewandt und bereit genug. Sie werden, wenn sie sich wirklich in der Macht des Fragenden glauben, einzig das Mittel der ausgesprochenen Lüge ergreifen können, die sie, falls sie auf Zweifel stoßen, durch eine Beteuerung ergänzen. Reformer mögen einst bereit gewesen sein, geflissentlich über dieses Übel hinwegzusehen, um dem weit größeren einer schlechten Regierung zu begegnen. Allerdings ist es für sich genommen kein unerheblicher Posten in der Rechnung und wäre in diesem Land möglicherweise von größerem Übel als in irgendeinem anderen. Es gibt wenige Dinge, welche die Engländer als Volk

G  P ()

201

zu der sittlichen Vorrangstellung berechtigt, mit der sie für gewöhnlich sich zu Lasten anderer Nationen beglückwünschen. Von diesen Dingen ist vielleicht jenes von höchster Bedeutung, dass die höher gestellten Schichten nicht lügen und die niedrigeren, obwohl sie zumeist gewöhnliche Lügner sind, sich des Lügens schämen. Das Wagnis einzugehen, diese Gesinnung zu schwächen, die schwer zu erzeugen ist oder wenn verloren nur mühsam wieder hergestellt werden kann, wäre ein dauerhaftes und viel zu schwerwiegendes Übel, als dass es für einen derart kurzfristigen Vorteil eingetauscht werden könnte, den die geheime Abstimmung selbst dann einbrächte, wenn man die überspanntesten Einschätzungen hinsichtlich ihrer Unerlässlichkeit zugrunde legte. Es gibt auch einen Vorschlag, der das Wahlverfahren betrifft, und der sowohl von einigen Befürwortern wie von einigen Gegnern der geheimen Abstimmung wohlwollend aufgenommen worden ist. Dieser besteht darin, die Wählerstimmen vor Ort, im Hause der Wähler einzusammeln. Gleich dem Merkzettel eines Steuereinnehmers solle ein Stimmzettel den Wähler zu Hause erreichen, den er ausfüllt, ohne die Mühen des Gangs zum Wahllokal auf sich nehmen zu müssen. Dieses Mittel wird empfohlen, weil es kostensparend sei und sich auf diesem Wege viele der Wähler erreichen ließen, die andernfalls nicht wählen würden, die aber von den Fürsprechern des Entwurfs als eine besonders erwünschte Wählerschicht betrachtet werden. Umgesetzt wurde dieses Verfahren bei der Wahl der gemäß den Armengesetzen handelnden Amtspersonen [poor-law guardians]. Auf den dort zu konstatierenden Erfolg wird verwiesen, um dessen Anwendung in dem bedeutenderen Fall der Wahl eines Mitglieds der Legislative zu fordern. Wie mir allerdings scheint, unterscheiden sich beide Fälle hinsichtlich der Frage voneinander, worauf der Nutzen des Mittels jeweils beruht. Eine lokale Wahl, welche für eine besondere Verwaltungstätigkeit durchgeführt wird, die wesentlich in der Zuteilung öffentlicher Gelder besteht, dient dem Zweck zu verhindern, dass die Auswahl ausschließlich in den Händen jener liegt, die sich aktiv darum kümmern. Weil das mit dieser Wahl verbundene öffentliche Interesse beschränkt ist und in den meisten Fällen nicht besonders weit reicht, ist die Bereitschaft, sich in dieser Angelegenheit zu engagieren, wahrscheinlich in erheblichem Maße auf jene Personen beschränkt, die hoffen, ihre Tätigkeit zum eigenen Privatvorteil nutzen zu können. So mag es äußerst wünschenswert sein, die Beteiligung anderer so leicht wie möglich zu machen, wenn auch nur zu dem Zweck, diese Privatinteressen zu neutralisieren. Geht es jedoch um die wichtige Angelegenheit der nationalen Regierung, die jeden interessieren muss, der sich um irgendetwas außerhalb seiner selbst sorgt oder auch um sich, jedoch auf vernünftige Weise, dann dient die Wahl vielmehr dem Zweck zu verhindern, dass jene wählen, denen diese Angelegenheit gleichgültig ist, statt diese dazu vermöge irgendwelcher anderen Mittel zu veranlassen, als der Erweckung ihrer schlafenden Geister. Der Wähler, den die Wahl nicht so sehr kümmert, als dass er zur ihr geht, ist genau jener Mensch, welcher – sollte er wählen können, ohne diese kleine Mühe auf sich zu nehmen – seine Stimme entweder der erstbesten Person, die ihn darum bittet, vermachen oder höchst nebensächlicher und alberner Anreize wegen vergeben wird. Ein Mensch, den es nicht kümmert, ob er wählt, wird es wahrscheinlich auch nicht sehr kümmern, wie er wählt. Jemand mit einer solchen Geisteshaltung hat überhaupt kein moralisches Recht zu wählen. Wenn er nämlich wählt, dann wiegt eine Stimme, die nicht Ausdruck einer Überzeugung ist, so schwer und bestimmt im gleichen Maße das Ergebnis wie eine solche, in der sich vielleicht Ge-

202

D  A  B

danken und Zielvorstellungen eines ganzen Lebens artikulieren. Diese Gründe scheinen mir entscheidend, um die vorgeschlagene Änderung abzulehnen und den gegenwärtigen Plan zu befürworten, die Stimme in einem öffentlichen Wahllokal abzugeben. Die Orte, an denen gewählt werden kann, sollten jedoch so zahlreich und zweckmäßig eingerichtet sein, um auch dem ärmsten Wähler die Stimmabgabe zu ermöglichen, ohne dass ihm dies den Arbeitslohn eines Tages kostet. Auch sollten, wie schon gesagt, die Aufwendungen für die Wahl nicht den Kandidaten in Rechnung gestellt werden, sondern der Grafschaft, dem Wahlkreis oder dem Staat. (Übersetzt von Veit Friemert)

VI Zentralismus (1862)

In diesen Schriften finden die Auffassungen zweier fähiger und gebildeter Schriftsteller zu jener politischen Frage unserer Zeit, und zwar von einander entgegengesetzten Standpunkten, ihren Ausdruck, die allem Anschein nach dazu bestimmt ist, zukünftige Generationen zu beschäftigen: die Frage des Zentralismus. Mit anderen Worten gesagt, geht es um die Grenzen, welche den Bereich der Regierung von dem des individuellen und spontanen Handelns trennen und den der Zentralregierung von dem der lokalen Verwaltung. Die Bedeutung dieser Frage wird tendenziell durch die beständige Zunahme kollektiven Handelns der Menschheit und den Fortschritt größer, der bei der Lösung anderer Fragen, die sich ihrer Natur nach der Diskussion eher stellen, erzielt worden ist. Das mit größerer Lebhaftigkeit und Erregung diskutierte Problem der Regierungsformen, das seit ewigen Zeiten das vorzügliche Thema der politischen Kontroverse ist, wird wahrscheinlich bei all seiner Schwierigkeit, zumindest theoretisch, viel eher eine Lösung finden – weil es an sich einfacher zu klären ist und in jedem möglichen Land eine bestimmtere Antwort zulässt; während die Antwort auf die Frage der Relevanz staatlichen bzw. zentralistischen versus privaten bzw. lokalen Handelns beständig anders ausfällt. Denn sie ist nicht von einem einzelnen Prinzip abhängig, sondern von einem Kompromiss zwischen Prinzipien, deren Elemente in jedem Einzelfall nicht identisch sind. Das Ausmaß, in welchem politische Autorität rechtmäßiger- und zweckdienlicherweise einzugreifen vermag, entweder um Einzelne oder freiwillige Vereinigungen zu kontrollieren, an ihrer statt für sie zu arbeiten, sie zu leiten und ihnen beizustehen, sie zum Handeln aufzurufen und zu bringen, variiert nicht nur mit den Bedürfnissen jedes Landes und Zeitalters sowie den Befähigungen eines jeden Volkes, sondern auch mit den besonderen Erfordernissen, die eine jede Arbeit zu ihrer Erledigung fordert. Selbst die despotischste Regierung ist in der Tat gezwungen, den größten Teil allen Geschäftsverkehrs den Individuen zu überlassen, die direkt betroffen sind. Hingegen wird in den freiesten Ländern vieles durch die Regierungen getan und muss auch durch sie getan werden, weil dieses zu tun unerlässlich ist, zugleich aber unmöglich Individuen überantwortet werden kann. Zwischen diesen Grenzen ist vieles anfechtbar und alles eine Frage des Maßes, wobei es um eine Abwägung von Vorteilen geht. Wenn

204

D  A  B

dank der Umstände und Gewohnheiten die eine oder andere Vorgehensweise eine wirksame und gezielte Umsetzung erfahren hat, dann sind die Vorteile einer jeden von ihnen so groß, dass sich auf jeder der beiden Seiten unschlagbare Argumente finden lassen. Leider hängt die Beantwortung der Frage nicht von den Vorzügen des bestmöglichen Handelns der Einzelnen oder der Regierung ab, sondern von den Unvollkommenheiten und Mängeln beider in deren normalem Zustand. Die bei weitem triftigsten Argumente werden von beiden Seiten nicht mit Verweis auf die Vortrefflichkeit des jeweils befürworteten Handelns erhoben, sondern mit Verweis auf die Schwächen des mit diesem rivalisierenden. Unter englischen Denkern besteht kein Zweifel und gegenwärtig ebenso wenig unter den wesentlichen Denkern auf der anderen Seite des Kanals, dass in allen großen Zivilisationen mit Ausnahme Englands und der Vereinigten Staaten das Regierungs- und zentrale Element übergewichtig, und dies in ungeheurem Maße, vertreten ist. Engländer pflegen zu denken, dass die Nationen des Kontinents – und Frankreich in auffälligster Weise, wie es in allen anderen Hinsichten die fortschrittlichste ist – durch ein Zuviel an Staat in einem Zustand politischer Unterentwicklung gehalten werden, dass die bürokratische Bündelung aller Anordnungen zur Regelung der nationalen Angelegenheiten in ihren Auswirkungen auf den Charakter und die Befähigungen der Nation zerstörerischer ist als die Tyrannei selber, zugleich aber das wesentliche Instrument für deren Entstehung und Aufrechterhaltung darstellt; dass die Regierung, indem sie es versteht, so viel wie möglich durch ihre eigenen Beamten tun zu lassen – denn sie bestimmt bis ins Einzelne gehend das, was sie anderen zu tun erlaubt, und fordert in allen Fällen, in denen gemeinschaftliches Handeln selbst geringfügigsten Ausmaßes beinhaltet ist, die Einholung ihrer formalen Zustimmung im Voraus, und zwar nicht nur für die durchzuführende Tätigkeit, sondern für jedes zu ihrem Vollzug geplante und einzeln aufführbare Mittel –, nicht nur das politische sondern auch in großem Maße das darüber hinaus reichende praktische Vermögen des Volkes hat verkümmern lassen, sogar seine intellektuelle Regsamkeit und sittliche Strebsamkeit in jedem Bereich geistigen Tuns, mit Ausnahme der reinen Theorie. Dies ist die seit langem in England geltende Meinung und bildet nun auch (vielleicht etwas übertrieben gesagt) die Meinung Frankreichs, oder jedenfalls der französischen Denker in ihrer großen Mehrheit, die wahrscheinlich langfristig das Nationalgefühl bilden und lenken werden. Die negative Reaktion in Frankreich auf Gouvernementalismus und Zentralismus sowie das Eintreten für individuelles und lokales Handeln ist gegenwärtig stark. Eine unterschwellige Bewegung in diese Richtung gab es, als die öffentliche Meinung zu wesentlichen Teilen entschieden in die entgegengesetzte Richtung wies. In den ersten Jahren der Restaurationsperiode kam es zu einem zeitweiligen Bündnis der besten Köpfe der Liberalen mit den Führern der Ultraroyalisten, um das lokale Wahlrecht und die Begrenzung der Macht der Regierung zu fordern. Wie M. Odilon Barrot richtig sagt (S. 12),1 waren Männer mit solch entgegengesetzten Auffassungen wie MM. de Villèle, de Corbière, Benjamin Constant, Fiévée, Châteubriand und Royer-Collard in dieser besonderen Hinsicht einer Meinung. Leider kam es zu einer Abschwächung dieser Bewegung, 1

Anmerkung der Herausgeber: Camille Hyacinthe Odilon Barrot. De la Centralisation et de ses Effets. Paris: Dumineray, 1861.

Z ()

205

als die zwei großen, damals gleichzeitig in Gegnerschaft zur juste-milieu-Politik Ludwig XVIII. stehenden Parteien die Hoffnung hegten, die Macht zu erlangen, die sie zu beschränken gewünscht hatten. Der Beginn der erneuten und ernsthafter in diese segensreiche Richtung weisenden Bewegung wird für gewöhnlich an die Veröffentlichung des großen Werkes von M. de Tocqueville gebunden. Dieser berühmte, mit großer Trauer vermisste Denker hat wie kein anderer der neuen Denkrichtung den Weg gewiesen. Befördert wurde sie durch die Schriften und Bestrebungen jener schätzenswerten Gruppe von Männern, der französischen politischen Ökonomen, die nahezu die einzigen Schriftsteller zu politischen und gesellschaftlichen Themen waren, die ihre Lehre ohne Behinderung während der ersten Jahre der gegenwärtigen französischen Regierung fortsetzen konnten und deren kürzlich errungener Sieg auf dem vergleichsweise begrenzten Feld des Freihandels ihren Auffassungen die lang verdiente Bedeutung verschaffte, die ihr bisher versagt geblieben war. Die Spontaneität und Handlungsfreiheit des Einzelnen wie der freiwilligen Vereinigung bilden, wie allseits bekannt, das Lebenszentrum der modernen politischen Ökonomie. So zeichnet sich der politische Ökonom gegenüber allen anderen dadurch aus, dass ihm und seinen Vereinigungen jede vermeidbare Einmischung der Regierung in die Angelegenheiten der Gesellschaft als im höchsten Maße verwerflich gilt. Folglich wird die Theorie der Nichteinmischung von einigen französischen politischen Ökonomen (Männer von großer Befähigung und Tugend, wie M. Dunoyer) bis zu einer Konsequenz getrieben, die sogar in England für maßlos gehalten wird. Sie gestatten keine Postämter, keine staatlich finanzierten Straßen, keine öffentliche Armenfürsorge und keine Unterstützung für die Bildung. Sie stützen sich allein auf das Prinzip der Freiwilligkeit, um Erfordernissen zu entsprechen, welche man sogar in den Ländern, in denen individuelles Unternehmertum, Gemeinsinn und die Fähigkeit zur freiwilligen Zusammenarbeit am weitesten entwickelt sind, der Regierung zu unterstellen für notwendig erachtet oder erkannt hat. Aber weit mehr als dies Schriften vermögen, ist der Verlauf der politischen Ereignisse dazu angetan, den Wandel herbeizuführen, der sich nunmehr in der französischen Öffentlichkeit manifestiert. Wenn etwas das Maß des Schmerzes mindern könnte, mit dem wir die despotische Herrschaft Napoleon III. bedauern, so wäre es die Art, in welcher diese Despotie den Blick schärft und das politische Urteil des französischen Verstandes reifen lässt. Wenige Jahre haben die Arbeit von Generationen geleistet und die Hauptvertreter des französischen Geistes gelehrt, was es dem Gesellschaftssystem und der Lebensweise ihres Landes ermöglicht hat, im zweiundsechzigsten Jahr ihres Kampfes um die Freiheit für unbestimmte Zeit in eine politische Knechtschaft zu fallen, die nicht weniger vollkommen ist, als sie es vor dieser Zeit war. Seit dieser Zeit ist es zur gewöhnlichen These der wichtigsten Meinungsführer in Frankreich geworden, dass Freiheit kostbarer als Gleichheit ist; dass Gleichheit in der Sklaverei noch mehr versklavt und dass ein Volk solange nicht frei ist und nicht frei sein kann, wie es nicht gelernt hat, sein Schicksal im alltäglichen Leben in die eigenen Hände zu nehmen, stattdessen sporadisch in Abständen einer Generation einen Klüngel von Herrschern durch einen anderen bloß ersetzt; dass eine Regierung, der es erlaubt ist, sich in alles einzumischen, auch wenn sie so frei wie nie erscheinen mag, zu allen Zeiten kaum von einer Despotie zu unterscheiden ist und zu allen Zeiten ein Befehl an in Reihe und Glied angetretene Soldaten bewirkt, diesem blind zu folgen – dass der Charakter einer Na-

206

D  A  B

tion, die fähig ist, über die entscheidenden Angelegenheiten des Staates zu befinden, nicht mit der Gewohnheit vereinbart werden kann, zu Herrschern aufzuschauend deren Einwilligung und Unterweisung bei jedem einzelnen Schritt in den weniger wichtigen Fragen des Lebens zu erlangen. Diese Meinung wird nunmehr ernsthaft von fast jedem französischen Schriftsteller vertreten, der in den zehn Jahren, die seit dem coup d’etat vergangen sind, sein Ansehen als politischer Denker gewonnen hat oder wahren konnte. Die große Rundschau, die zu ihren regelmäßigen oder gelegentlichen Autoren nahezu alle hervorstehenden geistigen Größen Frankreichs zählt und die sich sowohl der von ihr durchgängig gewahrten Qualität wie ihres schieren Umfangs wegen (eine vierzehntägig erscheinende Menge gleich einer englischen Rundschau) als bedeutendstes Organ des französischen Geistes erweist, ist durchsetzt von Antizentralisierungsgedanken. Damit nicht zufrieden, haben leidenschaftliche und tatkräftige Geister beschlossen, eine solche Rundschau herauszubringen, deren Leitgedanken Antizentralismus und das Prinzip der individuellen Freiheit darstellen sollten. Sie gründeten im November 1860 die ebenfalls vierzehntägig erscheinende Revue Nationale, die allgemein gesehen nur von der Revue des Deux Mondes übertroffen wird, jedoch nicht einmal von dieser in Hinblick auf den Wert ihrer Hauptartikel und ihrer Behandlung der umfassenderen politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen.2 Kein Leser dieser Rundschauen kann für einen Moment Richtung und Stärke der gegenwärtigen Bewegung in der öffentlichen Meinung Frankreichs verkennen. Jene, welche noch immer zum Banner der Zentralisierung stehen – „die großartigste Eroberung unserer Revolution“, wie Autoren aus der Schule von M. Thiers mit Freude sagten –, sind sich gleich anderen auch dessen völlig bewusst, dass der Wind nun aus der entgegengesetzten Richtung weht. „Wir haben ein Übermaß an Regierung“, erklärte kürzlich einer der aufgeklärtesten und klügsten von ihnen. „Es verlangt mir“, so fügte er hinzu, „eine große Überzeugungskraft ab, schreiben zu können, wie ich schreibe“, nämlich zugunsten der Zentralisierung und staatlicher Einmischung. Die Arbeit von M. Odilon Barrot, der wir den Titel entnommen haben, ist ein Beispiel dieser neuen Tendenz. Sie gehört zu einer Reihe von Veröffentlichungen, die unter dem Titel Études Contemporaines von einer Gruppe bekannter und angesehener Freunde der Freiheit auf den Weg gebracht wurden. Zwei dieser Schriften – M. de Haussonvilles Lett-

2

Anmerkung von Mill: Es scheint auf ärgerliche Weise unangemessen, bestimmte Autoren lobend hervorzuheben, wo doch das allgemeine Niveau so hoch ist. Es sollte uns aber erlaubt sein, die beiden Autoren zu nennen, die bisher über das Maß der anderen dieser Rundschau den Ton und Charakter verliehen haben, durch welche sie sich hervorhebt: M. Edouard Laboulaye, der unter den gegenwärtig Berühmtheit erlangenden Persönlichkeiten jene ist, die in einzigartiger Weise mit der Philosophie der individuellen Freiheit in Zusammenhang gebracht wird, und M. Lanfrey, der nicht nur zu den aufgeklärtesten Politikern zählt, sondern auch einer der einflussreichsten politischen Schriftsteller in Frankreich ist. Unterstützung erfahren sie z. B. von einigen der Hauptvertreter des französischen Protestantismus, dem Europa schon zu großem Dank verpflichtet ist und der zielstrebig seinen Platz in den Reihen sowohl des spekulativen wie des praktischen Denkens geltend macht: insbesondere M. de Pressensé, der außerhalb Frankreichs bekannteste lebende französische Theologe und Gründer wie Führer jenes Teils der französischen protestantischen Kirche, die finanzielle Unterstützung durch den Staat ablehnt.

Z ()

207

re au Senat3 sowie jene, die unter dem Titel „Les Anciens Partis“4 erschienen ist und für welche M. Prévost-Paradol zu einer Geld- und Gefängnisstrafe verurteilt wurde – haben auf Grund ihrer Triftigkeit für die gegenwärtigen Angelegenheiten einige Aufmerksamkeit bei Zeitungsautoren und -lesern in England erregt. M. Odilon Barrots Buch ist kurz und möchte populär statt philosophisch sein, verdeutlicht aber mit ernster und starker Überzeugung die wesentlichen thematischen Punkte: die Übel der Übermacht des Staates, und zwar sowohl als eine Sache der Theorie und des Prinzips als auch, in Frankreich, eine solche trauriger praktischer Erfahrung. M. Dupont-Whites zwei Abhandlungen5 (oder besser gesagt eine Abhandlung in zwei Teilen) erheben höhere Ansprüche, denen ihr Autor durchaus fähig ist zu genügen. Mit breitem Wissen und großer Begabung zu anschaulicher Darstellung bedacht, verbindet M. Dupont-White Kraft und Lebendigkeit des Ausdrucks, womit er an die besten französischen Schriftsteller erinnert. Noch bedeutender ist, dass er gern nach allgemeinen Wahrheiten sucht und in der Lage ist, sie zu erfassen. Dies wiederum ermöglicht ihm, die Meinungen, die er, ob richtig oder falsch, stützt, auf die solidesten und am wenigsten anfechtbaren Fundamente zu gründen, die sie von ihrem Wesen her zulassen. Im gegenwärtigen Fall hat er für eine Seite Partei ergriffen, deren Auffassungen wir im Großen und Ganzen für falsch halten; er hat sich in Gegensatz zu einer Bewegung gestellt, die wir innerhalb ihrer gegenwärtigen Grenzen für außerordentlich vernünftig und zuträglich halten. Dennoch betrachten wir seine Ausführungen sowohl von einem philosophischen als auch von einem praktischen Gesichtspunkt aus für wirklich wertvoll. Es gibt vieles, was sich richtiger- und vernünftigerweise für seine Position vorbringen ließe. Sollte die Meinung in die eine Richtung weisen, ist es ein Dienst an der Wahrheit, der wirklich anderen Seite der Medaille ein résumé zu verschaffen – den gültigen Gründen, die einen Anspruch darauf haben, in Betracht gezogen und nach ihrem wirklichen Wert gemessen zu werden, unabhängig von den Fehlern und Ungereimtheiten der gewöhnlicheren Fürsprecher, die ein Gegner, sollten diese die öffentliche Meinung nicht mehr vertreten, getrost ignorieren kann. Dies findet sich in M. Dupont-Whites Werk. Es ist gut, dass ein Buch existiert, das in einigen Hinsichten den gegenwärtig vorherrschenden Ideen eine notwendige Grenze und ein Korrektiv ist und sich dazu eignet, die gegen Staat und Zentralismus gerichtete Reaktion davor zu bewahren, in das andere Extrem zu fallen – wäre dies doch nicht nur an sich schädlich, sondern auch deshalb, weil es eine Gegenreaktion provozieren könnte. Zu diesen Vorzügen von M. Dupont-Whites Buch muss jener seiner völligen Aufrichtigkeit hinzugerechnet werden. Nicht nur stellt er die Argumente der Gegenseite nie falsch dar, er geht auch niemals über diese hinweg und untertreibt sie nicht absichtlich. Unserer Meinung nach unterschätzt er diese, und zwar allgemein, jedoch ist er peinlich darauf bedacht, sie darzulegen und sie so stark und plausibel zu machen, als wären sie die eigenen. Diese Aufrichtigkeit im Ausdruck ist auf natürliche Weise von 3

4 5

Anmerkung der Herausgeber: Joseph Othenin Bernard de Cléron, Comte d’Haussonville, Lettre au Sénat, Paris 1860. Anmerkung der Herausgeber: Lucien Anatole Prévost-Paradol, Les Anciens Partis, Paris 1860. Anmerkung der Herausgeber: Charles Brook Dupont-White. L’Individu et l’État. 2. Auflage. Paris: Guillaumin, 1858 sowie La Centralisation: suite à L’Individu et L’État. Paris: Guillaumin, 1860.

208

D  A  B

einer gleichen Aufrichtigkeit im Urteilen begleitet. Dass er den Gründen seiner Gegner Gerechtigkeit widerfahren lässt, bringt ihn in nahezu notwendiger Weise dazu, deren Schlussfolgerungen ein beträchtliches Maß an Gerechtigkeit zu gewähren. Folglich sind seine Zugeständnisse groß und zahlreich. Obwohl er der staatlichen Einmischung vom Ansatz her positiv gegenübersteht, M. Odilon Barrot aber negativ, besteht zwischen beiden ein viel geringeres Maß an Meinungsverschiedenheit, als man üblicherweise hinsichtlich der praktischen Schlussfolgerungen beider erwarten könnte. Das folgende Zitat zum Beispiel beinhaltet M. Odillon Barrots Beschwerde, in der er sich über die hauptsächlichen Übel des französischen Verwaltungssystems beklagt: „Wir beabsichtigen nicht, die großartige Einheit Frankreichs zu schwächen, die eine machtvolle Zentralregierung geholfen haben mag zu schaffen, die aber allein vermöge der Freiheit fundiert und gesichert werden kann. Was wir an der Zentralisierung ablehnen, ist ihre Maßlosigkeit. Als maßlos betrachten wir eine Zentralisierung dann, wenn sie durch die Verwechselung jenseitiger und diesseitiger Macht oder durch das Bündnis beider, sei es für politische oder religiöse Zwecke, die Freiheit des Gewissens und der Religion direkt oder indirekt verletzt. Wir wenden uns gegen eine Politik der Zentralisierung, die zuweilen unter dem Vorwand der Obhut, zuweilen aber auch unter dem der polizeilichen Kontrolle, die gemeinschaftlichen und sogar die Individualrechte der Bürger ihrer vorbeugendenden Aufsicht unterordnet; eine Politik, welche z. B. unter dem Vorwand, die Gemeinden seien unfähig, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln, diese für sie durch ihre eigenen Vertreter regeln lässt, ihnen die Bürgermeister, Steuereintreiber, Schuldirektoren, curés und um ein Haar sogar ihre gardes-champêtres ernennt; eine Politik, die es nicht duldet, dass Ratsversammelungen ohne ihre Zustimmung zusammentreten, die sich selbst vorbehält, deren jährliches Budget zu veranschlagen, die den Anspruch erhebt, über den Einsatz der Aufwendungen, selbst wenn über diese abgestimmt worden ist und sie gebilligt worden sind, zu wachen, indem sie den unglücklichen, die Kosten zahlenden Gemeinden ihre eigenen Pläne, Ingenieure und Architekten aufnötigt. Ich betrachte eine solche Zentralisierung für maßlos, die nahezu jedes Handeln eines Bürgers durch die Vorgabe einer vorausliegenden Ermächtigung in einem Maße einschränkt, dass es ihm nicht erlaubt ist, Gott anzubeten oder sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, es sei denn, dies findet das Gefallen der Regierung. Ich verurteile eine solche Zentralisierung als Missbrauch, welche den Vertretern der Regierung diese ganze Macht über die Privatbürger verleiht, während sie letzteren jede Rechtshilfe gegen diese Vertreter verweigert, die unter dem Schutz eines von der Regierung gewählten Staatsrates für unantastbar erklärt werden; eine Politik der Zentralisierung, die durch Konflikte, die sie nach eigenem Ermessen schürt und löst, die regulären Tribunale verdrängt und sich selbst die Entscheidung in jedem der Fälle zumisst, dem gegenüber sie ein Interesse anmeldet. Schließlich lehne ich eine Zentralisierung ab, deren Appetit unersättlich ist und die unaufhörlich alles bedroht, was in diesem Land nach wie vor unabhängig zu existieren scheint,

Z ()

209

die das eine Mal nach dem Besitz von Krankenhäusern greift, das andere Mal nach dem Besitz von kommunalem Eigentum, oder dem der großen Eisenbahn- und Versicherungsunternehmen. Eine solche Zentralisierung, die das Individuum auf den Zustand eines Automaten reduzieren würde, klage ich an, und ich werde versuchen, deren verheerende Auswirkungen darzustellen.“ (S. 63–66)6 Nun hat M. Dupont-White an der einen oder anderen Stelle seiner beiden Bände in nahezu jeden Punkt dieses Programms ausdrücklich oder in Form von Andeutungen eingewilligt. Die schlimmste Tyrannei überhaupt, nämlich die Entlassung der Staatsbeamten aus ihrer Verantwortlichkeit gegenüber den Gerichtshöfen – die Unmöglichkeit, einen öffentlichen Funktionsträger für jede ungesetzliche Machtausübung zu verklagen oder strafrechtlich zu verfolgen, und zwar ohne dass die Regierung mittels ihres Organs, des „Conseil d’État“, vorhergehend einwilligt hätte –, nennt M. Dupont-White eine „Ungeheuerlichkeit“ und meint, deren Fortdauer während der dreißigjährigen konstitutionellen Regierung sei nur erklärbar, weil die den repräsentativen Institutionen innewohnende Öffentlichkeit ein hinreichende Garantie gegen ihr Unheil gewesen sei – womit er in hinreichender Klarheit zeigt, wie diese unter der gegenwärtigen französischen Regierung seiner Meinung nach zu arbeiten hat. Wir erkennen an, dass M. Dupont-White durch sein Empfinden, das ihn als Liebhaber der Freiheit auszeichnet, in Hinblick auf das Prinzip einer Institution, welche die Exekutive unverblümt über die Gesetze stellt, die richtige Auffassung hegt. Seine Vorstellung jedoch, dass eine solche Institution unter einer parlamentarischen Regierungsform entweder harmlos war oder sein könnte, lässt ihn beinahe als jemanden erscheinen, der sich nur darum kümmert, den Gesamtkörper der Nation vor der Gefahr beträchtlicher Unterdrückungsakte seitens selbstherrlicher Staatenlenker zu schützen – wovor Diskussionsfreiheit und repräsentative Institutionen in der Tat in beträchtlichem Maße bewahren –, sich aber nicht um das allseits bekannte Bangen im Angesicht eines jeden kleinen Amtsträgers schert, das, mehr als fast alles andere, ein Volk freiheitsunfähig macht. Wie sollten sie nicht sklavisch sein, wenn ein jeder die Uniform einer Regierung Tragende, solange sich dieser müht, allen Personen von Rang, die mit der Regierung auf gutem Fuß stehen, unterwürfig zu sein, die übrigen nach Belieben beherrschen kann – wenn sie doch wissen, dass sie sich, um eine Beschwerde vorzubringen, nicht an den nächsten Richter wenden können, sondern gezwungen sind, sich an dessen möglicherweise entfernten Arbeitgeber zu richten? Welchen Schutz bieten ihnen eine freie Presse und eine parlamentarische Regierung? Wer wird ihre Beschwerden vernehmen oder sich um diese kümmern? Es ist eine höchst bedeutsame Tatsache, dass sich keine französische Regierung, so konstitutionell oder liberal diese ihrem Bekunden nach auch sein mag, entschlossen hat, dieses Vorrecht, in eigener Sache zu entscheiden, aufzugeben. Allein dieses Versprechen der Charta von 1830 blieb während der achtzehnjährigen Regentschaft von Louis Philippe uneingelöst. *** 6

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Barrot, De la Centralisation et de ses Effets.

210

D  A  B

M. Odillon Barrots Abhandlung stimmt mit der in diesem Land vorherrschenden Seelenverfassung so vollständig überein, dass wir es für nicht notwendig erachten, uns der Analyse ihrer Inhalte zu widmen. Im Falle von M. Dupont-White jedoch beabsichtigen wir, dies eher umfassend zu tun. Eine von unserer eigenen verschiedene Denkweise zu verstehen, ist immer ein außerordentlicher Gewinn. Es zeugt von besonderem Anstand der Denkungsart, hinsichtlich eines Gegenstandes, bei dem alles von der korrekten Ausgewogenheit gegensätzlicher Betrachtung abhängt, die Seite der Frage zu ergründen, die den meisten von uns am wenigsten vertraut ist. Allerdings muss gesagt werden, dass uns das Werk von M. Dupont-White, obwohl reich an Ideen, der Art wegen nicht zur Gänze befriedigt, in der diese vorgestellt und dargeboten werden. Jedem Gedanken für sich genommen wird mit wahrhaft französischer Trefflichkeit und Wortgewandtheit Ausdruck verliehen. Aber in bestimmtem Maße vermissen wir das, was üblicherweise die Darstellungen und Diskussionen französischer Denker charakterisiert: die markante Unterscheidung der verschiedenen Einzelheiten, aus denen sich der Gedanke aufbaut und von woher sich jede Idee oder jedes Argument unter der geeignetsten Überschrift versammelt – jene gekonnte Aufstellung von Themen und Argumenten, die ihren besten Werken eine zugleich wissenschaftliche und künstlerische Eigenart verleiht, wobei kein Gedanke den anderen bedrängt und behindert, sondern jeder die Position einzunehmen scheint, die seine natürlichste ist und die ihn auf imposanteste Weise mit dem Übrigen verbindet sowie dieses auf das Wirksamste unterstützt. Die Überschriften der Kapitel von M. Dupont-White weisen auf eine thematische Ordnung, die er in der Durchführung allerdings nahezu aus den Augen verliert. Er erlaubt seinem, mit dem Thema vollbeschäftigten Geist, in jede seiner Gliederungen Gedanken der jeweils anderen so überreichlich strömen zu lassen, dass dies nahezu den Eindruck einer großen Verwirrung hinterlässt, obwohl vieles von dem, was er sagt, im Ausdruck hervorragend ist. Nach einer ersten Lektüre hat man den Eindruck, der Autor habe eine Menge mitzuteilen und viele starke Argumente aufgestellt, wisse aber nicht, worin diese genau bestehen und auf welche thematischen Probleme sie speziell zutreffen. Wir werden versuchen, ein Verständnis der hinter seinen Beobachtungen stehenden allgemeinen Absichten zu erlangen, wobei wir uns nicht an seine gedankliche Ordnung halten werden, sondern seine Ideen dort aufnehmen, wo wir sie finden, und seine Argumente und anschaulichen Bemerkungen da, wo er ihnen am besten Ausdruck verliehen hat. M. Dupont-White zufolge hat die Tatsache, dass die letzten Generationen im Wesentlichen mit der Errichtung der Herrschaft der Nationen über ihre Regierenden beschäftigt waren, gemeinsam mit den überzogenen Ansprüchen, die zugunsten von theoretisch gesehen sozialistischen, praktisch aber despotischen Regierungen erhoben worden sind, ein in die gegenteilige Richtung weisendes Vorurteil erzeugt, dem zufolge staatliche Einflussnahme in gesellschaftliche Angelegenheiten grundsätzlich von Übel und gefährlich ist. Auf allen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung gilt ihm der Staat als wesentliches Instrument und Zentralorgan des Fortschritts – ein starker und ehrlicher Glaube, der einen der markantesten und achtbarsten Züge seiner Abhandlung darstellt. Der Mensch muss (so sagt M. Dupont-White) von Natur aus regiert werden, denn er ist ein We-

Z ()

211

sen, dessen eigennützige Gefühle für gewöhnlich stärker sind als seine moralischen.7 Je weiter die Gesellschaft voranschreitet, desto mehr und nicht weniger muss der Mensch regiert werden. Obwohl einerseits die durch Erfahrung bewirkte Verbesserung seine Eigennützigkeit in vielerlei Hinsicht aufklärt, so bietet andererseits der Fortgang der Zivilisation dieser Eigennützigkeit doch immer neue Möglichkeiten und Handlungsfelder, auf die bezogen die Lehren der Vergangenheit nicht strikt anwendbar sind und der Prozess der Belehrung und ihrer Disziplinierung beständig erneuert werden muss. Unter diesen Bedingungen erfordern die miteinander in Widerspruch stehenden Eigeninteressen der Individuen, vor allen Dingen aber der der Klassen einen Schlichter, der nicht nur angeregt durch besondere Umstände, sondern auf der Grundlage allgemeiner Regeln und umfassender Vorstellungen entscheidet. Sofern sie ordnungsgemäß aufgestellt und der Nation wirklich verpflichtet ist, fällt diese Schlichterrolle der Regierung zu. Denn die Regierung ist ihrer Stellung nach unparteiischer als jeder einzelne Teil der Gesellschaft es zu sein vermag. Aus diesem Grunde eignet sie sich auch dafür, über die gegensätzlichen Ansprüche dieser zu Gericht zu sitzen und einen faireren und besseren Ausgleich zwischen ihnen zu erzielen, als dies von einem feindlichen Kampf beider gegeneinander überhaupt erwartet werden könnte. Gegen diese Auffassung, bleibt sie auf das Prinzipielle beschränkt, ist nichts einzuwenden. Alle Theorien erlauben dem Staat, jedes für den Schutz legitimer Rechte von Personen und Klassen vor dem gegenseitigen Eigennutz erforderliche Gesetz zu verabschieden. Um den Nachweis für das wachsende Erfordernis zu erbringen, für die zunehmende Forderung eines rechtlichen Eingriffs im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung – welches der wesentliche Punkt in der Beweisführung unseres Autors ist – führt er folgenden Gedankengang ins Feld. Die erste und vorzüglichste Pflicht des Staates auf allen gesellschaftlichen Entwicklungsstufen besteht darin, die Schwachen vor den Starken zu schützen. Das Werk des Fortschritts besteht nun darin, dem Staat immer wieder aufs Neue Pflichten dieser Art zu überantworten. Es gab eine Zeit, in welcher der Staat sehr wenig Macht über die große Mehrheit der Gemeinschaft ausübte. Heißt dies aber, dass niemand Macht ausübte, nur weil dies der Staat nicht tat? Ganz im Gegenteil. Der Staat kümmerte sich nicht um die Menge, denn diese stand unter der absoluten Macht von Herrschern, die man für sie verantwortlich machen konnte. Von Gesetz und Regierung wurden als rechtlich existent nur die Wenigen angesehen, die Autorität ausübten: Sklavenhalter, Familienvorstände, patriarchalische Stammes- oder Clanführer. Der Fortschritt der Zivilisation führt zu einer Änderung dieser Zustände, er befreit den Menschen von der Herrschaft durch den Menschen und bringt ihn unter die Herrschaft des Gesetzes. Hat der Staat nicht notwendigerweise ein größeres Aufgabenfeld, wenn von ihm jetzt erwartet wird, den Sklaven, die Ehefrau, das Kind und den Schuldner zu schützen, statt sie dem Willen und Belieben des Sklavenhalters, Ehemannes, Vaters und Gläubigers zu überlassen? Einst hatten diese primitiven Übergeordneten die Macht über Leben und Tod der ihnen Untergeordneten. Der Staat war es, der den Schwächeren von diesem Despotismus befreite. Nur der Staat hätte dies tun können, und er hat die Pflicht, dies zu tun, wo immer dies noch zu tun bleibt. 7

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Dupont-White, L’Individu et l’État, S. 217-18.

212

D  A  B

All dies ist zuzugestehen und gehört nicht zu den strittigen Fragen. Die hier für den Staat geforderte Macht liegt innerhalb seines anerkannten Funktionsbereiches. Solange Menschen widerrechtlich übereinander herrschen, hat der Staat die Pflicht, dies zu unterbinden. Solange irgendeine Herrschaft, selbst eine notwendige, durch tyrannisches Handeln missbraucht werden kann, obliegt es dem Staat, solch ein Handeln zu unterdrücken und zu bestrafen. Der Schutz aller Menschen vor Schädigung durch jene, die stärker sind als diese, ob nun die Übermacht physischer Art ist oder sich dem Gesetz verdankt, ist eine Aufgabe, die der Regierung durch jene eingeräumt wird, die das größte Bestreben haben, deren Handeln zu beschränken. Folgt aber aus der Erweiterung des Gesetzes auf ungerechterweise von ihm ausgeschlossene Klassen, dass das Geschäft des Schutzes nun schwieriger oder aufwendiger wird? Vielleicht bedarf es einer größeren Anzahl von Gerichtshöfen, warum aber sollten mehr Gesetze notwendig sein? Was wäre für die befreiten Klassen mehr zu tun, als ihnen nur die rechtlichen Heilmittel nicht zu verweigern, die allen übrigen zur Verfügung stehen? M. Dupont-White antwortet: Der Staat kann nicht die kürzlich befreiten Klassen sich selbst überlassen. Obwohl befreit, sind diese Menschen doch noch die schwächsten, unfähig unter gleichen Rahmenbedingungen mit ihren früheren Herren zu wetteifern. Diese werden bestrebt sein, ihre alte Herrschaft mit neuen Mitteln auszuüben und jeden ihnen verbliebenen Machtvorteil zu nutzen, den ihnen die neuen gesellschaftlichen Beziehungen zu nutzen erlauben. Der Staat muss gewappnet sein, einem jeden solchen Versuch des Übergriffs durch neue Vorkehrungen und Schutzmaßnahmen zu begegnen. Wann immer (zum Beispiel) die unterdrückten Klassen der Gesellschaft nach oben drängen, bedarf die Regelung des Eigentums notwendigerweise einer Abänderung. Den ersten Gebrauch, den die befreiten Klassen bestrebt sind, von ihrer Freiheit zu machen, besteht darin, Eigentum zu erwerben. Allerdings ist die Gesellschaft bisher so organisiert gewesen, ihnen den Zugang zum Eigentum zu verweigern. Generationen müssen vergehen oder gar Zeitalter, ehe die Nachkommen der Leibeigenen fähig werden, in Hinblick auf ihre früheren Herren unter den Bedingungen fairer Gleichheit zu arbeiten und unternehmerisch tätig zu sein. Nie ist dies anders geschehen als durch eine Reihe von Gesetzen und Erlassen sowie dadurch, dass der Staat auf jeder Stufe der Entwicklung seine helfende Hand ausstreckte. Die Geschichte des modernen Europa ist eine Abfolge solcher gesetzgeberischer Akte, die in den bedeutenden Änderungen kulminierten, die während der Französischen Revolution erfolgten. Die Nationen unserer Tage haben die gleiche Notwendigkeit erfahren, als sie die Sklaven ihrer Kolonien befreiten. Zur Bestätigung können wir hier erwähnen, dass die Frage des Eigentums die wesentliche Schwierigkeit darstellt, die in dem großen, gegenwärtig stattfindenden Projekt der Gerechtigkeit und Zivilisation begegnet: der Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland. M. Dupont-White hat leichtes Spiel, solange er seine Aufmerksamkeit auf barbarische und rückständige Länder beschränkt. Nach ihrer nominellen Befreiung waren die estnischen und livländischen Bauern nahezu im selben Zustand der Leibeigenschaft wie zuvor. Aber er irrt in der Annahme, dass es notwendig ist, auf den Inseln Britisch-Westindiens irgendeine Form staatlichen Schutzes für die Neger aufrechtzuerhalten. Die von ihm erläuterten diesbezüglichen Maßnahmen erfolgten alle vor der Emanzipation, traten während der Sklaverei auf, deren Folge sie waren und mit der sie dann verschwanden. Die Schlussfolgerung, die aus ihnen zu ziehen wäre, ist das direkte Gegenteil zu jener,

Z ()

213

die M. Dupont-White zieht. Sie stellen eine Tendenz dar, die der von ihm behaupteten entgegengesetzt ist: die abnehmende Notwendigkeit staatlichen Handelns im Zuge der Verbesserung von Institutionen. Beispielhaft zeigen sie, in welchem Maße sich der Staat von der peinlichen Überwachung, den Fürsorgemaßnahmen und Bemühungen um den Schutz wie das allgemeine Wohlergehen der weniger begünstigten Klassen entlasten kann, indem er ihnen ein für allemal völlige Gerechtigkeit widerfahren lässt, und welches Maß an Energie und Voraussicht die Gesellschaft den Individuen allein deshalb zu widmen hat, weil sie sich nicht entscheidet, deren eigene freizusetzen. Wenn unser Autor behauptet, dass viele der Beziehungen zwischen den Menschen, die vormals dem Schiedsspruch der Gewalt unterlagen oder der Autorität eines Herrschers, in einem entwickelteren Staatswesen Sache des Gesetzes werden, dann behauptet er etwas, dem niemand widerspricht; und wir verweilen bei diesem Teil seines thematischen Gegenstandes nur deshalb, um die allgemeine Reichweite seines Gedankengangs zu ermessen. Nun aber erreichen wir umstrittenes Gelände. M. Dupont-White sagt: „Hat der Staat der Unterdrückung durch das Gesetz ein Ende gemacht, muss er noch l’exploitation naturelle verhindern, den unfairen Gebrauch natürlicher Vorteile ... Einfach die einen den anderen nicht unterzuordnen und zu opfern, als wären sie eine minderwertige Gattung, kann nicht das dernier mot, die neueste Errungenschaft der Zivilisation sein. Können wir vergessen, welches Ausmaß an Verschiedenheit zwischen den Menschen existiert, und nur deren allgemeine Ähnlichkeit im Sinn haben? Kann ignoriert werden, dass diese Unterschiede, sich selbst überlassen, jede körperliche oder geistige Schwäche der Herrschaft der Stärksten, der Fähigsten, der Beharrlichsten unterwerfen würde, wobei diese Herrschaft vermöge der Natur in dem Maße unterdrückend wäre, wie jene, die vormals vermöge des Gesetzes ausgeübt worden war? Sogar die Natur bedarf, gleich den Institutionen, der Berichtigung. Wer aber, wenn nicht der Staat, soll den Missbrauch natürlicher Vorzüge beseitigen? Wie aber kann er dies tun, wenn nicht durch einen Zuwachs an Macht und Befugnissen?“ (L’Individue et l’État, S. 54–55) An dieser Stelle beginnen die Auffassungen unseres Autors von denen nahezu aller englischen Denker abzuweichen. Letztere gestehen dem Staat das Recht und die Pflicht zu, künstliche, durch ihn verursachte Ungleichheiten zu reglementieren und wenn möglich zu beseitigen. Aber sie lassen es nicht zu, dass sich der Staat mit natürlichen Ungleichheiten beschäftigt. Dass gegen den „Missbrauch“ vorzugehen sei, werden sie sofort zugestehen, denn wer würde behaupten wollen, gegen Missbräuche, welcher Art auch immer, solle nichts getan werden? Aber sie betrachten als Missbrauch natürlicher Vorzüge allein Gewalt und Betrug. Solange davon Abstand genommen wird, halten sie es für richtig, dass dem Starken erlaubt werden solle, den vollen Lohn seiner ganzen Stärke einzustreichen. Nur so, glauben sie, werden alle Mitglieder der Gesellschaft dazu angeregt, ihre Stärke auszuüben und zu kultivieren. Jene, die eine solche Position vertreten, haben die Streitfrage betreffend viele Gründe auf ihrer Seite, jedoch nicht alle. Denn bei der Jagd nach dem Gewinn ist der Anreiz seitens des Wettbewerbers dafür, Anstrengungen auf sich zu nehmen, nur dann am größten, wenn die Ausgangsbedingungen fair sind, das heißt, wenn natürliche Ungleichheiten durch künstliche Gewichte ausgeglichen werden.

214

D  A  B

Die Klage allerdings lautet, im täglichen Überlebenskampf seien die Ausgangspositionen aller unfair und die Ungerechtigkeit werde, sollte der Staat nicht etwas zur Stärkung der schwächeren Seite tun, völlig erdrückend und entmutigend. Die Entwicklung der produktiven Industrie wird, M. Dupont-White zufolge, begleitet von einem natürlichen Gegensatz der Interessen von Land, Kapital und Arbeit, der beständig zunimmt. Sollte es angesichts dieser Konflikte, so fragt er, keinen Vermittler geben, keinen Schlichter zwischen den einander widersprechenden Eigeninteressen, deren jedes die vernünftigen Ansprüche der anderen in gleicher Weise ignoriert, keinen Vermittler, der irgendeine gerechte Richtlinie oder zumindest irgendwelche zulässigen Bedingungen des Ausgleichs vorschreibt und notfalls erzwingt? Auf diese Frage lautet die nahezu einhellige Antwort der englischen Denker – nein. Der Staat habe nur für die Aufrechterhaltung des Friedens Sorge zu tragen. Allein der Wettbewerb auf dem freien Markt kann erweisen, welche Bedingungen der Übereinkunft vernünftig sind, und diese gegenüber den konkurrierenden Parteien durchsetzen. Würde dies allgemein gelten, wäre die Frage damit endgültig beantwortet. Dass dies zum Großteil zutreffend ist und die Beweislast in dieser Frage bei jenen liegt, die für eine Ausnahme plädieren, ist unstrittig. M. Dupont-White kann aber mit Leichtigkeit am Beispiel Englands selbst zeigen, dass sich tatsächlich hin und wieder Ausnahmen manifestieren, deren Zahl zunimmt. Seitdem sich in England die Auswirkungen der überraschenden Zunahme seiner Manufakturindustrie bemerkbar machten, wurden dem Land immer wieder im Abstand weniger Jahre von Amtswegen neue Eingriffe in die Vertragsfreiheit auferlegt. Das Parlament hat Arbeitszeitregelungen eingeführt, die Beschäftigung von Kindern unter einem bestimmten Alter untersagt,8 die Arbeit von Frauen und Kindern in Bergwerken verboten9 und Fabrikanten auferlegt, Vorkehrungen gegen Unfälle und gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen zu treffen, statt diese Vorkehrungen durch die Arbeitsverweigerung der Beschäftigten erzwingen zu lassen.10 Das Parlament besteht auf einem bestimmten Maß an professioneller Kompetenz seitens der Kapitäne von Kauffahrteischiffen, um zu verhindern, dass Menschen sich oder ihr Eigentum aus freien Stücken mangelnder Schifffahrtskunst überlassen.11 Es hat die Eigentümer von Auswandererschiffen verpflichtet, zugelassene Ärzte an Bord zu nehmen, und zu verhindern, dass die Belegung ihrer Schiffe mit Passagieren ein bestimmtes Maß überschreitet. Denn es solle nicht zugelassen werden, dass die Gier nach Gewinn oder der Wettbewerb um die billigsten Preise sich der Möglichkeiten bemächtigt, welche die Armut, Dummheit oder Rücksichtslosigkeit der Ausreisewilligen bieten.12 Es hat den Bau von Häusern für ungesetzlich erklärt, die ihm als menschliche Wohnstätten ungeeignet zu sein scheinen, obwohl die reine Lehre des Wettbewerbs es den Armen überlassen hätte, das Übel durch die Weigerung zu beseitigen, darin zu wohnen.13

8 9 10 11 12 13

Anmerkung Anmerkung Anmerkung Anmerkung Anmerkung Anmerkung

der der der der der der

Herausgeber: Herausgeber: Herausgeber: Herausgeber: Herausgeber: Herausgeber:

3 & 4 William IV, c. 103 (1833). 5 & 6 Victoria, c. 99 (1842). 7 & 8 Victoria, c. 15 (1844). 13 & 14 Victoria, c. 93 (1850). 5 & 6 William IV, c. 53 (1835). 11 & 12 Victoria, c. 63 (1848).

Z ()

215

M. Dupont-White behauptet, dass es unter Umständen die Pflicht der Regierung ist, die Menschen, deren Lebensunterhalt von ihrer Arbeit abhängt, gegen ein Übermaß des Leidens durch jene Fortschritte der Industrie zu schützen, in deren Genuss vorerst nur die Unternehmer und nicht arbeitstätige Konsumenten kommen. Auch hier bemerkt er, dass jeder große industrielle Fortschritt einigen individuellen Interessen abträglich ist oder abträglich zu sein scheint, welche, allein der gesetzlichen Regelung überlassen, mächtig genug wären, diesen Fortschritt zu durchkreuzen, oder zum Preis seiner Duldung Umstände zu erzwingen, die für die Gesellschaft außerordentlich belastend wären. England hat bereits Erfahrungen damit gemacht, nämlich in Bezug auf Eisenbahn, Dock- und Hafenanlagen, Straßen und Stadtentwicklung. Die Einmischung des Staates ist erforderlich, um den Widerstand dieser Privatinteressen zu unterdrücken und die diesen gebührende Kompensation festzulegen. Oftmals erfordern solche Unternehmungen auch finanzielle Hilfen des Staates. Selbst in England können die ozeanische Dampfschifffahrt und die Untersee-Telegraphie nicht darauf verzichten. Wenn behauptet wird, die Zivilisation mindere, vermöge der Verbreitung des Wissens und der Stärkung der moralischen Gefühle, die Notwendigkeit des Regierens, insofern sie Menschen dazu bringe, die eigenen Interessen und Gefühle immer mehr mit dem allgemeinen Guten zu identifizieren, dann wird M. Dupont-White dies in bestimmtem Maße zugestehen. Weil dieser Fortschritt aber die Gesellschaft und deren Interessen immer komplizierter macht, legt er den Nachdruck darauf, dass für deren Begreifen ein größerer Horizont und eine Erhebung des Geistes notwendig sind, während der Umfang dieser Qualitäten innerhalb der Gesellschaft, statt im Zuge erhöhter Bedürftigkeit zu steigen, tendenziell sinkt. Denn die zunehmende Arbeitsteilung und Spezialisierung der jeweiligen Berufe beschränkt die Aufmerksamkeit und das präzise Wissen eines jeden Einzelnen auf einen kleineren Umkreis von Ideen. Deshalb ist es für einen entwickelten Staat mehr noch als für einen primitiven notwendig, dass mit der Wahrnehmung der umfassenderen Interessen Personen betraut werden, die diesen besonders verpflichtet sind und sich die Untersuchung und Erkenntnis dieser Interessen zur speziellen Aufgabe machen (S. 280–282).14 Darüber hinaus erfordert der zivilisatorische Fortschritt beständig neue öffentliche Dienste, zu denen Individuen und deren Vereinigungen nicht fähig sind; und selbst im Falle jener, zu denen sie befähigt sind, ist die Einmischung des Staates dafür erforderlich, Missbräuche zu verhindern, Kompromisse auszuhandeln und bei Konflikten zu entscheiden, zu denen genau diese Tatsache führt. „Die Öffentlichkeit betreffend werden aus Vereinigungen schnell Monopole, die Anteilseigner betreffend aber Diktaturen“ (S. 350).15 Als Schutz beider vor der Rücksichtslosigkeit und Gaunerei ihrer Leiter ist der Staat von wesentlicher Bedeutung. Eisenbahnen können durch Privatunternehmen gebaut und betrieben werden, jedoch wird es der Staat nicht unnütz finden, die Fahrpreise zu begrenzen und die Unternehmen zu zwingen, Vorkehrungen zu treffen, welche der Sicherheit der Reisenden dienen, den kommerziellen Interessen der Gemeinschaft und in mancherlei Hinsichten (wie durch Publizität und Buchprüfung) sogar denen der Anteilseigner. Somit findet die gesteigerte Aktivität des Individuums in einer sich entwickelnden Gesellschaft nicht auf Kosten der Aktivität der Regierung statt. 14 15

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Dupont-White, L’Individu et l’État. Anmerkung der Herausgeber: Ebd.

216

D  A  B

Im Gegenteil hat die Regierung, je mehr durch die Menschen selbst getan wird, desto mehr zu beobachten und zu überwachen und, falls erforderlich, regulierend einzugreifen. Wenn der materielle Fortschritt somit dazu tendiert, den Bereich des Staates zu vergrößern, statt ihn zu reduzieren, so gilt dies der Auffassung unseres Autors nach in genau demselben Umfang für den moralischen Fortschritt. Einer der offensichtlichsten Ergebnisse der Verbesserung ist die Entwicklung des gesellschaftlichen Bewusstseins. Die sittlichen Maßstäbe der Menschheit tendieren dazu, sich zu heben. Taten, die einst erlaubt oder verzeihlich gewesen waren, sehen sie sich heute veranlasst zu unterdrücken; sie sind dem Fehlverhalten gegenüber empfindlicher und fordern, nicht nur den Bereich sozialer Missbilligung zu erweitern, sondern auch den des Verbotes und der Strafe. Bei einer abnehmenden Tendenz von Verbrechen herkömmlicher Art zeigen Rechtsstatistiken eine beständige Zunahme der Gesamtanzahl von Delikten, und zwar wesentlich deshalb, weil das Strafrecht von Zeit zu Zeit um Formen von Betrug oder Schädigung einzubegreifen erweitert wird, die durch die bisherigen Gesetze nicht abgedeckt wurden. Nicht nur wird das allgemeine Bewusstsein immer empfänglicher für Akte des Fehlverhaltens, sondern auch für Rechte – wie der Fall des literarischen Eigentums und jenes an Konstruktionen oder Erfindungen zeigt. Wie viele neue und notwendige Aufgaben entstehen der Regierung auch durch die Entscheidung moderner Gesellschaften, den Sklavenhandel zu unterdrücken! Was für eine Unmenge an Arbeitsaufwand und Regulierungsbedarf wird Regierungen auferlegt, seitdem das Wohlergehen und die Besserung von inhaftierten Kriminellen ins Bewusstsein der Nationen getreten sind! Mit den Gesetzen gegen Tierquälerei wird ein ganzer Bereich menschlichen Verhaltens zum ersten Mal in die Grenzen des Gesetzes gebracht. Auch damit nicht zufrieden, strengeren rechtlichen Regelungen Geltung zu verschaffen, erweitern sich die Maßstäbe des entwickelten öffentlichen Gewissens um den Bereich der Wohltätigkeit. In der Tat auch an dieser Stelle stimmt unser Autor mit allen übrigen darin überein, dass die reine Sphäre erzwingender Autorität an ihr Ende kommt. Es ist nicht Sache des Staates, Menschenliebe per Gesetz zu verordnen. Was er aber nicht abverlangen kann, fordert die sich entwickelnde Moral von ihm. Abgesehen von der Verpflichtung, die Bedürftigen mit Arbeit oder Mitteln für den Lebensunterhalt zu versorgen, eine nicht allgemein zugestandene, aber von den englischen Poor Laws anerkannte Pflicht, „kann [der Staat] für die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse des Einzelnen sorgen – den öffentlichen Gottesdienst, die Bildung, den Straßenbau, die Rechtspflege –, indem er die Dienste des Kirchenmannes, des Schulmeisters, des Richters und des Ingenieurs in öffentliche Funktionszusammenhänge stellt. Dies ist eine Wohltat für die Armen, denen diese öffentlichen Dienste ihren Bedürfnissen entsprechend zugute kommen, zu denen sie aber nur ihren Möglichkeiten entsprechend beitragen. ... Auch zeigt sich der Staat den Armen gegenüber wohlwollend, indem er, als ihr unbezahlter Vermittler handelnd, ihre kleinen Ersparnisse empfängt, ihnen die Zinsen auszahlt und ihnen die Summe bei Bedarf aushändigt. ... Oder seine Wohltätigkeit erscheint in Gestalt direkter wohlfahrtlicher Unterstützung, sei es dauerhaft, wie im Falle der Unterstützung für Krankenhäuser, gebührenfreier Ausbildung usw. oder durch solche gelegentlichen Maßnahmen, die in entwickelten Ländern oftmals erfor-

Z ()

217

derlich sind, wie etwa in Zeiten der Not, der Epidemien, Überschwemmungen oder Wirtschaftskrisen.“ (L’Individu et l’État, S. 86) Unsere Skizze des Standpunkts von M. Dupont-White würde zu umfänglich ausfallen, wenn wir die Argumente einbezögen, die er mit spezifisch französischen Umständen und dem französischen Nationalcharakter verbindet. Wir sollten jedoch ein Argument nennen, das sich zumindest hinreichend begründen lässt, um ihm Plausibilität zu verleihen – dass in Frankreich die Wertschätzung des Anerkanntseins ein stärkeres Handlungsmotiv und einen stärkeren unternehmerischen Anreiz bildet, als der Wunsch nach Profit; dass in Frankreich die Überführung verschiedener Bereiche, selbst der Privatwirtschaft, in öffentliche Dienste (wie u. a. im Falle des Bergbaus, des Bauwesens und anderem), das wirksamste Mittel ihrer Beförderung darstellt, während dies in England mit Sicherheit dazu führen würde, am Bestehenden festzuhalten und jeden Fortschritt zu ersticken; dass Personen in viel höherem Maße durch die Hoffnung auf Auszeichnungen und Ehrungen dazu angeregt werden, Verbesserungen und Erfindungen im industriellen Bereich zu verwirklichen, als durch die womöglich natürlicher erscheinende Aussicht darauf, für sich und die eigene Familie Reichtum zu erlangen. Wie immer dies auch sei, und selbst wenn es buchstäblich stimmen sollte, bleibt doch die Frage, ob diese Ausrichtung des Nationalbewusstseins nicht doch in erheblichem Maße durch die Institutionen und Praktiken geschaffen wurde, die zu verteidigen es aufgerufen ist. Nachdem er seinen eigenen Standpunkt in dieser Frage dargelegt hat, wendet sich unser Autor der entgegengesetzten Position zu: den Grenzen, die seine Theorie erfordert, den Einwänden, denen sie sich aussetzt, sowie der Fähigkeit und Hinlänglichkeit individuellen Handelns dafür, den gesellschaftlichen Fortschritt ohne die Hilfestellung des Staates vorantreiben zu können. Die Begrenzungen, die M. Dupont-White seiner Lehre auferlegt, sind umfänglich und bedeutsam. Seine praktischen Schlussfolgerungen entsprechen überhaupt nicht der erstaunlichen Breite und Allgemeinheit sowie der zuweilen paradoxen Form seiner theoretischen Prämissen. Im Allgemeinen steht er ganz hinter den einschränkenden Prinzipien, ob er ihnen nun die gebührende Aufmerksamkeit widmet oder nicht. Immer wieder drängt er darauf, dass der Staat nicht auf eine Weise handeln solle, die wirklich dazu angetan ist, die vollständige Ausbildung der Fähigkeiten der Individuen zu behindern.16 Das Individuum ist (so sagt er) der letztendliche Zweck allen Regierens, seine Fähigkeiten und Vermögen bilden die Quelle allen gesellschaftlichen Wohls. Unser Autor befürwortet keine Regierung, deren Stärke auf der Schwächung und Unterdrückung der Individualitäten beruht, sondern er fordert aktive und starke Einzelne in einem starken Staat. Der Staat darf nicht die Meinungsbildung und auch nicht die freie Meinungsäußerung stören. Nur einige Mittel der Meinungsäußerung, wie etwa Theater, Klubs und öffentliche Versammlungen, mögen der Regulierung bedürfen, jedoch nur solche, auf die der freie Gedanke verzichten kann. Die Presse muss frei sein, darf allerdings keine Person diffamieren oder auf unnötige Weise Gefühle gröblich verletzen. In Fragen des öffentlichen Unterrichts kann der Staat seine eigenen Grundsätze lehren, hat 16

Anmerkung von Mill: Siehe insbesondere L’Individu et l’État, S. lxiii-lxiv, 53, 282, 283; 308-311; und La Centralisation, S. 127–130.

218

D  A  B

aber in Bezug auf andere Grundsätze völlige Wettbewerbsfreiheit zu garantieren. Wirtschaftsangelegenheiten betreffend darf der Staat nicht das Recht des Arbeiters auf freie Verfügung über die eigene Arbeitskraft beschneiden. Seine regulierende Funktion hat sich auf jene umfängliche Zusammenführung von Arbeitskräften mittels großer Kapitale zu beschränken, die nicht als bloßes Mittel des Lebensunterhalts dienen, sondern eine gesellschaftliche Macht darstellen. In allem ist der Staat, nicht weniger als die Individuen es sind, an das moralische Gesetz gebunden. Die Rechte des Privateigentums sollten ihm heilig sein. Vermögenseinzug, erzwungener Bankrott, Änderung des Münzfußes – überhaupt alle Arten der offenen oder versteckten Plünderung durch den Staat stellen ein Verbrechen dar. Aber die Eigentumsrechte zu bestimmen und zu begrenzen, darüber zu entscheiden, was und was nicht als Eigentum zählen soll, und unter welchen Bedingungen Eigentum übertragen werden kann – all dies liegt innerhalb des Aufgabenbereichs des Staates und stellt dort einen höchst bedeutsamen Teil dieser Aufgaben dar: In England wird diese Lehre höchstwahrscheinlich nicht in Frage gezogen, jedoch in Frankreich als äußerst häretisch betrachtet, wo die Grundlagen des Eigentumsrechts und die Entscheidung aller darauf bezogenen strittigen Fragen nicht wie üblich auf der selbstverständlichen Berücksichtigung des öffentlichen Gutes beruht, sondern auf einer metaphysischen Abstraktion, die sich „le droit“ nennt. Die seine Theorie betreffenden Einwände werden von M. Dupont-White ausführlich diskutiert, insbesondere wenn wir zu seiner Erwiderung die scharfe Kritik an der Wirksamkeit individuellen Handelns als eines Werkzeugs des Fortschritts hinzuzählen. Das individuelle Eigeninteresse ist (so sagt er) eine gute Sicherheit für das individuelle Eigeninteresse, sichert aber kollektive Interessen nahezu überhaupt nicht. Um mit dem bedeutendsten dieser Interessen zu beginnen, das aber für gewöhnlich nicht als Interesse aufgeführt wird – nicht l’utile ist, sondern le vraie, le beau, et le bien –, nämlich Bestrebungen, deren Lohn innerlicher und nicht äußerlicher Art ist und deren äußerlicher Ertrag erst in einer fernen Zukunft gewonnen werden kann: Wie lassen sich diese mehren, ohne dass Anreize oder zumindest Mittel angeboten werden, die sich nicht dem individuellen Eigeninteresse [private interest of individuals] verdanken? Das Eigeninteresse ist kein hinreichender Stimulus im Bereich der gewöhnlichsten Leistungen, wenn diese Leistungen kollektiver und nicht individueller Art sind. Der für ein Zusammentreffen öffentlicher und privater Interessen aussichtsreichste Fall ist der des Schutzes vor Gewalt in der Öffentlichkeit. Wird dieser irgendwo vom individuellen Eigeninteresse [individual self-interest] abhängig gemacht oder kann er davon abhängig gemacht werden? Erforderlich ist hier etwas, so ließe sich in der Tat sagen, wofür Privatpersonen nicht sorgen können. Für wie viele andere Fälle gilt jedoch, dass sie Sorge tragen könnten, dies aber nicht wollen? „Speziell der kollektive Charakter eines Interesses führt dazu, dass sich Menschen von ihm abwenden. Sogar jene Dinge, welche sie am meisten beschäftigen, tun sie nur dann, wenn diese durch ihre eigenen Bemühungen erlangt werden können und der Nutzen allein der ihrige ist. Das Eigeninteresse stellt ein angemessenes Motiv für die Kultivierung des Bodens dar, denn der diesbezügliche Erfolg ist einzig der des Individuums. Er und die seinigen nehmen alle Mühe auf sich und profitieren von der ganzen Ernte allein. Da er aber die

Z ()

219

städtische Straßenbeleuchtung und den Straßenbau, so bedeutsam sie für einen jeden auch sein mögen, nicht allein verwirklichen und er nicht sicher sein kann, dass andere die gleiche Leistung wie er erbringen werden – denn seine Leistung bleibt nutzlos, wenn sie nicht Teil einer allgemeinen Bestrebung ist – bleibt er untätig. Somit wird ein kollektives Interesse von Individuen ignoriert, obwohl ihr eigenes darin beinhaltet ist. Das Individuum verzichtet auf Dinge, die ihm selbst von größtem Vorteil sind, wenn er diese nicht allein ausführen und er andere nicht dazu bringen kann, ihren Beitrag dazu zu leisten.“ (L’Individu et l’État, S. 267–268) Darüber hinaus befinden sich Individuen möglicherweise in einer zu schlechten gesellschaftlichen Lage, um die anregende Wirkung des Eigeninteresses zu spüren. Untätigkeit und Apathie sind im selben Maße dem Mangel an Hilfe und Ermutigung geschuldet wie dem Übermaß davon. „Die Liebe zum persönlichen Wohlergehen und die Abneigung gegenüber Entsagungen sind nicht für jedermann Anreize. Zur Entwicklung solcher Haltungen sind Personen nicht fähig, die unter so elenden Bedingungen leben, dass sie sich nur darum sorgen, ihre Lage zu vergessen statt diese zu verbessern. Die Dienste, welche die Notwendigkeit dem Fortschritt erweist, sind beschränkt, denn sie kann nur das Bestehende entwickeln. Ohne diese Notwendigkeit würden die Eigenschaften der am meisten begünstigten Naturen niemals in Erscheinung treten. Durchschnittlichen Menschen aber vermittelt sie weder Mut noch Voraussicht, stürzt sie im Gegenteil in einen Zustand völliger Selbstaufgabe und lässt sie dort verharren. Was den Starken motiviert ist dem gewöhnlichen Menschen eine Quelle der Verzweiflung. Die Erziehung durch die Notwendigkeit hat den Iren und den nordamerikanischen Indianern nie gefehlt – der Kampf ums Überleben war ihre alltägliche Angelegenheit. Sie lehrte aber weder die Iren noch die Irokesen die Lektion der klugen Voraussicht. ... Regierungen, die verständiger als sektiererische Theoretiker waren, haben als ihre Aufgabe erkannt, dem Einzelnen – statt ihn an die Hand zu nehmen – Möglichkeiten zu eröffnen, ihn zu ermutigen und, statt ihn zum Ziel zu führen, ihm die Richtung zu weisen. ... Fürchten Sie die Auswirkungen einer solchen Unterstützung, die darin besteht, tatkräftige Charaktere zu schwächen, die ihrer nicht bedürfen? Aber ein bestimmtes Maß an Anleitung mag vorstellbar sein, das der größeren Zahl zuträglich ist und dennoch die begabteren Naturen nicht beeinträchtigt. Die Grenzen dieser Einflussnahme zu finden und auf ihnen zu beharren, ist möglicherweise eine schwierige Angelegenheit, aber der Weg aller für menschliche Zwecke anwendbaren Wahrheit ist der des Ausgleichs. Ziehen Sie es vor, auf ein Prinzip zu setzen, statt verschiedene miteinander zu kombinieren? Entscheiden Sie sich nun, ob sie dreist genug sind, Krankenhäuser abzuschaffen – was die letztendliche und völlig legitime Schlussfolgerung aus dem individualistischen Prinzip wie aus der Lehre wäre, Menschen der Notwendigkeit zu überlassen.“ (S. 298–299)17 17

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Dupont-White, L’Individu et l’État.

220

D  A  B

Einer der erwartbaren Einwände lautet, der Staat sei nur die Anhäufung seiner Individuen und seine Rechte seien nur deren vereinigte Rechte. Er habe deshalb kein Recht auf Gewaltausübung außer jenem, welches den Individuen selber zukommt, nämlich das Recht auf Selbstverteidigung. Verhinderung von Gewalt und Betrug stellten somit die einzigen rechtmäßigen Funktionen des Staates dar. Er diene nur Zwecken der Ordnung, nicht aber des Fortschritts. Der Staat ist mehr als eine bloße Anhäufung seiner Individuen, antwortet unser Autor. „Das ist die Definition einer Karawanserei oder eines Ortes wie Baden oder Homburg, aber nicht die einer Gesellschaft.“ (S. 168)18 Der Staat ist nicht die Summe der ihn ausmachenden Einzelnen, nur als Einzelne verstanden – als Teil der Gesellschaft wird nämlich jeder mehr als ein Einzelner. Aus der Vereinigung menschlicher Wesen in der Gesellschaft entwickeln sich andersgeartete Beziehungen und Notwendigkeiten als jene, die zwischen bloßen Individuen bestehen. Es wäre deshalb nicht befremdlich, wenn sich auch Rechte ergeben sollten, welche nur der Gesellschaftszustand rechtfertigt. Indem er Menschen unzählige und nicht anders erreichbare Ziele ermöglicht, rechtfertigt er den Gebrauch zusätzlicher Mittel. Nun setzen sich aber (so ließe sich sagen) Regierungen aus Individuen zusammen. Sollten Individuen aber nicht fähig sein, die wesentlichen Belange der Menschengattung zu verfolgen, dann könnte man fragen, warum mehr von jenen Individuen zu erwarten ist, welche die Regierung bilden. Die Antwort darauf lautet erstens, dass jene Individuen die élite bilden oder bilden sollten, und ferner, dass diese selbstverständlich befähigter als andere sind, die ihnen überantworteten speziellen Aufgaben zu verfolgen. Darüber hinaus wird allein die bloße Tatsache ihrer gehobeneren Position (vorausgesetzt sie wurden ohne Ansehen der Person ausgewählt und sind nicht mit Kasten oder Klassen verbunden, die Sonderinteressen besitzen) in der Regel zu einem größeren Maß an Unparteilichkeit führen – zu einer Identifikation mit dem Interesse der Gemeinschaft, wobei es um die Gesamtheit der Beziehungen der Bürger untereinander geht, nicht aber um die der Bürger zum Staat. Wofür Individuen per se heroische Tugenden benötigten, ist aus der Position der Regierung heraus nichts anderes verlangt, als gewöhnlicher Menschenverstand und gute Absichten. Für die Regierung bedeutet es nur einen kleinen Aufwand, eine Steuer zur Unterstützung der Schulen zu erheben, für Einzelne hingegen wäre wirklich tugendhaftes Verhalten erforderlich, um diese aus eigenen Mitteln zu bezahlen. „Seine Sklaven freizulassen setzt seitens ihres Herren eine Charaktergröße bestimmter Art voraus. Ein Staat hingegen braucht zur Abschaffung der Sklaverei nichts anderes als das gemeinste Moralempfinden.“ (S. 346)19 Es widerstreitet dieser Lehre allerdings in gewissem Maße, dass die Abschaffung der Sklaverei so lange Zeit auf sich warten ließ. Wir sollten zumindest annehmen, dass sich die Regierung nicht aus Sklavenhaltern zusammensetzt und nicht unter ihrem Einfluss steht oder dass es sich bei dem Herrscher um keinen Despoten wie Caracalla handelt, für dessen Tyrannei Sklave und Bürger so gut wie dasselbe waren. Dies ist (so fügt unser Autor hinzu) aus einer Führungsposition zu erklären, die bewirkte, dass viele der schlimmsten Herrscher, nunmehr über die

18 19

Anmerkung der Herausgeber: Ebd. Anmerkung der Herausgeber: Ebd.

Z ()

221

kurzsichtigen, die Menschheit verführenden Interessen erhoben, hervorragende Gesetze geschrieben, erlassen und ihren Untertanen auferlegt haben, während sie sich die Freiheit nahmen, selber diesen Gesetzen nicht zu folgen. „Selbst Cesare Borgia duldete in seinem Herrschaftsbereich keinen Giftmörder neben sich.“ (S. 308)20 Mit dieser Bemerkung schließen wir unsere Zusammenfassung des ersten und zugleich bedeutendsten der beiden Bände von M. Dupont-White. Hinsichtlich des zweiten Bandes, La Centralisation, ist eine solch umfängliche Darstellung nicht erforderlich. Er ergänzt die Theorie des Staatshandelns [theory of state influence] im Unterschied zum Handeln des Einzelnen durch eine dazu korrespondierende Theorie des Handelns zentraler Behörden, die dem lokaler Behörden vorzuziehen ist. Im Grunde genommen sind die zwei Probleme identisch. Welche Vorzüge es auch sein mögen, welche die Regierungen gegenüber den Individuen in Verfolgung des Allgemeininteresses haben – diese kommen auch der Zentralregierung gegenüber jeder Lokalverwaltung zu, während letztere die Vorzüge und Mängel eher teilen, die den Spontanaktivitäten des Privatbürgers eigen sind. In Hinblick auf die zentrale Verwaltung in ihrem Gegensatz zur lokalen und in Hinblick auf die Regierung in ihrem Gegensatz zum Einzelnen vertritt M. Dupont-White die Meinung, dass die jeweils erstere unparteiischer ist. Lokale Amtsträger stehen denen zu nahe, deren Angelegenheiten sie verwalten, sind deren Interessen und Vorlieben zu sehr verbunden und oftmals entweder persönlich oder durch Klassenzugehörigkeit mit einem bestimmten Teil von ihnen identifiziert.21 Aber zu dieser Idee fügt M. Dupont-White eine weitere hinzu, die von dieser verschieden, ihr jedoch auch verwandt ist. Naturgemäß stellt die Zentralregierung das Werkzeug eines entwickelteren Teils der Nation dar. Die Öffentlichkeit, deren Meinung einen Einfluss auf Regierungen hat, ist im Wesentlichen die hauptstädtische Öffentlichkeit. Lokalverwaltungen hingegen stehen unter dem unmittelbaren Einfluss eines nachrangigen, möglicherweise sehr rückständigen Teils der Öffentlichkeit. Die Herrschaft der Zentralverwaltung über die Lokalverwaltung ist der Auffassung unseres Autors zufolge jene der aktiven und aufgeklärten Vorhut der Gemeinschaft über die ungebildetere, engstirnigere und dem Gemeinsinn weniger verpflichtete Nachhut. Die Zentralmacht, deren Vorherrschaft er sich ernsthaft bemüht aufrechtzuerhalten, ist im selben Maße die von Paris wie sie die der Exekutive ist. Folglich möchte er der Hauptstadt eine Anzahl von Vertretern zusprechen, die nicht, wie in England, kleiner ist, sondern im Verhältnis zur Bevölkerungszahl viel größer: „Nehmen wir an, dass vor zwölf oder fünfzehn Jahren, als eine Kammer von 450 Abgeordneten existierte, Paris in diese fünfundvierzig statt zwölf Abgeordnete entsandt hätte, nehmen wir weiter an (und dies ist keine überzogene Annahme), dass all diese mit der Opposition abgestimmt und gehandelt hätten, wie jene zwölf dies für gewöhnlich taten, so wäre (wofür alles spricht) eine bestimmte Mehrheit nicht entstanden, ein bestimmtes Kabinett hätte keine acht Jahre bestand gehabt und eine bestimmte Revolution mit all ihren Konsequenzen wäre nicht ausgebrochen.“ (La Centralisation, S. 277–278) 20 21

Anmerkung der Herausgeber: Ebd. Anmerkung der Herausgeber: Siehe La Centralisation, S. 229 ff.

222

D  A  B

Kurioserweise beleuchtet diese Annahme einen der vielen politischen Unterschiede zwischen England und Frankreich. Nur wenigen Menschen in England würde es in den Sinn kommen, dass eine Regierung größerer Weisheit und geringerer Neigung zur Revolution zustande käme, indem man etwa achtzig oder hundert Sitze der Metropole zuspräche. Allerdings gibt es nicht die Überlegenheit politischer und intellektueller Fähigkeiten der mittleren und der Arbeiterklasse Londons über diejenigen von Warwickshire und Lancashire, welche nahezu alle Autoritäten übereinstimmend denjenigen von Paris über jene in jedem anderen Teil Frankreichs zuschreiben. M. Dupont-White nennt sicherlich einige erstaunliche Beispiele des Unwissens und der Torheit, die Bürgermeister großer Provinzstädte offenbaren. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn er uns mitgeteilt hätte, ob diese Exemplare lokaler Amtsführung von ihren Mitbürgern gewählt oder in Wirklichkeit durch die Regierung eingesetzt worden sind. Eine Regierung, welche die gesamte gebildete Intelligenz des Landes zu ihrem Gegner hat, sieht sich oftmals genötigt, unwissende Männer zu berufen. Ohne weitere Informationen können wir diese Beispiele nicht als solche der Arbeitsweise freier lokaler Institutionen betrachten. Sachdienlicher ist die Behauptung unseres Autors, dass in den meisten Gegenden weder Elementarschulen noch Ortsverbindungswege (chemins vicinaux) errichtet werden konnten, ehe die Regierung von Louis Philippe diese per Regierungserlass erzwungen hatte. Ein weiteres Argument, mit dem er den Zentralismus anempfiehlt, besteht in dessen Unerlässlichkeit für den Schutz von Minderheiten. Die Mehrheit hat lokale wie allgemeine Angelegenheiten betreffend beständig die Neigung, die übrigen zu tyrannisieren. Um der Minderheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die man für Zwecke steuerlich belangen möchte, die sie triftige Gründe hat zu missbilligen, bedarf es notwendigerweise eines Schlichters. Jeder Schlichter ist dem bloßen Despotismus der Überzahl vorzuziehen; die Zentralregierung aber ist, ihrer Distanz und gehobenen Position wegen, im Allgemeinen ein unparteiischer Schlichter. Sogar in England, dem ausersehenen Land von Freiheit und individueller Spontaneität, neigt man zunehmend dazu, der lokalen Verwaltung ein Instrument der zentralen Überwachung beizuordnen. Die Gemeinde- oder Distriktverwaltung der Poor Laws untersteht nunmehr einem Poor Law Board. Stiftungen zu Wohltätigkeitszwecken, die – soweit sie überhaupt beaufsichtigt worden waren – früher unter der Kontrolle von Stadtbehörden und anderen lokalen Gremien standen, wurden der Aufsicht durch diese entzogen und Charity Commissioners unterstellt, die der Staat einsetzt.22 M. Dupont-White möchte die Provinz- und Gemeindeinstitutionen nicht abschaffen. Er schätzt sie, weil sie den Bildungstand der Bürger heben und diese mit der Wahrung von Interessen bekannt machen, die weder privater noch persönlicher Art sind – für diese Zwecke aber ist es (so behauptet er) nicht erforderlich, den Ortschaften die Aufsicht über ihre eigenen Angelegenheiten gänzlich zu überlassen. Nicht Selbstherrschaft ist ihnen zuzugestehen, sondern Veto und Initiative, das Recht der Ablehnung und das Recht des Vorschlags. Dass es ihnen frei stehen sollte, irgendetwas aus eigenem Vermögen zu tun, ohne die Erlaubnis eines Vorgesetzten einzuholen, gehört nicht zu seiner Vorstellung von ihrem Nutzen. Aber er gesteht ein, dass deren Beeinträchtigung gegenwärtig 22

Anmerkung der Herausgeber: 16 & 17 Victoria, c. 137 (1853).

Z ()

223

alle vernünftigen Grenzen überschreitet und nicht de la tutelle, sondern de la pédagogie ist.23 Er ist für eine erhebliche Lockerung dieser despotischen Regelungen und spricht sich zuweilen so entschieden wie alle anderen gegen die manie réglementaire des französischen Nationalgeistes aus.24 Oftmals wird eingewandt, dass der Staat, indem er sich in alles einmischt, die Schuld für alles übernimmt und alle Feindseligkeiten (toutes les haines) auf sich zieht.25 Unser Autor nimmt diesen Einwand auf die leichte Schulter. Es wird, so antwortet er, immer haine geben, auch ist der Staat die geeignetste Stelle, um Feindseligkeiten abzuladen. Viel besser ist es, wenn Menschen, die daran gehindert werden, ihre Interessen durchzusetzen, die Schuld dafür der Regierung statt feindlich gesinnten Klassen oder einander zuzuweisen. Darüber hinaus ist der Hass, der sich auf ein entferntes Objekt richtet, stets weniger stark. Bestätigend hätte man sagen können, dass die Rache eines rohen Volkes weniger den wirklichen Autoren eines unterstellten Unrechts trifft, als das vergleichsweise harmlosere und diesem untergeordnete Werkzeug. Ein enteigneter irischer Kötter hätte nicht auf seinen Großgrundbesitzer geschossen, sondern auf dessen Bevollmächtigten oder sogar nur auf den neuen Pächter. Immer dann, wenn eine starke Zentralregierung fehlt, wird die Gesellschaft, so sagt unser Autor, von Feindseligkeiten zersetzt. Wie die mittelalterlichen Städte Italiens oder Flanderns ist jede Stadt, jede Familie und jeder Einzelne der bittere Feind des unmittelbaren Nachbarn (S. 118–119).26 Bei Abwesenheit eines bevollmächtigten Schlichters verschärfen die beständig vorhandenen Ursachen die notwendig entstehenden Konflikte zum Hass. Unser Autor, obwohl ein eifriger Befürworter der Freiheit, unterscheidet zwischen politischer Freiheit und dem, was er bürgerliche Freiheit [civil liberty] nennt.27 Diese Unterscheidung ist von vielen Schriftstellern getroffen worden, wobei diese die bürgerliche Freiheit überschwänglich preisen, der politischen hingegen mit Zweifel und Misstrauen begegneten. M. Dupont-White tut das Gegenteil. Er ist ein energischer Anhänger der politischen Freiheit – der Überwachung der Regierung durch die Nation. Der bürgerlichen Freiheit hingegen, die für ihn gleichbedeutend mit Nichtregiertwerden ist, misst er keinen Wert zu. Mit diesem paradoxen Sprachgebrauch stellt er sich ohne Not in völligen Gegensatz zur etablierten Meinung und macht seine Überzeugungen in einem weit größeren Maße unpopulär, als dies durch deren praktische Verwendung durch ihn gestützt ist. Denn in Wirklichkeit würde er die private Freiheit des Bürgers von den meisten ärgerlichen Einschränkungen befreien, denen sie in den Ländern des Kontinents noch unterliegt. Auch ist seine Lehre, soweit sie sich von jener der moderaten Politiker in England unterscheidet, weniger der Unterdrückung individueller Spontaneität als der fatalen Begünstigung und Unterstützung ihrer freiwilligen Unterlassung anzuklagen. Unser Autor ist am schwächsten an der Stelle, an welcher er zu zeigen versucht, dass ein Volk unter einer Zentralregierung frei sein kann und dass Frankreich, welches immer eine starke Liebe zur Freiheit bekundet hat, kein gegenteiliges Beispiel darstellt. 23 24 25 26 27

Anmerkung Anmerkung Anmerkung Anmerkung Anmerkung

von Mill: La Centralisation, S. 86. der Herausgeber: Ebd., S. 71. der Herausgeber: Ebd., S. 117 der Herausgeber: Ebd. der Herausgeber: Ebd., S. 133 ff.

224

D  A  B

Die Gewähr dafür, eine Zentralregierung von der Überwältigung der politischen Freiheit abzuhalten, sieht er darin, dass auch der Widerstand in der Metropole zentralisiert ist – eine verwunderliche Auffassung in einem nach dem Dezember 1851 geschriebenen Buch. Damals ließ sich zeigen, wofür die Zentralisierung des Widerstandes gut ist, angesichts eines großen und gut ausgebildeten Heeres. Der Widerstand ist zentralisiert, wie sich dies Caligula für seine Feinde vorstellte: nämlich dass sie allesamt mit einem Schlag niedergestreckt werden können. Das nicht zentralisierte Spanien ist kein leuchtendes Beispiel der Auswirkungen der Freiheit, aber dessen Widerstand gegenüber dem ersten Napoleon, als dieser die ungeteilte militärische Macht über die spanische Hauptstadt besaß, stellt, so ist einzugestehen, etwas anderes dar als der Widerstand Frankreichs gegen seinen lebenden Imitator und Repräsentanten. *** Jenen, die uns bei unserer notwendigerweise skizzenhaften Zusammenfassung des Plädoyers gefolgt sind, das M. Dupont-White für die Einmischung des Staates als einer unerlässlichen Folge und eines unverzichtbaren Mittels des Fortschritts vorgebracht hat, kann das eine große Defizit nicht unbemerkt geblieben sein, das seine Argumentation in Wirklichkeit viel schwächer macht als sie zu sein den Anschein erweckt. Er unterscheidet nicht, oder nur gelegentlich und beiläufig, zwischen verschiedenen Weisen staatlicher Einflussnahme. Sein Hauptargument kann bestenfalls nur zeigen, dass in einer sich entwickelnden Gesellschaft eine starke Nachfrage nach neuen Gesetzen besteht. Diese These würden die meisten Gegner der Zentralisierung akzeptieren, ohne dass sie glauben, dabei ein großes Zugeständnis zu machen. Als es keine Eisenbahn gab, brauchte man keine Eisenbahngesetzgebung. Als es keine Aktiengesellschaften gab, waren keine Gesetze für ihre Bildung, ihre Abwicklung oder die Verantwortlichkeiten ihre Anteilseigener oder Direktoren erforderlich. Als es keine Versicherungen, keine Banken, keine Wechsel gab, bestand für einen Großteil unserer Handelsgesetzgebung keine Notwendigkeit. Üblicherweise erfordern aber diese neuen Gesetze zur Gewährleistung ihrer Ausführung nur die gewöhnlichen Gerichtshöfe. Die Ausweitung der Gesetzgebung an sich bedeutet keine zusätzliche Machtübergabe an die Exekutive, keine Ermessensbefugnis und sicher keine Überwachung sowie auch keine Verpflichtung, die Exekutive bei jeder neuen Unternehmung um Erlaubnis zu bitten. Zuweilen bedeutet sie den verstärkten Einsatz öffentlicher Funktionsträger und politische Patronage. Viele Gesetze, die Gemeininteressen vor Einzelinteressen schützen, würden unausgeführt bleiben, falls man sich zu ihrer Anwendung allein auf die Freiwilligkeit verließe.28 Als das Parlament Gesetze erlassen hat, die von Schulen, Manufakturen und wohltätigen Stiftungen beachtet werden sollten, musste es auch einen Stab von Inspektoren oder Kommissaren schaffen, um über die Einhaltung dieser 28

Anmerkung von Mill: Dies ist, so M. Dupont-White, die Situation in Frankreich in Hinblick auf die Gesetzgebung zur Begrenzung der Kinderarbeitszeit in Fabriken – und das in einem Land, in dem ungleich unserem jedem Gerichtshof ein Staatsanwalt zugehört. [Anmerkung der Herausgeber: Siehe D.P. 41.3.116, Loi relative au travail des enfants employés dans les manufactures, usines ou ateliers (22. März 1841).]

Z ()

225

Gesetze zu wachen. Aber es ist nicht notwendig, diesen Beamten die Verwaltung zu überlassen. Ihre Aufgabe ist es, die Vorgesetzten dieser Einrichtungen zu verwarnen, wenn von bestimmten ausgewiesenen Rechtspflichten abgewichen wird, und das Gesetz gegen die Rechtsbrecher anzuwenden, wenn diese Pflichtverletzungen fortbestehen. Dies ist die Art zusätzlicher Einmischung durch den Staat, die auf dem Wege der Entwicklung in bestimmtem Maße nützlich und unerlässlich ist. Aber diese Form der Einmischung darf nicht, oder muss zumindest nicht, den Ansporn zum eigenen Bemühen schwächen. In der Tat kann es zu einer übertriebenen Gesetzgebung kommen, wie auch eine übertriebene Verwaltung möglich ist. Eine Legislative kann es sich zur Aufgabe machen, wie auch eine Exekutive dazu in der Lage ist, den Individuen vorzuschreiben, wie diese im Streben nach dem eigenen Gewinn ihre Geschäfte betreiben sollen. Sie kann die Arbeitsvorgänge einer Manufaktur – vermöge all der minutieux Verordnungen Colberts – an starre Routinen binden. Wenn sie die Einzelnen aber statt vor sich selbst allein vor anderen schützt, vor denen sich selbst zu schützen ihnen entweder schwierig oder unmöglich wäre, dann bewegt sie sich in ihrem eigenen Aufgabenbereich. Hier geht es um jenes Prinzip, welches Gesetze gegen falsche Maße und Gewichte rechtfertigt wie auch die Annahme gemeinsamer, landesweiter Standards;29 welches die rechtliche Grundlage für die Schiffsüberfahrt von Auswanderern bildet und für die Berufsqualifikation von Handelschiffsführern; welches Arbeitgebern und Eltern untersagt, miteinander zu konspirieren, um ihres eigenen Gewinns willen, Kinder länger oder überhaupt zu Zeiten bzw. unter Bedingungen arbeiten zu lassen, die deren angemessener Bildung widersprechen; welches untersagt, es solle Einzelnen erlaubt sein, Wohnungen zu errichten oder zu vermieten, in denen es Menschen unmöglich ist, in Würde und ohne ihre Gesundheit zu gefährden zu leben. Obwohl behauptet werden kann, dass in diesem letzteren Fall die Annahme der Bedingungen freiwillig erfolgt, so betrifft die Freiwilligkeit doch nur das Oberhaupt der Familie, das am häufigsten abwesend ist und am wenigsten unter diesen üblen Zuständen leidet. Von Freiwilligkeit kann jedoch überhaupt nicht gesprochen werden, wenn bessere Wohnstätten nicht zu haben sind. Wenn man aber schlechtere verbietet, so wird die spontane Bereitstellung guter mit Selbstverständlichkeit folgen. Folglich muss zugestanden werden, dass eine neue Gesetzgebung durch das Forschreiten der Gesellschaft erfordert ist, um Individuen oder die Öffentlichkeit vor Schaden zu schützen – nicht allein des Aufkommens neuer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erscheinungen wegen, deren jede ihre eigenen öffentlichen und privaten Unannehmlichkeiten mit sich bringt, sondern auch, weil der vergrößerte Rahmen, in welchem nunmehr gehandelt wird, Übel und Gefahren beinhaltet, die im kleineren Rahmen ignoriert werden konnten. Eines der tausend Beispiele, die sich für diesen Fall reiner Zunahme anführen lassen, betrifft die enorme Mühe, welche die Gesellschaft nun aufbringen muss, um ihre Hauptquellen für die Wasserversorgung vor Vergiftung zu schützen. Es sind diese neuen Gesetze und die neuen, mit ihrer Befolgung erforderlichen Mittel, durch die sich in der Tat die Funktionen des Staates mit dem Fortschritt der Zivilisation auf natürliche Weise erweitern. Aber dieser Teil der Angelegenheit wird von englischen Denkern 29

Anmerkung der Herausgeber: Siehe 5 George IV, c. 74 (1824), für die folgenden Gesetze, siehe oben, Anm. 8–13.

226

D  A  B

selten in Abrede gestellt, wohl aber zuweilen unterbewertet. So lässt sich nur in diesem Sinn die englische Praxis als Beleg dafür anführen, dass staatliche Einmischung in zunehmendem Maße eine Tatsache ist oder sein sollte. Unser Autor setzt sich noch für eine weitere Auffassung ein, die im Prinzip völlig unangreifbar ist – nämlich dass der Staat möglicherweise jene Dienste übernehmen muss, die gesellschaftlich notwendig oder wichtig sind, deren Ausübung sich aber für niemanden bezahlt macht. Folglich muss der Staat oder eine bestimmte öffentliche Behörde Leuchttürme errichten und unterhalten sowie Bojen auslegen, wobei es unmöglich ist, jene, die diese grundlegenden Instrumente der Navigation nutzen, für deren Gebrauch zur Kasse zu bitten. Obwohl Notwendigkeiten der beschriebenen Art bestehen, kann doch nicht zugestanden werden, dass sie sich generell gesehen im Zuge des gesellschaftlichen Fortschrittes vervielfältigen. Zwar fordert der zivilisatorische Fortschritt beständig, neue Aufgaben zu lösen, er vervielfältigt aber auch die Situationen, in denen Einzelne oder Vereinigungen fähig und willens sind, diese aus freien Stücken zu übernehmen. Unser Autor aber, der auf viele wichtige Dinge verwiesen hat, die aus reinem Eigeninteresse der Individuen nie getan werden würden, scheint sich dessen nicht bewusst zu sein, dass alles vom öffentlichen Geist dieser Einzelnen erwartet werden kann – vermutlich deshalb, weil der öffentliche Geist in dieser Form in jenen Ländern, mit denen er am besten vertraut ist, durch die von ihm begrüßte Zentralisierung nahezu vollständig erstickt wurde. In unserem nichtzentralisierten Land jedoch wird sogar ein öffentliches Bedürfnis wie das nach Rettungsbooten durch private Freigiebigkeit befriedigt, nämlich vermöge einer freiwilligen Vereinigung. Es bilden sich Gesellschaften, um selbst über die Ausführung von Gesetzen zu wachen, an deren Durchsetzung kein Einzelner hinreichend interessiert ist, wie etwa im Falle der Gesetze gegen Tierquälerei. Meeresexpeditionen für wissenschaftliche oder philanthropische Zwecke werden mittels Spendengeldern ausgerüstet, private Vereinigungen übernehmen im großen Umfange die Bildung der Armen. In der Tat hat hierfür bei uns wie in anderen Ländern die Freigiebigkeit Einzelner in erheblichem Maße die Voraussetzung geschaffen. In der Vergangenheit haben, über Jahrhunderte hinweg, zahlreiche Stiftungen existiert, die nicht nur die Literatur, sondern die umfassendste geistige Bildung der Zeit ihrer Gründung ohne finanzielle Entschädigung einem Personenkreis vermittelt haben, der weit umfassender ist als jener, dem Bildung auf anderem Wege zugekommen ist. M. Dupont-White kann nicht zeigen, dass der Staat in der Erweiterung seiner Funktionen einen größeren öffentlichen Nutzen erzielt als private Hingabe und Wohltätigkeit, welche seine Funktionen einschränken, auch wenn er den Bereich der Aufgaben, die nur durch die Regierung übernommen werden können, mit so außergewöhnlichen Dingen befrachtet, wie die Landnahme für Zwecke der Kolonisierung oder des Handels. Aber selbst in Bezug auf diese ist seine Konzeption nicht immer zutreffend. Ein aus kaufmännischen Abenteurern bestehendes Unternehmen hat Indien für Großbritannien angeeignet. In diesem Teil der Welt hatte Frankreich gegenüber England einen Anfangsvorsprung; das jetzige britische Weltreich wäre beinahe ein französisches geworden und dies wäre der Fall gewesen, wenn man die Angelegenheit nicht dem Staat sondern Einzelnen überlassen, wenn die Zentralregierung Dupleix und Bussy freie Hand gegeben hätte. All die Regierungsfunktionen, die nicht darin bestehen, Rechtsschutz zu verleihen, sind dann am stärksten, wenn die Zivilisation am schwächsten ist, wenn das Elend der Einzelnen, deren Unwissenheit und Unfähigkeit,

Z ()

227

Zusammenhänge zu erkennen und herzustellen, der Gesellschaft keine andere Quelle als das Handeln des Staates lässt, um all das zu verwirklichen, wozu umfängliche Ressourcen, die Zusammenarbeit vieler oder gehobene Ansichten erforderlich sind. Es gab eine Zeit, in der Straßen, Kanäle, Ent- und Bewässerungssysteme, Banken oder Schulen unmöglich anders bestehen und die Geisteswissenschaften, schönen Künste, Literatur oder Naturwissenschaften unmöglich anders befördert werden konnten, als durch die Arbeit der Regierung. In einem entwickelten Zustand der Zivilisation jedoch werden diese Aufgaben besser durch freiwillige Vereinigungen gelöst oder unbesehen durch die allgemeine Öffentlichkeit, obwohl wir nicht verleugnen, dass sie, wenn auf diese Weise gehandelt wird, insofern einen Bedarf nach neuen Gesetzen erzeugen, als von jedem neuen in der Welt entstehenden Gut erwartet werden muss, von einem neuen Übel begleitet zu erscheinen. Ein zweites Versehen, von dem, wie uns scheint, die gesamte Argumentation von M. Dupont-White betroffen ist, besteht in seiner Annahme, dass die Regierung, deren Prärogative er behauptet, eine ideale Regierung sei, welche mit einer wirklichen sehr wenig gemein hat. Sicherlich hat er das ganze Recht auf seiner Seite, die Despotie eines Einzelnen oder die Herrschaft einer Klasse oder Kaste auszuschließen, die an ungerechten Gesetzen und einer ungerechten Verwaltung deutlich interessiert sind. Berechtigt ist auch seine Forderung nach einer durch Wahlen zustande gekommenen Regierung mit einer freien Presse, wodurch eine in fairer Weise gebildete Ansicht des Volkes letzten Endes über alles entscheidet. Dies alles zu behaupten, was er auch tut, ist ihm unbenommen.30 Wenn eine Regierung die öffentliche Diskussion über den Gesamtbereich von Politik, Religion und Philosophie nicht zulässt, so ist dies nicht die Art Regierung, um die es mir geht. Nachdem wir aber diese Postulate akzeptiert haben, gibt es eine weitere Annahme, die uns M. Dupont-White stillschweigend zuzugestehen bittet – dass die Regierung die Verkörperung der élite der Nation ist. Gibt es denn eine solche Regierung? Lässt sich gegenwärtig ein Zeitpunkt angeben, zu dem es eine solche geben wird? Unser Autor hat nicht dargelegt, wie sie aufgebaut sein muss, um dieses Ziel zu erreichen und ist in Hinblick auf den Nutzen von Regierungsformen und von politischen Einrichtungen im Allgemeinen tatsächlich alles andere als begeistert. Und doch nimmt er eigentlich an, dass in der von seiner Theorie unterstellten Regierung, die an deren Spitze stehenden Personen die ausgewählten Geister der Gemeinschaft sind. Aber dieser Zustand ist ein bloßes Ideal, das unermüdlich erstrebt werden soll, wobei die Annährung an dieses nur in seltensten Fällen gelingen mag. Die größte Annährung an dieses findet sich für gewöhnlich in jenen großen nationalen Krisen, welche alle kleinen Eifersüchteleien zum Schweigen bringen, die Herde des Mittelmaßes aus der Arena treiben und nach den großen Geistern in ihrer ganzen Stärke rufen. Aber bei den einzigen dauerhaften Regierungen befähigter Männer, welche die Geschichte kennt, handelt es sich um einige der schlechten Aristokratien, der römischen oder der venezianischen, welche unser Autor, wie wir annehmen, streng missbilligen würde. Amerika ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Demokratie sehr weit davon entfernt ist, dieses Ideal zu verwirklichen. Wenn dessen Bedingungen gegenwärtig irgendwo in unserem Zeitalter als vorhanden betrachtet werden könnten, so wäre dies in England anzunehmen. Glaubt aber irgend30

Anmerkung von Mill: L’Individue et l’État, S. xlix.

228

D  A  B

ein Engländer, dass es sich bei den Mitgliedern der Regierung für gewöhnlich um die zehn oder fünfzehn fähigsten und aufgeklärtesten Mitglieder der Gemeinschaft handelt oder dass Ober- und Unterhaus die Gedanken und Meinungen der angesehensten Männer des Landes verkörpern oder auch nur widerspiegeln? Glauben wir nicht dann gut abzuschneiden, wenn die Mehrheit der Minister erträgliche öffentliche Redner sind und in etwa die Hälfte von ihnen Männer, die in Maßen fleißig und befähigt ihre Aufgaben erfüllen? Erwarten wir, dass das Parlament mehr als eine vorteilhafte Repräsentation der durchschnittlichen Gefühle und Meinungen derjenigen Klassen darstellt, die im Lande vom Einfluss sind? Die Regierung und Parlament bewegende Kraft besteht in den Gefühlen der Mehrheit, die bisher nicht in der bloßen Anzahl besteht, sondern in deren Kombination mit der sozialen Bedeutung. Zuweilen ist die Regierung etwas besser, zuweilen etwas schlechter als die allgemein die Gesellschaft prägenden Ansichten, zumeist jedoch ihnen gleich. Deshalb ist die Annahme, die Regierung werde all das, was die Einzelnen zu tun fähig und willens sind, besser als diese Einzelnen tun, gleichbedeutend damit, dass der Durchschnitt der Gesellschaft besser sei als jeder Einzelne in ihr, was sowohl eine mathematische als auch ein moralische Absurdität wäre. Obwohl les élites der Gesellschaft nicht oft in der Regierung zu finden sind, so werden sie sich doch in der Regel dann, wenn irgendetwas ihren Bemühungen Würdiges dem fairen Wettbewerb offen steht, am Wettbewerb beteiligen. Somit sind unter den Personen am Start auch die Favoriten und wenn eine Gesellschaft befähigt ist, die getane Arbeit einzuschätzen, dann werden eher diese als die anderen die erfolgreichen Wettbewerber sein. Was immer die Einzelnen ohne Monopol tun, wird mit großer Wahrscheinlichkeit von denen getan werden, die es am besten tun können. Jene aber werden es im Allgemeinen besser als die Regierung tun, die nur den Durchschnitt vertritt. Eine dritte Schwäche in M. Dupont-Whites Argumentation liegt in seiner sehr unangemessenen Vorstellung von der Art und Weise, in welcher das Vermögen und die Leistung der Individuen dadurch gemindert werden, dass nahezu eine jede ihrer Bemühungen von der Erlaubnis eines Vorgesetzten abhängt. Sind die Franzosen, so fragt er, durch ihre Geschichte hindurch, ein Volk ohne Energie, Aktivität und ohne geistiges Leben gewesen, sind sie dies heute? Wir brauchen aber keine andere Meinung als die seine zu zitieren, um nach der Art jener Eigenschaften zu fragen, welche gemeinhin seine Landsleute charakterisiert. Was diesen speziellen Punkt anbelangt, so hat er selbst unbewusst das schärfste Urteil über sie gefällt. Ihnen fehle es, so sagt er31 , an Initiative, sie seien energisch und aktiv nur in den Dingen, die ihnen vorgeschrieben werden und durch die Autoritäten bestimmt sind. Er diskutiert diese Absonderlichkeit, philosophiert und stellt Thesen über sie auf, aber bestätigt sie beständig. Die größten Feinde der Zentralisierung haben gegen die Theorie eines durch Regierungshandeln bewirkten Fortschritts der Nation nichts Zwingenderes vorgebracht. Für M. Dupont-White zeigt diese Schwäche nur, dass die Franzosen einer Regierung bedürfen, die ihnen vieles regelt. Andere sehen darin den Beweis eines Übermaßes an Regierung sowie der Auswirkungen dessen. Wenn ein Volk nur unter Zwang Straßen baut oder Schulen unterhält, sollte es dann, so fragt er, dazu gebracht werden, dies zu tun, indem es sich selbst überlassen wird? Sicherlich nicht. Es befindet sich in einem Zustand der Erschöpfung, aus dem es 31

Anmerkung von Mill: L’Individue et l’État, S. 354, 355; La Centralisation, S. 306ff.

Z ()

229

sich nicht ohne fremde Hilfe befreien kann. Man möge ihm deshalb helfen. Nicht nur die Regierung sollte es anspornen, sondern ein jeder, zu dem es aufschaut – aber wozu? Dass vielleicht die Regierung für das Volk handelt? Nein, es muss angespornt werden, für sich selbst zu handeln. Dies ist jedenfalls das Endziel, zudem man versuchen sollte, das Volk zu bringen. Wenn wir nun von der allgemeinen Frage der Einmischung durch die Regierung zu jener der vergleichsweisen Vorzüge von Zentralregierung und lokaler Verwaltung übergehen, müssen wir anerkennen, dass M. Dupont-Whites diesbezügliche Auffassungen nicht nur eine legitime Folge, sondern auch ein unerlässliches Korrektiv seiner Auffassungen in der grundsätzlicheren Frage sind. Der Lokaldespotie ist jede andere vorzuziehen. Wenn wir durch Amtsgewalten unterworfen werden, wenn diese für uns unsere eigenen Angelegenheiten nach deren Belieben regeln, so darf dieses Belieben um Gottes Willen nicht das unserer unmittelbaren Nachbarn sein. Von einem Minister oder einem Parlament überwacht zu werden bzw. deren Einwilligung zu bedürfen, ist schon schlimm genug – man erspare uns jedoch das Gängelband eines Board of Guardian oder eines Common Council. Bei den ersteren wäre ein gewisses Maß an Wissen, Kultiviertheit und Aufmerksamkeit sowie eine eingelebte Achtung der Meinungen zu erwarten, die gebildetere Persönlichkeiten hegen. Unter den letzteren zu leben, würde, seltenste Zufälle ausgenommen, in den meisten Ortschaften bedeuten, Sklave ordinärster Vorurteile zu sein, eingeengter, verzerrter und kurzsichtiger Ansichten der Einwohnerschaft kleiner Städte oder einer Gruppe von Dörfern. Nur Angelegenheiten einfachster Art und bescheidensten Ausmaßes, für welche die Erhebung der Kommunalsteuer nicht überschritten wird, die wiederum auf genauestens vorherbestimmte Zwecke anzuwenden ist, können der Verwaltung kleiner Ortschaften gefahrlos im Alleingang und unkontrolliert überlassen werden. Die stärksten englischen Befürworter lokaler Freiheiten würden wahrscheinlich zugestehen, dass die Ortschaften kaum mehr tun sollten als die Gesetze und Anweisungen durchzuführen und die Mittel für deren Durchführung bereitzustellen, welche die Legislative des Britischen Weltreichs verabschiedet hat. Die örtliche Steuer wird von der Gemeinde oder den Quarter Sessions festgelegt, ohne dass es diesen erlaubt wäre, sie durch eine Einkommenssteuer zu erheben oder eine andere Berechnung zugrundezulegen als jene, welche durch das Parlament bewilligt worden ist und in einem bestimmten Prozentsatz der Miete besteht. Daraus dass die lokale Verwaltung nicht die oberste und absolute Autorität haben sollte, folgt aber nicht die oberste und absolute Autorität der Zentralregierung. Auch folgt daraus nicht die Ermächtigung der letzteren, per staatlicher Verordnung, in den Fragen, in welchen sich die Legislative noch nicht festgelegt hat, den Widerstand der ersteren zurückzuweisen oder auf deren Zustimmung zu verzichten. Hinsichtlich des Ausmaßes, in welchem die zentrale Exekutive mit den Lokalbehörden bei der Regelung lokaler Angelegenheiten zusammenarbeiten sollte, bestehen zwischen uns große Meinungsverschiedenheiten. Recht hat unser Autor mit seiner Behauptung, dass unsere Legislative kürzlich die zentrale mit der lokalen Verwaltung in einem weit größeren Maße verbunden hat als dies vorher der Fall war. Der Grund dafür ist, dass die gegenwärtige Zeit durch die Beseitigung von Missbräuchen geprägt ist und die Maßnahmen zur Beseitigung diese Missbräuche nicht Personen und Behörden anvertraut werden können, die für deren Entstehen die Verantwortung tragen. Aber diese tatsächlich existierenden Ten-

230

D  A  B

denzen sind in den Vorstellungen unseres Autors weit stärker als in der Wirklichkeit. Unermüdlich wiederholt er, England habe es für nötig gehalten, die Armenhilfe zu zentralisieren. Ihm ist vielleicht nicht bewusst, dass die Armenhilfe in England nicht zentral sondern lokal organisiert ist, allerdings unter zentraler Kontrolle steht, sowie dass das Poor Law von 1834 neben dem Central Board auch die ersten in hinnehmbarer Weise zusammengesetzten Local Boards of Poor Law Administration schuf, die England jemals hatte. Aufgeklärte Engländer standen der wirklichen Verwaltung lokaler Angelegenheiten durch eine zentrale Behörde nie feindlicher gegenüber als gegenwärtig. Die von ihnen akzeptierte Zentralisierung ist vielmehr eine des Wissens und der Erfahrung statt eine der Macht. Sie würden sich damit nicht zufrieden geben, was M. Dupont-White den lokalen Behörden zugesteht: le véto et l’initiative.32 In unserer jüngsten Gesetzgebung gibt es wenige Fälle, in welchen die Lokalbehörde die zentrale um Erlaubnis ersuchen muss. Innerhalb der Grenzen der ihr zugeschriebenen Rechte hat sie generell völlige Ermessensfreiheit und ist Gegenstand zentraler Einflussnahme nur dann, wenn sie die ausdrücklich geäußerten Vorgaben des Parlaments verletzt. Ferner sollte beachtet werden, dass die Existenz lokaler Behörden auf kleiner ländlicher Verwaltungsebene nicht unerlässlich ist, falls diese Behörden sich nicht dafür eignen, mit komplizierten öffentlichen Pflichten betraut zu werden. Es gibt Provinzbehörden wie auch Kommunalbehörden. Unsere Quarter Sessions sind eine solche Behörde. Die Generalräte [conseils généraux] der französischen Departments bilden eine andere – eine Institution welche M. Dupont-White, M. Odilon Barrot und andere einflussreiche Schriftsteller als die einzige in modernen Zeiten eingeführte vorstellig machen, die im Land Wurzeln fassen konnte und über alle politischen Änderungen hinweg nicht aufgehört hat, vernünftig und segensreich zu wirken. Das französische System irrt aber nicht nur darin, dass den lokalen Körperschaften zu wenig Macht verliehen wird, sondern auch insofern es dieser Körperschaften zu viele und zu unbedeutende gibt. In England schreibt das Gesetz nicht vor, dass jedes Dorf seinen Bürgermeister und Gemeinderat haben soll. Jede Gemeinde hat in der Tat ihre Sakristei, aber deren Pflichten sind nunmehr fast gänzlich auf die Angelegenheiten der Gemeindekirche beschränkt. Unsere chemins vicinaux werden nicht von den Gemeinden errichtet, sondern von tagenden Magistraten [justices in sessions]. Die weit größere Anzahl selbst unserer Städte sind nicht körperschaftlich verfasst, ihre lokalen Angelegenheiten werden von Graftschaftsmagistraten verwaltet – es sei denn, das Parlament hat mittels eines Private Act eine Gruppe Bevollmächtigter oder eine Straßenbaubehörde bestimmt. Eine mittelgroße Stadt oder eine Poor Law Union sollte vielleicht die kleinste Verwaltungseinheit mit lokaler Vertretung sein, wobei selbst ein großer Teil der Angelegenheiten dieser wenn nicht schon den Quarter Sessions dann doch einer repräsentierenden Grafschaftsbehörde [County Boards] oder einer Kombination beider anvertraut werden könnte. Behörden mit einem solchen Zuständigkeitsbereich, sollten sie sich wie zu erwarten zusammensetzen, ließe sich eine jede ihnen zugewiesene Aufgabe ohne Unterordnung unter die Zentralexekutive anvertrauen, deren auf sie bezogene Aufgaben sich darauf reduzieren ließen, Informationen zu sammeln und zu verteilen sowie die örtlichen Behörden zur Rechenschaft zu ziehen, wenn diese die 32

Anmerkung der Herausgeber: L’Individue et l’État, S. 81.

Z ()

231

ihnen vom Parlament auferlegten Regeln verletzen oder sie sich ihnen per Gesetz nicht zuerkannter Rechte bemächtigt haben. Eine andere Problematik, der M. Dupont-White nicht die ihr gebührende Bedeutung beimisst, besteht in der Gefahr, die der Freiheit durch den Machtzuwachs der Regierung und der Gönnerschaft erwächst, die sie praktiziert, und die von jeder Ausweitung ihrer Oberaufsicht über Individuen und örtliche Behörden untrennbar ist. Eine der bedeutendsten französischen Autoritäten in Fragen des Konstitutionalismus, M. Royer-Collard, hat vor langer Zeit verkündet, dass eine stark zentralisierte Regierung mit Sicherheit die Versammlung beherrschen wird, die sie zu überwachen eingesetzt worden ist. In einer zur Zeit des Villèle-Kabinetts gehaltenen Rede fragte er: „Wer wählt in einer Wahl? Etwa die Wähler? Nein, sehr oft ist es allein das Kabinett, das wählt. Das Kabinett wählt vermöge der vielen Posten und Gehälter, die es zu verschenken hat, und die alle oder nahezu alle direkt oder indirekt erwiesene Fügsamkeit vergüten; vermöge der Gesamtheit der Geschäfte und Interessen, welche die Zentralisierung unter ihre Herrschaft bringt; vermöge all der religiösen, bürgerlichen, militärischen und wissenschaftlichen Einrichtungen, welche die lokalen Behörden zu verlieren fürchten oder dringend zu erlangen suchen; vermöge der Straßen, Brücken, Kanäle und Rathäuser, denn die Erfüllung eines jeden öffentlichen Bedürfnisses ist eine Gefälligkeit der Regierung, die zu erhalten die Öffentlichkeit, ein Höfling neuer Art, willfährig zu sein hat. Kurz gesagt, wählt das Kabinett mit dem Gesamtgewicht der Regierung, das mit all ihrer Gewalt jedem Department, jeder Gemeinde, jedem Berufsstand und, so möchte ich sagen, jedem Individuen auferlegt wird. Wer aber ist diese Regierung? Die kaiserliche Regierung, die um keinen ihrer hunderttausend Arme verkürzt wurde, stattdessen neue Energie aus dem Kampf gegen einige Formen der Freiheit gezogen hat, den sie durchzustehen gezwungen war, und die immer dann, wenn dies nötig gewesen ist, die ihr in die Wiege gelegten Instinkte – List und Gewalt – wiedererweckte.“ (Zitiert von M. Léonce de Lavergne in der Revue des Deux Mondes, 1. Oktober 1861, S. 586–587).33 Eine Regierung, die eine solche Menge an Gefälligkeiten zu gewähren oder zurückzuhalten in der Lage ist, besitzt, so frei sie ihrem Namen nach zu sein scheint, eine solche Macht, andere zu bestechen, die von einer ausgesprochenen Autokratie kaum übertroffen werden dürfte, und die sie zum Herren über den Wahlprozess unter fast allen Umständen macht, ausgenommen jene seltenen und außergewöhnlichen öffentlicher Erregtheit. Wahr ist, dass sie auch so gewappnet, zusammenbrechen kann – die Regierungen von Villèle und Polignac wurden in zwei aufeinanderfolgenden Parlamentswahlen geschlagen. Die praktische Wahrheit der Behauptung von M. Royer-Collard beeinträchtigt dies aber nicht. Die Regierung blieb Herr über die Parlamentskammern, bis der Sturm öffentlicher Ablehnung einer Revolution gleichkam und eine schuf, als die Regierung ihm 33

Anmerkung der Herausgeber: Die korrekte Angabe lautet: Louis Gabriel Léonce Guilhaud de Lavergne. „Royer-Collard, orateur et politique“, Revue des Deux Mondes, XXXV (1. Oktober 1861), S. 566–97.

232

D  A  B

Widerstand leistete. Die öffentliche Meinung, die stark genug war, das Kabinett abzuwählen, reichte dazu aus, den König und die königliche Familie in drei Tagen hinauszuwerfen. Die öffentliche Meinung, die achtzehn Jahre später wiederum fähig gewesen ist, einen König und seine Dynastie zu vertreiben, hatte sechs Monate früher darin versagt, eine Parlamentswahl gegen einen Minister zu wenden.34 So vollständig stützt die jüngste Geschichte die Behauptung, dass eine überzentralisierte Regierung keiner anderen Kontrolle als der einer Revolution zugänglich ist und durch den Anschein unbegrenzter Macht bis zu dem Zeitpunkt ins Verderben geführt wird, an dem alle Menschheit sie aufgibt. Wir haben noch nicht den großen moralischen und politischen Schaden bemerkt, der darin besteht, ein Volk zu einem großen Stamm von Stellenjägern auszubilden. Sollte es jedoch eine Tatsache geben, hinsichtlich der alle französischen Denker einschließlich M. Dupont-White einer Meinung sind, so besteht sie darin, dass seit der Zeit des ersten Kaisers dies die Eigenschaft ist, welche die Zentralisierung Frankreich eingeprägt hat. Unser Autor freilich stützt sich auf die Vergütungen, welche Produktionstätigkeiten in Konkurrenz zu dem Anreiz bieten, welcher die Anstellung darstellt. Wenn aber all die höheren und ehrwürdigeren Bestrebungen, auch jene der Literatur und Wissenschaft, als Zweige des öffentlichen Dienstes organisiert sind (was er zu billigen scheint), was wäre dann die Konsequenz? Dass sich der ehrgeizige und aktive Teil der Nation in zwei Klassen teilt, in die der Stellensucher und die der Geldsucher. Aus einem Gespür für diese Übel heraus, aber auch, und zwar im gleichen Maße, wegen der vom Glück begünstigten nationalen Gepflogenheit, der Regierung zu misstrauen, sehen nahezu alle englischen Denker die Annahme, dass Regierungsfunktionen in irgendeiner Weise ausgeweitet werden sollten, als grundsätzlich von Nachteil an und vertreten als grundlegende Überzeugung nicht nur die Auffassung, dass sich der Staat aus vielen der größten öffentlichen Angelegenheiten zurückziehen solle, sobald die Nation den Wickelbändern der Kindheit entwachsen ist, sondern auch, dass selbst da, wo kein allgemeines Prinzip seine Einmischung verbietet, jenseits dessen nichts durch ihn unternommen werden solle, was durch andere Mittel zu leisten sich als eindeutig unmöglich erwiesen hat. Die öffentliche Meinung in England stimmte nationalen Bildungsbeihilfen35 erst dann zu, als sich private Vereinigungen über viele Jahre hinweg an dieser Aufgabe versucht und dabei die Grenzen dessen aufgewiesen hatten, was von ihnen verlangt werden konnte. Die Regierung hat sich erst dann um die Vorschriften für Auswandererschiffe gekümmert, als die Schrecken zu einem Skandal für das Land geworden waren, die daraus resultierten, dass man diese Schiffe ohne jede Regularien fahren ließ, und außer der Regierung kein Mittel blieb, diese Gräuel zu beenden. Das Poor Law Board konnte nur geschaffen werden, weil der Missbrauch der Poor Laws36 ein solches Ausmaß an Unheil erreicht hatte, welches das Land nicht länger hinnehmen konnte, während die Erfahrung zweier Jahrhunderte gezeigt hatte, dass die für die Ausmistung dieses Augiasstalles erforderlichen Qualitäten nur in einer unter tausend Gemeinden zu finden waren und die Reform selbst dort kaum den einzelnen Urheber überlebte. Hinsichtlich 34 35 36

Anmerkung der Herausgeber: François Pierre Guizot. Anmerkung der Herausgeber: Siehe 3 & 4 William IV, c. 96 (1833). Anmerkung der Herausgeber: Siehe 43 Elizabeth, c. 2 (1601).

Z ()

233

dieser Fragen entspricht die allgemeine Gefühlslage in England, wie wir glauben, generell nahezu dem, was sie sein sollte. Es gibt hier kein blindes Vorurteil gegenüber dem Rückgriff auf das Mittel des Staates, wie sich dieses als Reaktion auf ein Übermaß an Regierung bei einigen der entschiedeneren französischen Reformer eingestellt haben mag. Allerdings gibt es die starke Überzeugung, dass das, was in zumutbarem Maße auf irgendeinem anderen Weg verwirklicht werden kann, lieber auf diese Weise verwirklicht werden sollte als durch die Regierung. Die Handlungen des Staates werden als Heilmittel für außergewöhnliche Fälle betrachtet, sind gemeinhin für große Aufgaben zurückzuhalten, für schwierige und kritische Augenblicke im Laufe der Ereignisse oder für zu wichtige Angelegenheiten, als dass man sie in weniger verantwortliche Hände legen könnte. Wenige Engländer würden, wie wir glauben, der Regierung die Befugnisse missgönnen, die eine gewisse Zeit über oder dauerhaft dafür erforderlich sind, ein beliebiges bedeutendes nationales Interesse vor ernsthaftem Schaden zu schützen; und ebenso wenige würden ihr die Macht zuerkennen, sich in all das einzumischen, von dem sie ablassen könnte, ohne das öffentliche Wohl in irgendeinem entscheidenden Bereich zu berühren. Obwohl eine so angedeutete Grenze als völlig eindeutige weder gezogen ist noch gezogen werden kann, hat doch ein solcher Kompromiss praktischer Art zwischen dem Staat und dem Einzelnen und zwischen der Zentralregierung und den örtlichen Behörden, wie wir glauben, das Ergebnis zu sein, das sich aus aller anhaltenden und aufgeklärten Betrachtung und Diskussion dieser bedeutenden Frage ergeben muss. Wir würden M. Dupont-White nicht gerecht werden, wenn wir seine Schriften beiseite legen sollten, ohne einige Beispiele der scharfsinnigen und oftmals elegant ausgedrückten beiläufigen Gedanken zu geben, die in seinen Bänden überreichlich zu finden sind, häufiger sogar als selbst in jenen, die zum besseren Teil der zeitgenössischen Literatur zählen. Allerdings können wir unser Gewissen nicht freisprechen, ohne Einspruch gegen einige seiner Meinungen und Einstellungen zu erheben, wobei wir bedauern, dass solch ein Schriftsteller diesen das Ansehen seiner Begabungen verliehen hat. Unter diesen ist die folgende besonders schlimm: „Man überlege für einen Moment: wenn Freiheit ein Prinzip moralischer Erhebung ist, so ist es dies deshalb, weil es Macht bedeutet. Ein freier Mensch findet in der Macht, die er über sich selbst genießt, den notwendigen Freiraum seiner Befähigungen und ein Gefühl, das ihn vor sich selbst erhebt. Wie aber kann, wenn dies so sein sollte, die höchste Macht, angesichts all der Lebenswege und Horizonte, die sie eröffnet, aller Gefühle, die sie wachruft, nicht ein solches Prinzip der Erhebung sein, dass dem der Freiheit gleicht oder gar über diesem steht?“ (L’Individu et l’État, S. xxi-xxii.) Wir betrachten diese Vermengung der Liebe zur Freiheit mit der Liebe zur Macht, des Wunsches, nicht ungebührlich überwacht zu werden, mit dem Bestreben, Überwachung auszuüben, sowohl als einen psychologischen Fehler als auch als die schlimmstmögliche moralische Lektion. Sollte es einen Lehrsatz der Moral geben, der mehr als alle anderen gelehrt werden sollte, und den die großen Lehrer der Moral mit größter Überzeugung gelehrt haben, dann ist dies jener, dass die Liebe zur Macht die schlimmste Leidenschaft der menschlichen Natur darstellt, dass die Macht über andere, die Macht des Zwangs und der Nötigung, eine jede Macht, außer jener der moralischen und intel-

234

D  A  B

lektuellen Einflussnahme, selbst in unerlässlichen Fällen eine Schlinge darstellt, jedoch in allen anderen einen Fluch sowohl für den Inhaber als auch für jene, über welche er sie inne hat; eine Bürde, die keine vernünftig verfasste moralische Natur auf sich zu nehmen seine Zustimmung erteilt, es sei denn als eines der größten Opfer, welches die Neigung jemals der Pflicht erbringt. Die Liebe zur Freiheit steht dazu im völligen Gegensatz. Im einzig vernünftigen Sinne verstanden, ist sie selbstlos; sie bringt niemanden in die Lage, zum Feind des Wohls seiner Mitgeschöpfe zu werden; alle sollten gleichermaßen frei sein und die Freiheit des einen hat seine feste Grundlage allein in der gleichen Freiheit der übrigen. Im Gegensatz dazu ist der Hunger nach Macht wesentlich selbstsüchtig. Alle können nicht Macht haben, denn die Macht des einen ist die Macht über andere, die nicht nur an seiner höheren Position nicht teilhaben, sondern deren untergeordnete die Grundlage für deren Erhöhung bildet. Folglich ist die Leidenschaft, der die τυραννικαὶ φυσεῖς prägt, die der Liebe zur Macht;37 sie ist die Leidenschaft jener, die zu allen Zeiten der Menschengattung die größten Leiden zugefügt haben. Die Liebe zur Freiheit ist hingegen für gewöhnlich jene ihrer erhabensten Förderer. „Der Reichtum Englands ist im wesentlichen zwei Institutionen zu verdanken, den Navigation Laws und den Poor Laws, wobei die ersteren die britische Seefahrt dadurch schützen, dass sie fremden Schiffen den Zugang zu den Häfen Großbritanniens versperren, der letzteren ... verdankt die englische Wirtschaft die Sicherheit, deren sie sich erfreut, vor allen Dingen aber das Niveau der Löhne, das es ihnen ermöglicht, zu Preisen zu produzieren und zu verkaufen, welche ihren Wettbewerbern unmöglich sind, und auf nahezu allen Märkten der Welt erfolgreich zu sein.“ (L’Individu et l’État, S. 126, 129.) Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist über die Navigation Laws nur so viel zu sagen, dass der englische Handel und die englische Schifffahrt seit ihrer Abschaffung wunderbar zu gedeihen scheinen.38 Schwerlich aber hat man eine größere Anzahl von die Tatsachen betreffenden Fehlern in wenigen Worten zusammengefasst finden können, als in den drei Behauptungen: dass die Löhne in England niedriger sind als auf dem Kontinent, dass sich ihr niedriges Niveau den Poor Laws verdankt und dass die niedrigen Löhne der Grund dafür sind, dass England seine Erzeugnisse zu niedrigeren Preisen als andere Länder verkaufen kann. „Warum findet das Strafrecht ohne Bedenken auf den unwissendsten und törichtesten Übeltäter Anwendung? Weil von ihm angenommen wird, dass er es kennt. Wie aber kann er dies kennen, wenn nicht vermöge des göttlichen Strahls [des Gewissens],39 welcher das ursprüngliche Erbteil eines jeden Geistes ist?“ (L’Individu et l’État, S. 226) Es kann sicherlich nicht sein, dass M. Dupont-White die bloße Gesetzesvermutung mit einer Tatsache verwechselt und den Glauben hegt, ein Moralinstinkt enthülle denen ganz unten wirklich ein jedes bedeutendes Verbot, das im Strafrecht enthalten ist! Weder wissen noch vermuten sie eine Spur mehr von ihm, als was ihnen gelehrt wurde. Das 37 38 39

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Platon, Staat, 576a. Anmerkung der Herausgeber: Siehe 12 & 13 Victoria, c. 29 (1849). Anmerkung des Übersetzers: Diese Anmerkung stammt von den Herausgebern und wurde hier mit übersetzt.

Z ()

235

Gewissen legt ihnen das nicht nahe, was seine selbstverständlichsten Gebote zu sein scheinen: etwa dass sie nicht schamlos ihre Ehefrauen (zum Beispiel) schlecht behandeln sollen oder ihre Tiere. M. Dupont-White billigt und begrüßt die religiöse Freiheit und eine selbst bis dahin gehende Gleichheit, dass der Staat allen Glaubensgemeinschaften mit einer tolerablen Anzahl an Gläubigen Gotteshäuser und Gelder zur Verfügung stellt. Allerdings hält er es für richtig, diese Vorteile davon abhängig zu machen, dass die Religionsgemeinschaften von der Verbreitung ihrer Meinungen Abstand nehmen. „Für diese Gaben verlangen die französischen Gesetze von ihnen, dass sie den Frieden wahren, einander nicht stören, es unterlassen, für sich zu werben, und nicht die Leidenschaften anderer Zeiten in einer Epoche wachzurufen, die schon genug mit ihren eigenen beschäftigt ist.“ (La Centralisation, S. 291) Sollte dies der Preis für die staatliche Unterstützung der Religion sein, so haben M. de Pressensé und seine Freunde, als sie diese ablehnten, sicherlich richtig und weise gehandelt – obwohl diese Weigerung wahrscheinlich die größte Kränkung darstellt, die sie als Körperschaft der kaiserlichen Regierung zufügen konnten, die sie ihrer verdeckten Feindschaft versichert und dem Maß insgeheimer Verfolgung aussetzt, das jene Regierung oder deren Amtsträger es für ratsam halten zu riskieren. Denn in Frankreich werden Kirchen und Religionsgemeinschaften, wenn sie nicht durch das Gesetz anerkannt, anders gesagt nicht vom Staat bezahlt und überwacht sind, als solche betrachtet, die kein Recht auf dieselbe Religionsfreiheit wie andere Menschen haben. Wir wenden uns jetzt der angenehmeren Aufgabe zu, einige wenige der wertvollen oder prägnanten Gedanken zusammenzustellen, die sich über die Seiten des Werkes von M. Dupont-White verstreut finden. Die Völker, die zuerst eine bestimmte Höhe der menschlichen Entwicklung erreicht haben, würden wahrscheinlich an diesem Punkt verharren: „Gemeinhin werden die Völker, die als Erste irgendeine religiöse oder politische Bedeutung erlangen, dazu neigen, an dieser Stelle für immer zu verharren – sei es aus dem Grunde, dass die Einflüsse der Rasse, des Klimas und der Stellung, die ihre Entwicklung vorangetrieben haben, auch in der Lage sind, diese zum Stillstand zu bringen, sei es deshalb, weil jene, die zuerst die überragen, in deren Umgebung sie leben, ihren relativen Vorzug fälschlich für einen absoluten halten und ihre Überlegenheit als Vollkommenheit missverstehen.“ (L’Individu et l’État, S. xxx) Die Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Macht sei eine bedeutsamere Erfindung als der Buchdruck: „Die große Entdeckung des westlichen Europa ist nicht die Druckerpresse sondern die Trennung des Geistlichen vom Weltlichen. Der Buchdruck allein hätte nur dazu gedient, den Koran und die Veden zu vervielfältigen.“ (S. xxix–xxx)40 Die Dinge, in welchem die Menschheit wesentlich voranschreitet, seien jene, die sich entweder buchstäblich oder im übertragenen Sinne mehren lassen: 40

Anmerkung der Herausgeber: Siehe La Centralisation.

236

D  A  B „Was immer sich ansammeln und mit Gewinn anwenden lassen kann, nimmt beständig zu: Reichtum, Wissenschaft und sogar Moral. Sind aber Poesie, Redekunst und Bildhauerei unserer Zeit denen der Ilias, des Parthenon und der Tribüne Athens überlegen? ... Die grundlegenden Elemente der Natur des Menschen, wie der anderer Tiere, ändern sich nicht. Aber bestimmte menschliche Vermögen zeitigen Resultate, die sich häufen und übermitteln lassen. Von ihnen her ergibt sich der Fortschritt.“ (S. 360–361)41

Privilegierte Klassen seien die eigentliche Quelle nobler Gesinnungen: „Der Feudalherr mit der erhabenen Vorstellung, die er von sich hatte, entwickelte eine Einstellung der Selbstachtung – womit die Tugend entsteht. Wenn es eine Vielzahl solcher Individuen gibt und diese eine Klasse bilden, dann stellt diese Klasse für die Bildung des Landes ein großes Vorbild dar, das in der Lage ist, alle Übrigen zu erhöhen. Natürlich gibt es einen großen Abstand zwischen Gesinnung und Verhalten, zwischen der Verlautbarung und der Großtat – aber allein schon das Ideal zu preisen, ist bedeutsam. Keine große Seele kommt in die Welt, welche, sollte sie dieses Ideal erstreben, nicht größer würde. Von einer Maske des Helden bleibt etwas über die Zeit bestehen und hinterlässt in den Merkmalen eines Volkes seine Spur. Ein großer Mangel der Russen ist es, niemals ein Rittertum gekannt zu haben. Selbst die Gesinnung der Ehre ist uns aus der Feudalzeit überliefert ... Die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, etwas preiszugeben, das der elenden menschlichen Natur zu einer größeren Statur verhilft – qui peut guinder notre indigente espèce.“ (La Centralisation, S 15–16, 112) Wir können nicht angemessener abschließen als mit einem anderen Zitat, das eine tief im französischen Geist eingeschriebene Gesinnung nachdrücklich tadelt, die bis vor kurzem in nahezu all ihren deutlichen Bekundungen tonangebend war und deren Anklage wir keinesfalls in einem Plädoyer für die Zentralisierung erwartet hätten. „Einheit“, sagt M. Dupont-White, „ist nur ein anderes Wort für Intoleranz“ (S. 188).42 In der Tat ist Einheit ein Ausdruck, der eines der Übel Europas darstellt, wenn er aus dem Munde eines theoretisch oder praktisch orientierten Politikers kommt, der in der erstickenden Atmosphäre der kaiserlichen Schule herangezogen wurde. Er steht für die Leugnung eines derjenigen Prinzipien, die für die Vervollkommnung ausschlaggebend sind und sogar für das anhaltende Bestehen der Zivilisation, das von der Vielfalt abhängt, aber nicht von der Einheit. „Ein Gott, ein Frankreich, ein König, eine Kammer“, war der Ausruf eines Mitglieds der ersten konstituierenden Versammlung. Sir Walter Scott ergänzte dazu als geeigneten Kommentar: „ein Mund, eine Nase, ein Ohr und ein Auge“.43 Sollte der Scherz die Lächerlichkeit in ein grelles Licht setzen, so ist er doch weit entfernt davon, dem Übel der miserablen Neigung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, 41 42 43

Anmerkung der Herausgeber: Ebd. Anmerkung der Herausgeber: Siehe, La Centralisation. Anmerkung der Herausgeber: Walter Scott, The Life of Napoleon Buonaparte, Edinburgh 1827, Bd. 1, S. 178. Als fragliches Mitglied der konstituierenden Versammlung wird von Scott Rabaut St. Etienne genannt.

Z ()

237

die, weil sie alle die Menschheit betreffenden Angelegenheiten nach einem einzigen Schnittmuster behandeln möchte, willenlos dazu neigt, diese einem Einzelwillen unterzuordnen. (Übersetzt von Veit Friemert und Shivaun Conroy)

VII Über Bildungsbeihilfen (1866)

Blackheath Park, 9. August 1866 Sir, ich habe nunmehr die Ehre, den Royal Commissioners for Inquiry into Schools die meinen Fähigkeiten entsprechenden Antworten auf die Anfragen zu übermitteln, welche die Commissioners an mich zu richten mir die Ehre zuteilwerden ließen. Der Mangel an Zeit sowie die zur Kenntnis genommenen Wünsche der Commissioners haben mich zur Kürze in der Formulierung verpflichtet. Dennoch hoffe ich, mir möge erlaubt sein, zum Zwecke der weiteren Verdeutlichung der Themen, auf die ich mich bezogen habe, wie auch der vielen wertvollen Tatsachen und Gedanken wegen, die sich mit dem Gegenstand ihrer Untersuchungen verbinden, die Commissioners auf die Abhandlung von Mr. Chadwick1 zu verweisen, die in meiner Antwort auf die zweite Frage genannt wird, wie auch auf die dort angefügten Belege. Ich habe &c. J. S. Mill The Secretary of the School Inquiry Commission ***

1

Anmerkung der Herausgeber: Edwin Chadwick, „Copy of Two Papers Submitted to the [Education] Commissioners“, PP, 1862, XLIII, 1–160. Chadwicks Abhandlungen wurden nicht rechtzeitig eingereicht, so dass sie nicht in den Report von 1861 eingefügt werden konnten. Siehe hier Anm. 3.

Ü B ()

239

1. Über die Zweckdienlichkeit der Fortdauer der unentgeltlichen Erziehung der Schüler wie eines festen Einkommens der Lehrer, die mit Beihilfen geförderten Schulen betreffend. Die Gepflogenheit, feste Einkommen zu zahlen, ist meiner Auffassung nach für die allgemeine Zweckdienlichkeit von Bildungsbeihilfen nahezu tödlich und allein schon durchaus hinreichend dafür, die eingestandene Tatsache ihres umfassenden Fehlschlags zu erklären. Sollte es einen Leitsatz zur Geschäftsführung, welcher Art dieses Geschäft auch sei, seitens eines Bevollmächtigten geben, die man grundsätzlich zu nennen hätte, dann bestünde dieser darin, dass der Bevollmächtigte seine Pflicht zum eigenen Interesse macht. Wenn aber die Vergütung eines Lehrers nicht mit zunehmender Leistung steigt oder mit abnehmender Leistung sinkt, dann wird er persönlich daran interessiert sein, so wenige Schüler wie möglich zu lehren und sich mit deren Unterrichtung die geringstmöglichen Umstände zu machen. Ich habe über eine Schule gelesen, in welcher das Gehalt des Lehrers 600l. im Jahr betrug. Absicht dieses Lehrers war es, die Schüler zu verscheuchen, was er durch eine Reihe harter Prügelstrafen erreichte.2 Ohne mich für die reine Wahrheit dieser Geschichte verbürgen zu können, lässt sie sich doch als warnende Schilderung dessen verstehen, womit im Extremfall zu rechnen wäre. Jenseits des Gewissens und einer selbstlosen Hingabe an seine Pflicht wird jedes Motiv, das einen Lehrer in solchen Verhältnissen leitet, darauf gehen, dessen Arbeit wertlos machen. Die Unzulänglichkeit dieser Motive im Durchschnittsfall aber ist der Hauptgrund für die Unerlässlichkeit von Gesetzen und Institutionen. Das wirkliche Prinzip für die Vergütung von Lehrern aller Kurse und Stufen ist, wo immer dies angewendet werden kann, das der ergebnisorientierten Vergütung. Die Ergebnisse ihres Unterrichts lassen sich im Allgemeinen nur durch Prüfungen kontrollieren, die durch unabhängige öffentliche Prüfer durchgeführt werden könnten. Sollten aber diese Prüfungen zum Teil wettbewerbsorientiert sein und die Schüler aller geförderten Mittelklasse-Schulen einbeziehen, in etwa nach dem Vorbild der örtlichen Prüfungen in Oxford und Cambridge, dann ließen sich diese in gewissem Maße zur Grundlage für die unterschiedliche Vergütung von Lehrern machen – dem Erfolg entsprechend, den ihre Schüler bei den Prüfungen erzielen. Im Allgemeinen scheint es mir nicht wünschenswert, Kindern jener Schichten, um die es sich in der vorliegenden Anfrage eigens handelt, Bildung unentgeltlich zu gewähren. Diese Schichten können es sich leisten zu zahlen. Sie sind nicht jene, um die sich Wohlfahrtseinrichtungen kümmern, und haben keinen Anspruch darauf, von der Pflicht, für die Bildung ihrer Kinder zu sorgen, entlastet zu werden – eine völlige Entlastung von dieser Verpflichtung anderer Gründe als dem der Unfähigkeit wegen, scheint mir in hohem Maße von sittlich verderblicher Wirkung zu sein. Der Vorschlag, Beihilfen an

2

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Chadwick, „Copy of Two Papers“, S. 143.

240

D  A  B

Schüler in Elementary Schools3 leistungsbezogen verbunden mit der Absicht zu vergeben, diesen die Verlängerung ihrer schulischen Ausbildung zu ermöglichen und sie zu einer höheren Bildungsstufe vorankommen zu lassen, scheint mir demgegenüber in hohem Maße sittlich wertvoll wie förderlich und würde meine vorbehaltlose Unterstützung finden. Meiner Vorstellung nach sollten Schüler diese Beihilfen durch Prüfungen erwerben, die sie im Wettstreit miteinander ablegen. Jedoch ist es eine andere Frage, ob die für Beihilfen vorgesehenen Gelder ausschließlich dafür verwendet werden sollten oder dafür und zum Zweck der Rentenzahlung an pensionierte Lehrer. Obwohl es, wie ich denke, nicht von Vorteil ist, Beihilfen für die Bildung der Kinder der Mittelschichten zu verwenden, ohne den Eltern Ausgaben abzuverlangen, scheint es mir doch eine völlig angemessene Ausgabe zu sein, diese zu nutzen, um den Mittelschichten eine Bildung zu verschaffen, die besser wäre als jene, die sich ausschließlich aus Zuwendungen der Eltern ergäbe. Letztere sollte nur so viel zu zahlen aufgefordert werden, wie sie problemlos wirklich leisten können. Wenn dies getan ist, sollte den Kindern die allerbeste Bildung vermittelt werden, die sich zuzüglich zu diesen Zahlungen durch alle anderen Gelder ergäbe, die für diesen Zweck rechtens einsetzbar sind. 2. Über den besten Weg, um Vorsorge für die zukünftige Verwaltung der Beihilfen zu treffen und deren Rückfall in die Wirkungslosigkeit zu verhindern. Als vorrangigen und am wenigsten verzichtbaren Teil einer diesbezüglichen Regelung würde ich fordern, alle Stiftungsschulen unter die reguläre Aufsicht durch Inspektoren des Privy Council zu stellen. Allein häufige und systematische Kontrollen durch eine Behörde, welche wenn schon nicht ermächtigt ist, den Lehrer im Falle erwiesener Unfähigkeit zu entlassen, so doch dazu, dessen Entlassung vorzuschlagen, wird die Mehrzahl solcher Schulen davor bewahren, in einen Zustand zurückzufallen, aus dem sie zu befreien nun der Wunsch besteht. Bei den Inspektoren – einige von ihnen Männer großer Erfahrung und Begabung, deren Ernennung die bedeutendste Aufgabe des Education Committee of Council bleibt – wird es sich um Personen handeln, die am besten dazu befähigt sind, in jedem Einzelfall die wirksamsten Maßnahmen zur Sicherung einer örtlichen Aufsicht zum Zweck der allgemeinen aufzuzeigen. Die Art, in der Macht und Verantwortlichkeit zwischen den örtlichen Behörden und der zentralen Behörde geteilt werden sollten, vor allem aber die Frage, welcher von beiden letztlich die Ausführung der bedeutendsten aller Aufgaben obliegt, nämlich die der Ernennung und Entlassung von Lehrern, sind Angelegenheiten, die tiefgehender und ernsthafter Betrachtung bedürfen, wobei mit zu berücksichtigen wäre, wie die größte Wirksamkeit gesichert werden kann und zugleich die Gefahr vermieden wird, einem Amt der Exekutive einen zu großen Einfluss auf die Bildung im Land zu geben. In einem solchen Land, das ein wie auch immer geordnetes System örtlicher Verwaltung besitzt, würde es in jedem Verwaltungsbezirk einer bestimmten Größe ein Schulkomitee geben, das sich aus dort Ansässigen zusammensetzt, die entweder 3

Anmerkung des Übersetzers: Die von Mill genannten Schultypen weichen zu sehr von deutschen Verhältnissen ab. Daher wurden die Bezeichnungen der verschiedenen Schultypen nicht übersetzt, sondern lediglich kursiviert.

Ü B ()

241

gewählt oder nominiert sind und die ein sehr großes praktisches Interesse an dieser Angelegenheit haben. Einem solchen Komitee ließe sich gemeinsam mit einem Vertreter des Education Committee des Privy Council als ihrem regulär eingesetzten Berater die Amtsbefugnis über die örtlichen Schulen sicher und ordnungsgemäß anvertrauen. Bei dem chaotischen Durcheinander der englischen örtlichen Institutionen jedoch, die jede systematische Verbesserung der wirklichen Regierung des Landes dementsprechend behindern, wäre eine umfassendere praktische Erfahrung als die meinige wie auch eine größere Aufmerksamkeit erforderlich, als ich in der Lage bin, diesem Gegenstand zu widmen, um mich zu befähigen, einen Vorschlag hinsichtlich der besten Verfassung einer örtlichen Aufsichtsbehörde zu unterbreiten oder die Befugnisse abzustecken, die ihr verliehen werden sollten. Auch ist es möglich, dass sowohl Verfassung als auch Befugnisse in verschiedenen Gegenden – entsprechend der verfügbaren Bedingungen – verschiedenartig sein müssen. Fürs Erste wäre es vielleicht von Vorteil, die Verantwortlichkeit für die Auswahl der geeigneten Personen aus dem Kreis der maßgeblichen Einwohner aller Konfessionen vorübergehend den Inspektoren zu übertragen, obwohl dies keinesfalls als Vorschlag für eine dauerhafte Regelung verstanden werden darf. Nachdrücklich möchte ich dafür plädieren, allen geförderten Schulen eines entsprechend großen Verwaltungsbezirks nur eine solche Behörde zuzuordnen, auf welche Weise sich diese auch immer zusammensetzen würde. Zu dieser würden dann Personen aus verschiedenen Teilen des Bezirks gehören, die jeweils gesondert die Schulen in ihrer näheren Umgebung visitierten. In einer noch weitergehenden Anwendung desselben Prinzips möchte ich vorschlagen, dass alle Bildungsbeihilfen des Verwaltungsbezirks gemeinsam mit allen anderen Wohltätigkeitsbeihilfen innerhalb des gleichen Verwaltungsbereichs, die gegenwärtig – ob scheinbar oder wirklich – zum Zwecke der Armenfürsorge Verwendung finden, falls diese Verwendung unnütz oder schädigend sein sollte, in einem einzelnen Fundus versammelt werden, welcher dem Erhalt einer oder einiger weniger großer, unter geeigneten Bedingungen arbeitender Schulen dient, anstelle einer größeren Anzahl kleinerer. Große Schulen mit vielen Schülern haben in Hinsicht auf Wirtschaftlichkeit und Leistungskraft einen großen Vorteil gegenüber kleinen Schulen mit wenigen Schülern. Dieser Vorteil ergibt sich hauptsächlich daraus, dass a. viele Schüler umfangreiche Klassen bilden können, in denen ungefähr der gleiche Leistungsgrad besteht. Diese Schüler sind in der Lage, aus derselben Art Unterricht Nutzen zu ziehen. Ist hingegen die Schülerzahl gering, müssen Schüler sehr unterschiedlichen Entwicklungsstands zusammen unterrichtet werden. Dies führt dazu, dass entweder die Mehrheit zugunsten der wenigen am meisten Befähigten vernachlässigt wird, oder die Aufmerksamkeit der Lehrer den Schülern im Wechsel gilt, womit dann jene, für welche die momentane Unterrichtung ungeeignet ist, in dieser Zeit eher untätig sind. b. die Zusammenführung vieler kleiner Schulen zu einer großen Schule die Möglichkeit eröffnet, weit bessere Lehrer bei gleichem Aufwand anzustellen und deren Arbeit zu optimieren, indem man den Lehrern mit überragenden Fähigkeiten die höheren Unterrichtsstufen vorbehält. Eine kleine Anzahl gutbezahlter, jeweils für verschiedene Leistungsstufen geeigneter Lehrer stellt ein weit überlegenes Bildungsinstrument dar, verglichen mit einer großen Anzahl schlechtbezahlter, über das Land verstreut arbeitender Lehrer, von denen ein jeder Schüler aller Stufen zu unterrichten hat und deren

242

D  A  B

Befähigung zu anspruchsvollerer Arbeit, sollte diese anfänglich bestanden haben, vergeudet wird, indem sie kleinen Jungen das ABC lehren. c. schließlich große Schulen in gleicher Weise auch die Arbeit wirtschaftlicher gestalten, welche die bedeutsamste überhaupt ist und an die mit ihr betrauten Personen die höchsten Maßstäbe stellt: die Arbeit der Beaufsichtigung. Diese und andere Gründe für die Zusammenlegung von Schulen finden sich sehr anschaulich dargestellt in Dokument Nr. 120 jener Schriftstücke, die im Auftrag des Unterhauses in der Sitzungsperiode des Jahres 1862 gedruckt wurden und welche die Belege enthalten, die Mr. Chadwick für den früheren Royal Commissioner on Education zusammengetragen hat, vermehrt um Mr. Chadwicks eigene Kommentare, die diese Frage und andere von größter Bedeutung betreffen.4 Dasselbe Parlamentsdokument enthält die Einzelheiten einer höchst bedeutsamen praktischen Umsetzung der gerade dargelegten Prinzipien, nämlich den Fall der Faversham-Schulen.5 Hierbei handelt es sich um eine neue Stiftung, die sich dem erst aus dem Jahr 1840 stammenden Nachlass eines Bankkaufmanns aus Faversham6 verdankt, der Mittel in Höhe von 2.000l jährlich zum allgemeinen Nutzen der dort lebenden Armen erbringt. Die Treuhänder, denen es damit möglich war, die besten der gegenwärtigen Ideen aufzugreifen, und bei denen es sich offensichtlich um Männer mit großem praktischen Verstand handelt, kamen zu der Überzeugung, dass die Ziele des Erblassers am besten umgesetzt werden, wenn das Erbe in einem verbesserten Projekt öffentlicher Bildung für die Stadt und deren Umgebung Verwendung findet. Nachdem sie den Plan zu diesem Zweck aufgestellt hatten, wurden sie durch den Court of Chancery zu dessen Umsetzung ermächtigt. Der Plan umfasst eine Infant School, eine National School, eine Middle-Class oder Commercial School sowie eine Abendschule, in der Erwachsene durch ausgebildete Lehrer unterrichtet werden. Das schon genannte Parlamentsdokument zeigt die großen Vorteile auf, die sich mit der Vereinigung all dieser Schulen unter einer Verwaltung verbinden. Schüler werden zur Belohnung ihrer Leistungen von der National School zur Commercial School befördert, wo ihnen Lehrbücher zur Verfügung gestellt und die Schulgebühren aus den Geldmitteln der Stiftung bezahlt werden. Auch findet jährlich eine Prüfung an der Commercial School statt, die durch Absolventen einer der Universitäten durchgeführt wird, wobei auf dem Wege einer wie es heißt wesentlich wettbewerbsorientierten Prüfung Stipendien an erfolgreiche Schüler vergeben werden, um diesen die Fortsetzung ihrer Ausbildung an einer mit Stiftungsgeldern betriebenen alten Grammar School zu ermöglichen, welche in der Stadt bereits existierte und unter einer anderen Treuhandschaft steht. Die Vereinigung dieser Schule mit den neuen Schulen unter einer gemeinsamen Verwaltung würde den Plan vervollkommnen. Keine religiösen Probleme sind aufgetreten, Abweichler und Männer der Kirche, sowohl Laien als Priester,

4

5 6

Anmerkung der Herausgeber: Report of the Commissioners Appointed to Inquire into the State of Popular Education in England, PP, 1861, XXI, Pt. I, 1–707. In Anm. 1 wurde bereits darauf verwiesen, dass sich Chadwicks Abhandlungen in PP, 1862, XLIII, 1–160, befinden. Anmerkung der Herausgeber: Siehe Chadwick, „Copy of Two Papers“, S. 52–7, 144. Anmerkung der Herausgeber: Henry Wreight.

Ü B ()

243

arbeiten in größter Herzlichkeit zusammen, ob als Treuhänder oder als Mitglieder des Schulkomitees. 3. Über die Möglichkeit, gegenwärtig vergeudete Stiftungsgelder für Zwecke der Bildung zu sichern. Es gibt eine Vielzahl von Geldern für karitative Zwecke, die gegenwärtig, den Bedingungen veralteter treuhänderischer Regelungen entsprechend, als bloße Almosen an Personen verteilt werden, die bedürftig zu sein scheinen, jedoch nicht in jedem Fall auch nur diesen Anspruch darauf haben. Ein viel wirksameres Verfahren zur Linderung der Übel der Armut wäre es, diese Gelder zu verwenden, um ihrer Hauptursache den Kampf anzusagen: dem Mangel an Bildung. Eine vollständige Auskunft hinsichtlich dieser vergeudeten Stiftungsgelder können vermutlich die Charity Commissioners geben, zu deren speziellen Aufgaben es normalerweise gehört, entsprechende Informationen zu beschaffen, soweit sie diese nicht schon besitzen.7 Der Court of Chancery oder das Parlament werden der notwendigen Änderung des Verwendungszwecks dieser Gelder vermutlich nicht ihre Zustimmung verweigern, wobei die gerechtfertigten Ansprüche lebender Personen respektiert werden, die auf die Unterstützung durch diese, in welchem Maße auch immer, angewiesen sein mögen. 4. Über den besten Weg, das Angebot an geeigneten Lehrern zu sichern oder zumindest zu befördern. Kein Aspekt des Gegenstandes ist wichtiger als dieser: Die erbärmliche Untauglichkeit der großen Mehrheit der bestehenden Schulen für die Kinder der Mittelschichten ist allbekannt. Mr. Edward Carleton Tufnell, einer der fähigsten und erfahrensten Schulinspektoren Ihrer Majestät bezeugte gegenüber Mr. Chadwick: „Oft habe ich erfahren, dass die Entlassung eines Lehrers von einer Armenschule [pauper school] gravierender Unkenntnisse oder groben sittlichen Fehlverhaltens wegen erfolgte. Die sinnvolle Befugnis des Poor Law Board8 verhindert, dass solche Leute erneut in Armenschulen Anstellung finden. Ich habe mir aber die Mühe gemacht zu ermitteln, was aus diesen Lehrern geworden ist. Gemeinhin haben diese, wie ich herausfand, Arbeit als Hilfslehrer [ushers] an Schulen der Mittel- und Oberschichten gefunden.“9 In der Absicht, die extremen Mängel bei der erforderlichen Ausbildung der Lehrer zu beheben, scheint mir die Übernahme all der Anregungen sinnvoll, auf die in dem Brief Bezug genommen wird, welchen die Commissioners an mich zu richten mir die Ehre zuteilwerden ließen, wobei diese im Ganzen genommen nur das Nötigste darstellen. Von großer Wichtigkeit wäre es, Schulen zur Ausbildung von Lehrern zu gründen, in denen diese die Dinge erlernen sollen, die sie später zu lehren haben, in denen sie aber auch 7 8 9

Anmerkung der Herausgeber: Siehe 16 & 17 Victoria, c. 137 (1853). Anmerkung der Herausgeber: Siehe 4 & 5 William IV, c. 76 (1834), Sekt. 48. Anmerkung der Herausgeber: Chadwick, „Copy of Two Papers“, S. 143.

244

D  A  B

lernen, wie sie diese zu lehren haben. Zu diesem Zweck müssen diese Schulen natürlich mit Schulen der üblichen Art in Verbindung stehen, in denen die Kunst der Lehre praktisch erworben werden kann. Es ist ganz offenkundig der Sache angemessen, die in vielen Stiftungen bestehende Beschränkung des Lehreramts auf Personen, die einem Orden zugehören, abzuschaffen. Auch ist es rechtens, dass nach bestandener Prüfung Zeugnisse der Befähigung zum Lehreramt entweder durch die Universitäten (diejenige Londons eingeschlossen) oder durch Prüfer ausgestellt werden sollen, die vom Committee of Council einzusetzen sind. Dem hinzufügen möchte ich die Empfehlung, dass bei der Erstanstellung von Lehrern das Prinzip wettbewerbsorientierter Prüfung, soweit dies durchführbar ist, Anwendung finden und bei ihrer weiteren Beförderung eine Art der Untersuchung genutzt werden sollte, die auch die Ergebnisse ihrer Arbeit in den Schulen überprüfen könnte, in denen sie bereits gelehrt hatten, soweit die Möglichkeit einer solchen Prüfung besteht. Die größte Sicherheit aber, ohne welche keine andere auf Dauer hilfreich sein würde, besteht in der garantierten Aussicht darauf, im Falle der durch Erfahrung erwiesenen Unfähigkeit entlassen zu werden. Eine jede Aussicht auf den Erfolg der Reformierung von Stiftungsschulen hängt vom Grad der Gewissheit ab, die dieser Erwartung zukommt. Eindringlich bitte ich, die größten Anstrengungen des Amts vornehmlich diesem Ziel zu widmen. In Hinblick darauf sollte die Aufsichtsfunktion des Court of Chancery auf den Privy Council übertagen werden, den man dazu ermächtigen könnte, sich der Hilfe der Poor Law Inspectors oder der Charity Commissioners zu bedienen, falls dies nötig sein sollte. Die Regelungen für die örtliche Aufsicht habe ich bereits angesprochen. All dem wird der Erfolg nur dann nicht versagt sein, wenn es eine wirksame und energische Prüfung der Schüler gibt, die durch eine von den Lehrern wie auch von jenen, die diese eingestellt haben, völlig unabhängige Behörde zu erfolgen hat. Der Wert dieser Prüfung ließe sich erheblich steigern, wenn sie teilweise als Wettbewerb zwischen den Schülern aller Schulen eines gegebenen Verwaltungsbezirks oder des ganzen Landes durchgeführt würde. (Übersetzt von Veit Friemert)

Dritter Teil: Die liberale Emanzipation der Menschheit

REEI Die Negerfrage1 (1850)

Sir, Ihre Zeitschrift enthält in der Ausgabe vom letzten Monat den Abdruck einer Rede, die sich gegen „die Rechte der Neger“2 richtet. Gegen diese Rede ist ihrer Grundsätze und ihres Charakters wegen Einspruch zu erheben. Der Autor verkündet seine Meinungen oder besser gesagt Verordnungen unter achtungserheischenden Auspizien. Diese verdanken sich nichts Geringerem als den „unsterblichen Göttern“ [S. 675]. „Die Gewalten“, „die Schicksalsmächte“ verkünden durch ihn nicht nur das, was sein wird, sondern auch, was getan werden soll, jenes also, „wozu sie sich entschieden haben und ihr ewig währender Parlamentsbeschluss ergeht“ [ebd.]. Der da spricht, tut dies „wie einer, der Macht hat“,3 aber wessen Macht ist das? – Schließen wir vom Wert der Botschaft her auf jene, von denen sie ausgeht, sind das keine Gewalten, denen gerechte und gute Menschen Treue geloben. Dieser sogenannte „immerwährende Parlamentsbeschluss“ schafft kein neues Gesetz, sondern enthält jenes alte Gesetz des Stärkeren – ein Gesetz, gegen welches die großen Lehrer der Menschheit zu allen Zeiten Einspruch erhoben haben. Es ist dies das Gesetz von Gewalt und Gerissenheit, dem zufolge der Stärkere der „geborene Herr“ des anderen ist und der andere als dessen „Diener“ [S. 676–677] geboren wurde, der mit „wohltätiger Peitsche“ „gezwungen werden muss“, für ihn zu „arbeiten“, wenn „andere Mittel dazu nicht taugen“ [S. 675]. In dieser Verfügung scheint mir nichts Göttliches zu liegen. 1

2

3

Alle Versammlungen, die in Exeter Hall stattfinden, sollten unter der Leitung streng unparteiischer Vorsitzender stehen, falls dies bisher nicht schon der Fall ist. Wir werden unseren frommen Brüdern ein entsprechendes Beispiel geben, indem wir den folgenden Brief veröffentlichen. Damit liegen unseren Lesern die Meinungen der beiden Parteien in diesen Fragen vor und sie können sich ihr eigenes Urteil bilden. – Der Herausgeber. [John William Parker, Jr.] Anmerkung der Herausgeber: Thomas Carlyle, „Occasional Discourse on the Negro Question“, Fraser’s Magazine XL, Dezember 1849, S. 670–679, hier S. 670. Die weiteren Seitenanngaben finden sich fortlaufend im Text in den eckigen Klammern. Anmerkung der Herausgeber: Matthäus 7, 29.

248

D  E  M

Wenn „die Götter“ [ebd.] dies wollen, ist es die erste Pflicht der Menschen, solchen Göttern Widerstand zu leisten. Aber allmächtig sind „diese Götter“ [ebd.] nicht, denn Mächte, die menschlicher Tyrannei und Ungerechtigkeit bedürfen, können ihre Ziele ohne die Mitarbeit von Menschen nicht verwirklichen. Die Geschichte der menschlichen Verbesserung ist eine Dokumentation des Kampfes, in dem diesen böswilligen Mächten Zoll um Zoll Boden abgerungen und menschliches Leben in immer größerem Maße vor der niederträchtigen Herrschaft des Gesetzes der Macht gerettet worden ist. Viel, sehr viel bleibt dabei noch zu tun, aber der bereits erzielte Fortschritt ist die beste und größte bisher von der Menschheit erbrachte Leistung. Schwerlich allerdings konnte in diesem Abschnitt der Weltgeschichte erwartet werden, dass man uns vorschreibt, vermöge einer großen Reform der menschlichen Angelegenheiten diesen Fortschritt rückgängig zu machen. Das Zeitalter scheint an einer höchst gefährlichen Krankheit zu leiden, von der sie in all ihren Angelegenheiten befallen ist und für welche das Verhalten dieses Landes hinsichtlich der Neger ein markantes Anzeichen darstellt: der Krankheit der Menschenliebe. „Tief versunken in Ozeanen, schäumend vor Gutwilligkeit, Brüderlichkeit, prinzipiengefestigter Emanzipation, christlicher Menschenliebe sowie anderem, höchst reizendem aber völlig unbegründetem und letztlich elendem und in höchstem Maße verwirrendem Jargon“, der „Herzen entspringt, die bar jeder ernsthaften, ob christlichen oder heidnischen Führung geblieben sind, und die auch nicht daran glauben, dass es eine solche je gab“, ist die „menschliche Gattung“ dazu „verurteilt, allein an rosarote Gefühlsduselei zu glauben“ [S. 671]. Zu dieser vermuteten Lage der Menschengattung werde ich gleich etwas zu sagen haben. Erst einmal jedoch muss ich meinen der Menschenliebe widersprechenden Gegner in Hinblick auf eine Tatsache korrigieren. Dieser versteht den großen nationalen Aufstand des Gewissens gegen Sklaverei und Sklavenhandel in diesem Land völlig falsch, wenn er ihn zu einer Angelegenheit des Gefühls erklärt. Er war nicht mehr von menschlichen Gefühlen abhängig als irgendeine andere Sache, die mit Unwiderstehlichkeit an sie appelliert, von ihnen notwendigerweise abhängig ist. Seine ersten Siege erzielte er, als die Peitsche noch unangefochten auf dem Kasernenhof herrschte sowie der Rohrstock in den Schulen und Menschen für Diebstähle im Wert von vierzig Schilling zu Dutzenden gehängt wurden. Er siegte, denn er war eine Sache der Gerechtigkeit und in der Einschätzung der großen Mehrheit seiner Unterstützer eine solche der Religion. Seine Urheber und Führer waren Personen starken, pflichtgetreuen Charakters, die im Geiste der Religion ihrer Zeit wenig über Gutwilligkeit und Menschenliebe sprachen, dafür aber oft über Pflicht, Frevel und Sünde. Über nahezu zwei Jahrhunderte hinweg wurden Neger, jährlich viele Tausende von ihnen, mittels Gewalt oder Heimtücke ergriffen und auf die Westindischen Inseln geschafft, damit sie sich dort zu Tode arbeiten, und zwar im buchstäblichen Sinne. Denn es war der für verbindlich gehaltene Grundsatz, das anerkannte Gebot guten Wirtschaftens, sie so schnell wie möglich zu verschleißen und neue einzuführen. Dies schloss jede andere mögliche Grausamkeit, Tyrannei und mutwillige Unterdrückung stillschweigend ein. Den Sklavenbesitzer bewog die Liebe zum Gold oder, um ehrlicher zu sein, zu ordinärer und kindischer Prahlerei. Bisher ist mir nicht bekannt, dass irgendwo auf der Welt Menschen anderen Menschen etwas Abscheulicheres angetan haben. Dies mit Irland zu vergleichen, ist eine reine Farce. [S. 672] Was da passierte, geschah, anders als im Falle der

D N ()

249

bitteren Armut der Iren, nicht dadurch, dass England der Fertigkeit ermangelte, dies zu verhindern, es geschah nicht allein durch Duldung sondern durch die Gesetze der englischen Nation. Jedoch fanden sich zu guter Letzt Männer in wachsender Zahl, die sich entschlossen, nicht eher zu ruhen, bis dass der Frevel ausgerottet war, die dessen Zerstörung zu ihrer Aufgabe und ihrem Lebensziel erklärten, wie andere Menschen ihre Privatinteressen, die sich damit nicht zufrieden gaben, dessen abscheuliche Eigenschaften zu mildern, um dessen Anblick erträglicher zu machen, sondern sich mit nichts zufrieden geben sollten als dessen vollständiger und unaufhebbarer Zerstörung. Ich bin so weit davon entfernt, irgendetwas Verachtenswertes in diesem Beschluss zu sehen, dass meiner nüchternen Überzeugung nach die Personen, die ihn trafen und umsetzten, würdig sind, unter jene gezählt zu werden, die – in allen Zeiten eine Minderheit – ihren Überzeugungen entsprechend ehrenvoll gelebt haben, und denen die Menschheit infolgedessen dauerhaft zu Dank verpflichtet ist. Nach fünfzig Jahren harter Arbeit und Aufopferung wurde das Ziel erreicht und die Neger, befreit von der Herrschaft ihrer Mitmenschen, waren sich selbst überlassen wie auch den Möglichkeiten, welche die Einrichtung der bestehenden Gesellschaft jenen bietet, die keine andere Einkommensquelle als ihre Arbeit haben. Diese Möglichkeiten erwiesen sich als ihnen vorteilhaft und in den letzten zehn Jahren bieten die Neger den ungewöhnlichen Anblick einer arbeitenden Schicht, deren Arbeit einen so hohen Preis verlangt, dass sie von den Löhnen für einen relativ geringen Aufwand gut leben können. Den ehemaligen Sklavenbesitzern ist dies lästig. Allerdings habe ich bisher von keinem erfahren, der so tief gefallen wäre, dass er um seinen Lebenserhalt zu betteln oder gar dafür die Krume umzubrechen hätte, wie dies der Neger, egal wie empörend er sich amüsiert, nach wie vor tun muss. Eine Kutsche oder ein anderer Luxusgegenstand weniger stellt in den meisten Fällen, wie ich glaube, das Höchste ihrer Entbehrungen dar – also keine besonders harte Maßnahme ausgleichender Gerechtigkeit. Jene, denen ihre tyrannische Macht genommen worden ist, mögen sich glücklich schätzen, wenn sie so glimpflich davonkommen. Jedenfalls handelt es sich um eine Verlegenheit, aus der herauszufinden die Nation nicht aufgerufen ist, ihnen zu helfen: Sollten sie ihre umfänglichen Einkünfte nicht ohne eine größere Anzahl von Arbeitern erreichen können, lasse man sie diese finden und von dort holen, woher sie am besten beschafft werden können – allerdings nicht mit Gewalt. Ihr, der Menschenliebe nicht zugetaner Autor jedoch denkt anders. Dass Neger auf der Grundlage so weniger Arbeit leben und sich ihres Lebens erfreuen, ist in seinen Augen ein Skandal, ein schlimmerer als ihre frühere Sklaverei gewesen ist. Dem sei um jeden Preis ein Ende zu setzen. Er wünsche nicht, „wenn sich dies vermeiden lässt“, sie „wieder als Sklaven zu sehen“, jedoch „mit Entschiedenheit“, dass sie „Diener sein müssen“, „Diener der Weisen“ [S. 667], „zur Arbeit verpflichtet“ und dazu, „keine weitere Minute durch Faulenzen zu verschwenden“ [S. 674]. Der „schwarze Quashee“ [ebd.], welcher „bis über die Ohren in Kürbissen“ stecke [S. 671], und „täglich etwa eine halbe Stunde arbeitet“ [S. 672], stellt für ihn die Abscheulichkeit aller Abscheulichkeiten dar. Ich habe an seinen Prinzipien so vieles auszusetzen, dass mir keine Zeit für seine Tatsachenbehauptungen bleibt. Lassen Sie mich aber feststellen, wie leichtfertig er jene Sachverhalte für selbstverständlich hält, die seiner Sache dienen. Weil er in irgendeinem Parlamentsbericht [blue book] etwas über Lohnstreiks

250

D  E  M

in Demerara4 erfahren hat, wie er jeden Tag über solche in Manchester lesen könnte, zeichnet er ein Bild der Untätigkeit der Neger, dass er den wildesten Prophezeiungen der Sklavenhalterpartei vor der Befreiung der Sklaven entnimmt. Wenn aber die Neger nicht länger als „täglich eine halbe Stunde“ arbeiten, wäre dann der Ertrag an Rohrzucker, ausgenommen offenkundig schlechte Erntezeiten, so geringfügig vermindert im Verhältnis zu jenem, der in Zeiten der Sklaverei erwirtschaftet wurde, wie die durch das Zollamt dokumentierten Einnahmen5 erweisen? Es sind aber weniger die Tatsachen dieser Angelegenheit als deren moralische Aspekte, denen meine Auseinandersetzung mit Ihrem Autor gilt. Ein schwarzer Mann, der nicht länger als Ihr Autor behauptet arbeitet, „beleidigt“, wie er sagt, „das Auge“ und stelle, unter anderen, gleichfalls unangenehmen Sachen, „eine Pustel auf der Haut des Staates“ [S.676] dar – denn die grundlegende Pflicht des Menschen bestehe darin, zu arbeiten. „Um tüchtige Arbeit zu leisten, ehrenvoll entsprechend der eigenen, ihm zugewiesenen Fähigkeiten zu schaffen – um dieses und keines anderen Zwecks willen ist ein jeder von uns in diese Welt entsandt worden.“ Wer immer ihn von dieser, „seiner heiligen Berufung, Zeit seines irdischen Lebens zu arbeiten,“ abhalte, sei „sein Todfeind“. Halte ihn aber „die eigene Trägheit“ davon ab, so bestehe „sein grundlegendes Recht“ darin, dass ihn alle Personen, die weiser und fleißiger sind als er, „auf irgendeine weise Art zu der Arbeit zwingen, die für ihn geeignet ist“. [S. 673] Warum sollte man nicht gleich sagen, „auf irgendeine weise Art“ solle alles in dieser Welt gerichtet werden? Da wir schon einmal dabei sind: Weisheit kann man wohl als Heilmittel für alle Übel vorschlagen, statt nur für eines allein. Beständig fleht Ihr Autor den Himmel an, alle Personen, schwarze wie weiße, mögen in den Besitz dieses „heiligen Rechts kommen, gezwungen zu werden, sollte die Erlaubnis dazu nicht hinreichen, die Arbeit zu tun, zu der sie berufen sind“. [S. 674] Da es bis jetzt aber noch nicht ganz möglich ist, dies in geeigneter Weise umzusetzen, wird er mit den Schwarzen beginnen und diese für jene Weiße arbeiten lassen, die selber überhaupt nicht arbeiten – auf dass „die ewige Bestimmung und der höchste Wille“ [ebd.] erfüllt sein mögen und „Ungerechtigkeit“, die „für immer verfluchte“ [S. 676], verschwinde. Wir alle kennen diese Lieblingsvorstellung Ihres Autors über die Arbeit zu genüge, aber einige Personen mögen für eine solch gewagte Anwendung derselben durch ihn nicht vorbereitet sein. Lassen Sie mich einige Worte über dieses „Evangelium der Arbeit“6 sagen, das meiner Auffassung nach mit demselben Recht als Frömmelei zu bezeichnen ist, wie all jene Frömmeleien, denen er sich widersetzt, während die Wahrheit, die es enthält, unermesslich weiter davon entfernt ist, die ganze Wahrheit zu sein, als die Worte „Gutwilligkeit“, „Brüderlichkeit“ und all die anderen, die seinen Katalog der Verächtlichkeiten füllen. Um wirklich verstehen zu können, was er meint, sollte man zuerst 4

5

6

Anmerkung der Herausgeber: Carlyle, S. 672; siehe: First Report from the Select Committee on Ceylon and British Guiana, PP, 1849, XI, 114, 129–130. Anmerkung der Herausgeber: Siehe z. B. An Account Showing the Imports into the United Kingdom of Sugar, Molasses, Rum, Coffee, and Cocoa, from the West Indies and British Guiana, for the Years 1831 to 1847, PP, 1847–1848, LVIII, 547–549. Anmerkung der Herausgeber: Siehe Carlyle, Past and Present, London 1843, Buch II, Kap. xi und xii.

D N ()

251

wissen, was er unter ‚Arbeit‘ versteht. Ist Arbeit all das, was Menschen tun? Nein, denn andernfalls würde er Menschen nicht vorwerfen, keine Arbeit zu tun. Bedeutet sie schwere körperliche Anstrengung? Nein, denn manch ein Tag der Wildtierjagd verursacht eine größere Ermüdung der Muskeln als einen Tag lang den Acker zu pflügen. Bedeutet sie nützliche Anstrengung? Ihr Autor aber spottet immerzu über die Nutzensidee.7 Meint er, alle Personen sollten ihren Lebensunterhalt verdienen? Einige aber verdienen ihren Lebensunterhalt, indem sie nichts tun, und einige, indem sie Unheil anrichten. Die von ihm verachteten Neger jedoch, verdienen die „Kürbisse“, die sie verspeisen, und den Putz, den sie tragen, tatsächlich durch Arbeit. Arbeit, so vermute ich, ist kein Gut an sich selbst. Arbeit um der Arbeit willen ist überhaupt nicht lobenswert. Freiwillig für ein wertvolles Ziel zu arbeiten ist lobenswert. Was aber macht ein Ziel zu einem wertvollen Ziel? In dieser Angelegenheit hat bisher keiner das Orakel, für welches ihr Autor das Anrecht der deutenden Offenbarung beansprucht, dazu gebracht, sich zu erklären. Er dreht sich in einem ewigen Kreislauf um die Idee der Arbeit, als ob das Aufbrechen der Krume, die Bewegung des Weberschiffchens oder des Federkiels Ziele in sich selbst und solche des menschlichen Daseins wären. Selbst der erhabenste Dienst an der Menschheit ist nicht wertvoll, weil er Arbeit ist; der Wert liegt im Dienst selber und dem Willen, ihn zu leisten – der Dienst ist die Frucht dieser noblen Gefühle, dienen zu wollen. Falls sich aber die Nobilität des Willens anhand anderer Beweismittel zeigt als der Arbeit, wie zum Beispiel der Gefahr oder des Opfers, dann handelt es sich um eine Würdigkeit gleichen Grades. Wenn wir jedoch von Arbeit sprechen und nicht von seinem Ziel, dann sind wir weit von der Wurzel der Angelegenheit entfernt. Nennen wir sie jedoch Wurzel, dann ist sie eine solche ohne Blume oder Frucht. Scheinbar bedeuten „Gewürze“ im vorliegenden Fall ein nobles Ziel. „Die Götter wünschen, dass neben Kürbissen auf ihren Westindischen Inseln Gewürze und wertvolle Erzeugnisse erwirtschaftet werden“ – wobei die „noblen Dinge wie Zimt, Zucker, Kaffee, schwarzer und grauer Pfeffer“ weit „nobler sind als Kürbisse“. [S. 674–675] Warum aber? Steht das Lebenserhaltende an Würde tiefer als jenes, das nur den Geschmackssinn hebt? Ist es das Urteil der „unsterblichen Götter“, dass Pfeffer nobel sei, Freiheit (selbst die von der Peitsche) hingegen verachtenswert? Aber Gewürze führen „zu Handelsverbindungen, Künsten, staatlichen Gemeinwesen und gesellschaftlicher Entwicklung“. [S. 674] Dies trifft möglicherweise zu, aber welcher Art sind diese? Wenn sie durch Sklaven erzeugt werden müssen, dann sind die „staatlichen Gemeinwesen und gesellschaftlichen Entwicklungen“, zu denen dies führt, so gestaltet, dass die Welt von ihnen, wie ich hoffe, nicht mehr geplagt werden will. Der Wert der Arbeit kann sicherlich nicht darin bestehen, allein zu anderer Arbeit zu führen, zu immer neuer Arbeit ohne Ende. Im Gegenteil ist die Vervielfältigung von Arbeit für Zwecke, um die sich zu kümmern wertlos ist, eines der Übel unserer gegenwärtigen Lage. Wenn Gerechtigkeit und Vernunft erst einmal die menschlichen Angelegenheiten bestimmen, wäre eines der ersten Dinge, auf welche beide anzuwenden wir erwarten sollten, die folgende Frage: Wie viele Luxusgegenstände, 7

Anmerkung der Herausgeber: Siehe z. B. Calyle, Signs of the Times, in: Edinburgh Review XLIX, Juni 1829, S. 453; Sartor Resartus (1833–1834), 2. Aufl., Boston 1837, Buch III, Kap. v.

252

D  E  M

Annehmlichkeiten, Verfeinerungen und Verzierungen des Lebens sind die Arbeit wert, die aufzuwenden ist, um diese zu erzeugen? Die Verschönerung des Daseins ist als Ziel genauso wertvoll und nützlich wie das, es zu erhalten. Aber nur ein verdorbener Geschmack vermag ein solches Ergebnis in jenen Geckenhaftigkeiten der sogenannten Zivilisation zu sehen, welche gegenwärtig Myriaden von Händen beschäftigt sind herzustellen, die Menschen zugehören, deren Leben dies aufzehrt. Dem „Evangelium der Arbeit“ würde ich ein Evangelium der Muße entgegensetzen und behaupten wollen, dass Menschen sich nicht zu den höheren Eigenschaften ihrer Natur erheben können, wenn dies in einem Leben geschehen sollte, das voller Arbeit steckt. Unter der Bezeichnung Arbeit [labour], befasse ich nicht jene Art von Arbeit [work], sollte man sie überhaupt Arbeit [work] nennen, welche von Schriftstellern und denen geleistet wird, die „Orientierung“ liefern, eine Beschäftigung, die sich (von der Eitelkeit der Angelegenheit ganz zu schweigen) nicht mit demselben Namen bezeichnen lässt wie die wirkliche Arbeit [real labour], die ermüdende, Glieder versteifende, verblödende Plackerei der Arbeiter in vielen Bereichen der Landwirtschaft und des Manufakturbetriebs. Die Menge existenznotwendiger Arbeit in großem Maße zu vermindern, ist genau so notwendig wie ihre gleichmäßigere Verteilung. Der Fortschritt der Wissenschaften und die zunehmende Vorherrschaft von Gerechtigkeit und gesundem Menschenverstand lenken die Entwicklung in diese Richtung. Arbeit in einem bestimmten Umfang ist aufgrund der Tatsache des Daseins der jeweiligen Person eine Notwendigkeit: Niemand könnte existieren, ohne dass ein bestimmtes Ausmaß an Arbeit entweder durch oder für ihn erbracht wird. Zu dieser Arbeit ist jede Person der Gerechtigkeit folgend verpflichtet, ihren Anteil zu leisten. So hat die Gesellschaft das unanfechtbare Recht, einem jeden zu erklären, dass er, sollte er diese notwendige Arbeit nicht erbringen, dann auch nicht essen solle. Bisher wurde dieses Recht von der Gesellschaft nicht praktiziert und insofern die gerechte Regelung zugunsten anderer Überlegungen vertagt. Es gibt allerdings eine immer dringlichere Forderung, es in Kraft zu setzen, sobald ein tragfähiger Plan zu diesem Zweck ausgearbeitet werden kann. Falls man dieses Experiment auf den Westindischen Inseln durchführt, sollte dies unvoreingenommen erfolgen und das Gesamtprodukt denjenigen gehören, welche die Arbeit zu seiner Erzeugung geleistet haben. Wir möchten keine schwarzen Arbeiter, die gezwungen sind, Gewürze anzubauen, die sie nicht wollen, und keine weißen Eigentümer, die überhaupt nicht arbeiten, aber Häuser am Belgrave Square für die Gewürze eintauschen. Wir würden den Weißen nicht mehr als den Schwarzen das „heilige Recht“ verwehren, zu arbeiten gezwungen zu werden. [S. 674] Sie mögen genau den gleichen Anteil an dem Produkt erhalten, den sie zu dessen Erarbeitung geleistet haben. Falls sie dies nicht mögen, lasse man sie – so lange ihnen dies erlaubt ist – in dem Zustand, in dem sie sich befinden. Mögen sie dann für sich das Beste aus dem Prinzip von Angebot und Nachfrage machen. Die Vorstellungen Ihres Autors über Gerechtigkeit und Eigentumsrecht sind von anderer Art. Ihm zufolge gehören die Westindischen Inseln in ihrer Gesamtheit den Weißen. Die Neger haben dort keine Ansprüche, welche die Weißen nicht dulden, weder auf Land noch auf Nahrung. „Nicht der schwarze Quashee oder jene, die er vertritt, haben die Westindischen Inseln zu dem gemacht, was sie sind.“ [Ebd.] Ich möchte zu beden-

D N ()

253

ken geben, dass jene, welche die Muskeln und Sehnen [thews and sinews]8 eingebracht haben, wirklich etwas mit dieser Angelegenheit zu tun hatten. „In die Erde Jamaikas mussten die sterblichen Überreste vieler tausender britischer Männer“ – „des mutigen Obersten Fortescue, des mutigen Obersten Sedgwick, des mutigen Obersten Brayne“ und die verschiedener anderer –„gebettet werden“. [S. 676] Wie viele hunderttausende afrikanische Männer wurden hier zu Grabe getragen, nachdem das Leben durch langsame oder heftige Folter aus ihnen herausgepresst worden war? Ohne Oberst Fortescue wären sie besser zurechtgekommen als Oberst Fortescue ohne sie. Aber er war der Stärkere und vermochte „zu zwingen“. Aus diesem Grund zählte das, was sie taten [S. 674] und erlitten, nicht. So scheint es, dass sie diese Inseln nicht nur nicht bewirtschaftet haben, sondern diese auch nicht bewirtschaften konnten. „Durch sein Vermögen allein“ (des Negers) „hätte nie auch nur ein einziger Kürbis dort wachsen können, um einen menschlichen Gaumen zu laben.“ [S. 675] Jedoch bauen sie Kürbisse an, und anderes als Kürbisse, in einem diesem sehr ähnlichen Land – ihrer afrikanischen Heimat. Man fordert uns auf, nach Haiti zu schauen. Was aber weiß Ihr Autor über Haiti zu sagen? „Kaum oder kein Zuckerrohranbau, der schwarze Peter rottet den schwarzen Paul aus, und wo ein Garten der Hesperiden sein könnte, findet sich nichts als eine tropische Hundehütte sowie ein verpestender Dschungel.“ [Ebd.] Sollten wir Argumenten wie diesen trauen, die sich auf Hörensagen gründen? Inwiefern ist das schwarze Haiti schlimmer als das weiße Mexiko? Um wie vieles schlimmer ist es gar als das weiße Spanien, wenn man sich dieser Frage stellte? Aber der große Moralgrundsatz der Abhandlung lautet, dass eine Art Menschen geborene Diener einer anderen Art Menschen sind – ein schändlicherer Grundsatz als dieser ist, wie ich glaube, niemals von einem bekennenden Reformer der Moral verkündet worden. „Ihr habt Diener jener zu sein, die weiser geboren sind als ihr, die eure geborenen Herren sind“, teilt er den Negern mit, „ihr seid Diener der Weißen, falls diese (welcher Sterbliche möchte daran zweifeln?) weiser geboren sind, als ihr.“ [S. 676–677] Seine Ausdrucksweise ist zu absurd, um ihn dem Buchstaben seiner Aussage nach beim Wort zu nehmen. Sie gehört zu seiner Manieriertheit, die ihn fesselt wie das Wickelband das Wickelkind. Wenn er davon spricht, „weiser geboren“ zu werden, gehe ich davon aus, er meint, der Weisheit fähiger geboren zu werden – eine Aussage, welche, wie er behauptet, kein Sterblicher in Zweifel ziehen könne, wogegen ich mich erkühne einzuwenden, dass eine gute Hälfte aller Gebildeten, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigt haben, dies entweder bezweifeln oder geradezu verneinen. Zu den Dingen, für welche Ihr Autor seine völlige Missachtung bekundet, gehört die Analyse der menschlichen Natur. Alles was wir über die Gesetze der äußeren Natur wissen, verdanken wir der Methode der analytischen Untersuchung. Hätte er es nicht für unter seiner Würde gehalten, diese Art der Untersuchung auf die Gesetze der Charakterbildung anzuwenden, dann wäre ihm der grobe Fehler erspart geblieben, jeden Unterschied, den er zwischen verschiedenen Menschen findet, einem ursprünglichen Unterschied ihrer Natur zuzuschreiben. Man könnte genauso gut sagen, dass von zwei Bäumen derselben Herkunft der eine nur vermöge der Kraft seines ursprünglichen Sämlings 8

Anmerkung der Herausgeber: Für den Ausdruck siehe Walter Scott, Rob Roy, 3 Bde., Edinburgh 1818, Bd. I, Kap. iii, S. 60.

254

D  E  M

größer als der andere ist. Ist nichts dem Boden zuzuschreiben, nichts dem Klima, nichts den Umständen, denen er ausgesetzt ist – ist kein Sturm über den einen hinweggefegt aber nicht über den anderen, wurde er nicht von einem Blitz getroffen, von keinem Tier angefressen, sind keine Insekten über ihn hergefallen, hat ihn kein vorbeikommender Fremder seiner Blätter oder seiner Rinde beraubt? Falls die Bäume nah beieinander aufwuchsen, konnte nicht jener, der durch welchen Zufall auch immer zuerst wuchs, die Entwicklung des anderem durch seinen Schatten behindert haben? Menschen hingegen sind einer unendlich größeren Vielzahl an Zufällen und äußeren Einflüssen ausgesetzt als Bäume und haben einen unendlich größeren Spielraum, einander in der Entwicklung zu beeinträchtigen. Denn jene, die von klein an die stärksten sind, haben bisher ihre Stärke nahezu immer dazu benutzt, andere schwach zu halten. Über die ursprünglichen Unterschiede zwischen den Menschen weiß ich nicht mehr als Ihr Autor, aber auch nicht weniger. Es handelt sich hierbei um eine der Fragen der Naturgeschichte unserer Gattung, die ihre zufriedenstellende Antwort noch nicht gefunden hat. Wohl bekannt ist hingegen, dass spontane Verbesserungen jenseits eines sehr geringen Grades, Verbesserungen durch Entwicklungen aus sich selbst heraus, ohne die Hilfe anderer Individuen oder Völker, eine der seltensten Erscheinungen in der Geschichte darstellen, die, wann immer sie auftauchten, das Ergebnis eines außergewöhnlichen Zusammenspiels von günstigen Gelegenheiten waren, wie auch zweifellos vieler Zufälle, von denen mittlerweile keine Spuren mehr auffindbar sind. Gegen die Befähigung der Neger zur Verbesserung ihre Lage spricht nicht, dass sie kein Beispiel dieser seltenen Ausnahmen darstellen. Darüber hinaus ist es eine kuriose Angelegenheit, dass die früheste uns bekannte Zivilisation, wofür äußerst triftige Gründe sprechen, eine solche von Negern war. Von ihren Skulpturen her lässt sich daraus schließen, dass die ursprünglichen Ägypter eine Negerrasse waren. Somit wurden den Griechen die ersten Lektionen in Fragen der Zivilisation von den Negern erteilt und griechische Philosophen bezogen sich bis zum Ende ihre Entwicklung (ich behaupte nicht unbedingt, mit großem Gewinn) auf deren Aufzeichnungen und Traditionen als einem Schatz mysteriöser Weisheiten. Allerdings verzichte ich erneut auf alle Vorteile, die aus Tatsachen gezogen werden können: Wären die Weißen wirklich mit einem den Schwarzen derart überlegenen Verstand geboren und von Natur aus befähigt, diese zu belehren und ihnen Ratschläge zu erteilen, würde es dennoch nicht weniger schrecklich sein zu behaupten, sie hätten deshalb ein Recht, diese entweder durch Gewalt zu unterdrücken oder durch ihre überlegenen Fertigkeiten zu überlisten, ihnen die Plackerei und Härten des Lebens aufzuzwingen und sich selbst, unter der falschen Bezeichnung Arbeit, dessen angenehme Reize zu sichern. Sollte ich, selbst in kürzester Form, jeden Schwachpunkt der Abhandlung ihres Autors anführen, müsste ich einen Beitrag schreiben, der umfänglicher als der seinige wäre. Ein weiteres Beispiel muss genügen. Wenn Arbeit benötigt wird, so ist es ganz selbstverständlich, Arbeiter einzuführen; sind Neger die für das Klima geeignetsten Arbeiter, so führe man Neger ein. Auf diese Art wird ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Arbeiter hergestellt, die in völliger Übereinstimmung mit allgemein geltenden Prinzipien steht und allen weltweit gegenwärtig gehegten Moralvorstellungen weder voraus ist noch hinter ihnen zurücksteht. Da dies zu dem gewünschten Ergebnis führen würde, dass Neger mehr arbeiten, hätte man zumindest annehmen können, Ihr Autor stimme dem zu. Im Gegenteil ist ihm diese Aussicht die düsterste von allen, denn entweder

D N ()

255

würden „die neuen Afrikaner, nachdem sie ein wenig gearbeitet hätten, sich gleich allen anderen den Kürbissen zuwenden“ oder es werde „ein schwarzes Irland“ [S. 672] geben, falls sie nämlich so zahlreich wären, dass sie gezwungen sein würden, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu erwirtschaften. Der Arbeitsmarkt erlaubt drei mögliche Aussichten und nicht, wie das gerade Gesagte nahelegt, nur zwei: Entweder erstens, die Arbeiter leben, ohne wirklich arbeiten zu müssen, was für den Fall von Demerara behauptet wird, oder zweitens, welches der übliche Fall ist, die Arbeiter können von ihrer Arbeit leben und müssen arbeiten, um zu leben, oder drittens, sie können durch Arbeit ihren Lebensunterhalt nicht erwirtschaften, wie dies in Irland der Fall ist. Ihr Autor sieht nur die Extremfälle, aber nicht die Möglichkeit des mittleren. Werden Afrikaner eingeführt, sind es, so denkt er, entweder so wenige, dass sie nicht zu arbeiten brauchen, oder so viele, dass sie nicht leben können, obwohl sie arbeiten. Lassen Sie mich einige Worte zu dem allgemeinen Groll sagen, den Ihr Autor gegenüber dem gegenwärtigen Zeitalter hegt. Ein jedes Zeitalter hat seine Fehler und ist jenen zu Dank verpflichtet, die auf sie aufmerksam machen. Das unsrige bedarf dieses Dienstes genauso wie alle anderen, woraus aber nicht geschlossen werden sollte, dass es gegenüber früheren auf eine tiefere Stufe gesunken ist. Denn seine Fehler sind anderer Art. Wir müssen uns aber auch davor hüten, seine Vorzüge als Fehler zu verkennen, nur weil sich seine Fehler unvermeidlich mit seinen Vorzügen mischen und diese einfärben. Ihr Autor glaubt, das Zeitalter habe zu viel Menschlichkeit, sei zu sehr bestrebt, Schmerz zu vermeiden. Im Gegenteil behaupte ich, es hat zu wenig Menschlichkeit, es ist in sträflicher Weise diesem Gegenstand gleichgültig. Als Beleg verweise ich auf die Polizeiberichte eines beliebigen Tages. An dieser Stelle beschuldige ich nicht den verrohten sondern den menschlichen Teil der Bevölkerung. Wäre dieser hinreichend menschlich, dann hätte man es schon lange verstanden, diese alltäglichen Gräueltaten zu verhindern. Nicht seines vermeintlichen Übermaßes guter Eigenschaften wegen ist das Zeitalter zu rügen, sondern aufgrund seines Mangels – eines Mangels auch an Menschenliebe, mehr aber noch an anderen Eigenschaften, durch welche das vorhandene Maß an Menschenliebe ergänzt und ausgerichtet werden kann. Eine „Vereinigung zur allgemeinen Abschaffung des Schmerzes“ [S. 670] mag eine sarkastische Pointe wert sein – aber kann auf ein erstrebenswerteres Ziel verwiesen werden als jenes, Schmerzen zu mindern? Ist die auf den Anbau von Gewürzen gerichtete Arbeit ehrenvoll, nicht aber jene, welche die Menge des Leidens mindert? In triumphierendem Tonfall wird uns mitgeteilt [S. 675], als ob dies Anlass zur Freude gäbe, dass „die Schicksalsmächte“ auf „schreckliche Weise“ verfahren und dieser Schrecken durch Mittel wie „Redenschmus und Kampagnenrhetorik der Menschenliebe“ nicht weichen wird. Um welche Mittel es sich auch handeln mag, der Schrecken ist in nicht unbeachtlichem Maße gewichen und verringert sich immer weiter. Ein jedes Jahr wird die „schreckliche Weise“ in dem einen oder anderen Bereich etwas weniger schrecklich. Ist unsere Cholera der alten Pestilenz vergleichbar, sind unsere Krankenhäuser den alten Leprahäusern gleich, unsere Armenhäuser den Galgen für Landstreicher, gleichen unsere Gefängnisse denen, die Howard besucht hatte? Gerade weil es uns gelungen ist, Schmerz in solchem Umfang zu beseitigen, gerade weil der Schmerz und seine Zufügungen uns nicht mehr so gewöhnlich sind wie unser täglich Brot es ist, sind wir über das noch bestehende Ausmaß an Schmerz

256

D  E  M

so viel mehr erschüttert als unsere Vorfahren es waren oder wir in der Meinung Ihres Autors es sein sollten. Allerdings ist (wie immer es um den Schmerz im Allgemeinen bestellt sein mag) der Kampf gegen jenen Schmerz, der nur zugefügt wird, weil ein anderer Mensch dies will, kurz gesagt der Kampf gegen den Despotismus, in besonderem Maße die Aufgabe dieses Zeitalters und es wäre schwierig zu zeigen, dass sich einem anderen eine wertvollere Aufgabe gestellt hatte. Obwohl es nicht in unserem Vermögen steht, alle Schmerzen auszurotten, so können wir doch, sind wir nur hinreichend dazu entschlossen, alle Tyrannei abschaffen: Einer der größten schon errungenen Siege über diesen Feind besteht in der Befreiung der Sklaven. Das ganze Europa kämpft, mit wechselndem Erfolg, darum, weitere Siege hierbei zu erringen. Falls wir im Bestreben, dieses Ziel zu erreichen, andere, gleichfalls bedeutende Ziele aus den Augen verlieren, falls wir vergessen, dass Freiheit für Menschen nicht das einzig Notwendige bedeutet, sollten wir jedem dankbar sein, der uns auf den Mangel hinweist. In einen Rückschritt dürfen wir jedoch nicht einwilligen. Dass dieses Land in der Frage der Negersklaverei zurückschreiten sollte, habe ich nicht die leiseste Sorge. Allerdings gibt es einen anderen Ort, an dem diese Tyrannei noch gedeiht, sich aber gegenwärtig erstmals in ernster Gefahr sieht. In dieser Krisenlage der amerikanischen Sklaverei, zu einem Zeitpunkt, an dem der entscheidende Kampf zwischen Recht und Frevel zu beginnen scheint, tritt Ihr Autor auf den Plan und schleudert dieses Geschoss, geladen mit dem ganzen Ansehen seiner Person, in die Reihen der Abolitionisten. Die Worte berühmter englischer Schriftsteller sind auf der anderen Seite des Ozeans machtvolle Worte. Die Eigentümer des Menschenfleisches, die möglicherweise befürchteten, zwischen Atlantik und Weichsel keinen ernsthaften Menschen auf ihrer Seite zu haben, werden einen solchen Gehilfen willkommen heißen. Unter jenen, deren Interessen sie bedient, wird diese Abhandlung vermutlich von Hand zu Hand gehen, von der einen Grenze der amerikanischen Union bis zur anderen. Schwerlich fällt mir eine Handlung ein, mit der ein Einzelner ein so großes Unheil angerichtet hätte, als diese, so steht zu erwarten, anrichten wird. Auch bin ich der Überzeugung, dass er sich durch dieses Tun zu einem Werkzeug dafür gemacht hat, was ein fähiger Autor im Inquirer beim rechten Namen nennt: „ein wahres Werk des Teufels“.9 (Übersetzt von Veit Friemert und Shivaun Conroy)

9

Anmerkung der Herausgeber: Anonymus, Mr. Carlyle on the Negroes, The Inquirer VIII, 8. Dezember 1849, S. 770.

EX Die Auseinandersetzung in Amerika (1862)

Die Wolke, die einen Monat lang über der zivilisierten Welt hing, die sie mit der Ahnung weit schlimmerer Übel verdüsterte als denen bloßen Krieges, ist über unsere Köpfe hinweg gezogen, ohne sich entladen zu haben. Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet, dass die einzigen beiden Großmächte, die zugleich auch freie Nationen sind, einander in Stücke zu reißen beginnen, und zwar in einer schlimmen und abscheulichen Angelegenheit. Denn auf amerikanischer Seite wäre der Krieg einer des rücksichtslosen Beharrens auf einer Position, die nicht rechtens ist; auf unserer Seite hingegen wäre er ein solcher im Bündnis mit der Sklaverei, und praktisch gesehen einer zum Zwecke ihrer Verteidigung und Verbreitung. Uns ist in der Tat Unrecht zugefügt worden. Uns wurde eine Demütigung zugefügt und sogar mehr als eine Demütigung, die, wenn wir sie verübelt hätten, zu einer beständigen Folge weiterer Kränkungen und Verletzungen aus dieser und jeder anderen Richtung eingeladen hätte. Ein anderes Verhalten wäre uns nicht möglich gewesen, gleichwohl kann man nicht ohne Schaudern daran denken, was uns beinahe ereilt hat. Wir, die Befreier des Sklaven – die jeden Hof und jede Regierung Europas und Amerikas mit unseren Protesten und Vorhaltungen ermüdeten, bis wir sie dazu bringen konnten, zumindest dem Anschein nach gemeinsam mit uns die Versklavung des Negers zu verhindern, wir, die das letzte halbe Jahrhundert über jährlich Summen für die Absperrung der afrikanischen Küste in Höhe der Einnahmen kleiner Königreiche aufgebracht haben, in einer Sache, die nicht nur nicht die unsere ist, sondern die auch unserem finanziellen Interesse entgegenstand und die, wie viele glaubten, unsere Kolonien in den Ruin treiben würde, wie auch viele unter uns immer noch, obwohl fälschlicherweise, glauben, dass sie dies getan hat, wir hätten beinahe dabei geholfen, in einer der weltweit dominierenden Stellungen eine mächtige Republik zu errichten, die nicht nur der Sklaverei verpflichtet ist, sondern darüber hinaus ihrer Propaganda – wir, die Befreier des Sklaven, hätten beinahe dabei geholfen, jenen einen Platz in der Gemeinschaft der Nationen zu sichern, die eine Verschwörung von Sklavenhaltern sind und die ihre Bindung an die amerikanische Föderation allein aus dem Grund gelöst haben, dass, wie sie lauthals verkündeten, versucht werde, nicht die Sklaverei selbst

258

D  E  M

einzuschränken, sondern deren von ihnen beabsichtigte Ausbreitung dahin, wo immer Umsiedlung und Macht sie tragen.1 Eine Nation, die solche Bekenntnisse wie England abgelegt hat, macht nicht ungestraft, so sehr sie auch immer provoziert wird, jene Ziele zunichte, um derentwillen sie den Rest der Welt auffordert, das zu opfern, was er für sein Interesse hält. Gegenwärtig haben alle Nationen Europas mit uns Verständnis, haben anerkannt, dass wir gekränkt worden sind, und mit seltener Einmütigkeit erklärt, dass wir nicht anders konnten, als – unter Umständen auch bewaffneten – Widerstand zu leisten. Aber die Folgen eines solchen Krieges würden schnell dessen Gründe in Vergessenheit geraten lassen. Wenn die neuen Konföderierten Staaten, mit englischer Hilfe zu einer unabhängigen Macht geworden, ihren Kreuzzug begonnen hätten, um die Negersklaverei vom Potomac bis nach Kap Horn auszubreiten, wer würde sich dann daran erinnern, dass England diese Geißel der Menschheit nicht um des Bösen willen heraufbeschworen hätte, sondern weil jemand die englische Flagge beleidigt hatte? Selbst wenn dies erinnert würde, wem käme dann zu Bewusstsein, das ein solcher Groll ein hinreichender Milderungsgrund für das Verbrechen wäre? Jeder Zeitungsleser bis hin zum letzen Winkel der Erde würde nur eines erinnern und glauben – dass zu jenem kritischen Zeitpunkt, als zu klären war, ob die Sklaverei wieder und mit neuer Kraft entflammt oder dieses Feuer ausgetreten wird, in der Stunde der Entscheidung des Kampfes zwischen dem guten und dem bösen Geist, in der Morgendämmerung der Hoffnung, dass der Dämon nunmehr gefesselt und in den Höllenschlund geworfen werde, England einschritt und der Baumwolle wegen Satan zum Sieg verhalf. Der Welt ist diese Katastrophe erspart geblieben und England diese Schande. Der Vorwurf wäre in der Tat eine Verleumdung. Um aber einer Verleumdung trotzen zu können, darf eine Nation, gleich einem Individuum, in seinem früheren Verhalten keinerlei Anlass zu Vorwürfen geben, die gerechtfertigt wären. Unglücklicherweise haben wir dieser Beschuldigung selber zu viel Glaubhaftigkeit verliehen, allerdings nicht dadurch, was wir als Regierung oder Nation gesagt oder getan haben, sondern durch den Tonfall unserer Presse wie auch in bestimmten Maße, so ist einzugestehen, durch die allgemein in der englischen Gesellschaft verbreiteten Ansichten. Es ist nur zu wahr, dass die Gefühle, die sich seit Beginn der Auseinandersetzung in Amerika gezeigt haben, die Urteile, die gefällt, wie die Wünsche, die geäußert wurden, und die beide die Ereignisse wie die möglichen Ausgänge des Kampfes betreffen, die bittere und verstörende Kritik, die nicht gegen beide Parteien gleichermaßen, sondern nahezu ausschließlich gegen die im Recht befindliche Partei unablässig geübt wird, die kleinliche Verweigerung aller gerechtfertigten Nachsicht, die kein Land mehr als unser eigenes benötigte, wann immer es sich in einer Lage befindet, die der Amerikas zum gegenwärtigen Zeitpunkt so ähnelte, wie ein geschnittener Finger einer nahezu tödlichen Wunde – diese Tatsachen in den Augen solcher, die uns nicht wohlgesonnen sind, würden erheblich dazu beitragen, dass die abscheulichste Auffassung über den Krieg, den wir beinahe tatsächlich gegen die 1

Anmerkung der Herausgeber: Constitution, Adopted Unanimously by the Congress of the Confederate States of America, 11. März, 1861, Art VI, Sekt. 2 (1, 3) und Sekt. 6 (3) in: The Federal and the Confederate Constitutions for the Use of Government Officers and for the People, Cincinnati 1862, S. 17–18.

D A  A ()

259

Vereinigten Staaten geführt hätten, sich als die bei weitem wahrscheinlichste darstellen würde. Zweifellos ist unsere Einstellung gegenüber den streitenden Parteien (wobei unsere moralische Einstellung gemeint ist, politisch blieb uns keine andere Möglichkeit als die Neutralität) nicht diejenige, die einem Volk geziemt, das wie das englische wirklich ein wahrer Feind der Sklaverei ist und so große Opfer dafür gebracht hat, sie zu beenden, wo immer dies ihm möglich war. Auch ist es ein zusätzliches Missgeschick, dass einige unserer einflussreichsten Zeitschriften seit vielen Jahren sehr unglückliche Vertreter englischer Ansichten hinsichtlich aller mit der Sklaverei verbundenen Themen sind: einige möglicherweise deshalb, weil sie unter dem mehr oder weniger direkten Eindruck Westindischer Meinungen und Interessen stehen, andere wiederum ihres angeborenen Toryismus wegen, welcher selbst dann, wenn er, durch den Verstand gezwungen, Meinungen hegt, die der Freiheit zuneigen, sich dieser doch vom Gefühl her immer widersetzt, welcher sich an dem Drama einer unverantwortlichen Machtausübung des einen über andere ergötzt, welcher keinen moralischen Widerwillen gegen die Vorstellung entwickelt, dass Menschen von Geburt an der Strafe der Zwangsarbeit unterworfen sind, zu der wir für die Zeit weniger Jahre unsere abgebrühtesten Verbrecher verurteilen, stattdessen seine Empörung für die „tollwütigen und fanatischen Abolitionisten“ auf der anderen Seite des Atlantik und jene Schriftsteller in England aufspart, die ihren christlichen Überzeugungen einen dafür hinreichenden Sinn geben, den Kampf gegen die Sklaverei als einen solchen für Gott zu verstehen. Ist nun England (und, man ist versucht zu sagen, dem zivilisierten Teil der Menschheit insgesamt) der Alpdruck genommen, der seit der Ungeheuerlichkeit des Trent-Zwischenfalls auf ihm lastete, und hegen wir für die Amerikaner aus dem Norden nicht mehr die Gefühle, die man jenen entgegenbringt, mit denen man möglicherweise im Begriff steht, auf Leben und Tod zu kämpfen – dann, wann sonst, ist es an der Zeit, unsere Lage zu überdenken und uns zu fragen, ob unsere Gefühle und Wünsche jene sind, die wir in Hinblick auf die Auseinandersetzung haben sollten, in der die Nordstaaten mit dem Süden stehen. Wenn wir diese Angelegenheit überdenken, sollten wir all jene Gefühle gegen den Norden, soweit dies möglich ist, aus unseren Gedanken verbannen, die nicht allein durch die Freveltat des Trent-Zwischenfalls hervorgebracht wurden, sondern auch durch die früheren antibritischen Ergüsse der Zeitungsschreiber und politischen Kampagnenredner. Schwerlich ist es der Mühe wert zu fragen, inwieweit dieser Ausbruch von Missstimmung mehr ist als das, was von ungestümen Gemütern hätte erwartet werden können, die enttäuscht vom mangelnden Mitgefühl, das sie in ihrem würdigen Unternehmen zurecht glaubten, von einem Volk erwarten zu können, das ein großer Gegner der Sklaverei ist. Nahezu überflüssig ist die Bemerkung, dass eine demokratische Regierung sich immer dort von der schlechtesten Seite zeigt, wo sich andere Regierungen im Allgemeinen von ihrer besten zeigen, nämlich von außen her, dass unvernünftige Menschen immer lärmender sind als die vernünftigen, dass Schaum und Abschaum jener Teil einer in heftiger Gärung befindlichen Flüssigkeit ist, der ins Auge fällt, aber nicht zu Wesen und Substanz dieser Flüssigkeit gehört. Ohne diese Dinge nachdrücklich betonen zu wollen, möchte ich doch geltend machen, dass jeder frühere Anlass zur Kränkung der umfänglichen Wiedergutmachung seitens der amerikanischen Regierung wegen als hinfällig betrachtet werden sollte – nicht sosehr aufgrund der Reparation selber, die so

260

D  E  M

hätte ausfallen können, dass ein noch größerer Anlass für einen dauerhaften Groll die Folge gewesen wäre, sondern durch die Art und den Geist ihrer Wiedergutmachung, die, so wage ich zu sagen, von kaum einem von uns in irgendeiner Weise erwartet worden sind. Wenn es überhaupt eine Wiedergutmachung hätte geben sollen, worauf wenige von uns mehr als nur hofften, dann wäre sie, wie wir glaubten, offenbar ein Zugeständnis an die vorausschauende Klugheit und keineswegs eine Sache des Prinzips gewesen. Wir dachten, man würde den Zeitungsherausgebern und scheinbaren Brandrednern zu Kreuze kriechen, die lauthals forderten, die Gefangenen auf alle Gefahr hin festzuhalten.2 Wir erwarteten, dass die Buße, sollte es sie denn geben, unter Vorbehalt erfolgen würde, möglicherweise sogar unter Protest. Wir erwarteten eine sich in die Länge ziehende Korrespondenz sowie die Anstrengung eines Gerichtsverfahrens in der Hoffnung, England möge sich mit weniger zufriedengeben, oder einen Vermittlungsvorschlag, oder eine an England gerichtete Forderung, Zugeständnisse als Gegenleistung für die Gerechtigkeit zu machen, oder eine Einwilligung, die, sollte sie erfolgen, scheinbar in Hinblick auf die Meinungen und Wünsche Kontinentaleuropas zustande käme. Wir erwarteten kurz gesagt alles, was schwach, kleinmütig und fadenscheinig wäre. Das einzige, mit dem niemand gerechnet hatte, ist das, was wirklich geschehen ist. Mr. Lincolns Regierung hat keine dieser Dinge getan. Wie Männer von Ehre haben sie uns unzweideutig mitgeteilt, dass unsere Forderung rechtens war, dass sie auf diese eingingen, weil sie gerecht war, dass sie die gleiche Wiedergutmachung gefordert hätten, wenn sie in gleicher Weise behandelt worden wären, und dass sie die Seite der Gerechtigkeit einnehmen würden, falls das, was offenbar die amerikanische Position in einer bestimmten Frage ist, sich nicht als die Position der Gerechtigkeit erweist – und so waren sie froh, nach ihrer Entscheidung zu erkennen, dass sie nunmehr auf jener Seite waren, die Amerika früher verteidigt hatte.3 Gibt es jemanden, der eines sittlichen Urteils oder Empfindens fähig behauptet, dass in seinen Augen eine solche Tat, solcher Gründe wegen ausgeführt, das Ansehen Amerikas und amerikanischer Staatsmänner nicht erhebe? Die Tat selbst mag äußeren Umständen geschuldet sein; jedoch sind die für sie gegebenen Gründe wie auch die erklärten Handlungsprinzipien die ihrer eigenen Entscheidung. Überdenkt man die schlimmstmögliche Annahme, die ernsthaft in Erwägung zu ziehen der Gipfel der Ungerechtigkeit wäre, dass nämlich das Entgegenkommen allein eigenem Vorteil geschuldet ist und die bekundete Achtung für die Gerechtigkeit heuchlerisch, so wäre auch dieser von ihnen selbst unaufrichtig eingenommene Standpunkt das hoffnungsvollste Zeichen des sittlichen Charakters des amerikanischen Geistes seit vielen Jahren. Dass ein Sinn für Gerechtigkeit der Beweggrund sein könnte, auf den sich die Herrscher eines Landes stützen, um die Öffentlichkeit mit einer unbeliebten oder wie es sogar scheinen mag erniedrigenden Tat zu versöhnen, dass den Reportern, den Rednern, vielen Rechtsanwälten, dem Unterhaus des Kongresses und Mr. Lincolns eigenem Marineminister4 vor der Weltöffentlichkeit durch ihre eigene Regierung erklärt 2

3

4

Anmerkung der Herausgeber: George Eustis, James E. McFarland, James Murray Mason und John Slidell. Anmerkung der Herausgeber: Siehe William Henry Seward, Brief an Lord Lyons, zitiert in: The Trent Affair, The Times v. 13. Januar 1862, S. 9. Anmerkung der Herausgeber: Gideon Welles.

D A  A ()

261

wird, sie hätten dem Urheber5 einer solchen Tat öffentlich gedankt, ihm Ehrensäbel und Stadtprivilegien [freedom of cities] verliehen, überhaupt alle Arten Auszeichnungen für Heldenhaftigkeit gewährt, die obwohl nicht so beabsichtigt doch gesetzlos und falsch war und der nur durch Beichte und Buße angemessen begegnet werden kann – dass dies die gebilligte Politik einer demokratischen Republik ist (angenommen, es handelt sich dabei um nichts Höheres), zeigt, dass selbst eine unbeschränkte Demokratie besser ist, als viele Engländer in neuerer Zeit für gewöhnlich annehmen, und erweist in gewissem Maße, dass die Verirrungen sogar einer herrschenden Mehrheit nur dann verhängnisvoll sind, wenn es dem gebildeteren Teil der Bevölkerung an Tugend und Tapferkeit mangelt, um ihnen entschieden entgegenzutreten. Auch sollte, um der Regierung von Mr. Lincoln die Ehre zu geben, nicht vergessen werden, dass ihr schon allein aus sich heraus gerechtes Tun auch bestens dazu dient, die Feindseligkeiten zwischen den beiden Nationen abzubauen, welche von Tag zu Tag zunahmen, solange das Problem ungelöst war. Als Bekenntnis zur Ungerechtigkeit hat sie den nagenden und rachsüchtigen Groll charakterisiert, mit welchem der verruchte und von Leidenschaften getriebene Teil der amerikanische Presse uns für den Fall des Zugeständnisses droht, und der sich als schreckliche Rache zeigen soll, die, wie sie vorgeben, erfolgen werde, nachdem die Nation die gegenwärtigen Schwierigkeiten überwunden hat. Mr. Lincoln tat das in seiner Macht Stehende, um diesen Geist zu der Zeit verlöschen zu lassen, in welcher der Anlass, der ihm zum Leben verhalf, verschwand. So würde es hauptsächlich unsere Schuld sein, ihn am Leben zu erhalten, wenn wir nämlich den fortwährenden Schwall hämischer Redegewandtheit nicht unterbrechen, dessen Quelle selbst jetzt, da die Ursache des Streites in freundschaftlicher Weise beseitigt wurde, immer noch nicht ausgetrocknet ist.6 Wir sollten nun, ohne uns um diese Misstöne oder Tiraden der Zeitungsschreiber beiderseits des Atlantik zu scheren, das amerikanische Problem so beleuchten, wie es sich von Beginn an stellt – seinen Ursprung, die Absichten beider Widersacher und die verschiedenen möglichen oder wahrscheinlichen Lösungen. 5 6

Anmerkung der Herausgeber: Charles Wilkes. Anmerkung von Mill: Einen bedauerlichen Abschnitt aus Mr. Sewards Brief vergesse ich nicht, in welchem er sagt, dass es, „falls die Sicherheit der Union es erforderlich macht, die festgenommenen Personen in Gefangenschaft zu halten, dann […] das Recht und die Pflicht dieser Regierung [wäre], dies zu tun“. Ich bedauere aufrichtig, diesen Satz in der Botschaft gefunden zu haben, denn die Ausnahmen von den allgemeinen Regeln der Sittlichkeit sind nichts, an dem man sich leichtfertig oder ohne Not zu schaffen machen sollte. Die Lehre selbst besteht in nichts Anderem als dem, was alle Regierungen bekunden und wonach diese handeln – dass Selbsterhaltung im Falle eines Staates wie eines Individuums eine Gewähr dafür darstellt, vieles tun zu dürfen, von dem man zu allen anderen Zeiten entschieden Abstand nehmen muss. Jedenfalls ist keine Nation berechtigt, den ersten Stein auf Mr. Lincolns Regierung zu werfen, die jemals „Ausnahmegesetze“ verabschiedet, ein Habeas-Corpus-Gesetz aufgehoben oder, einen Chartistenaufstand fürchtend, ein Ausländergesetz einführt hat. [Anmerkung der Herausgeber: Bezuggenommen wird hier jeweils auf 11 & 12 Victoria, c. 35 (1848), aufhebend 31 Charles II, c. 2 (1679), fortgeführt durch 12 Victoria, c. 2 (1849), sowie 11 Victoria, c. 20 (1848). Mill übernimmt den französischen Terminus „lois d’exception“, gemeinhin benutzt für gleichgeartete Gesetzgebung, insbesondere unter Louis Philippe.]

262

D  E  M

In England gibt es eine Ansicht, die von einigen Menschen vertreten wird, von weit mehr Menschen zur Hälfte, die aber nur mit ursprünglicher Unkenntnis oder nachfolgender völliger Vergessenheit der ganzen Vorgeschichte der Auseinandersetzung erklärbar ist. Manche Leute wollen uns weismachen, dass es seitens des Nordens überhaupt nicht um die Sklaverei geht. Der Norden habe so wenige Einwände gegenüber der Sklaverei wie der Süden. Die Führer des Nordens würden nie ein Wort verlieren, das deren Missbilligung beinhaltet. Sie seien im Gegenteil bereit, der Sklaverei neue Sicherheiten zu geben, allem abzuschwören, was sie verfechten, den Süden, wenn sich die Gelegenheit bietet, für die Union durch Preisgabe der ganzen Angelegenheit zurückzugewinnen. Sollte dies wirklich zutreffen, worum kämpfen dann die Führer des Südens? Ihre englischen Apologeten reden von Zöllen und ähnlichen irrelevanten Dingen. Sie jedoch sagen nichts Derartiges. Sie erklären der ganzen Welt, und sie erklärten ihren eigenen Bürgern, als sie deren Stimmen verlangten, der Zweck des Kampfes sei die Sklaverei. Vor vielen Jahren, während der Präsidentschaft von General Jackson, stand South Carolina wegen eines Zolls kurz vor einer Rebellion (jedoch zu keinem Zeitpunkt vor der Abtrennung von der Union), fand dabei aber durch keinen anderen Staat Unterstützung. Eine starke Gegenbewegung Virginias hat dieser Angelegenheit dann ein Ende bereitet. Jedoch war der damals in Frage stehende Zoll streng protektionistisch, im Vergleich mit ihm jener während der Sezession hingegen ein Freihandelszoll. Letzterer resultierte aus verschiedenen aufeinanderfolgenden Änderungen in Richtung der Freiheit, wobei nicht der Schutz um des Schutzes Willen in Frage stand, sondern letztlich eine Schutzsumme, die den Gebühren zum Zwecke der Staatseinnahmen entsprechen mag. Selbst der Morill Tariff7 (der ohne die Sezession des Südens niemals hätte verabschiedet werden können) wird von der unanfechtbaren Autorität Mr. H. C. Careys für erheblich liberaler befunden als der durch Cobdens Vertrag8 reformierte französische Zolltarif, insofern er, ein Protektionist, froh sein würde, Louis-Napoleons Freihandelszoll gegen seinen eigenen protektionistischen einzutauschen.9 Warum sollten wir notorische Tatsachen aus nur mutmaßlichen Gründen erklären? Die Welt weiß, was das Problem zwischen dem Norden und dem Süden über viele Jahre hinweg war und immer noch ist. Man dachte ausschließlich an die Sklaverei und sprach ausschließlich über diese. Es wurde für die Sklaverei gekämpft und gegen sie, auf dem Parkett des Kongresses und in der Prärie von Kansas. Der Sklavenfrage allein verdankt die heute die Vereinigten Staaten regierende Partei ihre Gründungsurkunde. Der Sklaverei wegen wurde Fremont abgelehnt und Lincoln gewählt. Der Süden trennte sich wegen der Sklaverei und verkündete, die Sklaverei sei der einzige Trennungsgrund. Es ist wohl wahr, dass der Norden nicht Krieg führt, um die Sklaverei in den Staaten abzuschaffen, in denen sie rechtsgültig besteht. Hätte man erwarten können oder könnte man vielleicht sogar wünschen, dass er dies täte? Eine große Partei ändert nicht 7 8

9

Anmerkung der Herausgeber: 36th Congress, Sess. II, c. 68 (1861). Anmerkung der Herausgeber: Treaty of Commerce between Her Majesty and the Emperor of the French (23. Januar 1860), PP, 1860, LXVIII, 467–477. Anmerkung der Herausgeber: Henry Charles Carey, The French and American Tariffs Compared, Philadelphia 1861, insb. S. 7–15.

D A  A ()

263

plötzlich und mit einem Mal all ihre Prinzipien und Bekenntnisse. Hinsichtlich des Gesetzes und der bestehenden Verfassung der Union hat die Republikanische Partei Stellung bezogen. Sie verzichtete auf jeden Rechtsanspruch, etwas zu tun, was die Verfassung verbietet. Letztere verbietet dem Kongress des Bundes die Einmischung in die Sklavenangelegenheiten der Sklavenhalterstaaten.10 Sie verbietet aber nicht die Abschaffung der Sklaverei im District of Columbia. Dies wird nunmehr dort getan, nachdem trotz des gegenwärtigen finanziellen Engpasses, wie ich dies verstehe, dafür gestimmt wurde, die Sklavenbesitzer des Distrikts mit einer Summe von einer Million Dollar abzufinden.11 Auch verlangte die Verfassung ihrer eigenen Überzeugung nach von ihnen nicht, die Einführung der Sklaverei in den Territorien zu erlauben, die noch keine Staaten waren. Um dies zu verhindern, wurde die Republikanische Partei allererst gegründet – die auch heute dagegen kämpft, wie die Sklavenbesitzer dafür. Die gegenwärtige Regierung der Vereinigten Staaten ist keine Regierung von Abolitionisten. Abolitionisten sind in Amerika jene, welche sich nicht an die Verfassung halten, welche (die Sklaverei betreffend) die Abschaffung jener Teile der Verfassung fordern, die die Rechtssprechung jedes Bundesstaates vor der Kontrolle durch den Kongress schützt, welche die Abschaffung der Sklaverei wo immer sie existiert bezwecken, notfalls mit Gewalt, gewiss aber durch eine andere Macht als jene der verfassungsmäßigen Behörden der Sklavenhalterstaaten.12 Die Republikanische Partei erstrebt weder dieses Ziel 10

11 12

Anmerkung der Herausgeber: The Constitution of Frame of Government, for the United States of America, Boston 1787, Art. I, Sekt. 9, S. 6. Anmerkung der Herausgeber: 37th Congress, Sess. II, c. 54 (1862), Sect. 7. [Anmerkung der Herausgeber: ergänzende Anmerkung von Mill im Jahre 1867:] Nach der ersten Veröffentlichung dieser Abhandlung hat mich Mr. Wendell Phillips mit seiner Mitteilung geehrt, die eine notwendige Richtigstellung meiner obengenannten Ansichten über die Prinzipien und Absichten der Abolitionisten beinhaltet. Meine Leser werden erfreut sein, diese Prinzipien und Absichten in den Worten dieses bedeutenden Mannes selbst zu vernehmen:„1. Obwohl sie jede Verbindlichkeit eines Bürgers gegenüber einem jeden Gesetz ablehnen, das er für unmoralisch hält, haben die Abolitionisten dies nur auf den fugitive slave clause der Verfassung [Art. IV, Sekt. 2, S.11] bezogen und allein die Befolgung dessen abgelehnt – eine Weigerung, in die viele Republikaner und alle Männer höchster Prinzipien innerhalb und außerhalb der Politik einstimmen. Diese Ablehnung unterscheidet die Abolitionisten deshalb nicht von ihren Mitbürgern. In vielen Fällen haben sie sich, um diese Klausel nicht respektieren zu müssen, Ämter zu übernehmen geweigert, weil sie dann zu schwören verpflichtet gewesen wären, der Verfassung im Ganzen Folge zu leisten. Andere haben den Eid geleistet und doch in dieser speziellen Frage das Gesetz missachtet.Obwohl sie danach strebten, die Union aufzuheben und die Verfassung ungültig zu machen, haben sich die Abolitionisten immer ‚daran gehalten‘ und sind verfassungs- und gesetzestreue Bürger, die ihre Ziele nur mit sittlichen und gesetzlichen Mitteln erlangen möchten. Engländer nennen dies agitation. 2. Während ihrer gesamten dreißigjährigen Tätigkeit vor dem Krieg haben die Abolitionisten niemals verlangt, dass der Kongress die Gesetzgebung der einzelnen Staaten aufhebt. Seit Beginn des Krieges fordern sie gemeinsam mit der gesamten loyalen Partei den Kongress dazu auf, die war power Klausel [Art. 1, Sect. 8, S. 5] geltend zu machen, welche dazu ermächtigt, gegen die Rebellenstaaten und die Sklaverei überall vorzugehen. Diese Forderung unterscheidet sie jedoch nicht von ihren loyalen Mitbürgern.3. Die Abolitionisten haben niemals ‚bezweckt, die Sklaverei mit Gewalt abzuschaffen‘. Im Gegenteil haben sie immer, in Worten und Taten diesen Weg abgelehnt, sich an die ‚verfassungsmäßigen Behörden der Sklavenhalterstaaten‘ gewandt und von diesen gefordert, in dieser Frage zu handeln, wobei sie zugestanden,

264

D  E  M

noch behauptet sie, es zu erstreben. Wenn wir aber die Ausbrüche des Zorns betrachten, denen sie, wenn sie dies getan hätte, seitens der Schriftsteller ausgesetzt gewesen wäre, die sie jetzt dafür verspottet, dass sie dies nicht tut, neigen wir der Auffassung zu, dass dieser Spott nicht ganz angebracht ist. Die Republikanische Partei ist zwar keine Partei von Abolitionisten, jedoch eine Partei des Freien Bodens [free soil]. Wenn sie auch nicht gegen die Sklaverei zu den Waffen gegriffen hat, so hat sie damit doch so gehandelt, um deren Verbreitung zu verhindern. Auch weiß sie – wie wir es ebenfalls wissen können, wenn wir es wollen – dass es letztlich auf das Gleiche hinausläuft. Denn der Tag, an dem die Sklaverei sich nicht mehr ausbreiten kann, ist der Tag ihres Untergangs. Das wissen die Sklavenhalter und das gibt ihnen den Anlass zur Wut. Sie wissen, wie alle wissen, die sich mit der Angelegenheit beschäftigt haben, dass die Beschränkung der Sklaverei innerhalb bestehender Grenzen deren Todesurteil wäre. Die Sklaverei verschwendet unter den in den Staaten vorliegenden Bedingungen selbst die nutzbringendsten Kräfte der Natur. Sie ist derart unvereinbar mit jeglicher gebildeter Arbeit, dass sie alle schöpferischen Quellen des Landes auf nur ein oder zwei Erzeugnisse verwendet, von denen Baumwolle das hauptsächliche ist, die für ihren Anbau und ihre Veräußerung kaum mehr als rohe animalische Gewalt benötigen. Allein der Anbau von Baumwolle hält in der Meinung aller Kenner die Sklaverei in Nordamerika am Leben. Aber der ausschließliche Anbau von Baumwolle erschöpft in nicht allzu vielen Jahren alle dafür geeigneten Böden und kann nur durch einen unaufhaltsamen Zug gen Westen fortgeführt werden. Mr. Olmsted hat in deutlicher Weise den trostlosen Zustand geschildert, in dem sich Teile von Georgia und den beiden Carolinas befinden, die einstmals weltweit musterhaft für Bodenfruchtbarkeit und ergiebige Landwirtschaft standen. Auch das kürzlich besiedelte Alabama folgt zusehends, wie er zeigt, demsel-

dass nur diesen das Recht zukomme, das zu tun. Ausnahmen davon gibt es in ihren Reihen zu wenige, als dass sie Aufmerksamkeit verlangen könnten oder in der Lage wären, die Partei zu prägen. John Brown (der selber die Beschuldigung zurückgewiesen hat, die Sklaverei mit Gewalt abschaffen zu wollen) war, obwohl von den Abolitionisten hochverehrt, nicht ihr Vertreter. [Siehe John Brown, Last Speech (2. November 1859), wie berichtet in: Brown’s Trial, New York Daily Tribune, 3. November 1859, S. 5.] Die Abolitionisten haben sich durch folgende Prinzipien unterschieden:Sie betrachteten den Besitz von Sklaven als Sünde, jede freiwillige Beteiligung an ihm sowie dessen Unterstützung als sündhaft, jedes Gesetz, das ihn verfügte oder befürwortete, für unsittlich und deshalb für nicht bindend, also als ein solches Gesetz, dem nicht gefolgt werden sollte. Weil sie glaubten, dass die Verfassung ein solches Gesetz beinhalte, weigerten sich viele von ihnen, unter dieser Verfassung ein Amt anzutreten, oder zu schwören, ihr Folge zu leisten. Sie forderten die sofortige und bedingungslose Befreiung und unterschieden sich dadurch von den Gradualisten, das sind jene, die ein Lehrvertragssystem befürworteten, und den Colonizationists, welche die gesamte schwarze Rasse als Vorbedingung ihrer Befreiung nach Afrika zurückschicken wollten. Von Beginn an haben die Abolitionisten die Abschaffung der Sklaverei nur durch gesetzliche und sittliche Mittel erreichen wollen und unterwarfen sich allen Gesetzen außer jenem, welches die Rückkehr der Sklaven zu ihren Herren verordnete. Auch nutzten sie nur die Presse, das Podium, die Politik und die Kanzel als ihre Mittel, um jene öffentliche Meinung zu ändern, die mit Sicherheit das Gesetz zu ändern vermag. [Siehe 2nd Congress, Sess. II, c. 7 (1793), und 31st Congress, Sess. I, c. 60 (1850).] Allein darauf haben sie zu allen Zeiten vertraut.“

D A  A ()

265

ben Pfad in den Abgrund.13 Für die Sklaverei ist es deshalb eine Frage von Leben und Tod, neue Felder für die Sklavenarbeit zu finden. Man beschränke die Sklaverei auf die gegenwärtigen Staaten und die Besitzer des Sklaveneigentums werden entweder rasch ruiniert sein oder umgehend Mittel und Wege finden müssen, ihre landwirtschaftliche Bewirtschaftung zu bessern und zu erneuern. Letzteres kann aber nur geschehen, wenn Sklaven wie Menschen behandelt werden und in so großem Umfang gebildete, das heißt freie Arbeit Anwendung findet, dass sie die ungebildete in weitem Maße ersetzt und damit den Geldwert des Sklaven in einem Maße mindert, dass die unmittelbare Milderung und letztliche Auslöschung der Sklaverei nahezu notwendig und wahrscheinliches schnell eintreten wird. Die Führer der Republikaner sprechen öffentlich nicht über diese nahezu gewissen Erfolgsergebnisse der gegenwärtigen Auseinandersetzung. Auch sprechen sie angesichts der bestehenden Notlage kaum über den ursprünglichen Grund des Streits. Die gewöhnlichsten Verhaltensregeln lehren sie, auf ihr Banner nur den Teil ihrer bekannten Prinzipien zu schreiben, die von allen Anhängern geteilt werden. Der Erhalt der Union ist ein Ziel, dem alle im Norden zustimmen. Auch hat er, wie sie glauben, viele Befürworter im Süden allgemein. Dass nahezu die Hälfte der Bevölkerung in den an der Grenze liegenden Sklavenhalterstaaten dieses Ziel vertreten, ist eine klare Tatsache, denn sie kämpfen jetzt für dessen Verteidigung. Unwahrscheinlich wäre es hingegen, dass sie direkt gegen die Sklaverei kämpfen würden. Die Republikaner wissen wohl, dass sie dann alles erreichen, wofür sie ursprünglich kämpften, wenn sie die Union wiedererrichten können. So wäre es ein glatter Vertrauensbruch gegenüber den Freunden der Regierung aus den Südstaaten, plötzlich die Bedingungen der Einheit zu ändern, ohne deren Zustimmung einzuholen und nachdem diese für ein von diesen geteiltes Ziel um ihre Fahne versammelt wurden. Allerdings gelangen die Parteien in einem sich in die Länge ziehenden Krieg nahezu notwendig zu extremeren, um nicht zu sagen höheren Handlungsprinzipien als jenen, mit denen sie in den Krieg gezogen waren. Parteien der Mitte und Anhänger von Kompromissen spielen bald keine Rolle mehr. Wenn nun die Schriftsteller, welche die gegenwärtige Mäßigung der Freibodenmänner [Freesoilers] so scharf kritisieren, wünschen, dass der Krieg zu einem solchen um die Abschaffung der Sklaverei wird, werden sie wahrscheinlich, sollte er nur lange genug währen, ihre Genugtuung finden. Ohne im Geringsten den Anspruch erheben zu wollen, weiter in die Zukunft blicken zu können als andere, so habe ich doch von Anfang an vorhergesehen und vorausgesagt, dass die Auseinandersetzung zu einer entschieden gegen die Sklaverei gerichteten wird, sollte der Süden nicht auf der Stelle niedergerungen werden. Auch glaube ich nicht, dass irgendjemand, der gewohnt ist, über den Verlauf menschlicher Angelegenheiten in schwierigen Zeiten nachzudenken, etwas anders erwarten kann. Wer selbst flüchtig die wertvollen Zeugnisse über die wirklichen Verhältnisse in Amerika gelesen hat, über welche die englische Öffentlichkeit verfügt, nämlich die Briefe des Times-Korrespondenten Mr. Russell, muss bemerkt haben, wie früh und schnell dieser zum selben Schluss gelangte und mit welch zunehmendem Nachdruck er diesen nunmehr beständig wiederholt. 13

Anmerkung der Herausgeber: Frederick Law Olmsted, The Cotton Kingdom, 2 Bde., New York, London 1861, Bd. II, S. 296–299.

266

D  E  M

In einem seiner jüngsten Briefe nennt er das Ende des kommenden Sommers als jene Zeit, zu welcher der Krieg sich seinem ganzen Charakter nach gegen die Sklaverei gerichtet haben wird, falls er nicht eher beendet werden sollte.14 Ein solch früher Termin übertrifft, so muss ich gestehen, meine kühnsten Hoffnungen. Sollte Mr. Russel Recht behalten, dann bewahre uns der Himmel vor einem zu frühen Ende des Krieges. Würde er nämlich bis dahin währen, käme es sehr wahrscheinlich zu einer Erneuerung des amerikanischen Volkes. Auch wenn man die Absichten des Nordens missverstehen kann, so bestehen zumindest hinsichtlich jener des Südens keine Zweifel. Er verschleiert seine Prinzipien nicht. Solange es ihm gestattet war, die gesamte Politik der Union zu leiten, einen Kompromiss nach dem anderen zu durchbrechen, Schritt für Schritt bis zu dem Punkt vorzudringen, an welchem er das Recht geltend machen konnte, Sklaven in die freien Staaten zu überführen und sie dort, im Widerspruch zu den Gesetzen dieser Staaten, als Eigentum zu halten – solange war er bereit, in der Union zu verbleiben. In dem Augenblick aber, in dem ein Präsident gewählt wurde, aus dessen Meinungen man nicht schließen konnte, dass er Maßnahmen gegen die Sklaverei dort ergreifen würde, wo diese existiert, sich wohl aber da gegen deren Einrichtung stellen würde, wo sie nicht existiert – in diesem Augenblick sagten sie sich von dem los, was zumindest ein ehrwürdiger Vertrag war, und formten sich zu einer Konföderation, die zu ihrem Gründungsprinzip nicht allein die Fortführung sondern die unbegrenzte Verbreitung der Sklaverei erklärte. Auch wird überall in der neuen Republik laut die Lehre verkündet, Sklaverei, ob schwarz oder weiß, sei ein Gut an sich und stelle die für arbeitende Schichten überall zweckmäßigen Arbeitsbedingungen dar. Dem Leser möge an dieser Stelle kurz in Erinnerung gerufen werden, was für eine Sache das ist, zu der sich die weiße Oligarchie des Südens verbündet hat, um sie gemeinsam zu verbreiten und wenn möglich überall zu errichten: Möchte man irgendeinen Teil der Menschheit beschreiben, der sich im Zustand extremster Erniedrigung und unter dem grausamsten Joch befindet, das auszuhalten Menschen möglich ist, dann vergleicht man ihn mit Sklaven. Sucht man nach Wörtern, um die abscheulichste Despotie zu brandmarken, die in widerlichster Weise verfährt, dann sagt man von den Despoten – sollten alle anderen Vergleiche nicht hinreichend scheinen –, sie seien Sklavenherren oder Sklavenschindern gleich. Was vermöge einer gewissen rhetorischen Freiheit über die schlimmsten Unterdrücker der Menschheit dadurch gesagt wird, dass man ihnen die hassenswerteste Bezeichnung aufdrückt, trifft in Wirklichkeit auf diese Männer zu. Damit meine ich nicht, dass alle persönlich hassenswert sind, wie dies auch nicht für alle Inquisitoren und Seeräuber zutrifft. Aber diese Stellung, die sie einnehmen und deren abstrakte Vortrefflichkeit sie zur Waffe greifend verteidigen, ist jene, welche die Menschheit mit geeinter Stimme für gewöhnlich zum Typus aller hassenswerten Eigenschaften wählt. Ich werde an dieser Stelle nicht über die mehr oder weniger große Anzahl von Peitschenhieben oder andere Foltermethoden herumräsonieren, die zur alltäglichen Voraussetzung gehören, um die Maschine am Laufen zu halten. Auch werde ich nicht

14

Anmerkung der Herausgeber: William Howard Russell, The Civil War in America, The Times, 13. September 1861, S. 9.

D A  A ()

267

diskutieren, ob die Legrees oder die St. Clairs15 unter den Sklavenbesitzern der Südstaaten in der Mehrheit sind. Die allgemeine Sachlage ist hinreichend. Eine Tatsache möge genügen. Auf der Erde gibt es weiß Gott boshafte und tyrannische Einrichtungen zuhauf. Jedoch ist diese Einrichtung die einzige von ihnen, deren Erhaltung verlangt, dass Menschen bei lebendigem Leib verbrannt werden. Der ruhige und unvoreingenommene Mr. Olmsted bestätigt, dass seit vielen Jahren bekanntermaßen kein einziges verging, indem diese Gräueltat nicht in dem einen oder anderen Teil des Südens verübt worden ist.16 Aber nicht allein gegenüber Negern wurde diese Tat begangen: Die Edinburgh Review schildert in einer ihrer letzten Ausgaben die abscheulichen Einzelheiten des unglücklichen Schicksals eines Hausierers aus dem Norden, der in einem Akt von Lynchjustiz bei lebendigem Leib verbrannt wurde, und zwar auf den bloßen Verdacht hin, einem Sklaven bei der Flucht geholfen zu haben.17 Wofür soll man die amerikanische Sklaverei halten, falls Taten wie diese unter ihr zwangsläufig folgen? Sollten diese Taten aber nicht zwangsläufig sein und sie dennoch begangen werden – ist dann nicht die Beweislage gegen die Sklaverei noch erdrückender? Der Süden rebelliert nicht allein für die Sklaverei, er rebelliert für das Recht, Menschen bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Mittels einer eigenartigen Verdrehung eines wahren Prinzips wird uns jedoch gesagt, dass der Süden ein Recht gehabt hätte, sich zu trennen, dass seiner Trennung in dem Moment hätte zugestimmt werden müssen, in dem er sich bereit zeigte, für diese zu kämpfen, und dass der Norden, indem er dies verweigerte, denselben Fehler und dasselbe Unrecht begehe wie England, als es sich der ursprünglichen Abtrennung der dreizehn Kolonien widersetzte. Damit wird die Lehre vom heiligen Recht des Widerstands etwas weit ausgelegt. Es ist wundervoll, wie unbeschwert, liberal und entgegenkommend Menschen sein können, wenn es dabei um die Belange anderer geht. Weil sie bereit sind, ihre eigene Vergangenheit preiszugeben, und problemlos in die Verurteilung ihrer Urgroßväter einstimmen, stellen sie sich niemals die Frage, was sie selbst unter weit weniger schwierigen Umständen, unter weit weniger starkem Druck einer nationalen Katastrophe täten. Würden jene, die sich begeistert zu diesen revolutionären Prinzipien erklären, in deren Anwendung auf Irland, Indien, oder die Ionischen Inseln einstimmen? Wie sind sie mit denen umgegangen, die versuchten, einen solchen Gebrauch von ihnen zu machen? Aber ein argumentum ad hominem ist hier gar nicht nötig. Das Wort Rebellion macht mir keine Angst. Ich habe keine Bedenken zu erklären, dass ich mehr oder weniger begeistert den meisten Rebellionen, die erfolgreich oder nicht in meiner Zeit stattgefunden haben, wohlwollend gegenüberstand. Allerdings habe ich das gewiss nie so verstanden, dass die bloße Tatsache, Rebell zu sein, dafür hinreicht, mein Wohlwollen zu verdienen, dass die Entscheidung, sich bewaffnet gegen seine Mitbürger zu wenden, in sich selbst so verdienstvoll, so vollständig aus sich heraus gerechtfertigt wäre, dass dies die Frage nach einem Beweggrund erübrigte. Mir scheint es eine eigenartige Auffassung zu sein, dass die schwerwiegendste und verantwortungsvollste aller menschlichen Handlungen 15

16 17

Anmerkung der Herausgeber: Figuren aus Harriet Beecher Stowe, Onkel Tom’s Hut; or, Life among the Lowly, 2 Bde., Boston 1852. Anmerkung der Herausgeber: Olmsted, The Cotton Kingdom, Bd. II, S. 354. Anmerkung der Herausgeber: Harriet Martineau, The United States under the Presidentship of Mr. Buchanan, Edinburgh Review CXII, Oktober 1860, S. 575.

268

D  E  M

diejenigen, die sie vollziehen, nicht zu zeigen verpflichtet, einen wirklichen Grund zur Klage zu haben, dass jene, die der Macht wegen rebellieren, andere zu unterdrücken, ein genauso heiliges Recht ausüben wie jene, die rebellieren, um sich der Unterdrückung zu widersetzen, die über sie ausgeübt wird. Weder Rebellion noch irgendeine andere Handlung, welche die Interessen anderer beeinträchtigt, ist hinreichend durch den bloßen Willen sie auszuführen gerechtfertigt. Eine Abspaltung mag ebenso wie jede andere Art des Aufstands lobenswert sein, kann aber auch ein gewaltiges Verbrechen darstellen. Es ist das eine oder das andere, je nach Ziel oder Anlass. Gab es aber jemals ein Ziel, das schon seiner Ankündigung wegen Rebellen, die gegen eine bestimmte Gemeinschaft kämpfen, als Feinde der Menschheit brandmarkte, dann ist es jenes, das der Süden verkündet. Sein Recht sich abzuspalten, ist jenes, das Cartouche oder Turpin gehabt hätten, sich von ihren jeweiligen Ländern zu trennen, weil die Gesetze dieser Länder ihnen nicht erlaubten, auf der Landstraße zu rauben und zu morden. Der einzige wirkliche Unterschied besteht darin, dass die gegenwärtigen Rebellen mächtiger als Cartouche oder Turpin sind und möglicherweise fähig, ihre frevelhaften Ziele zu bewirken. Nehmen wir der Überlegung halber jedoch einmal an, dass der bloße Wille sich abzuspalten in diesem wie in jedem anderen Fall ein hinreichender Grund wäre, dies zu tun, so möchte ich dann doch wissen, um wessen Willen es sich handelt. Handelt es sich um den Willen einer jeden Gruppe Männer, die ob ehrlich oder nicht, ob durch Umsturz, Schrecken oder Betrug, die Zügel der Regierung in ihre Hände bekommen haben? Sollten sich die Häftlinge von Parkhurst Prison der Isle of Wight bemächtigen, die Militärposten besetzen, einen Teil der Bewohner in ihre eigenen Reihen aufnehmen, die übrigen in Sträflingskolonnen arbeiten lassen und sich selbst für unabhängig erklären – wäre dann deren Anerkennung durch die britische Regierung die unmittelbare Folge? Ehe man irgendwelchen Personen die Autorität zuspricht, als den Willen des Volkes verkörpernden politische Organe über die gesamte politische Existenz eines Landes zu verfügen, möchte ich wissen, ob diese durch das gesamte Volk oder nur einen Teil desselben beglaubigt sind. Auch wäre im Voraus zu fragen, ob man die Sklaven zu Rate gezogen und ihren Willen bei der Veranschlagung des Gemeinwillens mitbetrachtet hat. Denn sie gehören der Bevölkerung zu. So natürlich dies im Lande selbst sein mag, verwundert es doch, wie leichtfertig die englischen Schriftsteller über die zehn Millionen sprechen (meines Erachtens sind es nur acht), um mit dreister Gelassenheit über die reine Existenz jener vier Millionen hinwegzusehen, denen die Vorstellung der Abspaltung abscheulich sein muss. Man erinnere sich, dass wir sie als Menschen betrachten, die einen Anspruch auf Menschenrechte haben. Auch kann nicht bezweifelt werden, dass die bloße Tatsache der Zugehörigkeit zu einer solchen Union, die in einigen ihrer Teile die Sklaverei missbilligt, eine gewisse Erleichterung der Lage der Sklaven darstellt, wenn auch nur angesichts zukünftiger Möglichkeiten. Aber auch in Hinblick auf die weiße Bevölkerung ist es fraglich, ob es anfangs eine Mehrheit für die Abspaltung irgendwo anders als in South Carolina gegeben hat. Obwohl die Angelegenheit eine im Voraus beschlossene Sache war und die meisten Staaten ihren Behörden verpflichtet waren, ehe die Bürger überhaupt zur Wahl gerufen wurden, obwohl die Stimmabgabe in manchen Orten unter der Vorherrschaft des Schreckens erfolgte, war dennoch in einigen der Staaten die Abspaltung nur von knappen Mehrheiten getragen. Manche der Behörden haben nicht gewagt, die Zahlen zu veröffentlichen, über manche wird behauptet, dass nicht abgestimmt wor-

D A  A ()

269

den sei. Des Weiteren werden (worauf Mr. Carey in einem großartigen Brief hinweist)18 die Sklavenhalterstaaten von ihrer Nordgrenze bis fast zum Golf von Mexiko reichend in ihrer Mitte von einem Landstrich durchzogen, auf dem sich freie Arbeit findet – die Gebirgsregion der Alleghanies und deren Siedlungsgebiete, die Teile von Virginia, North Carolina, Tennessee, Georgia und Alabama bilden, in denen aufgrund der Eigenart des Klimas und des landwirtschaftlichen Anbaus sowie der Bergbauindustrie die Sklaverei in nennenswertem Umfang nie existiert hatte und nie existieren wird. Die Bewohner dieser Gebirgsgegend sind begeisterte Freunde der Union. Sollte letztere, ohne sich die geringste Mühe gemacht zu haben, sie im Stich lassen und dem Belieben einer aufgebrachten Oligarchie von Sklavenhaltern ausliefern? Sollte sie die Deutschen im Westen von Texas aufgeben, denen das Verdienst zukommt, dort an der Grenze zum Golf von Mexiko mit dem Anbau von Baumwolle auf der Grundlage freier Arbeit begonnen zu haben? Würde das Recht der Sklavenhalter sich loszusagen wirklich so eindeutig sein, dann hätten sie kein Recht, diese mit sich zu ziehen, es sei denn, Gefolgschaft ist eine bloße Frage räumlicher Nähe, und mein Nachbar kann, weil ich der Stärkere bin, gezwungen werden, mir bei allen gesetzeswidrigen Launen zu folgen, denen ich mich hingeben will. Aber der Norden (so sagt man) werde den Süden niemals besiegen und so wäre es besser, weil die Trennung letztlich anerkannt werden müsse, das zuerst zu tun, was man schließlich doch zu tun gezwungen wäre. Ferner könnte der Norden den Süden, falls er ihn doch besiegen würde, nicht freien Institutionen gemäß regieren. Mit keiner dieser Thesen stimme ich überein. Ob es den Amerikanern im Norden gelingen wird, den Süden zurückzuerobern oder nicht, gebe ich nicht vor zu wissen. Daran dass sie in der Lage dazu sind, wenn es bei ihrer gegenwärtigen Entschlossenheit bleibt, habe ich niemals Zweifel gehegt, denn ihre Bevölkerung ist doppelt so zahlreich wie die des Südens und sie sind zehn- oder zwölfmal reicher. Diese Rückeroberung würde nicht durch militärische Besitzergreifung oder den Einmarsch eines Heeres in die Südstaaten erfolgen, sondern durch deren Zermürbung, den Aufbrauch ihrer Ressourcen, durch Entzug der Annehmlichkeiten des Lebens, der Ermutigung ihrer Sklaven zur Flucht und ihren Ausschluss vom Verkehr mit fremden Ländern. All dies hängt natürlich von der Voraussetzung ab, dass der Norden nicht eher einlenkt. Ob er aber bis dahin ausharrt, oder ob Geist, Geduld oder Opferbereitschaft eher aufgebraucht sein werden, kann ich nicht sagen. Schließlich könnte er auch so ermüdet sein, dass er in die Abspaltung einwilligt. Jene aber, die behaupten, dass zuerst hätte getan werden müssen, was man letztlich möglicherweise tun muss, frage ich: unter welchen Bedingungen? Haben sie jemals überlegt, was unter Abspaltung zu verstehen gewesen wäre, wenn die Nordstaaten ihr bereits zugestimmt hätten, als sie zum ersten Mal gefordert wurde? Die Leute reden, als ob die Abspaltung nichts anderes bedeutet als die Unabhängigkeit der sich lossagenden Staaten. Die Abspaltung unter jener Einschränkung akzeptiert zu haben, würde bedeuten, der Süden wäre bereit, genau das preiszugeben, was zu behalten sein ausdrückliches Motiv dafür war, die Union zu verlassen. Abspaltung heißt für sie, mindestens die Hälfte der Territorien einschließlich der Grenze zu Mexiko und die daraus folgende Macht, in Spanisch-Amerika einzufallen und von ihm Besitz zu ergreifen, um dort diese „eigenartige Institution“ [„peculiar 18

Anmerkung der Herausgeber: The French and American Tariffs Compared, S. 19–20 (Brief 3).

270

D  E  M

institution“]19 einzuführen, die selbst die mexikanische Zivilisation für zu schlecht befand, um sie auszuhalten. Niemand weiß, bis zu welchem Punkt der Erniedrigung ein Land getrieben werden kann, das sich in einem hoffnungslosen Zustand befindet. Sollte aber der Norden jemals, es sei denn, er befindet sich am Rande des wirklichen Zusammenbruchs, mit dem Süden Frieden schließen und den ursprünglichen Streitgegenstand aufgeben – die Freiheit der Territorien –, sollte er ihnen außerhalb der Union jene Macht des Bösen überlassen, die er nicht bereit war, ihnen zu gewähren, um sie in der Union zu halten, dann würde er Mitleid und Verachtung der Nachwelt auf sich laden. Niemand kann glauben, dass der Süden in eine Übereinkunft unter irgendwelchen anderen Bedingungen eingewilligt hätte oder in seiner gegenwärtigen Verfassung irgendwann einmal einwilligen wird. Eine Reihe von Erniedrigungen wird erforderlich sein, um ihn dazu zu bringen. Die Notwendigkeit, sich mit der Einschränkung der Sklaverei in ihren bestehenden Grenzen abzufinden, mit der natürlichen Folge ihrer unmittelbaren Milderung und der letztendlichen Befreiung der Sklaven ist eine Lehre, die der Süden aus nichts Anderem zu ziehen geneigt ist, als aus einer Katastrophe. Zwei oder drei Niederlagen auf dem Feld, die seine militärische Stärke zunichte machten, denen aber nicht die Eroberung seines Territoriums folgte, würden ihm vermutlich diese Lektion erteilen. In diesem Falle wäre die Hoffnung darauf, dass diese harte Lehre auf dem Fuße folgt, keine Verletzung des Prinzips der Nächstenliebe. Wenn Menschen sich die übrige Welt missachtend entscheiden, das Werk des Teufels zu tun, wird solange aus ihnen nichts werden, bis sie die Welt hat fühlen lassen, dass dieses Tun länger nicht geduldet werden kann. Wenn diese Erkenntnis über mehrere Jahre hinweg ausbleibt, wird die Frage der Sklavenbefreiung sich zwischenzeitlich selbst beantwortet haben. Denn mit Sicherheit wird der Kongress sich sehr schnell entscheiden zu verkünden, dass alle Sklaven, die Personen gehören, welche sich der Union bewaffnet entgegenstellen, frei sein sollen.20 Ist all dies getan, wird die zu einer Minderheit gewordene Sklaverei sich selbst schnell aufheben und der Geldwert der loyalen Herren gehörenden Neger sicherlich nicht über dem Betrag der Entschädigung liegen, den die Vereinigten Staaten willens und fähig sein werden zu zahlen. Die vermutete Schwierigkeit, im Falle ihrer Rückkehr zur Union, die Südstaaten als freie und gleiche Gemeinwesen zu regieren, ist reine Einbildung. Sollten sie mit Gewalt zurückgebracht werden und nicht durch einen freiwilligen Vertrag, dann wird ihre Rückkehr ohne Territorien und ohne ein Fugitive Slave Law erfolgen. In diesem Falle kann man annehmen, dass die siegreiche Partei die Änderungen an der Bundesverfassung vornehmen wird, die notwendig sind, um sie den neuen Umständen anzupassen, und die deren demokratische Prinzipien nicht beeinträchtigen sondern stärken würden. Ein Artikel wäre hinzuzufügen, der die Ausweitung der Sklaverei auf die Territorien oder den Zutritt irgendeines neuen Sklavenhalterstaates zur Union verbietet. Ohne eine weitere Sicherheit zu benötigen, würde die rasche Bildung neuer freier Staaten der Freiheit eine entscheidende und beständig zunehmende Mehrheit im Kongress sichern. 19

20

Anmerkung der Herausgeber: Für den Terminus siehe den Artikel über die Auswanderung nach Kansas, New York Tribune, 19. Oktober 1854, S. 4. Anmerkung der Herausgeber: Siehe 37th Congress, Sess. II, c. 195 (1862), Sects 9, 10; und Abraham Lincoln, Emancipation Proclamation, (Washington, 1863).

D A  A ()

271

Auch wäre es rechtens, jene schlechte Regelung der Verfassung aufzuheben (in der Zeit der Verfassungsgründung ein notwendiger Kompromiss), wonach die Sklaven, obwohl als Bürger in keiner anderen Hinsicht anerkannt, im Umfang von drei Fünfteln ihrer Anzahl bei der Berechnung der Bevölkerungsgröße veranschlagt werden, um die Anzahl der Vertreter eines jeden Staates im Unterhaus des Kongresses festzulegen.21 Warum sollten die Herren über Abgeordnete verfügen, die durch ihre Leibeigenen solche Rechte erhalten nicht aber durch ihre Ochsen und Schweine? Der Präsident hat in seiner Botschaft bereits vorgeschlagen, dass diese heilsame Reform im Falle von Maryland dadurch umgesetzt werden solle, dass dieser Staat als Ausgleich zusätzliches Territorium von Virginia erhält. Er hat damit verdeutlicht, welche Politik er billigt und wahrscheinlich allgemeingültig machen möchte.22 Da es notwendig ist, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, sollten wir jetzt eine andere betrachten. Nehmen wir den schlimmsten aller möglichen Ausgänge dieses Krieges an, jenen, der vermutlich von den englischen Schriftstellern erwünscht wird, die in ihrem Moralempfinden so theoretisch distanziert und unbeteiligt sind, dass sie nicht zwischen den Aposteln der Sklaverei und deren Feinden unterscheiden. Nehmen wir an, die Nordstaaten würden sich dazu hergeben, die neue Konföderation zu deren eigenen Bedingungen anzuerkennen und ihnen die Hälfte der Territorien zu überlassen, nehmen wir ferner an, dass sie von Europa anerkannt und als Mitglied in der Familie der Nationen Aufnahme finden würde. Es wäre zu wünschen, dass im Voraus darüber nachgedacht wird, wie unsere zukünftigen Beziehungen mit einer neuen Macht zu gestalten wären, die sich zu den Prinzipien von Attila und Dschingis Khan als den Grundlagen ihrer staatlichen Verfassung bekennt. Sollten wir deren siegreicher Armee dabei zuschauen, wie sie von der Kette gelassen ihren nationalen Glauben mit vorgehaltener Büchse über Mexiko hinweg bis nach Mittelamerika verbreitet? Sollten wir hinnehmen, dass man Kuba wie Puerto Rico mit Feuer und Schwert erobert und Haiti wie Liberia besiegt und zurück in die Sklaverei zwingt? Wir aber werden bald genug eigene Streitgründe haben. Wenn wir erst einmal dabei sind, eine Expedition gegen Mexiko zu schicken, um die Missstände zu beheben, unter denen einzelne britische Staatsbürger leiden,23 sollten wir rechtzeitig bedenken, dass der Präsident der neuen Republik, Mr. Jefferson Davis, einer der ursprünglichen Verfechter der Zahlungsverweigerung war. Sollten wir die Prinzipien, die wir seit zwei Generationen konsequent verkünden und befolgen, nicht verwerfen, würden wir innerhalb von fünf Jahren mit der neuen Konföderation wegen des afrikanischen Sklavenhandels Krieg führen. Eine englische Regierung wird schwerlich so niederträchtig sein, sie anzuerkennen, es sei denn, die Konföderierten akzeptieren all die Verträge, durch die Amerika gegenwärtig gebunden ist. Auch steht zu hoffen, dass der Konföderation, auch wenn de facto unabhängig, die Gefälligkeiten des diplomatischen Verkehrs verwehrt bleiben, es sei denn, sie gesteht in völlig unmissverständlicher Weise

21 22

23

Anmerkung der Herausgeber: Constitution, Art. I, Sect. 2, S. 2. Anmerkung der Herausgeber: Mills Quelle für diese fälschliche Zuschreibung an Lincoln konnte nicht gefunden werden. Anmerkung der Herausgeber: Siehe The Times, 1. Oktober 1861, S. 10, und 26. Oktober 1861, S. 12.

272

D  E  M

das Recht auf Fahndung und Durchsuchungen [right of search] zu.24 Wäre es den Sklavenschiffen einer solchen Konföderation erlaubt, die zum Zwecke der Ausbreitung der Sklaverei gebildet worden ist, frei und unkontrolliert zwischen Amerika und der afrikanischen Küste zu verkehren, hätte man selbst auf den Schein verzichtet, Afrika vor dem Menschenräuber zu schützen, und den Kontinent jenen Schrecken in weit größerem Maße überlassen, die es vor den Zeiten von Granville Sharp und Clarkson gab. Aber selbst wenn sie das Recht vertraglich anerkennen sollten, was nie geschehen würde, ihre Sklaven abzufangen – die Sklavenhalter des Südens wären ihrer Arroganz wegen nicht lange bereit, sich dieser Praxis zu unterwerfen. Ihr Stolz und Dünkel, auf Grund ihres erfolgreichen Kampfes ins Maßlose gesteigert, würden der Macht Englands trotzen, wie sie bereits erfolgreich jener ihre Landsleute im Norden getrotzt hätten. Nachdem unser Volk mit kalter Missbilligung und unsere Presse durch ihre Schmähschriften gemeinsam mit ihren eigenen Schwierigkeiten dazu beigetragen hätten, den Geist der Freien Staaten zu entmutigen und diese zu nötigen, sich einem Friedensschluss zu unterwerfen, müssten wir gegen die Sklavenhalterstaaten selber kämpfen, und zwar unter weit ungünstigeren Bedingungen, wobei wir nicht mehr auf den ohnehin ermüdeten und erschöpften Norden als Bündnispartner zählen könnten. So mag es eines Tages geschehen, dass der barbarischen und barbarisierenden Macht wegen, der wir durch unsere moralische Unterstützung zum Leben verholfen hätten, ein allgemeiner Kreuzzug seitens des zivilisierten Europa erforderlich wäre, um das Unheil zu beseitigen, das sie in der Mitte unserer Zivilisation mit unserer Hilfe hätte entstehen lassen. Aus diesen Gründen kann ich mich denen nicht anschließen, die „Frieden, Frieden“ rufen. Ich kann nicht wünschen, dass der Norden diesen Krieg nicht hätte führen sollen, oder dass der Krieg, der nun geführt wird, unter irgendwelchen anderen Bedingungen beendet wird als jener, die Territorien in ihrer Gesamtheit zum freien Boden zu erklären. Sehr wohl sehe ich die Möglichkeit, dass ein langer Krieg erforderlich sein könnte, um den Hochmut der Sklavenbesitzer soweit zu schwächen und deren aggressive Absichten soweit zu zähmen, dass sie entweder zur Union zurückkehren oder sich bereit erklären, innerhalb ihrer bestehenden Grenzen außerhalb der Union zu bleiben. Aber der Krieg für eine gute Sache ist nicht das schlimmste Übel, das eine Nation erleiden kann. Krieg ist eine hässliche Angelegenheit, aber nicht die hässlichste überhaupt: Schlimmer noch wäre eine in sittlicher und patriotischer Hinsicht verkümmerte und heruntergekommene Gesinnung, der nichts wert ist, einen Krieg zu führen. Wird ein Volk als bloßes menschliches Werkzeug benutzt, um im Dienste und für die selbstsüchtigen Zwecke eines Herren Kanonen abzufeuern und mit Bajonetten zuzustoßen, dann handelt es sich um einen das Volk erniedrigenden Krieg. Ein Krieg hingegen, der andere Menschen vor tyrannischer Ungerechtigkeit schützt, ein Krieg, der den eigenen Vorstellungen des Rechten und Guten zum Siege verhilft, der des Volkes eigener Krieg ist und ehrenvoller Zwecke wegen freiwillig von ihm geführt wird, ist oftmals das Mittel seiner Erneuerung. Ein Mensch, der nichts hat, wofür er zu kämpfen bereit wäre, den nichts mehr kümmert als seine persönliche Sicherheit, ist ein elendes Geschöpf, das keine Möglichkeit besitzt, frei zu leben, es sei denn, dass er durch die Bemühungen von Menschen, die besser 24

Anmerkung des Übersetzers: Siehe dazu Richard W. Van Alstyne, The British Right of Search and the African Slave Trade, in: The Journal of Modern History, Bd. 2, Nr. 1 (März 1930), S. 37–47.

D A  A ()

273

sind als er, in diesen Zustand gelangt und in ihm verbleibt. Solange Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ihren immer wieder sich erneuernden Kampf um die Vorherrschaft in den menschlichen Angelegenheiten nicht beendet haben, müssen Menschen bereit sein, wenn erforderlich, für die eine gegen die andere zu kämpfen. Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, dass der gegenwärtig von den Amerikanern aus dem Norden geführte Kampf gänzlich diesen erhabenen Charakter besitzt, dass er bereits die Stufe eines völlig gerechten Krieges erlangt hat, eines Krieges, der des Prinzips wegen geführt wird. Von Anbeginn jedoch gehörte ihm dies als Element in erheblichem Maße zu und es tut dies noch immer. Es mehrt sich, wird sich weiter mehren und, falls der Krieg andauert, schließlich überwiegen. Sollte diese Zeit kommen, wird nicht nur die größte Ungeheuerlichkeit, die unter den Menschen als Institution noch existiert, weit eher ihren coup de grâce erhalten, als dies jemals, bis zum heutigen Tage, möglich zu sein schien, sondern werden auch die freien Staaten, indem sie dies bewirken, auf jene Stufe der Sittlichkeit und Würde erhoben worden sein, die sich großen bewusst erbrachten Opfern einer tugendhaften Sache wegen verdankt, wie auch dem Gespür, einen unschätzbaren Nutzen für alle zukünftigen Generationen vermöge ihrer eigenen freiwilligen Bestrebungen zustande gebracht zu haben. (Übersetzt von Veit Friemert und Shivaun Conroy)

X Die Macht der Sklaverei (1862)

Dieser Band1 verdient Aufmerksamkeit seines Verfassers wie auch seiner selbst wegen. Mr. Cairnes, einer der fähigsten der bedeutenden Männer, die den vielen Verleumdungen ausgesetzten irischen Kollegen Ruhm verliehen haben, wie auch dem Lehrstuhl für Politische Ökonomie, den Irland der aufklärerischen öffentlichen Gesinnung Erzbischof Whatelys verdankt, ist dem gebildeten Teil der Öffentlichkeit durch seine Diskussionsbeiträge in englischen Zeitschriften bekannt, die zu den hellsichtigsten und schlüssigsten gehören, die bisher zu einigen der strittigsten und schwierigsten Wirtschaftsfragen der Zeit erschienen sind. In einem weit umfänglicheren Werk liegt nunmehr das Ergebnis der Untersuchung vor, die er als politischer Ökonom ersten Ranges wie in der höheren Eigenschaft eines politischen und Moralphilosophen dem Kampf um die Herrschaft gewidmet hat, der in Amerika geführt wird. Schwerlich hätte ein dringender benötigtes Werk, ein solches, das den Erfordernissen der Zeit besser entspricht, gegenwärtig erscheinen können. Es bietet mehr als genug, um hinsichtlich der englischen Einstellung zu diesem Thema ein neues Kapitel aufschlagen zu können, sollten jene, welche die öffentliche Meinung leiten und beeinflussen, jemals diese Frage, die sie doch so sehr beschäftigt, erneut erwägen. Für alle, die offen für Argumente sind, bietet das Buch eine unschätzbare Darlegung sowohl der Prinzipien wie der Tatsachen des betreffenden Falls. Letzteres ist im selben Maße nötig wie ersteres: Denn die befremdliche Parteinahme einer die Negersklaverei aufs Äußerste verabscheuenden Nation für jene, die allein zum Zwecke ihrer Verbreitung einen mörderischen Krieg führen, könnte ohne ein völliges Unverständnis der Prinzipien aber auch ohne eine vollkommene Unkenntnis der Tatsachen keinen Augenblick bestehen. Wir sind der Überzeugung, dass zum gegenwärtigen Anlass der Wahrheit wie dem Recht ein besserer Dienst dadurch erwiesen wird, dass wir das Wissen um die in Mr. Cairnes’ Abhandlung dargestellten Inhalte erweitern helfen statt durch die Hinzufügung irgendwelcher Kommentare unsererseits. Mr. Cairnes erschließt das 1

Anmerkung von Mill: J. E. Cairnes, The Slave Power: It’s Character, Career, and Probable Designs: being an Attempt to explain the real Issues involved in the American Contest, London 1862, 18.

D M  S ()

275

Problem in klarsichtiger Weise und in seiner natürlichen Gliederung, wobei es in allen bedeutenderen Aspekten so erschöpfend dargestellt wird, dass eine bloße Verdichtung seines Buches eine höchst wirkungsvolle Abhandlung des Gegenstands darstellte, die im beschränkten Umfang eines Aufsatzes erfolgen könnte. Allerdings gewinnt, anders als im Falle nachlässiger und weitschweifiger Schriftsteller, seine Argumentation durch Verdichtung nicht. Vielmehr verliert sie dadurch vieles. Mr. Cairnes’ Buch ist nicht langatmig, nichts in ihm ist überflüssig. An keiner Stelle ist die Wirkung durch Überdehnung geschwächt oder das Ganze durch ungebührliche Detailversessenheit verstellt. Das Werk genügt künstlerischen wie wissenschaftlichen Ansprüchen, befolgt das Erfordernis der Ausgewogenheit, widmet den einzelnen Gegenständen weder zu viel noch zu wenig sondern genau die ihnen gebührende Aufmerksamkeit und leitet zu einem neuen Gedanken in dem Moment über, in welchem der Geist darauf vorbereitet ist, wenn nämlich die vorhergehenden Überlegungen vollständig angeeignet sind. Ein Versuch, die Substanz eines solchen Schriftwerks in gekürzter Form zu vermitteln, könnte nur die Vorstellung eines Skeletts erbringen, nicht aber die des Nervensystems und der Muskeln. Das größte Verdienst, das es haben könnte, bestände darin, den Leser zur Lektüre von Mr. Cairnes’ eigenem Werk zu bewegen. Nachdem er die eitlen Vorstellungen hinweggefegt hat, die von jenen, welche auch nur oberflächlich mit der amerikanischen Geschichte vertraut sind, niemals hätten erwogen werden können, nämlich dass sich der Streit um Zölle dreht oder um irgendetwas anderes, ausgenommen die Sklaverei, kommt Mr. Cairnes zur Hauptthese seines Buches: Die Macht der Sklaverei, in deren Eigenart und Zielen der Kampf um die Herrschaft in Amerika gründet, „ist seit mehreren Jahrhunderten der furchtbarste Widersacher des Kulturfortschritts. Sie verkörpert ein Gesellschaftssystem, das zugleich rückständig und aggressiv ist, ein System, das in sich keine Ansätze einer zukünftigen Verbesserung enthält, dagegen zwangsläufig zur Barbarei neigt, während es von der Sucht nach einer beständigen Erweiterung seines Landbesitzes angetrieben wird, einer Sucht, die seiner Lage und seinen Verhältnissen eigentümlich ist.“ [S. 18] Dies denkt ein Mann von herausragenden Fähigkeiten, der sich mit dem Gegenstand tiefgreifend befasst hat, über die neue Macht, die England vermöge des moralischen Einflusses seiner Anschauung und seines Wohlwollens zu steigern hilft. „Die Größe der in diesem Kampf auf dem Spiel stehenden Interessen scheinen mir“, so Mr. Cairnes weiter, „unter diesem Aspekt betrachtet, in diesem Land nur äußerst ungenügend erfasst zu sein. Die Absicht des vorliegenden Werkes besteht darin, diese Ansicht der Sache stärker herauszustellen, als dies bisher geschehen ist.“ [Ebd.] Entsprechend erörtert Mr. Cairnes zuerst die wirtschaftlichen Erfordernisse, unter denen die Macht der Sklaverei vermöge ihrer institutionellen Bedingungen steht.2 Sklaverei als Wirtschaftssystem ist nicht überall gewinnbringend. Sie benötigt besondere Voraussetzungen. Ursprünglich ein gemeinsames Merkmal aller angelsächsischen Siedlungen in Amerika, schlug sie Wurzeln und überdauerte allein in deren südlichem Abschnitt. 2

Anmerkung der Herausgeber: Kap. II, S. 33–58.

276

D  E  M

Wie lässt sich diese Tatsache erklären? Verschiedene Gründe hat man vorgebracht. So wurden Unterschiede in den Wesenszügen der Gründungsväter dieser Gemeinschaften erwogen: Die Gebiete Neuenglands seien hauptsächlich durch Angehörige mittlerer und ärmerer Schichten besiedelt worden, Virginia und Carolina hingegen durch die höherer Schichten. Dies war tatsächlich so, trägt aber zur Erklärung der in Frage stehenden Erscheinung kaum etwas bei, weil „die Neuengländer mit Sicherheit nicht durch moralische Bedenken an der Beschäftigung von Sklaven gehindert wurden“. Falls ihnen Sklavenarbeit als den Erfordernissen des Landes entsprechend geeignet erschienen wäre, hätte sie diese zweifellos wirklich übernommen, wie sie dies vom Prinzip her in der Tat getan haben. [S. 36] Eine andere geläufige Erklärung des unterschiedlichen Schicksals, das die Sklaverei in den Nordstaaten und den Südstaaten ereilte, besagt, das südliche Klima sei für weiße Arbeiter nicht geeignet und Neger würden ohne Sklaverei nicht arbeiten. Die letztere Hälfte der Erklärung steht im Widerspruch mit den Tatsachen. Neger sind zu arbeiten bereit, wo immer die natürlichen Anreize dafür bestehen – Anreize, die auch für die weiße Rasse unverzichtbar sind. Die Klimatheorie lässt sich auf Sklavenhalterstaaten in der Grenzregion wie Kentucky, Virginia und andere nicht anwenden, deren Klima „bemerkenswert mild und für den Arbeitseifer von Europäern vollkommen geeignet ist“. [S. 37] Selbst in den Golfstaaten trifft der vermutete Sachverhalt, gleich allen anderen Teilen der Welt, nur auf besondere Orte zu. Die Südstaaten sind, wie M. de Tocqueville bemerkte, „nicht heißer als der Süden Italiens und Spaniens“.3 Allein in Texas gibt es eine blühende Kolonie freier Deutscher, welche die Erwerbszweige des Landes, einschließlich des Anbaus von Baumwolle, durch die Arbeit von Weißen betreibt. Auch „wird nahezu die gesamte Arbeit im Freien in der Stadt New Orleans von Weißen erledigt“. [S. 38–39] Erfolg und Scheitern der Sklaverei als eines Wirtschaftssystems hängen davon ab, ob die Bewirtschaftung eines Landes an die Vorzüge und Nachteile der Sklavenarbeit angepasst werden kann. So gibt es Arten des Anbaus, für welche selbst in tropischen Regionen Sklavenarbeit nicht gewinnbringend ist. Es gibt andere, in denen Sklavenarbeit, rein aus Gründen des Gewinns, einen Vorteil gegenüber der einzigen Art freier Arbeit besitzt, welche in der Tat als ihr Konkurrent auftritt – die Arbeit freier Bauern [peasant proprietors]. Der wirtschaftliche Vorteil der Sklavenarbeit besteht darin, dass sie sich vollständig organisieren lässt. „Sie kann in großem Umfang kombiniert und durch einen Aufseher auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet werden“. [S. 44] Ihre Mängel bestehen darin, dass sie widerwillig geleistet wird, keine qualifizierte Arbeit ist und ihr die Flexibilität fehlt. Der Widerwille bedeutet, dass auf diese Arbeit nur solange Verlass ist, wie der Sklave unter Aufsicht steht. Aber die Kosten dieser Aufsicht sind zu hoch, wenn die Arbeiter über ein großflächiges Gebiet verteilt beschäftigt werden sollen. Deren Zusammenfassung oder anders gesagt der Einsatz von vielen Arbeitern zur selben Zeit am selben Ort stellt eine conditio sine qua non der Sklaverei als eines Bewirtschaftungssystems dar. Um aber erfolgreich mit jenen Arbeitern hinsichtlich der Intensität 3

Anmerkung der Herausgeber: Cairnes, S. 38, Anm. Der Autor zitiert hier aus Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique (4 Bde., Paris 1835–1840, Bd. II, S. 336) in eigener Übersetzung.

D M  S ()

277

und Sparsamkeit konkurrieren zu können, welche sich des ganzen Ertrags ihrer eigenen Arbeit erfreuen, muss diese Zusammenfassung und Kombination von Arbeit nicht allein möglich sondern auch wirtschaftlicher sein. Der zweite Nachteil der Sklavenarbeit besteht in ihrer fehlenden Qualifikation – „nicht nur, weil der Sklave, der kein Interesse mit seiner Arbeit verbindet, keinen Anreiz besitzt, seine höheren Fähigkeiten auszuüben, sondern deshalb, weil ihm aufgrund der Unkenntnis, zu der er verdammt ist, die Möglichkeiten dazu verwehrt sind“. [S. 45] Dieser Ausschluss beschränkt die Wirtschaftlichkeit der Sklaverei auf den Fall reiner ungelernter Arbeit. „Der Sklave ist ungeeignet für jeden Zweig der Erwerbstätigkeit, der das geringste Maß an Sorgfalt, Voraussicht oder Gewandtheit erfordert. Man kann ihm keine Maschine anvertrauen sondern nur die gewöhnlichsten Arbeitsmittel. Allein zu gröbster Arbeit ist er fähig.“ [S. 46] Der dritte Mangel der Sklavenarbeit – die fehlende Flexibilität – ist nichts als eine Abart des zweiten. „Die Schwierigkeit, dem Sklaven etwas zu lehren, ist so groß, dass die einzige Möglichkeit, seine Arbeit wirtschaftlich zu gestalten, darin besteht, es bei dem, was er einmal gelernt hat, für sein ganzes Leben zu belassen. Wo Sklaven beschäftigt werden, kann es deshalb keine Produktionsvielfalt geben. Wird Tabak angebaut, so wird Tabak zur einzigen Einnahmequelle und unabhängig vom Zustand des Marktes wie des Bodens angebaut.“ [S. 46–47] Nicht als eine nur theoretische Angelegenheit sondern als wirkliche alltägliche Erfahrung wird all dies, wie Mr. Cairnes zeigt, durch Zeugnisse aus den Südstaaten überreichlich belegt.4 Daraus folgt erstens, dass Sklavenarbeit für den Manufakturbetrieb ungeeignet ist und im Wettbewerb mit freier Arbeit gewinnbringend nur in einem ausschließlich landwirtschaftlich geprägten Gemeinwesen betrieben werden kann. Sie ist zweitens aber selbst in landwirtschaftlichen Arbeitsverhältnissen dort nicht geeignet, wo Landarbeiter über eine weite Fläche verteilt arbeiten oder ohne großen wirtschaftlichen Nachteil arbeiten könnten. Darunter fallen nahezu alle Arten des Getreideanbaus, einschließlich der beiden Hauptquellen der freien Staaten: Mais und Weizen. „Ein einzelner Landarbeiter kann zwanzig Acres Weizen oder Mais bewirtschaften, jedoch nicht mehr als zwei Acres Tabak oder drei Acres Baumwolle.“ [S. 50] Tabak und Baumwolle erlauben also die Beschäftigung einer großen Anzahl von Arbeitern innerhalb eines überschaubaren Gebietes. Weil der Anbau von Tabak und Baumwolle aber auch in weit größerem Maße als jener von Weizen oder Mais seinen Gewinn aus der Kombination und Untergliederung der Arbeit zieht, ist der Vorteil, welcher der Sklavenarbeit eigentümlich ist, dort am größten, wo sein größter Nachteil, die hohen Kosten der Aufsicht, auf ein Mindestmaß reduziert ist. Es sind diese Anbausorten sowie Zuckerrohr und Reis, auf die sich die Sklavenarbeit in Amerika praktisch beschränkt. So gilt selbst für die Südstaaten, dass sich immer dann, wenn die „äußeren Bedingungen besonders günstig für den Getreideanbau sind, wie in Teilen von Virginia, Kentucky und Missouri sowie an den Hängen des Alleghany-Gebirges, die Sklaverei nicht erhalten konnte“. [S. 52] Jedoch ist eine ihm angemessene Art der Bewirtschaftung nicht die einzige Bedingung, die das System der Sklaverei für seine Wirtschaftlichkeit benötigt. Es verlangt darüber hinaus einen unbegrenzten Umfang besonders ertragreichen Landes. Dies resultiert aus den beiden anderen Gebrechen der Sklavenarbeit: ihrer fehlenden Qualifikation 4

Anmerkung der Herausgeber: Kap. II, passim.

278

D  E  M

und ihrem Mangel an Flexibilität. Diesen Gedanken, der von größter Wichtigkeit ist und der Hauptthese des Autors die Grundlage bildet, geben wir hier in seinen eigenen Worten wieder: „Sind die Böden nicht ertragreich, hat die Bewirtschaftung durchdacht zu sein. Ein größeres Kapital wird aufgewendet und mit der Zunahme des Kapitals werden die Abläufe der Bewirtschaftung vielschichtiger wie die landwirtschaftlich genutzten Werkzeuge feingliedriger und empfindlicher. Solche Werkzeuge kann man Sklaven nicht anvertrauen und für Abläufe solcher Art sind sie nicht geeignet. Deshalb lässt sich nur dort, wo die natürliche Fruchtbarkeit des Bodens so groß ist, dass sie die Minderwertigkeit der Bewirtschaftung wettmacht, wo die Natur so viel bewerkstelligt, dass der Geschicklichkeit nichts zu tun bleibt und das Erfordernis komplizierterer Produktionsabläufe überflüssig wird, die Sklavenarbeit in eine positive Rechnungsbilanz überführen. Ferner benötigt die Sklaverei als dauerhaftes Produktionssystem nicht schlichtweg fruchtbaren Boden, sondern diesen in praktisch unbegrenztem Ausmaß. Geschuldet ist dieses Problem dem der Sklavenarbeit eigenen Mangel an Flexibilität. Wie bereits bemerkt, ist die Schwierigkeit, dem Sklaven etwas beizubringen – eine Schwierigkeit, die sich aus der erzwungenen Unkenntnis ergibt, in der er gehalten wird, verbunden mit dem Mangel an einsichtsvollem Interesse an der Arbeit –, so groß, dass sein Tun nur dann gewinnbringend werden kann, wenn man es für sein ganzes Leben bei dem belässt, was er einmal gelernt hat. Wenn folglich landwirtschaftliche Arbeiten durch Sklaven ausgeführt werden, ist die Tätigkeit einer Arbeitskolonne stets darauf beschränkt, ein einzelnes Erzeugnis zu erwirtschaften. Welche Kulturpflanze auch immer für den Boden wie die Eigenart der Sklavenwirtschaft die geeignetste zu sein scheint – ob Baumwolle, Tabak, Zuckerrohr oder Reis –, diese Pflanze, und nur diese, wird angebaut. Eine Fruchtfolge ist der Natur des Falls wegen ausgeschlossen. Der Boden wird immer wieder aufs Neue für den Anbau des gleichen Produkts genutzt, mit dem zwangsläufig folgenden Ergebnis. Nach wenigen Jahren ist der Boden vollständig unfruchtbar, der Plantagenbesitzer gibt ihn, den er vernutzt hat, auf und zieht nach neuen Böden suchend weiter, die jene Fruchtbarkeit besitzen, die dafür erforderlich ist, um die ihm zur Verfügung stehenden Werkzeuge überhaupt gewinnbringend zu verwenden.“ [S. 53–56] Der Ruin und vielfach auch die völlige Preisgabe dessen an die Natur, was vormals das Gewinnbringendste der älteren auf Sklaverei beruhenden Staaten war, sind klar erkennbare Tatsachen, die von Sklavenhaltern zugegeben und laut verkündet werden. Daraus ergibt sich jener dringende Bedarf an beständiger Ausweitung des Bereichs der Sklaverei, jene unaufhörliche Neigung, westwärts vorzurücken und der unablässige Kampf, den Sklavenhaltern und ihrem menschlichen Eigentum neue Gebiete zu erschließen, ein Kampf, der sich mit der Ausweitung des Baumwollanbaus ausgeweitet hat und der mit seiner Stärke zugleich heftiger geworden ist, der die Einnahme von Texas bewirkte, den Krieg mit Mexiko, die räuberischen Expeditionen nach Mittelamerika und die blutige

D M  S ()

279

Auseinandersetzung um Kansas – dieser Kampf ist das einzige, die Politik der Südstaaten im letzten Vierteljahrhundert bestimmende Prinzip. Weil sich die Nordstaaten diesem Prinzip, obwohl sehr spät, widersetzten, entschieden die Baumwollstaaten, den Bund mit der Union zu brechen. Dies sind die wirtschaftlichen Verhältnisse der auf Sklavenarbeit beruhenden Gemeinwesen wie jenen der Südstaaten. Im weiteren Verlauf seiner Argumentation möchte der Autor zeigen, wie dieses Wirtschaftssystem eine gesellschaftliche und politische Ordnung erzeugt, die im höchsten Maße dazu angetan ist, die Übel zu vergrößern, die ursprünglich dem Wirtschaftssystem selbst geschuldet waren. „Der einzige Verdienst der Sklavenarbeit als eines Wirtschaftsinstruments besteht, wie wir sahen, in ihrem Organisationsvermögen, ihrer Fähigkeit, genau auf die zu erledigende Arbeit ausgerichtet werden zu können, und in ihrer Orientierung auf ein klar durchdachtes Ziel gemäß eines umfassenden Plans. Um nun diese Eigenschaft zur Anwendung zu bringen, muss in umfassendem Maße gewirtschaftet werden. Dafür wiederum sind große Kapitalvermögen erforderlich […].“ [S. 66] Ferner benötigt ein Kapitalist, der Sklavenarbeit einsetzt, Geldmittel nicht allein für den Unterhalt seiner Sklaven. Er hat nämlich zuerst das Eigentumsrecht [fee-simple] an den Sklaven käuflich zu erwerben. „Dieser Gründe wegen sind große Kapitalvermögen, im Vergleich mit kleinen genommen, gewinnträchtiger. Gleichzeitig sind sie in jenen Staaten über die Maßen mehr erforderlich, die auf Sklavenarbeit beruhen, als in solchen mit freier Arbeit. Allerdings sind Kapitalvermögen in Sklavenhalterstaaten nun einmal besonders knappe Güter, was sich teilweise dadurch erklärt, das viele Weisen seiner Erzeugung hier ausgeschlossen sind – Manufakturproduktion z. B. oder Handel –, die freien Gemeinschaften hingegen offenstehen. Teilweise erklärt sich diese Verknappung aber auch aus der Verschwendung der Oberschichten, was ebenfalls Folge der Institution ist. Aus diesen Zuständen ergeben sich zwei Erscheinungen, die man als typisch für Unternehmen betrachten kann, die mittels Sklaven wirtschaften: die Größe der Plantagen und die Schuldenlast ihrer Besitzer. Überall da, wo in modernen Zeiten die Negersklaverei vorherrscht, wird man diese beiden Erscheinungen finden. ‚Unsere reicheren Plantagenbesitzer‘, sagt Mr. Clay, ‚kaufen ihre ärmeren Nachbarn auf, erweitern ihre Pflanzungen und wenden zusätzliche Sklavenarbeit an. Die wohlhabenden Wenigen, die von geringeren Gewinnen leben und ihre verdorrten Felder schonen können, verstoßen dadurch die Vielen, die nichts als ungebunden sind.‘5 Gleichzeitig sind bekanntermaßen die allermeisten dieser reicheren Plantagenbesitzer verschuldet, ist die kommende Ernte zum Großteil an Kapitalisten der Nordstaaten verpfändet, welche die nötigen Vorschüsse tätigen und somit in beträchtlichem Maße für die Aufrechterhaltung der Skla5

Anmerkung der Herausgeber: Clement Claiborne Clay, „Addresss Delivered before the Chunnenuggee Horticultural Society of Alabama“, De Bow’s Review, o.s. XIX, Dezember 1855, S. 727.

280

D  E  M venarbeit in den Südstaaten sorgen. Deshalb neigen die Sklavenhalterstaaten zu einer sehr ungleichen Verteilung des Reichtums. Die Großkapitalisten, die einen beständigen Vorteil gegenüber ihren kleineren Konkurrenten besitzen, nehmen mit der Zeit einen immer größeren Teil des gesamtwirtschaftlichen Vermögens des Landes in Beschlag und erlangen allmählich die Kontrolle über seine Volkswirtschaft. Die vorherrschende Schicht befindet sich derweil im Zustand genereller Verschuldung.“ [S. 66–71]

Neben diesen Großgrundbesitzern und Sklavenhaltern entsteht ein weißes Proletariat schlimmster Art, das in der Phraseologie der Südstaaten als „mean whites“, „schäbige Weiße“, oder „white trash“, „weißes Gesindel“, bekannt ist.6 Die weiten (und unter den negativen Auswirkungen der Sklavenwirtschaft ständig größer werdenden) Landstriche, die der Natur überlassen werden und ihr wieder anheimfallen, „ sind Zufluchtsorte einer zahlreichen Ansammlung von Menschen, die – zu arm, um Sklaven zu halten, und zu hochmütig, um zu arbeiten, – ein unstetes und gefährdetes Leben in der Einöde den Beschäftigungen vorziehen, die sie mit den von ihnen verachteten Sklaven in Verbindung bringen würden. In den Südstaaten sollen gegenwärtig nicht weniger als fünf Millionen Menschen auf diese Weise existieren, unter Bedingungen, die sich kaum vom Leben Wilder unterscheiden. Sie schlagen sich durchs Leben und sichern ihren dürftigen Unterhalt durch Jagd, Fischfang, Gelegenheitsarbeiten und Raub. In diesen Menschen verbindet sich die Unruhe und Verachtung gewöhnlichen Fleißes, die dem Wilden eignet, mit den Übeln des proletaire zivilisierter Gemeinwesen. Sie bilden eine Schicht, die so heruntergekommen wie gefährlich ist, die in ihrer Eigenart gestärkt wird durch den Zulauf all jener, die in den Nachbarstaaten untätig, nutz- und gesetzlos leben, und die ein unerschöpfliches Potential an Brutalität bieten, das all den schlimmsten Absichten südstaatlichen Ehrgeizes sofort dienstbar ist. Die Plantagenbesitzer lamentieren über die Trägheit dieser Menschen, beschweren sich darüber, dass sie ihre Sklaven korrumpieren, beklagen ihre diebischen Neigungen – können auf sie aber nicht verzichten. Denn in Wirklichkeit erfüllen diese Menschen eine unerlässliche Aufgabe in der Wirtschaftsordnung der Sklavengesellschaften, deren Opfer wie deren hauptsächliche Unterstützer sie gleichzeitig sind. Aus ihren Reihen werden jene Freibeuterexpeditionen rekrutiert, die sich als ein so wirksames Mittel zur Ausdehnung des Machtbereichs der Sklaverei erwiesen haben. Sie liefern die „border ruffians“, die Schläger in der Grenzregion, die in dem gegen die Nordstaaten geführten Kampf um die Besiedlung mit den Freesoilers, den Freibodenmännern, um die Territorien ringen. Ihrer Abneigung den Negern gegenüber verdankt sich das feste Vertrauen der Plantagenbesitzer, jeden Versuch eines Aufstands der Unterworfenen unterdrücken zu können.“ [S. 75– 76]

6

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Cairnes, S. 76.

D M  S ()

281

So stellt sich der Gesellschaftsaufbau in den Sklavenhalterstaaten folgendermaßen dar: „[S]ie gliedern sich in drei Schichten – die Sklaven, denen die reguläre Wirtschaftstätigkeit zufällt, den Sklavenhaltern, die deren gesamten Gewinn einstreichen sowie ein faules und gesetzloses Gesindel, das über die weiten Ebenen verstreut unter Bedingungen lebt, die kaum von denen absoluter Barbarei verschieden sind.“ [S. 85] Die politische Struktur einer so aufgebauten Gesellschaft ist von einem erbarmungslosen Gesetz bestimmt. „Wenn der gesamte Reichtum eines Landes von einem Dreißigstel seiner Bevölkerung vereinnahmt wird, während die übrigen körperlicher oder charakterlicher Gründe wegen zu Elend und Unwissen verdammt sind, wenn die Personen, welche das bevorrechtigte Dreißigstel ausmachen, alle den gleichen Beschäftigungen nachgehen, unter Einfluss derselben Moralvorstellungen stehen und mit der Verwaltung derselben Art Eigentum identifiziert werden, dann wird die politische Macht notwendigerweise bei jenen liegen, in deren Händen die Elemente einer solchen Macht konzentriert sind: Reichtum, Wissen und Verstand – also bei jener kleinen Minderheit, zu deren Nutzen allein das System besteht. Der Staat einer solchen Gesellschaft muss folglich wesentlich oligarchisch sein, wie immer auch die besondere Form sein mag, in die er gebracht wurde. Dies ist aber noch nicht alles. Eine auf diese Weise verfasste Gesellschaft neigt dazu, mit einer merkwürdigen Heftigkeit die Fehler auszuprägen, die für Oligarchien eigentümlich sind. In einem Land mit freier Arbeit hingegen gibt es mannigfaltige Erwerbsweisen, ganz gleich, wie das Land regiert wird. Deshalb schlagen hier verschiedene Interessen Wurzeln, entwickeln sich verschiedene Parteien, die nationale Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtend zu Zentren des Widerstands werden, der sich entweder gegen die unzulässigen Ansprüche richtet, die jemand aus ihrer Mitte oder ein einzelner Herrscher erhebt. In den auf Sklaverei beruhenden Staaten verhält sich das anders. Hier besteht nicht jene Interessenvielfalt, die sich aus individuellen Antrieben einer freien Bevölkerung ergibt. Die Elemente des politischen Widerstands fehlen. Es gibt nur eine Partei, nur eine Gruppe von Menschen, die politisch gemeinsam zu handeln in der Lage sind. Alle übrigen sind ungesittetes Gesindel. Das einzig mögliche Ergebnis dieser Sachlage ist das, was wir vorfinden: die Despotie einer Minderheit von Reichen, zutiefst gewissenlos und darauf versessen, Herrschaft auszuüben. [...] Um in wenigen Worten das allgemeine Ergebnis der vorausgehenden Diskussion zusammenzufassen: Die Macht der Sklaverei – jene Macht, die für lange Zeit das Staatsruder der Union in der Hand hatte – ist die im Gewande einer Demokratie auftretende unkontrollierte Despotie einer Oligarchie, deren Mitglieder eng miteinander verbunden sind. Gestützt auf die Arbeit von vier Millionen Sklaven herrscht sie über eine Bevölkerung von fünf Millionen Weißen – eine Bevölkerung, die unwissend ist, geordneter Beschäftigung gegenüber unwillig, ordnungswidrigem Abenteurertum hingegen zugeneigt. Ein für das Übel großartigeres Gesellschaftssystem, ein solches, das die besten Interessen der Menschengattung mehr bedroht, ist kaum vorstellbar.“ [S. 85–87, 92]

282

D  E  M

Bestehen im nunmehr vorgestellten gesellschaftlichen und politischen System irgendwelche fortschrittlichen Momente, gibt es irgendwelche Eigenschaften, die begründet auf eine letztliche, wenn auch allmählich erfolgende Beseitigung der ihm anhaftenden Übel hoffen lassen? Mr. Cairnes hat überzeugend dargestellt, dass das genaue Gegenteil zutrifft. Statt sich auf die Höhe freier Gesellschaften zu heben, sind diese Gemeinwesen durch herrische Antriebe höchsten Grades dazu genötigt, freie Gesellschaften wenn möglich zu sich herabzuziehen. Vielleicht ließe sich denken, die Sklaverei in Amerika werde auf rein natürlichem Wege das Schicksal der Sklaverei andernorts teilen. Einst war die Institution der Sklaverei allgemeingültig. Dennoch ist die Menschheit vorangeschritten. Die fortschrittlichsten Gemeinschaften der alten und modernen Welt – die Griechen, Römer, Hebräer und Europäer des Mittelalters – waren von dieser Geißel befallen, konnten sich jedoch vermöge des natürlichen Entwicklungsprozesses von ihr befreien. Warum sollte dies, so könnte man fragen, nicht auch im Falle der Südstaaten geschehen? Träfe dies zu, wäre nicht der Versuch, den natürlichen Fortschritt vorwegzunehmen und die Befreiung schneller vorankommen zu lassen, als eine Bereitschaft dafür besteht, voller Unheil selbst für die unterdrückte Rasse? Mr. Cairnes ist sich der ganzen Bedeutung dieser Frage bewusst. Kein Abschnitt seines Buches ist lehrreicher und meisterhafter geschrieben als das Kapitel, in dem er mit ihr ringt.7 Wie er zeigt, bestehen „zwischen der Sklaverei, die in klassischer Zeit und dem Mittelalter bestand, und dem System, das sich jetzt herausfordernd in Nordamerika aufrichtet“, solch tiefsitzende Unterschiede, dass die Annahme einer Ähnlichkeit zwischen beiden völlig unmöglich ist. [S. 98] Der erste Unterschied betrifft die grundlegende Tatsache der Verschiedenheit der Hautfarbe moderner Sklaven und ihrer Herren. In der alten Welt wurden Sklaven, wenn sie die Freiheit erlangt hatten, ein fester Bestandteil der freien Gesellschaft. Deren Nachkommen waren nicht nur keine abgesonderte Schicht sondern die Hauptquelle, aus der die Angehörigen der freien Gemeinschaft kamen. Es gab keinen rechtlichen oder sittlichen Hinderungsgrund, der ihnen verwehrte, die höchsten gesellschaftlichen Positionen zu erlangen. Im Unterschied dazu überträgt in Amerika der befreite Sklave das äußere Zeichen seiner früheren Erniedrigung auf all seine Nachfahren. Wie sehr der Freiheit auch würdig, sind sie doch gebrandmarkt, womit verhindert ist, dass sie mit der Masse der Freien auf unmerkliche Weise harmonieren. Solange diese abstoßende Verbindung überdauert, wird sie ein zusätzliches Hindernis für die Befreiung jener von ihren Herren bilden, welche es selbst nach deren Befreiung nicht ertragen können, sie als ihre Mitbürger zu betrachten. Ein anderer Unterschied zwischen alter und moderner Sklaverei, welcher die in Rede stehende Frage noch enger betrifft, erwächst aus der immensen Entwicklung des internationalen Handels in der modernen Zeit. „Solange jede Nation hauptsächlich vom Fleiß ihrer eigenen Leute abhängig war, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, gab es einen starken Anreiz dafür, den Verstand der arbeitenden Schichten und deren Lebensverhältnisse zu he7

Anmerkung der Herausgeber: Kap. IV, „Tendencies of Slave Societies“, S. 93–118.

D M  S ()

283

ben. Die Güter, welche für Annehmlichkeiten und Luxus sorgen, lassen sich ohne qualifizierte Arbeit nicht herstellen. Zu qualifizierter Arbeit gehört jedoch ein bestimmtes Maß geistiger Bildung wie gesellschaftlicher Achtung. Um in den komplizierteren Handwerkskünsten erfolgreich zu sein, hat der Arbeiter seinen Beruf zu achten, muss er sich für seine Arbeitsaufgabe interessieren, müssen Gewohnheiten der Sorgfalt, Bedachtsamkeit und Voraussicht erworben sein – kurz gesagt, muss man dieses allgemeine verstandesmäßige und sittliche Vermögen erwecken, weil das die Menschen zwangsläufig für eine unterwürfige Lebenslage disqualifiziert, indem sie zu einem Wissen um ihre Rechte und Mittel geführt werden, diese durchzusetzen. Das war die Stellung, in der sich der Sklavenhalter in der alten Welt befand. In allem, was er benötigte, war er wesentlich vom Können seiner Sklaven abhängig. Das brachte ihn naturgemäß dazu, die Fertigkeiten seiner Sklaven zu entwickeln und folglich allgemein ihre Lebensverhältnisse zu befördern. Sein Fortschritt im Genuss der materiellen Annehmlichkeiten der Zivilisation war unmittelbar abhängig von den Fortschritten, die sie hinsichtlich des Wissens wie der gesellschaftlichen Achtung erzielten. Folglich war es nirgendwo in der alten römischen Welt untersagt, Sklaven Bildung zu vermitteln, und in der Tat erfreuten sich nicht wenige von ihnen des Vorzugs einer hohen Bildung. ‚Heranwachsende mit verheißungsvoller Begabung‘, sagt Gibbon, ‚wurden in den Künsten und Wissenschaften unterwiesen. Nahezu ein jeder Stand, ob den freien oder handwerklichen Berufen zugehörig, mag im Haushalt eines vermögenden Senators vertreten gewesen sein.‘8 Im Unterschied dazu sind moderne Sklavenhalter nicht auf das Können, somit auch nicht auf den Verstand und die gesellschaftlichen Fortschritte ihrer versklavten Bevölkerung angewiesen. Was sie allein benötigen, ist ein Gut, das durch ungelernte Arbeit herstellbar ist, und zugleich auf den Märkten der Welt stark nachgefragt wird. Indem sie ihre Sklaven für die Herstellung dieses Gutes verwenden, können sie dies, durch Warentausch mit anderen Ländern, dazu nutzen, sich all das zu beschaffen, nach dem sie verlangen. Baumwolle und Rohrzucker zum Beispiel sind Güter, die diesen Bedingungen entsprechen. Sie lassen sich durch ungelernte Arbeit gewinnen und werden weltweit stark nachgefragt. Folglich brauchen Alabama und Louisiana nur ihre Sklaven diese Erzeugnisse herstellen lassen, und diese ihre Mittel verschaffen ihnen die wirtschaftlichen Erzeugnisse aller Handel treibenden Nationen. Ohne auch nur eine der Künste oder Verfeinerungen der Kultur ausbilden zu müssen, können sie sich aller materiellen Annehmlichkeiten bemächtigen, die diese Kultur bietet. Ohne einen Kunsthandwerker, Handwerker, Facharbeiter irgendeines Bereiches zu beschäftigen, sind sie in der Lage, Erzeugnisse höchsten handwerklichen und fachlichen Könnens zu erwerben.“ [S. 100–103]

8

Anmerkung der Herausgeber: Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 6 Bde., London 1776–1788, Bd. I, S. 42.

284

D  E  M

Es gibt somit keine Anreize für die Ausbildung des Verstandes der Sklaven. Folglich konnten sich die immer bestehenden mächtigen Beweggründe gegen die Erlaubnis, ihn ausbilden zu lassen, problemlos durchsetzen. In den wichtigsten Sklavenhalterstaaten ist es streng verboten, einen Sklaven lesen oder schreiben zu lehren – unter Androhung härtester Strafe für den Lehrenden wie den Lernenden.9 Es gibt aber noch eine andere Unterscheidung zwischen der Sklaverei in alter und in moderner Zeit. Diese betrifft „die Stellung, die der Sklavenhandel in der Organisation moderner Sklaverei einnimmt. Auch in der Antike wurde Sklavenhandel betrieben, und zwar mit ziemlicher Grausamkeit. Vergeblich aber suchen wir in den antiken Aufzeichnungen nach einem Handel, der seinem Umfang, seiner strengen Organisation, vor allen Dingen jedoch seiner Rolle nach, die er für den allgemeinen Unterhalt von Ländern spielt, die menschliche Arbeit erzeugen und verbrauchen, zurecht als mit dem modernen Sklavenhandel vergleichbar betrachtet werden kann – jenem organisierten System, das zwischen Guinea und der amerikanischen Küste betrieben wird, und jenem zwischen Virginia, dem Guinea der Neuen Welt, und den Sklaven verzehrenden Staaten des Südens und des Westens.“ [S. 107–108] Die barbarische Unmenschlichkeit des Sklavenhandels ist seit langem bekannt. Nicht so häufig bemerkt worden ist jedoch, in welcher Weise er zur Geschlossenheit und Festigkeit der Ordnung beiträgt, zu welcher er gehört. Er trägt erstens dazu bei, „indem er Mittel gesunder Länder einführt und als Ergänzung vernutzten menschlichen Lebens in ausgedörrten Landstrichen bereitstellt, und zweitens, indem er Sklavenhaltern eine neue Profitquelle erschließt, die es diesen ermöglicht, die Institution der Sklaverei aufrechtzuerhalten, die andernfalls, ohne diese Quelle, unrentabel würde und wegfiele“. [S. 109] Als folglich in Virginia die Sklaverei die Böden und damit die eigenen Gewinne aufgebraucht sowie die Rekolonisierung des Staates durch freie Siedler in der Tat eingesetzt hatte, wurde plötzlich der Sklavenhandel mit Afrika untersagt und nahezu gleichzeitig, durch den Ankauf von Louisiana, eine enorme Ausweitung des Gebietes für die Sklavenarbeit möglich. Diese beiden Ereignisse machten aus der Sklaverei in Virginia wieder ein einträgliches Geschäft, nämlich als Mittel zur Vermehrung von Sklaven zwecks Ausfuhr und Verkauf in den Süden. Weil es diese ergiebige Brutstätte gibt, welche die Anzahl der Sklaven auf hohem Niveau hält und erhöht, und zwar angesichts der grässlichsten Sterblichkeit an den Orten, an die sie gebracht werden, kann die Sklaverei, wie sie alte Gebiete aufbraucht, auf neue übergehen und damit die Bevölkerungskonzentration verhindern, die durch den Entzug der Mittel, die den „schäbigen Weißen“ ein Leben ohne reguläre Arbeit möglich machen, bewirken könnte, dass aus diesen nützliche Arbeiter werden und sich allmählich die Arbeit der Sklaven durch freie Arbeit ersetzen ließe, statt dass diese Weißen, wie gegenwärtig der Fall, „noch nutzloser, noch unberechenbarer, noch widerspenstiger“ werden als selbst die Sklaven es sind [S. 126]. Folglich wächst unter diesen Bedingungen die Bevölkerung nur durch Verteilung. In den Sklavenhalterstaaten im engeren 9

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Cairnes, S. 104–107.

D M  S ()

285

Sinne beträgt die höchste Bevölkerungsdichte fünfzehn Personen pro Quadratmeile – ein Zustand, angesichts dessen „Volksbildung undurchführbar wird. Straßen, Kanäle, Eisenbahnverbindungen wären hier zwangsläufig Fehlinvestitionen“ [S. 129] (in South Carolina „erzählte man von einem Zug, der auf einer Strecke von einhundert Meilen einen einzigen Fahrgast befördert“ [S. 131]). Alle kultivierenden Kräfte, alle jene, die darauf hinwirken könnten, den Fortschritt auch auf die Massen der armen weißen Bevölkerung zu übertragen, sind nicht vorhanden. Es bleiben die Sklavenhalter selber als eine mögliche Quelle der Verbesserung der Sklavengesellschaft; es bleibt die Wahrscheinlichkeit, wie groß auch immer sie sei, dass diese ohne äußeren Zwang veranlasst werden können, ihre Sklaven freizulassen, oder diese und jene Maßnahme zu ergreifen, die Sklaven auf die Freiheit vorzubereiten. Ein Einzelner hier oder da mag rechtschaffend genug sein, dies zu tun, falls die Meinung derer, unter denen er lebt, ihrer allgemeinen Einstellung nach dies zulässt. Keiner aber wird, so nehmen wir an, so einfältig sein, dieses Opfer von der gesamten Herrschaftsschicht einer Nation zu erwarten, am wenigsten von jener der auf Sklaverei beruhenden Staaten, der die Aufrechterhaltung der Sklaverei zu einer Angelegenheit gesellschaftlicher Überheblichkeit und politischer Begierde geworden ist, an der sie gleichermaßen finanziell interessiert sind. „Die Sklaverei wird von ihren Anhängern nicht einfach als nutzbringendes Werkzeug gewürdigt. Sie schätzen diese Ordnung weit eher ihrer gesellschaftlichen und politischen Ergebnisse wegen, als Mittel zur Aufrechterhaltung einer Gesellschaftsform, in der Sklavenhalter die einzigen Verwahrer gesellschaftlicher Anerkennung und politischer Macht sind, als Schlussstein eines Gebäudes, über das sie gebieten. Die Abschaffung der Sklaverei würde die Einführung einer neuen Ordnung bedeuten, in welcher die Vorherrschaft jener Männer, die gegenwärtig den Süden regieren, beendet wäre. Rasch käme es zum Zuzug aus verschiedenen Teilen des Landes. Die Plantagenbesitzer und ihre Anhänger würden sich schnell in ihrem alten Herrschaftsgebiet als eine verzweifelte Minderheit wiederfinden. Neue Interessen würden fußfassen und sich entfalten, neue gesellschaftliche Ideen keimen und neue politische Bündnisse geformt werden. Macht und Erwartungen jener Partei jedoch, die für lange Zeit die Politik der Union beherrschte, sich jetzt aber von dieser Union loszureißen sucht, um freie Bahn für die Verfolgung kühnerer Pläne zu bekommen, wären für immer Geschichte.“ [138–139] Folglich ist der Süden von der maßvollen Verteidigung der Sklaverei, die er vor einer Generation vertreten hatte, dazu übergegangen, sie lautstark als sittliche, zivilisierende, in jeder erdenklichen Weise heilsame Ordnung zu preisen, als nicht nur den Negern, sondern allen hart arbeitenden Schichten aller Länder angemessene Lebenslage, gar als Verfügung Gottes, als heiliges Gut, das den Amerikanern des Südens schicksalhaft zur Verwahrung übereignet wurde, um es zu erhalten und zu mehren.10 Lange schon sind die Bestrebungen der Herrscher der Südstaaten darauf gerichtet, sich vor den wirtschaftlichen Unannehmlichkeiten der Sklaverei in einer Weise zu schützen, 10

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Cairnes, S. 142–144.

286

D  E  M

die das direkte Gegenteil ihrer Vernichtung oder ihrer Mäßigung wäre. Der Sklaverei immer mehr Land zur Verfügung zu stellen, ist das einzige Ziel ihrer politischen Strategie und, wovon sie fest überzeugt sind, die Grundlage ihres eigenen gesellschaftlichen Daseins. „‚Jeder Sklavenhalter‘, sagt Richter Warner aus Georgia“, und indem er dies sagt, gibt er nur der allgemeinen Überzeugung Ausdruck, „in diesem Haus und außerhalb dessen weiß nur allzu gut, dass die Einfriedung der Sklaverei innerhalb festgelegter Grenzen deren Zukunft besiegelt. Deren letztliche Zerstörung ist dann nur noch eine Frage der Zeit. Man nehme irgendeinen von der Sklaverei lebenden Bezirk in den Südstaaten, in dem die Hauptgüter Baumwolle und Rohrzucker in irgendeinem nennenswerten Umfang angebaut werden. Man schließe die gegenwärtige Sklavenbevölkerung in die Grenzen dieses Bezirks ein. Der natürliche Bevölkerungszuwachs ist so groß und die Erschöpfung des Bodens beim Anbau dieser Pflanzen (die in so hohem Maße zum Handelsreichtum des Landes beitragen) erfolgt so schnell, dass es innerhalb weniger Jahre unmöglich wäre, die Bevölkerung innerhalb der Grenzen eines solchen Bezirks zu ernähren. Sklavenhalter und Sklave würden durch Verhungern aussterben. Was in irgendeinem Bezirk geschehen würde, wäre auch die Wirkung in allen Sklaverei betreibenden Staaten. Die Sklaverei lässt sich nicht innerhalb bestimmter Grenzen halten, ohne den Untergang des Sklavenhalters wie des Sklaven herbeizuführen. Sie benötigt neue Ländereien, reichlich Holz und Wasser, nicht allein für die Annehmlichkeit und Zufriedenheit des Sklaven sondern auch zum Nutzen des Besitzers.“11 Und dies ist die Meinung der Befürworter der Sklaverei! Was jedem, der kein Sklavenhalter ist, augenblicklich eine reductio ad absurdum sowie die bitterste Satire auf die Moral der Sklaverei wäre, wird von ihnen vorgebracht – so denken eben diese Leute – als ein unanfechtbares Argument für den Erwerb neuer Gebiete für die Sklaverei in dem Maße, wie sie alte erschöpft, und zwar bis zu dem Punkt, an dem der restliche Boden unseres Planeten, so vermuten wir, aufgebraucht und entvölkert ist. Selbst dann, wenn sie nicht das Geldinteresse zu diesem aggressiven Ehrgeiz triebe, läge hinreichend Anreiz dazu in jenen Leidenschaften, welche die natürlichen Auswüchse der Sklavenhaltergesellschaft sind. „Was der Bedarf an neuem Boden für die politische Ökonomie dieser Gemeinschaften darstellt, bildet die Gier nach Macht für ihre Moral. Von Kindesbeinen an lebt der Sklavenhalter in einer Atmosphäre der Despotie. Um sich herum sieht er nichts als jämmerliche Kreaturen, die unter Androhung von durch ihn vollstreckte schreckliche Strafen gezwungen sind, ihm auch den kleinsten wie den unzumutbarsten Wunsch zu erfüllen.“ [S. 155] Jefferson zufolge – selbst Sohn eines Sklavenbesitzers, der zum Sklavenbesitzer heranwuchs – ist der Umgang zwischen Sklavenhalter und Sklave

11

Anmerkung der Herausgeber: Cairnes zitiert hier, S. 151–152, aus: Hiram Warner, Speech on Slavery in the Territories (1. April 1856, House of Representatives), Appendix to the Congressional Globe, 34. Congress, Sess. I, 1856, Washington 1856, 299–300.

D M  S ()

287

„vom beständigen Ausleben der wildesten Leidenschaften geprägt: der unaufhörlichen Tyrannei einerseits und der entwürdigenden Erniedrigung auf der anderen. Unsere Kinder sehen das und beginnen es nachzuahmen. Der Vater wütet und das Kind schaut zu, macht sich die Charakterzüge des Zorns zu eigen, zeigt dasselbe Gebaren im Kreis schwächerer Sklaven, gibt sich den schlimmsten Leidenschaften hin und ist – einmal so gefördert, herangezogen und täglich zum Tyrannisieren gedrillt – unweigerlich von diesen widerlichen Eigenheiten geprägt.“12 Hochmut, Eigensinn und zügellose Ungeduld, welche die natürlichen Folgen dieser Umstände sind und den Charakter der Südstaatler in all seinen Erscheinungen tief prägen, sorgen dafür, dass die Schicht der Sklavenhalter all ihre Hoffart und Selbstgefälligkeit umso mehr mit der Bewahrung, Erweiterung und Erhebung ihrer „eigenartigen Institution“ [„peculiar institution“]13 verbindet, als diese Institution und ihre Hüter allgemein von der Menschheit verdammt werden, als sie sich der Auffassung der freien Nationen widersetzen und möglicherweise der Ausübung der physischen Macht jener begegnen müssen. Daher haben sich die Politiker der Sklavenhalterstaaten mit fanatischer Inbrunst der Aufgabe verschrieben, mit ehrlichen oder auch unehrlichen Mitteln die Vorherrschaft in der Unionspolitik zu erringen, um diese Vorherrschaft zum Zwecke des Erwerbs neuer Territorien für neue Sklavenhalterstaaten zu nutzen, und wiederum immer neue Sklavenhalterstaaten zu schaffen, um ihre Vorherrschaft in der Union aufrechtzuerhalten. Mr. Cairnes hat energisch die Abfolge dieser Bestrebungen nachgezeichnet:14 Er verweist auf den Kampf zwischen Freiheit und Sklaverei, der um den Besitz von Missouri geführt wurde; den Kompromiss, der diesen neuen Staat der Sklaverei überantwortete, jedoch verbunden mit der Auflage, kein weiterer Sklavenhalterstaat dürfe nördlich der 36º 30' Linie geschaffen werden; die Eroberung von Texas durch irreguläre Truppen, um es von Mexiko zu lösen, dessen Einverleibung in die Union vermöge der Vorherrschaft der Sklavenhalter und den Krieg gegen Mexiko zwecks Erwerb von noch mehr Land für die Sklaverei; den Ungültigkeitsbefund des Missouri-Kompromisses wegen Verfassungswidrigkeit, die Distanzierung von ihm, nachdem alle seine Vorteile angeeignet waren, gefolgt vom neuen Prinzip der „squatter souvereignty“15 (gemeint ist die Auffassung, der Kongress könne Gesetze nicht für die Territorien erlassen, stattdessen hätten die ersten Bewohner über die Genehmigung der Sklaverei zu entscheiden); als Konsequenz die Öffnung der nördlichen Territorien für die Sklaverei, worauf ein Wettlauf um den Besitz von Kansas zwischen seinen nordstaatlichen und südstaatlichen Einwohnern entbrannte; die Annahme einer Sklavenhalterverfassung für Kansas, erpresst durch Banden von „border ruffians“16 aus dem Süden, die mit vorgehaltener Büchse abstimmen ließen, 12

13

14 15 16

Anmerkung der Herausgeber: Cairnes zitiert hier, S. 155, aus: Thomas Jefferson, Notes, on the State of Virginia, Baltimore 1800, S. 163 („Query XVIII“). Anmerkung der Herausgeber: Für den Terminus siehe den Artikel über die Auswanderung nach Kansas, New York Tribune, 19. Oktober 1854, S. 4. Anmerkung der Herausgeber: Cairnes, Kap. VII, S. 176–226. Anmerkung der Herausgeber: Ebd., S. 195. Anmerkung der Herausgeber: Ebd., S. 197.

288

D  E  M

aber nicht einmal einen Gedanken darauf verschwendeten, sich in diesem Gebiet niederzulassen; die Ablehnung auch des Prinzips der „squatter souvereignty“, nachdem dieses schändliche Verfahren durch Gruppen freier Siedler behindert wurde, die in Scharen aus dem Norden gekommen waren und der fingierten Verfassung die Anerkennung verweigerten – das Prinzip hatte das, was die Südstaatler bezweckten, nicht bewirken können und wurde nun durch die Überzeugung ersetzt, in allen Territorien bestehe die Sklaverei ipso jure und nicht einmal Siedler könnten sie für ungesetzlich erklären; schließlich aber eine vom höchsten Gericht der Vereinigten Staaten (das unter dem Einfluss des Südens mit Richtern aus dem Süden besetzt werden konnte) eingeholte Entscheidung, welche nicht nur dieses abscheuliche Prinzip bestätigte, sondern auch das Recht eines Sklavenbesitzers anerkannte, seine Sklaven an jeden Ort der freien Staaten zu bringen und diese dort, ungeachtet jedes dem widersprechenden Gesetzes vor Ort, als Sklaven halten. Dies war ein Schritt zu viel in der andererseits gut durchdachten Vorwärtsbewegung jener Südstaaten-Verschwörung. Jetzt wurden ihre nordstaatlichen Bündnispartner, deren Hilfe sie benötigten, um über eine Mehrheit in den Gremien der Föderation zu verfügen, von ihnen abtrünnig. Dem folgte die Niederlage des Präsidentschaftskandidaten des Südens.17 Dieser erste Rückschlag, den die Sklaverei in ihrer aggressiven und vorwärtsdrängenden Bewegung hinnehmen musste, war das Signal für Abspaltung und Bürgerkrieg. So kann Mr. Cairnes richtigerweise sagen, jene Abfolge von Ereignissen sei „eine der erstaunlichsten und besorgniserregendsten Begebenheiten in der modernen Geschichte und bietet ein bemerkenswertes Beispiel dafür, was eine kleine Vereinigung von Männern gegen die lebenswichtigsten Interessen der menschlichen Gesellschaft zu bewirken vermag, wenn sie sich im klaren Wissen um ihre Lage und die mit ihr verbundenen Anforderungen bewusst, entschlossen und gewissenlos dem Erreichen ihrer Ziele verschreiben“. [S. 221] Sollte es diesen Verschwörern gelingen, ihre Unabhängigkeit zu bewerkstelligen und sich eines Teils der Territorien zu bemächtigen, die an Mexiko angrenzen, dann ist nichts anderes zu erwarten als die durch Eroberung erfolgende Ausbreitung jener Institution (falls dies nicht durch eine europäische Macht verhindert wird) über dieses weite Land und letztlich über das gesamte Spanisch-Amerika sowie, falls die Umstände dies zulassen, die Unterwerfung und Einverleibung der Westindischen Inseln – während eine solch umfassende Erweiterung des Landes für die Beschäftigung von Sklaven eine Nachfrage nach neuen Sklaven zur Folge hätte, was dann aller Wahrscheinlichkeit nach dazu führen würde, den Sklavenhandel mit Afrika wieder aufzunehmen, dessen Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit viele Sprachrohre des Südens seit langem öffentlich geltend machen. Das sind die Fragen der Menschheit, um die es in der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen dem freien und dem sklavenhaltenden Amerika geht – und das ist die Sache, welcher das Mitgefühl der Mehrheit der englischen Schriftsteller und jener Engländer gilt, denen die Öffentlichkeit Gehör schenkt. Was besagt dies alles? Warum ist die englische Nation, die sich für alle Zeiten als Vernichter der Negersklaverei unvergesslich gemacht hat, die keine Opfer gescheute, 17

Anmerkung der Herausgeber: John Cabell Breckinridge.

D M  S ()

289

ihren Charakter von diesem abstoßenden Makel zu befreien und alle Länder der Welt gegen den Sklavenhandel zu vereinen, warum ist diese Nation, die im Kampf um die Sklavenbefreiung in der ersten Reihe steht, nicht nur ohne Anteilnahme für jene, die gegen die Verschwörung der Sklavenhalter kämpfen, sondern wünscht jener sogar Erfolg? Warum ist die von unserer Presse hauptsächlich verbreitete Meinung und das allgemeine Empfinden unseres Volkes dem Norden gegenüber so ausgesprochen vorwurfsvoll, während wir den Süden, die Angreifer in diesem Krieg, entweder gnädig entschuldigen oder geradezu und regelrecht bestärken – und dies nicht nur seitens der Tories oder des antidemokratischen Lagers sondern seitens der Liberalen oder der soi-disant Liberalen? Nirgendwo sonst überwiegt diese befremdliche Verkehrung der Geisteshaltung. Die Öffentlichkeit in Frankreich und auf dem Kontinent allgemein, jedenfalls deren liberaler Teil, hatte sofort bemerkt, auf welcher Seite Gerechtigkeit und prinzipientreue Moral stehen und nahm konsequenterweise und beständig Partei für den Norden. Warum bildet England hier eine Ausnahme? Verschiedene Gründe lassen sich nennen, von denen keiner diesem Land zur Ehre gereicht, obwohl manche mehr als andere die Abweichung entschuldbar erscheinen lassen. Erst einmal muss, so befürchten wir, zugestanden werden, dass das gegen die Sklaverei gerichtete Empfinden in England, obwohl wirklich vorhanden, seiner Intensität nach nicht mehr das ist, was es einmal war. Wir führen dies nicht auf irgendeine Verkümmerung der öffentlichen Geisteshaltung zurück, sondern darauf, dass die Arbeit, was insbesondere England betrifft, vollbracht ist. Starke Gefühle, die auf irgendeinen praktischen Zweck gerichtet sind, lassen sich nur durch beständige Betätigung aufrecht erhalten. Seit dem großen Erfolg der Abschaffung der Sklaverei ist eine neue Generation herangewachsen, die Menschen umfasst, deren Leidenschaft in dieser Frage durch eine Auseinandersetzung nie angesprochen und nie in Bewegung gebracht worden ist. Die gegenwärtige Öffentlichkeit denkt über die Sklaverei wie die ihrer Väter dachte, jedoch sind ihre Gefühle nicht im selben Maße durch deren Ungeheuerlichkeiten erregt. Ihr Verstand wie ihre Gefühle richten sich auf andere Dinge, in Bezug auf welche, wie es scheinen könnte, mehr zu tun bleibt. Die Sklaverei ist in den Hintergrund ihrer geistigen Perspektive gerückt. Für die meisten von ihnen ist sie ein bloßer Name, der Name eines gesellschaftlichen Übels unter vielen anderen – nicht jedoch das, was sie wirklich ist: die Zusammenfassung und Verdichtung all dessen, die Hochburg, in welcher das Prinzip tyrannischer Macht, das andernorts nur kämpft, triumphierend herrscht. Auch muss daran erinnert werden, dass verschiedene der politischen und literarischen Presseorgane, die von höchstem öffentlichen Einfluss sind, im Gegensatz zur öffentlichen Abneigung gegenüber der Sklaverei, diese öffentliche Einstellung entschieden nicht teilen. Über viele Jahre hinweg hat die Times jede Gelegenheit ergriffen, der den Neger betreffenden Angelegenheit, soweit der Anstand dies zulässt, eine Abfuhr zu erteilen. Wäre ihren Versuchen Erfolg beschieden, hätte man das Afrikanische Geschwader [African squadron] abgezogen, und die Bemühung, auf der England lange und ehrenvoll beharrte, die Negerküste für den Menschenräuber dicht zu machen, wäre in schändlicher Weise aufgegeben worden. Ein weiterer Verführer der öffentlichen Meinung in dieser Frage, der geistig anspruchsvoller in seinen Absichten sich einem gebildeteren Publikum zuwendet, ist von Anbeginn, wie liberal er oberflächlich auch sein mag, völlig von den Tories inspiriert, was ihn sogar veranlasst, die Sklaverei der demokratischen Gleich-

290

D  E  M

heit vorzuziehen. Nie versäumt er eine Gelegenheit, ein gutes Wort für die Sklaverei einzulegen und deren Übel zu bemänteln.18 Der Hauptgrund für die falsche Einstellung der Engländer in der amerikanischen Frage besteht jedoch in der allgemeinen Überzeugung, die Amerikaner seien England gegenüber feindlich gesonnen und strebten danach, England zu beleidigen und zu demütigen, wenn sich ihnen eine Gelegenheit dazu böte, sowie in dem Unmut, der sich infolge einiger kleiner diplomatischer Konflikte angestaut hat, in denen sich Amerika eigenmächtig verhielt, schikanierte und selbstherrlich auftrat, oder die amerikanische Presse dies für Amerika erledigte, wobei hier gegen Schikane und Selbstherrlichkeit nichts unternommen wurde, weil England nicht geneigt ist, Dinge auf die Spitze zu treiben, welche die Ehre der Nation nicht im Kern berühren. An diesen Tatsachen kann man nicht zweifeln. Allerdings ist bisher nicht hinreichend in Betracht gezogen worden, dass die unflätigsten Feinde Englands in der amerikanischen Presse wie im Kongress Männer der Südstaaten sind und die Interessen des Südens vertreten, dass der beleidigende Tonfall und die Einmischungspolitik der Bundesregierung sich als Tonfall und Politik einer Abfolge von Regierungen erweisen, die durch den Süden geschaffen wurden und ganz unter dessen Einfluss stehen. Wenn sich Bitterkeit den Engländern gegenüber unter den Leuten des Nordens seit Beginn des Krieges in ziemlich breitem Maße gezeigt hat und die Schreiberlinge der Nachrichtenpresse in ihrem gewöhnlichen Stil zu ihr beigetragen haben, so ist dazu entschuldigend zu sagen, dass sie unter enttäuschten Hoffnungen litten, dass sie da nur auf Tadel trafen, wo sie glaubten, Mitgefühl zu verdienen, und auf Mitgefühl dann zählten, als dieses für ihre Sache von höchster Bedeutung war. „Hätte jetzt England doch nur für uns Verständnis“, sagte uns letztens einer der bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller, „so würde dies die beiden Nationen nahezu bis zum Ende aller Zeiten einen“.19 Keiner dieser Gründe könnte aber die traurige Abirrung in der englischen Einstellung zu dieser folgenschweren Krise bewirkt haben, wären sie nicht mit einer nahezu vollständigen Unkenntnis der Vorgeschichte dieses Kampfes verbunden. England bezahlt einen hohen Preis für seine Missachtung der allgemeinen Geschichte der Gegenwart wie auch für seine Unaufmerksamkeit hinsichtlich dessen, was in anderen Ländern geschieht. Das englische Volk wusste nichts vom früheren Werdegang, nichts vom gegenwärtigen Kurs und von den gegenwärtigen Zielen der auf Sklaverei gegründeten Macht. Es wusste nicht und weiß noch immer nicht, dass das Ziel, das erklärte Ziel der Abspaltung in der grenzenlosen Erweiterung der Sklaverei besteht, dass die einzige vom Süden vorgebrachte Beschwerde jene ist, ihm dies zu verwehren, dass der Widerstand des Nordens Widerstand gegen die Ausbreitung der Sklaverei war – das Ziel des Nordens ist deren Einschränkung in den gegenwärtigen Grenzen, was in den Augen der Sklavenbesitzer deren allmähliche Auslöschung bedeutet und der einzige Weg wäre, auf dem die Auslöschung allmählich erfolgen kann. Die Unkenntnis der Öffentlichkeit teilte der Außenminister, dessen offizielle Haltung zu dieser Auseinandersetzung völlig den Anforderungen entsprach, der aber mit seiner oft zitierten inoffiziellen Meinungsbekundung

18 19

Anmerkung der Herausgeber: Das ist offenbar ein Verweis auf Fraser’s Magazine. Anmerkung der Herausgeber: Vermutlich John Lothrop Motley.

D M  S ()

291

unsägliches Unheil anrichtete, die Südstaaten hätten ihrer Unabhängigkeit wegen zu den Waffen gegriffen, die Nordstaaten aber für ihre Herrschaft.20 Wenn dies die Auffassung war, die der angeblich am besten informierte Teil der Bevölkerung über die Auseinandersetzung hegte, was sollte dann von der allgemeinen Öffentlichkeit erwartet werden? Konnte diese anderes tun als ihr Mitgefühl jener Seite zu erweisen, die, wie ihr die Autoritäten sagten, um das der Menschheit fraglos zustehende Recht auf eine Regierung ihrer Wahl kämpft, während die andere des niederträchtigen Zwecks wegen zu den Waffen gegriffen hatte, andere gegen deren Willen zu beherrschen? Die moralische Einschätzung der beiden Seiten in Russells Bemerkung ist falsch und nahezu verkehrt. Sind wir bereit, über die Tatsache hinwegzusehen, dass der Süden für die widerlichste Form ungerechter Herrschaft kämpft, die jemals existierte, der Norden aber dagegen? Können wir über die Sklaven hinwegsehen und die Streitfrage als eine zwischen zwei weißen Bevölkerungen betrachten? Selbst dann fragt sich, wer für die Herrschaft kämpft, wenn nicht der, welcher bisher immer erfolgreich geherrscht hat, und sich genau dann von der Union trennt, als er bemerkt, nicht länger herrschen zu können? Hat jeder andere Teil einer Nation jemals den ehrwürdigen Vertrag gebrochen, der ihn mit den übrigen vereinte, und zwar aus keinem anderen Grund als dem, in einer Wahl geschlagen worden zu sein? Es ist wahr, und sie können dies gern zugestehen, dass ein äußerst wichtiges Interesse der Sklavenhalteroligarchie an den Erhalt der Herrschaftsmacht gebunden war. Dabei ging es nicht allein um die Herrschaft sondern um die aus der Herrschaft resultierenden Gewinne. Diese aber bestanden in der unbegrenzten Ausbreitung der Sklaverei, statt sich auf den weiten unbewohnten Raum zu beschränken, der bereits in die Grenzen der Sklavenhalterstaaten einbezogen ist und etwa die Hälfte ihrer Gesamtausdehnung ausmacht. Wenn aber der Süden für die Sklaverei kämpft, so kämpft der Norden jedenfalls, wie uns gesagt wird, nicht dagegen. Das einzige Ziel seines Kampfes sei der Erhalt der Union. Auch wenn es so wäre. Was ist so unentschuldbar daran, selbst mit Waffengewalt der Zerstückelung des eigenen Landes zu widerstehen? Verlangt die öffentliche Moral von den Vereinigten Staaten, dem Charakter einer Nation zu entsagen und nach der erstbesten Aufforderung irgendeinem unzufriedenen Teil zu erlauben, sich von den übrigen durch das Einzelvotum einer örtlichen Mehrheit, ob fingiert oder real, zu trennen, das ohne festgeschriebene Form oder ohne die öffentliche Gewähr erfolgt, unverfälscht und wohlerwogen zu sein? Dies würde jedem Staat oder jedem Teil eines Staates die Möglichkeit geben, aus einem bloßen Anfall schlechter Laune heraus oder unter dem schlechten Einfluss Ränke schmiedender Politiker stehend sich von der Union zu lösen und möglicherweise mit einer feindlich gesonnenen Macht zusammenzugehen. Das Ende wäre dann vermutlich der Zusammenbruch der Union, die Zersplitterung einer der größten Nationen in so viele kleine Republiken wie es Staaten gibt, mit Reihen von Zollhäusern an all ihren Grenzen und stehenden Armeen, die immer in Bereitschaft gehalten werden, sie vor dem unmittelbaren Nachbarn zu schützen.

20

Anmerkung der Herausgeber: John Russell, Rede in Newcastle am 14. Oktober 1861, Bericht im Spectator vom 19. Oktober 1861, S. 1135.

292

D  E  M

Die Betrachtungsweise, Fragen der nationalen Moral aus der Perspektive der Nationen zu stellen statt ausschließlich aus jener der Herrscher, ist so unüblich und neu, dass die Bedingungen noch nicht festgelegt sind, unter denen es die Pflicht einer bestehenden Regierung wäre, der Bekundung einer feindseligen Einstellung seitens eines größeren oder kleineren Teils seiner Bürger nachzugeben. Solange ein Richtlinie oder Maxime zur Regelung dieser Angelegenheit nicht entwickelt worden ist, kann von keiner Regierung erwartet werden und kann diese nicht verpflichtet sein, einem Aufstand eher nachzugeben, als bis ein faires Kräftemessen auf dem Feld stattgefunden hat. Allein die Gewissheit einerseits, auf Widerstand zu treffen, sowie die harten Strafen im Falle des Scheiterns andererseits verhindern, dass Aufstände in der Häufigkeit auftreten mit der sie gegenwärtig ausbleiben. Im Unterschied zur jetzigen Zeit, in der Aufstände nur in Fällen nahezu einmütigen Unmuts versucht werden, würde dann in jedem einzelnen Fall zum Mittel des Aufstands gegriffen werden, in dem seitens eines noch so kleinen Teils der Gemeinschaft irgendein Ziel erstrebt oder eine Beleidigung empfunden wird. Würde die Regierung oder das Volk des Vereinigten Königreichs ein solches Regiment der Pflicht für sich akzeptieren? Würden sie der Zerstückelung des Königreiches einfach zusehen? Möglicherweise wären sie bereit, überseeische Besitzungen aufzugeben, die sie nur, ohne sich wirklich um sie zu kümmern, als Schutzgebiete verwalten und mit denen sie weder ein Interesse noch die Nachbarschaft verbindet. Würde England aber kampflos die Abspaltung Irlands oder Schottlands hinnehmen? Wäre England dazu durch irgendeine anerkannte Verpflichtung öffentlicher Moral veranlasst? Setzt man die Anreize sehr niedrig an, die das Volk der Nordstaaten vermutlich dazu veranlasst haben, mit nahezu ihrer gesamten verfügbaren Bevölkerung ins Feld zu ziehen und in beispiellosem Umfang den Nationalreichtum des Landes zu verpfänden, um dessen Einheit zu wahren, so mag man dennoch glauben, dass ein Volk, das sich angeblich gemessen am „allmächtigen Dollar“21 um nichts schert, für den Nachweis Anerkennung finden sollte, fähig zu sein, wie diese eindeutigen Zeugnisse belegen, diesen wie alles übrige einem patriotischen Antrieb zu opfern. Auch hätte man annehmen können, dass ihnen selbst dann, wenn ihre Beweggründe ganz und gar eigennützig gewesen wären, alle Menschen guten Willens Erfolg im Kampf um das Recht gewünscht hätten, und angesichts dessen, wogegen diese kämpften, froh darüber hätten sein müssen, dass selbst eigennützige Absichten eine große Nation dazu veranlassen konnten, ihr Blut zu vergießen und das ihr Wesentliche dafür aufzuwenden, ein abscheuliches Monster zu bekämpfen, das im Falle anderer, von den Höhen ihrer Einstellung moralischer Teilnahmslosigkeit her beobachtender Nationen ungehindert herangewachsen wäre, bis sich die Folgen an ihnen gerächt hätten. Eine solche Vorstellung ihrer Absichten würde den Amerikanern der Nordstaaten allerdings in eklatanter Weise Unrecht tun. Sicherlich war die Gesinnung, die den heroischen Antrieb das ganze Land durchdringen ließ, bis er selbst die am wenigsten aufgeklärten Schichten erreichte, der Wunsch nach Aufrechterhaltung der Union – aber nicht der Union schlechthin. Wäre der Norden bereit gewesen, seine Deutung des Ver21

Anmerkung der Herausgeber: Washington Irving, Chronicles of Wolfert’s Roost and Other Papers, hg. durch den Autor, Edinburgh, London, Dublin 1855, S. 30.

D M  S ()

293

trags preiszugeben und der dem Süden folgenden Auslegung des Obersten Gerichtshofes nachzugegeben, so hätten sie den Süden für die Föderation einstimmig zurückgewonnen.22 Nur deshalb, weil sie etwas anderes noch höher als die Union schätzten, war diese es Wert, um sie zu kämpfen. Der Norden kämpft für die Union, aber für die Union unter Bedingungen, welche die Macht der Sklaverei um ihre verderbliche Vorherrschaft bringt. Die Leute reden, als ob die Unterstützung der bestehenden Verfassung gleichbedeutend damit wäre, auf die Sklavenbefreiung vollständig zu verzichten und „der Sklaverei Sicherheiten zu gewähren“. Nichts dergleichen ist wahr. Die Verfassung sichert die Sklaverei nur gegen die Einmischung des Kongresses, für solche Sklavenhalterstaaten Gesetze zu erlassen, die rechtlich konstituiert sind.23 Eine Gesetzgebung dieser Art ist in den Augen des Nordens wie des Südens weder der einzige noch der beste und auch nicht der erfolgreichste Weg, die Sklaverei zu beseitigen. Der Norden könnte in der Tat dazu veranlasst sein und bewegt sich, in der Meinung von Beobachtern vor Ort, zusehends auf dieses Ergebnis zu: In seinen Briefen an die Times hat Mr. Russell beständig wiederholt, der Krieg werde bald zu einem Krieg um die Abschaffung der Sklaverei werden.24 Mr. Dicey, der jüngste Reisende in Amerika, der seine Eindrücke veröffentlicht hat und dessen Buch jeder lesen sollte, wiederum teilt mit, dieser erwartete Vollzug rücke nunmehr zügig näher, denn im Norden werde die Auffassung zur allgemeinen Überzeugung, dass Sklaverei und Union nicht miteinander vereinbar seien.25 Aber die Bundesregierung war gezwungen, im Rahmen der Bundesverfassung zu handeln. Was aber hat sie unterlassen, das sie in Übereinstimmung mit der Verfassung gegen die Sklaverei hätte tun können? Der District of Columbia unterstand laut Verfassung dem Kongress. Der Kongress wiederum hatte die Sklaverei in diesem Distrikt abgeschafft und Entschädigung gewährt.26 Die Bundesregierung hat jedem Sklavenhalterstaat, der Maßnahmen ergreift, um seine Sklaven entweder umgehend oder allmählich zu befreien, großzügige finanzielle Hilfen angeboten.27 Sie hat West Virginia den Zutritt zur Union als Bundesstaat unter der Bedingung eingeräumt, dass alle Kinder, die nach einem bestimmten Tag des Jahres 1863 geboren werden, frei sein sollen.28 Mit England hat sie einen Vertrag zur besseren Unterdrückung des Sklavenhandels abgeschlossen, der das einräumt, dem sich alle bisherigen amerikanischen Regierungen so hartnäckig widersetzt haben: das Recht auf

22

23

24

25

26 27 28

Anmerkung der Herausgeber: Siehe Scott v. Sanford (1856), in: Reports of Cases Argued and Adjudged in the Supreme Court of the United States, 24 Bde., Washington 1857, Bd. XIX, S. 393– 633. Anmerkung der Herausgeber: The Constitution or Frame of Government, for the United States of America, Boston 1787, Art. 1, Sektion 9, S. 6. Anmerkung der Herausgeber: Siehe z. B. William Howard Russell, The Civil War in America, The Times, 13. September 1861, S. 9. Anmerkung der Herausgeber: Edward Dicey, Six Months in the Federal States, 2. Bde., London und Cambridge 1863, insb. Bd. 1, S. 315–318. Anmerkung der Herausgeber: 37. Congress, Sess. II, c. 54 (1862). Anmerkung der Herausgeber: 37. Congress, Sess. II, Resolution 26 (1862). Anmerkung der Herausgeber: Siehe „America“, The Times, 26. Juli 1862, S. 14, Bericht über die Annahme eines Gesetzes durch den Senat der Vereinigten Staaten, das nach der Ratifizierung durch das Repräsentantenhaus im Dezember als 37. Congress, Sess. III, c. 6 (1862) erlassen wurde.

294

D  E  M

Fahndung und Durchsuchung [right of search].2930 Bedeutsamer als alles andere ist aber, dass sie per Gesetz die Sklaverei in den Territorien verboten hat.31 Fortan kann also kein Mensch in einer Besitzung der Vereinigten Staaten in Knechtschaft gehalten werden, die noch zu keinem Bundesstaat geworden ist. Jeder weiteren Ausdehnung des Gebietes rechtsgültiger Sklaverei innerhalb des Herrschaftsgebiets der Vereinigten Staaten ist somit ein Riegel vorgeschoben. Dies wurde von den Vereinigten Staaten im Widerspruch zur Auffassung der noch unzweideutig loyalen Grenzstaaten auf die Gefahr hin getan, diese Staaten unwiederbringlich zu verstoßen und ihnen den Anlass zu verschaffen, zum Gegner überzulaufen. Was hätte die nun in den Vereinigten Staaten herrschende Partei noch tun können, um die Aufrichtigkeit ihrer Abneigung der Sklaverei gegenüber zu zeigen, wie auch ihrer Absicht, diese mit allen gesetzlich verfügbaren Mitteln loszuwerden? Diese Mittel wären aller Voraussicht nach für das Ziel hinreichend. Wird die Ausbreitung der Sklaverei verhindert, so bewirkt dies, davon sind die Sklavenhalter allgemein überzeugt, deren Untergang. Jedenfalls ist dies das einzige Mittel, wodurch dieses Ziel durch das Interesse der Sklavenhalter selber bewirkt werden kann. Zieht man die friedliche und allmähliche Befreiung der abrupten und gewaltsamen vor (was, wie wir gestehen müssen, im gegenwärtigen Fall zweifelhaft sein mag), so ist dies der einzige Weg, diese zu bewirken. Wäre die weitere Kolonisierung durch Sklaven und Sklavenhalter unmöglich gemacht, so würde der Prozess der Erschöpfung des für die Sklavereibewirtschaftung geeigneten Bodens entweder weiterlaufen oder beendet werden. Liefe er weiter, würde sich der Reichtum des Landes bis zu dem Punkt zunehmend verringern, an dem der Wert des Sklaveneigentums so stark gemindert wäre und das Erfordernis nutzbringenderer Arbeit so deutlich gefühlt würde, dass kein Beweggrund dafür mehr bliebe, die Neger in Knechtschaft zu halten. Sollte demgegenüber der Prozess der Erschöpfung des Bodens beendet werden, so wäre dies nur auf dem Wege möglich, auf dem auch ein völliger wirtschaftlicher und sozialer Umbau der Gesellschaftsform der Südstaaten erfolgen müsste. Neue Weisen der Bewirtschaftung wären nötig, kultiviertere und durchdachtere Arbeitsabläufe sowie – unabdingbar – klügere Arbeiter, die man entweder durch die Einführung freier Arbeit bekäme oder durch die Hebung des geistigen Niveaus der Sklaven. Die Sklavenhalter hätten sich damit abzufinden, tüchtige Geschäftsleute zu werden und über ihre eigenen Arbeiter persönlich aufmerksam zu wachen. Unter diesen neuen Umständen würden sie bemerken, dass ein erfolgreiches Gewerbe unmöglich ist, solange sie keine anderen Anreize zulassen als die Furcht vor der Peitsche. Die unmittelbar einsetzende Milderung der Sklaverei und die Bildung der Sklaven wären somit sichere Folgen und die allmähliche Vernichtung der Sklaverei vermöge der Zustimmung aller Beteilig29

30

31

Anmerkung der Herausgeber: Treaty between Her Majesty and the United States of America for the Suppression of the African Slave Trade, PP 1862, LXI, 373–385. Anmerkung des Übersetzers: Das Right of Search betraf den Anspruch der britischen Marine, die Nationalität und die Bestimmung von Schiffen zu klären, die zwischen der afrikanischen Westküste und der amerikanischen Ostküste verkehrten. Ziel war die Unterbindung des Sklavenhandels. Die Vereinigten Staaten haben bis zum Vertragsschluss von 1862 Großbritannien immer wieder das Recht streitig gemacht, unter amerikanischer Flagge fahrende Schiffe zu überprüfen. Siehe dazu Richard W. Van Alstyne, The British Right of Search and the African Slave Trade, in: The Journal of Modern History, Bd. 2, Nr. 1 (März 1930), S. 37–47. Anmerkung der Herausgeber: 37. Congress, Sess. II, c. 111 (1862).

D M  S ()

295

ten eine wahrscheinliche Folge der bloßen Begrenzung ihres Anwendungsgebiets – ob dies nun durch die Unterwerfung der Südstaaten und deren Wiedereitritt in die Union, gemäß der Verfassung entsprechend ihrer Deutung durch den Norden, erreicht würde oder aber, was Mr. Cairnes praktischer und wünschenswerter erscheint, durch die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit mit dem Mississippi als ihrer westlichen Grenze.32 Ein jedes dieser Ergebnisse wäre großartig und würde vermutlich einen entscheidenden wie endgültigen Sieg über die Sklaverei bedeuten. Wir zögern einzig, Mr. Cairnes zuzustimmen, wenn er der letzteren gegenüber der ersteren und vollständigeren Lösung der Auseinandersetzung den Vorzug gibt. Mr. Cairnes ist beunruhigt darüber, dass es, wie er glaubt, unmöglich wäre, diese Gruppe von Staaten nach der Wiedervereinigung anders im Zaume zu halten, als auf eine Weise, die mit freien Institutionen nicht vereinbar ist: als besiegte, unter Militärgerichtsbarkeit stehende Staaten. Dass dies unmöglich sein sollte, leuchtet uns nicht ein: Durch Macht gezwungen, müssten sich die Sklavenhalterstaaten bedingungslos fügen. Ihr Anspruch auf Behandlung gemäß der Verfassung wäre erloschen, weil sie gegen diese Verfassung revoltiert hatten. Die Tür, die bis zum heutigen Zeitpunkt für ihre freiwillige Rückkehr geöffnet ist, würde, so wäre anzunehmen, geschlossen werden, weil ihre Rückkehr mit Gewalt erfolgte. In diesem Fall könnte die Sklavenbevölkerung insgesamt, und würde dies vermutlich auch, augenblicklich frei sein. Eine Abfindung erhielten nur jene Herren, die der Bundesregierung gegenüber treu geblieben wären oder innerhalb einer bestimmten Frist wieder freiwillig ihrer Treuepflicht genügten. Wäre all dies getan, würde keine Gefahr bestehen, dass die Südstaaten erneut ihre frühere Stellung innerhalb der Union erlangten. Ihre Position wäre geschwächt, weil die Herren nicht mehr die Möglichkeit hätten, Vertreter in den Kongress im Namen von drei Fünfteln ihrer Sklaven zu entsenden. Wären die Sklaven erst einmal befreit und befugt, Eigentum zu besitzen, und stünde das Land der freien Besiedlung offen, würde es dort innerhalb weniger Jahre eine aus Freien bestehende Bevölkerung geben, die dann in Einklang mit der übrigen Union lebte. Der ohnehin durch den Krieg geschwächte aktivste Teil der abtrünnigen Bevölkerung würde vermutlich, wenn der Norden erfolgreich wäre, zu erheblichen Teilen auswandern. Auch wenn man den Negern das Wahlrecht nicht zuspräche oder ihre früheren Herren ihre Stimmabgabe steuern könnten, wäre es unwahrscheinlich, dass sich die Macht der Sklaverei, so gedemütigt und geschwächt sie ist, in den kommenden Jahren in einem solchen Maß erholen würde, das hinreichend wäre, die verfassungsmäßige Freiheit in irgendeiner Weise dazu zu verwenden, die Union erneut zu gefährden. Denkt man daran, dass in den dünnbesiedelten Staaten Missouri, Arkansas und Texas sowie sogar in einigen Teilen der südöstlichen Staaten gegenwärtig so wenige Sklaven leben, dass diese sich auf dem Weg des Loskaufs zu sehr geringfügigen Kosten alle befreien ließen, denkt man weiter an den vermutlich einsetzenden umfassenden Zuzug von Siedlern aus dem Norden in diese Landesteile, dann muss die Wahrscheinlichkeit, dass die sechs oder sieben Baumwollstaaten, sollte man ihnen den Erhalt ihrer verfassungsmäßigen Freiheit gewähren, irgendeine gefährdende Macht in den Gremien der Vereinigten Staaten ausüben könnte, so gering erscheinen, dass man kaum versucht sein könnte, ihnen dieses gemeine Recht zu verweigern. 32

Anmerkung der Herausgeber: Cairnes, S. 290–291.

296

D  E  M

Es mag sich jedoch als unmöglich erweisen, die abgefallenen Staaten zu bedingungsloser Unterordnung in einem geringeren Zeitraum und unter Einsatz geringerer Opfer zu zwingen, als der Norden hinzunehmen willens ist. Träfe dies zu, wären die von Mr. Cairnes gezogenen Kompromisslinien, denen zufolge alle westlich des Mississippi liegenden Gebiete der freien Arbeit vorbehalten bleiben sollten, unmittelbar ein großer Gewinn für die Sache der Freiheit und würden ihr in nicht allzu langer Zeit vermutlich den vollständigen Sieg bescheren. Wir stimmen mit Mr. Cairnes überein,33 dass dies der einzige Kompromiss ist, der auch nur für einen Augenblick erwogen werden dürfte. Hingegen Frieden zu schaffen, indem man den Anlass des Streits aufopfert – den Ausschluss der Sklaverei aus den Territorien –, wäre eine der größten Katastrophen, die der Zivilisation und der Menschheit geschehen könnten. Man riegle die Territorien ab, verhindere den Übergriff der Krankheit auf Länder, die von ihr noch nicht betroffen sind, und viel würde damit dafür getan sein, ihren Untergang zu beschleunigen. Dieser Untergang läge allerdings noch fern, wenn man die weiten, unbesiedelten Gebiete von Arkansas und Texas, auf denen allein, wie man sagt, fünf Staaten gebildet werden könnten, der Besiedlung durch Sklaven und deren Herren überließe. Kein Teilungsvertrag kann in irgendeiner Weise als zufriedenstellend gelten, der nicht das gesamte Land westlich des Mississippi in freien Boden verwandelt. (Übersetzt von Veit Friemert)

33

Anmerkung der Herausgeber: Ebd., S. 285 ff.

XI England und Irland (1868)

„Was sollte mit Irland geschehen?“ – Zumindest einmal in jeder Generation stellt sich diese Frage, um den Räten [councils] Kopfzerbrechen zu bereiten und das Gewissen der britischen Nation zu plagen. Gegenwärtig stellt sie sich mit nie gekanntem Nachdruck, verbunden mit der zusätzlichen Schwierigkeit, dass niemand mit ihr rechnete. Unzufriedenheit und mangelnde Loyalität der Iren sind gewiss bekannte Tatsachen; auch hat es unter uns immer jene gegeben, die sie gern als Makel oder aus einer Schwäche des irischen Charakters erklärten. Liberale Engländer hingegen hatten als deren Ursache stets eine Vielzahl fortbestehender Ungerechtigkeiten gesehen. Aus mehr oder weniger niederträchtigen Motiven wurde Irland von England über lange Zeit ins Joch gezwungen. Einer gut bekannten Rechnung zufolge ist das ganze Territorium der Insel dreimal konfisziert worden. Ein Teil des Landes wurde weggenommen, damit sich mächtige Engländer und deren irische Verbündete bereichern; ein weiterer Teil, um eine feindliche Kirche [hostile hierarchy] auszustatten; der Rest hingegen ging an englische und schottische Siedler, die es als Bollwerk gegen die Iren nutzten und nutzen sollten. Das irische Gewerbe, ausgenommen das Leinengewerbe, welches hauptsächlich Siedler ausübten, wurde mit der klaren Absicht zerstört, englischen Manufakturen einen Vorteil zu verschaffen. Unter Bruch der der katholischen Armee in Limerick gegebenen Zusage wurde die große Mehrheit der einheimischen Iren, die alle dem katholischen Glauben zugehörten, ihrer gesamten politischen und des Großteils ihrer Bürgerrechte beraubt. Ihr Existenzrecht bestand darin, den Boden mit Spaten oder Pflügen zu bearbeiten und ihren gestrengen Herren die Pacht zu entrichten. Eine Nation, die ihre Untergebenen auf diese Art behandelt, kann nicht erwarten, von ihnen geliebt zu werden. Es ist nicht nötig, mildernde Umstände zu erörtern, welche ein Fürsprecher mehr oder weniger zu Recht vorbringen würde, um die Last dieser Ungerechtigkeit vom englischen Gewissen zu nehmen. Welchen Wert diese Umstände in unseren Augen auch immer haben mögen, in den Augen der Iren waren sie keine mildernden und konnten keine mildernden sein. Außer der tatsächlichen Entvölkerung und Verödung sowie der unmittelbaren Versklavung der Einwohner wurde kaum etwas unterlassen, das einem Volk Anlass dafür geben könnte, seine Eroberer

298

D  E  M

zu verabscheuen. Aber diese berechtigten Gründe der Illoyalität waren nun, so wurde geglaubt, endlich beseitigt. Die Eifersucht auf die irische Wirtschaft und das irische Unternehmertum hatte sich seit langem gelegt und alle Handelsvorteile im Verhältnis der beiden Länder waren abgeschafft. Der katholischen Bevölkerung hatte man die Bürgerrechte zurückgegeben und ihre politischen Benachteiligungen sind (bis auf ein oder zwei unbedeutende Ausnahmen) aufgehoben worden. Die Erträge des beruflichen und des politischen Lebens in Irland, England und jedem britischen Schutzgebiet kommen nunmehr, per Gesetz und in Wirklichkeit, katholischen wie auch protestantischen Iren zu. Die fremde Kirche gibt es in der Tat immer noch. Sie wird aber nicht mehr durch Abgaben katholischer Ackerbauern unterstützt; aus diesen Abgaben ist ein Zusatz zur Pacht geworden, die sie den zumeist protestantischen Grundherren entrichten. Die Enteignungen sind nicht aufgehoben, aber viel Zeit ist ins Land gegangen, sodass nun – in der Meinung vernünftiger Männer – die Aufhebung eines Unrechts ein weiteres Unrecht bedeuten würde. Im Unterhaus sind die Vertreter der irischen Katholiken eine Macht, die zuweilen hinreicht, um das Kräfteverhältnis zu bestimmen. Die kleinen und großen Beschwerden der Iren werden geduldig, wenn auch nicht immer respektvoll vernommen; lassen sie eine Lösung zu, die den Engländern vernünftig erscheint, dann werden sie ihren Widerwillen, diese umzusetzen, aufgeben. Warum ist dann, so fragen sogar liberal gesinnte Engländer, Irland verstimmt? Was ist eigentlich von dem noch übrig, das zu Verärgerung führen könnte? Weil sie glaubten, dass Unzufriedenheit nicht mehr vernünftig ist, waren sie der Überzeugung, dass sie aufgehört hat, möglich zu sein. All die Missstände, welche Untergebene gegen ihre Herren aufbringen könnten, waren, so dachten sie, seit langem verschwunden. Auch hat die Natur – in diesem Falle nicht freundlich gestimmt, sondern aus einer ihrer grausamsten Gemütslagen heraus – dafür gesorgt, das Gewissen der englischen Herrscher über Irland zu erleichtern. Ein Volk, von dem laut des Berichts der Royal Commission jedes Jahr für mehrere Wochen zweiundhalb Million Menschen beständig Hunger litten, bot einen Anblick, der in einer Nation, die mit absoluter Macht über sie regierte, einige Bedenken hätte erregen können.1 Aber der Todesengel trat herbei und beseitigte dieses Gespenst vor unseren Toren. Eine fürchterliche Hungersnot, gefolgt von einer beispiellosen und dauerhaften Auswanderung, hatte durch Entlastung des Arbeitsmarktes diese extreme Armut vermindert, die ein Volk, indem es in Hoffnungslosigkeit verfällt, selbst, wie wir glaubten, gegenüber einer milden und gerechten Regierung bitter stimmt. Irland sei nunmehr nicht nur gut regiert sondern wohlhabend und auf einem guten Weg. Gewiss seien die Probleme, die Irland der britischen Nation bereitet hatte, nunmehr gelöst. Wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel kam der Fenianismus über ein Volk, oder zumindest über dessen Ober- und Mittelklasse, das sich in diesem Wolkenkuckucksheim eingerichtet hatte. Er kam unvorhergesehen und unverstanden – er traf ein Volk, völlig unfähig, ihm zu begegnen und ihn zu bewältigen. Die Unzufriedenheit, die sie sich selbst schmeichelnd glaubten kuriert zu haben, zeigte sich plötzlich noch stärker, gewalttätiger, skrupelloser und umfassender als je zuvor. Die Bevölkerung ist geteilt zwischen jenen, die dem Fenianismus Erfolg wünschen, und jenen, die seine Verbitterung teilen, obwohl 1

Anmerkung der Herausgeber: Third Report of the Commisioners for Inquiring into the Condition of the Poorer Classes in Ireland, PP, 1836, XXX, 5.

E  I ()

299

sie seine Mittel und womöglich auch seine Ziele ablehnen. In Irland selbst mit Gewalt unterdrückt, erscheint der Aufstand vor unseren Türen und verbreitet Tod unter jenen, deren Provokation allein darin besteht, als Engländer geboren zu sein. So tödlich ist der Hass, dass er allein zu dem Zweck, uns zu schaden, alles riskiert, wobei die Aussicht, damit seine Sache zu befördern, gering oder nichtig ist. Unsere Regierenden sind unfähig, diesem neuen Ausbruch von Feindseligkeit zu begegnen, weil sie nicht verstehen können, dass ihr eigenes Tun irgendwie Anlass dafür gegeben hatte. Sie waren mit einer Geisteshaltung konfrontiert, derzufolge weder die Regierung, die wir für gut, noch jene, die wir für schlecht halten, toleriert werden kann. Auch sind sie nicht geschult, derart schwierige Probleme zu bewältigen. Ihre Staatskunst ist schlecht, ihr Gewissen aber gut. Denn der Aufstand ist, wie sie glauben, keiner der Unzufriedenheit oder des Leidens – er ist ein Aufstand für eine Idee: die Idee der Nation. Ach, die selbstzufriedene Ignoranz verantwortungsloser Regierender, ob nun Monarchen, Klassen oder Nationen! Wenn es irgendetwas Traurigeres gibt als die Kalamität selber, so ist es die eindeutige Aufrichtigkeit und Gutgläubigkeit, mit der viele Engländer einräumen, sie nicht verstehen zu können. Sie wissen nicht, dass die Verdrossenheit, die kein anderes Motiv hat oder benötigt als die Abscheu gegen die Herrscher, der Höhepunkt einer über lange Zeit zunehmenden Unzufriedenheit ist, deren Gründe man hätte beseitigen können. Dass ihnen der irische Widerwille unserer Herrschaft gegenüber grundlos zu sein scheint, ist Beweis genug, dass sie nahezu die letzte Chance verspielt haben, die sie womöglich jemals bekommen werden, um die Situation zu klären. Sie haben es zugelassen, dass sich die frühere Empörung über einzelne Ungerechtigkeiten zu der leidenschaftlichen Entschiedenheit verhärtet hat, unter keinerlei Bedingungen von jenen regiert werden zu wollen, die sie für alle ihre Übel verantwortlich machen. Aufstände lassen sich eigentlich immer niederschlagen, solange sie nicht zu Aufständen für eine Idee werden. Aufstände schlechter Behandlung auf konkreter Ebene wegen kann man durch Zugeständnisse beseitigen. Wartet man jedoch solange, bis sich alle praktischen Klagen zur Forderung nach Unabhängigkeit verdichten, gibt es keine Gewähr mehr dafür, dass irgendein Zugeständnis, das nicht die Unabhängigkeit selber bedeutete, den Streit zu besänftigen vermag. Wie aber wird Irland von England provoziert, so fragt man sich, da England nunmehr darauf verzichtet, den Handel der Iren zu vernichten und deren Religion zu verfolgen? Welchen Schaden beabsichtigt England Irland zuzufügen oder wissentlich herbeizuführen? Welches Gut, das England die Absicht haben könnte, den Iren zu geben, würde ihnen bewusst nicht gewährt? Leider besteht Englands Vergehen genau darin, dies nicht zu wissen, und es ist in seinem Nichtwissen so selbstzufrieden, dass ihm nicht feindlich gesinnte Iren zur Überzeugung kommen, dass England dies weder lernen will noch kann. Besonnene Kirchenmänner wie die Verfasser der Limerick Declaration,2 die den Fenianismus und das Tun der Fenianer missbilligen wie auch die Teilung vom Prinzip her nicht bevorzugen, sind der festen Überzeugung, dass die englische Nation nicht sehen oder verstehen kann, welcher Gesetze und Institutionen eine Gesellschaft und Kultur wie die irische bedarf. Das englische Volk sollte sich selbst ernsthaft und vorurteilsfrei fragen, was nüchterne Männer veranlasst, eine solche Meinung über sie zu hegen. Es 2

Anmerkung der Herausgeber: Richard Baptist O’Brien, „Limerick Declaration“ (23. Dezember 1867), The Times, 2. Januar 1868, S. 8–9.

300

D  E  M

sollte versuchen, diese Meinung zu beseitigen, oder bescheiden eingestehen, dass sie zutrifft und die einzige Aufgabe erfüllen, die ihm auf Basis dieser Annahme dann noch bleibt, nämlich von diesem Versuch Abstand zu nehmen. Dass diese verzweifelte Form von Unzufriedenheit – die nicht die Forderung meint, besser regiert zu werden, und nicht nach unseren Wohltaten verlangt oder danach, dass wir Missstände beseitigen, nicht einmal nach Wiedergutmachung für entstandene Schädigungen, sondern uns einfach bedeutet, wir sollten gehen und das Land zukünftig von unserer Anwesenheit verschonen –, dass diese rein nationalistische Revolte erst so spät zum Ausbruch kommt zeigt, dass sie von vornherein hätte verhindert werden können. Vor mehr als einer Generation verzichteten wir auf den Wunsch, Irland zum Nutzen der Engländer zu regieren; hätten wir damals angefangen zu begreifen, Irland zu seinem eigenen Nutzen zu regieren, wäre heute aus beiden Nationen eine geworden. Aber weder wussten wir das, noch wussten wir, dass wir es nicht wussten. Wir hatten eine Reihe eigener Institutionen, die uns angemessen schienen – an deren Unzulänglichkeiten wir uns jedenfalls gewöhnt hatten. Wir oder unsere herrschenden Schichten dachten, es gebe keinen größeren Segen für ein Land, als ihm jene Institutionen zu gewähren, und weil nun Irland keine Wohltaten mehr vorenthalten würden, wären alle Wünsche der Iren erfüllt. Was für uns nicht allzu schlecht war, sollte für Irland gut genug sein – wenn nicht, wäre allein Irland schuld daran oder die Natur der Dinge. Versucht ein Volk, ein anderes, ihm sehr unähnliches Volk zu regieren – sei es auf dem Weg der Eingliederung oder in einem Schutzgebiet –, so übernimmt es damit eine höchst schwierige Aufgabe. Wer immer über den gesellschaftlichen Aufbau dieser beiden Länder nachdenkt und dazu noch hinreichend über den Zustand anderwärtiger Gesellschaften Bescheid weiß, wird womöglich zu dem Schluss genötigt, dass vermutlich keine andere Nation der zivilisierten Welt, falls ihr die Aufgabe Irland zu regieren zugefallen wäre, sich unfähiger erwiesen hätte als England bisher. Die Gründe dafür sind folgende: Erstens bildet sich keine andere zivilisierte Nation so viel auf die eigenen Institutionen und auf all ihre öffentlichen Verkehrsformen ein wie die englische. Zweitens aber ist keine andere zivilisierte Nation bezogen auf den Charakter ihrer Geschichte so von Irland verschieden oder so anders hinsichtlich der Grundlagen ihrer Sozialwirtschaft. Somit würde keine mit solcher Wahrscheinlichkeit scheitern wie die englische, sollte sie die unter ihren Bedingungen entstandenen Denkarten und Regierungsprinzipien auf Irland übertragen. Der erste unserer Mängel, der Eigendünkel, ist sicherlich nicht mehr so gravierend. Unsere regierenden Schichten sind mittlerweile zu hören gewohnt, dass die Institutionen, von denen sie glaubten, sie seien für die Menschheit geeignet, weil sie sich für uns eignen, eine größere Abänderung erforderten, als sie sich vorstellen können, um selbst für uns geeignet zu sein. Darauf pflegen sie seit langem zu antworten, dass diese Institutionen mit den Meinungen, Gefühlen und geschichtlichen Vorbedingungen des englischen Volkes übereinstimmen, welche Schwäche diese theoretisch auch immer haben mögen. Man bemerke jedoch, wie wenig sie wirklich zu dieser Rechtfertigung stehen. Wenn sich Institutionen durch ihre Übereinstimmung mit den Meinungen, Gefühlen und historischen Vorbedingungen jener empfehlen sollten, die mit diesen leben, wäre auch daran zu erinnern gewesen, dass die Meinungen, Gefühle und geschichtlichen Vorbedingungen des irischen Volkes völlig von denen des englischen verschieden, in manchen Hinsich-

E  I ()

301

ten auch zu ihnen gegensätzlich sind. Auch hätte daran erinnert werden müssen, dass Dinge, die in England wesentlich deshalb gerechtfertigt sind, weil man sie schätzt, nicht dieselbe Rechtfertigung in einem Land erlauben, das sie verabscheut. Aber die Gründe, mit welchen Institutionen ihren eigenen Anhängern empfohlen werden, und jene, die man nutzt, um ihren Gegnern die Stimme zu verbieten, sind weit davon entfernt, immer miteinander identisch zu sein. Nehmen wir als Beispiel jene Institution, die in engster Verbindung mit den schlimmsten praktischen Missständen in Irland steht – das uneingeschränkte Landeigentum, demzufolge Grund und Boden durch eine verhältnismäßig kleine Anzahl von Familien vereinnahmt wird. Ich werde hier diese Institution nicht diskutieren oder irgendeine Meinung über ihre Vorzüge äußern, die ihnen theoretisch zukommen mögen. Diese mag man, wenn man möchte, für transzendent halten, für die beste und höchste Form der Land- und Sozialwirtschaft, trotz allem, was sich dagegen vorbringen ließe. Aber ich sage, dies versteht sich nicht vom selbst. Es handelt sich nicht um eine jener Wahrheiten, die vermöge ihrer eigenen Strahlkraft so hell scheinen, dass ihnen jeder vernünftige Mensch beipflichtet, sobald er die Worte versteht, in denen er sie vernimmt. Ganz im Gegenteil. Das erste, das einem deutlich in den Sinn kommt, wenn man über sie nachdenkt, sind die Einwände gegen diese Institution. Dass ein Mensch über das durch eigene Arbeit und Geschick Geschaffene uneingeschränkt verfügen sollte, oder auch darüber, was er als Geschenk oder Erbe von denen erhalten hat, die es geschaffen hatten, versteht sich von selbst und verletzt kein natürliches Empfinden. Mobiles Eigentum ist in unbegrenztem Maße herstellbar und wer nach eigenem Belieben über etwas verfügt, das, wie man zu Recht behaupten kann, ohne ihn nicht existieren würde, tut anderen kein Unrecht. Mit dem Boden, den kein Mensch geschaffen hat,3 der nur in begrenztem Maße vorhanden ist und der das ursprüngliche Erbteil der gesamten Menschheit bildet, verhält es sich anders: Einer, der ihn aneignet, entzieht ihn den anderen. Zunächst ist eine solche Aneignung, wenn nicht genug für alle bleibt, eine Enteignung der Rechte anderer Menschen. Obwohl es offenkundig rechtens ist, dass wer säet auch ernten sollte, nützt dieses Rechtsprinzip, welches die wirkliche moralische Grundlage des Eigentums an Grund und Boden ist, jenen Eigentümern wenig, die ernten aber nicht säen und für sich das Recht in Anspruch nehmen, jene zu vertreiben, die säen. Wenn der allgemeine Zustand von Grund und Boden eines Landes sich so darstellt, dann ist der Anspruch dieses Landes auf Gehorsam und Loyalität jener, die es zu enterben scheint, in keiner Weise offensichtlich. Es ist ein Zustand, der zusätzlicher moralischer Stützung dringend bedarf. Er sollte in den Traditionen und ältesten Erinnerungen des Volkes gründen; die Geschlechter der Großgrundbesitzer wiederum hätten sich durch die Religion des Landes auszuweisen, durch dessen nationale Eigenart, altvordere Herrscher, Führer, Gelehrte, und anderes, dem man Dankbarkeit und Respekt, zumindest jedoch vorbehaltlosen Gehorsam entgegenbringt.

3

Anmerkung der Herausgeber: Vgl. Mill, Principles of Political Economy, CW, Vol. II, S. 230 (II, ii, 6), und seine Rede über Mr. Chichester Fortesque‘s Land Bill (vom 17 Mai, 1866) in Chapters and Speeches on the Irish Land Question, S. 104 (in der er sich auf den Passus aus seinen Principles bezieht).

302

D  E  M

In England sind diese Bedingungen seit vielen Jahrhunderten in erheblichem Maße vorhanden – jedenfalls ist nichts bekannt, was dem widerspräche. Was sich allerdings in Irland seit jeher findet, ist das reine Gegenteil dessen. Die Traditionen und Erinnerungen der einheimischen irischen Gesellschaft sind dem völlig konträr. Vor der Eroberung wusste das irische Volk nichts vom uneingeschränkten Eigentum an Grund und Boden. Praktisch gehörte das Land der ganzen Sippe und der Stammesführer war wenig mehr als das leitende Mitglied der Gemeinschaft. Der Feudalgedanke, demzufolge sich alle Rechte von einem führenden Gutsbesitzer herleiten, wurde mit der Eroberung eingeführt und verband sich mit der Fremdherrschaft. Bis in die Gegenwart findet er im moralischen Empfinden des Volkes keine Anerkennung. Ursprünglich die Frucht nicht des Arbeitsfleißes sondern des Raubes, konnte sich das Recht nicht durch fortlaufenden Besitz reinigen, sondern wurde von den ursprünglichen Plünderern auf andere Plünderer in der Folge einer Reihe neuer Raubzüge übertragen, wodurch es immer wieder mit dem Akt schlimmster Unterdrückung durch fremde Eindringlinge assoziiert wird. Dem moralischen Empfinden des irischen Volkes entsprechend ist das Recht auf das Land wie zu Beginn an das Recht gebunden, es zu bestellen. Seit den letzten Enteignungen4 ist über die Generationen hinweg der Besitz an Grund und Boden uneingeschränkter als in nahezu jedem anderen Land (außer England), wobei die Gutsherren (hauptsächlich Fremde und zumeist Anhänger einer fremden Religion) weniger mit der Bestellung des Bodens zu tun hatten, weniger zweckdienliche Verbindungen mit ihm unterhielten (oder überhaupt keine, denn viele von ihnen wohnten nicht einmal dort) als die Grundbesitzer in jedem anderen bekannten Land. In Teilen Europas wie in Ostpreußen existiert Grundbesitz zumeist in Form großer Ländereien, wobei nahezu jeder Gutsbesitzer den eigenen Grund und Boden bewirtschaftet. Bis vor einiger Zeit konnte jemand, der sich in Irland auskannte, jene nahezu zählen, die nichts für ihre Ländereien taten, als ihre Produkte zu konsumieren. Dem Boden waren die Grundbesitzer eine reine Bürde. Die gesamte Pacht des Landes war verschwendet, weil sie dem Unterhalt von Menschen diente, die nicht halb so produktiv waren wie die Drohnen im Bienenstock und weniger Respekt als diese verdienten. Dies ist die Vorgeschichte Irlands in Hinblick auf das Grundeigentum. Man versetze einen Engländer in die Lage eines irischen Bauern und lasse ihn sich fragen, ob seinem Empfinden nach – in dieser Situation – das Grundeigentum des Landes heilig wäre. Sogar den Whiteboys und Rockites war, bei all ihrer Frevelhaftigkeit gegenüber den Grundherren, der Kampf, den sie fochten, keiner gegen sondern für die Heiligkeit dessen, was sie als Eigentum verstanden. Denn im irischen Volksgeist verbindet sich die Idee des Eigentums nicht mit den Rechten des Pächters, sondern mit den Rechten jener, die das Land kultivieren. Diese Tatsachen sind bekannt und die durch sie hervorgerufenen Empfindungen sind, in den Augen eines jeden zivilisierten Volkes der Welt – England ausgenommen –, zumindest teilweise völlig nachvollziehbar. Es ist ein mustergültiges Beispiel der praktischen Vernunft, durch die sich England angeblich auszeichnet, dass es bis in die Gegenwart daran festhält, einem Volk, welches solche Gefühle hegt und eine solche Vorgeschichte hat, ihre eigene Vorstellung von uneingeschränktem Grundeigentum aufzuzwingen. Wenn diejenigen, welche die Industrie Englands, seinen Handel, seine Schifffahrt und die Dominions schufen, von englischer 4

Anmerkung der Herausgeber: Siehe 11 & 12 William III, c. 2 (1700).

E  I ()

303

Literatur und Wissenschaft ganz zu schweigen, sich auf diese Weise an die Arbeit gemacht und eine solche Urteilskraft in der Anpassung der Mittel an ihre Zwecke bewiesen hätten, dann würde sich England gegenwärtig in etwa auf dem Niveau des Kirchenstaates oder Spanien befinden. Soviel zum harmonischen Verhältnis zwischen bestimmten englischen Institutionen und den Empfindungen und Vorurteilen des irischen Volkes, welches nach der überlieferten Lehre unserer historischen Konservativen der erste in Betracht zu ziehende Gesichtspunkt für die Entscheidung wäre, alte Institutionen zu erhalten oder neue einzuführen. Abgesehen von der Frage der Akzeptabilität für Irland sollten wir nun aber überlegen, ob unsere eigenen Gesetze und Verfahrensweisen, zumindest in Bezug auf Grund und Boden, modellhaft für die Regierung Irlands wären. Wir sollten überlegen, ob die Bedingungen in beiden Ländern hinreichend ähnlich sind, um den Gedanken zu stützen, dass Dinge die bezüglich des Eigentums in England funktionieren, oder zumindest ihm nicht schaden, auch nützlich oder zumindest harmlos sind, selbst wenn sie freiwillig vom Volk der benachbarten Insel akzeptiert werden. Was sind die Hauptmerkmale der Sozialwirtschaft Irlands? Erstens ist es ein reines Agrarland. Abgesehen von einigen sehr unbedeutenden Ausnahmen bewirtschaftet die gesamte Bevölkerung den Boden oder ist subsistenzabhängig von dessen Bewirtschaftung. Wenn man in dieser Hinsicht alle Länder Europas außer Russland auf einer Reihe platzieren würde, wäre Irland am einen Ende zu finden, England und Schottland aber am anderen. In Großbritannien lebt nicht mehr als ein Drittel der Bevölkerung von der Landwirtschaft, in den meisten Ländern des Kontinents hingegen eine große Mehrheit, die aber in keinem Land außer Russland so groß ist wie in Irland. In diesem wesentlichen Punkt ähnelt Irland deshalb nahezu jedem anderen europäischen Land mehr als Großbritannien. Wenn die Landbevölkerung nur einen Bruchteil der Gesamtbevölkerung bildet, und die Entwicklung von Handel und Industrie des Landes den Kindern der Bauern große Möglichkeiten eröffnet, ihre Subsistenz andernorts als auf dem Lande zu suchen und zu finden, dann ist ein schlechtes Pachtverhältnis, obwohl immer von Nachteil, einigermaßen verträglich. Aber wenn allein der Boden die Subsistenzgrundlage ist, dann sind die Bedingungen, unter denen er bewohnt und der Lebensunterhalt von ihm erlangt werden kann, alles, worauf es ankommt. Nun unterscheiden sich trotz scheinbarer Ähnlichkeit jene Bedingungen in Irland und in England grundsätzlich. In England wird Grund und Boden von kapitalistischen Bauern gepachtet und bewirtschaftet, in Irland hingegen, außerhalb des Weidelandes, hauptsächlich durch Landarbeiter oder unter nahezu gleichen Bedingungen lebende Kleinbauern. Es würde hier zu weit führen, die Vielzahl der anderen Unterschiede darzustellen, die aus diesem einen folgen. Bedeutsamer ist jedoch die Tatsache, dass die Bedingungen in Irland, unter denen es den Menschen erlaubt ist, das Land zu bewohnen – und von denen hier das Wohl der Gesamtbevölkerung abhängt –, die schlimmsten in Europa sind. Es gibt viele andere Länder, in denen Grund und Boden hauptsächlich als Großgrundbesitz existiert und zu weiten Teilen durch Landarbeiter bewirtschaftet wird. Aber ich bezweifele, dass es irgendeinen anderen Teil Europas gibt, in welchem als allgemeine Regel genommen diese Landarbeiter keinerlei beständiges Interesse an Grund und Boden besitzen. Die Leibeigenen hatten sicherlich ein solches Interesse. Sie konnten nicht von dem ihnen

304

D  E  M

überlassenen Land vertrieben werden. Die métayers im vorrevolutionären Frankreich hingegen doch; ihr Elend war folglich in ganz Europa sprichwörtlich. Immer noch gibt es métayers in Frankreich, wobei jene, die im Gegensatz zu anderen nach wie vor kein anderes Land wirklich besitzen, immer noch ein beunruhigendes Element des Landlebens bilden. Die Departements, welche in den Jahren 1848 und 1849 sozialistische Abgeordnete in die Nationalversammlungen wählten, waren hauptsächlich jene, in welchen der Méteyerismus noch fortlebte. Die métayers in Italien können gewohnheitsrechtlich, verbindlich wie das Gesetz, nicht vertrieben werden, solange sie ihrer Vertragspflicht nachkommen. Die Bauern in Preußen hatten, selbst vor den segensreichen, sie befreienden Stein-Hardenbergschen Reformen, positive Rechte an Grund und Boden, die ihnen nicht genommen werden konnten. Nur in Teilen Belgiens pachten Kleinbauern von Großgrundbesitzern, ohne einen anderen Rechtsschutz zu haben als die Klauseln für kurzfristige Mietverträge. Aber ihr wahrlich bewundernswerter Arbeitseifer verdankt seine Kraft der Tatsache, dass kleine Grundstücke immer zu haben sind, und zwar zu Preisen, die sie hoffen dürfen, erwirtschaften zu können. Ferner leben sie inmitten einer großen und blühenden Manufakturwirtschaft, die jene Arbeitskräfte absorbiert, welche andernfalls über Gebühr um Grundstücke wetteifern würden. Nur in Irland kann die gesamte Landbevölkerung durch den bloßen Willen des Grundherren vertrieben werden, entweder nach Auslaufen eines Pachtvertrages oder aber und weit häufiger deshalb, weil überhaupt kein Pachtvertrag besteht, nach einer Frist von sechs Monaten. Nur in Irland ist der Großteil der Bevölkerung völlig abhängig vom Grund und Boden und kann nicht darauf vertrauen, auf ihm für ein Jahr leben zu können: der einzige Ausweg, der enteigneten Landwirten oder denjenigen bleibt, deren Konkurrenz den Landwirten die Mieten zu teuer macht, ist die Auswanderung. Solange sie in ihrem Geburtsland bleiben, müssen sie ihre Unterstützung aus einer Quelle beziehen, deren Beständigkeit nicht gewährleistet werden kann, und bei deren Versiegen sie auf nichts anderes rechnen können als das Armenhaus. Allein in einer Hinsicht sind England und Irland gleich: Die landwirtschaftlich genutzte Fläche besteht als Großgrundbesitz einer kleinen Schicht bedeutender Grundherren. In den Augen dieser bedeutenden Grundherren und in denen der Bewunderer des gesellschaftlichen Zustands, der sie geschaffen hat, reicht dies: Man kann vorbehaltlos darauf bauen, dass das Interesse und die Weisheit des Grundherren jeden zufriedenstellen. Die Großgrundbesitzer können diesseits der Irischen See mit ihren Gütern tun und lassen, was sie wollen; englische Grundbesitzer herrschen unbeschränkt über die Bedingungen, unter denen sie ihre Güter verpachten; warum irische nicht auch? Erstens jedoch verpachten englische Grundbesitzer ihr Land nicht an einen Landarbeiter, sondern an einen kapitalistisch wirtschaftenden Bauern, der sich um sein eigenes Interesse kümmern kann. Der Kapitalist muss nicht zwischen dem Besitz einer Farm und der Verelendung wählen, der Landarbeiter doch. Dies unterminiert das Fundament, auf welchem die Pacht von Gutshöfen als Geschäftsbeziehung wie auch die Volkswirtschaft beruhen muss. Der kapitalistisch wirtschaftende Bauer wird sich hüten, ein Pachtangebot zu unterbreiten, das ihm keine Profite lässt. Der Kleinbauer verspricht, jeden Pachtbetrag zu zahlen, ob er dies kann oder nicht. Da ferner England keine rein agrarwirtschaftliche sondern eine Handelsnation ist, lernen sogar Großgrundbesitzer, die Verwaltung ihrer Güter mit einer gewissen Portion Unternehmergeist zu betrachten und können ihren eigenen Vorteil darin

E  I ()

305

finden (wenn die Neigung zur politischen Einflussnahme nicht dazwischentritt), es zum Interesse des Pächters zu machen, die Qualität von Grund und Boden zu verbessern, oder – so sie sich dies leisten können – diese Verbesserung in dessen Interesse selbst vorzunehmen. Ein durchschnittlicher irischer Großgrundbesitzer wird, statt seine Güter zu verbessern, nicht einmal die Zäune und die Wirtschaftsgebäude errichten, die er andernorts verpflichtet wäre, zur Verfügung zu stellen. Diese Arbeit wird dem Pachtbauern überlassen und entspricht letztlich den Mitteln, über die er hierzu verfügt. Wenn hier und da ein Pächter fähig und willens ist, diese Bauten etwas besser als üblich auszuführen oder in der einen oder anderen Weise Produktivität und Wert des Bauerngutes zu erhöhen, kann niemand den Grundbesitzer davon abhalten, sich nach Beendigung der Arbeiten ihrer Resultate zu bemächtigen oder vom Pächter zusätzliche Miete für den Gebrauch der Früchte der Arbeit dieses Pächters zu verlangen. Viele hochrangige Grundbesitzer schämen sich nicht, dies zu tun, womit offensichtlich ist, dass ihresgleichen dieses Tun nicht als schändlich betrachtet. Für gewöhnlich werden die schlimmsten Missbräuche irischer Gutsherrlichkeit Mittelsmännern zugeschrieben. Mittelsmänner sind eine schnell aussterbende Spezies. Jedoch gab es vor kurzem einen solchen5 im County Clare, unter dessen Verwaltung irische Pachtbauern vermöge ihrer Arbeit und der wenigen, ihnen zur Verfügung stehenden Mittel dem Meer eine beträchtliche Landfläche abringen konnten und dort das florierende Seebad Kilkee gründeten. Der Mittelsmann verstarb, der Pachtvertrag lief aus und die Pächter bildeten sich ein, ihnen werde es nun weiterhin besser gehen. Jedoch der Großgrundbesitzer, der Marquis von Conyngham, erhöhte sofort die Pacht, die nun dem Gesamtwert der Verbesserungen entsprach6 (in einigen Fällen ein Zuwachs um 700 %). Damit nicht zufrieden, riss er einen beträchtlichen Teil der Stadt 5 6

Anmerkung der Herausgeber: Mr. Studdert. Anmerkung von Mill: Dieser Darstellung folgten Entgegnungen vom Marquis von Conyngham in der Times und von Lord Lifford im House of Lords. [Anmerkung der Herausgeber: Francis Nathaniel Conyngham, „To the Editor of The Times“ (24. Februar 1868), The Times, 26. Februar 1868, S.10; und James Jewitt, Speech on the Tenure (Ireland) Bill (12. März 1868), PD, 3. Ser., Bd. 190, Sp. 1440–1443.] Aber diese Entgegnungen wiedersprechen ihr in keinem entscheidenden Punkt. Sie bestreiten nichts von dem, was ich behauptet habe, außer der Behauptung, die Pacht sei auf den „Gesamtwert der Verbesserung“ erhöht worden. Zur Stützung ihres Dementis behaupten sie, dass nach Verkauf einiger Teile des Gutsbesitzes die Pächter des übriggebliebenen eine Eingabe an Lord Conyngham gerichtet haben, in dem sie ihn anflehten, er möge ihr Pachtgut nicht verkaufen und sie weiterhin als Pächter behalten. Nun kann es wohl sein, dass die Pachterhöhung, so groß sie auch ausfiel, nicht dem Gesamtwert entspricht, der dem Pachtgut durch die Arbeit und das Vermögen der Pächter hinzugesetzt wurde. Dafür ist es aber kein Beweis, dass sie eher bereit waren, die Pacht zu bezahlen als sich vertreiben zu lassen oder es vorgezogen haben, unter ihrem alten Gutsbesitzer zu bleiben, dem gegenüber sie eine bestimmte Art moralischen Anspruchs hatten, wie unklar er ihn auch immer wahrgenommen haben mag, statt sich einem Fremden überantworten zu lassen, dessen erste Tat sein könnte, „das Gut freizuräumen“, wie dies einige andere Käufer getan haben, die ihren Besitz durch die Encumbered Estates and Landed Estates Courts erwarben. Im House of Lords fügte Lord Lifford ein weiteres Beweisstück hinzu, um zu zeigen, dass Lord Conynghams Pachten nicht übermäßig waren. Dieses besagt, dass die Käufer der von ihm kürzlich verkauften Teile seines Gutsbesitzes sofort die Pacht um 50 % erhöhten. Eine Lord Conyngham kompromittierendere Tatsache hätte kaum ans Licht gebracht werden können. Auch wenn seine Pachtgebühren jemals wirklich so moderat gewesen wären, so hat er doch, indem er das Land mittels öffentlichen Wettbewerbs verkaufte, den Kauf zu seinem eigenen Wohl und zwei-

306

D  E  M

ab, dezimierte deren Bevölkerung von 1879 auf 950 Einwohner und vertrieb die restlichen, die schließlich in Irland umherirrten oder nach England oder Amerika gingen und die Reihen der erbitterten Feinde Großbritanniens stärkten.7 Wurde der Gutsherr durch sein Interesse oder sein Gewissen daran gehindert, diese bemerkenswerte Schöpfung fleißiger Arbeit zu zerstören und deren Schöpfern Grund dafür zu geben, bitter zu bereuen, sie jemals geschaffen zu haben? Was könnte man nicht von einem Volk erhoffen, das trotz der Gefahr, ausgeraubt zu werden, die Energie und den Unternehmergeist aufbrachte, eine blühende Stadt zu erbauen? Und welches Verständnis und welche Rücksichtnahme dürfen jene erwarten, die sich eines schlechten Gesetzes bedienen, um etwas zu praktizieren, was moralisch gesehen Raub ist? Wenn Iren verlangen, vor Handlungen dieser Art geschützt zu werden, wird ihnen mitgeteilt, dass dasselbe Gesetz, über welches sie sich beschweren, auch in England existiert. Was ist von der Selbigkeit des Gesetzes zu halten, wenn die öffentliche Meinung und die gesellschaftlichen Umstände eines Landes besser sind als das Gesetz und die Unterdrückung verhindern, die das Gesetz erlaubt? Schlecht ist es, wenn man bei Befolgung des Gesetzes beraubt werden kann, viel schlimmer aber ist es, tatsächlich beraubt zu werden. Vermöge seiner kapitalistischen Bauern und einer mächtigen öffentlichen Meinung kann es sich England leisten, seinen Großgrundbesitzern unangemessene Macht zu überlassen – nicht dass dies ihrer Landbevölkerung nicht ernsthaft Schaden zufügen würde, deren Zustand allgemein als größter Schandfleck der englischen Gesellschaft betrachtet wird; nicht dass dies nicht all denen schaden würde, über welche jene Bevölkerungsgruppe Macht durch ihre Wahlstimmen ausübt – aber die Nation als Ganze hindert dies nicht daran, großen Reichtum und Wohlstand zu erlangen. Irland hingegen ist in einer völlig anderen Situation. Wird der Grund und Boden eines Landes von denjenigen bewirtschaftet, die ihn auch bestellen, dann ist in der Regel die daraus resultierende Sozialwirtschaft untragbar, es sei denn, der Pachtbauer ist vor willkürlicher Vertreibung oder willkürlicher Mietsteigerung durch Gesetz oder Gewohnheitsrecht geschützt. Außer England (und möglicherweise Spanien) gibt es in Westeuropa kein Land, dass, würde Irland zu ihm gehören, dieses Prinzip nicht bereits erkannt und ihm entsprechend gehandelt hätte. Jedes ist mit diesem Prinzip und seiner Tragweite nämlich durch vielfältige Erfahrungen vertraut. Allein England besitzt keine eigenen Erfahrun-

7

fellos zum wirklichen Wert des Landes getätigt, wozu auch das Vermögen gehört, die Pachtzahlung um 50 % anzuheben. Folglich fließt die Kapitalsumme, die sich der Arbeit seiner Pächter verdankt und von der jene Pachtzahlungen die Zinsen sind, in seine eigene Tasche. Obwohl dies für die Frage nicht wesentlich ist, möchte ich doch hinzufügen, dass, wenn ich dies richtig sehe, die Käufer der Gerichtsvollzieher im Auftrag von Lord Conyngham und der Bruder eines Angestellten seines Vertreters waren. Darüber hinaus wurden die Verkäufe über den Köpfen der unglücklichen Pächter abgeschlossen, die ihre Geldmittel bis zum Äußersten beanspruchten, um in der Lage zu sein, das Eigentum zurückzukaufen, dass sie selbst geschaffen hatten, die aber letztlich überboten und enttäuscht wurden. Anmerkung von Mill: Die Darstellung dieser Tatsachen hat traurige Berühmtheit erlangt. Einzelheiten, die weit eindrucksvoller sind, als ich mir zu zitieren erlaubt habe, findet der Leser in der Broschüre von Rev. Sylvester Malone, Tenant-Wrong Illustrated in a Nutshell; or, A History of Kilkee in Relation to Landlordism during the Last Seven Years [Anmerkung der Herausgeber: Dublin: Kelly, 1867].

E  I ()

307

gen dieser Art, es weiß zu wenig über andere Länder und kümmert sich zu wenig um diese, um von deren Erfahrungen profitieren zu können. Zu einem bestimmten Zeitpunkt des Revolutionskrieges wurde eine französische Streitmacht unter dem Befehl des berühmten Hoche allein durch schlechtes Wetter daran gehindert, in Irland anzulanden. In dem Moment war es eine offene Frage, ob Irland nicht zu Frankreich gehören oder zumindest als unabhängiges Land unter französischem Schutz verwaltet werden sollte. Müsste man nicht, wenn dies geschehen wäre, glauben, dass der irische Bauer nicht dem französischen gleich geworden wäre? Wenn die Großgrundbesitzer geflohen wären, und sie wären nach England geflohen, würde jeder Hof auf ihren Grundstücken Eigentum des Bewohners geworden sein, vorbehaltlich eines festen, an den Staat gehenden Zahlbetrages. Unter diesen Bedingungen würden in Irland kleinbäuerliche Produktion und Pachtverhältnisse von Landarbeitern im Einklang mit einer prosperierenden Landwirtschaft und der öffentlichen Wohlfahrt stehen. Der Kleinpächter hätte für sich gearbeitet, nicht für andere, und sein Interesse wäre mit dem Interesse des Landes dahingehend eins geworden, den Ertrag eines jeden Grundstücks zu maximieren. Was Hoche für den irischen Bauern oder seinesgleichen getan hätte, bleibt immer noch zu tun; jede Regierung aber, die dies nicht tut, verfehlt die Vernunft und Moral gebietenden Standards einer Regierung. Es besteht keine Notwendigkeit, dies zu tun – wie Hoche dies höchstwahrscheinlich getan hätte –, ohne die Verlierer zu entschädigen. Vor wenigen Jahren wäre es nicht notwendig gewesen, so viel zu tun, wie er getan hätte. Die Verteilung von Ödland als kleinbäuerliches Eigentum dürfte damals hinreichend gewesen sein. Unaufwendige Maßnahmen wie etwa die, den Pächtern eine moderate Kompensation in Form von Geld oder Pachtfristen für wertsteigernde Verbesserungen zu sichern und die Abschaffung des ungerechten Privilegs der Pfändung für ausstehende Mietzahlungen hätten womöglich die Unzufriedenheit besänftigt oder den Ausbruch des Unmuts verzögert und damit dem Großgrundbesitz eine neue Existenzberechtigung gegeben. Wenn man aber Reformen wie diese erst im letzten Moment gewährt, wird man schwerlich den aktiven Unmut um eine Woche aufschieben können. Die Iren sind nicht mehr dazu verurteilt, das zu nehmen, was sie bekommen können. Bei ihnen ist nunmehr das Gefühl entstanden, durch eine Vielzahl wohlhabender Landsleute auf der anderen Seite des Atlantiks unterstützt zu werden. Diese sind es, die in jeder zukünftigen irischen Rebellion die Führer, Geldmittel und Fertigkeiten stellen sowie über die militärische Disziplin und einen Großteil der Schlagkraft verfügen werden. Es ist im Interesse dieser Hilfstruppen, keine Kompromisse einzugehen, denn sie würden von keinem der daraus entspringenden Vorteile profitieren. Ihr Traum, von der Welt als Führer einer unabhängigen Republik gesehen zu werden, wäre dann obsolet. Mit diesen als Führern und einem Volk wie den Iren, immer bereit, bedingungslos dem Vertrauen zu schenken, von dem sie glauben, er vertrete innig ihre Sache, ist folglich kein Übereinkommen möglich, dass dem irischen Bauern nicht all das gewährte, was diese durch eine Revolution erlangen könnten: permanenten Besitz von Grund und Boden vorbehaltlich eines festen Zahlbetrags. Ein solcher Wandel mag revolutionär sein, aber revolutionäre Maßnahmen sind das, was jetzt erfordert ist. Diese Revolution muss nicht gewalttätig, noch weniger muss sie ungerecht sein. Sie dürfte und sollte bestehende finanzielle Interessen respektieren, die den Schutz des Gesetzes genießen. Ein Ausgleich ist für den reinen Geldwert aller verwerflichen Rechte zu gewähren, welche man den Großgrundbesitzern oder anderen preiszugeben abver-

308

D  E  M

langt. Aber keine Gnade sollten die verwerflichen Rechte selber finden; keine Skrupel rein englischer Herkunft sollte uns, da es nun soweit gekommen ist, davon abhalten, eine wirkliche Revolution der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struktur Irlands zu bewirken. In der Vollständigkeit der Revolution wird ihre Verlässlichkeit liegen. Nichts weniger als das Ganze, es sei denn, es ist ein Schritt zum Ganzen hin, wird helfen. Es gab eine Zeit, in der Vorschläge für einen Wandel durch einen stufenweisen Fortgang durch die Begünstigung freiwilliger Vereinbarungen unterbreitet werden konnten – leider ist der Band der Sibyllinischen Bücher, der sie enthielt, jedoch verbrannt. Wenn wir jemals Irland als zustimmenden Beteiligten der Einheit mit England erleben sollten, dann hat der Wandel so zu erfolgen, dass die heute lebende Generation irischer Bauern dessen Nutzen sofort erfährt. Die Herrschaft über Irland gehörte rechtens denen, welche jene, die den irischen Boden bestellen, durch in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit stehende Mittel zu dessen Eigentümern machen; die englische Nation muss sich entscheiden, ob sie dieser gerechte Herrscher sein will oder nicht. Engländer sind nicht in jedem Falle unfähig, die Vorurteile abzuschütteln, die sie als Inselvolk hegen, sondern zuweilen in der Lage, ein anderes Land entsprechend seiner Bedürfnisse, statt englischen Gewohnheiten und Vorstellungen folgend, zu regieren. Dies ist es, was ihnen in Indien abverlangt wurde. Die Engländer, die sich mit Indien etwas auskennen, sind jetzt auch jene, die Irland am besten verstehen. Personen, die mit beiden Ländern vertraut sind, haben viele Ähnlichkeiten zwischen dem irischen und dem Hinducharakter festgestellt; gewiss gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen den Landwirtschaften Irlands und Indiens. Durch einen glücklichen Zufall obliegt die Aufgabe, Indien in Namen Englands zu regieren, nicht dem Parlament oder den Behörden in Westminster, sondern Männern, die in Indien gelebt und die Interessen Indiens zur eigenen beruflichen Angelegenheit gemacht haben. Von Vorteil war auch, dass England diese Aufgabe zufiel, nachdem Nationen ein Gewissen zu entwickeln begannen und nicht schon zu der Zeit, als sie noch in mittelalterlicher Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit versunken waren. Die englischen Herrscher fanden sich demgemäß mit dem Gedanken ab, dass es ihre Aufgabe war, bereits etablierte Rechte nicht hinwegzufegen oder sie in eine englischähnliche Form zu stauchen und zu pressen, sondern in Erfahrung zu bringen, worin sie bestehen; und nachdem sie dies herausgefunden hatten, jene absolut schädigenden abzuschaffen, die anderen aber zu schützen und sie als Ausgangspunkt weiterer Entwicklung zu nutzen. Diese Arbeit, von vorgefertigten englischen Meinungen freizukommen, erfolgte zuerst unbeholfen, unvollständig und zum Preis vieler Fehler. Aber weil es den Engländern ernst damit war, hatten sie schließlich Erfolg. Indien wird nun in voller Kenntnis und Anerkennung seiner Unterschiede zu England regiert, wenn auch mit vielen der gewöhnlichen Unzulänglichkeiten, die Herrschern eigen sind. Was für Indien getan werden musste, ist jetzt für Irland zu tun: Wie wir aus dem einen Land hätten vertrieben werden müssen, falls wir den Erfordernissen nicht entsprochen hätten, so würden wir es verdienen, das andere zu verlieren. Sowenig wie im Falle eines Individuums ist es in dem einer Nation mit dem Selbstrespekt zu vereinbaren, solange zu warten, bis man gezwungen ist, angesichts unkontrollierbarer Umstände das preiszugeben, was man ehrlichen Gewissens nicht länger halten kann. Ehe sie ihrer Regierung erlaubt, noch weitere Versuche zu wagen, die englische Herrschaft über Irland mittels roher Gewalt aufrechtzuerhalten, sollte die englische Nation in sich gehen und ernsthaft

E  I ()

309

die eigene Position überdenken. Wenn England aber unfähig wäre, das zu lernen, was gelernt werden sollte, und das zu unterlassen, was unterlassen werden sollte, um das irische Volk zu einer freiwilligen Akzeptanz seiner Herrschaft zu bewegen, bzw. – um diesen Gedanken aus der anderen Perspektive zu betrachten – wenn die Iren unfähig wären, die Überlegenheit der englischen Vorstellungen hinsichtlich ihres Regiertwerdens zu begreifen, und sie hartnäckig auf der Vorzugswürdigkeit ihrer eigenen Vorstellungen bestünden; würden wir dann, sollte diese Vermutung, aus welcher Blickrichtung auch immer, stimmen, der Staat sein, welcher in Anbetracht der Machbarkeit und der Regeln der Moral Irland regieren sollte? Würde es sich so verhalten, so müssten wir uns fragen, was wir eigentlich meinen, wenn wir den Polen, Italienern, Ungarn, Serben, Griechen und ich weiß nicht wie vielen anderen unterjochten Nationen unsere Sympathie bezeugen. Welchen Grundsätzen sind wir gefolgt, als wir die Regentschaft über die Ionischen Inseln abgegeben haben?8 Wenn man sich dieses höchst bedeutsamen Problems stellt, so sollte dies nicht aus Furcht vor möglichen Konsequenzen sondern aus einem Gefühl der Gerechtigkeit heraus geschehen. Dennoch ist die Behauptung nicht unangebracht, dass es schlechtweg unmöglich ist, Irland dauerhaft auf die alte, üble Art zu halten. Weder Europa noch Amerika würden heute den Anblick eines jenseits der Irischen See gelegenen Polen ertragen. Sollten wir dies versuchen und eine wenn auch nur wenige Wochen dauernde Rebellion provozieren, so würde über der gesamten zivilisierten Welt ein Sturm der Entrüstung losbrechen; in diesem einzigartigen Moment wären Liberale und Katholiken eins; die Freiwilligen des Heiligen Stuhls und die Anhänger Garibaldis würden Seite an Seite gegen uns und für die Unabhängigkeit Irlands solange kämpfen, bis die vielen Feinde Großbritanniens und seines Wohlstands Zeit fänden, die Situation durch einen internationalen Krieg zu verschärfen. Auch wenn es uns gelänge, eine Rebellion zu verhindern oder sie in dem Moment ihres Ausbruchs niederzuschlagen, so wäre die mit militärischen Mitteln erfolgende Unterdrückung eines verzweifelten, beständig an seinen Ketten zerrenden Volkes ein Schauspiel, das Russland der Menschheit noch darzubieten vermag, weil es für einen auswärtigen Feind nahezu unzugänglich ist. Aber in einem so schutzlosen Land wie England wäre ein solcher Versuch nicht von anhaltendem Erfolg gekrönt, weil es in jedem Teil der Welt Gebiete besitzt, die es verteidigen müsste, und weil die Hälfte seiner Bevölkerung vom Außenhandel abhängig ist. Auch glaube ich nicht, dass der Großteil des britischen Volkes, das heißt ein jeder noch nicht durch Macht Korrumpierte, einen solchen Versuch zulassen würde. Die Propheten, die wie ich vermute von sich selbst ausgehen und immer von den moralischen Gefühlen ihrer Landsleute das Schlimmste befürchten, versichern schon jetzt, dass das britische Volk, zu Recht oder nicht, lieber Irland von Küste zu Küste verwüsten und von seinen Einwohnern befreien würde, als dessen Trennung von England zuzustimmen. Wenn wir ihnen glauben, dann ist das englische Volk Bluthunden gleich, immer bereit, sich von der Kette zu reißen und Jamaika-Grausamkeiten zu verüben, es sei denn die Propheten und ihresgleichen schreiten ein, um die britische Brutalität zu zügeln und zu zähmen. Diese Darstellung entspricht nicht meiner Erfahrung. Ich glaube dass diese Prophezeiungen von Menschen stammen, die ihre Landsleute für das verantwortlich machen wollen, was 8

Anmerkung der Herausgeber: Siehe 27 & 28 Victoria, c. 77 (1864).

310

D  E  M

sie selbst liebend gern verüben würden. Auch glaube ich, dass die aufsteigende politische Kraft zur Regelung unserer Angelegenheiten, die Demokratie Großbritanniens, vom Prinzip her dagegen ist, irgendein Volk gegen seinen Willen als Untertan zu halten. Vor etwa sechs Monaten wurde diese Frage einer der größten und begeistertsten öffentlichen Versammlungen gestellt, die jemals in London unter einem Dach zusammengetreten war: „Glaubt ihr, dass England das Recht hat, über Irland zu herrschen, wenn es das irische Volk nicht dazu bringen kann, in seine Herrschaft einzuwilligen?“ Die „Nein!“-Rufe, die aus jeder Richtung der großen Versammlung hervorbrachen, werden von denen, die sie vernahmen, so bald nicht vergessen sein.9 Ein Zeitalter, in welchem Delegierte der Arbeiterschaft sich auf europäischen Kongressen treffen, um gemeinsame Aktionen im Interesse der Werktätigen abzustimmen, ist kein solches, in dem Arbeiter auf anderer Leute Geheiß gegen Arbeiter vorgehen. Die Zeit ist gekommen, in der die Demokratie eines Landes sich mit der Demokratie eines anderen verbündet, statt die eigenen Herrscher darin zu unterstützen, diese niederzuschlagen. Solange ich dies nicht bewiesen sehe, werde ich nicht glauben, dass das englische und schottische Volk der Torheit und Bosheit fähig sind, mit Feuer und Schwert über Irland herzuziehen, damit Irland gegen den Willen des irischen Volkes von seinen Herrschern regiert wird. Dass sie aber eine kleine Rebellion niederschlagen würden, um einem solchen Regierungssystem eine Chance zu geben, das dem Volk dienlich und allgemein zustimmungswürdig ist, glaube ich jedoch gern; auch würde ich sie nicht dafür tadeln, wenn sie dies täten. Man solle allerdings nicht glauben, dass ich eine vollständige oder eingeschränkte Trennung beider Länder als etwas anderes betrachte denn als Schmach des einen und als gravierendes Missgeschick beider. Vor die Alternative gestellt, einerseits die Gesetze und Regelungen, die das Verhältnis der Einwohnerschaft zu Grund und Boden betreffen, in einem legislativen Prozess friedlich zu revolutionieren, andererseits eine unsere Fertigkeiten übersteigende Aufgabe fällen und Irland der Selbstregierung zu überlassen, wäre es eine große Schande für uns, wenn wir, der Unfähigkeit wegen, die bessere Alternative zu wählen, zur schlechteren getrieben würden. Denn viele Iren, sogar irische Katholiken, sind vermutlich besonnen genug einzusehen, dass selbst für Irland die Trennung viel schlimmer wäre, vorausgesetzt eine gute Regierung würde ohne diese möglich sein. Beide Länder sind schon ihrer geographischen Lage wegen weit besser geeignet, vereint als eine Nation denn getrennt als zwei Nationen zu existieren. Nicht nur wären beide stärker vereint als getrennt in der Verteidigung gegen einen ausländischen Feind; getrennt wären sie auch eine permanente gegenseitige Bedrohung. Würden sie sich jetzt trennen, dann wären beide Inseln, angesichts der gegenwärtigen Gefühlslage beider, unter den europäischen Ländern jene mit der feindseligsten Einstellung gegeneinander. Immer noch, mehr als achtzig Jahre nach der Teilung, ist die Missgunst zwischen England und den Vereinigten Staaten zu groß; und Irland hat viele Jahrhunderte lang durch England verursachte Missstände ertragen müssen, angesichts derer die größten Übel, unter denen die Amerikaner zu leiden hatten, abgesehen vom Prinzip, unbedeutend waren. Der beharrliche Austausch von Schmähungen zwischen der englischen und amerikanischen 9

Anmerkung der Herausgeber: John Stuart Mill, Rede auf dem National Reform Union Meeting in der St. James’s Hall (25. Mai 1867), Daily News, 27. Mai 1867, S. 2.

E  I ()

311

Presse sowie zwischen Personen des öffentlichen Lebens hat beide Länder schon an den Rand eines Krieges gebracht; würde diese Gefahr nicht noch größer sein, wenn sie Länder beträfe, die in enger Nachbarschaft existieren, am Tag nach ihrer feindschaftlichen Trennung? In diesem beständigen Zustand so aufrechterhaltener Gereiztheit werden Kleinigkeiten schnell zu Ursachen ernsthaften Streits. Mehr oder weniger gravierende Meinungsverschiedenheiten, gar Zusammenstöße könnten dann jederzeit auftreten. Irland müsste sich nicht nur gegen alle anderen Feinde, innere wie äußere, ohne englische Hilfe verteidigen, sondern wäre auch verpflichtet, immer gerüstet und bereit zu sein, gegen England zu kämpfen. Ein Ire muss eine sehr hochfliegende Vorstellung von den Ressourcen seines Landes haben, wenn er glaubt, der irische Steuerzahler könnte diese Last leicht schultern. Eine Kriegssteuer, die mangels anderer besteuerbarer Güter auf Grund und Boden erhoben würde, wäre kein kleiner Verlust, wenn man sie gegen den Gewinn rechnet, den der Bauer auch bei völliger Abschaffung der Pachtzahlung machte. Die Last der Notwendigkeit, immer kriegsbereit zu sein, war kein unwesentlicher Teil der Motivation der amerikanischen Nordstaaten, einen sofortigen Krieg gegen die Südstaaten der Alternative vorzuziehen, in deren Abspaltung von der Union einzuwilligen. Dennoch hätte die Bürde nicht so schwer auf den Nordstaaten gelastet wie auf Irland, weil sie sowohl der mächtigere als auch der reichere Teil der amerikanischen Union waren. Für England wäre die Bürde beständiger Kriegsbereitschaft gegen Irland eine vergleichsweise geringere Unannehmlichkeit, denn es muss bereits zum Zweck der Verteidigung gegen das Ausland eine Streitmacht unterhalten, die generell für beide Aufgaben hinreichend wäre. Irland aber hätte sowohl eine Flotte als auch ein Heer zu schaffen und würde – nachdem alles getan wäre, was hätte getan werden können – unter einem solch bedrückenden Gefühl der Unsicherheit leiden, dass es vermutlich gezwungen wäre, seine gerade erlangte Unabhängigkeit aufs Spiel zu setzen und den Schutz durch Bündnisse mit Kontinentalmächten zu suchen. Von diesem Moment an würde Irland zusätzlich zu den Kriegen, die es selbst führte, in die Beteiligung an deren Kriegen gezogen werden. Wählte Irland aber das kleinere Übel und enthielte sich einer jeden permanenten Verstrickung, würden alle Feinde Großbritanniens nicht weniger zuversichtlich einer Allianz mit Irland und der Erlaubnis, Irland als Aufmarschgebiet eines gegen Großbritannien gerichteten Angriffs nutzen zu können, entgegenstehen. Irland würde vermutlich, wie vor ihm Belgien, zu einem der Schlachtfelder europäischer Kriege werden, wobei es nicht grundlos befürchtete, dass England selber, sollte es die Gefahr vorhersehen, immer dann Irland militärisch besetzen würde, sobald Feindseligkeiten entstehen. Was England betrifft, so schließt der friedliche Charakter, den die englische Politik angenommen hat, jede Möglichkeit eines Angriffskrieges aus, aber die vertriebenen irischen Oberschichten (und ihrer Vertreibung könnten sie wohl kaum entgehen) würden ein Irland feindlich gesonnenes Element diesseits der Irischen See bilden – sie wären für Irland das gleiche wie die émigrés in Koblenz für das revolutionäre Frankreich. Dabei setze ich voraus, dass es Irland gelingt, eine reguläre und ordentliche Regierung zu installieren. Aber nehmen wir an, dies gelingt Irland nicht? Was wäre, wenn das Land zuerst durch eine Phase teilweiser Anarchie hindurch müsste? Was wäre, wenn ein Bürgerkrieg zwischen den protestantischen und katholischen Iren ausbräche, oder zwischen Ulster und den anderen Provinzen? Liegt es nicht in der menschlichen Natur, dass die Sympathien der Engländer prinzipiell auf Seiten der englischen protestantischen Kolonialisten sind, und würden

312

D  E  M

sie nicht diese Partei unterstützen oder müsste man nicht von ihnen ständig annehmen, dass sie kurz davor wären, sie zu unterstützen? Seit Generationen befürchtet man, beide Nationen könnten Krieg gegeneinander führen, oder in einem permanenten Zustand prekären und bewaffneten Friedens sein, wobei jeder im anderen einen möglichen Feind aus unmittelbarer Nähe anvisierte, sodass beide in jedem Augenblick einander an die Kehle gehen könnten. Angesichts dieses Zustands ihrer gegenseitigen Beziehungen ist es nahezu überflüssig zu betonen, dass dabei das ärmere der beiden Länder am meisten leiden würde. Für England wäre es eine Unannehmlichkeit, für Irland hingegen ein öffentliches Unheil, nicht nur hinsichtlich der unmittelbar sich einstellenden Lasten, sondern auch des lähmenden Effekts wegen, den ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit auf Gewerbeleben und Unternehmergeist haben würde. Aber jenseits all dessen gibt es noch eine Eventualität, vor deren möglichem Eintreten wir unsere Augen nicht verschließen sollten. Irland könnte von einer militärischen Großmacht überfallen und besiegt werden. Möglicherweise würde Irland zu einer Provinz Frankreichs. Sehr unwahrscheinlich wäre dies nicht, sollte seiner Unabhängigkeit von England eine langwierige Phase chaotischer Zustände folgen, sodass friedfertige Menschen einen bewaffneten Friedensstifter willkommen heißen könnten, der den Konfliktparteien ein gemeinsames Untertanenverhältnis aufzuerlegen die Macht besäße. Welch bitteres Ergebnis ihres Kampfes dies patriotisch gesinnten Iren wäre, soll hier nicht erörtert werden. Aber ich frage jeden patriotischen Engländer, was er von einer solchen Aussicht hielte, und ob er bereit wäre, das Risiko eines solchen Szenarios auf sich zu nehmen, damit einige wenige hundert Familien der Oberklasse weiterhin den Grund und Boden Irlands besitzen können, statt dessen Geldwert zu erhalten. All diese Missstände ließen sich, so könnte man denken, dadurch verhindern, dass man sich im Voraus auf ein enges Bündnis und eine dauerhafte Konföderation zwischen beiden Nationen einigte. Aber wäre es denn wahrscheinlich, dass die Partei, welche die Trennung in den inneren Angelegenheiten verursacht hat, eine Einheit in den äußeren wünschen oder ihr zustimmen würde? Eine Konföderation ist eine Übereinkunft, dieselben Freunde und Feinde zu haben; sie kann nur zwischen Völkern bestehen, welche gleiche Interessen und Empfindungen hegen, und die, wenn sie denn kämpfen müssen, auf derselben Seite zu kämpfen wünschen. Großbritannien und Irland würden es generell vorziehen, auf entgegengesetzten Seiten zu sein, wenn alle Gemeinsamkeit der Interessen beseitigt wäre. In einem jeden kontinentaleuropäischen Konflikt lägen die Sympathien der Engländer auf Seiten des Liberalismus, hingegen die Irlands mit Sicherheit auf Seiten des Papstes10 – das heißt auf jener Seite, die sich der modernen Zivilisation und dem Fortschritt, aber auch der Freiheit aller widersetzt, außer der katholischen, durch nicht katholische Herrscher unterdrückten Völker. Ferner ist Amerika für uns das Land mit dem gegenwärtig größten Konfliktpotential und Irland weit eher geneigt, sich mit Amerika gegen uns zu verbünden als sich mit uns gegen Amerika. Manche mögen behaupten, diese Unterschiede des Nationalgefühls wären, wenn sie denn ein Hindernis für ein Bündnis sind, a fortiori eine Aburteilung der Union. Aber auch die Erzkatholiken unter den Iren haben Gründe zu bedenken, ob nicht der irische Einfluss im britischen Parlament die Feindschaft der Briten gegenüber Angelegenheiten erheblich 10

Anmerkung der Herausgeber: Pius IX.

E  I ()

313

mildert, mit denen Irland sympathisiert; dass ein pro-katholisches Element im Unterhaus, welches keine englische Regierung zu verachten wagt, zu verhindern hilft, dass die anti-katholischen Kreise, die in England und Schottland immer noch sehr stark sind, die gesamte politische Macht Großbritanniens an sich reißen. Wenn es irgendeine Partei in Großbritannien gibt, die keinen Grund hätte, die Trennung von Irland zu bedauern, so ist es die fanatische protestantische Partei. Es mag tatsächlich bezweifelt werden, dass ein unabhängiges Irland in irgendeiner Weise jedes ihm wichtige Anliegen so effektiv unterstützen könnte, wie dies durch Geduld und Moderation möglich ist, welche die Präsenz der Iren in britischen Räten jener Macht vermittelt, die im Falle eines Konflikts die wäre, welche am ehesten die Speerspitze ihrer Gegner bilden würde. Meines Erachtens gibt es nichts, was Irland durch die Teilung gewinnen könnte, das nicht auch durch die Einheit erreichbar wäre, außer die Genugtuung, die Irland äußerst wichtig zu sein scheint, nämlich allein durch Iren regiert zu werden – das heißt nahezu immer durch Männer mit feindseliger Parteinahme gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung; es sei denn, die stärkere Partei nähme ihre gewonnene Freiheit zum Anlass, den schwächeren Teil von der Insel zu vertreiben. Im Gegenzug würden Iren alle Positionen in Großbritannien verwehrt sein, außer jenen, die Ausländer einnehmen können. Es würde dann keine irischen Premierminister mehr geben, keine irischen Oberbefehlshaber und im britischen Heer und der britischen Flotte keine irischen Generäle und Admirale. Nicht nur in Großbritannien, sondern auch in allen britischen Schutzgebieten – in Indien und den Kolonien – hätten Iren von da an den Status eines Fremden. Der Verlust würde den Gewinn übersteigen, nicht nur dem Verstande sondern auch dem Herzen nach. Oft wäre der erste Mann in einem kleinen Land gern bereit, mit dem vierten oder fünften in einem großen zu tauschen. Aber warum, so ließe sich fragen, kann Irland nicht durch ein bloßes personales Band mit der britischen Krone vereinigt bleiben und seine eigenen Angelegenheiten selbst verwalten, andererseits weiterhin demselben Imperium zugehören, wie etwa Kanada?11 Oder warum können Großbritannien und Irland nicht wie Österreich und Ungarn vereinigt sein, wobei jeder von beiden seine eigene getrennte Verwaltung und Legislative besitzt und beide gleiches Stimmrecht in gemeinsam betreffenden Fragen? Ich antworte: Das erstere der beiden Verhältnisse würde für Irland eine Degradierung bedeuten, einen Abfall sogar von seiner gegenwärtigen Position. Jetzt ist es zumindest Teil des regierenden Landes; in den allgemeinen Angelegenheiten des Königreiches hat es ein Mitspracherecht. Kanada hingegen ist nur ein Schutzgebiet mit einer Provinzregierung, das seine eigenen Gesetze erlassen und Steuern erheben kann, andererseits dem Veto des Mutterlands unterworfen und in Entscheidungen über Bündnisse und Kriege nicht einbezogen, in die einzutreten es dennoch verpflichtet ist. Eine solche Einheit kann nur eine kurzfristige Notlösung für Länder sein, welche die Trennung, sobald das schwächere Land für sich allein sorgen kann, erwarten – und die nichts dagegen hätten, wenn diese Trennung bald erfolgte. Darüber hinaus ist diese Art Einheit jüngeren Datums; sie ist noch keinem Realitätstest ausgesetzt gewesen, damit auch nicht dem härtesten – dem des Krieges. Käme es durch eine Entscheidung der britischen Regierung, an der Kanada nicht beteiligt ist, zu einem Krieg aus Motiven heraus, die Kanada nicht teilt, wie 11

Anmerkung der Herausgeber: The Constitution Act, 1867. 30 & 31 Victoria, c. 3.

314

D  E  M

lange wohl wäre dann Kanada bereit, dessen Lasten und Gefahren mitzutragen? Auch die inneren Angelegenheiten betreffend würde Irland die Position Kanadas nicht behagen. Das Veto der Krone ist praktisch das des britischen Parlaments. Obwohl dieses, wie im Falle Kanadas, sich umsichtigerweise auf Fragen des Königreichs beschränkt, wird doch die Entscheidung darüber, was als Fragen dieser Art gilt, von dem Land gefällt, in dessen Räten Irland kein Stimmrecht mehr hätte. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Veto dort nicht mehr gelten würde, wo es in der Meinung des untergeordneten Landes nicht mehr angemessen wäre. Kanada ist sehr weit entfernt und die britischen Herrscher können da eine Menge tolerieren, von wo sie nicht befürchten müssen, dass es England infizieren mag. Aber Irland ist für die Einheit mit England bestimmt, wenn auch nur aus dem Grund, dass nichts Bedeutsames in dem einen Land geschehen kann, ohne dass dessen Wirkungen in dem anderen spürbar sind. Wenn das britische Parlament seine Vorurteile so weit ablegen könnte, dass es sein Vetorecht hinsichtlich der irischen Gesetzgebung in gerechter Weise nutzt, dann könnte es diese Vorurteile auch so weit ablegen, dass es gerechte Gesetze für Irland erlässt, oder den Iren erlaubt, die ihr eigenes Land betreffenden Geschäfte hauptsächlich selbst zu regeln, wie dies bereits den Schotten möglich ist. Diese Einwände würden für eine Einigung Gleicher nicht gelten, wie etwa jene, die kürzlich zwischen Österreich und Ungarn vereinbart worden ist. In ihr gibt es nichts, was einem der beiden Länder den Stolz nehmen könnte. Wenn aber das kanadische System eine kurze Probezeit hatte, so hat das aus Österreich und Ungarn bestehende duale System gar keine. Es besteht gerade einmal zwölf Monate. Wahr ist, dass Ungarn viel länger durch persönliche Bindungen der österreichischen Herrscherfamilie zugetan ist, und Ungarn eine Verfassung mit einigen freiheitsrechtlichen Aspekten hatte. Für Österreich gilt dies jedoch nicht. Die Schwierigkeiten, zwei Länder ohne sie zu vereinigen zusammenzuhalten, beginnen mit der Frage verfassungsrechtlicher Freiheiten. Länder, die vom Charakter her sehr unähnlich sind, und sogar ein bestimmtes Maß an innerer Freiheit besitzen, lassen sich wie England und Schottland unter den Stuarts regieren, solange den Menschen Rechte nur in bestimmtem Umfang zugestanden werden und die Regierung beider Länder praktisch in einem, über beiden stehenden Einzelwillen existiert. Schwierigkeiten entstehen dann, wenn die zwanglose Zustimmung beider Nationen für die grundlegenden Entscheidungen erforderlich ist, die von ihrer Regierung getroffen werden müssen. Bisher hat diese Beziehung zwischen Österreich und Ungarn nicht existiert. Falls eine derart unerprobte und beispiellose Vereinbarung erfolgreich auf Dauer bestehen sollte – falls sie also der Gefahr unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Gegenstände entgehen sollte, die gemeinsamer Beschlussfassung vorbehalten sind, das heißt auswärtige Beziehungen, Finanzen und Krieg –, so wäre dieser Erfolg Umständen geschuldet, die fast ausschließlich mit dem speziellen Fall verbunden sind und im Verhältnis von Großbritannien und Irland mit Sicherheit nicht vorliegen. Erstens sind beide Länder hinsichtlich ihrer militärischen Ressourcen und Fähigkeiten nahezu gleichwertig. Sie haben einander fair im offenen Krieg gemessen und wissen deshalb, dass keines der beiden das andere ohne fremde Hilfe besiegen kann. Zweitens benötigt jedes der beiden Länder das jeweils andere aus Gründen der eigenen Sicherheit, auch wenn beide einander Respekt einflößen; keines kann aus eigenem Vermögen seine Unabhängigkeit gegen mächtige und eindringende

E  I ()

315

Nachbarn wahren. Schließlich hegen die Volksmassen beider Länder von vornherein keine feindseligen Einstellungen gegeneinander. Ungarn muss sich nicht für Jahrhunderte währendes Unrecht rächen; von den Ungarn unmittelbar durch Österreich zugefügten Verletzungen waren die arbeitenden Klassen nie betroffen, sondern nur die Teile der Gesellschaft, deren Handeln eher durch politische Interessen als durch Rachsucht geleitet ist. Das Gegenteil all dessen gilt für Großbritannien und Irland. Die günstigste Kombination aller Umstände für den Erfolg und die Dauerhaftigkeit eines gleichberechtigten Bündnisses zwischen unabhängigen Nationen unter einer Krone besteht zwischen Ungarn und Österreich, die ungünstigste zwischen England und Irland. Es sollte auch nicht behauptet werden, dass diese Gründe gegen ein Bündnis Gleicher auch Gründe a fortiori gegen eine Einheit sind. Der einzige Grund, von dem man sagen könnte, er träfe zu, ist der einer emotionalen Entfremdung, welche jedoch sukzessive durch engen Verkehr und Interessengemeinsamkeit, welche die Einheit mit sich bringt, abgebaut werden könnte – vorausgesetzt die wirklichen Ursachen der Verbitterung sind beseitigt. Hingegen würde die natürliche Tendenz zur entweder vollständigen oder nur teilweisen Trennung die Länder immer mehr voneinander entfremden. Es ließe sich ergänzen, dass das ungarische Volk, welches so ehrenvoll seine Unabhängigkeit errungen hat, seit ewigen Zeiten in der Verwaltung jeder einzelnen seiner Angelegenheiten erfahren ist und unter sehr schwierigen Verhältnissen die Eigenschaften, welche ein Volk zur Selbstregierung qualifizieren, in größerem Maße bekundet hat, als andere kontinentale Nationen gezeigt haben, die in vielen anderen Hinsichten weiter entwickelt sind. Die irische Demokratie und diejenigen, die vermutlich ihre ersten Führer sein werden, haben jedenfalls noch zu erweisen, dass sie im Besitz von Qualitäten sind, die dem überhaupt ähneln. Aus diesen Gründen bin ich der Überzeugung, dass die Abspaltung Irlands von Großbritannien für beide in keiner Weise wünschenswert wäre und der Versuch, beide in irgendeiner Art Föderation aneinander zu binden, solange diese bestände, unbefriedigend sein würde und entweder mit einer Wiedereroberung oder der vollständigen Trennung an ihr Ende käme. In wie vielen Hinsichten auch immer Irland verlieren würde, in einer jedoch würde es gewinnen. Sollte die Abspaltung ein vollständiger Fehlschlag sein, eines wäre mit ihr erreicht: Sie machte aus Pachtbauern bäuerliche Grundbesitzer: Allein dies würde schwerer wiegen als all das, was Irland verloren ginge. Die schlimmste Regierung, die Irland dies gewährte, wäre für die Masse des irischen Volkes – zu Recht – akzeptabler als die beste, die ihm dies verwehrte – wenn man überhaupt von der Güte einer Regierung reden kann, die seinem Land das Beste verwehrt, das es ihm verschaffen könnte. Verschaffen kann Irland dies jedoch die Regierung des Vereinigten Königreichs, unter der Voraussetzung, dass jene, welche die Regierung bilden, dazu gebracht werden können, diese Maßnahme als notwendig und gerecht zu erachten. Würde diese Pflicht erst einmal akzeptiert und ihr entsprechend gehandelt, wären die Schwierigkeiten jahrhundertelanger Regentschaft über Irland zum Verschwinden gebracht. Erforderlich ist einfach folgendes: Bei uns in England gab es durch das Parlament autorisierte Ausschüsse, welche die Last des Zehnten und die variablen Verpflichtungen der Zinslehenbesitzer in einen jährlich zu entrichtenden Zahlbetrag umwandeln sollten.12 In 12

Anmerkung der Herausgeber: Tithe Commutation Act 1836 (6 & 7 William IV, c. 71).

316

D  E  M

Irland ist ein ähnlicher Ausschuss nötig, damit alle an Pächter vermieteten Bauernhöfe geprüft werden und die gegenwärtig variablen Verpflichtungen in feststehende Pachtgebühren umgewandelt werden können. Aber dieses große Unterfangen darf sich nicht wie die Arbeit jener anderen Ausschüsse über Generationen hinziehen. Dafür, dass der Staat zwischen Grundbesitzer und Pächter nur einvernehmlich vermitteln kann, ist es zu spät. Erfordert sind nunmehr eine Erzwingungsgewalt und ein strenges Ermittlungsverfahren. In jedem Falle ist sicherzustellen, und zwar so zügig wie eine ordnungsgemäße Untersuchung dies erlaubt, welche jährliche Zahlung das Äquivalent für die Pacht wäre, die der Grundbesitzer gegenwärtig erhält (vorausgesetzt, diese ist nicht ungebührlich hoch), und für den momentanen Wert irgendeiner zukünftigen Wertsteigerung aus anderen Quellen als der der mühevollen Arbeit des Bauern. Diese jährliche Summe sollte dem Grundherrn gesetzlich garantiert werden. Er sollte die Möglichkeit besitzen, diese direkt von der Staatskasse zu erhalten, indem er als Besitzer von Konsols,13 die die entsprechende Summe einbringen, registriert ist. Jene Grundbesitzer, die Irland am wenigsten nützen, und die zu ihren Pächtern das schlechteste Verhältnis haben, würden vermutlich diese Möglichkeit akzeptieren, um ihre Verbindung zum irischen Boden ganz aufzugeben. Ob dies nun der Fall wäre oder nicht, so würde doch jeder Bauernhof, der nicht vom Eigentümer bewirtschaftet wird, zum permanenten Pachtgut des bestehenden Pächters, der entweder dem Grundherrn oder dem Staat den festen Pachtbetrag zahlen würde, den man beschlossen hätte. Oder der Pächter bezahlt weniger, wenn nämlich der Betrag, den der Grundherr, wie man glaubt, gerechterweise hätte erhalten sollen, höher ist als das, was man vernünftigerweise dem Pächter abverlangen könnte. Der Vorteil eines permanenten Eigentums an Grund und Boden für den Landwirt besteht nicht darin, dass er nichts dafür bezahlt, sondern liegt in der Sicherheit, dass die Zahlung nicht erhöht werden kann; auch ist es nicht einmal wünschenswert, dass von Prinzip her die Zahlung geringer sein sollte als eine angemessene Pachtsumme. Würde man den Boden an diese neue Art Zinslehenbesitzer unter Wert verpachten, so könnte das diesen dazu verleiten, ihn für einen höheren Betrag weiter zu verpachten und vom Differenzbetrag zu leben. Er würde zum Parasiten, der vom Müßiggang auf einem immer noch mittels Wucherpacht bewirtschafteten Grund und Boden lebte. Deshalb sollte er den dem früheren Eigentümer zuerkannten Pachtbetrag in voller Höhe zahlen, es sei denn, spezielle Umstände würden es ungerecht erscheinen lassen, soviel zu verlangen.14 In diesem Fall müsste der Staat den Unterschied begleichen, oder wenn das Kircheneigentum nach seiner Übernahme durch den Staat Gewinn jenseits dessen erbringt, was für die säkulare Bildung der Menschen erforderlich ist, könnte dieser Betrag nicht besser zum Nutzen Irlands als auf diese Weise verwendet werden.

13 14

Anmerkung des Übersetzers: Konsolidierte Wertpapiere. Anmerkung von Mill: Diese Vorkehrung lässt sich auch gegen den manchmal erhobenen Einwand vorbringen, die schlimmsten Bauern seien gegenwärtig jene, die in langen oder permanenten Pachtverhältnissen leben. Verlangte man jedoch von ihnen strikt, den vollen Betrag dessen zu zahlen, was nunmehr eine faire Pacht wäre, so würden sie dies nicht lange durchhalten, sondern entweder schnell ihr Verhalten ändern oder den Platz für andere freimachen.

E  I ()

317

Wir hören von vielen (leider ist auch Lord Stanley einer von ihnen),15 dass eine Generation nach diesem Wandel die Fläche Irlands durch Einwohnerzuwachs überbevölkert, unterverpachtet und unterteilt wäre, also die Lage wieder so schlecht sein würde wie vor der Hungersnot. Gleichermaßen wurde uns mitgeteilt, dass nach einer oder zwei Generationen bäuerlicher Eigentümerschaft das gesamte landwirtschaftliche Territorium Frankreichs nur dazu hinreichte, den Massen von Armen eine zusammengepferchte Existenz zu lassen, die sie dazu verurteilte, ihre Erbschaft an Grund und Boden „logarithmisch bis zur Unendlichkeit aufzuteilen“.16 Inwiefern haben sich diese Voraussagen bewahrheitet? Heute wird geklagt, die Bevölkerung Frankreichs nehme kaum zu und die Landbevölkerung sogar ab. Auch wurde die Aufteilung der Erbschaften, trotzdem sie durch den Code Civil17 erzwungen worden war, im Zuge der erneuten Zusammenführung kleiner Besitztümer durch Heirat und Erbschaft wieder völlig wettgemacht. Die veraltete Schule der englischen politischen Ökonomie, die ich die Tory-Schule nenne, weil sie Freunde des Erblehens, der Primogenitur, hoher Pachtgebühren, des Großgrundbesitzes und generell aristokratischer Institutionen waren, prophezeite, dass bäuerliche Eigentümerschaft nicht nur zur Überbevölkerung führen würde, sondern zur miserabelst möglichen Landwirtschaft. Was hat die Wirklichkeit erwiesen? Ich werde mich hier nicht auf die für diesen Gegenstand maßgebliche Arbeit, W. T. Thorntons Plea for Peasant Proprietors, beziehen oder auf Kays Social Condition of the People in England and Europe, auch nicht auf die Vielzahl der in meinem Werk Political Economy zitierten Autoritäten oder auf die in jüngerer Zeit von Emile de Laveleye mit Umsicht und Bedacht vorgenommenen Untersuchungen.18 Ich werde Léonce de Lavergne zitieren, gegenwärtig die grundlegende Autorität unter den Gegnern des kleinbäuerlichen Grundeigentums. Was schreibt Herr de Laverngne in seinem letzen Beitrag, einem Artikel in der Revue des Deux Mondes vom ersten Dezember? „Als allgemeine Regel lässt sich sagen, dass das Land, welches als kleinbäuerliches Eigentum bewirtschaftet wird, eine doppelt so hohe Produktivität erbringt wie das übrige, sodass unsere landwirtschaftliche Produktion erheblich geringer wäre, falls uns dieses Element fehlte.“19 Jene, die immer noch glauben, kleinbäuerliches Eigentum schade der Landwirtschaft oder trüge zur Überbevölkerung bei, bleiben in entlarvender Weise hinter dem Wissensstand in dieser Frage zurück. Keine Grundeigentumsverhältnisse heben die Arbeitsmoral zur Verbesserung dieses Eigentums so sehr, wie die Bedingung, dass die 15

16

17

18

19

Anmerkung der Herausgeber: Edward Henry Stanley, Ansprache in Brighton (22. Jan. 1868), The Times, 23 Jan. 1868, S. 6. Anmerkung der Herausgeber: John Wilson Croker, „Agriculture in France – Division of Property”, Quartely Review LXXIX, Dezember 1846, S. 217 (Vgl. John Stuart Mill, Principles of Political Economy, CW, Bde. II, III (Toronto, 1965), Bd. II, S. 433. Anmerkung der Herausgeber: Siehe Code civil des Français (Paris 1804), S. 136, (Liver III, Titre I, Chap. iii, Art. 745) und S. 149, 152 (ebd., Cap. Vi, Arts. 815, 832). Anmerkung der Herausgeber: William Thomas Thornton, A Plea for Peasant Proprietors (London 1848), Joseph Kay, The Social Condition and Education oft he People in England and Europe, 2 Bde. (London 1850); Mill, Principles (6 1865), CW, insb. Bd. 2, S. 252–296 (II, vi–vii); Emile Louis Victor de Laveleye, Etudes d’é conomie rurale (Paris 1865). Anmerkung der Herausgeber: Louis Gabriel Léonce Guilhaud de Lavergne, „L’Irlande en 1867“, Revue des Deux Mondes LXXII, Dezember 1867, S. 757.

318

D  E  M

gesamte Ertragsteigerung dem gehört, der sie produziert. Keine Grundeigentumsverhältnisse beinhalten darüber hinaus ein so starkes Motiv gegen die Überbevölkerung, denn es ist viel offensichtlicher, wie viele hungrige Mägen ein Stück Land zu sättigen vermag als wie viele Arbeiter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Beschäftigung finden werden. Die Gefahr der Unterverpachtung ist gleichfalls illusorisch. Zunächst einmal ließe sich Unterverpachtung verbieten; aber dem von mir hier vorgestellten Plan zufolge besteht keine Notwendigkeit, dies zu tun. Wenn der Pächter, durch eigene Arbeit oder Auslagen, den Wert seines Hofes gesteigert hat, ist er durchaus berechtigt, falls er es wünscht, diesen unterzuverpachten. Wenn die Wertsteigerung aus einer anderen Quelle als der der eigenen Anstrengung kommt, wird sie sich in der Regel der gesteigerten Prosperität des Landes verdanken, womit bewiesen wäre, dass das neue System erfolgreich ist und der Pächter problemlos unterverpachten kann. Nur eine Vorkehrung ist erforderlich: Über Jahre, wenn nicht über mehrere Generationen hinweg, sollte es ihm nicht erlaubt sein, das Land an den Meistbietenden oder zu einer veränderlichen Gebühr zu verpachten. Sein Pächter muss das Land auf dieselbe Weise erwerben wie er selbst es erworben hat, nämlich als permanente Pacht zu einem nicht veränderbaren, amtlich fixierten Betrag; sodass der neue genau so wie der ursprüngliche Pächter das ganze Interesse eines Eigentümers daran haben mag, das Beste aus dem Boden zu machen. Alle auf die Zustände vor der Hungersnot bezugnehmenden Prognosen des Scheiterns sind einfach wertlos. Vor der Hungersnot war der Bauer nicht der Eigentümer seines kleinen Stückchen Landes. Er war ein Kötter und bezahlte einen eigentlich geringen Pachtbetrag, der aber durch Wettbewerb weit über das aufgebläht wurde, was selbst unter günstigsten Bedingungen hätte bezahlt werden können. Das führte dazu, dass ihm alles, ob er nun viel oder wenig jenseits der täglichen Kartoffeln erwirtschaftete, die man seiner Familie nicht nehmen konnte, für die Begleichung seiner Pachtschuld genommen wurde. Unter allen arbeitenden Menschen waren es einzig die irischen Kötter, die weder durch Fleiß und Sparsamkeit etwas gewinnen noch durch Müßiggang und verantwortungslose Vermehrung etwas verlieren konnten. Dass er nicht fleißig und sparsam sein würde, wenn er in stärkstem Maße motiviert wäre, weil er nicht fleißig und sparsam ohne ein Motiv gewesen war, ist keine besonders plausible Begründung dafür, ihm die Chance zu verweigern. Seit der Hungersnot ist eine weitere gravierende Änderung seiner Lebensbedingungen erfolgt: Die Brücke nach Amerika ist errichtet. Falls die auf diesen Kleingrundstücken lebende Bevölkerung so zunehmen sollte, dass der Ertrag des Landes für ihren sicheren Unterhalt nicht hinreicht, was sollte dann diese überzählige Bevölkerung davon abhalten, den Weg Millionen anderer zu gehen, die sich auf einem anderen Kontinent bereits ein Betätigungsfeld erschlossen haben, das sie zu Hause nicht mehr fanden? Die neuen Emigranten jedoch würden, so ist zu hoffen, nicht wie gegenwärtig in Bitterkeit gehen und als Feinde zurückkehren. Die Schwierigkeit, Irland zu regieren, ist ganz und gar eine Sache unserer Einstellung – sie liegt im fehlenden Verständnisvermögen beschlossen. Wenn liberale Engländer verstehen, was die Gerechtigkeit erfordert, so werden sie sich nicht dagegen wehren. Sie verstanden, dass die politische Benachteiligung der Katholiken ungerecht ist, und beseitigten diese.20 Sie verstanden, dass die Subvention einer fremden Kirche 20

Anmerkung der Herausgeber: 10 George IV, c. 7 (1829).

E  I ()

319

ungerecht ist, und haben sich mittlerweile entschlossen, diese Unterstützung zu beenden.21 Andere Nationen und die Nachwelt werden Englands Regierungskunst danach bewerten, inwiefern es England jetzt gelingt, das Problem zu lösen, das zu erkennen, was in Fragen der irischen Landpacht gerechterweise zu tun ist. Für England ist das nicht einfach. Andere Nationen haben damit keine Schwierigkeiten. Für den preußischen Konservativen von Raumer und den französische Liberalen Gustave de Beaumont war dies schon vor dreißig Jahren die verständlichste Sache der Welt.22 Zukünftige Generationen werden dies ebenfalls so sehen. Den Männern unserer Zeit wird die Nachwelt kaum Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ist der Aberglaube des Großgrundbesitzes einmal abgelegt, wird es schwierig sein zu verstehen, welch ein wirklicher und tiefsitzender Aberglaube er einst war und wie viele der besten moralischen und sogar intellektuell reflektierten Eigenschaften mit ihm zusammenstimmten. Dennoch ist es nicht zweckdienlich, dass der, für den jedes Prinzip oder Gefühl zum Aberglauben geworden ist, an den er sich krampfhaft dort klammert, wo ihm die Gründe fehlen, die Macht besitzt, seinen Aberglauben Leuten aufzuzwingen, die ihn nicht teilen. Wenn wir nicht zwischen dem Wesentlichen und Unwesentlichen hinsichtlich des Grundeigentumes unterscheiden können, wenn dies für uns gewissermaßen eine Bundeslade ist und bleiben muss,23 die man nicht berühren und in die man nicht blicken darf, wie unabdingbar dies auch immer wäre, dann sind wir verpflichtet, uns aus einem Land zurückzuziehen, für welches eine Änderung der Grundlagen des Grundeigentums die erste Notwendigkeit des gesellschaftlichen Lebens ist. Möglicherweise fehlt es den englischen Staatsmännern an Weisheit oder Mut, dem Götzen ins Gesicht zu blicken. So können wir uns weiterhin täuschen, indem wir einen unbedeutenden Versuch unternehmen, die Pächter auf Entschädigung für „nichtabgegoltene Wertsteigerungen“ [„unexhausted improvements“]24 hoffen zu lassen – etwas, das vor zehn oder vielleicht sogar zwei Jahren als Geste des guten Willens seinen Wert gehabt hätte – als Zeichen gerechter Gesinnung – und ein Grund zu der Hoffnung gewesen wäre, dass mehr getan werden würde, wenn die Erfahrung dies als unzureichend erwiesen hätte. Aber auch damals wäre dies nicht als vollständige Zahlung akzeptiert worden und heute würde es kaum als Anzahlung angeboten werden können. Sogar das wäre, würde es zur Stimmabgabe kommen, besser als gar nichts. Gesteht ein Schuldner nur ein Sixpence zu, während er ein Pfund schuldet, sollte man ihm dennoch erlauben, diesen Sixpence zurückzuzahlen. Wir dürfen aber keinen Augenblick die Forderung ignorieren, dass der Restbetrag zu zahlen ist, ehe die andernfalls unausweichliche Stunde der Bankrotterklärung schlägt. Keiner solle annehmen, dass die Gesamtheit aller anderen Dinge, die für Irland getan werden könnten, unsere dortigen Schwierigkeiten auch nur im Geringsten mindern würden, solange sich diese Frage so stellt, wie bisher. In der Tat ist noch eine Vielzahl 21 22

23 24

Anmerkung der Herausgeber: Beschlossen in 32 & 33 Victoria, c. 42 (1869). Anmerkung der Herausgeber: Friedrich Ludwig Georg von Raumer, England in 1835, 3 Bde., London 1836; Gustav de Beaumont, L’irlande sociale, politique et religieuse, 2 Bde., Paris 1839. Anmerkung der Herausgeber: Siehe II Samuel, 6:6–7und I Könige, 8:6–8. Anmerkung der Herausgeber: Siehe: „Minutes of Evidence Taken by the Select Committee on Tenure and Improvement of Land (Ireland) Act”, PP, 1865, XI, 518.

320

D  E  M

anderer Dinge zu tun. Nicht nur müssen die religiösen Schenkungen zurückgenommen werden, sondern die damit verbundenen Einnahmen sind auf wirksamste Weise zu verwenden, um die irischen Verhältnisse zu befördern. Die Kirchengüter und die Zehnten, vermehrt durch die Maynooth Zahlungen25 und das regium donum26 wären, gemeinsam mit den für diese Zwecke bereits zur Verfügung gestellten Mitteln, mehr als hinreichend für eine nicht sektiererische Bildung des gesamten Volkes, welche die Primärschule, die Mittelschule und die weiterführende Schule sowie die Universität umfasst – wobei jede Stufe für jene Schüler gebührenfrei sein sollte, die sich in der vorausliegenden besonders ausgezeichnet haben. Die örtliche Gerichtsbarkeit, das örtliche Finanzwesen und andere örtliche Verwaltungsaufgaben erfordern die leitende Hand des Reformers sogar noch dringender als in England. Solche geringfügigen Angelegenheiten, die – obwohl an sich nebensächlich – dabei helfen würden, das irische Gemüt zu versöhnen, sollten nicht vernachlässigt werden. Jene haben nicht Unrecht, die darauf drängen, dass Iren gleicher Qualifikation (soweit sie nicht voreingenommen sind) der Vorzug bei Berufungen in Irland zu geben wäre. Auch gibt es keinen guten Grund, warum der Thronerbe nicht jährlich für eine gewisse Zeit in Dublin residieren und Hof halten sollte. Jene rein materiellen Verbesserungen, für welche freiwilliges Unternehmertum nicht hinreicht, sind nach angemessener Abwägung und gründlichen Vorkehrungen durch den Staat zu fördern. Der mögliche Ausbau der irischen Eisenbahn unter staatlicher Verwaltung oder der eines einzelnen, staatlich konzessierten Unternehmens erregt bereits die Aufmerksamkeit der Persönlichkeiten unseres öffentlichen Lebens.27 Vorschüsse für Entwässerungsmaßnahmen und andere umfassende Verbesserungen sind in einem so armen und rückständigen Land wie Irland ökonomisch zulässig. Nur solle man nicht nach dem bisher praktizierten Plan verfahren und den Großgrundbesitzern den Kredit in die Hände geben, sodass diese den Gesamtnutzen der Verbesserung ihren Pachtgebühren zuschlagen können. Es ist nahezu unglaublich, dass eine erhebliche Erweiterung solcher Vorschüsse in den letzten Wochen öffentlich als Heilmittel gegen den Fenianismus und andere irische Krankheiten propagiert worden ist und dass ein diesbezügliches, von der Regierung eingebrachtes Gesetz tatsächlich dem Parlament vorliegt.28 Wir haben von Leuten gehört, die während der Sintflut „Feuer“ gerufen und, würden sie damals gelebt haben, vorgeschlagen hätten, diese zu stoppen, indem man etwas mehr Wasser hinzugießt. Keines dieser Dinge, nicht einmal das Kassieren der irisch protestantischen Kirche, auch nicht alle diese Dinge zusammengenommen, können helfen, der wachsenden Unzufriedenheit der Iren zu begegnen. Denn keines von ihnen rührt an die wirkliche Ursache. Gefühlskränkungen und geringfügige oder entfernte finanzielle Interessen werden die Gemüter der Menschen bewegen, nachdem die grundlegenden Interessen des Lebensun25 26

27

28

Anmerkung der Herausgeber: Siehe 8 & 9 Victoria, c. 25 (1845). Anmerkung der Herausgeber: For its initiation, see „Our Letters (Ireland)“ (10 April 1691) , VI, 85-6, in Calender of the Treasury Books, 1689–92, Bde. IX, Pt III, S. 1258–9. Anmerkung der Herausgeber: Siehe „Report of the Commisioners Appointed to Inspect the Accounts and Examine the Works of Railways in Ireland“, PP, 1867–68, XXXII, 469–646; und “Second Report”, ebd., 1868–1869, XVII, 459–528. Anmerkung der Herausgeber: „A Bill to Confirm a Provisional Order under ‚The Drainage and Improvements of Lands (Ireland) Act, 1863’, and the Acts Amending the Same”, 31 Victoria (22. Nov. 1867) ebd., 1867–68, II, 193–197; beschlossen als 31 Victoria, c. 3 (1867).

E  I ()

321

terhalts und der Sicherheit berücksichtigt sind, nicht aber davor. Unsere Staatsmänner sollen versichert sein, dass nun, da der lange hinausgeschobene Tag des Fenianismus anbricht, nichts von dem, was die irische Pächterschaft nicht als dauerhafte Lösung der Landfrage akzeptiert, den Fenianismus oder etwas ihm Gleiches daran hindern wird, die englische Regierung und ihr Volk permanent zu quälen. Sollten wir ohne diese Schwierigkeit zu beseitigen versuchen, Irland mit Gewalt zu halten, so würde dies auf Kosten des Charakters geschehen, den wir als Freunde und Unterstützer der Idee des freien Regierens besitzen, als jene, die jenseits unserer die Rechte anderer respektieren. Dies würde die Wahrscheinlichkeit von Misshelligkeiten mit einer jeden der Großmächte gefährlich erhöhen und zum Krieg führen. Wir würden uns in einem Zustand der offenen Aufruhr gegen das Gewissen Europas und der Christenheit befinden wie auch in zunehmendem Maße gegen unser eigenes. Schließlich wären wir so beschämt, oder wenn nicht beschämt gezwungen, Irland aus der Verbindung zu entlassen oder würden diese Notwendigkeit nur dadurch umgehen können, das mit dem größten Widerwillen zu gewähren – wobei es auch dann über einige Generationen hinweg für schlechtes Blut sorgen würde –, was wenn gegenwärtig getan immer noch zu rechten Zeit geschehe, um beide Länder auf immer zu versöhnen. (Übersetzt von Veit Friemert und Shivaun Conroy).

Personenregister

Abbott, Charles; 1. Baron Tenterden 149 Adorno, Theodor W. 18 Aristeides von Athen 199 Attila 271 Augustus, Tiberius Iulius Caesar 134 Austin, John 42, 87 Barrot, Camille Hyacinthe Odilon 40 f., 204, 206–209 Beaumont, Gustave de 319 Bentham, Jeremy 13, 19, 23, 26, 28 f., 31, 48, 120, 138, 140, 151 Borgia, Cesare 221 Brown, John 264 Buller, Francis 150 Burke Thomas 59 f. Bussy, Charles Joseph Patissier de; Marquis de Castelnau 226 Cairnes, John Elliot 52, 54 f., 274–277, 280, 282, 284–288, 295 f. Carey, Henry Charles 262, 269 Carlile, Richard 28 Carlyle, Thomas 14, 19, 32, 47–50, 52, 91, 160, 162, 168, 247, 250, 256 Chadwick, Edwin 44, 238 f., 242 f. Châteubriand, François-René de 204 Clay, Clement Claiborne 279 Cléron, Joseph Othenin Bernard de; Comte d’Haussonville 207 Cobden, Richard 262 Colbert, Jean-Baptiste; Marquis de Seignelay 225 Coleridge, Samuel Taylor 14, 16, 43 Comte, Auguste 14

Constant, Benjamin 204 Conyngham, Francis Nathaniel; 2. Marquis von Conyngham 305 f. Davis, Jefferson 271 Dicey, Edward 293 Dickens, Charles 48 Dschingis Khan 271 Dupleix, Joseph François 226 Dunoyer, Charles 205 Dupont-White, Charles Brook 40, 64, 207, 209–215, 217 ff., 221–224, 226–236 Euler, Leonhard 96 Eyre, Edward John 25 Fiévée, Joseph 204 Fontenelle, Bernard le Bovier de 155 Garibaldi, Giuseppe 309 Germanicus, Nero Claudius Caesar Augustus 134 Gladstone, William Ewart 20, 53, 61 Goethe, Johann Wolfgang von 14 Gibbon, Edward 283 Gomperz, Theodor 13 Greg, Samuel 170 f. Guizot, François 14 ff., 232 Habermas, Jürgen 18 Hamilton-Gordon, George; 4. Earl von Aberdeen 176, 181, 193 Hare, Thomas 38 f., 47 Hartley, David 49

324 Harvey, Daniel Whittle 149 Helps, Arthur 33, 154, 169 Hewitt, James; 4. Lord Lifford 305 Hoche, Luis Lazare 59 f., 307 Holmes, Stephen 26 Holt, Francis Ludlow 130, 133 f., 136 f., 140–147, 149 f. Holt, John 30, 137, 146 Horkheimer, Max 18 Horner, Leonhard 170 Humboldt, Wilhelm von 14 Hunt, John 149 Jackson, Andrew 262 Jahn, Beate 22 Jefferson, Thomas 271, 286 f. Johnson, Samuel 91 Kay, Joseph 317 Kenyon, George 80, 137 Kinzer, Bruce 11, 14, 48, 56 f. Kurer, Oskar 43, 46 Lagrange, Joseph-Louis 96 Laplace, Pierre-Simon 96 Laveleye, Emile de 317 Lavergne, Louis Gabriel Léonce Guilhaud de 231, 317 Law, Edward; 1. Lord Ellenborough 137, 139 Lenin, Wladimir Iljitsch 23 Lincoln, Abraham 51 f., 260 ff., 270 f. Locke, John 94 f., 182 Losurdo, Domenico 18, 26 Louis-Philippe I. 209, 222, 261 Malthus, Thomas 32, 155 f., 158 Manners, John 172 Marshall, James Garth 193 Mence, Richard 117, 132, 135 f., 138, 151 Mill, James 19, 23, 28, 49, 119, 140, 195 Miller, Kenneth 22 Münkler, Herfried 18

Personenregister Napoleon, Louis 40, 51, 76, 190, 205, 224, 236, 262 Newton, Isaac 96 Olmsted, Frederick Law 264 f., 267 Paley, William 95 Perikles 21 Phillips, Wendell 263 Pitt, William 143 Place, Francis 29 f., 117, 152 Polignac, Jules de 231 Prager, Carol 22 Pratt, Charles; 1. Lord Camden 141 Pressensé, Edmond de Hault de 206, 235 Prévost-Paradol, Lucien Anatole 207 Raumer, Friedrich Ludwig Georg von 319 Raymond, Robert 146 f. Reeves, Richard 12 f., 16, 25, 28, 36, 40, 42, 51, 54 f., 57 f., 61 f. Ricardo, David 23 Robson, John M. 13, 18 ff., 54, 56 f., 63 Roebuck, John 52 Royer-Collard, Albert Paul 204, 231 Russell, John 179 ff., 193, 291 Russell, William Howard 266, 293 Ryan, Alan 13, 25 Scott, Walter 236, 253, 293 Schultz, Bart 18, 26, 47 f., 50 Sharp, Granville 272 Saint-Simon, Henri de 14 Smith, Adam 23, 128, 141, 156 Stanley, Edward Henry 317 Sullivan, Eillen 20, 23 Taylor-Mill, Harriet 12 Taylor, Helen 12, 170 Temple, Henry John; 3. Viscount Palmerston 105 f. Thiers, Louis Adolph 206 Thirlwall, Connop 95 Thornton, William Thomas 317

Personenregister

325

Tocqueville, Alexis de 14, 41, 51, 79, 205, 276 Tudor, Elizabeth 112, 232 Tufnell, Edward Carleton 243

Whately, Richard 274 Whewell, William 95 Woolston, Thomas 147 Wooler, Thomas Jonathan 147 f.

Villèle, Jean-Baptiste de 204, 231

Louis XVIII. Stanislas Xavier, Ludwig XVIII. 205

Walzer, Michael 22 Warner, Hiram 286

Yorke, Philip 147