L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 33:1 Göttinnen 3847114018, 9783847114017

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L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 33:1 
Göttinnen
 3847114018, 9783847114017

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L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Caroline Arni/Basel, Gunda Barth-Scalmani/Innsbruck, Ingrid Bauer/Wien und Salzburg, Anna Becker/Aarhus, Mineke Bosch/Groningen, Bożena Chołuj/ Warschau und Frankfurt (Oder), Maria Fritsche/Trondheim, Christa Hämmerle/ Wien, Gabriella Hauch/Wien, Almut Höfert/Oldenburg, Anelia Kassabova/ Sofia, Claudia Kraft/Wien, Ulrike Krampl/Tours, Christina Lutter/Wien, Sandra Maß/Bochum, Claudia Opitz-Belakhal/Basel, Regina Schulte/ Berlin, Kristina Schulz/Neuchâtel, Xenia von Tippelskirch/Berlin, Heidrun Zettelbauer/Graz Initiiert und mitbegründet von Edith Saurer (1942–2011)

Wissenschaftlicher Beirat Angiolina Arru/Rom, Sofia Boesch-Gajano/Rom, Susanna Burghartz/Basel, Kathleen Canning/Ann Arbor, Jane Caplan/Oxford, Krassimira Daskalova/ Sofia, Natalie Zemon Davis/Toronto, Barbara Duden/Hannover, Ayşe Durakbaşa/Istanbul, Ute Frevert/Berlin, Ute Gerhard/Bremen, Angela Groppi/Rom, Francisca de Haan/Budapest, Hanna Hacker/Wien, Karen Hagemann/Chapel Hill, Daniela Hammer-Tugendhat/Wien, Karin Hausen/Berlin, Waltraud Heindl/Wien, Dagmar Herzog/New York, Claudia Honegger/Bern, Isabel Hull/Ithaca, Marion Kaplan/New York, Christiane Klapisch-Zuber/Paris, Gudrun-Axeli Knapp/Hannover, Daniela Koleva/Sofia, Margareth Lanzinger/Wien, Brigitte Mazohl/Innsbruck, Hans Medick/Göttingen, Michael Mitterauer/Wien, Herta Nagl-Docekal/Wien, Kirsti Niskanen/Stockholm, Helga Nowotny/Wien, Karen Offen/Stanford, Michelle Perrot/Paris, Gianna Pomata/Bologna, Helmut Puff/Ann Arbor, Florence Rochefort/Paris, Lyndal Roper/Oxford, Raffaela Sarti/Urbino, Wolfgang Schmale/Wien, Gabriela Signori/Konstanz, Brigitte Studer/Bern, Marja van Tilburg/Groningen, Maria Todorova/Urbana-Champaign, Claudia Ulbrich/Berlin, Kaat Wils/Leuven

L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 33. Jg., Heft 1 (2022)

Göttinnen Herausgegeben von Almut Höfert und Xenia von Tippelskirch

V&R unipress

Inhalt

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Beiträge Oliver Auge und Felicia E. Engelhard Antike Göttinnen im Mittelalter: Allegorien, Gottes Töchter oder göttliche Konkurrenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Birgit Heller Göttinnen und ihre Beziehungen zu Frauen. Ein ambivalentes Verhältnis konkretisiert am Beispiel der hinduistischen Religionsgeschichte . . . . . . .

39

Almut Höfert und Anja Hänsch Göttinnenzeiten. Die ‚Große Göttin‘ in Wissenschaft und religiösen Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Extra Elissa Mailänder „Schreiben in alle Windrichtungen und warten auf Post“. Zur materiellen Hermeneutik von Briefen und Fotografien als Erinnerungsobjekte der RAD-Generation (1939–2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Forum Racha Kirakosian Medieval Mary: A Kaleidoscope of the Divine

. . . . . . . . . . . . . . . . 107

Im Gespräch Almut Höfert und Xenia von Tippelskirch im Gespräch mit Caroline Walker Bynum Religion, Geschlecht, Körper – mediävistische Verortungen . . . . . . . . . . 117

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Inhalt

Aktuelles & Kommentare Martina Kaller GRÜSS GÖTTIN. Ein Autobahnschild als künstlerische Provokation in Tirol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Beate Hausbichler Alte Herausforderungen und neue Mittel für feministische Kämpfe . . . . . . 139

Rezensionen Rotraud von Kulessa Claudia Opitz-Belakhal, Streit um die Frauen und andere Studien zur frühneuzeitlichen ‚Querelle des femmes‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Elisabeth Fischer Anne Conrad (Hg.), Spannungen. Religiöse Praxis und Theologie in geschlechtergeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Claudia Opitz-Belakhal Julia Heinemann, Verwandtsein und Herrschen. Die Königinmutter Catherine de Médicis und ihre Kinder in Briefen 1560–1589 . . . . . . . . . . . . . . 153 Gabriella Hauch Ruth Nattermann, Jüdinnen in der frühen italienischen Frauenbewegung (1861–1945). Biografien, Diskurse und transnationale Vernetzungen . . . . . 157 Kristina Schulz Lucy Delap, Feminisms. A Global History Bibia Pavard, Florence Rochefort u. Michelle Zancarini-Fournel, Ne nous libérez pas, on s’en charge. Une histoire des féminismes de 1789 à nos jours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Abstracts

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Anschriften der Autor*innen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Editorial

„Als Gott eine Frau war“ – unter diesem pointierten Titel veröffentlichte die USamerikanische Theologin Merlin Stone 1976 ein Buch, das auf die damals entstehende feministische Theologie großen Einfluss genommen hat.1 Stone vertrat darin die Ansicht, dass in prähistorischer Zeit kein männlicher Gott, sondern eine ‚Große Göttin‘ verehrt worden sei. Diese ‚weibliche‘ Religion sei jedoch durch ‚männlich‘ orientierte Religionen – die antike griechische und die monotheistischen Religionen – aggressiv verdrängt worden. Juden-, Christentum und Islam hätten dabei eine männliche Gottheit als Schöpfer des Universums etabliert – einen Gott, der den Mann als sein Ebenbild erschaffen und diesem die Frau als gehorsame Helferin zur Seite gestellt hätte. Die damit als ‚natürlich‘ etablierte Geschlechterordnung habe dazu geführt, dass Männer die Welt kontrollieren und über ganz unterschiedliche Dinge entscheiden könnten, etwa welche Kriege geführt werden oder wann das Abendessen auf dem Tisch bereitzustehen hat. Die überwiegend männlichen Archäologen des 19. und 20. Jahrhunderts hätten die Befunde über die verdrängte und verschüttete Religion der ‚Großen Göttin‘ vernachlässigt oder in ein falsches Licht gerückt. Stone beschreibt, dass sie sich in einer langjährigen Recherche daran gemacht habe, das Puzzle der weiblichen Religion zusammenzusetzen. Damit wollte sie die alte Göttinnenreligion nicht wiederbeleben. Aber, so führte sie aus: „Ich hoffe jedoch, dass ein heutiges Bewusstsein über die einst weit verbreitete Verehrung der weiblichen Gottheit als die weise Schöpferin des Universums, allen Lebens und jeglicher Kultur dazu dient, um die zahlreichen repressiven und falsch fundierten patriarchalen Bilder, Stereotypen, Gebräuche und Gesetze zu durchbrechen, die die Führer der männlich dominierten Religionen in direkter Reaktion auf die Religion der Göttin eingeführt hatten.“2

1 Merlin Stone, When God Was a Woman, New York 1976. Die Erstausgabe in Großbritannien war kurz zuvor unter dem Titel „The Paradise Papers. The Suppression of Women’s Rites“ (London 1976) erschienen. Vgl. zum Kontext des spirituellen Feminismus den Beitrag von Almut Höfert und Anja Hänsch in diesem Heft. 2 Stone, When God Was a Woman, wie Anm. 1, Introduction.

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Stones ‚zusammengesetztes Puzzle‘ einer prähistorischen weiblichen Religion der ‚Großen Göttin‘ steht heute nicht mehr im Zentrum feministischer Debatten. Die von Stone damit verbundenen gesellschaftspolitischen Anliegen sind hingegen in ihrem Kern auf der feministischen Agenda geblieben, wenn Feminist*innen die Gleichstellung von Mann und Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen einfordern beziehungsweise die Unterrepräsentanz von Frauen etwa in Parlamenten, Aufsichtsräten, Firmenvorständen, Professuren, Theaterintendanzen und gut bezahlten technischen Berufen sowie die Überrepräsentanz von Frauen in gar nicht oder schlecht bezahlter Care-Arbeit monieren. Die kulturellen Deutungsmuster, die diese Ungleichheit mit hervorbringen und legitimieren, werden dabei durchaus auch auf patriarchale religiöse Traditionen zurückgeführt, die dazu beigetragen haben, den Mann als Norm zu setzen. Die feministische Kritik am Mann als allgegenwärtiger Norm – sei sie religiös oder anders begründet – kommt bei „L’Homme. Z. F. G.“ seit dem Erscheinen des ersten Heftes auf dem Cover zum Ausdruck: Der von einem Quadrat umgebene Kreis ist eine Anspielung auf die berühmte Darstellung des nackten Mannes, mit dem Leonardo da Vinci die idealen Proportionen ‚des Menschen‘ abbildete. Auf dem Cover ist da Vincis Mann als menschliche Norm jedoch aus dem Inneren des Kreises entfernt worden: Die Beiträge in „L’Homme“ sind Teil des feministischen Projekts, den Mann als Norm nicht als gegeben hinzunehmen, sondern zu historisieren, Frauen als Akteurinnen in der Geschichte sichtbar zu machen und Geschlechterordnungen zu analysieren. Im Rahmen dieses Anliegens der Geschlechtergeschichte spielt Stones Rückgriff auf eine postulierte Religion der ‚Großen Göttin‘ keine Rolle. Es ist jedoch bemerkenswert, dass das Gründungsheft von „L’Homme“ aus dem Jahr 1990 dem Thema ‚Religion‘ gewidmet war. Die Herausgeberinnen Christa Hämmerle und Edith Saurer begründeten diese Wahl damit, dass das Forschungsfeld Religion „von der deutschsprachigen feministischen Forschung stark vernachlässigt wurde: „Als Ort der Identitätsfindung und Repression stellt Religion […] eine bedeutende Instanz bei der Durchsetzung vom ‚Zwang zum Selbstzwang‘, bei der Durchsetzung und Benennung der Geschlechtscharaktere dar.“3 Rund 30 Jahre nach dem Erscheinen der ersten „L’Homme“-Ausgabe legen wir hier zum ersten Mal wieder ein Heft mit einem explizit religiösen Bezug im Titel vor und befassen uns mit ‚transzendentaler Geschlechtergeschichte‘. Dabei soll in einem Bogen vom Mittelalter bis in die Gegenwart sondiert werden, welche Diskurs- und Handlungsfelder durch Göttinnen in verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten jeweils eröffnet wurden und inwiefern diese Aufschlüsse über zeitgenössische Geschlechterordnungen und transzendentale Konzepte geben können. Das Verhältnis zwischen Gottheiten und Geschlechterordnungen einer Gesellschaft ist komplex. Der Bezug auf weibliche und männliche Aspekte von Gottheiten kann in einer Gesellschaft ganz unterschiedlich erfolgen. Gleichwohl kam es im 19. Jahrhun3 Vgl. L’Homme. Z. F. G., 1, 1 (1990), Editorial, 4f.

Editorial

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dert zu einer entscheidenden Entwicklung: Während in der Vormoderne körperliches Geschlecht lediglich ein „Zuschreibungsmerkmal“ gewesen war, wurde es mit der Etablierung der modernen biologischen Geschlechterdichotomie zur „Kernkomponente der Identität“.4 Daher wurde es ab diesem Zeitpunkt möglich, ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ als überzeitliche, irdisch-transzendente Essenzen zu denken, die das gesamte Wesen einer Gottheit ausmachen. Für die Geschichte der Göttinnen bedeutet dies, dass erst ab dem 19. Jahrhundert Göttinnen (und Frauen) mit ausschließlicher und purer ‚Weiblichkeit‘ denkbar wurden.5 Das Gleiche gilt für die ‚Männlichkeit‘ des monotheistischen Gottes, die erst in der Moderne zu einem Problem für Feminist*innen werden konnte. Dies lässt sich auch an den Beiträgen zum Mittelalter von Oliver Auge, Felicia E. Engelhard und Racha Kirakosian in diesem Heft erkennen, die zeigen, dass die Diskurs- und Handlungsfelder, die durch Maria und pagane Göttinnen eröffnet wurden, uns nicht unmittelbar Aufschlüsse über zeitgenössische Geschlechterkonzeptionen geben, sondern vielmehr über religiöse Praktiken und theologische Diskurse (die je nach Kontext mittelbar dann auch geschlechtsspezifisch gelesen werden können). Göttinnen in der Moderne sind hingegen sehr viel enger mit Geschlechterordnungen verknüpft, wie die Beiträge von Almut Höfert, Anja Hänsch und Birgit Heller für ganz unterschiedliche Kontexte verdeutlichen. Die ab dem 19. Jahrhundert biologisierte Geschlechterbinarität ist auch ein Grund dafür, weshalb das feministische Narrativ von der Verdrängung der Göttinnen (und Götter) durch den ‚männlichen‘ monotheistischen Gott gesellschaftlich so erfolgreich war und häufig mit im Raum steht, wenn die Rede von Göttinnen in Europa und dem Nahen Osten ist.6 Quellenbefunde über eine potenzielle judäische Göttin Aschera, die im 8. Jahrhundert v. Chr. in drei Inschriften auf dem Sinai an der Seite Yahwes genannt wird, haben ebenso hohe gesellschaftspolitische Wellen geschlagen wie die sogenannten ‚satanischen Verse‘ im Islam. Der Prophet Muhammad, so die Position einiger frühislamischer Gelehrter, habe in diesen Versen zunächst die Anrufung dreier Göttinnen erlaubt, dieses später jedoch aufgrund einer Offenbarung Gottes zurückgenommen.7 4 Claudia Ulbrich, Artikel Geschlecht, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart 2006, s.v. 5 Birgit Heller weist in ihrem Beitrag in diesem Heft ausdrücklich darauf hin, dass vormodernen Göttinnen zwar häufig Müttersymbolik zugeschrieben wurde, aber diese Mütterlichkeit nur einen Aspekt der Göttinnenverehrung ausmachte. 6 Diese Frage wird auch in Ausstellungen thematisiert, vgl. folgende Kataloge: Othmar Keel (Hg.), Gott weiblich. Eine verborgene Seite des biblischen Gottes, Fribourg 2008; Michaela FeuersteinPrasser u. Felicitas Heimann-Jelinek, Die weibliche Seite Gottes, Jüdisches Museums Hohenems 2017. Einen anderen Schwerpunkt hat hingegen die Ausstellung „Goddesses of Art Nouveau“, Amsterdam, Karlsruhe und Braunschweig 2021/22. Das British Museum plant zur Zeit eine Ausstellung mit dem Titel „Feminine Power“ über „the divine female throughout human existence“, unter: https://www.britishmuseum.org/exhibitions/feminine-power, Zugriff: 21. 1. 2022. 7 Vgl. Christoph Uehlinger, Göttinnen in der Welt und Umwelt des antiken Israel, in: FeuersteinPrasser/Heimann-Jelinek, Weibliche Seite Gottes, wie Anm. 6, 1–11; Salman Rushdie, The Satanic Verses, New York 1988.

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Die wissenschaftliche These, dass eine oder viele Göttinnen durch einen exklusiven Gott beziehungsweise eine männlich dominierte Götterwelt verdrängt worden seien, hat sich in dieser Form allerdings nicht als tragfähig erwiesen. Archäologische Forschungen haben gezeigt, dass die von Merlin Stone und anderen postulierte vorgeschichtliche Religion der ‚Großen Göttin‘ nicht nachweisbar ist.8 Aber auch im Hinblick auf Göttinnen im Rahmen von polytheistischen Panthea ist Vorsicht geboten, denn der Gegensatz zwischen abrahamitischem Monotheismus und paganem Polytheismus ist weniger eindeutig als lange angenommen wurde. Im 7. Jahrhundert v. Chr. war der Gott Yahwe, der als wichtigste göttliche Referenzgröße an verschiedenen Orten in Juda und Israel verehrt wurde, nicht ein und derselbe, sondern mehrere („Polyjahwismus“)9. Umgekehrt nahm der spätantike römisch-antike Polytheismus monotheistische Tendenzen zu einer Sonnen- oder höchsten Gottheit auf.10 Das Christentum mit seiner Trinität kann als polytheistisch bezeichnet werden (dies war einer der Punkte, mit denen sich der frühe Islam vom Christentum absetzte); christliche (wie auch muslimische) weibliche und männliche Heilige fungierten in der religiösen Praxis als transzendentale Akteur*innen. Der Forumsbeitrag von Racha Kirakosian setzt an diesem Punkt an und nimmt Maria, die herausragende ‚Superheilige‘ im christlichen Mittelalter in den Blick. Ob Maria als göttlich eingestuft werden kann, sei, so Kirakosian, eine Frage der Definition. Während Theologen Maria als rein menschliche Mutter Jesu Christi ansahen, fungierte Maria in der lived religion als Göttin: Sie wurde nicht nur als Vermittlerin für Fürbitten angerufen, sondern direkt angebetet, stand in enger Beziehung zu den Gläubigen, sorgte für gute Ernten, Fruchtbarkeit und Heilung, trat als Rächerin auf, hatte den Thron der Weisheit inne und wachte über das Fegefeuer. Die mit zahlreichen Marienkirchen und Marienhymnen ab dem 11./12. Jahrhundert intensivierte Marienverehrung hielt im Spätmittelalter an – und nahm starken Einfluss auf doktrinäre Vorstellungen. Theologen schrieben allein Maria Gottesunmittelbarkeit zu und sinnierten, wie eng Maria, in deren Schoß Gott zum Menschen geworden war, mit der Trinität zu verbinden sei. Im 15. Jahrhundert wurde die schon bei den Franziskanern verbreitete Auffassung, dass Maria als Maria immaculata nicht an der menschlichen Ursünde teilhabe, zur offiziellen Doktrin. Insgesamt ist Maria ein Beispiel dafür, dass eine Gegenüberstellung von einem rein männlichen Gott und Maria als rein weiblicher Gottesmutter zu kurz greift, um die Geschlechterdynamiken der Marienverehrung zu erfassen. Auch die Frage, inwiefern die mittelalterliche Marienverehrung Elemente aus

8 Vgl. dazu den Beitrag von Almut Höfert und Anja Hänsch in diesem Heft. 9 Uehlinger, wie Anm. 7, Göttinnen. 10 Vgl. Martin Wallraff, Christus versus Sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike, Münster 2001.

Editorial

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vorchristlichen Kulten aufgenommen habe, wird immer wieder diskutiert.11 Die Antwort auf diese Frage ist jedoch nicht entscheidend, um das „Kaleidoskop des Göttlichen“ zu erfassen, das die mittelalterliche Maria bietet. Auch Oliver Auge und Felicia E. Engelhard zeigen in ihrem Beitrag, dass das christliche Mittelalter weniger monotheistisch geprägt war als gemeinhin angenommen. Sie befassen sich mit vier antiken Göttinnen, die im Mittelalter rezipiert wurden und dabei neue Konturen annahmen. Barbara Newman hatte 2005 bereits darauf hingewiesen, dass antike Göttinnen im Mittelalter nicht nur als Stilfiguren oder allegorische Muster, sondern als vielschichtige Imaginationsfiguren wirkten, die die christlichen Vorstellungen des Göttlichen erweitert hätten, und dass sie „als weiblich, aber nicht notwendigerweise als Frauen“ gelesen werden müssten.12 Die vor allem ab dem 12. Jahrhundert allgegenwärtige Fortuna galt als Schicksalsmacht im göttlichen Heilsplan und gab im Spätmittelalter Anlass zur Frage, ob dieser durch Tugendhaftigkeit beeinflusst werden könne. Die Göttin Natura wurde ab dem 12. Jahrhundert ungleich bedeutender als sie es jemals in der Antike gewesen war. Mit ihrer Aufgabe, den Schöpfungsprozess in Gang zu halten, wurde sie zuweilen auch als Tochter Gottes bezeichnet. Justitia fungierte ebenfalls als Vermittlerin zwischen Gott und den Menschen, erschien ab dem Spätmittelalter jedoch auch unabhängig von Gott als Sinnbild für Gericht und Gerechtigkeit weltlicher Institutionen. Insgesamt eröffneten diese drei Göttinnen einen Freiraum für philosophisch-theologische Erwägungen, ohne dass Gelehrte in ihren Aussagen über Göttinnen Gefahr liefen, der Häresie gegen die Trinität angeklagt zu werden. Die Göttin Diana zeigt hingegen, dass nicht alle antiken Göttinnen in die christliche Lehre integriert wurden. Archäologische Funde belegen eine grundsätzliche Kontinuität zwischen antiken und mittelalterlichen Diana-Kulten. Von kirchlicher Seite wurde Diana hingegen als heidnische Anführerin einer berittenen Horde vom Teufel besessener Frauen dämonisiert – eine Lesart, mit der in der Frühen Neuzeit die Verfolgung von ‚Hexen‘ begründet wurde. Almut Höfert und Anja Hänsch befassen sich schließlich mit der religiösen Bewegung, zu deren Entstehung Merlin Stone entgegen ihrer deklarierten Absicht beigetragen hat: die sogenannte ‚Rückkehr ‘ zur ‚alten Göttinnenreligion‘ im spirituellen Feminismus ab den 1970er Jahren. Wie andere neopagane Religionen griff die Göttinnenbewegung auf Forschungen zu vorchristlichen Religionen zurück und ist daher ein faszinierender Untersuchungsgegenstand für das Verhältnis von Forschung und religiöser Wahrheit. Die These einer neolithischen ‚Großen Göttin‘ kam im 19. Jahrhundert auf, als (männliche) Gelehrte ein prähistorisches Matriarchat postulierten. Die matriarchale ‚Große Göttin‘ war als ‚weibliches Urwesen‘ eng mit der zeitgenössischen 11 Vgl. etwa Françoise Van Haeperen, Des „déesses-mères“ de l’Antiquité à la Mère de Dieu: continuités ou ruptures?, in: Jean-Pierre Delville, Joseph Famerée u. Marie-Elisabeth Henneau (Hg.), Marie. Figures et réceptions: enjeux historiques et théologiques, Paris 2012, 27–43. 12 Barbara Newman, God and the Goddesses. Vision, Poetry, and Belief in the Middle Ages, Philadelphia 2003, 38.

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biologischen binären Geschlechterordnung verknüpft, blieb aber – wie queere Anhänger*innen der Göttinnenreligion später zeigten – nicht unverbrüchlich an diese gebunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verliehen insbesondere der Altphilologe und Dichter Robert Graves und die Archäologin Marija Gimbutas der ‚Großen Göttin‘ eindrückliche Konturen und verorteten diese in einer ‚Retrotopia‘ (Zygmunt Bauman), einer heilen Vergangenheit. Als sich im Rückgriff auf die Forschungen von Graves, Gimbutas und anderen ab den 1970er Jahren die Göttinnenreligion bildete, hatte sich in der Forschung bereits mehrheitlich die Auffassung durchgesetzt, dass die ‚Große Göttin‘ eine moderne Erfindung ist. Einige Exponentinnen der Göttinnenbewegung erkannten dies später auch an und verwiesen auf das Recht, in ihrer Religion alternative vergangene Zeiten zu imaginieren. Sobald jedoch die ‚Große Göttin‘ in der historischen Zeit verortet wird, ergibt sich ein Konflikt um Diskurshoheit im Spannungsfeld zwischen Forschung und religiöser Wahrheit – weniger um eine Diskurshoheit über die Göttin an sich, sondern über „Göttinnenzeiten“. Der Beitrag von Birgit Heller behandelt die umfangreiche und theoretisch besonders reflektierte Verehrung von Göttinnen in den religiösen Traditionen des Hinduismus. Dazu gehörte das Konzept der Shakti als weibliches, hervorbringendes kosmisches Prinzip, das männlichen Gottheiten zugeordnet wird, aber auch als das göttliche Absolute und Mahādevī (wörtlich: ‚große Göttin‘) von anderen Göttinnen wie Durgā und Kālī eingenommen werden kann. Die Verehrung hochstehender Göttinnen war und ist jedoch kein Indikator für die gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen. Sāradā Devī (1853–1920), die in der Rāmakrishna-Bewegung als Manifestation der ‚Göttlichen Mutter‘ verehrt wird, ist dafür ein gutes Beispiel, da sie der großen Mehrheit nicht asketisch lebender Frauen keinen Ansatzpunkt zur Emanzipation eröffnet. Während im heutigen hinduistisch-nationalistischen ‚Hindutva-Feminismus‘ die kriegerische Göttin Durgā Mädchen in Trainingscamps zum gewalttätigen Aktivismus anspornen soll, hält es der Großteil der – zumeist nicht sehr religiös geprägten – indischen Feministinnen für problematisch, sich auf hinduistische Göttinnen zu beziehen. Im heutigen Indien können Göttinnen sowohl im Rahmen von Mechanismen von Diskriminierung und Unterdrückung gelesen als auch zur Ermächtigung von Frauen genutzt werden. Martina Kaller kommentiert im Forum widersprüchliche Reaktionen auf die Installation der Tiroler Künstlerin Ursula Beiler, die mit einem großformatigen Schild an der Innsbrucker Autobahn lokale Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt hat: Auf diesem steht provokant „Grüß Göttin“. Übermalungen und Stellungnahmen zeigen, wie die Veränderung der österreichischen Grußformel „Grüß Gott“ als Angriff auf das Tiroler Selbstverständnis interpretiert werden kann. Vor dem Hintergrund des thematischen Fokus’ dieses Heftes haben Almut Höfert und Xenia von Tippelskirch mit der Mediävistin Caroline Walker Bynum, Pionierin der Geschlechter- und Körpergeschichte, über ihre Zugänge zur Religionsgeschichte, über aktuelle Tendenzen der amerikanischen Geschichtswissenschaft, die Rolle der eigenen Positionierung als

Editorial

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Forscherin sowie die Problematik identitätspolitischer Entscheidungen im akademischen Kontext gesprochen. In der Rubrik „L’Homme“-Extra wendet sich Elissa Mailänder privaten Archivierungspraktiken und der Frage zu, wie und warum private Erinnerungsstücke einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Sie untersucht im Rahmen einer vielschichtigen Fallstudie Briefe, Fotos sowie Erinnerungs- und Sammelobjekte aus der NS-Zeit, die Franziska Grasel Anfang der 2000er Jahre der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien überlassen hat. Der Reichsarbeitsdienst (RAD) hatte jungen Frauen Aufstiegschancen geboten und behielt damit auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine hohe biografische Bedeutung. Vor diesem Hintergrund interessiert Mailänder, inwiefern die von Grasel gesammelten Objekte Auskunft über soziales Handeln in der NS-Zeit geben können, für welche emotionalen Bindungen und Erinnerungspraktiken sie stehen können – angesichts der Tatsache, dass sie über einen langen Zeitraum aufbewahrt wurden – und was es bedeutet, dass diese Objekte schließlich der Forschung zugänglich gemacht wurden. Zudem beginnen wir in diesem Heft wieder eine neue Artikelserie. In der „L’Homme“-Ausgabe 1/2017 wurde von Celine Angehrn der Konsens über die Verdrängung der Frauengeschichte und damit der Kategorie ‚Frau‘ durch die Geschlechtergeschichte aus der Perspektive einer jüngeren Feminismus-Historikerin grundlegend in Frage gestellt. Heute fordern hingegen non-binäre Feminist*innen das Ende von ‚Frauen‘ und ‚Männern‘ als Beschreibungs- und Analysekategorien, da diese einer grundsätzlich zweigeschlechtlichen und damit ebenso trans-repressiven wie antifeministischen Realitätsvorstellung verhaftet seien. Die Debatte über die Kategorie ‚Frau‘ scheint damit neu eröffnet, während gleichzeitig die Diskussion über die Kategorie ‚Geschlecht‘ beziehungsweise ‚Gender‘ weiterhin heftig – und aus der Sicht der Queer Studies mit wachsender Intensität – geführt wird. Zudem steht der ‚weiße‘ Feminismus (wieder) unter Kritik. PoC-Feminist*innen kritisieren mangelnde Intersektionalität und die Ausgrenzung von marginalisierten Gruppen. ‚Diversity‘ wird so zu einer grundlegenden Herausforderung gerade auch für die Geschlechtergeschichte und neue Fragen drängen sich auf: Sind die von uns verwendeten Begrifflichkeiten entpolitisiert? Wird die Ungleichheit ethnischer und geschlechtlicher Kulturen durch sie eher verdeckt als sichtbar gemacht? Diese spannenden, manchmal verwirrenden Debatten sollen in unserer neuen Artikelserie „Umkämpfte Kategorien und neue Feminismen“ Raum bekommen – ähnlich wie wir in „L’Homme“ in den letzten Jahren schon Artikelserien über andere aktuelle Themen und Debatten, etwa über sexuelle Gewalt oder den neuen Maskulinismus und diverse Formen des ‚Anti-Genderismus‘, publiziert haben.13

13 Die Artikelserie über sexuelle Gewalt begann in Heft 1/2016, diejenige über den neuen Maskulinismus und diverse Formen des ‚Anti-Genderismus‘ in Heft 2/2012.

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Mit einem Beitrag von Beate Hausbichler zum Thema „Alte Herausforderungen und neue Mittel für feministische Kämpfe“ beginnen wir im vorliegenden Heft diese neue Serie. Wie Hausbichler konstatiert, gibt es in den letzten anderthalb Jahrzehnten „eine neue und durchaus kräftige Sichtbarkeit feministischer Themen. Doch um welche feministischen Ziele geht es dabei, fragt sie weiter. Sind dafür alle Mittel recht beziehungsweise hilfreich? Und wie verhalten sich wirtschaftliche Interessen, soziale Unterschiede und feministische Ziele zueinander, wenn uns Feminismus letztlich vor allem als ‚Konsumprodukt‘ entgegentritt? Almut Höfert und Xenia von Tippelskirch

Antike Göttinnen im Mittelalter: Allegorien, Gottes Töchter oder göttliche Konkurrenz?

Das Christentum duldet als monotheistische Religion keine weiteren Götter neben dem ‚einen‘, allumfassenden Gott. Im ersten der Zehn Gebote heißt es explizit: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“1 Dennoch sind in den Quellen des europäischen Mittelalters, dessen Weltbild als weitgehend christlich geprägt gilt, neben der Vorstellung der göttlichen Trinität immer wieder Hinweise auf weitere Gottheiten zu finden, was an sich im Widerspruch zu den christlichen Glaubensvorstellungen und kirchlichen Lehren steht. Mit Blick auf weibliche Gottheiten standen dabei schon einzelne Göttinnen oder Aspekte im Mittelpunkt von Untersuchungen, aber eine vergleichende Darstellung im Gesamtzusammenhang fehlt nach wie vor. Eine Ausnahme bildet das folglich als grundlegend zu bezeichnende Werk von Barbara Newman „God and the Goddesses“; die dortige Auswahl an Göttinnen vermittelt jedoch den trügerischen Eindruck, Göttinnen seien im Mittelalter generell in den christlichen Glauben integriert gewesen und dort mit bestimmten göttlichen Aufgaben und Funktionen betraut worden.2 Im Folgenden soll daher einerseits die Materialbasis Newmans quantitativ erweitert und andererseits durch wichtige neue Aspekte ergänzt werden. Dafür wird anhand der vier ausgewählten Göttinnen Fortuna, Natura, Justitia und Diana vergleichend aufgezeigt werden, wie und in welchem Kontext diese Göttinnen im Mittelalter Bestand hatten, rezipiert sowie eventuell sogar verehrt wurden und wie sich ihr Bild im Lauf der Jahrhunderte weiterentwickelte. Die Auswahl der Göttinnen begründet sich dabei durch ihre antiken Wurzeln, ihre Fortexistenz im Mittelalter sowie deren grundlegende wissenschaftliche Erforschung, auf die in diesem Beitrag zurückgegriffen wird. Darüber hinaus wird die vergleichende Betrachtung dieser vier Göttinnen zeigen, wie breit das Spektrum weiblicher Göttlichkeit im Mittelalter war. Die christliche Kirche war in der späten Antike und im frühen Mittelalter noch mit zahlreichen anderen Glaubensformen konfrontiert, die teilweise bereits seit Jahrtau1 Ex. 20, 3. 2 Barbara Newman, God and the Goddesses. Vision, Poetry, and Belief in the Middle Ages, Philadelphia 2003.

BEITRÄGE

Oliver Auge und Felicia E. Engelhard

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senden bestanden und hoch entwickelt, aber bisweilen auch noch vergleichsweise jung und sehr dynamisch waren. Die christlichen Missionare hatten es dabei sowohl mit antiken als auch mit keltischen, germanischen und slawischen Glaubensvorstellungen zu tun, in denen nicht nur einige Hauptgottheiten, sondern zudem eine Vielzahl an Neben- und Lokalgöttern verehrt wurden und Kulte um heilige Naturplätze existierten.3 Mit dem universalen Heilsanspruch des frühen Christentums waren diese konkurrierenden, nichtchristlichen Vorstellungen allerdings unvereinbar, sodass die Missionare und Kirchengelehrten vor der Herausforderung standen, einerseits für ihren Glauben zu werben und neue Anhänger zu gewinnen sowie andererseits alle anderen Kulte zu ersetzen und auszulöschen.4 Dabei entwickelte das Christentum zur Bekehrung Andersgläubiger drei Strategien: Die anderen Vorstellungen und Praktiken wurden entweder mit dem Teufel in Verbindung gebracht und unterbunden oder in die christliche Religion integriert beziehungsweise zumindest zunächst wohlwollend geduldet.5 Doch obwohl durch die Christianisierung die alten Werte und Kulte tiefgreifend infrage gestellt worden waren und sich die Prediger und gelehrten Theologen mit Nachdruck bemühten, die älteren Glaubenssysteme zu unterdrücken und zu diabolisieren, blieben sie als Volksvorstellungen und pagan-zauberische Mächte wie eine Art „Hintergrundrauschen“ trotz der institutionellen Vorgaben der Kirche über Jahrhunderte hinweg präsent und lebendig.6 Wolfgang Behringer resümiert: „Das ‚christliche Mittelalter‘ mag [so] für weite Teile der Bevölkerung weit weniger christlich gewesen sein, als man dies aufgrund der Literatur dieser Zeit annehmen würde. Knapp unter der Oberfläche hielt sich eine Vielzahl kultischer Verrichtungen und magischer Vorstellungen.“7 Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass nicht nur das gemeine Volk weiterhin den alten Kulten anhing und ‚heidnisch-magische‘ Praktiken vollzog, während die Eliten der neuen christlichen Religion folgten. Die gesellschaftliche Oberschicht kannte ebenfalls die lokalen Bräuche, konsultierte Heiler, Wahrsager und Zauberer und vermischte so die paganen Riten mit dem Christentum.8 Auch den Akteuren der Inquisition, Reformation und Gegenreformation gelang es nicht, die Vorherrschaft der lokalen Volkskulturen endgültig zu brechen, was deren tiefe Ver-

3 Vgl. Wolfgang Behringer (Hg.), Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, München 20066, 11. 4 Vgl. Behringer, Hexenprozesse, wie Anm. 3, 11. 5 Vgl. Hermann Denz, Naturheilkunde und Alltagsmagie, in: ders. u. Manfred Tschaikner (Hg.), Alltagsmagie, Hexenglaube und Naturheilkunde im Bregenzer Wald. Ein Begleitbuch zur Ausstellung „Göttin – Hexe – Heilerin. Zu einer Kulturgeschichte weiblicher Magie“. Frauenmuseum in Hittisau (Juni bis Oktober 2004), Innsbruck 2004, 13–150, 26–27. 6 Wolfgang Behringer u. Constance Ott-Koptschalijski, Der Traum vom Fliegen. Zwischen Mythos und Technik, Frankfurt a. M. 1991, 178; Behringer, Hexenprozesse, wie Anm. 3, 11–21; Denz, Naturheilkunde und Alltagsmagie, wie Anm. 5, 23f. 7 Behringer, Hexenprozesse, wie Anm. 3, 17. 8 Vgl. Behringer, Hexenprozesse, wie Anm. 3, 18; Denz, Naturheilkunde und Alltagsmagie, wie Anm. 5, 23f.

Oliver Auge und Felicia E. Engelhard, Göttinnen im Mittelalter

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ankerung in der mittelalterlichen Gesellschaft belegt.9 Der dabei in der Theorie auftretende Eindruck einer Dichotomie zwischen den Vertretern der Kirche und dem abergläubischen Volk trügt jedoch, denn die gelebte Praxis sah anders aus und auch die Theologen, Prediger und Missionare blieben als Teil der Gesellschaft nicht unberührt oder immun gegen die Vorstellungen und Traditionen, die der christlichen Doktrin gegenüberstanden, aber dies lässt sich heute kaum noch greifen. Es stellt sich jedoch die Frage, warum es gerade weibliche Gottheiten waren, die umgedeutet und in die christliche Lehre integriert wurden. Barbara Newman fasst dazu in ihrer Arbeit zunächst einige bestehende Erklärungsansätze zusammen, ehe sie selbst eine neue These aufstellt und aus ihrer Sicht zentrale Gründe nennt, die für die Popularität der Göttinnen sorgten. In der Forschung bis zu Newman wurde als Begründung dafür häufiger angeführt, dass sich die Weiblichkeit bereits im ursprünglichen grammatikalischen Geschlecht der Abstrakta widerspiegelt, für die die Göttinnen stehen, und dass die Personifizierung der Rhetorik ebenfalls als feminin eingestuft worden sei.10 Doch ebenso wie diese Ansätze greift auch die These zu kurz, nach der die patriarchale Autorität bewusst durch die wohltätigen, idealisierten und göttlichen Frauengestalten maskiert worden sei. Schließlich findet sich in der mittelalterlichen Überlieferung kein einziger Autor, der explizit betont hätte, dass aufgrund des natürlichen binären Geschlechtersystems des Menschen die Gottheiten ebenfalls zwingend in zwei Geschlechtern auftreten müssten, argumentiert Newman.11 Sie macht daher folgenden überzeugenden Vorschlag: „I would like to suggest a new interpretation of medieval goddesses by reading them precisely ‚as‘ goddesses: ‚female‘ but not necessarily ‚women‘.“12 Diesem Appell folgend, soll nun das Fortbestehen der antiken Göttinnen Fortuna, Natura, Justitia und Diana im mittelalterlichen Weltbild einer eingehenderen Betrachtung unterzogen und anschließend auf die Arbeiten von Newman übertragen werden, um zu prüfen, ob die von ihr angeführten Gründe für das Überdauern und die Popularität weiblicher Gottheiten und ihre Funktionen im christlichen Weltbild auch in diesen vier Fällen zutreffen.

9 Vgl. Behringer, Hexenprozesse, wie Anm. 3, 14–18. 10 Vgl. dazu Wolfgang Schild, Bilder von Recht und Gerechtigkeit, Köln 1995, 228–230; Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 36f. – Die erste Hypothese geht dabei auf die Arbeit von Joseph Addison im Jahr 1721 zurück, wie Newman zeigt. 11 Vgl. Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 36–38, 47–49. 12 Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 38. – In diesem Zusammenhang geht Newman auch kurz darauf ein, wie mittelalterliche Autoren mit der Frage nach dem Geschlecht Gottes, Christi und der Göttinnen umgingen, indem sie aufzeigt, dass Anselm von Canterbury in seinem Werk „Monologion“ (1076) diesen Autoritäten das Fehlen unterschiedlicher Geschlechter zuschreibt. Darüber hinaus konstatiert sie, manche Schriftsteller hätten tatsächlich explizit über das sprachliche Geschlecht der genannten Gottheiten nachgedacht und sogar Alternativen aufgezeigt, vgl. dies., God an the Goddesses, wie Anm. 2, 48f.

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Fortuna als personifiziertes Naturgesetz für die Hinfälligkeit irdischen Seins

Bei Fortuna handelt es sich um eine bereits in der Antike verehrte Gottheit, die sowohl in der Literatur als auch im Volksglauben eine zentrale Bedeutung hatte und als Göttin des Glücks und der Fruchtbarkeit sowie des Zufalls und unvorhersehbaren Schicksals imaginiert wurde. Ihre kennzeichnenden Attribute waren das Füllhorn guter Gaben, das Steuerruder und später besonders das Rad des Schicksals oder eine Kugel; zudem galt sie bisweilen als blind und unbeständig.13 Doch für Fortuna gab es im christlich dominierten Mittelalter eigentlich keinen Platz, und so bemühten sich die Kirchenväter Augustinus, Lactanz und Isidor von Sevilla darum, die Fortuna-Tradition zu kappen und zu betonen, dass es in einer Welt, in der alles in Gottes Hand liege und nichts ohne seinen Willen geschehe, weder Glück noch Zufall geben könne. Trotz der Widerlegung jeglichen paganen Fortuna-Glaubens und sämtlicher Zufallsvorstellungen verschwand Fortuna jedoch nicht aus der zeitgenössischen Vorstellungswelt, sondern war spätestens ab dem 12. Jahrhundert geradezu allgegenwärtig.14 Ein entscheidender Grund dafür ist der Traktat des Boethius „De Consolatione Philosophiae“ (524), worin dieser das Schicksal und somit Fortuna als Teil des providentiellen Heilsplans deutet und der Göttin die pädagogische Aufgabe einer ins kosmologische System integrierten moralischen Instanz zuschreibt, sodass sie, statt mit Zufälligkeit und Willkür in Verbindung gebracht zu werden, als ordnende Schicksalsmacht auftritt. Sie übernimmt demnach als Werkzeug Gottes und im Dienste der Providentia die Funktion, auf die Unbeständigkeit und Nichtigkeit alles Irdischen hinzuweisen und somit die Konzentration der Christen auf den sicheren Glauben, das Leben nach dem Tod und das ewige Heil zu richten.15 Diese Umdeutung öffnete Fortuna die Tür ins Mittelalter, denn viele Philosophen, Theologen, Dichter und Geschichtsschreiber griffen in direkter oder indirekter Anlehnung auf das Werk von Boethius und somit auf Fortuna zurück. Durch das intensivierte Studium der antiken 13 Vgl. dazu u. a. Iiro Kajanto, Fortuna, in: Theodor Klauser (Hg.), Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, Bd. VIII, Stuttgart 1972, 182–197; Fritz Graf, Fortuna, in: Hubert Cancik u. Helmut Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 4: Epo-Gro, Stuttgart/Weimar 1998, 598–602; Bernhard Kytzler, Mythologische Frauen der Antike. Von Acca Larentia bis Zeuxippe, Düsseldorf/ Zürich 1999, 81. 14 Vgl. u. a. Hans-Werner Goetz, Fortuna in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Joerg O. Fichte (Hg.), Providentia – Fatum – Fortuna, Berlin 1996, 75–89, 75; Joerg O. Fichte, Providentia – Fatum – Fortuna, in: ders. (Hg.), Providentia – Fatum – Fortuna, Berlin 1996, 5–20, 9f.; Walter Haug, O Fortuna. Eine historisch-semantische Skizze zur Einführung, in: ders. u. Burghart Wachinger (Hg.), Fortuna, Tübingen 1995, 1–22, 1. 15 Vgl. u. a. Fichte, Providentia – Fatum – Fortuna, wie Anm. 14, 11–13; Haug, O Fortuna, wie Anm. 14, 6–8; Arndt Brendecke u. Peter Vogt, The Late Fortuna and the Rise of Modernity, in: dies. (Hg.), The End of Fortuna and the Rise of Modernity, Berlin/Boston 2017, 1–14, 1f.

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Literaturtradition in der karolingischen Zeit und vor allem vom 12. Jahrhundert an wurde Fortuna als poetisch-rhetorische Figur für das Zufällige, Überraschende sowie für Glück und Unglück so populär, dass das ikonografische und literarische Material, in dem Fortuna heute überliefert ist, ganz im Gegensatz zu den Quellen etwa über Diana, kaum mehr überschaubar ist.16 Reichhaltige und umfassende Studien haben sich folglich bereits mit diesen Quellen auseinandergesetzt und unzählige Aspekte der Fortuna, ihren Wandel im Verlauf der Jahrhunderte sowie ihre Präsenz in einzelnen Teilbereichen der Überlieferung ausführlich untersucht und beschrieben, sodass das gesamte Spektrum hier kaum zufriedenstellend auszuarbeiten wäre.17 Besondere Aufmerksamkeit vonseiten der Forschung hat der Prosaroman „Fortunatus“ erhalten, in dem die dort imaginierte Botin des Glücks dem Titelhelden zu seinem materiellen Reichtum verhilft, selbst jedoch nur sehr kurz auftritt und merkwürdig blass erscheint.18 Heute ist das bekannteste Beispiel für das Auftreten der Fortuna im Mittelalter wohl die Reihe der Fortuna-Gedichte in den „Carmina Burana“ und dabei insbesondere das Carmen 17, das Carl Orff bei seiner Vertonung als thematischen Rahmen an den Anfang und Schluss seiner berühmten Komposition gestellt hat.19 „O Fortuna, velut luna statu viriabilis, semper crescis aut decrescis; vita detestabilis nunc obdurate et tunc curat ludo mentis aciem, egestatem, potestatem, dissolvit ut glaciem.“20

O Fortuna, rasch wie Luna wechselhaft und wandelbar, ewig steigend und sich neigend: Fluch der Unrast immerdar! Eitle Spiele, keine Ziele, also trügts den klaren Sinn; Not, Entbehren, Macht und Ehren schwinden wie der Schnee dahin.

16 Vgl. u. a. Haug, O Fortuna, wie Anm. 14, 1f., 5; Goetz, Fortuna, wie Anm. 14, 75f. 17 Für einen ersten Einblick in die Forschung um Fortuna sei auf die hier bereits zitierte Literatur sowie deren jeweilige Anmerkungsapparate verwiesen. 18 Vgl. dazu exemplarisch Beate Kellner, Das Geheimnis der Macht. Geld versus Genealogie im frühneuzeitlichen Prosaroman ‚Fortunatus‘, in: Gert Melville (Hg.), Das Sichtbare und Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, 309–333; Jan-Dirk Müller, Die Fortuna des Fortunatus. Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen, in: Haug/Wachinger (Hg.), Fortuna, wie Anm. 14, 216–238; Walter Raitz, Zur Soziogenese des bürgerlichen Romans. Eine literatursoziologische Analyse des ‚Fortunatus‘, Düsseldorf 1973; Renate Wiemann, Die Erzählstruktur im Volksbuch Fortunatus, Hildesheim/ New York 1970. 19 Vgl. u. a. Haug, O Fortuna, wie Anm. 14, 1; Günter Bernt, Vorwort, in: Carmina Burana. Lateinisch/Deutsch, ausgew., übers. und hg. v. dems., Stuttgart 2003, 5–9, 9. 20 Erste Strophe des Carmen 17 aus den „Carmina Burana“, zit. nach: Carmina Burana. Die Gedichte des Codex Buranus. Lateinisch und Deutsch, übertr. v. Carl Fischer, Übers. der mittelhochdeutschen Texte v. Hugo Kuhn, Anm. u. Nachw. v. Günter Bernt, Zürich/München 1974, 44f.

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Die Entstehung dieses die umfangreiche und eigenartige Sammlung lateinischer Lyrik überliefernden „Codex Buranus“ wird auf den Zeitraum um 1225–1230 datiert und demnach mitten in die Zeit, in der sich das Motiv der Fortuna, wie dargelegt, in seiner Blütephase befand.21 Neben den Fortuna-Gedichten 14 bis 18a findet sich in dem Codex zudem eine berühmte Miniatur, die Fortuna in einem Hermelinmantel vor ihrem Schicksalsrad sitzend zeigt und wohl durch das Umbinden der Handschrift im 17. oder 18. Jahrhundert an ihren Beginn geraten ist.22 Fortuna als Figur oder auch fortuna als Begriff bildeten im Mittelalter ein vielschichtiges Phänomen mit großer Bandbreite, und nicht immer gelingt es, die Bedeutung des Begriffs und seinen Gebrauch eindeutig zu bestimmen. So finden sich beispielsweise zahlreiche unterschiedliche Namen und Attribute, die je nach Kontext und Quelle stark variieren und zur positiven oder negativen Kennzeichnung des Schicksals genutzt wurden, wobei jedoch nicht das Unglück das negative Merkmal der Fortuna bildete, sondern ihre Wechselhaftigkeit, Unzuverlässigkeit und Falschheit.23 Diese Vielschichtigkeit der Fortuna-Tradition als Inbegriff einer unaufhörlich das Glücks- oder Schicksalsrad drehenden Macht wird auch durch die vielen Bereiche deutlich, in denen das „zentrale philosophische Thema der Menschheitsgeschichte“ aufgegriffen wurde.24 Denn das Bild der Fortuna durchdrang im Verlauf des Mittelalters nicht nur die bereits angeklungenen Diskurse der Theologie und Philosophie, es fand auch Eingang in die Geschichtsschreibung, die höfische Dichtkunst und Literatur sowie in die bildenden Künste, sodass sich bedeutende Persönlichkeiten wie Otto von Freising, Dante, Petrarca, Boccaccio, Machaut, Chaucer, Christine de Pizan, König James I. von Schottland sowie Machiavelli und Albrecht Dürer zu Fortuna äußerten oder diese in ihren Werken als Inbegriff des wechselhaften Schicksals in Erscheinung treten ließen.25 Zum Ende des Mittelalters setzte ein merklicher Wandel in Bezug auf das Bild der Fortuna ein. Sie wurde zwar weiterhin grundsätzlich als unbeständig und unvorhersehbar charakterisiert, aber es galt nun für möglich, die Fortuna durch Tugendhaftigkeit zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen und so dem persönlichen Glück mittels Mustergültigkeit etwas nachzuhelfen. Dieser Wandel wurde in der Forschung viel untersucht, da er als Marker für den epochalen Umbruch in der Vorstellungswelt im Übergang vom

21 Vgl. Bernt, Vorwort, wie Anm. 19, 5–7. 22 Vgl. Haug, O Fortuna, wie Anm. 14, 1; Graf, Fortuna, wie Anm. 13, 598. 23 Vgl. u. a. Goetz, Fortuna, wie Anm. 14, 79–81, 85. – Walter Haug nennt als das zu bewältigende Begriffsfeld: „Zufall, Glück und Unglück, Erfolg und Mißerfolg, Verdienst und Lohn, Vorsehung und Schicksal, Möglichkeit und Notwendigkeit, Ordnung und Chaos“, ders., O Fortuna, wie Anm. 14, 3. 24 Vgl. u. a. Goetz, Fortuna, wie Anm. 14, 75. 25 Vgl. u. a. Fichte, Providentia – Fatum – Fortuna, wie Anm. 14, 13–18; Brendecke u. Vogt, The Late Fortuna, wie Anm. 15, 3–6; Hans Holländer, Die Kugel der Fortuna, in: Joerg O. Fichte (Hg.), Providentia – Fatum – Fortuna, wie Anm.14, 149–167, 153–156.

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Abb. 1: Das Rad der Fortuna. Miniatur aus dem „Codex Buranus“, der die „Carmina Burana“ überliefert, um 1225. Petrucci Music Library, Michael Hurst / Wikimedia Commons / gemeinfrei. Die Bildbeischrift 18a, die um das Rad herum angeordnet ist, lautet von links im Uhrzeigersinn: „Regnabo; regno; regnavi; sum sine regno“ (Zit. nach: Carmina Burana, wie Anm. 20, 46f. Übers.: Werde einst herrschen; bin Herrscher; herrschte; bin ohne Herrschaft).

Mittelalter zur Neuzeit gesehen wurde.26 Doch das erstarkte Vertrauen in die Beeinflussbarkeit des eigenen Schicksals erfuhr bald darauf wieder einen Rückgang, da Fortuna zunehmend selbst als vom Zufall abhängig galt und statt am kreisenden Rad des Schicksals auf einer instabilen und unberechenbaren Kugel imaginiert wurde, sodass sie im Laufe der Renaissance als allegorische Figur und vermehrt ohne philo-

26 Vgl. u. a. Brendecke u. Vogt, The Late Fortuna, wie Anm. 15, 2–10.

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sophischen und theologischen Bezug in Erscheinung tritt.27 Dabei ist für den ‚Niedergang der Fortuna‘ beziehungsweise für das Abklingen ihrer Präsenz in den Diskursen kein einzelner Grund auszumachen; es handelt sich vielmehr um viele Faktoren, die dazu führten, dass Fortuna im 17. Jahrhundert schließlich inhaltlich leer erschien und nicht länger akzeptiert wurde.28 Doch bereits im Mittelalter war Fortuna keine eigenständige und autonome Göttin mehr; sie war vielmehr ein ordnendes Werkzeug, ein personifiziertes Naturgesetz zur Erklärung der Hinfälligkeit allen irdischen Lebens und Wirkens.29

2.

Natura als Quell fortwährender Schöpfung

Anders als Fortuna, die in der Antike unhinterfragt als Göttin akzeptiert war, wurde über die Göttlichkeit der Natur und die Verehrungswürdigkeit der Natura bereits in der Antike diskutiert. Denn schon damals verfügte sie über die Doppelexistenz als naturphilosophische Abstraktion auf der einen und als göttliches Wesen auf der anderen Seite, sodass sie heute in Lexika zur Mythologie und in der Literatur zum Nachleben der Antike oft vergeblich gesucht wird.30 „Diese Figur der antiken Poetik, Rhetorik und Kosmogonie gelangt erst im Mittelalter zu voller Blüte“, urteilt Mechthild Modersohn und weist dabei zunächst auf die im Mittelalter nachwirkende vierfache Definition von Boethius hin, in der er den Begriff der Natur darlegte.31 Doch es blieb nicht allein bei Boethius. Bis 1184 sind im Umfeld der Schule von Chartres vier große Dichtungen überliefert, die die personifizierte Natur in der Gestalt der Natura zum Gegenstand haben: die „Cosmographia“ von Bernardus Silvestris (um 1144), „De Planctu Naturae“ von Alain de Lille (um 1170) und dessen „Anticlaudian“ (1181– 1184) sowie etwa zeitgleich der „Architrenius“ von Johannes de Hauvilla.32 Anders als bei Diana oder Fortuna kann in der Forschung in Anlehnung an das Werk von Bernardus von einer präzisen Datierung der Geburtsstunde der Natura gesprochen werden, da dort die literarische Gestalt erstmals voll ausgebildet erscheint und somit die 27 Vgl. u. a. Brendecke u. Vogt, The Late Fortuna, wie Anm. 15, 2–10; Fichte, Providentia – Fatum – Fortuna, wie Anm. 14, 16–19; Holländer, Die Kugel der Fortuna, wie Anm. 25. 28 Vgl. Brendecke u. Vogt, The Late Fortuna, wie Anm. 15, 6–10. 29 Vgl. u. a. Holländer, Die Kugel der Fortuna, wie Anm. 25, 163; Haug, O Fortuna, wie Anm. 14, 7f. 30 Der Neue Pauly beinhaltet bspw. nur einen Eintrag zu Natur/Naturphilosophie, in dem nichts Näheres über die Verkörperung der Natur oder die Göttin Natura zu finden ist, vgl. Luc Brisson, Natur, Naturphilosophie, in: Hubert Cancik u. Helmut Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 8: Mer-Op, Stuttgart/Weimar 2000, 728–736. 31 Vgl. Mechthild Modersohn, Natura als Göttin im Mittelalter. Ikonographische Studien zu Darstellungen der personifizierten Natur, Berlin 1997, 12f. 32 Vgl. Modersohn, Natura, wie Anm. 31, 14. Für eine besonders junge Beschäftigung mit der Natura in dem Werk „De Planctu Naturae“ von Alain de Lille vgl. Beate Kellner, Naturphilosophie als Vision und integumentale Erzählung. Die Dame Natur in Alanus’ ab Insulis ‚De planctu naturae‘, in: Frühmittelalterliche Studien, 54 (2020), 257–281.

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spätere Natura-Tradition im Mittelalter begründet.33 Denn mit der „Cosmographia“ tritt um 1144 die personifizierte Natura aus ihren „spätantiken Umrissen in das volle Licht einer Gottheit“ und wird mit der Erschaffung von Mensch und Welt beauftragt.34 Ab dem 12. Jahrhundert nahm das Interesse an der Natur in den Bereichen Grammatik, Recht, Theologie und Wissenschaft zu. Die einsetzende Präsenz der Göttin Natura ist somit im breiten Kontext der Bewertung der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur dieser Zeit zu verstehen. Das Umdeuten der zum Stillstand gekommenen Göttergeschichten brachte diese in Bewegung, und so gelang es der Natura als Göttin im 12. und 13. Jahrhundert weit über ihre Rolle in der antiken Mythologie hinauszuwachsen und einen neuen Mythos zu begründen, der nicht bloß auf ein Erbe der Antike und ihr Nachleben zurückzuführen ist.35 Natura war fortan sowohl Göttin als auch Lehrfigur und mit der Aufgabe betraut, den Schöpfungsprozess in Gang zu halten und für die creatio continua zu sorgen. Dabei stand zumeist die sublunare Welt im Fokus, obwohl ihre Zuständigkeit eigentlich den gesamten Kosmos umfasste.36 So heißt es in dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden französischen Versroman „Roman de la Rose“ von Jean de Meun: „[…] Nature, qui pensait des choses Qui sont desouz le ciel encloses, Dedenz sa forge entree estait, Ou toute s’entente metait En forgier singulieres pieces, Pour continuer les espieces; Car les pieces tant les font vivre Que Mort ne les peut aconsivre, Ja tant ne savra courre après; Car Nature tant li va près Que quant la Mort o sa maçue Des pieces singulieres tue Ceus qu’el treuve a sei redevables […] L’autre par dela li eschape […].

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[…] da war Natur, die an die Dinge dachte, die unter dem Himmel eingeschlossen sind, in ihre Schmiede eingetreten, in der sie ihren ganzen Sinn darauf richtete, einzelne Wesen zu schmieden, um die Arten fortzusetzen; denn die Einzelwesen lassen die Arten so lang leben, dass Tod sie nicht erreichen kann, denn so schnell kann er ihnen nicht nacheilen; Natur folgt ihm nämlich so nahe, dass der Tod, wenn er mit seiner Keule, von den einzelnen Wesen jene tötet, die er ihm gehörig findet […] entkommt ihm dort das andere […].

Vgl. Barbara Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 52. Vgl. Modersohn, Natura, wie Anm. 31, 14. Vgl. u. a. Modersohn, Natura, wie Anm. 31, 13. Vgl. Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 53; Modersohn, Natura, wie Anm. 31, 15f.

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(Fortsetzung) Mais Nature douce e piteuse, Quant el veit que Mort l’envieuse, Entre li e Corrupcion, Vienent metre a destruccion Quanqu’eus treuvent dedenz sa forge, Toujourz martele, toujourz forge, Toujourz ses pieces renouvele Par generacion nouvele …“37

Doch wenn die milde und barmherzige Natur sieht, wie der neidische Tod und gemeinsam mit ihm Verwesung alles vernichten kommen, was sie in ihrer Schmiede vorfinden, dann hämmert, dann schmiedet sie immer wieder und unablässig erneuert sie ihre Einzelwesen durch neue Erzeugung …

Besonders die Beziehung zwischen Natura und Gott stand immer wieder im Fokus zahlreicher theologischer, philosophischer und wissenschaftlicher Werke, in denen sie ähnlich wie Fortuna als Vermittlerin zwischen Gott und der Welt dargestellt, aber bisweilen auch als eine Tochter Gottes bezeichnet wurde. Die mittelalterlichen Autoren waren sich jedoch nicht einig, inwieweit die Göttin bei ihrer Pflichterfüllung in die Geheimnisse ihres Vaters eingeweiht war, sodass Natura stets nur im Dienste Gottes und auf dessen Wunsch hin handeln konnte.38 Durch ihre Aufgabe, die kontinuierliche Schöpfung zu gewährleisten, war Natura die Göttin aller irdischen Lebewesen und der natürlichen Fruchtbarkeit sowie der damit einhergehenden biologischen Reproduktion und Sexualität. Aus diesem Grund trat die personifizierte Natur auch in den mittelalterlichen Diskursen über die Sexualität in Erscheinung, wenn es beispielsweise bei der Formulierung von Normen darum ging zu überprüfen, ob bestimmte sexuelle Neigungen oder Handlungen als ‚natürlich‘ und somit im Sinne des Fortbestandes der göttlichen Schöpfung einzuordnen seien. Als ihre Gegenspieler wurden in der mittelalterlichen Literatur somit alles Übernatürliche oder Unnatürliche verstanden sowie die Kultur, die von Menschenhand erschaffen wurde.39 Obwohl Natura nicht nur in den oben bereits genannten Schriften Erwähnung fand, sondern beispielsweise auch in einem Streitgedicht zwischen Ganymed und Helena aus dem 12. Jahrhundert sowie in Werken von Geoffrey Chaucer und Christine de Pizan, verfügte sie im Mittelalter über keine kennzeichnenden Attribute, die ihren Wiedererkennungswert sicherstellten.40 In den überlieferten Handschriften der „Cosmographia“ von Bernardus Silvestris finden sich keine Bilder der Natura, und erst mit Alain de Lille setzte überhaupt eine Bildtradition ein. Da durch das Fehlen festgesetzter Erkennungsmerkmale die personifizierte Natur immer durch den zugehörigen Text oder Bildtitel identifiziert werden musste, konnten sich in der bildlichen 37 Aus dem Rosenroman von Jean de Meun, zit. nach: Guillaume de Lorris u. Jean de Meun, Der Rosenroman, übers. u. eingel. v. Karl August Ott, Bd. 3, München 1979, V. 15893–16012, 860–867. 38 Vgl. Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 53. 39 Vgl. Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 53f., 90f. 40 Zur näheren Analyse der Natura in den erwähnten Werken sowie zur Erschaffung des Menschen bei Alain de Lille vgl. die zitierten Arbeiten von Modersohn und Newman.

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Abb. 2: Natura in ihrer Schmiede, eine beliebte Variante in der bildlichen Darstellung Naturas. Abbildung in einer Prachthandschrift des „Roman de la Rose“, um 1495, London, British Library, Harley 4425, fol. 140r., Wikimedia Commons / gemeinfrei.

Darstellung viele Varianten entwickeln, die es ihr erlaubten, in ganz unterschiedlicher Gestalt aufzutreten.41 Aufgrund der seit dem 12. Jahrhundert bestehenden Kontinuität in der Tradition rund um Natura erübrigte sich eine Wiederentdeckung der Göttin im Epochenübergang zur Frühen Neuzeit. Dennoch erfuhr sie mit der Festlegung der ikonografischen Attribute der Nacktheit und Milchspende beziehungsweise des Nährmotivs einen gewissen Wandel. Ab dem 15. Jahrhundert wurde die Natur darüber hinaus zunehmend im Bereich der Künste als Vorbild gewählt und die Naturnachahmung zu einem künstlerischen Prinzip erhoben, während zugleich die Vorherrschaft der Kunst und Kultur über die Natur begann.42 Doch obwohl Natura ihre literarische und bildliche Aussagekraft zwischen Buchdeckeln und nicht im öffentlichen Raum entwickelte, da sie nur auf Pergament oder Papier überliefert ist, bezeichnet Barbara Newman sie

41 Vgl. Modersohn, Natura, wie Anm. 31, 16–20. 42 Vgl. Modersohn, Natura, wie Anm. 31, 16–18, 189f.

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aufgrund ihrer mittelalterlichen Bedeutung als „the most enduring of all medieval goddesses“.43

3.

Justitia als Verkörperung und Wächterin der Gerechtigkeit

Die dritte hier zu betrachtende Göttin ist Justitia, die bis heute als die Verkörperung und Wächterin der Gerechtigkeit gilt und deren Wurzeln ebenfalls in die antike Mythologie zurückreichen. Doch wer aufgrund des Namens vermutet, bei ihr handle es sich um eine ursprünglich rein römische Gottheit des Rechts und ihren Kult, irrt, denn im antiken Rom gab es zunächst keine derartige Göttin des Rechts und auch keine Personifizierung der Gerechtigkeit. Erst durch den späteren Einfluss des griechischen Denkens und in Anlehnung an die griechischen Göttinnen Themis und Dike wurde der Begriff ‚Justitia‘ in Rom als Symbol der Gerechtigkeit heimisch.44 In den folgenden Jahrhunderten wurde Justitia sowohl die Repräsentation des abstrakten geistigen und religiösen Wertes der Gerechtigkeit als auch deren konkrete Verkörperung und göttliche Autorität, die je nach symbolischem Kontext eine spezifische Person oder Institution darstellte. Dabei wurden ebenso wie bei Fortuna und Natura sowohl die Abstraktion als auch die Gottheit gleichsam als schöne Frauengestalt imaginiert und abgebildet, was womöglich auf die in der lateinischen und griechischen Sprache grammatikalisch feminin erscheinenden Substantive zurückzuführen ist.45 Doch es gibt auch Abstrakta im griechischen und lateinischen Sprachgebrauch, denen keine Personalisierung zuteilwurde, was überhaupt die Besonderheit der hier angesprochenen Göttinnen unterstreicht.46 Die im Christentum vorherrschende Vorliebe für Allegorien und Personalisierungen abstrakter Werte begünstigte im Übergang zum Mittelalter auch das Weiterleben der Justitia, die durch das Verschmelzen des griechisch-römischen Gedankenguts mit den christlichen Glaubensvorstellungen fortan als eine der vier ursprünglich wohl auf Platon zurückgehenden Kardinaltugenden unter der Vorherrschaft Gottes weiterentwickelt wurde. Im Zusammenhang mit den drei anderen Kardinaltugenden Prudentia (Weisheit), Temperantia (Mäßigung) und Fortitudo (Tapferkeit) wurde sie neben weiteren Tugenden und Lastern in der mittelalterlichen theologischen und philoso43 Vgl. Modersohn, Natura, wie Anm. 31, 20; Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 52. 44 Vgl. Otto Rudolf Kissel, Die Justitia. Reflexionen über ein Symbol und seine Darstellung in der bildenden Kunst, München 1984, 19–26; Sven Behrisch, Die Justitia. Eine Annäherung an die Allegorie der Gerechtigkeit, Weimar 2006, 23–28. – Weder in der ausführlicheren Darstellung zur antiken Mythenrezeption in den Supplementen des Neuen Pauly noch im Neuen Pauly selbst findet sich ein Eintrag zu Justitia. Auch im Eintrag über Gerechtigkeit/Recht wird die Göttin und Verkörperung der Gerechtigkeit nicht erwähnt, vgl. Ada Neschke, Gerechtigkeit/Recht, in: Cancik/ Schneider, Der Neue Pauly, Bd. 4, wie Anm. 13, 951–953. 45 Vgl. u. a. Schild, Recht und Gerechtigkeit, wie Anm. 10, 228–230. 46 Vgl. Behrisch, Justitia, wie Anm. 44, 21–24; Kissel, Justitia, wie Anm. 44, 27f.

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phischen Lehre und Dichtung scharf herausgearbeitet und betont dargestellt.47 So schrieb beispielsweise Christine de Pizan in ihrem Werk „Livre de la Cité des Dames“ (1405) in der Rede der Justitia: „Ich bin Gerechtigkeit, die einzigartige Tochter Gottes, deren Wesen in Ihm seinen unmittelbaren Ursprung besitzt. […] Ich bin in jeder Hinsicht unnachgiebig und besitze weder Freund noch Feind, und mein Wille schwankt nicht. Weder vermag mich Mitleid zu überzeugen noch Grausamkeit zu bewegen. […] Ich bin in Gott, Gott ist in mir, und wir sind Eins. Wer mir folgt, kann nicht fehlen, denn mein Weg ist sicher. Ich lehre jeden vernunftbegabten Mann und jede vernunftbegabte Frau, der oder die mir Glauben schenken will, zunächst sich selbst zu bessern, zu erkennen, und sich wieder in die Gewalt zu bekommen, dem Mitmenschen das zuzufügen, was man selbst erfahren möchte, alles gerecht aufzuteilen, die Wahrheit zu sagen, die Lüge zu meiden und zu hassen und alles Lasterhafte von sich zu weisen. […] Ich nehme eine Sonderstellung unter den Tugenden ein, weil sie sich alle auf mich beziehen.“48

Ebenso wie bei Natura waren die Attribute der Justitia lange nicht festgelegt, sodass in den betreffenden, seit etwa ab dem Beginn des 11. Jahrhunderts vorkommenden Abbildungen keine einheitliche Darstellung zu finden ist und sich ein sehr heterogenes Bild präsentiert, das oft nicht ohne schriftliche Namenszusätze zur Identifikation auskommt.49 Erst ab dem 12. und 13. Jahrhundert setzten sich die uns heute vertrauten Kennzeichen Schwert und Waage vermehrt durch und wurden in den meisten Kunstwerken zum festen Bestandteil der Justitia-Darstellung, obwohl weiterhin auch gelegentlich auf sie verzichtet wurde. Einen Höhepunkt dieser Verkörperung der Justitia mit Schwert und Waage bildet beispielsweise das Deckenfresko der „Stanza della Segnatura“ im Vatikan, das Raffael 1508–1511 schuf.50 Die heute ebenfalls berühmte Augenbinde der Justitia gehörte erst ab dem 16. Jahrhundert zunehmend zur Personifikation der Gerechtigkeit, ohne sich jedoch vollständig als Identifikationsmerkmal durchsetzen zu können. Denn die zuvor betonte herausragende Sicht und die guten Augen der Justitia waren lange Zeit als Symbol ihrer Wachsamkeit sowie der nicht zu täuschenden Gerechtigkeit Gottes beschrieben worden, und diese Tradition blieb in Teilen weiterhin bestehen, sodass es unmöglich scheint zu quantifizieren, ob die Mehrheit der Justitia-Darstellungen uns mit verbundenen oder offenen Augen entgegentritt.51 47 Vgl. u. a. Kissel, Justitia, wie Anm. 44, 27–29; Schild, Recht und Gerechtigkeit, wie Anm. 10, 85– 97. 48 Christin de Pizan, Livre de la Cité des Dames, zit. nach: dies., Das Buch von der Stadt der Frauen. Aus dem Mittelfranzösischen übers., mit einem Kommentar u. einer Einleit. versehen v. Margarete Zimmermann, Berlin 1986, 45f. 49 Vgl. u. a. Kissel, Justitia, wie Anm. 44, 29f.; in dieser Arbeit geht Kissel auch gezielt auf weitere Attribute und Kennzeichen der Justitia neben Schwert, Waage und Augenbinde ein. Eine gezielte Behandlung der Attribute findet sich auch bei Schild, Recht und Gerechtigkeit, wie Anm. 10, 181– 199. 50 Vgl. Kissel, Justitia, wie Anm. 44, 36f. 51 Vgl. u. a. Kissel, Justitia, wie Anm. 44, 7 u. 82–92; Behrisch, Justitia, wie Anm. 44, 29–36.

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Abb. 3: Justitia mit Waage und Schwert. Raffael, Deckenfresko der „Stanza della Segnatura“ im Vatikan, 1508–1511. Wikimedia Commons / gemeinfrei.

Wie bei den anderen hier behandelten Göttinnen lässt sich auch bei Justitia im 12. und 13. Jahrhundert eine Zäsur feststellen, da nicht allein die Entwicklung ihrer allgemeinen bildlichen Darstellung zu diesem Zeitpunkt weitestgehend zu einem Abschluss gelangte und keine größeren Veränderungen mehr erlebte. Justitia erschien nun zunehmend „nicht nur in Gemeinschaft mit den anderen Tugenden im christlich-sakralen Zusammenhang […], sondern auch selbstständig, solitär in durchaus weltlicher Umgebung, ja Bedeutung“.52 Sie wurde zum autonomen Symbol, das auf zwei Ebenen anzusiedeln ist: einerseits auf der Ebene der christlichen Tugend als Sinnbild religiöser, innerer Einstellung und Verhaltensmotivation und anderseits auf der Ebene eines selbstständigen Wertes für die Welt in Form einer irdischen Gerechtigkeit und auch Gerichtsbarkeit.53 Obwohl sich beide Justitia-Formen äußerlich in ihrer bildlichen Darstellung nicht unterscheiden, wurde die Göttin durch ihre doppelte Gestalt und insbesondere ihren weltlichen Bezug zum „Signal und dann Symbol der heraufziehenden Renaissance wie des Humanismus und schließlich auch der späteren Aufklärung“.54 Denn Justitia bildet im Grunde genommen die Metapher für einen idealen 52 Vgl. u. a. Kissel, Justitia, wie Anm. 44, 35, 40–45, Zit. 41. 53 Vgl. u. a. Schild, Recht und Gerechtigkeit, wie Anm. 10, 97–99. 54 Kissel, Justitia, wie Anm. 44, 41–44, Zit. 44.

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Richter, der mit den Instrumenten der Gleichheit herstellenden Abwägung (Waage und Augenbinde) und der exekutorischen Macht (Schwert) einen überparteilichen und unbestechlichen Standpunkt einnimmt. Diese Lesart der Allegorie, die insbesondere Justitias Präsenz im Kontext und an Orten der weltlichen Rechtsprechung erklärt, erscheint jedoch angesichts ihrer theologischen, moralischen und politischen Bedeutung zu kurz gegriffen und wird auch nicht der Fülle an Zeugnissen gerecht, die aus allen Bereichen der Literatur und Dichtung sowie der bildenden Künste stammen.55 Noch in der Gegenwart ist Justitia oft im Zusammenhang mit staatlicher Rechtsprechung, beispielsweise bei Justizgebäuden, zu finden, wo sie die sichtbare Verknüpfung von Recht und Gerechtigkeit herstellt. Allerdings erlebt sie dort heute nach Sven Behrisch eine Umfunktionalisierung „von einer politisch-moralischen Symbolfigur zu einem Zeichen, einer Insignie staatlicher (Rechts)Institutionen“.56

4.

Diana als Zauberdämonin

Auch oder sogar gerade die Göttin Diana ist ein gutes Beispiel für das antike Erbe, das ins Mittelalter hineinwirkte, und sie spiegelt zugleich die Auseinandersetzungen der christlichen Kirche mit den älteren Religionen, paganen Volksvorstellungen und dem Glauben an eine von Göttern, Ahnen und Zauberwesen bevölkerte Welt in besonderer Weise wider. In der antiken Mythologie findet sich Diana als römische Natur-, Fruchtbarkeits- und Jagdgöttin, die oft als Beschützerin der Frauen und der Jugend im Allgemeinen imaginiert wurde.57 Schon früh vermischte sich die in der Bevölkerung populäre Verehrung der Diana mit der von Hekate und Luna,58 sodass sie im Kult der 55 Vgl. Behrisch, Justitia, wie Anm. 44, 39–43. 56 Behrisch, Justitia, wie Anm. 44, 105f. 57 Zu Diana in der Antike (knapp) vgl. Agnes K. Michels, Diana, in: Theodor Klauser (Hg.), Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, Bd. III, Stuttgart 1957, 963–972; John Scheid, Diana, in: Hubert Cancik u. Helmut Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 3: Cl-Epi, Stuttgart/ Weimar 1997, 522–525; Eric M. Moormann u. Wilfried Uitterhoeve, Artemis, in: dies., Lexikon der antiken Gestalten. Mit ihrem Fortleben in Kunst, Dichtung und Musik, Stuttgart 1995, 125– 130; Kytzler, Mythologische Frauen der Antike, wie Anm. 13, 42–44. – In der ausführlicheren Darstellung zur antiken Mythenrezeption in den Supplementen des Neuen Pauly wird hauptsächlich auf die griechische Artemis eingegangen, sodass der „Canon Episcopi“ und der Zusammenhang zwischen Diana und dem Hexereidiskurs erstaunlicherweise keine Erwähnung finden, vgl. Marc Föcking, Artemis, in: Maria Moog-Grünewald (Hg.), Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (Der Neue Pauly, Supplemente Bd. 5), Stuttgart/Weimar 2008, 151–163. 58 Zu Hekate in der Antike (knapp) vgl. u. a. Sarah I. Johnston, Hekate, in: Hubert Cancik u. Helmuth Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 5: Gru-Iug, Stuttgart/Weimar 1998, 267–270; Alois Kehl, Hekate, in: Ernst Dassmann u. a. (Hg.), Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, Bd. XIV, Stuttgart 1988, 310–338. Zu Luna vgl. Maria G. Angeli Bartinelli, Luna, in: Hubert Cancik u.

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Diana Trivia oder Triformis mit diesen beiden anderen Göttinnen gleichgesetzt und so mit dem Mondwechsel, der Magie und der Unterwelt in Zusammenhang gebracht wurde. Besonders durch die Verbindung mit Hekate fiel ihr neben der Funktion als jungfräuliche Schirmherrin der Jagd und Spenderin der Fruchtbarkeit auch die Rolle als Herrin der Unterwelt und als Anführerin eines Geister- und Dämonenzuges zu.59 Die besonders in Volkskulten bestehende spätantike Beliebtheit der Diana brach mit dem Übergang ins Mittelalter nicht plötzlich ab, sondern wirkte bis dahin nach, wie kultische Bodenfunde aus den Ardennen, dem Moselgebiet und dem Rheinland aus römischer und merowingischer Zeit belegen, bei denen Diana unter anderem auf Fluchtafeln als volkstümliche Zauberdämonin auftaucht.60 Wie es sich mit der Diana-Verehrung im Verlauf des Mittelalters konkret verhielt, ist durch die spärliche Quellenlage – insbesondere was tatsächlich praktizierte Kulte in der Bevölkerung angeht, die zumeist nur durch die Brille der kritisierenden, diabolisierenden und ahndenden Kleriker überliefert wurden61 – schwer zu rekonstruieren und wird daher in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert. Fakt ist jedoch, dass neben den Bodenfunden auch vereinzelte frühmittelalterliche Schriftquellen erhalten geblieben sind, in denen Diana und ihre Verehrung anklingen.62 Besonders sticht darunter der bekannte „Canon Episcopi“ hervor, der die Göttin Diana mit der Hexenthematik in Verbindung bringt. Der „Canon Episcopi“ war ein richtungsweisendes Dokument, das erstmals 906 von Regino von Prüm publiziert, später jedoch in das Bußbuch Burchards von Worms (um 1010) sowie in die Kirchenrechtssammlung des Gratian (1140) und damit in das „Corpus Iuris Canonici“ aufgenommen wurde.63 Der Text hat in der Forschung bereits höchste Beachtung gefunden, da er im Verlauf des Mittelalters und in der Frühen Neuzeit immer wieder aufgegriffen, praktisch von allen Theoretikern im Zusammenhang mit Zauberei und Hexenglaube zitiert und diskutiert wurde und somit einen Grundtext zum kirchlichen Hexenimaginarium darstellte.64

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Helmut Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 7: Lef-Men, Stuttgart/ Weimar 1999, 506–508. Vgl. u. a. Werner Tschacher, Der Flug durch die Luft zwischen Illusionstheorie und Realitätsbeweis. Studien zum sog. Kanon Episcopi und zum Hexenflug, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt., 85 (1999), 225–276, 234f.; Michels, Diana, wie Anm. 57, 967. Vgl. Tschacher, Flug durch die Luft, wie Anm. 59, 238f. Vgl. dazu Carlo Ginzburg, Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Berlin 2005, 106f. u. 112f.; ders., Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert, Hamburg 1993, 9–11. Aufgrund des begrenzten Rahmens des vorliegenden Beitrags kann an dieser Stelle nicht näher auf diese Zeugnisse eingegangen werden. Vgl. dazu u. a. Tschacher, Flug durch die Luft, wie Anm. 59, 235–238; Behringer, Hexenprozesse, wie Anm. 3; Carlo Ginzburg, Hexensabbat, wie Anm. 61, 112f. Vgl. zum „Canon Episcopi“ und der bisherigen Forschung u. a. Tschacher, Flug durch die Luft, wie Anm. 59. Vgl. Marco Frenschkowski, Die Hexen. Eine kulturgeschichtliche Analyse, Wiesbaden 2012, 72.

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Denn in einer Liste paganer und abergläubischer Vorstellungen und Praktiken, die nach der Anleitung für Bischöfe und ihre Vertreter in den Pfarreien ausgemerzt werden sollten, taucht ein Passus auf, der eventuell sogar noch älter ist als der Rest des „Canon Episcopi“: „Illud etiam non omittendum, quod quaedam sceleratae mulieres retro post satanam conversae, daemonum illusionibus et phantasmatibus seductae, credunt se et profitentur nocturnis horis cum Diana paganorum Dea et innumera multitudine mulierum equitare super quasdam bestias, et multa terrarum spatia intempestae noctis silentio pertransire, eiusque iussionibus velut dominae obedire, et certis noctibus ad eius servitium evocari. […] Nam innumera multitudo hac falsa opinione decepta haec vera esse credit, et credendo a recta fide deviat, et in errorem paganorum revolvitur, cum aliquid divinitatis aut numinis extra unum Deum esse arbitratur.“65

Bereits Burchard von Worms bedachte die Anführerin Diana mit dem Beinamen Herodias,66 und auch im Zuge der nachfolgenden Rezeption des „Canon Episcopi“ sind zahlreiche weitere weibliche Figuren in diesen Zusammenhang gestellt worden. So vermischte sich das Bild gelegentlich sogar mit weiteren antiken Göttinnen wie Fortuna, Venus und Minerva.67 Doch obwohl sich auf diese Weise viele lokale Vorstellungen und pagane Kulte in den Rezeptionen niederschlugen, wurde Diana in den folgenden Jahrhunderten am häufigsten als Anführerin der diskutierten nächtlichen Ausritte einer wilden Horde genannt, die je nach Vorstellung aus ihren Anhängern, Dämonen oder Verstorbenen bestehe.68 Dabei wertet der „Canon Episcopi“ die mit der 65 „Auch dies darf nicht übergangen werden, dass einige verruchte, wieder zum Satan bekehrte Frauen von den Vorspiegelungen und Hirngespinsten böser Geister verführt sind und glauben und behaupten, sie ritten zu nächtlicher Stunde mit Diana, der Göttin der Heiden, und einer unzähligen Menge von Frauen auf gewissen Tieren und legten in der Stille der tiefen Nacht weite Landstrecken zurück und gehorchten ihren [Dianas] Befehlen wie denen einer Herrin und würden in bestimmten Nächten zu ihrem Dienst herbeigerufen. […] Denn eine unzählige Menge wird von dieser falschen Auffassung getäuscht und glaubt, diese Dinge seien wahr, und indem sie dies glaubt, weicht sie vom rechten Glauben ab und verwickelt sich wieder in den Irrtum der Heiden, weil sie meint, dass es irgendeine Gottheit oder etwas Göttliches neben dem einen Gott gebe.“ – Canon Episcopi, zit. nach: Das Sendhandbuch des Regino von Prüm, unter Benutzung der Edition v. F.W.H. Wasserschleben, hg. u. übers. v. Wilfried Hartmann, Darmstadt 2004, 420f. 66 Herodias war die Enkelin Herodes des Großen und wurde von christlichen Autoren als Anstifterin für die Hinrichtung Johannes des Täufers verantwortlich gemacht, vgl. u. a. Johannes Pahlitzsch, Herodias, in: Cancik/Schneider, Der Neue Pauly, Bd. 5, wie Anm. 58, 467f.; Tschacher, Flug durch die Luft, wie Anm. 59, 245f. 67 Vgl. u. a. Tschacher, Flug durch die Luft, wie Anm. 59, 245, 256f.; Frenschkowski, Die Hexen, wie Anm. 64, 73f. Zu Venus und ihrer Rezeption in der Antike vgl. u. a. James B. Rives, Venus, in: Hubert Cancik u. Helmuth Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 12, 2: Ven-Z, Stuttgart/Weimar 2002, 17–20; Bettina Full, Aphrodite, in: Moog-Grünewald, Mythenrezeption, wie Anm. 57, 97–114. Zu Minerva und ihrer Rezeption in der Antike vgl. u. a. Anne Ley, Minerva, in: Cancik/Schneider, Der Neue Pauly, Bd. 8, wie Anm. 30, 211–216; Christoph Schmälzle, Athena, in: Moog-Grünewald, Mythenrezeption, wie Anm. 57, 172–179. 68 Vgl. u. a. Charles Zika, The Appearance of Witchcraft. Print and visual culture in sixteenth-century Europe, London/New York 2007, 127.

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Vorstellung der nächtlichen Treffen und Ausfahrten unter der Anleitung der ‚heidnischen‘ Göttin verbundene Hexerei als ein illusionäres, gleichwohl infames Verbrechen, das durch den Teufel und seine Dämonen vorgegaukelt werde, und deutet Diana folglich nicht als Göttin, sondern allenfalls als Dämonin. Durch die bereits erwähnte starke Verbreitung und Rezeption dieser Vorstellung bildete selbige viele Jahrhunderte lang die offizielle Haltung der römischen Kirche, nach der die Verblendung durch den Teufel und die Dämonen und nicht die ohnehin nicht reale Zauberei zu sanktionieren war.69 Dabei sollte es jedoch nicht bleiben, denn im Zuge der zunehmenden Herausbildung des elaborierten Hexereibegriffs und des kumulativen Hexereidelikts entstand im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit ein komplexes Begründungs- und Bedrohungssystem, das schließlich zur Umdeutung des „Canon Episcopi“ und zur massenhaften Hexenverfolgung führte.70

Abb. 4: Agostino die Musi (Agostino Veneziano) und / oder Marcantonio Raimondi, Hexenzug (Lo Stregozzo), um 1518–1535, Radierung. © Daderot / Wikimedia Commons. Die den Zug überragende Hexe auf dem Rücken des zentralen Kadavers wurde teilweise in der Forschung als Diana gedeutet, vgl. u. a. Zika, The Appearance of Witchcraft, wie Anm. 68, 125–127.

Diana ist im Mittelalter in enger Verknüpfung mit den kanonistischen und theologischen Rechtsdiskursen über Zauberei und magische Volkskulte zu finden, was in der einführenden Forschungsliteratur bisweilen zu dem Schluss führt, sie sei im Mittelalter 69 Vgl. Frenschkowski, Die Hexen, wie Anm. 64, 72f.; Tschacher, Flug durch die Luft, wie Anm. 59, 230–233; David Pickering, Lexikon der Magie und Hexerei, Augsburg 1999, 52f. 70 Zu den Entwicklungen, die zur Stereotypisierung des Hexenbegriffs und zur Hexenverfolgung führten, sind zahlreiche Arbeiten erschienen. Für einen ersten Überblick vgl. exemplarisch Wolfgang Behringer, Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung, München 20095; Rainer Decker, Hexen, Darmstadt 2010; Johannes Dillinger, Hexen und Magie. Eine historische Einführung, Frankfurt/New York 2007; Peter Dinzelbacher, Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit, Hamburg 1997; Walter Rummel u. Rita Voltmer, Hexen und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2008.

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Gegenstand der Verehrung im Rahmen eines frühen, über weite Teile Europas verbreiteten Hexenkults gewesen.71 Tatsächlich gab es wohl mindestens ab dem Ende des 14. Jahrhunderts einen Diana-Kult in Modena, der jedoch aus Mangel an geeignetem Quellenmaterial nicht systematisch rekonstruiert werden kann.72 Carlo Ginzburg hat sich dennoch in seinen Arbeiten zu den Benandanti und zum Hexensabbat intensiv mit den mittelalterlichen Volkskulten, die später im theologischen Diskurs über das Hexereidelikt, den nächtlichen Flug und die magischen Zusammenkünfte umgedeutet wurden, beschäftigt und deren Gemeinsamkeiten sowie Anführerinnen untersucht und zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei zeigt er auf, dass die auftretenden Ähnlichkeiten als Teile oder Ausformungen eines gemeinsamen, europaweit verbreiteten Grundmusters zu verstehen sind, das sich zwar in den einzelnen Regionen unterschiedlich entwickelte und andere Namen erhielt, jedoch als eine Reihe paganer Kulte seit der Spätantike durchgehend fortbestand.73 Diese These eines kontinuierlich bestehenden, komplexen Konstrukts an Volksvorstellungen, das auf keltische und germanische Ursprünge zurückgeht, ist in der Forschung durchaus umstritten und wird nicht durchweg geteilt.74 Darüber hinaus wurde in Bezug auf die Verehrung der Göttin Diana und ihre Nennung im „Canon Episcopi“ in Anlehnung an die oben bereits angeklungenen Diana-Kulte des frühen Mittelalters vermutet, dass Regino den Text, dessen Ursprung ungeklärt ist, doch selbst geschrieben und sich mit dem betreffenden Passus auf reale Reste eines im Moselraum in der Spätantike stark verbreiteten Kultes um die Göttin bezogen habe, die sich bis in das 10. Jahrhundert hielten. Somit habe er vornehmlich diese Form regionalen volkstümlichen Magieglaubens bekämpfen wollen, implizit aber durch sein Werk die Apostasie, Zauberei und Wahrsagerei in den allgemein verbreiteten paganen Vorstellungen der Bevölkerung gebrandmarkt.75 In einem Punkt ist sich die Forschung jedoch einig: Diana wird in den auf den „Canon Episcopi“ folgenden theologischen Schriften und einsetzenden Hexenprozessen durch die Gelehrten als Personifikation des ‚heidnischen Irrglaubens‘ und der Idolatrie angesehen.76 Der Name der Göttin diente somit als Bezeichnung der paganen Anführerinnen, die in 71 Vgl. u. a. Malcolm Gaskill, Hexen und Hexenverfolgung. Eine kurze Kulturgeschichte, Stuttgart 2013, 52, 74; Pickering, Lexikon der Magie und Hexerei, wie Anm. 69, 73f. 72 Vgl. Ginzburg, Benandanti, wie Anm. 61, 9, 36, 49. 73 Vgl. Ginzburg, Hexensabbat, wie Anm. 61, 103–133; ders., Benandanti, wie Anm. 61, 14, 78–83. 74 Zu kritischen Äußerungen zur Arbeit von Ginzburg vgl. u. a. Tschacher, Flug durch die Luft, wie Anm. 59, 239; Dillinger, Hexen und Magie, wie Anm. 70, 58–60. – Peter Dinzelbacher hingegen hält die Ausführungen von Ginzburg über ein eurasisches Kontinuum für zutreffend und wirft den Gegnerinnen und Gegnern dieser Auffassung „einer bestimmten Linie der Volkskunde“ vor, Kontinuitäten prinzipiell für unwahrscheinlich zu halten, vgl. ders., Heilige oder Hexen?, wie Anm. 70, 138f. 75 Vgl. u. a. Dillinger, Hexen und Magie, wie Anm. 70, 57; Tschacher, Flug durch die Luft, wie Anm. 59, 243; Josef Steinruck, Zauberei, Hexen- und Dämonenglaube im Sendhandbuch des Regino von Prüm, in: Gunther Franz u. Franz Irsigler (Hg.), Hexenglaube und Hexenprozesse im Raum Rhein-Mosel-Saar, Trier 1995, 3–18, 16–18. 76 Vgl. u. a. Tschacher, Flug durch die Luft, wie Anm. 59, 236f., 253.

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den volkssprachlich und regional ausdifferenzierten Kulten auftraten und dort viele weitere Namen trugen. Volkstümliche Gottheiten wie Perchta und Holda77 wurden von den Predigern, Theologen und Inquisitoren somit zu einem Bild verschmolzen und in das Gewand der Diana – oder auch der Venus, Fortuna oder Minerva – gehüllt, das ihnen vertrauter war. Die Gestalt der Diana lieferte den Klerikern ein Stereotyp, eine Interpretationsvorlage und somit „einen Leitfaden, der ihnen half, sich im Labyrinth der lokalen Glaubensformen zurechtzufinden“.78 Vor diesem Hintergrund ist auch die „Verschmelzung und Verballhornung der Kulte“ sowohl aus der Sicht der Gelehrten als auch, dadurch rückwirkend, im volkstümlichen Gebrauch denkbar. Folgt man konsequent dieser These, wäre, anders als von Ginzburg herausgestellt, die Ähnlichkeit der tradierten Vorstellungen darauf zurückzuführen, dass „regional verschiedene, im Kern synkretistische oder gar nichtchristliche Formen des Strigen- und Feenglaubens mit Hilfe dieses Kanons einer vereinheitlichenden Interpretation unterzogen wurden“, sodass von einer Verschmelzung statt von einer Kontinuität ausgegangen werden muss.79 Doch unabhängig davon, welcher dieser Ansätze nun für überzeugend gehalten wird, lässt sich festhalten, dass es im Mittelalter wohl Glaubensvorstellungen gegeben haben muss, die mit nächtlichen Treffen, dem Auszug oder Ritt durch die Luft und einer eventuell göttlichen Anführerin einhergingen, auf die wiederum von christlicher Seite und insbesondere durch den „Canon Episcopi“ reagiert wurde. Ob es dabei nun tatsächlich einen Diana-Kult gegeben hat und ob er als regionaler Volksglaube oder als komplexes Gebilde über viele Jahrhunderte hinweg Bestand hatte, lässt sich jedoch nicht abschließend beantworten. Es existieren zwar einige Anhaltspunkte dafür, aber es lässt sich kein zusammenhängendes Bild gewinnen. Auch in welchem Sinn Diana wirklich als Anführerin der wilden nächtlichen Jagd galt, lässt sich nicht endgültig klären. Tatsache ist jedoch, dass sie im Mittelalter auch dann noch in den Quellen auftauchte, als es um andere römische Gottheiten längst still geworden war.80

77 Vgl. zu Perchta u. a. Beate Kellner, Percht, in: Rudolf W. Brednich (Hg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 10: Nibelungenlied-Prozeßmotive, Berlin/New York 2002, 721–727. Vgl. zu Holda u. a. Marianne Rumpf, Frau Holle, in: Rudolf W. Brednich (Hg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 5: Fortuna-Gott ist auferstanden, Berlin/ New York 1987, 159–168. Darüber hinaus für beide Phänomene Erika Timm, Frau Holle, Frau Percht und verwandte Gestalten. 160 Jahre nach Jacob Grimm aus germanistischer Sicht betrachtet, Stuttgart 2003; Marianne Rumpf, Perchten. Populäre Glaubensgestalten zwischen Mythos und Katechese, Würzburg 1991. 78 Vgl. dazu Ginzburg, Hexensabbat, wie Anm. 61, 106, Zit. 110; ders., Benandanti, wie Anm. 61, 62f., 69. 79 Vgl. Tschacher, Flug durch die Luft, wie Anm. 59, 256f., 259. 80 Vgl. Frenschkowski, Die Hexen, wie Anm. 64, 74f.

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Göttinnen im Mittelalter? – Ein Fazit

Die vorangehenden Ausführungen zu den vier exemplarisch ausgewählten, uns heute noch bekannten Göttinnen und ihrer Bedeutung sowie Entwicklung im Mittelalter kann den jeweiligen Gottheiten und ihrer breiten Rezeption kaum gerecht werden, denn es konnten hier nur einige wenige Aspekte dargelegt werden. Diese erheben gewiss keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber zumindest auf eine gewisse Repräsentativität. Bereits ein derart flüchtiger Blick verrät, wie unterschiedlich sich die Vorstellungen der einzelnen, ursprünglich in der Antike verehrten Göttinnen im Lauf der Jahrhunderte und insbesondere im Mittelalter entwickelten, während sie in einem breiten Spektrum an theologischen, philosophischen, politischen und wissenschaftlichen Diskursen sowie künstlerischen Erzeugnissen aller Art erhalten blieben oder wiederentdeckt, adaptiert, verändert und angepasst wurden. So blieb Fortuna als Verkörperung des wandelbaren und unbeständigen Glücks Gegenstand der theologischen und philosophischen Debatte und erhielt als unaufhörlich das Schicksalsrad drehende Macht die Funktion, im göttlichen Heilsplan auf die Vergänglichkeit und Nichtigkeit des irdischen Lebens hinzuweisen und somit dazu zu ermahnen, den Blick und das Streben auf die Gnade Gottes und das Leben nach dem Tod zu richten. Doch sie wurde nicht einfach nur als ordnendes Werkzeug Gottes gedeutet, sondern war immer wieder Gegenstand zahlreicher Fragen, die sich unter anderem damit beschäftigten, inwieweit durch sie das Schicksal der Menschen bereits vorherbestimmt sei und ob dem Glück beispielsweise durch Tugendhaftigkeit oder gezieltes und planvolles Handeln nachgeholfen werden könne.81 Anders als Diana gelangte Natura erst im Mittelalter überhaupt zur vollen Blüte, denn sie wurde ähnlich wie Fortuna zum Werkzeug Gottes und zur Vermittlerin zwischen ihm und der irdischen Welt erhoben. Indem ihr die Aufgabe zugewiesen wurde, den Schöpfungsprozess in Gang zu halten und für die creatio continua zu sorgen, wuchs sie in ihrer Bedeutung über ihre antiken Vorgängerinnen hinaus und erfuhr ebenso wie Fortuna und besonders durch das vermehrt einsetzende wissenschaftliche Interesse an der Natur eine breite Rezeption in allen literarischen Bereichen. Doch während Natura beinahe nur auf Papier und Pergament, in Texten und Buchmalereien überliefert ist, finden sich von Justitia auch außerhalb schriftlicher Quellen zahlreiche Zeugnisse. Justitia wurde im Mittelalter einerseits zur Kardinaltugend und Tochter Gottes umgedeutet, die in seinem Namen für die Gerechtigkeit zuständig war und ebenfalls wie Fortuna und Natura eine vermittelnde Rolle zwischen Gott und dem Menschen einnahm, andererseits wurde sie zunehmend auch auf der weltlichen Ebene zum Sinnbild für herrschaftliche und institutionelle Gerechtigkeit und Gerichtsbarkeit. Die in der Antike noch hoch angesehene und im Volksglauben beliebte Göttin Diana ist im Mittelalter dagegen in enger Verknüpfung mit den kanonistischen und theologischen Rechtsdiskursen über ‚heid81 Vgl. u. a. Brendecke u. Vogt, The Late Fortuna, wie Anm. 15, 3–5.

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nische‘ Zauberei und magische Volkskulte zu finden. Auch wenn heute in der Forschung umstritten ist, ob diesen Erwähnungen tatsächlich ein weitverbreiteter, im Mittelalter noch aktiver Kult um Diana zugrunde lag, wird sie in den Quellen zweifellos immer wieder mit paganen Bräuchen in Verbindung gebracht, sodass sie zunehmend zum Opfer der umfassenden Dämonisierung im Kontext der einsetzenden Hexenverfolgung wurde. Angesichts der Präsenz und Bedeutung weiblicher Gottheiten im mittelalterlichen Weltbild, philosophisch-theologischen Diskurs und künstlerischen Schöpfungsprozess ist die eingangs bereits angedeutete Vorstellung eines streng christlich geprägten Mittelalters mit einer radikal monotheistischen Ausrichtung der christlichen Kirche also unbedingt zu modifizieren. Bereits die von der Kirche betonte Dreigestaltigkeit Gottes und die Existenz von Engeln und Heiligen weicht das Bild einer rein monotheistischen Religion auf,82 doch auch Göttinnen kam im mittelalterlichen Weltbild offenkundig eine wichtigere Funktion zu als bisher oft vermutet. Sie waren dabei mehr als Allegorien und Personifikationen abstrakter Werte,83 wie der tiefere Blick auf Fortuna, Natura und Justitia zeigt. Die Grenzen zwischen der tatsächlichen Imagination einer Göttin und der antikisierenden Allegorese lassen sich retrospektiv aufgrund der Quellenlage zwar nur bedingt nachvollziehen und können im Rahmen dieses Textes nicht ausdiskutiert werden, die beiden Möglichkeiten schließen sich in der Praxis jedoch auch nicht unbedingt aus. Barbara Newman rückt in ihrer Argumentation daher weder die Frage nach dem allegorischen Potenzial der Göttinnen noch die Frage nach ihrer Weiblichkeit als solche in den Fokus, sondern die theologisch-philosophischen Vorteile und Funktionen, die diese für die mittelalterlichen Gelehrten mit sich brachten. So bestand auf der einen Seite die Gefahr, bei theologischen Erwägungen rund um die heilige Dreifaltigkeit der Häresie angeklagt und verfolgt zu werden, da die kirchliche Doktrin genau vorschrieb, dass Gott nur einen einzigen Sohn habe. Von Töchtern und der Verkörperung von göttlichen Tugenden zu sprechen, die nicht unmittelbar mit Gott und Christus in Konkurrenz traten, eröffnete deshalb den für die Diskurse benötigten Freiraum. Auf der anderen Seite übernahmen die Göttinnen durch ihre vermittelnde Rolle und die Partizipation an Gott die Verantwortung für ihre jeweiligen Zuständigkeitsbereiche und traten als untergeordnete göttliche Instanzen auf. So drückten die verwendeten verwandtschaftlichen Bezeichnungen wie ‚Tochter‘ und ‚Schwester‘ zwar die Nähe zu Gott aus, aber auch ihre hierarchische Abstufung. Die Göttinnen erhielten demnach ihre Göttlichkeit nur durch die enge Verknüpfung mit Gott selbst und bildeten somit als untergeordnete Autoritäten die Brücke zwischen Gott und der Lebenswelt des Menschen. Darüber hinaus erfüllten sie nach Newman die Funktion, die inneren Konflikte Gottes darzustellen.84 82 Vgl. Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 1, 38. 83 Vgl. Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 2. 84 Vgl. Newman, God and the Goddesses, wie Anm. 2, 39–47.

Oliver Auge und Felicia E. Engelhard, Göttinnen im Mittelalter

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Diese Argumentation erscheint durchaus plausibel, um die Existenz der Göttinnen, ihre große emotionale Macht sowie ihren religiösen Wert im Mittelalter zu erklären, und ist weitestgehend mit den vorherigen Ausführungen zu den Göttinnen Fortuna, Natura und Justitia kongruent. Zu ergänzen ist jedoch, dass sich bei allen vier Göttinnen ab dem 12. und 13. Jahrhundert Veränderungen und Intensivierungen in ihrer Rezeption abzeichneten, die in den epochalen Umbruch zur Neuzeit mündeten und im Kontext der einhergehenden gesellschaftlichen Entwicklungen zu bewerten sind. Zudem wurden die Göttinnen nicht allein in den christlichen Glauben integriert, sondern erlebten wie im Falle von Natura und Justitia erst im Mittelalter ihre Blütephase, sodass darüber hinaus vielmehr von einem breiteren Spektrum weiblicher Göttlichkeit auszugehen ist, in dem auch die zunehmenden weltlichen Bezüge der Justitia Berücksichtigung finden. Die Göttin Diana lässt sich schließlich überhaupt nicht in das von Newman gezeichnete Bild einfügen – und es überrascht doch, dass Newman dies nicht wahrgenommen hat. Diana erfreute sich keiner theologischen Aufwertung und Integration in die göttliche Ordnung des Christentums, sondern wurde im Zusammenhang mit fortan als ‚heidnisch‘ eingestuften Volkskulten herabgesetzt, als Illusion jeder Existenz beraubt und schließlich im Kontext der Erfindung des Hexereidelikts dämonisiert.85 Der von Newman geschaffene Eindruck täuscht somit: Nicht alle Göttinnen teilten das Schicksal, das Fortuna, Natura und Justitia zuteil wurde. Ihre Ausführungen müssen daher in diesem Punkt erweitert und neben der Integration um den gegenteiligen Fall, den der Ausgrenzung und Unterdrückung, ergänzt werden, wobei zu untersuchen wäre, ob es noch weitere Beispiele wie Diana gibt. Schließlich war das Christentum immer noch bestrebt, den unter der Oberfläche weiterhin lebendigen alten Volksglauben zu ersticken, und dabei waren nicht nur Integration und Idealisierung antiker Göttinnen eine wirksame Methode, sondern auch ihre Dämonisierung und die Auslöschung alter Traditionen.

85 Vgl. dazu die bisherigen Anmerkungen u. a. aus dem einleitenden Abschnitt zu den Arbeiten von Behringer, Denz und Ginzburg sowie die Literatur zu Diana. Zur Rolle der Kleriker bei dieser Entwicklung am Beispiel von Bernardino da Siena vgl. neuerdings etwa Michaela Valente, Al mondo son tante streghe e stregoni. Maghi e strehge nell’immaginario letterario italiano della prima età moderna, in: Genesis. Rivista della Società Italiana delle Storiche, XIX, 1 (2020), 21–43.

Birgit Heller

Göttinnen und ihre Beziehungen zu Frauen. Ein ambivalentes Verhältnis konkretisiert am Beispiel der hinduistischen Religionsgeschichte

1.

Göttinnen in der religionswissenschaftlichen Forschung

1.1

Die Dominanz der Mutterrolle und ihre Relativierung

Die Geschichte der Religionen samt ihren Gottesvorstellungen wurde in der Religionswissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dominant im Kontext von universalen Evolutionstheorien gedeutet. Eine der wenigen Abhandlungen, die sich bereits vor dem Aufkommen der Genderforschung ausführlicher mit der Frage nach dem Geschlecht der Gottheit auseinandersetzen, stammt von Alfred Bertholet (1868– 1951) aus dem Jahr 1934. Bertholet vertritt die in der Schule der klassischen Religionsphänomenologie geläufige These, dass am Beginn der Religionsgeschichte das Erleben einer unpersönlichen, geschlechtslosen Macht steht.1 Demnach stellt die Personifizierung des Göttlichen und die damit einhergehende geschlechtliche Differenzierung zwar eine sekundäre, aber durchaus bedeutungsvolle Entwicklungsstufe innerhalb der Religionsgeschichte dar. Bertholet thematisiert nicht nur das Auftreten von Göttern und Göttinnen, sondern verweist explizit auf Gottheiten, die ihr Geschlecht wechseln können beziehungsweise sich in ihrer Geschlechtsidentität nicht eindeutig festlegen lassen, sowie auf die Verbindung von Gottheiten verschiedenen Geschlechts zu einem Paar. Das weit verbreitete Phänomen androgyner Gottheiten mit variantenreichen zweigeschlechtlichen Darstellungen interpretiert er als Versuch, der Gottheit Vollkommenheit zuzuschreiben.2 Diese Beobachtungen und eine Fülle religionshistorischer Beispiele, die zeigen, dass das Geschlecht einer Gottheit nicht mit einer bestimmten Wesensart gekoppelt ist, ergeben für Bertholet den „Eindruck einer ganz überraschenden Elastizität in bezug auf die Geschlechtsauffassung der Gottheit“.3 Im Gegensatz zu der in vieler Hinsicht erstaunlich differenzierten Einschätzung von Alfred Bertholet wurde das Thema Göttinnen in den folgenden Jahrzehnten fast 1 Vgl. Alfred Bertholet, Das Geschlecht der Gottheit, Tübingen 1934, 4, 25. 2 Vgl. Bertholet, Geschlecht, wie Anm. 1, 13–21. 3 Bertholet, Geschlecht, wie Anm. 1, 15.

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ausschließlich unter dem Vorzeichen der Muttergöttin abgehandelt. Der historische Befund, dass weibliche Gottheiten zwar eine wichtige Rolle in der Zivilisationsentwicklung im Mittelmeerraum, im Alten Orient, in Indien, China und Japan spielen, aber Judentum, Christentum und Islam durch dominant männliche Gottesbilder gekennzeichnet sind, hatte im 19. Jahrhundert die These einer kulturgeschichtlichen Entwicklung vom Mutterprinzip zum Vaterprinzip befördert. Die Zurückdrängung der weiblichen Symbolik in der Gottesvorstellung der abrahamitischen Religionen wurde im Rahmen der Evolutionstheorien zum Ursprung von Religion als Höherentwicklung vom materiell-weiblichen (Mutter‐)Prinzip zum geistig-männlichen (Vater‐)Prinzip gedeutet. Prominentester Vertreter dieser Theorie war der Rechtshistoriker, Altertumsforscher und Anthropologe Johann J. Bachofen (1815–1887).4 Seine Abhandlung über das Mutterrecht aus dem Jahr 1861 wurde in der Religionswissenschaft im 20. Jahrhundert stark rezipiert. Die entsprechende Einteilung der Religionen in sogenannte Vaterreligionen und Mutterreligionen – wobei das Vatersymbol für Zielorientierung und Geschichtsmächtigkeit, das Muttersymbol hingegen für Kreislauf und Lebensmacht steht5 – spiegelt ein im europäischen Bürgertum verbreitetes Geschlechterrollenklischee wider. Neben der Theorie von Bachofen hat sich auch der Archetyp der großen Mutter aus dem psychologischen Entwurf von C. G. Jung (1875– 1961) und seinem Schüler Erich Neumann6 (1905–1960) nachhaltig auf die Religionswissenschaft ausgewirkt. Die angebliche Priorität des Muttersymbols in der anthropomorphen Gottesvorstellung hat viele Forscher dahingehend beeinflusst, das „Urphänomen des Muttergöttinnenkultes“ zu postulieren.7 Die Definition des Begriffs ‚Muttergöttin‘ ist jedoch uneinheitlich und insofern problematisch, als sich biologische (etwa ‚Gebärerin der Götter‘ oder ‚Menschenschöpferin‘) und soziale Elemente der Mutterrolle (angeführt werden beispielsweise Schutz, Pflege, Fürsorge und Hingabe), die allerdings kulturspezifisch und historisch bedingt sind, mischen. In den frühen Hochkulturen werden viele Göttinnen tatsächlich explizit als ‚Mutter‘ bezeichnet.8 Das gilt etwa für die babylonisch-assyrische Göttin Ishtar, für die großen ägyptischen Göttinnen Hathor und Isis oder für die griechische Demeter. Die Mut4 Vgl. Johann J. Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Eine Auswahl, hg. von Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt a. M. 19938 (Orig. Stuttgart 1861), bes. 47–51. 5 Vgl. Gerardus van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 19562, 99. 6 Vgl. Erich Neumann, Die große Mutter. Der Archetyp des großen Weiblichen, Zürich 1956 (viele Neuauflagen unter dem Titel: Die große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten). 7 Das Zitat stammt von Friedrich Heiler, Erscheinungsformen und Wesen der Religion, Stuttgart u. a. 19792, 465. Vgl. dazu auch van der Leeuw (Phänomenologie, wie Anm. 5, 91f.), der von der größeren „Mächtigkeit des Weibes“ als Trägerin des Lebens spricht. 8 Vgl. dazu die zahlreichen Belege bei Edwin O. James, The Cult of the Mother-Goddess, London 1959. James zählt allerdings zu jenen, die den Begriff Muttergöttin zu undifferenziert und pauschal für die vielfältigen Phänomene der Göttinnen-Verehrung verwenden.

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tersymbolik setzt sich in den großen Religionen der Gegenwart fort: in vielen hinduistischen Göttinnen, in der buddhistischen Gestalt der Guānyīn, aber auch in der katholischen Marienverehrung oder der schiitischen Fātima-Tradition. Als Spezialfall der religiösen Muttersymbolik ist die ‚Mutter Erde‘ zu betrachten. In vielen Kulturen gelten Erdgottheiten als die primäre Lebensquelle und werden häufig als ‚Mutter Erde‘ verehrt. Die Vorstellung von einer mütterlichen Erdgöttin (bekannte Beispiele sind die griechische Göttin Gaia oder die römische Tellus mater sowie Pachamama, die ‚Mutter Erde‘ der Andenregion) findet sich – teilweise auch unabhängig von der Kenntnis des Ackerbaus – in verschiedenen europäischen, asiatischen, afrikanischen, altamerikanischen und australischen Traditionen. In einer interessanten, wenn auch stellenweise überholten Studie über die ‚Mutter Erde‘ im Licht volksreligiösen Brauchtums aus dem Jahr 1905 zieht Albrecht Dieterich (1866–1908) den folgenden Schluss: „Einer der ältesten religiösen Gedanken der Völker, wir dürfen wohl sagen der Menschheit, ist der Glaube an eine Mutter Erde; das ist die relativ älteste Volksreligion, soweit wir erkennen können.“9 Die Mutterverehrung bildet jedoch nur einen Aspekt der Göttinnen-Verehrung. Was die Priorität der Muttergöttin betrifft, so ist die Interpretation der zahlreichen weiblichen Statuetten aus frühgeschichtlichen Kulturen, die hier als Belege herangezogen werden müssten, umstritten. Obwohl die Kontinuität mancher Merkmale dieser Figuren bis in die Zeit der Hochkulturen sowie ähnliche Phänomene in ethnischen Religionen die Vermutung nahelegen, dass sie zumindest teilweise als weibliche Gottheiten zu deuten sind, lässt die Vielfalt der Formen und Fundorte weder eine pauschale Deutung noch ein einheitliches Konzept einer Muttergöttin zu.10 Auf der Bildebene bringen streng genommen nur Darstellungen von Frauen mit Kind die Muttersymbolik eindeutig zum Ausdruck; vielschichtiger sind jene Darstellungen, bei denen die Mutterfunktion beispielsweise aus betonten weiblichen Körpermerkmalen oder bestimmten Attributen wie vollen Krügen und dergleichen abgeleitet wird. Hier entsteht ein fließender Übergang zur Fruchtbarkeitssymbolik, die allerdings nicht zwangsläufig an die Muttersymbolik gebunden sein muss.11 Insbesondere die ikonografischen Darstellungen von altorientalischen Göttinnen zeigen sehr deutlich, dass die Aspekte, die Göttinnen zugeschrieben werden (wie Aggression, Erotik, Herrschaft, Macht und Schutz), weit über die biologische und soziale Mutterrolle hinausreichen. Darüber hinaus taucht in diesem Kulturraum früh der Typ der sogenannten ‚großen Göttin‘ auf. Einerseits gilt es als schwierig, die verschiedenen 9 Albrecht Dieterich, Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion, Leipzig 19253, (Orig. Leipzig 1905), 91. 10 Vgl. James J. Preston, Goddess Worship: An Overview, in: Lindsay Jones (Hg.), Encyclopedia of Religion, Bd. 6, Detroit u. a. 20052, 3583–3592, 3583f., online unter: link.gale.com/apps/doc/ CX3424501203/GVRL?u=43wien&sid=GVRL&xid=ee05cadf, Zugriff: 17. 5. 2021. 11 Vgl. etwa Helgard Balz-Cochois, Inanna. Wesensbild und Kult einer unmütterlichen Göttin, Gütersloh 1992.

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ikonografischen Typen voneinander abzugrenzen und mit bestimmten Namen zu identifizieren, sodass es besser wäre, von den „verschiedenen Erscheinungsformen einer Göttin als von verschiedenen Göttinnen“ zu reden.12 Andererseits gab es bereits im 2. Jahrtausend vor christlicher Zeitrechnung Versuche, die verschiedenen Aspekte unter einem Namen zusammenzufassen. Solch komplexe Gestalten einer Göttin treten in vielen religiös-kulturellen Kontexten auf und werden in der jüngeren Religionswissenschaft genauso beachtet wie die Vielfalt einzelner Göttinnen mit ihren unterschiedlichen Funktionen. Das kontinuierliche und vielgestaltige Phänomen der Göttinnen-Verehrung13 ist weder auf ein Stadium der menschlichen Kulturgeschichte beschränkt noch durch die Reduktion auf die Muttersymbolik erklärbar. Göttinnen sind nicht an einen bestimmten Funktionszusammenhang gebunden. Bis auf jene Gebiete, die vom Islam oder Protestantismus geprägt sind, hat die Verehrung von Göttinnen bis heute nichts an ihrer Vitalität und Bedeutung verloren. Ab den 1970er Jahren kam es sogar – angeregt durch die verstärkte weibliche Identitätssuche in diversen feministischen Theologien und in der feministischen Spiritualität – zur Verehrung von Göttinnen unter Anknüpfung an verschiedenste religionsgeschichtliche Wurzeln14 und insbesondere an das moderne Konstrukt einer prähistorischen ‚großen Göttin‘.15

12 Urs Winter, Frau und Göttin. Exegetische und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im Alten Israel und dessen Umwelt, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1983, 88, Anm. 407. 13 Vgl. u. a. David R. Kinsley, The Goddesses’ Mirror. Visions of the Divine from East and West, Albany, NY 1989; Carl Olson (Hg.), The Book of the Goddess. Past and Present. An Introduction to Her Religion, New York 1990; Sandra Billington u. Miranda Green (Hg.), The Concept of the Goddess, London 1996; James J. Preston, Goddess Worship, wie Anm. 10, 3583–3592. 14 Für die feministisch-christliche Theologie vgl. etwa Christa Mulack, Maria. Die geheime Göttin im Christentum, Stuttgart 1986; Rosemary R. Ruether, Frauenbilder – Gottesbilder. Feministische Erfahrungen in religionsgeschichtlichen Texten, Gütersloh 1987; dies., Goddesses and the Divine Feminine. A Western Religious History, Berkeley/Los Angeles/London 2005. Exemplarisch für die Vielfalt der Beiträge aus dem Kontext der feministischen Spiritualität: Carol P. Christ, Why Women Need the Goddess: Phenomenological, Psychological and Political Reflections, in: dies. u. Judith Plaskow (Hg.), Womanspirit Rising. A Feminist Reader in Religion, San Francisco 1979, 273–287; Merlin Stone, Als Gott eine Frau war, München 1988; Carol P. Christ, She Who Changes. ReImagining the Divine in the World, New York 2003. Einen kurzen analytischen Überblick bietet Edith Franke, Die Göttin als zentraler Bezugspunkt feministischer Religiosität, in: Ingrid Lukatis, Regina Sommer u. Christof Wolf (Hg.), Religion und Geschlechterverhältnisse, Opladen 2000, 131–138. 15 Vgl. Brigitte Röder, Juliane Hummel u. Brigitta Kunz (Hg.), Göttinnendämmerung. Das Matriarchat aus archäologischer Sicht, München 1996; Julia Koch, Katharina Jacob u. Jutta Leskovar (Hg.), Prähistorische und antike Göttinnen. Befunde, Interpretationen, Rezeptionen, Münster 2020. Vgl. dazu auch den Beitrag von Almut Höfert und Anja Hänsch in diesem Band.

Birgit Heller, Göttinnen und ihre Beziehungen zu Frauen

1.2

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Zusammenhänge zwischen Göttinnen und Frauen

Die Existenz weiblicher Bilder und Verkörperungen des Göttlichen wirft die Frage auf, in welcher Beziehung Göttinnen und real lebende Frauen stehen. In diesem Kontext wird seit langem der Zusammenhang zwischen der Verehrung von Göttinnen und dem Status von Frauen in der Gesellschaft diskutiert.16 Insbesondere Matriarchatstheorien sind diesbezüglich von ideologischen Vorannahmen geprägt. Sowohl ältere religionssoziologische Ansätze17 als auch prominente Vertreterinnen der modernen Strömung der feministischen Spiritualität18 postulieren einen linearen Zusammenhang zwischen einer Muttergöttin und der matriarchalen Gesellschaftsform. Ein Automatismus zwischen der Verehrung einer Muttergöttin beziehungsweise einer mächtigen Göttin und der zentralen sozialen Bedeutung von Frauen ist aber genauso wenig belegbar wie das Matriarchat als universale Kulturstufe.19 Dass zwischen der Verehrung von Göttinnen und dem hohen sozialen Status von Frauen kein universaler und linearer Kausalzusammenhang besteht, wurde in der religionswissenschaftlichen Forschung vielfach festgestellt.20 So steht beispielsweise die religiöse Muttersymbolik in einer komplexen Wechselwirkung mit der menschlichen Mutter. James J. Preston hat die historische Vielfalt der Mutterverehrung aus einem religionssoziologischen Blickwinkel in verschiedene Beziehungstypen systematisiert: Muttergöttinnen können soziokulturelle Realitäten reflektieren, Modelle für die menschliche Nachahmung sein, idealisierte Steigerungen der empirisch beobachtbaren Mutterschaft darstellen oder sich als Kontrastfiguren auf ein menschliches Gegenüber beziehen.21 So sind göttliche Mütter der sozialen Realität von Frauen manchmal ge-

16 Vgl. etwa Kinsley, Goddesses, wie Anm. 13, XI–XIX; Karen King (Hg.), Women and Goddess Traditions. In Antiquity and Today, Minneapolis 1997; Annette Wilke, Wie im Himmel so auf Erden? Religiöse Symbolik und Weiblichkeitskonstruktion, in: Ingrid Lukatis, Regina Sommer u. Christof Wolf (Hg.), Religion und Geschlechterverhältnisse, Opladen 2000, 19–35. 17 Immens einflussreich war die Abhandlung von Johann J. Bachofen, Mutterrecht, wie Anm. 4. 18 Vgl. dazu insbes. das Lebenswerk von Heide Göttner-Abendroth, Das Matriarchat, 3 Bde., Stuttgart 1988–2019. Göttner-Abendroth übersetzt den Begriff Matriarchat mit „Am Anfang die Mütter“ und definiert diese weltweit von ihr erforschte Gesellschaftsform als matrilinear, egalitär, ökonomisch ausgeglichen und durch das Weiblich-Göttliche geprägt. Den Typus der Muttergöttin betrachtet sie als den ältesten Göttinnen-Typus überhaupt, der ursprünglich auf vergöttlichte Ahnfrauen bzw. Urmütter zurückgehen soll, vgl. dies., Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats, Bd. III, Stuttgart 2019, 15, 136. 19 Vgl. dazu Uwe Wesel, Der Mythos vom Matriarchat, Frankfurt a. M. 1980; Röder/Hummel/Kunz, Göttinnendämmerung, wie Anm. 15. 20 Vgl. dazu etwa Caroline Walker Bynum, Introduction. The Complexity of Symbols, in: dies. (Hg.), Gender and Religion. On the Complexity of Symbols, Boston 1986, 2; James J. Preston, Conclusion: New Perspectives on Mother Worship, in: ders. (Hg.), Mother Worship. Theme and Variations, Chapel Hill, NC, 19883, 327f.; Katherine K. Young, Introduction, in: Arvind Sharma (Hg.), Women in World Religions, New York 1987, 6f. 21 Vgl. Preston, Conclusion, wie Anm. 20, 337.

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radezu diametral entgegengesetzt.22 Sie stellen beispielsweise ein unerreichbares Ideal dar, das sich sehr nachteilig auf konkretes Frauenleben auswirken kann. Das religiöse Symbol einer ‚Heiligen Mutter‘ kann sogar mit Frauendiskriminierung und Frauenhass einhergehen – so haben sich etwa im Christentum Marienverehrung und Hexenverfolgung nicht ausgeschlossen. Göttinnen können herrschende gesellschaftliche Stereotype und Ideale modellhaft verstärken und autorisieren. Sie können widerspiegeln, was Frauen einer bestimmten kulturellen Überzeugung nach sind und sein sollen. Sie können die traditionellen Geschlechterrollen legitimieren und zur Festschreibung bestehender Herrschaftsverhältnisse herangezogen werden. Göttinnen können aber auch Gegenbilder zum kulturell normierten Frausein repräsentieren und alternative Modelle für weibliche Identitätsbildung anbieten, wenn sie als Symbole für machtvolle Potenziale von Frauen betrachtet werden. Weiblich (und auch männlich) geprägte Gottesvorstellungen wirken sich ganz unterschiedlich auf das Leben von Frauen und Männern aus. Es kommt vor allem darauf an, wer sich der Symbolik der Göttin in welchem Kontext bedient. Im Anschluss an diesen generalisierenden Überblick wird im Folgenden zunächst die vergleichsweise immense Dichte an Göttinnen-Vorstellungen in der hinduistischen Religionsgeschichte beleuchtet. Danach werden die ambivalenten Bezüge zwischen Göttinnen und Frauen an konkreten Beispielen aus dem 19. bis 21. Jahrhundert erörtert.

2.

Göttinnen im Kontext hinduistischer Traditionen

Allgemeingültige Aussagen über ‚den Hinduismus‘ zu machen, ist aufgrund der Vielfalt und Uneinheitlichkeit dieses Konglomerats von religiösen Traditionen unmöglich.23 Neben dem einflussreichen klassisch-brahmanischen Hinduismus24 mit seiner Vielfalt an Göttern und Göttinnen gibt es eine Fülle verschiedener theistischer Richtungen (geordnet durch die Sammelbezeichnungen Vishnuismus, Shivaismus und Shaktis22 Eine Studie zur Marienverehrung in Mexiko veranlasste Ena Campbell zu der generalisierenden Behauptung, dass die Figur der Muttergöttin eine dominante Position in jenen Kulturen einnimmt, die männliche und weibliche Rollen polarisieren, vgl. dies., The Virgin of Guadalupe and the Female Self-Image. A Mexican Case History, in: James J. Preston (Hg.), Mother Worship. Theme and Variations, Chapel Hill, NC 19883, 5–24, 21. In diesem Zusammenhang verweist sie auf die Daten aus den römisch-katholischen Ländern und aus der hinduistischen und buddhistischen Welt, die aufzeigen, dass die Verehrung der Muttergöttin in einer umgekehrten Relation zum hohen säkularen Status von Frauen zu stehen scheint. 23 Zur Problematik des Begriffs ‚Hinduismus‘, der fälschlich die Existenz einer klar definierbaren Religion suggeriert, vgl. Angelika Malinar, Hinduismus, Göttingen 2009, 13–25. 24 Der Beginn des klassisch-brahmanischen Hinduismus kann um 200 vor christlicher Zeitrechnung angesetzt werden. Dominant sind hier die Vorstellungen und Lehrmeinungen der Brahmanen (der religiösen Gelehrten und Ritualexperten).

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mus)25, die sich jeweils um eine bestimmte männlich oder weiblich personifizierte Gottheit drehen, sowie zahlreiche lokale Traditionen. Diese verschiedenen Religionsströme sind allerdings auch durch gemeinsame Anschauungen und wechselseitige Beeinflussungen verbunden. Im Vergleich zu sämtlichen anderen Weltreligionen bieten die hinduistischen Traditionen die umfangreichste und theoretisch am stärksten reflektierte lebendige Verehrung von Göttinnen. In vielen lokalen volksreligiösen Traditionen, die das ländliche Indien prägen, steht eine Göttin im Zentrum, die meist als ‚Mutter‘ bezeichnet wird und häufig mit einer der bekannten ‚großen Göttinnen‘ der klassisch-brahmanischen Überlieferung identifiziert wird. Diese Dorfmütter sind verantwortlich für das Wohlergehen des Dorfes. Sie gelten als mächtige, teils ambivalente Gottheiten, die die Menschen aus dem Unheil (etwa Flut, Hunger, Dürre, Epidemien), das sie verursachen, auch erretten. Manche sind mächtige Krankheitsgöttinnen, die eine spezielle Krankheit verursachen, sich in ihren Symptomen manifestieren und von ihr befreien können.26 Prinzipiell muss unterschieden werden zwischen weiblichen Gottheiten mit einer bestimmten historischen Genese, Kultorten, Mythen, Festen etc. und der Vorstellung von einer einzigen, umfassenden Göttin, die mit den theologischen Konzepten der Shakti und der Mahādevī verknüpft ist.27

2.1

Das Konzept Shakti

Der Begriff Shakti bedeutet ‚Kraft‘ oder auch ‚Energie‘ und bezeichnete bereits in der vedischen Zeit (ca. 1750–500 vor der christlichen Zeitrechnung) die göttliche Kraft. Im Lauf der Entwicklung des Shaktismus wurde Shakti zum weiblichen, aktiven, hervorbringenden Prinzip, das gemeinsam mit den kosmischen Prinzipien prakriti (‚Materie‘) und māyā (‚kreative Kraft‘, auch ‚Illusion‘) über viele Jahrhunderte zur charakteristischen Vorstellung der Göttin als Shakti geformt wurde.28 Das theologische Konzept der Shakti ermöglicht zudem die Integration von ursprünglich eigenständigen, (teilweise seit der vedischen Zeit) historisch fassbaren Göttinnen in jene Tradi25 Während Traditionen, die entweder Vishnu oder Shiva als zentrale Gottheit verehren, bereits in den letzten Jahrhunderten vor der christlichen Zeitrechnung entstanden, sind Traditionen, in deren Fokus die Shakti steht, erst nach der Mitte des 1. Jahrtausends nach christlicher Zeitrechnung greifbar. 26 Vgl. dazu David Kinsley, Indische Göttinnen. Weibliche Gottheiten im Hinduismus, Frankfurt a. M. 1990 (1986), 262–282. 27 Für einen allgemeinen Überblick vgl. Kinsley, Göttinnen, wie Anm. 26; Detailstudien zu einzelnen verschiedenen Göttinnen finden sich in: John Stratton Hawley u. Donna M. Wulff (Hg.), Devi. The Goddesses of India, Berkeley/Los Angeles/London 1996; wesentliche Dimensionen der hinduistischen Göttinnen-Verehrung beleuchtet der Sammelband von Mandrakanta Bose (Hg.), The Oxford History of Hinduism. The Goddess, Oxford 2018. 28 Vgl. Tracy Pintchman, Cosmological, Devotional and Social Perspectives on the Hindu Goddess, in: Bose, The Oxford History of Hinduism, wie Anm. 27, 17–38, 18.

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Abb.1: Skulpturengruppe an der Fassade des Shiva-Tempels in Gangaikondacholapuram, Tamilnadu (11. Jh.). Shiva schmückt einen Heiligen oder König Rajendra I., den Erbauer des Tempels, mit einer Blumengirlande. Neben ihm sitzt – vergleichsweise schmächtig dargestellt – seine Shakti Pārvatī, Foto 2014 © Dorina Heller.

tionen, die durch ein primär männliches Gottesbild charakterisiert sind. In den Traditionen des Vishnuismus und Shivaismus ist das Absolute primär männlich personifiziert und wird meist ergänzt durch die Konzeption der Shakti, die für bestimmte Bereiche (vor allem Schöpfung und Befreiung) zuständig ist. Insofern meint Shakti in diesem Kontext die weiblich personifizierte Kraft eines männlichen Gottes. Prinzipiell kann allen männlichen Gottheiten eine bestimmte Shakti (oder sogar mehrere) zugeordnet werden, am stärksten tritt jedoch die Shakti von Shiva hervor. Verschiedene Göttinnen können die Position der Shakti Shivas einnehmen. Die Göttinnen Pārvatī oder Umā bleiben eng mit Shiva verknüpft und gelten als seine Ehefrauen. Sie gehören

Birgit Heller, Göttinnen und ihre Beziehungen zu Frauen

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zur Gruppe der sogenannten milden, gütigen Göttinnen, während die wilden, heroischen, jungfräulichen Göttinnen wie Durgā oder Kālī zur Unabhängigkeit tendieren.29 Die mächtigen Göttinnen Durgā und Kālī sind Shiva teilweise sogar überlegen: Shiva tritt dann zurück und sie steigen zur großen, absoluten Göttin auf. Viele Traditionen schreiben der Shakti innerhalb des Schöpfungs- und Befreiungsprozesses eine bedeutende Rolle zu, teilweise wird sie sogar mit dem göttlichen Absoluten identifiziert. Die shivaitische Ikonografie spiegelt den unterschiedlichen Stellenwert der Shakti: Sie sitzt mit einem unterproportional kleinen Körper auf dem Schoß Shivas oder neben ihm; sie bildet die weibliche Hälfte einer populären androgynen Figur, die den „Herrn [Shiva], der zur Hälfte Frau ist“ (ardhanārīshvara) darstellt; sie tanzt auf dem Leichnam Shivas und übernimmt die dominante Rolle.

2.2

Das Konzept Maha¯devı¯

Jene Formen des Shaktismus, die der Shakti eine dominante und einzigartige Position zuweisen und sie mit dem göttlichen Absoluten gleichsetzen, bedienen sich des Konzeptes der Mahādevī (wörtlich: ‚große Göttin‘) oder auch Mahāshakti. Viele Textquellen belegen die Tendenz, alle bekannten Göttinnen in einer ‚großen Göttin‘ zusammenzufassen. Zumeist wird eine konkrete weibliche Gottheit wie Durgā, Kālī oder Lakshmī in die Position der großen, transzendenten Göttin gerückt. Am Beispiel der Göttin Durgā lässt sich diese Denkfigur veranschaulichen. Durgā ist eine historisch gewachsene, mächtige und hochverehrte Göttin. Sie war die kriegerische Schutzgöttin mehrerer Herrscherdynastien. Der älteste heilige Text, der dieser Göttin gewidmet ist, das sogenannte Devīmāhātmya, stammt aus dem 6. Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung. Dieser Text gilt auch als das früheste Zeugnis für die Vorstellung einer einzigen ‚großen Göttin‘.30 Hier wird bereits die Auffassung vertreten, dass Durgā die Shaktis aller männlichen Götter in sich vereint. Als Mahishāsuramardinī, als Töterin des Büffeldämons, rettet sie Götter und Menschen vor dem Angriff der Dämonen. Dieses Ereignis wird in Indien bis heute im Fest Dasserah im September/Oktober jeden Jahres gefeiert. Genauso wie Durgā kann auch die Göttin Kālī zur Mahādevī werden. Im Devīmahātmya ist Kālī noch eine Manifestation Durgās, in späteren Traditionen entwickelt sie sich zu einer selbständigen Göttin, die die grausam-de29 Vgl. Axel Michaels, Cornelia Vogelsanger u. Annette Wilke, Introduction, in: dies. (Hg.), Wild Goddesses in India and Nepal, Bern u. a. 1996, 20–25, mit einer Tabelle, die die gegensätzlichen Kategorien näher beschreibt, wobei allerdings betont wird, dass damit keine rigide Klassifikation intendiert ist, da Göttinnen Züge beider Kategorien aufweisen können und gelegentlich auch zwischen diesen beiden Polen wechseln. 30 Vgl. dazu Thomas B. Coburn, Devī Māhātmya. The Crystallization of the Goddess Tradition, Delhi 1984 (etliche Nachdrucke); ders., Devī. The Great Goddess, in: Hawley/Wulff (Hg.), Devī. The Goddesses of India, wie Anm. 27, 31–48.

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struktiven Aspekte der hinduistischen Göttinnen am anschaulichsten mit den mütterlich-gütigen Zügen vereint. In der bengalischen Mystik wird sie im 18. Jahrhundert zur transzendenten Mutter Kālī, die aus Leid und Unwissenheit befreit.31 Dem Konzept der Mahādevī liegt die Idee zugrunde, dass die verschiedenen weiblichen Gottheiten Ausdruck einer einheitlichen Kraft sind, die entweder mit einer bestimmten Göttin identifiziert wird oder nicht auf den konkreten Namen einer Göttin festgelegt, sondern nur abstrakt umschrieben wird (als große Shakti, große Göttin, große Herrin).32 In beiden Fällen sind bestimmte Grundvorstellungen mit der Mahādevī verknüpft: Sie ist identisch mit dem transzendenten Grundprinzip der Wirklichkeit (brahman); sie ist Grundlage und Stütze der Welt, Quelle aller Lebewesen sowie aller weiblichen und männlichen Gottheiten. Dementsprechend nimmt sie die mythologischen Rollen einer Mutter, Schöpferin und Königin des Kosmos ein. Die Göttin greift aktiv in das Weltgeschehen ein: In vielen Mythen beschützt sie die Welt als siegreiche Kriegerin. Sie vereint gütige und schreckenerregende Aspekte und Gestalten in sich und überbrückt den Gegensatz von Leben und Tod.

3.

Frauen als Manifestationen der Shakti

Die Identifikation von Weiblichkeit mit dem metaphysischen Konzept Shakti gehört zu den Grundmustern der bis heute einflussreichen brahmanisch-hinduistischen Tradition.33 Charakteristisch für diese kulturelle Konstruktion von Weiblichkeit ist die Ambivalenz zwischen kreativ-wohlwollend und destruktiv-gefährlich, die im Zusammenhang mit weiblicher Sexualität steht.34 Nur wenn die bedrohliche weibliche Sexualkraft unter männliche Kontrolle gebracht wird, löst sich diese Doppeldeutigkeit in beständiges weibliches Wohlwollen auf. Die destruktiv-gefährliche Seite des Weiblichen wird tendenziell durch Göttinnen wie Durgā oder Kālī repräsentiert, die kreativwohlwollende Seite durch Göttinnen wie Pārvatī, Lakshmī oder Sītā. Zwischen dem symbolischen und dem realen Frauenbild liegt allerdings eine tiefe Kluft. Während das symbolische Frauenbild zwischen den Kategorien unabhängig/wild und untergeord31 Vgl. Rachel Fell McDermott, Bengali Songs to Kālī, in: Donald S. Lopez Jr. (Hg.), Religions of India in Practice, Princeton 1995, 55–76. 32 Vgl. dazu u. a. die Textsammlung von J. Woodroffe [A. Avalon], Hymns to the Goddess and Hymn to Kali, Madras 19823 und die Beiträge in: Tracy Pintchman (Hg.), Seeking Mahadevi. Constructing the Identities of the Hindu Great Goddess, Albany 2001. 33 In verschiedenen theistischen Traditionen existieren zwar auch anders akzentuierte Frauenbilder, aber die weiblichen Ideale, Stereotype und gesellschaftlichen Einstellungen zu Frauen sind in Indien bis heute tief von den klassischen brahmanisch-hinduistischen Vorstellungen geprägt. 34 Vgl. zum Folgenden Tracy Pintchman, The Ambiguous Female. Conceptions of Female Gender in the Brahmanical Tradition and the Roles of Women in India, in: Ninian Smart u. Shivesh Thakur (Hg.), Ethical and Political Dilemmas of Modern India, Houndsmill/Basingstoke/Hampshire 1993, 144–159.

Birgit Heller, Göttinnen und ihre Beziehungen zu Frauen

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net/mild unterscheidet, gilt das Wesen der realen Frau als grundsätzlich verdorben und der Kontrolle bedürftig. Der fundamentale Unterschied zwischen Göttin und biologischer Frau besteht darin, dass autonomes Handeln für Frauen nicht vorgesehen ist.35 Zwischen den unabhängigen, mächtigen Göttinnen wie Durgā oder Kālī und den Frauen gibt es in der brahmanisch-hinduistischen Tradition wenig Berührungspunkte. Göttinnen, die keinem männlichen Partner untergeordnet sind, besitzen wilde, schreckenerregende und zugleich auch mütterlich-schützende Wesenszüge. Diese Göttinnen, die sowohl kreative als auch destruktive Aspekte der kosmischen ‚Urkraft‘ repräsentieren, werden verehrt und mitunter auch gefürchtet. Auf der Ebene der Göttinnen stellt sich Sexualität nur als ein Aspekt einer umfassenderen kosmischen Kraft dar, auf der menschlichen Ebene erscheint Sexualität als Triebhaftigkeit und Schwäche der Frau. Frauen können daher nur in Abhängigkeit vom Mann ein gutes und vorbildliches Leben führen. Nur wenn das Wesen der Frau völlig von ihrer Mutterrolle überlagert wird, eröffnet sich die Möglichkeit zu einer gewissen Dominanz und Eigenständigkeit. Als entsexualisierte Mutter partizipiert die Frau an der Unabhängigkeit der Göttinnen und genießt übergroße Verehrung. Anders als die Göttin ist die irdische Mutter allerdings immer auch untergeordnete Ehefrau. Die Unterordnung unter das männliche Prinzip wirkt sich auf Göttinnen und Frauen gleichermaßen positiv aus. Jene Göttinnen, die als personifizierte Kraft (Shakti) einem männlichen Partner untergeordnet sind, dienen auch als Vorbilder für die irdischen Frauen. Vor allem die Göttinnen Lakshmī und Pārvatī werden als Modelle herangezogen; die tugendhafte Ehefrau ist geradezu als Verkörperung der Göttin Lakshmī, als häusliche Glücksgöttin, zu verehren.36 Die Metapher des göttlichen Paares inspiriert und prägt die Hingabe der Frau an den Ehemann.37 Nach traditionellhinduistischer Auffassung sind die Normen für das Leben einer Frau aus ihrer Beziehung zum Mann abzuleiten und basieren auf der weiblichen Selbstaufgabe und Un35 Ein vielzitierter Vers aus der Manusmriti, dem wichtigsten brahmanischen Verhaltenskodex, lautet: „Von einem Mädchen, einer jungen Frau und selbst von einer alten Frau soll keine Arbeit unabhängig gemacht werden, auch nicht im Haus. In der Kindheit steht sie unter der Gewalt des Vaters, in der Jugend unter der ihres Mannes, und wenn ihr Mann gestorben ist, unter der ihrer Söhne; nicht soll eine Frau Unabhängigkeit erhalten.“ (Manu 5, 147f.), vgl. Manusmrti. ̣ Manus Gesetzbuch. Aus dem Sanskrit übers. u. hg. v. Axel Michaels, Berlin 2010, 115. 36 Sandra P. Robinson weist darauf hin, dass nur ausgewählte Elemente der Göttin-Metaphorik als angemessene Modelle für Frauen betrachtet werden, und bezeichnet Lakshmī als „uncompromised symbol of the brahmanic view of femininity“, vgl. dies., Hindu Paradigms of Women. Images and Values, in: Yvonne Yazbeck Haddad (Hg.), Women, Religion and Social Change, Albany, NY 1985, 181–215, 187. 37 Ein anschauliches Beispiel für diesen Vorgang bietet eine der beiden Standardbiografien zum Leben des Mystikers Caitanya (1486–1533). Die Beziehung Caitanyas zu seiner ersten Ehefrau namens Lakshmī (sic!) wird ganz im Paradigma des idealen göttlichen Paares gedeutet, vgl. dazu Birgit Heller, Verheiratet mit einem Gott. Zum Geschlechterverhältnis im Hinduismus am Beispiel von Lakshmī und Bishnupriyā, den Ehefrauen eines Mystikers, in: Donate Pahnke (Hg.), Blickwechsel. Frauen in Religion und Wissenschaft, Marburg 1993, 225–250, 229–239.

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terordnung. Die ideale Ehefrau ist eine pativratā, eine Frau, die ihrem Mann bedingungslos ergeben ist und ihr Leben gänzlich dem Dienst an ihm weiht. Bis heute repräsentiert Sītā, die weibliche Hauptgestalt im indischen Nationalepos Rāmāyana, das populärste Modell dieses Ideals. Sītā ist die Gattin des Prinzen Rāmā und der Inbegriff der treuen, reinen, gehorsamen, sich hingebenden Ehefrau. Da die beiden als Verkörperungen des Götterpaares Vishnu und Lakshmī gelten, ist Sītā die Shakti von Rāmā. Im 19. und 20. Jahrhundert engagierten sich Hindu-Reformer für die Modernisierung und Bildung von Frauen, die der nationalen Erneuerung zugutekommen sollte. Frauen sollten sich demnach entwickeln, allerdings in den Fußspuren der Sītā.38 Die bedingungslose Hingabe an den männlichen göttlichen Partner findet ihren höchsten Lohn, indem die Göttin zu seiner Hälfte wird. Auf mythologischer Ebene wird diese Vorstellung besonders durch das Bild des ardhanārīshvara, des ‚Herrn, der zur Hälfte Frau ist‘, ausgedrückt. Das Symbol des zu einer mannweiblichen Gestalt vereinten göttlichen Paares (konkret Shiva und Pārvatī) wird in der brahmanischen Tradition auch als Modell des menschlichen Paares herangezogen.39 In der jüngsten Zeit wird das Bild, dessen historische Wurzeln weit zurückreichen, auch als Beleg für die Gleichberechtigung der Geschlechter interpretiert.40 Allerdings täuscht die androgyne Form über das tatsächlich vorhandene Ungleichgewicht hinweg.41 Auf der göttlichen Ebene bleibt das männliche Prinzip, näherhin Shiva, dominant, auf der menschlichen Ebene impliziert die ideale Einheit des verheirateten Paares, dass sich Pflichten, Lebensziel und Identität der Frau gänzlich von ihrem Ehemann herleiten. Das androgyne Gottesbild symbolisiert ursprünglich, in der Tradition des Hathayoga, die Einheit aller Gegensätze (ausgedrückt in der Geschlechterdualität). Neben den Deutungen des Bildes als ideale Harmonie beziehungsweise Gleichstellung der binären Geschlechter hat sich vor dem Hintergrund der modernen Queer Studies eine neue Interpretation im Sinn von Fluid Gender eröffnet. Anknüpfend an einen alten hinduistischen Überlieferungsstrang, der die Figur des Ardhanārīshvara als weder männlich noch weiblich, sondern als jenseits aller fixen Geschlechterzuschreibungen be-

38 Vgl. dazu Swami Vivekananda, Our Women, Calcutta 19829 (Orig. Calcutta 1904), bes. 1–3. Vivekānanda betrachtete Frauen als Manifestationen der Shakti. Als hinduistischer Repräsentant auf dem Weltparlament der Religionen, das 1893 in Chicago abgehalten wurde, war er in Kontakt mit nordamerikanischen Frauen gekommen. Einerseits war er von ihrer Bildung fasziniert, andererseits empfand er ihre Unabhängigkeit und ihren – in seinen Augen – Mangel an Reinheit als abstoßend. 39 Vgl. Julia Leslie, The Perfect Wife. The Orthodox Hindu Woman According to the Strīdharmapaddhati of Tryambakayajvan, Delhi 1989, 30. 40 Vgl. Neeta Yadav, Ardhanārīśvara in Art and Literature, New Delhi 2001. 41 Vgl. dazu (ausführlich) Ellen Goldberg, The Lord Who Is Half Woman. Ardhanārīśvara in Indian and Feminist Perspective, Albany, NY 2002.

Birgit Heller, Göttinnen und ihre Beziehungen zu Frauen

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schreibt, kann das Bild als Gegenentwurf zu einer binären Geschlechterordnung betrachtet werden.42 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zwischen hinduistischer GöttinnenSymbolik und dem hohen Status von Frauen keine notwendige Korrelation besteht. Im brahmanisch geprägten Hinduismus ist der Gegensatz zwischen extensiver GöttinnenVerehrung und inferiorem Status von Frauen besonders auffällig. Allerdings spielt die Vorstellung, dass Frauen Manifestationen der Shakti sind, in der jüngeren hinduistischen Religionsgeschichte und indischen Politik eine wichtige Rolle und Frauen werden auch mit ‚wilden‘ Göttinnen wie Kālī oder Durgā assoziiert. Im Folgenden wird exemplarisch veranschaulicht, in welch unterschiedlicher Weise dieses feststehende Bild seit dem 19. Jahrhundert auf das Leben von Frauen bezogen wird.

3.1

Die ‚Heilige Mutter‘ zwischen Unterordnung und Selbstbestimmung43

Der berühmte Hindu-Mystiker Rāmakrishna (1836–1886) war Priester der Göttin Kālī und verehrte sie als Inbegriff der göttlichen Mutter. Die Ehe mit seiner Frau Sāradā Devī (1853–1920)44 wurde der Überlieferung nach sexuell nie vollzogen. Entsprechend dem klassischen Ideal einer Hindu-Ehefrau widmete sich Sāradā Devī vor allem dem leiblichen Wohl ihres asketischen Ehemanns. Erst nach seinem Tod begann ihr Aufstieg zur spirituellen Autorität. Allmählich wurde sie als Erbin der spirituellen Errungenschaften von Rāmakrishna und als Mutter des von seinen Schülern gegründeten Ordens verehrt. Die Bedeutung von Sāradā Devī wird historisch und religiös mit ihrer rituellen Verehrung als Shakti begründet. In der Vollmondnacht des 5. Juni 1872 soll Rāmakrishna dieses Ritual durchgeführt und damit das gewöhnliche Dorfmädchen als vollkommene irdische Manifestation der göttlichen Mutter Kālī offenbart haben. Bereits zu Lebzeiten galt Sāradā Devī als ‚Heilige Mutter‘, als Rāmakrishnas letztgültiges Wort hinsichtlich des Ideals indischer Weiblichkeit. In Hymnen und Gebeten der Rāmakrishna-Bewegung wird sie einerseits als ideale Ehefrau und andererseits als Verkörperung sämtlicher Gottheiten, als universale Mutter und Erlöserin gepriesen. Sāradā Devī repräsentiert als (historisch kinderlose) ‚Heilige Mutter‘ das weibliche Hauptleitbild der Rāmakrishna-Bewegung. Im Zentrum des Frauenbildes steht die Definition der Frau als Manifestation der Shakti, zugespitzt auf die göttliche Mutter. 42 Vgl. Birgit Heller, Symbols of Emancipation? Images of God/dess, Devotees and Trans-sex/gender in Hindu Traditions, in: Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation, 5 (2017), 235– 257, 242f. DOI 10.14220/jrat.2017.3.2235. 43 Zum folgenden Abschnitt vgl. die detaillierten Ausführungen in: Birgit Heller, Heilige Mutter und Gottesbraut. Frauenemanzipation im modernen Hinduismus, Wien 1999. 44 Vertreter der Rāmakrishna-Bewegung haben etliche Biografien über Sāradā Devī veröffentlicht. Als Standardwerk gilt Swami Gambhirananda, Holy Mother. Sri Sarada Devi, Mylapore/Madras 19864. Die folgenden biografischen Angaben sind diesem Werk entnommen.

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Das Mutterideal ist durch absichtslose Liebe, grenzenlose Geduld, Vergebungsbereitschaft und uneigennützigen Dienst charakterisiert. Da Sāradā Devī in ihrem Leben die verschiedenen Frauenrollen Ehefrau, Mutter, Nonne und Guru vereint haben soll, gilt sie als komplexes Symbol für sämtliche weibliche Lebensentwürfe.45 In ihrer universalen, spirituell interpretierten Mütterlichkeit versöhnen sich die gegensätzlichen Pole von Ehefrau und Nonne. So ist Sāradā Devī einerseits das Modell der idealen Ehefrau, die sich völlig an ihrem göttlichen Ehemann orientiert und ihm gegenüber die Rollen der Dienerin, Schülerin, Gehilfin und asexuellen Mutter einnimmt. Andererseits stellt sie aber genauso das spirituelle Leitbild der sannyāsinīs, der Nonnen, des später nach ihr benannten Shri Sarada Math dar.46 Sie wird bis heute als Manifestation der Göttin Kālī, als die Person gewordene Offenbarung der göttlichen Mutter verehrt und inspiriert die religiöse Autonomie von Frauen, die sich auf ihre Nachfolge berufen, wenn sie den traditionell für Frauen verschlossenen Weg des sannyāsa, der Entsagung, wählen. Die Heilige Mutter Sāradā Devī ist ein komplexes Symbol der Muttergöttin. Sie ist die idealisierte, sexuell neutrale, gute Mutter; die vollkommene ,Heilige Mutter‘ – als Manifestation der göttlichen Mutter das Modell der idealen Frau und dennoch ein unerreichbares Ideal. Mit einem gereinigten Bild der Muttergöttin wurden die traditionellen Ambivalenzen der Weiblichkeitskonzeption auch auf der Symbolebene beseitigt. Die der Shakti zugewiesene kreative und befreiende Macht kommt zwar in Sāradā Devī zum Ausdruck, dennoch erscheint sie als kontrollierte Ehefrau und Mutter. Die ‚negativen‘ (unkontrollierbaren und schreckenerregenden) Aspekte der Shakti finden in der Gestalt der unendlich liebenden, selbstlos sich aufopfernden Mutter keinen Platz mehr. Dieses Weiblichkeitskonzept ist von männlichen Projektionen geprägt. In einer Untersuchung über Kindheit und Gesellschaft in Indien zeigt der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar, wie die universalen Motive der guten (nährenden) und schlechten (enttäuschenden beziehungsweise bedrohlichen) Mutter durch patriarchal geformte Mutter-Kind-Beziehungen kulturspezifisch geprägt werden.47 Im Fall der hinduistischen Gesellschaft ist das Mutterbild durch die intime, symbiotische Mutter-Sohn-Beziehung geprägt, die als ein typisches Produkt der indischen Familienstruktur gilt. Diese Beziehung begründet eine leidenschaftliche Mutterverehrung ebenso wie die Angst vor der bösen, sexuell missbrauchenden Mutter. Nach Ansicht von Kakar ist das Motiv der schlechten Mutter in Indien in einmaliger Intensität und Stärke ausgeprägt. Die Idealisierung der guten Mutter enthüllt die

45 Vgl. dazu Pravrajika Amalaprana, The Role of Women in Bridging the Gulf Between India’s Past and Future, in: Bulletin, 39 (1988), 158–163, 163. 46 Der Shri Sarada Math wurde 1954, dem Jahr des hundertjährigen Geburtsjubiläums von Sāradā Devī, als autonome Parallelorganisation zum Ramakrishna Math geschaffen. 47 Vgl. zum Folgenden Sudhir Kakar, Kindheit und Gesellschaft in Indien. Eine psychoanalytische Studie, Frankfurt a. M. 1988, 101–129.

Birgit Heller, Göttinnen und ihre Beziehungen zu Frauen

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Verdrängung der schlechten Mutter und erweist sich großteils als eine männliche Konstruktion.48 Sāradā Devī verkörpert innerhalb der Rāmakrishna-Bewegung den Widerspruch zwischen der Bestätigung der traditionellen patriarchalen Unterordnung von Frauen und der Ermöglichung weiblicher Emanzipation. Als Ehefrau muss sich die Frau nach dem Vorbild der ‚Heiligen Mutter‘ unterordnen; als sannyāsinī wird ihr Autonomie und spirituelle Autorität zugestanden. Mit dem spirituellen Konzept der ‚Heiligen Mutter‘ haben die Vertreter der Rāmakrishna-Bewegung das traditionelle hinduistische Frauenbild neu formuliert. Die Gefahr, die von der weiblichen Sexualität ausgeht und den Mann bei seiner spirituellen Entwicklung behindert, wird durch die Definition der Frau als Mutter gebannt. Indem der Begriff der Mutter spirituell interpretiert wird, werden weltliche und asketisch-spirituelle Frauen zunächst unter demselben Ideal vereint. Zweifellos steht aber die spirituelle Mutter über der biologischen Mutter, da sich das Ideal in ihr rein und universal ausdrückt. Die spirituelle Mutter ist völlig frei von sexuellem Makel. Emanzipatorische Kraft entfaltet Sāradā Devī für jene Frauen, die sich für ein spirituelles Leben entscheiden, nicht für weltliche Frauen. Eine ‚Heilige Mutter‘ kann die Frau dann werden, wenn sie sich zu absoluter sexueller Enthaltsamkeit verpflichtet. Sāradā Devī wird zwar als universales weibliches Vorbild gepriesen, für weltliche Ehefrauen bleibt sie aber ein unerreichbares Ideal, weil die Integration von Ehefrau und Nonne nicht imitierbar ist. Entsprechend der normativen Tradition des klassisch-brahmanischen Hinduismus soll sich zwar die Ehefrau nach dem Tod ihres Mannes einem asketisch-spirituellen Leben widmen. Auch Sāradā Devī ist erst als Witwe zu einer spirituellen Autorität geworden. Dennoch lässt sich ihr Status nicht mit dem einer normalen Witwe vergleichen. Das asketische Leben einer Hindu-Witwe ist dem Umstand geschuldet, dass sie ihren eigentlichen Lebenszweck, nämlich ihrem Ehemann zu dienen, verloren hat. An das Ideal der göttlichen Mutter, die schon zu Lebzeiten ihres Mannes asketisch gelebt hat, reicht sie keinesfalls heran. Aus der Identifikation von Frau und göttlicher Mutter ist in der Rāmakrishna-Bewegung ein Konzept entstanden, das Frauen in zwei Klassen spaltet und lediglich asketisch lebenden Frauen die Möglichkeit zur Emanzipation eröffnet.

48 Im Rahmen seiner umfangreichen Studie zum Kult der Göttin Pattini hat Gananath Obeyesekere Indien als „locus classicus of the mother goddess“ bezeichnet, vgl. ders., The Cult of the Goddess Pattini, Chicago 1984, 429. Obeyesekere arbeitet auch mit der Hypothese, dass die hinduistischen Göttinen-Bilder vor allem Projektionen der (männlich‐)kindlichen Erfahrung darstellen.

54 3.2

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Frauen als Manifestationen der Shakti im modernen politischen Aktivismus

Die Instrumentalisierung hinduistischer Göttinnen hat in den verschiedenen historischen Etappen des indischen Nationalismus eine lange Tradition. Bereits im 19. Jahrhundert, in der indischen Unabhängigkeitsbewegung, aber auch in rechtsreaktionären Organisationen der Gegenwart propagierten Hindu-Nationalisten das Bild der militanten Göttin als Modell der heroischen Frau, um Frauen zur Beteiligung zu mobilisieren.49 In der Ideologie des zeitgenössischen sogenannten ‚Hindutva-Feminismus‘ werden insbesondere Durgā oder Kālī zu Identifikationsfiguren für die militante Hindu-Nationalistin, die sich aggressiv gegen Nicht-Hindus aufrüstet. So bedient sich etwa die Frauenorganisation Durga Vahini (‚Durgās Armee‘) des Bildes der kriegerischen Göttin Durgā und betreibt Trainingscamps für Mädchen, um sie zum gewalttätigen Aktivismus für eine hinduistische Nation zu mobilisieren.50 Indische Feministinnen sind hinsichtlich der Bedeutung von Göttinnen für Frauen gespalten. Einerseits nehmen viele indische Frauen, die sich ab den 1970er Jahren in den vielfältigen Frauenbewegungen engagierten und immer noch engagieren, generell eine zurückweisende bis ambivalente Haltung gegenüber Religion ein.51 Mittlerweile findet zwar auch in feministischen Kreisen eine Auseinandersetzung mit Religion statt, dennoch werden gerade die Bezüge zwischen hinduistischen Göttinnen und Feminismus kritisch betrachtet und problematisiert.52 Andererseits führt der erste feministische Verlag Indiens, der in den 1980er Jahren gegründet wurde, den Namen ‚Kālī for Women‘ und etliche Frauenaktivistinnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen haben versucht, die Vorstellung der Shakti zu fördern, um ein feministisches Bewusstsein zu schaffen.53 Die indische Religionsphilosophin Lina Gupta hat vor etwa 30 Jahren begonnen, ihre religiösen Traditionen neu zu interpretieren.54 Anders als in Indien lebende Feministinnen, die eine stärkere Zurückhaltung bezüglich der Relevanz von Göttinnen für Frauen zeigen, betrachtet Gupta, die in den USA lebt, die hinduistischen Göttinnen als eine Quelle sozialer und spiritueller Befreiung von Frauen 49 Vgl. dazu die verschiedenen Beiträge in: Tanika Sarkar u. Urvashi Butalia (Hg.), Women and the Hindu Right. A Collection of Essays, New Delhi 1995; Rajeswari Sunder Rajan, Is the Hindu Goddess a Feminist?, in: Maitreyee Chaudhuri (Hg.), Feminism in India, New Delhi 2004, 318– 333, 323f., 328f. 50 Vgl. Ali Smears, Mobilizing Shakti. Hindu Goddesses and Campaigns Against Gender-Based Violence, ProQuest Dissertations Publishing 2019, 28–30. 51 Vgl. Gabriele Dietrich, Reflections on the Women’s Movement in India. Religion, Ecology, Development, New Delhi 1992, 14. 52 Vgl. etwa Sunder Rajan, Hindu Goddess, wie Anm. 49, 318–333. 53 Vgl. Kathleen M. Erndl, Is Shakti Empowering for Women? Reflections on Feminism and the Hindu Goddess, in: Alf Hiltebeitel u. Kathleen M. Erndl (Hg.), Is the Goddess a Feminist? The Politics of South Asian Goddesses, New Delhi 2002, 91–103. 54 Vgl. Lina Gupta, Kali, the Saviour, in: Paul Cooey, William R. Eakin u. Jay B. McDaniel, After Partiarchy. Feminist Transformations of the World Religions, Maryknoll, NY 1991, 15–38.

Birgit Heller, Göttinnen und ihre Beziehungen zu Frauen

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(und Männern). Besonders in der Göttin Kālī sieht sie ein postpatriarchales Modell jenseits von Mutter und Ehefrau. Die schreckenerregende Erscheinung der Göttin wird nicht durch die übergeordnete Deutung als universale Mutter gezähmt, sondern als Symbol für weibliche Grenzüberschreitung, Nonkonformität, Schöpfungsmacht und Rebellion gegen Unterdrückung interpretiert. Kālī wird auf diese Weise „the personified wrath of women in all cultures“ und ihr schreckenerregendes Geheul „a demand for equality“.55 Dieser moderne Re-Definitionsversuch eines hinduistischen Göttinnen-Bildes lässt erkennen, wie Frauen für den gesellschaftlichen Rollenwandel Unterstützung und Legitimation in der religiösen Tradition finden können. Im Anschluss an die brutale Gruppen-Vergewaltigung einer jungen Frau im Dezember 2012 in Delhi, die weltweit mediale Aufmerksamkeit erregt hat, starteten in Indien zwei digitale Kampagnen gegen Gewalt an Frauen. Die Kampagne mit dem Namen ‚Abused Goddesses‘ stellt die Göttinnen Lakshmī, Sarasvatī und Durgā als Opfer häuslicher Gewalt dar, die Kampagne mit der Bezeichnung ‚Priyas Shakti‘ lässt die junge Priya, die in ihrem Dorf sexuell belästigt wird, ihre eigene Shakti erkennen und identifiziert sie mit der Göttin Durgā. Eine differenzierte Analyse der Präsentationen weist allerdings darauf hin, dass damit normative und elitäre hinduistische Vorstellungen verstärkt werden.56 Frauen, die aus ethnischen und/oder religiösen Gründen nicht der hinduistischen Majorität angehören, werden ausgeschlossen, kasten- und klassenspezifische Besonderheiten werden marginalisiert.

4.

Abschließende Bemerkungen zur Multivalenz der Göttinnen-Symbolik

Der Reichtum weiblicher religiöser Symbolik in hinduistischen Traditionen ist attraktiv für Frauen, die nach Alternativen zu einem überwiegend männlich geprägten Gottesbild suchen. Die indischen Göttinnen, allen voran die Göttin Kālī, ziehen seit vielen Jahren das Interesse von spirituell interessierten Frauen in Nordamerika und Europa auf sich und werden als Quelle für ein Empowerment von Frauen betrachtet.57 55 Gupta, Kali, wie Anm. 54, 31. 56 Vgl. Ali Smears, Mobilizing Shakti. Hindu Goddesses and Campaigns Against Gender-Based Violence, in: Religions, 10, 6 (2019), 381, DOI:10.3390/rel10060381. 57 Mit einem Beitrag, der erstmals 1978 erschienen ist, dürfte die Religionswissenschaftlerin Rita Gross eine der ersten gewesen sein, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat, vgl. dies., Hindu Female Deities as a Resource for the Contemporary Rediscovery of the Goddess, in: Carl Olson (Hg.), The Book of the Goddess. Past and Present. An Introduction to Her Religion, New York 1990, 217–230. Obwohl sie die Tatsache ernst nimmt, dass das Göttinnen-Symbol den untergeordneten Status von Frauen unterstützt, betont auch Ursula King die große Herausforderung, die die Göttin als Idee, Symbol und religiöse Realität darstellt. Ihrer Meinung nach hält die reiche hinduistische Göttinnen-Symbolik bedeutende Quellen für zeitgenössische Frauen bereit, die nach Ganzheit, Bestätigung und Kraft suchen, vgl. dies., The Great Indian Goddess. A Source of

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Diese eindeutig wertschätzende Sicht wird weder in Ansätzen indischer Feministinnen noch generell in der akademischen Auseinandersetzung mit den indischen Göttinnen und ihrer Bedeutung für Frauen geteilt. In der Forschung gilt die Frage nach der Beziehung zwischen Göttinnen und Frauen in Indien als komplex und vielschichtig und führt zu widersprüchlichen Antworten.58 Ob indische Göttinnen als mythische Frauenmodelle eine Quelle der Inspiration und Ermächtigung sein können oder primär Produkte männlicher Fantasien und Ideen über Frauen darstellen und erwünschte weibliche Qualitäten verkörpern, ob sie eine hierarchische Geschlechterordnung sanktionieren oder weibliche Identität und Handlungsmacht stiften, hängt vom Kontext und der Interpretation der Göttinnen-Symbolik ab. Wie die Instrumentalisierung der Göttin im klassisch-brahmanischen Hinduismus sowie im hindu-nationalen rechten und im feministisch-linken Aktivismus im heutigen Indien zeigt, stehen oft handfeste machtpolitische Interessen im Vordergrund. So ist die GöttinnenSymbolik gleichermaßen offen für die Idealisierung, Diskriminierung und Unterdrückung, aber auch für die Identitätsstiftung und Ermächtigung von Frauen. Was jedoch feststeht, ist, dass die Göttin in Indien bis heute mächtig ist und viele Fragen provoziert, unabhängig davon, ob sie verehrt, kritisch betrachtet oder abgelehnt wird.

Empowerment for Women?, in: Elizabeth Puttick u. Peter B. Clarke, Women as Teachers and Disciples in Traditional and New Religions, London 1993, 25–38. Vgl. dazu auch Rachel Fell McDermott, The Western Kālī, in: John Stratton Hawley u. Donna M. Wulff (Hg.), Devi. The Goddesses of India, wie Anm. 27, 281–313. 58 Vgl. dazu Alf Hiltebeitel u. Kathleen M. Erndl (Hg.), Is the Goddess a Feminist?, wie Anm. 53. Dieser Sammelband diskutiert den Zusammenhang zwischen Göttinnen-Symbolik und Feminismus breit und zielt darauf ab, ganz verschiedene Positionen und Interessen in der akademischen Auseinandersetzung mit den indischen Göttinnen offenzulegen.

Almut Höfert und Anja Hänsch

Göttinnenzeiten. Die ‚Große Göttin‘ in Wissenschaft und religiösen Bewegungen

1.

Einleitung

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden im Rahmen neuheidnischer Religionen Wicca- und Hexenreligionen, in denen die ‚Große Göttin‘ – auch als Mutter-, Natur- und Erdgöttin bezeichnet – in verschiedenen Ausformungen verehrt wird.1 Diese Göttinnenbewegungen sind eng mit dem spirituellen Feminismus, der in den 1970er Jahren aufkam, verknüpft. Sie weisen ein zentrales Merkmal neuheidnischer Religionen auf: die Übernahme von bestimmten (häufig im Moment der Rezeption veralteten) akademischen Forschungserkenntnissen über eine vermeintliche (‚keltisch‘, ‚germanisch‘, ‚europäisch‘, aber auch ‚global‘ verortete) prähistorische Religion. Das Phänomen, dass Praktizierende neopaganer Religionen, die häufig aus der gebildeten Mittelschicht kommen,2 sich maßgeblich auf akademische Forschungstexte, von der Forschung bereitgestellte Quellen – wie etwa die hochmittelalterliche Edda – und Ausarbeitungen von Mythologien beziehen,3 thematisieren wir hier in Bezug auf die ‚Große Göttin‘. Das Konstrukt einer prähistorischen ‚Großen Göttin‘ entstand im Rahmen der Matriarchatsmodelle, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der akademischen Forschung entwickelt worden waren. Diese (von der Archäologie und anderen Disziplinen inzwischen widerlegten)4 Matriarchatsmodelle spielten im Feminismus 1 Für scharfsinnige und konstruktive Kritik danken wir herzlich den beiden Gutachter*innen, Caroline Arni, Tilman Hannemann sowie Xenia von Tippelskirch. Vonseiten der Autorin Anja Hänsch verdankt dieser Artikel seine Entstehung dem Dorothea-Schlözer-Stipendienprogramm der GeorgAugust-Universität Göttingen zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft. 2 Vgl. Victoria Hegner, Hexen in der Großstadt. Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin, Bielefeld 2019, 167. 3 Der Religionswissenschaftler Burkhard Gladigow bezeichnet dieses Phänomen als Nativismus. Vgl. Burkhard Gladigow, Religion in der Kultur – Kultur in der Religion, in: Friedrich Jaeger u. a. (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, Stuttgart 2004, 21–33, 28. Wir danken für diesen Hinweis Tilman Hannemann. 4 Vgl. Brigitte Röder, Juliane Hummel u. Brigitta Kunz (Hg.), Göttinnendämmerung. Das Matriarchat aus archäologischer Sicht, München 1996; Brigitte Röder, „Illusionäre Vergangenheitsaneig-

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generell eine Rolle, wobei der spirituelle Feminismus ein besonderes Augenmerk auf die ‚Große Göttin‘ richtete. Zu den Forschenden, die dabei rezipiert wurden, gehörten unter anderem Johann Jakob Bachofen, Jane Harrison, Robert Graves, Raphael Patai und insbesondere Marija Gimbutas.5 Die Arbeiten von Elizabeth Could Davis („The First Sex“, 1971), Mary Daly („Beyond God the Father. Toward a Philosophy of Women’s Liberation“, 1973), Merlin Stone („When God Was a Woman“, 1976), Marilyn French („Beyond Power. On Women, Men and Moral“, 1985), Riane Eisler, („The Chalice and the Blade“, 1987) sowie Monica Sjöö und Barbara Mor („The Great Cosmic Mother, Rediscovering the Religion of Earth“, 1987) erläuterten das, was Carol P. Christ 1978 für spirituelle Feministinnen so treffend auf den Punkt brachte: „Why Women Need the Goddess.“6 Die Matriarchatstheorien und Göttinnenbewegungen sind inzwischen gut erforscht. Wir möchten hier in einem großen Bogen vom 19. bis ins 21. Jahrhundert das faszinierende Verhältnis zwischen Wissenschaft und religiösen Bewegungen in Bezug auf die ‚Große Göttin‘ in den Blick nehmen. Dabei geht es um die Genese akademischer Diskurse, ihre Einbettung in die Göttinnenreligion und das sich daraus ergebene Spannungsverhältnis zwischen akademischer Forschung und religiösen Konzepten. Anhand von Entwicklungen in Großbritannien, den USA und dem deutschsprachigen Raum gehen wir chronologisch in drei Schritten vor: (1) die Matriarchatstheorien ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, (2) die Entwicklung des Konzepts einer (prähistorischen) ‚Großen Göttin‘ in Forschungen des 20. Jahrhunderts (hier anhand der Arbeiten von Jane Harrison, Robert Graves, Raphael Patai und Marija Gimbutas betrachtet) und (3) dessen Rezeption und Transformation in den Wicca- und Hexenreligionen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ab den 1970er Jahren nung“ kontra „patriarchale Verblendung“: Matriarchatsforschung und Archäologie in Deutschland, in: Archäologische Informationen, 21, 2 (1998), 299–313; Lucy Goodison u. Christine Morris, Goddesses in Prehistory, in: Diane Bolger (Hg.), A Companion to Gender Prehistory, Malden/ Oxford 2013, 265–287; Julia Koch, Katharina Jacob u. Jutta Leskovar (Hg.), Prähistorische und antike Göttinnen. Befunde, Interpretationen, Rezeptionen, Münster 2020. 5 Vgl. dazu die beiden folgenden Überblicke über spirituellen Feminismus und Göttinnenreligiosität, die – obgleich beide Autorinnen in ihrem Titel irreführend von der „Rückkehr der Göttin“ in ihrer Überschrift reden – instruktiv sind: Rosemary Radford Ruether, Goddesses and the Divine Feminine, Berkeley 2005, 274–298; Carole Cusak, The Return of the Goddess: Mythology, Witchcraft and Feminist Spirituality, in: Murphy Piazza u. James Lewis (Hg.), Handbook of Contemporary Paganism, Leiden 2009, 335–362. Vgl. auch Cynthia Eller, Relativizing the Patriarchy: The Sacred History of the Feminist Spirituality Movement, in: History of Religions, 30, 3 (1991), 279–295; dies., Living in the Lap of Goddess. The Feminist Spirituality Movement in America, New York 1993; Ronald Hutton, The Triumph of the Moon. A History of Modern Pagan Witchcraft, Oxford 1999; Meret Fehlmann, Ancient Goddesses for Modern Times or New Goddesses from Ancient Times?, in: International Journal for the Study of New Religions, 8, 2 (2018), 155–181; Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 41–90. 6 Carol Christ, Why Women Need the Goddess, in: Heresies. A Feminist Publication on Art and Politics, 2, 1 (1978), 8–13. Zu Carol Christ vgl. bspw. Fehlmann, Ancient Goddesses, wie Anm. 5, 167–174.

Almut Höfert und Anja Hänsch, Göttinnenzeiten

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entscheidend vom feministischen Kontext geprägt wurden. Dabei möchten wir zwei Aspekte herausarbeiten. Erstens lassen sich Matriarchats- und Göttinnenkonstrukte als erstaunlich scharfe Linse nutzen, um Wandel und Potenziale der Geschlechterordnungen und -konzepte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert zu betrachten. Zweitens beziehen wir uns auf den Begriff der ‚Retrotopia‘, den Zygmunt Bauman in Abwandlung des Utopia-Begriffes geprägt hat. Bauman ging, gestützt auf die Arbeiten der Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym zum Konzept der nostalgia, davon aus, dass durch den Verlust des Fortschrittglaubens an eine bessere Zukunft und der scheinbaren Unendlichkeit beliebiger Optionen in unseren gegenwärtigen Gesellschaften Retrotopien, Hinwendungen zu einer heilen Vergangenheit, entstehen: „[…] ‚retrotopias‘ are currently emerging: visions located in the lost/stolen/abandoned but undead past, instead of being tied to the not-yet-unborn and so inexistent future.“7 Wir möchten im Laufe dieses Abrisses also auch der Frage nachgehen, wann solche Retrotopien in Matriarchatstheorien und Göttinnenmodellen auftraten und wann sie bezeichnenderweise nicht vorhanden waren oder wieder in den Hintergrund gerieten. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive ist es schwierig, Bewegungen und Gruppen, die die ‚Große Göttin‘ verehren, terminologisch und analytisch zu erfassen. Zudem ist das Verhältnis zur christlichen feministischen Theologie fließend. Ob diese sich stetig wandelnden Kulte als Spiritualität oder Religion eingestuft werden sollen, wird (auch im Spannungsfeld zwischen emischen und etischen Kategorien) diskutiert. Dabei sind Begriffe wie „neue religiöse Bewegungen“, „populäre“ oder „fluide Religion“ in Gebrauch.8 Wir verwenden hier als etische Kategorien hauptsächlich den Begriff ‚Religion‘ (Wicca-/Hexen-/Göttinnenreligion9) beziehungsweise ‚religiöse Bewegung‘ (Göttinnenbewegung), benutzen aber auch die etablierte Bezeichnung ‚spiritueller Feminismus‘.

2.

Die Entstehung der Matriarchatstheorien im 19. Jahrhundert

Als Charles Darwin 1859 sein berühmtes Buch „Über die Entstehung der Arten“ als einen Meilenstein der modernen Evolutionstheorie veröffentlichte, wurde die biblische Schöpfungsgeschichte vom Paradigma der Abstammung des Menschen vom Tier er7 Zygmunt Bauman, Retrotopia, Cambridge 2017, 5. 8 Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2009; Dorothea Lüddeckens u. Rafael Walthert (Hg.), Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen, Bielefeld 2010. In Bezug auf die Göttinnenreligionen vgl. Anna Fedele u. Kim Knibbe, Introduction: Gender and Power in Contemporary Spirituality, in: dies. (Hg.), Gender and Power in Contemporary Spirituality. Ethnographic Approaches, New York/London 2013, 1–30 sowie Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 11–17. 9 Göttinnenreligion und -bewegung werden hier ausschließlich auf Religionen im Kontext des spirituellen Feminismus und neopaganer Bewegungen bezogen. Vgl. zu anderen Göttinnenreligionen den Beitrag von Birgit Heller in diesem Heft.

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setzt. Der Gelehrte Ernst Haeckel betonte 1868, wie weitreichend die Folgen dieses Umbruchs waren: „Offenbar ist die Tragweite dieser Folgerung ganz unermeßlich, und k e i n e Wissenschaft wird sich den Konsequenzen derselben entziehen können. Die Anthropologie oder die Wissenschaft vom Menschen wird in allen einzelnen Zweigen dadurch von Grund an umgestaltet.“10 Archäologische Funde der vorangegangenen 50 Jahre, so bemerkte der britische Geologe Charles Lyell, hätten den Verdacht nahegelegt, dass „die Datierung des Menschen sehr viel früher vorzunehmen ist, als wir bisher gedacht hatten“.11 In der Tat: Die anhand der Bibel in der Antike und im Mittelalter vorgenommenen Datierungen des Welterschaffungsjahres hatten die vorchristliche Zeit auf vier bis sechs Jahrtausende bemessen. Nun wurde der Ursprung des Menschen – als Zeitgenosse von Mammut, Höhlenbär und Wollnashorn – in der sehr viel längeren „paläolithischen“ Zeit, so der Neologismus des Archäologen John Lubbock, verortet.12 Der Forschung eröffnete sich damit ein riesiger tempus incognitus. Die US-amerikanische Religionswissenschaftlerin Cynthia Eller ist der Frage nachgegangen, wie dieser Zeitraum von den Anthropologen des 19. Jahrhunderts in der formativen Phase ihrer Disziplin konzipiert wurde.13 Als Material dienten den Anthropologen archäologische Funde, aber vor allem auch ethnografische Berichte über zeitgenössische ‚Wilde‘ und Gebräuche der heimischen Landbevölkerung, die ebenfalls als Spuren archaischer Zeiten gewertet und herangezogen wurden.14 Dabei wurde das universale Evolutionsmuster menschlicher Kulturentwicklung aus dem 18. Jahrhundert angewendet, wobei grundsätzlich drei Stadien kultureller Entwicklungsstufen – (1) wild, (2) barbarisch und (3) zivilisiert postuliert wurden.15 Dieses teleologische Fortschrittsnarrativ bot grundsätzlich keine Projektionsfläche für Retrotopien. Die Themen, anhand derer die kulturellen Entwicklungsstufen beschrieben wurden, variierten – Totemismus, Mythologien, die Entwicklung 10 Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin 1868, 6. 11 Charles Lyell, The Geological Evidence of the Antiquity of Man, London 1863, 1. 12 John Lubbock, Pre-historic Times, as Illustrated by Ancient Remains, and the Manners and Customs of Modern Savages, London 1865, 2. 13 Vgl. Cynthia Eller, Sons of the Mother. Victorian Anthropologists and the Myth of Matriarchal Prehistory, in: Gender & History, 18, 2 (2006), 285–310. Die Geschichte der Matriarchatstheorien ist insgesamt schon gut aufgearbeitet worden, vgl. bspw. Beate Wagner-Hasel, Das Matriarchat und die Krise der Modernität, in: Feministische Studien, 1 (1991), 80–95; dies. (Hg.), Matriarchatstheorien der Altertumswissenschaft, Darmstadt 1992; dies., Artikel Matriarchat, in: Der Neue Pauly, Bd. 15/1, Stuttgart 2006, Sp. 321–329; Cynthia Eller, The Myth of Matriarchal Prehistory. Why an Invented Past Won’t Give Women a Future, Boston 2000; dies., Gentlemen and Amazons. The Myth of Matriarchal Prehistory, 1861–1900, Berkeley 2011. 14 Vgl. dazu auch Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object, New York 2014 (19831). 15 Die Kontinuität zum 18. Jahrhundert, in dem die jeweilige Stellung der Frau als Indikator für kulturelle Entwicklung eine entscheidende Rolle spielte (vgl. Silvia Sebastiani, The Scottish Enlightenment. Race, Gender and the Limits of Progress, Basingstoke 2013, 133–162), wird bei Eller allerdings nicht thematisiert.

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des Privateigentums. Aber ein Bereich, so Eller, nahm stets eine zentrale Stellung ein: die Frage nach der Stellung von Frauen, Ehe- und Verwandtschaftsformen. Die viktorianischen Gelehrten gingen davon aus, dass ihre wilden Vorväter unter gänzlich anderen Bedingungen als sie selbst gelebt hatten. Gleichzeitig waren sie der zeitgenössischen Geschlechterordnung verpflichtet: Während in der Vormoderne das körperliche Geschlecht als „Zuschreibungsmerkmal“ das Frau- und Mannsein neben Standes- und Religionsunterschieden lediglich mitgeprägt hatte, war in der Moderne das biologische Geschlecht zur „Kernkomponente der Identität“ aufgerückt.16 In dieser radikalen, naturalisierten Geschlechterbinarität galten Frauen „bis auf Nerven-, Blutund Muskelbildung“ als gänzlich verschieden vom Mann.17 Die biologisch in die Frauenkörper eingeschriebene weibliche Eigentümlichkeit beschränkte Frauen über alle Zeiten hinweg strikt auf die Bereiche Sexualität, Haus und Familie. Die Anthropologen entwarfen die exotische Alterität der Prähistorie in genau diesen Bereichen. Die Elemente dieses „Victorian wet dream“18 bestanden aus sexueller Promiskuität, Gruppenheirat, Polyandrie, Besuchsehe, Brautraub, Couvade (Männerkindbett), dem vermeintlichen Unwissen über biologische Vaterschaft und Matrilinearität. Die Anordnung dieser Themen zu einer chronologischen universalen Entwicklung variierte. Der Anthropologe John Ferguson McLennan postulierte beispielsweise als erste und unterste Stufe die „primitive Horde“ mit sexueller Promiskuität der nackten Wilden mit Frauen als Gemeinbesitz, die in eine matrilineare Gesellschaftsordnung mit unterschiedlichen Eheformen überging, bis dieser Gynaikokratie schließlich mit monogamer Ehe, gesicherter Vaterschaft und weiblicher Keuschheit das Stadium von Sesshaftigkeit und Privateigentum folgte.19 Auch wenn die verschiedenen Zeitabschnitte jeweils unterschiedlich entworfen wurden, hatten sie alle das Postulat einer – jeweils unterschiedlich gedachten – matriarchalen Vorgeschichte gemein. Eller sieht in diesem gemeinsamen Postulat eines Matriarchats geradezu das Schlüsselthema für die Formierung der modernen Anthropologie. Die männlichen Anthropologen waren dabei mehrheitlich Liberale mit grundsätzlichen Sympathien für die Frauenfrage, aber strikt gegen einen revolutionären Umbruch der Geschlechterordnung. Angesichts der zunehmenden Zahl ethnografischer Berichte und Feldforschungen ließ sich die Matriarchatsthese im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht halten; zudem beförderten die kolonialen Interessen eine funktionalistische Sichtweise, die das universale Evoluti16 Claudia Ulbrich, Artikel Geschlecht, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart 2006. 17 So der Volkskundler Wilhelm Riehl, Die Familie, Stuttgart 1861, 4f. Zur Konzipierung der modernen biologischen Geschlechterbinarität vgl. Ute Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann.“ Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1999; Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib (1750–1850), Frankfurt a. M./New York 1991. 18 Robert Fraser, Anthropology as Consolation. The Strange Case of Motherkin, in: ders. (Hg.), Sir James Frazer and the Literary Imagination, New York 1991, 101–120, 104, zit. nach: Eller, Sons of the Mother, wie Anm. 13, 287. 19 Vgl. Eller, Sons of the Mother, wie Anm. 13, 288–291.

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onsschema in der Anthropologie allmählich ablöste und stattdessen die kulturelle Differenz der kolonisierten Gesellschaften mit unveränderlichem Status quo festschrieb.20 Das Konzept einer ‚Großen Göttin‘ kann zum ersten Mal bei Eduard Gerhard (1795–1867) nachgewiesen werden,21 der die deutsche Archäologie als eigenständiges Fach etablierte.22 1849 vertrat Gerhard auf einem Vortrag in der Berliner Akademie der Wissenschaften die Auffassung, dass es in der Vorgeschichte Griechenlands, der sogenannten Pelasgischen Zeit, eine „unnennbare und unsichtbare mütterliche Urgottheit“ gegeben habe.23 Diese Urgöttin habe sich später den Göttergestalten des Polytheismus angenähert und mit ihnen vermischt, wobei die Mittelglieder zwischen dieser bildlosen pelasgischen Urgöttin, dem „weiblich gedachten Urwesen“,24 einerseits und den griechischen Gottheiten Homers und Hesiods andererseits zwar noch nicht nachgewiesen, aber angesichts der sichtbaren Spuren der Urgöttin bereits postuliert werden könnten. Es ist ein integraler Bestandteil von Gerhards Muttergöttin, dass diese von vornherein an ein Evolutionsschema, das zum voll entwickelten griechischen Pantheon unter Zeus führt, gebunden ist.25 Auch in dieser höheren Zivilisationsstufe seien die Spuren der Urgöttin deutlich erkennbar. Für eine ganze Reihe antiker Göttinnen – darunter Dia-Dione, Themis und Artemis, Demeter und Kore, Aphrodite und Hestia, Hera und Athene – stellte Gerhard die Behauptung auf, „dass wir in allen diesen Göttinnen nur wechselnde Namen und Auffassungen einer und derselben hellenisirten [sic] Gäa gleichgeltenden Erd- und Schöpfungsgöttin zu erkennen haben […]“.26 Gerhards These, Darstellungen weiblicher Gottheiten (oder auch nur weibliche Figurinen) als Manifestationen einer einzigen ‚Großen Göttin‘ anzusehen, eröffnete die Möglichkeit, eine Vielfalt an archäologischen Funden und Schriftquellen als Nachweis für die vielgestaltige ‚Eine Göttin‘ anzusehen. Diese sollte sich in der weiteren archäologischen und feministischen Geschichte der ‚Großen Göttin‘ als probates Mittel erweisen, um die ‚Große Göttin‘ dort zu finden, wo nach ihr gesucht wurde. Das herausragende Merkmal der Göttin-Göttinnen Gerhards war die Mutterschaft, die sich mit anderen Aspekten verband: Hera, Artemis, Aphrodite, Kora und Demeter sind – in jeweils unterschiedlicher Hinsicht – „Mutter und Jungfrau zugleich“.27 20 Vgl. Eller, Sons of the Mother, wie Anm. 13. 21 Vgl. Ronald Hutton, The Neolithic great goddess: a study in modern tradition, in: Antiquity, 71 (1997), 91–99, 91f. 22 Vgl. Veit Stürmer u. Eduard Gerhard, in: Annette M. Baertschi u. Colin G. King (Hg.), Die modernen Väter der Antike, Berlin 2009, 145–164. 23 Eduard Gerhard, Über das Metroon zu Athen und über die Göttermutter der griechischen Mythologie, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1849, Berlin 1851, 459–490, 468. 24 Gerhard, Über das Metroon, wie Anm. 23, 469. 25 Vgl. Gerhard, Über das Metroon, wie Anm. 23, 469f. 26 Gerhard, Über das Metroon, wie Anm. 23, 463. 27 Gerhard, Über das Metroon, wie Anm. 23, 481, Anm. 52.

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Eduard Gerhard hat mit dem Basler Gelehrten Johann Jakob Bachofen (1815– 1887), dem heute berühmtesten aller Matriarchatstheoretiker, korrespondiert und über Bachofens Arbeit am Mutterrecht diskutiert.28 Bachofen verfasste sein 1861 erschienenes umfangreiches Buch „Das Mutterrecht“ gänzlich unabhängig von den britischen Anthropologen. Er stammte aus dem alten Basler Patriziat und verzichtete mit 28 Jahren nach Anfeindungen auf seine Basler Professur für Römisches Recht, die er drei Jahre zuvor – nach Ansicht seiner Gegner nur aufgrund seiner patrizischen Herkunft – erhalten hatte.29 „Das Mutterrecht“ ist von Bachofens entschieden konservativer Haltung und Modernitätskritik geprägt.30 Bachofen verspottete die Prinzipien akribischer Quellenkritik, die zeitgenössische Historiker wie Theodor Mommsen hochhielten und hielt die intuitive Interpretation für das probate Mittel, um die „mythische Überlieferung“ zu erschließen, die als „Lebensgesetz“ die „geschichtliche Entwicklung der alten Welt“ prägte.31 Bachofen entwickelte sein Modell des Matriarchats in weitschweifigen, alle Varianten erkundenden Explorationen der „mythologischen Wahrheit“, die er in einer langen Einleitung auf den Punkt zu bringen versuchte. Das Matriarchat umfasste bei ihm drei Stufen mutterrechtlicher/gynaikokratischer Gesellschaftsformen: (1) den Hetärismus mit Promiskuität, die ‚das Weib‘ trotz seiner religiösen Vorrangstellung schutzlos den Begierden des Mannes auslieferte, (2) das Amazonentum, in dem sich die Frauen gegen die Männer kriegerisch zur Wehr setzten und die Regierung übernahmen, aber schließlich diese der weiblichen Natur zuwiderlaufende Gesellschaftsform aufgaben, um sich (3) im demetrischen Muttertum an den ehelichen Herd zu begeben und das Kämpfen den Männern zu überlassen. Für Bachofen gab es „nur einen einzigen mächtigen Hebel aller Civilisation, die Religion […]“.32 Diese in sämtlichen menschlichen Kulturstufen herausragende Bedeutung der Religion sei für die Gynaikokratie besonders wichtig, da die Frauen als das moralisch überlegene Geschlecht eine besonders enge Verbindung zur Religion haben: „[…] dafür birgt die innere Anlage der weiblichen Natur, jenes tiefe, ahnungsreiche Gottesbewusstsein, das, mit dem Gefühl der Liebe sich verschmelzend, der Frau, zumal der Mutter eine in den wildesten Zeiten am mächtigsten wirkende religiöse Weihe leiht. Die Erhebung des Weibes über den Mann erregt dadurch vorzüglich unser Staunen, dass sie dem physischen Kraftverhältnis der Geschlechter widerspricht. […] Die innige Verbindung der Gynaikokratie 28 Vgl. den Brief von Johann Jakob Bachofen an Eduard Gerhard vom 5. Juli 1859, Deutsches Archäologisches Institut, Abteilung Zentrale, Archiv D-DAI-Z-AdZ-NL-GerE-BacJ-GerE-001. Vgl. auch Johann Jakob Bachofens gesammelte Werke, Bd. 5: Archäologische Schriften, Basel 2020, 301–310. 29 Vgl. Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der Alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur (Gesammelte Werke hg. von Karl Meuli, Bd. II und III), Basel 1948 [im Folgenden zitiert als GW], Bd. III: Nachwort von Karl Meuli, 1037. 30 Vgl. Wagner-Hasel, Matriarchat und Krise, wie Anm. 13. 31 Zit. nach: Wagner-Hasel, Matriarchat und Krise, wie Anm. 13, 82. 32 Bachofen, Mutterrecht, wie Anm. 29, GW II, 26 (= Stuttgart 18611, XIII).

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mit dem Religions-Charakter des Weibes offenbart sich in vielen einzelnen Erscheinungen. […] Zurückgeführt auf Demeters Vorbild wird die irdische Mutter zugleich der tellurischen [= erdlichen] Urmutter sterbliche Stellvertreterin, ihre Priesterin und als Hierophantin mit der Verwaltung ihres Mysteriums betraut. […] Wo immer die Gynaikokratie uns begegnet, verbindet sich mit ihr das Mysterium der chthonischen [= erdlichen] Religion, mag diese an Demeters Namen sich anknüpfen, oder dem Mutterthum in einer andern gleichgeltenden Gottheit Verkörperung leihen.“33

Bachofen verwendet wie Gerhard das Konzept einer sich in vielen Göttinnen manifestierenden erdlichen Muttergöttin. Dieses Konzept ist bei Bachofen jedoch sekundär und nur eine Manifestation des obersten, zentralen „Lebensgesetzes“: des Gegensatzes von weiblich-stofflichem und männlich-geistigem Prinzip. In diesem Gegensatz der Prinzipien, nicht in der Gegenüberstellung von Göttinnen und Göttern, ist Bachofens grundsätzlich radikale Geschlechterbinarität verortet, die an bestimmten Punkten durchaus Raum für androgyne Figuren lässt. So ist beispielsweise die Erde „Träger des Mutterthums“,34 die Sonne vertritt das appollinische Vaterprinzip. In der Mitte zwischen beiden steht jedoch „der Mond, diese ἑτέρα γῆ οὐρανία [ebenso Erde wie Himmel] ist androgyn, Luna und Lunus zugleich“.35 Es sind vorrangig – aber nicht nur – Göttinnen, die im Matriarchat verehrt werden. So zeichnet sich bei einigen Völkern, die Bachofen behandelt, die hetärische Phase durch die Verehrung Aphrodites aus, während in der dritten Phase Demeter immer wieder eine sichtbare Rolle spielt. In der zweiten Phase des Amazonentums steht hingegen die „dionysische Religion“ im Zentrum, der sich die Amazonen nach erstem heftigem Widerstand so hemmungslos, wie es nun mal dem weiblichen Hang zur Maßlosigkeit entspricht, hingeben: „Unversöhnlicher Gegner der naturwidrigen Entartung, welcher das weibliche Dasein [in der kriegerischen Amazonenphase] anheimgefallen war, knüpft er [Dionysos] seine Versöhnung, sein Wohlwollen überall an die Erfüllung des Ehegesetzes, an die Rückkehr zu der Mutterbestimmung der Frau und an die Anerkennung der überragenden Herrlichkeit seiner eigenen männlich-phallischen Natur. […] Dionysos ist im vollsten Sinne des Worts der Frauen Gott, die Quelle aller ihrer sinnlichen und übersinnlichen Hoffnungen […].“36

Nach der „anfänglichen Reinheit“ der dionysischen Religion, die die Frauen zurück in die Ehe brachte, erlebte diese eine amazonisch-erotische „Ausartung“,37 so dass es zu einer „Rückkehr des weiblichen Daseins zu der vollen Natürlichkeit des Aphroditismus“ kam, die zur Entwürdigung und Entmännlichung der Männer führte.38 Damit verbunden war der Niedergang der staatlichen Ordnung hin zur stofflichen Demo-

33 34 35 36 37 38

Bachofen, Mutterrecht, wie Anm. 29, GW II, 26–29 (18611, XIII–XV). Bachofen, Mutterrecht, wie Anm. 29, GW II, 58 (18611, XXIX). Bachofen, Mutterrecht, wie Anm. 29, GW II, 130 (18611, 22). Bachofen, Mutterrecht, wie Anm. 29, GW II; ebd., 44f. (18611, XXIIf.). Bachofen, Mutterrecht, wie Anm. 29, GW II, 584 (18611, § 108). Bachofen, Mutterrecht, wie Anm. 29, GW II, 44 (18611, XII).

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kratie der „ununterschiedenen Masse“.39 Wie Ulrike Brunotte bemerkt, ist Bachofens „Mutterrecht“ von scheiternden Heroen und Geschlechterkrisen durchzogen, die insbesondere in den liminalen Übergängen zwischen einzelnen Entwicklungsstufen von einer bedrohten bürgerlichen Männlichkeit (sowie der patrizischen Ständeordnung) im 19. Jahrhundert zeugen.40 „Das Mutterrecht“ stieß mit Bachofens intuitiver Erschließung von Symbolik und Mythos in deutschen Fachkreisen größtenteils auf heftige Kritik; auch seine sprachwissenschaftliche Vorgehensweise wurde als unhaltbar zurückgewiesen.41 Die angloamerikanischen Anthropologen, die das Matriarchatsmodell vertraten, zitierten sein Werk, ohne es zu lesen.42 Friedrich Engels kritisierte 1884 in seiner Arbeit über den „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ Bachofens Primat der Religion und richtete sein Matriarchatsmodell an den Forschungen des US-amerikanischen Ethnologen Lewis Morgan aus.43 Auch August Bebel vertrat das Konzept eines matriarchal geprägten vorgeschichtlichen Urkommunismus.44 Deutschsprachige konservative, völkisch-nationale Kreise beriefen sich hingegen auf Bachofens „Mutterrecht“, um Blut- und Bodentopoi in einem misogynen und antisemitischen Antimodernismus zu verweben.45

3.

Die Göttin in akademischen Diskursen des 20. Jahrhunderts

Das Konstrukt einer (prähistorischen) ‚Großen Göttin‘ blieb im 20. Jahrhundert mit den Matriarchatstheorien verknüpft, nahm jedoch eigenständige Konturen an. Der schottische Anthropologe James George Frazer (1854–1941) fasste das universale Evolutionsmuster in die drei Stufen Magie – Religion – Wissenschaft. Der Übergang 39 Bachofen, Mutterrecht, wie Anm. 29, GW II, 44 (18611, XV). 40 Vgl. Ulrike Brunotte, „Große Mutter“, Gräber und Suffrage. Die Feminisierung der Religion(swissenschaft) bei J. J. Bachofen und Jane E. Harrison, in: dies. u. Rainer Herrn (Hg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2007, 219– 240, 222f. 41 Immer noch herrlich zu lesen ist die Parodie über Bachofens „Mutterrecht“, die Wilhelm Wackernagel, der seit 1835 in Basel eine Professur für Germanistik hatte, 1865 publizierte: Wilhelm Wackernagel, Das Hündchen von Bretzwil und von Bretten. Ein Versuch in der Mythenforschung, in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1, Leipzig 1872, 423–434. Vgl. dazu auch Meuli, Nachwort zum Mutterrecht, wie Anm. 29, 1097ff., zu Wackernagel 1101. 42 Vgl. Cynthia Eller, Matriarchy and the Volk, in: Journal of the American Academy of Religion, 81 (2013), 188–221, 192. 43 Vgl. Eller, Matriarchy and the Volk, wie Anm, 42, 192; Lewis Morgan, Ancient Society, London 1878. 44 Vgl. Wagner-Hasel, Artikel Matriarchat, wie Anm. 13. 45 Vgl. Eller, Matriarchy and the Volk, wie Anm. 42. Vgl. zur (auch späteren) Geschichte der Matriarchatstheorien auch Meret Fehlmann, Die Rede vom Matriarchat. Zur Gebrauchsgeschichte eines Arguments, Zürich 2011.

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vom magischen zum religiösen Zeitalter wurde durch die mystische Vereinigung des Sonnengottes mit der Erdgöttin eingeleitet.46 Mit der britischen Altertumsforscherin Jane Harrison (1850–1928), der ersten an der Universität Cambridge ernannten Professorin, wurde die vorgeschichtliche Göttin zum ersten Mal von einer weiblichen Gelehrten bearbeitet.47 Harrison stellte als Vertreterin der Myth-and-Ritual-School in Cambridge die Rituale als Zugang zur griechischen Religion ins Zentrum: „What a people does in relation to its gods must always be one clue, and perhaps the safest, to what it thinks.“48 Harrison rekonstruierte unter der Oberfläche der den olympischen Gottheiten gewidmeten Rituale eine ältere chthonische Ritualschicht, die Zeugnis von einer matriarchalen Zeit ablegte. In dieser Zeit hätten die Geister und Dämonen der Frühzeit sich mehr und mehr zu anthropomorphen Gottheiten entwickelt, darunter auch zur erdverbundenen Muttergöttin als zweigestaltiger Mother and Maid (Demeter und Kore), in deren Darstellungen sich Frauen spiegelten, die das Land bestellten.49 Der Schwerpunkt von Harrison lag in ihrer anhand der griechischen Vor- und Frühzeit entwickelten Kulturtheorie indes nicht auf der Muttergöttin, sondern auf liminalen Dämonen.50 Harrison schloss sich zwar grundsätzlich dem Evolutionsmodell mit einer vorgeschichtlichen matriarchalen Phase an und übernahm auch das Konzept einer Erdgöttin. Durch ihren völlig anderen Zugang mit dem Blick auf rituelle Praktiken entfernte sie sich jedoch weit von Bachofens radikalem Essentialismus der Wesensverwandtschaft von Frauen und Muttergöttin. Harrison nahm ihre Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Repräsentationsstrategien zum Anlass, sich an der Bewegung der Suffragetten zu beteiligen, deren symbolträchtige Aktionen und Streben nach Wissen zur Veränderung politischer und kultureller Machtverhältnisse ihre eigene Expertise ansprach. Militanter Aktivismus beruhte für Harrison „auf der gleichen Einheit von Wissen, Fühlen und Handeln, die auch das antike Ritual auszeichnete“.51 Der Suffragettenbewegung, so Harrison, gehe es nicht um geschlechtsspezifische Privilegien, sondern darum, dass Frauen wie Männer genügend Raum und Freiheit haben sollten „for a thing bigger than either manhood or womanhood – for humanity“.52 46 Vgl. James George Frazer, The Golden Bough. A Study in Comparative Religion, 2 Bde., New York/London 1890 (revidierte Auflagen 1900: 3 Bde.; 1906–1915: 12 Bde.). 47 Vgl. Annabel Robinson, The Life and Work of Jane Ellen Harrison, Oxford 2002; Ulrike Brunotte, Dämonen des Wissens. Gender, Performativität und materielle Kultur im Werk von Jane Ellen Harrison, Würzburg 2013; Fehlmann, Ancient Goddesses, wie Anm. 5, 158–160. 48 Jane Harrison, Prolegomena to the Study of Greek Religion, Cambridge 19082 (19031), vi. 49 Vgl. Andrew Radford, Hardy’s Tess, Jane Harrison and the Twilight of a Goddess, in: The Thomas Hardy Journal, 21 (2005), 27–57. 50 Brunotte, Große Mutter, wie Anm. 40, 228. 51 Edward Comentale, Thesmophoria: Suffragettes, Sympathetic Magic, and H. D.’s Ritual Poetics, in: Modernism/modernity, 8, 3 (2001), 471–492, 483, zit. nach: Brunotte, Große Mutter, wie Anm. 40, 231f. 52 Jane Harrison, Alpha and Omega, London 1915, 85.

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Für die Geschichte der Konfigurationen der ‚Großen Göttin‘ war das 1948 erschienene Buch von Robert Graves „The White Goddess. A Historical Grammar of Poetic Myth“ von großer Bedeutung.53 Zusammen mit den späteren Arbeiten von Marija Gimbutas bildete es den Kern der Göttinnenstudien, auf deren Grundlage die Göttinnenreligion im spirituellen Feminismus ab den 1970er Jahren entwickelt wurde. Robert Ranke-Graves (1895–1985) gehörte zu der Dichtergeneration der War Poets des Ersten Weltkriegs, war Dichter, Schriftsteller und 1961 „professor of poetry“ an der Universität Oxford.54 In seinem Buch stellte er die ‚Weiße Göttin‘ ins Zentrum einer Poetik, die Elemente eines Gegenentwurfs zur Moderne enthält. Graves ging davon aus, dass die „poetischen Mythen“ des Mittelmeerraums und Nordeuropas in einer magischen Sprache verfasst waren, „vermischt mit populären religiösen Zeremonien zu Ehren der Mondgöttin oder der Muse, deren einige bis auf die ältere Steinzeit zurückreichen, und daß diese noch immer die Sprache wahrer Dichtung bleibt. […] Die Funktion von Dichtung ist die religiöse Anrufung der Muse.“55 Dichtung entsteht für Graves in einer von Liebe geprägten Dreierbeziehung zwischen dem männlichen Dichter und der Göttin, die sich zeitweise in einer irdischen Frau verkörpert: „Nachdem die Schöpferkraft der Dichtung ihre Ursache nun aber nicht in der wissenschaftlichen Intelligenz, sondern in der Inspiration hat, wenngleich diese von Wissenschaftlern erklärt werden kann –, darf man doch wohl die Inspiration auf die Mond-Muse zurückführen, auf den ältesten und passendsten Begriff für diese Ursache? Nach alter Überlieferung wird die Göttin eins mit ihrer menschlichen Stellvertreterin – einer Priesterin, einer Prophetin, einer Königinmutter. Kein Musendichter wird der Muse gewahr, es wäre denn durch das Erleben einer Frau, in der die Göttin sich bis zu einem gewissen Maß verkörpert hat. […] der wirkliche, für immer besessene Musendichter unterscheidet zwischen der Göttin, wie sie sich in der Übermacht, Glorie, Weisheit und Liebe der Frau manifestiert, und der individuellen Frau, die die Göttin für einen Monat, ein Jahr, sieben Jahre oder länger zu ihrem Werkzeug erwählen mag.“56

Die ‚Große Göttin‘, so Graves etwas später in seinem Buch „Greek Myths“, war eine „Matriarchin“, die sich „Liebhaber zum Vergnügen nahm“ (das biologische Konzept der Vaterschaft war laut Graves noch unbekannt), aber gleichzeitig den Herd als „ersten 53 Robert von Ranke-Graves, Die Weiße Göttin. Sprache des Mythos. Übers. Thomas Lindquist, Berlin 1981 (Robert Graves, The White Goddess. A Historical Grammar of Poetic Myth, New York 1974 – Erstausgabe 1948). Vgl. zu Graves und Patai auch Anja Hänsch, Der Flirt mit der Göttin. Göttinnenschwärmereien in der Altorientalistik, Altphilologie und Anthropologie in Bezug zur neureligiösen Göttinnenbewegung des 20. Jahrhunderts, in: Koch/Jacob/Leskovar (Hg.), Prähistorische und antike Göttinnen, wie Anm. 4, 195–220. 54 Robert Graves, Goodbye to All That, London 1960; Fehlmann, Ancient Goddesses, wie Anm. 5, 160–163. 55 Graves, Weiße Göttin, wie Anm. 53, 10, 15. 56 Graves, Weiße Göttin, wie Anm. 53, 591.

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sozialen Mittelpunkt“ etablierte, verbunden mit der Mutterschaft als „ursprüngliches Mysterium“.57 Graves bettete diese Göttin für Griechenland in ein dreistufiges Evolutionsmodell ein: der pelasgische Kult der ‚Großen Göttin‘ in der „halbmatriarchalen Bronzezeit-Kultur“ sei durch einfallende, eine männliche Trinität anbetende Achäer um 1900 vor Christus erschüttert worden, die nach einem Sinneswandel jedoch bald darauf die matrilineare Erbfolge übernahmen und sich als „Söhne der unterschiedliche Namen tragenden ‚Großen Göttin‘“ verstanden.58 In jener Zeit entwickelte diese sich zur dreifältigen Göttin, die jeweils auf der Erde (Diana), im Himmel (Luna) und in der Unterwelt (Persephone) die natürlichen Zyklen von Leben und Sterben regierte. Dieses Konzept konnte auch zur neunfältigen Göttin ausdifferenziert werden. Erkennbar ist dies in der neunfältigen Muse, die „ursprünglich die ‚Große Göttin‘ in ihrer Eigenschaft als Dichterin oder beschwörende Magierin ist“.59 Zudem erscheint die Göttin auch in den drei Manifestationen Mädchen (Neumond/Frühling), Frau (Vollmond/ Sommer) und Greisin (Altmond/Winter).60 Sie wurde schließlich nicht nur durch den jüdischen Monotheismus, sondern auch durch die platonische Schule verdrängt: Sokrates hielt nicht viel von poetischen Mythen und propagierte den Irrweg, der später platonische Liebe genannt wurde, „die Flucht des Philosophen vor der Macht der Göttin in intellektuelle Homosexualität“.61 Mit der Göttin entwirft Graves ein retrotopisches, Harmonie versprechendes Heilsbild, das romantisierend den als problematisch empfundenen Entwicklungen in den modernen Gesellschaften entgegengesetzt wird: „Die Funktion von Dichtung ist die religiöse Anrufung der Muse; ihr Nutzen liegt im Erlebnis einer Mischung von Exaltation und Schrecken, ausgelöst von ihrer Gegenwart. Aber wie ist es ‚heute‘? Funktion und Nutzen sind dieselben geblieben; nur die Anwendung hat sich geändert. Diese war einst die Warnung an den Menschen, er müsse mit der Familie aller Lebewesen, in die er hineingeboren war, in Harmonie existieren, indem er den Wünschen der Herrin des Hauses gehorchte; heute ist es die Erinnerung daran, daß er die Warnung mißachtet, das Haus durch willkürliche Experimente mit Philosophie, Wissenschaft und Industrie in Unordnung gebracht und sich und seine Familie in den Ruin geführt hat.“62

Gemäß der Poetik von Graves muss sich der männlich gedachte, wahre Dichter bedingungslos der Göttin hingeben. Die Welt der Göttin ist für Graves mit dem Land verbunden und nicht mit der Stadt. Hiermit erklärt er auch seine Entscheidung, auf Mallorca am Rande eines Bergdorfs zu leben, „wo das Leben noch vom alten Zyklus der Agrikultur regiert wird“.63 57 58 59 60 61 62 63

Robert Graves, The Greek Myths, New York 1992 (19551), 13. Graves, Weiße Göttin, wie Anm. 53, 68f. Graves, Weiße Göttin, wie Anm. 53, 471. Vgl. Graves, Weiße Göttin, wie Anm. 53, 463. Graves, Weiße Göttin, wie Anm. 53, 12. Graves, Weiße Göttin, wie Anm. 53, 15. Graves, Weiße Göttin, wie Anm. 53, 15.

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Die Beziehung zwischen Göttin und männlichem Subjekt kam auch bei Raphael Patai (1910–1996), einem auf jüdische und arabische Folklore spezialisierten, international bekannten Anthropologen und Orientalisten, zum Tragen. Patai migrierte 1933 von Budapest nach Palästina und wanderte 1947 von dort in die USA aus, wo er verschiedene Professuren innehatte. Patais Konzept der Göttin wurde von Robert Graves beeinflusst und dann durch traditionelle jüdische Geschlechtervorstellungen sowie kabbalistisches Gedankengut erweitert. Der Einfluss von Graves auf Patai ist besonders in der 1963 erschienenen, gemeinsam verfassten Arbeit „Hebrew Myths“ spürbar.64 Die Autoren gehen von einer Degradierung und Verdrängung des weiblichen Göttlichen im Judentum aus, die im Zusammenhang mit dem Wechsel von einer matriarchalen zu einer patriarchalen Gesellschaftsform gesehen werden.65 Wenige Jahre nach dem Erscheinen von „Hebrew Myths“ übertrug Patai in seinem Werk „The Hebrew Goddess“ Graves’ Konzept der ‚Großen Göttin‘ in jüdische kulturelle Kontexte. Hier kann die Göttin unter anderem als die kanaanitische Göttin Ascherah oder als Lilith erscheinen. Eine besondere Bedeutung erhält bei Patai die Schechina der Kabbala, die sowohl in den kabbalistischen Schriften als auch bei Patai in Bezug zu den ausschließlich männlich gedachten Gläubigen steht. Um das Aufleben des weiblichen Göttlichen in der Schechina der Kabbala zu erklären, bemüht Patai mit der Jungfrau, der Mutter, der Hure und der Kriegerin66 typologische Konstruktionen von Weiblichkeit, mit denen er das religiöse Empfinden der Kabbalisten nachvollzieht: „The goddess thus speaks to man with four tongues: keep away from me because I am a Virgin; enjoy me because I am available to all; come shelter in my motherly bosom; and die in me because I thirst for your blood. Whichever of her aspects momentarily gains the upper hand, there is a deep chord in the male psyche which powerfully responds to it. Her voices enter man and stir him; they bend man to pay homage to her and they lure man to lose himself in her, whether in love or in death.“67

Wie sehr für Patai selbst die Schechina-Matronita der Kabbala ein retrotopisches Heilsbild ist, kommt in der Einleitung zum Ausdruck, die er 1967 für die Erstausgabe von „The Hebrew Goddess“ schrieb. Hier wünscht er sich innig die Wiederkehr der ‚Hebräischen Göttin‘: „ […] if at all […] she will re-emerge, in who knows what surprising old-new image, to mediate, as of old, between man and God and to draw the returning faith-bereft sons with new bonds of love to their patiently waiting Father“.68

64 Robert Graves u. Raphael Patai, Hebrew Myths. The Book of Genesis, New York 1964. 65 Vgl. Robert Graves u. Raphael Patai, Hebräische Mythologie. Über die Schöpfungsgeschichte und andere Mythen aus dem Alten Testament, Reinbek bei Hamburg 1990, 100. 66 Vgl. Raphael Patai, The Hebrew Goddess, Detroit 1990 (Erstausgabe New York 1967), 33. 67 Raphael Patai, The Hebrew Goddess, wie Anm. 66, 154. 68 Raphael Patai, The Hebrew Goddess, wie Anm. 66, 33.

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Dass Patai mit der Sehnsucht des männlich gedachten Gläubigen nach der Göttin auch Israel als den Wunschort ihrer Wiederkehr verbindet,69 bettet die ‚Hebräische Göttin‘ in ein nationalistisches Narrativ ein. Das von Patai entworfene, mythopoetische Bild von heldenhaften, aus der Wüste kommenden hebräischen Kriegern, die die Göttin bereitwillig an ihren Busen drückt,70 lässt sich möglicherweise als symbolische Abhilfe in der angespannten Situation 1967 in Israel deuten. In seiner 1988 erschienenen Autobiografie beschreibt Patai, dass er sich während seiner Studentenzeit in Budapest 1929–1930 für die ‚Hebräische Göttin‘ zu interessieren begann, als er eine Kurzgeschichte seines Vaters mit dem Titel „1001 Nächte“ übersetzte, die von einem Rabbi handelt, der in seiner Stadt einen Tempel für die Schechina bauen möchte.71 1001 Nächte sucht der Rabbi mit Hilfe heiliger Texte nach dem richtigen Ort für den Tempel, während seine Frau Rahel ihm die Kerze hält. Erst nachdem sie lange gedrängt hat, eingeweiht zu werden, liest er ihr eine Textpassage aus dem Zohar über die Schechina vor. In der 1001. Nacht ist der Ort für den Tempel der Schechina gefunden. Als Rahel ihrem Mann dabei helfen will, den Eckstein zu legen, übernimmt sie sich und stirbt zum Entsetzen des Rabbis. Aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive illustriert diese Geschichte, wie das traditionelle Judentum den Fokus auf den Mann als das religiöse Subjekt der Gemeinschaft legt. Es mag auch eine leise Kritik daran anklingen. Patai selbst gibt an, dass ihn in seiner Jugend weniger die Passagen aus dem Zohar beeindruckt hätten, vielmehr habe ihn die „menschliche Tragödie von Rahels Tod“ berührt.72 Mit Blick darauf, dass er „1001 Nächte“ als die Keimzelle für sein späteres Werk „The Hebrew Goddess“ ansieht, ergibt sich hier eine Analogie zwischen der Frau des Rabbis und der Konzeption der göttlichen Schechina in „The Hebrew Goddess“: Frau und Göttin verhelfen dem männlichen Gläubigen dazu, zu religiöser Erkenntnis zu gelangen. Die feministische Theologin Merlin Stone schrieb in ihrem Vorwort für die Neuauflage von „The Hebrew Goddess“ von 1990, dass Patais Arbeit es erst ermöglicht habe, dass die ‚Hebräische Göttin‘ durch die Göttinnenbewegung entdeckt werden konnte. Anders als von Patai 1967 erwartet, hätten sich allerdings nicht männliche, sondern weibliche Gläubige in Bezug zur ‚Hebräischen Göttin‘ gesetzt.73 Die litauische Archäologin und Anthropologin Marija Gimbutas (1921–1994) nahm mit ihren Arbeiten – vor allem „Die Zivilisation der Göttin“ und „Die Sprache der Göttin“74 – den größten Einfluss auf die Göttinnenreligion.75 Gimbutas erlebte im 69 Vgl. Patai, The Hebrew Goddess, wie Anm. 66, 33. 70 Vgl. Patai, The Hebrew Goddess, wie Anm. 66, 33. 71 Vgl. zum Folgenden Raphael Patai, Apprentice in Budapest. Memories of a World that is no more, Lanham, Maryland 2000, 303–305. 72 Patai, Apprentice in Budapest, wie Anm. 71, 305. 73 Vgl. Merlin Stones, Vorwort, in: Patai, Hebrew Goddess, wie Anm. 66, 16f. 74 Marija Gimbutas, Die Zivilisation der Göttin. Die Welt des Alten Europa, hg. von Joan Marler, übers. von Waltraud Götting u. Ilse Strasmann, Frankfurt a. M. 19982 (amerik. Erstausgabe 1991);

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Zweiten Weltkrieg deutsche und sowjetische Besatzungen, flüchtete 1944 vor der Roten Armee aus Litauen, promovierte 1946 in Tübingen und migrierte später in die USA, wo sie in Harvard und an der University of California, Los Angeles lehrte. In einer Zeit, in der ein Großteil der prähistorischen Archäolog*innen76 das Konzept einer neolithischen ‚Großen Göttin‘ nicht mehr für tragfähig hielt, arbeitete Gimbutas es weiter aus. Dafür entwickelte sie eine interdisziplinäre „Archäomythologie“ und vertrat – ähnlich wie Bachofen – die Ansicht, dass sich in Mythen, aber auch Märchen Spuren der urgeschichtlichen Göttin (beispielsweise in Frau Holle) fänden, die über die Zeiten hinweg von Frauen weitergegeben worden seien. Im Kontext der Kulturkreislehre und der Wiener Mythologischen Schule verortete Gimbutas die matriarchale, friedliche Kultur in „Alteuropa“, dessen „Volk“ ab dem 5. Jahrtausend v. Chr. dann durch Reiterhorden des aus den russischen Steppen strömenden „Kurganvolkes“ zerstört worden sei. Gimbutas konstruierte ein faszinierendes „Alphabet des Metaphysischen“, das aus Symbolen und Ornamenten bestand und zusammen mit den weiblichen Figurinen von der Allgegenwärtigkeit der matriarchalen Göttin zeugte. Dieser Göttinnenkultur der „alteuropäischen Donauzivilisation“ schrieb Gimbutas überdies die Erfindung der ersten Schrift zu, die sich aus „graphischen Symbolen, die ausschließlich im Rahmen des […] Kultes der Göttin auftauchten“, entwickelt haben soll.77 Hauptmerkmale der Göttin bei Gimbutas sind ihre Identifikation mit der Natur und ihre geradezu monotheistisch vorgestellte Göttlichkeit: „Die vielen verschiedenen Kategorien, Funktionen und Symbole, mit denen die Menschen der Vorzeit das ‚Große Mysterium‘ ausdrückten, sind Aspekte der ungebrochenen Einheit einer einzigen Gottheit, einer Göttin, die ganz die Natur selbst ist.“78

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dies., Die Sprache der Göttin. Das verschüttete Symbolsystem der westlichen Zivilisation, übers. von Udo Rennert u. Andrea von Struve, Frankfurt a. M. 19984 (amerik. Erstausgabe 1989). Zur Kritik an Gimbutas aus archäologischer Sicht vgl. Röder/Hummel/Kunz, Göttinnendämmerung, wie Anm. 4, 273–298; Röder, Vergangenheitsaneignung, wie Anm. 4, 305–307. Auch wenn die Hauptthesen von Marija Gimbutas heute aus archäologischer Sicht als widerlegt gelten, sind ihre Arbeiten möglicherweise nicht komplett in den Bereich der Fiktionalität zu verweisen. Vgl. dazu Othmar Keel u. Silvia Schroer, Eva – Mutter alles Lebendigen. Frauen- und Göttinnenidole aus dem Alten Orient, Fribourg 2006, 19. Zur Einordnung in die Geschichte des spirituellen Feminismus vgl. Meret Fehlmann, Bilder der Grossen Göttin im spirituellen Feminismus, in: Koch/Jacob/ Leskovar, Prähistorische und antike Göttinnen, wie Anm. 4, 221–246. Eine Ausnahme ist hier etwa Jacquetta Hawkes (1910–1996), vgl. dazu Hutton, Great Goddess, wie Anm. 21, 94f.; Fehlmann, Ancient Goddesses, wie Anm. 5, 163–167. Gimbutas, Zivilisation der Göttin, wie Anm. 74, 308. Diese Annahmen von Gimbutas stehen übrigens hinter der immer wieder durch die Feuilletons geisternden These, dass die Schrift in der ‚alteuropäischen Donauzivilisation‘ 2000 Jahre früher als in Mesopotamien entwickelt worden sei. Ein maßgeblicher Vertreter dieser These ist der deutsche Sprachwissenschaftler Harald Hartmann, unter anderem Vizepräsident des Institute of Archaeomythology in Kalifornien. Vgl. dazu Heinrich Hartmann, Das Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas, München 2011. Gimbutas, Zivilisation der Göttin, wie Anm. 74, 223.

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Gimbutas teilt die Erscheinungsformen der Göttin in drei Kategorien ein: die Lebensspenderin, die Lebenserneuerin und die Todesbringerin.79 Ähnlich wie bei den Matriarchatstheorien, die davon ausgingen, dass das Konzept der biologischen Vaterschaft noch nicht bekannt war, findet sich bei Gimbutas die Vorstellung, dass die Göttin als Leben schaffend verehrt wurde, während dem Männlichen wie auch männlichen Gottheiten in dieser Beziehung eine untergeordnete Position zukam.80 Den lebensspendenden Aspekt der Göttin verknüpft Gimbutas direkt mit der Dominanz von Frauen in der Gesellschaft des Neolithikums: „[…] the culture called Old Europe was characterized by a dominance of woman in society and worship of a Goddess incarnating the creative principle as Source and Giver of All. In this culture the male element, man and animal, represented spontaneous and life-stimulating – but not life-generating – powers.“81 Indem Gimbutas sowohl „Goddess“ im Singular als auch die Attribute der Göttin groß schreibt, ersetzt sie deutlich den monotheistischen Gott („God“) mit ihrer Urgöttin, an die das Wort Leben geradezu überbordend geknüpft ist. Hier ist die Rede von den „lebensvermehrenden, lebensspendenden, lebenserhaltenden und lebensbejahenden“ Aspekten der Göttin.82 In ihrem Buch „Die Sprache der Göttin“ erscheint die Göttin als Lebensspenderin (Teil 1), als sich erneuernde und ewige Erde (Teil 2) sowie als Todesbringerin, die damit die Wiedergeburt ermöglicht und die unter anderem in Eulenstatuetten verehrt wurde (Teil 3).83 Die Eulengöttin des Todes ist für Gimbutas mit Symbolen der Erneuerung verknüpft. Auch hier klingen wieder retrotopische Elemente an. Der „neolithische Umgang mit dem Tod“ erscheint im Vergleich zum gegenwärtigen Umgang mit dem Tod als erstrebenswert: „Die Schrecken des Todes, von denen wir wie selbstverständlich ausgehen, sind in diesem Symbolismus nirgendwo erkennbar.84 Mit der Göttin als Lebensspenderin, Lebenserneuerin und Todesbringerin kreiert Gimbutas ein mytho-poetisches System, das auch durch die zahlreichen Abbildungen in ihren beiden Büchern dazu geeignet ist, eine religiös-ästhetische Wirkungsmacht zu entfalten.85 Als Lebensspenderin lässt Gimbutas ihre Göttin als Vogel- und Schlangengöttin erscheinen, interpretiert Zickzacklinien als Bild des Wassers, stellt sie als Herrin der Tiere und Königin der Berge vor und vieles mehr. Als Lebenserneuerin erscheint die Göttin als Mutter Erde, als schwangere Göttin, als doppelköpfige Göttin, in der sich ein Mutter-Tochter-Bild ausdrückt. Hier zieht Gimbutas Verbindungen zum „Grab als Mutterschoß“. Auch bei der Göttin als Todesbringerin, die mit Le79 Vgl. Gimbutas, Zivilisation der Göttin, wie Anm. 74, 223. 80 Vgl. Gimbutas, Zivilisation der Göttin, wie Anm. 74, 223. 81 Marija Gimbutas, The Goddesses and Gods of Old Europe, 6500–3500 BC: Myths and Cult Images, Berkeley 1982, 9. 82 Gimbutas, Zivilisation der Göttin, wie Anm. 74, 223. 83 Vgl. Gimbutas, Sprache der Göttin, wie Anm. 74. 84 Gimbutas, Sprache der Göttin, wie Anm. 74, 195. 85 Vgl. Gimbutas, Sprache der Göttin, wie Anm. 74.

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benserneuerung in Zusammenhang steht, führt uns Gimbutas eine bilderreiche Welt vor Augen: Geier, Eule, Habicht, Eber und heulender Hund werden als Todessymbole gedeutet. Stier, Biene und Schmetterling erscheinen als Symbole der Wiedergeburt. Die Vehemenz, mit der Gimbutas das Konzept des ‚Lebens‘ mit der ‚Großen Göttin‘ verknüpft, lässt sich in einen größeren Zusammenhang stellen. Die Historikerin Carolyn Merchant geht davon aus, dass im 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund des „Todes der Natur“ ein neuer Diskurs entstand, der „das Leben“ zum Mittelpunkt machte. Bis zur Neuzeit wurde in der Philosophiegeschichte die Lebendigkeit der Natur vorausgesetzt. Im christlichen Denken erschien die Lebendigkeit der Natur als Gottes Wirken.86 Im neuzeitlichen Denken wurde die Natur jedoch „aus Gottes Hand“ gelöst, wie Barbara Duden bemerkt.87 Der Diskurs vom „Leben“ entwickelte sich Merchant zufolge aufgrund einer Kombination der Veränderung des Naturbegriffs in der Neuzeit und der Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass die Lebendigkeit der Natur nicht mehr selbstverständlich gegeben ist. Das Motiv der Göttin als „Mutter alles Lebendigen“ lässt sich auf dieser Interpretationsfolie auch als Sehnsucht nach der lebendigen, mit dem Göttlichen verbundenen Natur erklären. Das Heilsbild der allumfassenden, lebensspendenden Göttin könnte dazu dienen, das Leiden an der modernen Gefährdung der Lebendigkeit der Natur und an dem Verlust der Natur-GottVerbindung zu überwinden: Die aus Gottes Hand gefallene und durch Industrialisierung bedrohte Natur wird in die Hand der Göttin gelegt. Dass ‚ihre‘ Göttin des Neolithikums für Marija Gimbutas ein tief gefühltes Heilsbild war, drückt sich auch über den Tod der 1994 verstorbenen Archäologin hinaus aus: Ihre Asche wurde in einer eulenförmigen Urne beigesetzt.88 Graves und Gimbutas haben damit bei allen Unterschieden etwas gemeinsam: Sie betteten die Göttin in Retrotopien ein, die, so lässt sich vermuten, in ihren von den Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts geprägten Biografien Heilung und göttliche Harmonie vermittelten.

86 Vgl. Carolyn Merchant, Earthcare. Women and the Environment, New York 1996; dies., Reinventing Eden. The Fate of Nature in Western Culture, New York 2003; dies., Ecological Revolutions. Nature, Gender, and Science in New England, Chapel Hill 2010. Vgl. auch Barbara Duden, Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben, Frankfurt a. M. 2007, 126–127. 87 Duden, Der Frauenleib als öffentlicher Ort, wie Anm. 86, 127. 88 Vgl. Joan Marler, The Life and Work of Marija Gimbutas, in: Journal of Feminist Studies in Religion, 12, 2 (1996), 37–51, 47. Wir danken herzlich der Archivarin Andrea Robles von OPUS Archives and Research Center für das Auffinden dieses Nachweises.

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Die Göttinnenbewegung: Wicca- und Hexenreligionen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Begriff und Phänomen der Wicca-Religionen sind in den 1950er Jahren maßgeblich vom englischen Kolonialbeamten Gerald Gardner (1884–1964) geprägt worden, der den Begriff wicca aus dem Altenglischen als Bezeichnung für eine männliche Hexe ableitete. Gardner bezog sich auf Forschungen des Volkskundlers und Sprachwissenschaftlers Charles Leland (1824–1903) und der Ägyptologin und Frauenrechtlerin Margaret Murray (1863–1963), die eine verborgene beziehungsweise verfolgte Hexenreligion vorchristlichen Ursprungs zu entdecken meinten, die von Murray mit den frühneuzeitlichen Hexenverbrennungen in Bezug gesetzt wurde.89 Die GardnerWiccas verehrten die dreifaltige Göttin (Mädchen – Frau – Greisin) und ihren (weniger zentralen) Gatten, den ‚Gehörnten Gott‘. Es entstand eine kleine, strikt heterosexuelle religiöse Bewegung, in der die einzelnen Wicca-Zirkel (coven) durch heterosexuelle Paare gebildet wurden, die von einem Hohepriester und einer Hohepriesterin angeleitet wurden.90 Im politisch vibrierenden Kalifornien der 1970er Jahre wurde Gardners Konzept einer uralten Hexenreligion von Feministinnen aufgenommen und grundlegend umgedeutet. Die ungarische Autorin und Songwriterin Zsuszanna Budapest (geb. 1940) gründete einen lesbisch ausgerichteten Zirkel von Dianic Wiccas91 mit einer „frauenzentrierten, exklusiv weiblichen Verehrung der Frauenmysterien“.92 Im Zentrum stand die Mondgöttin Diana, die gleichzeitig als „Göttin der 10.000 Namen“ auf alle „Großen Göttinnen“ bezogen wurde und letztlich für das „Leben auf dieser Erde“ stand, wie Z Budapest darlegte: „Sie ist Mutter Natur.“93 Diese Verehrung der Mutter-Natur-Göttin verband Z Budapest mit einer Matriarchatsgeschichte, die den treffenden Titel Herstory trägt.94 Der von Z Budapest vertretene GeschlechterEssentialismus führte 2011 auf dem neopaganen Festival PantheaCon im kalifornischen San Jose zu einem Eklat, als Z Budapest ein Ritual auf „genetic women only“ beschränkte und Transgender Frauen ausschloss.95 89 Vgl. Cusak, Return of the Goddess, wie Anm. 5, 343–347; Charles Godfrey Leland, Aradia or the Gospel of Witches, London 1899; Margaret Murray, Witch-Cult in Western Europe. A Study in Anthropology, Oxford 1921. 90 Vgl. Cusak, Return of the Goddess, wie Anm. 5, 343–347; Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 60–75. 91 Vgl. Cusak, Return of the Goddess, wie Anm. 5, 347–350. 92 Zsuzsanna Budapest, The Holy Book of Women’s Mysteries, Oakland 19863 (19791), 3: „a womencentered, female-only worship of women’s mysteries.“ 93 Budapest, The Holy Book, wie Anm. 92, 3. 94 Vgl. Budapest, The Holy Book, wie Anm. 92, 15. 95 Vgl. den Blog von Jason Pitzl-Waters mit Verweis auf weitere Gegenpositionen vom 23. 2. 2012, unter: https://www.patheos.com/blogs/wildhunt/2012/02/the-pantheacon-gender-conversation-c ontinues.html, Zugriff: 3. 12. 2021; dort auch der Auszug aus einem offenen Brief des „Sexuality educator Charlie Glickman“: „I invite you to use language that doesn’t rely on seeing transgender people as abnormal or deviant. I invite you to use language that reflects the genetic diversity that

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Eine weitere Gruppe war das Reclaiming-Netzwerk, das unter anderen von Miriam Simos alias Starhawk (geb. 1951), der später „berühmtesten Hexe der Welt“,96 begründet wurde. Starhawk publizierte 1979 ihr Buch „Spiral Dance. A Rebirth of the Ancient Religion of the Great Goddess“, das rasch zu einem viel gelesenen Klassiker der Göttinnenbewegung wurde.97 In Bezug auf biologistisch-transzendente Ordnungskategorien schlug die Reclaiming-Bewegung einen anderen Weg als Z Budapest ein. Wie Starhawk 2010 in einem Text über „Queerness in the Contemporary Goddess Movement“ darlegte, waren bei Reclaming von Beginn an Personen dabei, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, queer oder transgender einstuften. In den Ritualen ging es dementsprechend auch darum, die mit religiösen Symbolen konnotierten Geschlechterbinaritäten (wie etwa beim beliebten, aber traditionell als phallisch-uterinär gedeuteten Maibaumtanz) aufzulösen.98 Die unterschiedlichen Positionen von Z Budapest und Starhawk sind exemplarisch für die große Bandbreite zwischen essentialistischen Geschlechterbinaritäten und fluiden Geschlechtskonzeptionen, wie sie sich generell in neopaganen Religionen finden lässt.99 Für unseren Kontext ist es jedoch wichtig, dass es nicht nur Anhänger*innen von Göttinnenreligionen waren, die sich als ‚Hexe‘ bezeichneten. Die Hexe wurde allgemein zu einer wichtigen ‚Gallionsfigur‘ der zweiten Welle der Frauenbewegung. Der angestrebte radikal-feministische Umbruch war dabei ganz auf die Zukunft ausgerichtet.100 Auch wenn dabei ‚historische‘ Hexen und die ‚Weisen Frauen‘ als Vorkämpferinnen gegen patriarchale Ordnungen gelesen wurden, hatten solche Rückgriffe auf die Vergangenheit nichts mit retrotopischen Heilsbildern und allenfalls am Rande mit Rückgriffen auf die ‚Große Göttin‘ zu tun. In den USA bildeten sich in den späten 1960er Jahren beispielsweise feministische Gruppen unter dem Akronym W.I.T.C.H., die als Women’s International Terrorist Conspiracy from Hell, verkleidet mit Spitzhut, schwarzem Umhang und Besen politisch agierten und unter anderem Hochzeitsmessen stürmten. Im deutschsprachigen Raum findet sich einer der frühesten Nachweise für die feministische Adaption der Hexe in West-Berlin. Dort publizierte das 1974 gegründete Feministische Frauengesundheitszentrum unter dem

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complicates our cultural notions of sex and gender.“ Der Link zu diesem post war am 3. 12. 2021 nicht mehr aktiviert. Hutton, Triumph of the Moon, wie Anm. 5, 345, zit. nach: Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 80. Vgl. Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 78. Vgl. zur Umdeutung des Maibaumtanzes: Starhawk, Queerness in the Contemporary Goddess Movement, in: Tikkun, July/August 2010, unter: www.tikkun.org, Zugriff: 3. 12. 2021: „Over time – and after many, many arguments! – we shifted our ritual away from [gendered] polarity to invoke five aspects of the burgeoning life force: creativity, sexuality, fertility, community, and sustainability.“ Vgl. Regina Oboler, Negotiating Gender Essentialism in Contemporary Paganism, in: The Pomegranate. The International Journal of Pagan Studies, 12, 2 (2010), 159–184; Christine Hoff Kraemer, Gender and Sexuality in Contemporary Paganism, in: Religion Compass, 6, 8 (2012), 390–401. Vgl. Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 94.

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Titel „Hexengeflüster“ ein medizinisches Selbsthilfehandbuch vor allem für lesbische Frauen, das Frauen unabhängig von der männerdominierten Medizin machen und damit die Rebellion der ‚historischen‘ Hexen gegen das Patriarchat fortführen sollte.101 Wie Victoria Hegner in ihrer klugen Studie zu Berliner Hexen in der Großstadt gezeigt hat, fasste der spirituelle Feminismus mit der Göttinnenbewegung in WestBerlin – ausgehend vom süddeutschen Raum und den Schriften von Z Budapest und Starhawk – erst in den 1980er Jahren in einem kleinen Teil der West-Berliner Frauenbewegung Fuß.102 Trotz der skeptischen Ablehnung dieser „Spiritfrauen“ durch die „Politfrauen“103 war für die Formierung der Hexenreligion in West-Berlin der Einfluss des gesellschaftspolitischen Feminismus entscheidender als die dort ebenfalls in den 1980er Jahren propagierte neuheidnische „europäische Urreligion“ mit vor allem „germanischen Wurzeln“, deren Vertreter Abgrenzungen, aber auch Verbindungen zu völkischen Gruppen und Neonazis zogen.104 Das Streben nach gesellschaftspolitischen feministischen Veränderungen ist dabei vor allem für jene Hexen, die sich in der Tradition von Starhawk und Reclaiming verorten, weiterhin relevant: Ihr Handeln zielte auf eine von der feministischen Theologin Mary Daly propagierte Utopie, eine auf das Wohl aller Lebewesen ausgerichtete Herrschaft der Hexen.105 Nachdem die prähistorische Archäologie gezeigt hatte, dass weder ein Matriarchat noch eine ‚Große Göttin‘ in der Vorgeschichte nachweisbar sind, ergab sich ein Spannungsverhältnis zwischen diesem von der großen Mehrheit getragenen Forschungskonsens und den Hexenreligionen. Zu den feministischen Forscher*innen, die den Forschungskonsens vertraten, gehört auch Cynthia Eller. In ihrem Buch „The Myth of Matriarchal Prehistory – Why an Invented Past Won’t Give Women a Future“106 kritisierte Eller ausdrücklich als Feministin107 die häufig mit Matriarchatsmodellen und Göttinnenkonzepten einhergehenden Geschlechterstereotypen, die „Frauen eine symbolische, zeitlose und archetypische Identität vermitteln anstatt ihnen die Freiheit zu geben, Identitäten zu schmieden, die ihren individuellen Temperamenten, Fähigkeiten, Vorlieben sowie moralischen und politischen Positionen entsprechen“.108 Ellers Buch wurde von einigen Feministinnen scharf kritisiert.109 Auch 101 Christiane Ewert, Gaby Kasten u. Dagmar Schulz, Hexengeflüster. Frauen greifen zur Selbsthilfe, Berlin 1975 (erschienen im Frauenselbstverlag „Die rasenden Höllenweiber“); vgl. dazu Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 112f. 102 Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 119–122. 103 Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 119. 104 Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 105–111. 105 Vgl. Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 90. 106 Eller, Myth of Matriachal Prehistory, wie Anm. 13. 107 Vgl. Eller, Myth of Matriarchal Prehistory, wie Anm. 13, 7: „[…] it is my feminist movement, too […].“ 108 Eller, Myth of Matrichal Prehistory, wie Anm. 13, 8. 109 Zur Kritik an Eller vgl. die Replik der ehemaligen Mitarbeiterin von Marija Gimbutas und Gründerin des Institute of Archaeomythology Joan Marler, The Myth of Universal Patriarchy: A

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die Basler Archäologin Brigitte Röder geriet ins Kreuzfeuer.110 Die Kritikerinnen sahen die Differenzen verschiedener mutterrechtlicher, matrilinearer und weiterer Modelle bei Eller, Röder und anderen Autor*innen in der Sammelbezeichnung ‚Matriarchat‘ nicht angemessen wiedergegeben.111 Die „postmodernen wie postfeministischen ‚Gender‘-Forscherinnen“112 seien „verpatriarchalisiert“ und hätten sich der „modernen Hexenjagd“ auf Matriarchatsforscherinnen wie Heide Göttner-Abendroth angeschlossen.113 Ungeachtet dieser polemischen und exkludierenden Vorwürfe blieben die Matriarchatstheorien von Göttner-Abendroth sehr lange im Kanon der Gender Studies vertreten. Das „Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung“ enthielt bis zu seiner dritten Auflage von 2010 den Artikel „Matriarchat“ von Göttner-Abendroth,114 der erst in der grundlegenden Neubearbeitung von 2019 durch einen historisierenden Beitrag von Beate Wagner-Hasel ersetzt wurde. Angesichts der Persistenz, mit der Matriarchatsmythen und das Konstrukt einer ‚Großen Göttin‘ immer wieder für historisch bare Münze gehalten werden, mag die scharfzüngige Kritik der US-amerikanischen Indologin Wendy Doniger, wonach die matriarchale Göttin als „monstruous offspring“ der Verbindung von Bachofen und Gimbutas entsprungen sei, durchaus einleuchten.115 Ein solcher Spott kann (und möchte) dem persönlichen Stellenwert von retrotopischen Heilsbildern und Hexen-

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Critical Response to Cynthia Eller’s Myth of Matriarchal Prehistory von 2003, unter: https:// www.belili.org/marija/eller_response.html, Zugriff: 3. 12. 2021; dort auch Ellers Entgegnung auf die Kritik Marlers. Zur Kontroverse um Eller vgl. auch Christine Hoff Kraemer, Gender Essentialism in Matriarchalist Utopian Fantasies: Are Popular Novels Vehicles of Sacred Stories, or Purely Propaganda?, in: The Pomegranate. The International Journal of Pagan Studies, 11, 2 (2009), 240–259, 240f. Vgl. Röder, Illusionäre Vergangenheitsaneignung, wie Anm. 4. Vgl. Martina Schäfer, Bemerkungen zu Brigitte Röder, „Illusionäre Vergangenheitsaneignung“ kontra „patriarchale Verblendung“: Matriarchatsforschung und Archäologie in Deutschland, in: Archäologische Informationen, 22, 2 (1999), 279–289 (Röders Replik auf Schäfers Kritik erschien in: Archäologische Informationen, 23, 1 (2000), 39–42). Ähnlich argumentiert Marler in „Myth of Universal Patriarchy“, wie Anm. 109. Claudia von Werlhof, Das Patriarchat als Negation des Matriarchats. Zur Perspektive eines Wahns, in: Heide Göttner-Abendroth (Hg.), Gesellschaft in Balance. Dokumentation der 1. Weltkongresses für Matriarchatsforschung 2003 in Luxemburg, Stuttgart 2006, 30–41, 32, mit Bezug auf Röder/Hummel/Kunz, Göttinnendämmerung, wie Anm. 4. Claudia von Werlhof, Heide Göttner-Abendroth u. a., Die Diskriminierung der Matriarchatsforschung. Eine moderne Hexenjagd, Bern 2003. Vgl. Heide Göttner-Abendroth, Matriarchat: Forschung und Zukunftsvision, in: Ruth Becker u. Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung; Wiesbaden 2010, 23– 29; Beate Wagner-Hasel: Matriarchat: Metamorphosen einer Idee, in: Beate Kortendiek, Birgit Riegraf u. Katja Sabisch (Hg.), Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, Wiesbaden 2019, 211–219. Wendy Doniger, Myth, in: Catharine R. Stimpson u. Gilbert Herdt, Critical Terms for the Study of Gender, Chicago 2014, 271–293, 277: „In the beginning was Bachofen, the dragon of primeval matriarchy. Along came Marija Gimbutas, the primeval Goddess riding on her white mare. Would that she had slain the matriarchal dragon! But alas, O best beloved, it was not to be. The two mated, and their monstrous offspring was the matriarchal Goddess.“

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religionen jedoch nicht gerecht werden. Dass sich das Matriarchat und die ‚Große Göttin‘ als moderne Konstrukte erwiesen hatten, wurde ab einem bestimmten Zeitpunkt in den einschlägigen religiösen Bewegungen durchaus wahrgenommen und thematisiert.116 Zur 20-jährigen Jubiläumsausgabe ihres Klassikers „Spiral Dance“ bemerkte Starhawk 1999, dass sie die akademischen Kontroverse in Bezug auf die ‚Große Göttin‘ inzwischen zur Kenntnis genommen habe und die einschlägigen Forschungen für Hexen sehr interessant seien, aber ebenso wie bei anderen Religionen nicht die Ebene der „Wahrheit unserer Erfahrung“117 berührten. Das Motto von Reclaiming bringt Starhawk wie folgt auf den Punkt: „Hey, it wasn’t always like this. It doesn’t always have to be like this! So – what culture do we want to live in? Let’s create it!“118 Für die Berliner Reclaiming-Hexen hat Hegner eine ganz ähnliche Haltung der dort einflussreichen Hexe und Religionswissenschaftlerin Curtis herausgearbeitet.119 Hegner schildert ein von Curtis geleitetes Ritual, das diese in ein genussreiches, „geradezu religionswissenschaftliches Schauspiel“einbettete.120 Bei den Reclaimer*innen gehört, so Hegner, der „Rückgriff auf Mythen, Legenden und Märchen zur grundständigen Ritualpraxis“, in der Geschichten weiterentwickelt und verwandelt werden.121 Gleichwohl lässt sich beobachten, dass (wie es in anderen Religionen auch der Fall ist) bei weitem nicht alle Praktizierenden die grundsätzliche Differenzierung zwischen einem Forschungskonsens über (prä‐)historische Entwicklungen und religiöser Wahrheit nachvollziehen, die manche ihrer Exponent*innen vertreten.122 Einige Bearbeitungen von wissenschaftlichen Forschungsdiskursen machen es den Anhänger*innen der Göttinnenreligionen überdies nicht gerade leicht, zwischen den beiden Ebenen zu unterscheiden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Dokumentarfilm über Marija 116 Vgl. Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 72. Die einflussreichen Hexen Carol Christ und Naomi Goldenberg betrachteten die neuen Erkenntnisse als historisch valide, stuften diese Forschungspositionen für die Göttinnenreligion aber als irrelevant ein. Vgl. dazu Naomi Goldenberg, Changing of the Gods. Feminism and the End of Traditional Religions, Boston 1979, 89; Christ, Why Women Need the Goddess, wie Anm. 6; Jo Ann Hackett, Can a Sexist Model Liberate Us? Ancient Near Eastern ‚Fertillity’ Goddesses, in: Journal of Feminist Studies in Religion, 5, 1 (1989), 65–76. 117 Starhawk, Spiral Dance, San Francisco 19993, Introduction. 118 Starhawk, Spiral Dance, San Francisco 19993, Introduction. 119 Vgl. Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 84, Interview vom 7. 3. 2012 mit der Hexe Curtis: „Das Matriarchat ist ein Hilfsmittel, ein Konstrukt, dass wir uns schaffen mussten, um zu zeigen: Es gibt andere Möglichkeiten […].“ 120 Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 211. 121 Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 210. 122 Vgl. etwa Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 255 sowie die Kritik der Wicca Cassy Beyer an der Oberflächlichkeit einiger Neueinsteiger*innen in die Wicca-Religion die als „fluffy bunnies, Instawitches, McWiccans, One-Book Witches, Wicclets, and Whitelighters“ bezeichnet werden, in Bezug auf Margaret Murrays Konstrukt einer vorchristlichen Hexenreligion. Vgl. dazu: Catharine Noble Beyer, Wicca for the Rest of Us: Fluffy Bunnies, 2002–2011, unter: http://wicca.cnbeye r.com/fluffy.shtml, Zugriff: 31.12.21.

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Gimbutas „Signs out of Time“ von 2003, an dem Starhawk maßgeblich mitwirkte. Dieser Film zeigt, dass das Werk von Marija Gimbutas und ihre Person in der Göttinnenreligion eine religionsstiftende Qualität erhalten,123 da Gimbutas hier als heldenhafte Trägerin einer überzeitlichen, (wissenschaftlichen) Wahrheit erscheint. Dieses Bild wird durch eine Fülle von Elementen erzeugt. Kritische archäologische Gegenstimmen zum Werk von Gimbutas werden nur am Rande erwähnt und ansonsten kommen allein Archäolog*innen und Autor*innen zu Wort, die das Werk von Gimbutas würdigen. Gleichzeitig schafft die im Film vielfach angesprochene Marginalisierung von Marija Gimbutas in der Wissenschaft – die in der Tat auf ihre Göttinnentheorien zurückzuführen war – den Eindruck einer Art Märtyrerin wissenschaftlicher Wahrheit. Diese Konstruktion von Marija Gimbutas verschränkt sich mit der Betonung von Begebenheiten aus ihrem Leben, in denen sie als Heldin (der Wissenschaft) auftritt. Beispielsweise erzählt Gimbutas von ihrer Flucht vor der sowjetischen Besatzung Litauens im Zweiten Weltkrieg und beschreibt, wie sie mit ihrer Tochter auf dem Arm und dem Manuskript ihrer Dissertation in der Hand einen Fluss überquerte. Auf dem Cover von „Signs out of Time“ ist eine Porträtzeichnung der Archäologin im fortgeschrittenen Alter zu sehen, die Züge eines Personenkults trägt. Hier wird sie mit festem Blick und Lichtfunken in den Augen porträtiert, die ihr ein prophetisches Leuchten verleihen. Wie zuvor gezeigt wurde, steht die Göttin bei Gimbutas durchgängig für die lebensspendende Natur, in die der Mensch harmonisch eingebettet ist. Ein ähnliches Naturverständnis findet sich auch in „Signs out of Time“ und überlappt sich dort mit einer arkadisierenden Konstruktion Litauens. Viele Natureinstellungen des Films zeigen Landschaften, die Schäferidyllen nachempfunden sind: Es werden Schwäne mit Küken, Felder und zufriedene Menschen in Litauen gezeigt, die Landarbeit verrichten oder an Ritualen wie dem Ritual der Sommersonnwende teilnehmen. Auch alte litauische Frauen vom Land, die offensichtlich für eine ‚alte Weisheit‘ stehen, spielen im Film eine große Rolle. In diesem Sinn erscheint Litauen als das natur- und damit göttinnenverbundene Heimatland der transfigurierten Marija Gimbutas. In „Signs out of Time“ durchdringen die Ebenen von wissenschaftlichem Diskurs und religiöser Wahrheit einander. Am Ende des Films erscheint folgender Text: „As filmmakers, we were inspired by the life work of this great scholar who let us know that another world is possible.“ Diese Positionierung der Filmemacherinnen veranschaulicht, wie sehr es bei dem Werk von Gimbutas und seiner Rezeption um eine full flung retrotopia geht. Da dies bei „Signs out of Time“ durch das gewählte Genre des ‚Dokumentarfilms‘ verschleiert wird, kann der Film von Außenstehenden durchaus als wissenschaftliche Verbrämung verstanden werden.

123 „Signs out of Time“, Dokumentarfilm 2003 von Starhawk und Donna Read (Belili Productions). Vgl. auch den Dokumentarfilm „Goddess Remembered“ von Donna Read (1989).

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5.

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Fazit

Die Matriarchatstheorien, wie sie britische Anthropologen und der Basler Jurist Bachofen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts vertraten, waren ein Produkt der bürgerlichen Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts. Auch das damit verbundene Konstrukt der (prähistorischen) „Großen Göttin“ entstand im Kontext der modernen biologischen Geschlechterbinarität. Dieses wurde im 20. Jahrhundert unter anderem in den Forschungen von Graves und Gimbutas durch die weibliche Wesensgleichheit von ‚Großer Göttin‘ und Frauen weiter ausgearbeitet, bei Patai durch die weibliche Rollengleichheit von ‚Hebräischer Göttin‘ und Frauen hingegen weniger essentialistisch gefasst. Als sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wicca- und Hexenreligionen im Rückgriff auf diese Forschungen formierten, wurde der Geschlechteressentialismus – heterosexuell wie bei den Gardner Wiccas oder lesbisch wie bei den Dianic Wiccas um Z Budapest – teilweise fortgeführt. Wie die Altertumsforscherin Jane Harrison bereits um 1900 und ab den späten 1970er Jahren die Reclaiming-Bewegung zeigten, war die Figur der ‚Großen Göttin‘ jedoch nicht zwangsläufig an eine wesenhafte Mann-Frau-Polarität gebunden. Die Reclaimer*innen um Starhawk wurden hier als Beispiel dafür angeführt, dass mit – durchaus aufwendigen – Weiterentwicklungen der Tradition fluide Geschlechterkonzeptionen mit Hexenreligionen grundsätzlich vereinbar sind. Das gilt analog auch für einen Aspekt, der in diesem Aufsatz nur zwischen den Zeilen angedeutet werden konnte: die Frage, wie die Whiteness der Göttin und Evokationen ‚(nordisch‐)germanischer‘, ‚keltischer‘, oder ‚alteuropäischer‘ Räume und Traditionen in den religiösen Bewegungen gewichtet und gegebenenfalls transformiert werden.124 Die ‚Große Göttin‘ erhielt im Wesentlichen erst durch ihre Ausarbeitung durch Gelehrte wie Graves, Patai und Gimbutas klare Konturen. Dabei wurde sie aus dem Narrativ kultureller Evolution der Matriarchatsmodelle des 19. Jahrhunderts gelöst und in Retrotopien eingebettet. Der Antimodernismus von Graves hat zweifellos viel mit Bachofens Haltung gemeinsam. Der Unterschied zwischen den beiden liegt darin, dass Bachofen darum rang, ein Entwicklungsnarrativ zu schaffen, das viele Phasen, die sich aus dem Wirken von weiblich-stofflichem und männlich-geistigem Prinzip historisch-mythologisch ergaben, sowie zahlreiche Brüche und liminale Übergänge umfasste. Bei Graves und Gimbutas stand durch den Fokus auf die ‚Große Göttin‘ hingegen nur ein Zeitalter im Mittelpunkt – das Goldene Zeitalter der Göttin, das den willkürlichen und beliebigen Erscheinungsformen der Gegenwart entgegengesetzt war. Retrotopie und Charakteristika der ‚Großen Göttin‘ bedingten sich hier also gegen124 Zur Positionierung von Berliner Hexen zur nationalsozialistischen Prägung ‚nordisch-germanischer‘ Narrative in Bezug auf rituelle Runentänze vgl. Hegner, Hexen, wie Anm. 2, 230–235; zur Whiteness der Göttin vgl. Kavita Maya, Arachne’s Voice: Race, Gender and the Goddess, in: Feminist Theology, 28, 1 (2019), 52–65.

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seitig. Graves, Patai und Gimbutas konnten ihre jeweilige Göttin deshalb so eindringlich zeichnen, weil diese für sie – möglicherweise auch aufgrund der jeweiligen Kriegserfahrungen – in ganz unterschiedlicher Weise als retrotopisches Heilsbild fungierte: als Muse für den männlichen, ihr sein Leben weihenden Dichter bei Graves, als Vermittlerin zwischen Gott und dem männlichen jüdischen Gläubigen bei Patai und als vielgestaltige, Leben gebende, nehmende und wiedererneuernde Göttin bei Gimbutas. Forschung ist bekanntlich niemals leidenschaftslos, aber eine solche Inbrunst und Sinnlichkeit, mit der das Forschungsobjekt ‚Göttin‘ von Graves, Patai und Gimbutas mit ‚Leben‘ erfüllt wurde, gehört nicht unbedingt zum akademischen Alltag. Als der spirituelle Feminismus der Göttinnenbewegung die solchermaßen konturierte, inbrünstig geschaffene Göttin aus der Forschung ab den 1970er Jahren übernahm und weiter ausarbeitete, trat im Kontext des gesellschaftspolitischen Kampfes für eine feministisch gerechte Gesellschaft die retrotopische Rahmung zurück, behielt jedoch ihr Potenzial für individuelle und kollektive Reaktivierungen. Die innerfeministischen Kontroversen entzündeten sich zum einen am Matriarchat und den damit verbundenen Strategien feministischer Gesellschaftspolitik. In Bezug auf die Göttinnenbewegung gerieten die Kontroversen zum anderen ins Spannungsfeld zwischen Forschungsdiskurs und religiöser Wahrheit. Genre und (doppeldeutiger) Titel des ‚Dokumentarfilms‘ „Signs out of Time“ („Zeichen aus der Zeit“, wie es die Anhänger*innen von Gimbutas wohl verstehen, oder „Zeichen außerhalb der Zeit“, wie es Außenstehende deuten mögen) bringen dieses Spannungsverhältnis auf den Punkt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts interpretierte die Forschung die Zeichen (prä‐)historischer Zeiten als Hinweise auf eine ‚Große Göttin‘ in matriarchalen Gesellschaften. Nach dem Zweiten Weltkrieg lasen Graves und Gimbutas geradezu religiös beseelt die Zeichen und schufen gewissermaßen in einer wissenschaftlich-prophetisch angelegten Doppelrolle Retrotopien als Göttinnenzeiten, während die Mehrheit der Forschenden die ‚Große Göttin‘ nicht mehr in der Zeit verortete. Das Spannungsfeld zwischen Forschungsdiskurs und religiöser Wahrheit ist in Bezug auf die Göttinnenbewegung und die neopaganen Religionen deshalb so brisant, weil es weniger um eine Diskurshoheit über Gottheiten, sondern vielmehr um die Diskurshoheit über Göttinnen- und Götterzeiten geht. Sobald Anhänger*innen der Göttinnenreligion den schmalen Grad postmoderner Kreationen von Göttinnenzeiten verlassen und diese tatsächlich in der historischen Zeit verorten, erheben (Prä‐)historiker*innen – säkular im Sinne des Wortes saeculum – zu Recht Einspruch. Der Cultural Turn hat das Postulat wissenschaftlicher Wahrheit mit Gewinn problematisiert, aber nicht entthront.

„Schreiben in alle Windrichtungen und warten auf Post“. Zur materiellen Hermeneutik von Briefen und Fotografien als Erinnerungsobjekte der RAD-Generation (1939–2022)

„Liebe Franzi! Für Dein Brieflein herzlichen Dank, wie sehr ich mich darüber gefreut habe, ersiehst Du daraus, daß ich ihn vor 1 Stunde erhielt und sofort antworte.“1 So formulierte eine junge Frau namens Else, deren Familienname uns nicht bekannt ist, den Beginn eines Briefes an ihre Freundin Franziska Grasel. Per Hand zu schreiben, wäre zu auffällig gewesen, schließlich saß Else an ihrem Arbeitsplatz. Doch auf der Schreibmaschine ließ sich am 22. August 1941 mit etwas Geschick dieses private Schreiben in die Dienstpost einschieben. Else musste sich beeilen – darauf deuten die zahlreichen Tippfehler hin. Kennengelernt hatten sich die beiden jungen Frauen im Herbst 1942 beim Reichsarbeitsdienst (RAD) im Ausbildungslager Irnfitz im niederösterreichischen Waldviertel, wo Franziska Grasel und Else den seit September 1939 für weibliche Jugendliche obligatorischen sechsmonatigen Arbeitseinsatz ableisteten. Hier machten die beiden Ostmärkerinnen erstmals Bekanntschaft mit jungen Frauen aus dem Altreich, was zu Freundschaften führte, die teilweise ein ganzes Leben lang hielten. Auch Else und Franziska Grasel korrespondierten nach dem gemeinsam abgeleisteten Pflichtdienst noch eine Weile miteinander. Erhalten sind insgesamt acht Briefe von Else an ihre Freundin Franziska Grasel; das erste Schreiben ist auf den 12. Februar 1944 datiert. Im selben Jahr folgten noch sechs weitere Briefe und ein letzter Brief wurde am 2. Januar 1946 verfasst. Der eingangs zitierte Brief stammt aus dem Vorlass von Franziska Grasel (1921– 2017), die sich selbst 2003 in einem Begleitschreiben an Li Gerhalter (die Betreuerin der Sammlung Frauennachlässe – jenem Archiv, dem Frau Grasel ihren schriftlichen Vorlass übergeben hat) augenzwinkernd als eine leidenschaftliche „Sammlerin“ be-

1 Brief von Else [Nachname unbekannt] an Franziska Grasel, Bruck a. d. L., 15. 9. 1944, Sammlung Frauennachlässe (SFN) am Institut für Geschichte der Universität Wien, Nachlass (NL) 48. In allen Zitaten wurde die Orthografie der originalen historischen Selbstzeugnisse übernommen. Für Anregungen und Diskussionen danke ich an dieser Stelle Li Gerhalter, Christa Hämmerle, Sebastian Jobs, Barbara Lüthi, Ulrich Prehn, Veronika Siegmund und Tom Streuber wie auch den anonymen Peer-Reviewer:innen.

EXTRA

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zeichnete.2 Zu Recht, denn von ihrer Zeit beim Reichsarbeitsdienst sind 380 Fotografien und diverse Objekte in diesem Bestand erhalten: mehrere RAD-Abzeichen, eine Garnitur RAD-Besteck, 22 Propagandaheftchen des Winterhilfswerks (WHW), die sie, wie damals üblich, als Christbaumschmuck nutzte, sowie ein Briefbestand von 145 Schreiben. Unter den Korrespondenzen befinden sich auch 46 Feldpostschreiben von eingezogenen Freunden und ihren beiden Brüdern. Der überwiegende Teil dieses Privatarchivs besteht jedoch aus einem Konvolut von 78 zwischen September 1943 und Dezember 1949 verfassten Briefen von insgesamt 21 Freundinnen – allesamt junge Frauen, die Franziska Grasel bei ihren Einsätzen für den Reichsarbeitsdienst kennenlernte. Ob es darüber hinaus weitere Korrespondenzen gab, ist unbekannt, jedoch wahrscheinlich. Der Inhalt und Umfang dieses Privatarchivs ist ebenso beeindruckend wie banal. Allein im nationalsozialistischen Deutschland verkehrten schätzungsweise 40 Milliarden Postsendungen zwischen ‚Front‘ und ‚Heimat‘.3 Mit dem Slogan „Die Front knipst, die Heimat freut sich“ – „Die Heimat knipst, die Front freut sich“ bewarb auch das deutsche Traditionsunternehmen Adox Dr. Schleussner seine 35-mm-Fotofilme in den 1940er Jahren. Der Fotohistorikerin Petra Bopp zufolge sah das Regime in den Soldaten nicht nur Kombattanten, sondern auch eine „Armee von Millionen von Amateurfotografen“, die Joseph Goebbels dazu aufrief, „ihren Krieg bildlich festzuhalten“.4 Auf vielen deutschen und österreichischen Dachböden schlummer(te)n ähnliche Schrift- und Bildzeugnisse, führte doch der Zweite Weltkrieg zu einer massenhaften zivilen wie soldatischen „Knipserfotografie“ und einer „beispiellosen Verschriftlichung von Erfahrungen“, wie Klaus Latzel unterstreicht.5 Die deutsche und österreichische Forschung schenkte diesen Dokumenten lange Zeit wenig Beachtung, erst im Laufe der 1980er Jahre erwachte ein spätes archivarisches 2 Begleitbrief Franziska Grasels zum Vorlass, Scheiblingkirchen, 4. Juni 2003, Blatt 1, SFN, NL 48. Franziska Grasel setzte in diesem handgeschriebenen Brief den Begriff „Sammlerin“ in Anführungszeichen. Ich arbeite mit einem offenen Archivbegriff, der nicht nur öffentlich-rechtliche, dem Archivgesetz unterstellte Institutionen, sondern auch Sammlungen mit Privatarchiven einschließt. Li Gerhalter von der Sammlung Frauennachlässe sei an dieser Stelle dafür gedankt, dass ich für diesen Beitrag auch die Übergabekorrespondenzen zwischen der Sammlung Frauennachlässe und der Vorlassgeberin Franziska Grasel einsehen konnte. 3 Vgl. Ortwin Buchbender u. Reinhold Sterz (Hg.), Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939–1945, München 1982, 13–16. 4 Petra Bopp, Images of Violence in Wehrmacht Soldiers’ Private Photo Albums, in: Jürgen Martschukat u. Silvan Niedermeier (Hg.), Violence and Visibility in Modern History, New York 2013, 181–197, 181, 182. [Hervorhebung im Original]; vgl. auch Sandra Starke, „Ich lege dir ein paar Bilder bei…“. Feldpost und Fotoalbum von Fritz Bopp, in: Veit Didczuneit, Jens Ebert u. Thomas Jander (Hg.), Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg, Essen 2011, 47–51; Maiken Umbach u. Elizabeth Harvey, Introduction: Photography and Twentieth-Century German History, in: Central European History, 48 (2015), 287–299. 5 Klaus Latzel, Deutsche Soldaten, nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945, Paderborn 1998, 34–35.

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und wissenschaftliches Interesse.6 Dazu haben Archive und Sammlungen wie die 1989 von Edith Saurer initiierte und später am Institut für Geschichte der Universität Wien verankerte Sammlung Frauennachlässe beigetragen.7 Das Dokumentieren von privatem Schriftgut von Frauen oder Personen „abseits der Institutionen des hegemonialen kulturelles Gedächtnisses […] ungeachtet der ihnen allzu lange zugeschriebenen Bedeutungslosigkeit“ erschließt uns einen „gegenläufigen Gedächtnisspeicher“.8 Im materiellen Vermächtnis persönlicher Gegenstände, Briefe und Fotografien einer ‚gewöhnlichen‘ Frau im Nationalsozialismus liegt auch die Besonderheit des Vorlasses von Franziska Grasel, die weder eine hohe Parteifunktionärin noch Gewalttäterin war, sondern eine RAD-Angestellte mittleren Ranges. Der vorliegende Beitrag richtet den Fokus auf Franziska Grasels private Archivierungspraktiken sowie die Übergabe ihres Privatarchivs an eine öffentliche Sammlung, durch die sie die persönlichen Dokumente zu historischem Material – zu Quellen – machte. Somit geht es hier nicht in erster Linie um das autobiografische Schreiben oder Fotografieren als Praktiken der Subjektivierung, dazu wurde bereits viel geforscht.9 Vielmehr interessiert mich am Aufbewahren und Sammeln von Briefen, Fotos und Objekten in einem privaten Kontext der Versuch einer Verwahrung von Erfahrung und Erinnerung durch Gegenstände. In einem zweiten Schritt widme ich mich der Frage, wie, wann und warum diese Dinge schließlich aus der Hand gegeben und einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurden. Ab 2002 vermachte Franziska Grasel ihr Archiv Stück für Stück der Sammlung Frauennachlässe; damit rücken Fragen der Wirkungsmacht von Vergangenheit ins Zentrum, die die engen synchronen zeitlichen Grenzen des Zeitraums 1933 bis 1945 – für Österreich 1938 bis 1945 – sprengen. Der Kulturwissenschaftlerin Ewa Domanska folgend, frage ich nach der materiellen Sinnhaftigkeit von Franziska Grasels Vorlass.10 Wie vermitteln, gestalten und beeinflussen ihre erhaltenen Briefe, Gegenstände und 6 Vgl. Christa Hämmerle, Entzweite Beziehungen?, in: Didczuneit/Ebert/Jander (Hg.), Schreiben im Krieg, wie Anm. 4, 242; vgl. auch Jörg Echterkamp, Kriegsschauplatz Deutschland 1945. Leben in Angst – Hoffnung auf Frieden. Feldpost aus der Heimat und von der Front, Paderborn 2006, 5; Latzel, Deutsche Soldaten, wie Anm. 5, 20–21. 7 Vgl. die Homepage der Sammlung Frauennachlässe, unter: https://www.univie.ac.at/Geschichte /sfn, Zugriff: 9. 1. 2022. Die Sammlung wird seit 2000 von Li Gerhalter betreut und seit 2003 von Christa Hämmerle geleitet. 8 Christa Hämmerle, Fragmente aus vielen Leben. Ein Porträt der „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien, in: L’Homme. Z. F. G., 14, 2 (2003), 375–378, 375. 9 Vgl. Maiken Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933–1945, in: Central European History, 48 (2015), 335–365; Andrew Stuart Bergerson, Laura Fahnenbruck u. Christine Hartig, Working on the Relationship: Exchanging Letters, Goods and Photographs in Wartime, in: Elizabeth Harvey, Johannes Hürter, Maiken Umbach u. Andreas Wirsching (Hg.), Private Life and Privacy in Nazi Germany, Cambridge 2019, 256–279. 10 Vgl. Ewa Domanska, The Material Presence of the Past, in: History and Theory, 45 (2006), 337– 348, 341. Das Konzept ‚materielle Hermeneutik‘ entlehnt Domanska Don Ihdes anthropologischen Studien zur materiellen Kultur.

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Fotografien menschliche Erfahrungen? Und was bedeute(te)n ihre Objekte für die unterschiedlichen Gestalter- und Nutzer:innen? Üblicherweise definieren wir Briefe und Fotografien als von Menschen geschaffene Objekte und verstehen sie in erster Linie als subjektive wie soziale Schöpfungen, die in menschliches Handeln eingebettet sind.11 Artefakte lassen sich jedoch nicht allein auf ihre objektive Beweiskraft und ihren semiotischen Bedeutungsinhalt reduzieren, argumentiert auch die Fotohistorikerin und Kulturanthropologin Elizabeth Edwards, sondern müssen ebenso – wenn nicht in erster Linie – als materielle Gegenstände begriffen werden.12 Dinge existieren nicht nur, sie prägen die Beziehung und den Zugang von Menschen zur Wirklichkeit; demzufolge sind Fotografien und Briefe von hermeneutischer Bedeutung und haben wirklichkeitsgestaltendes Potenzial – für die historischen Akteur:innen, aber auch für uns Historiker:innen.13 Diese ‚Handlungsfähigkeit‘ bedeutet nicht, dass die Objekte Absichten oder ein Bewusstsein haben, wie Domanska zu Recht betont; Gegenstände erfüllen jedoch eine zeitlich nicht begrenzte wichtige sozialisierende und wirklichkeitsgestaltende Funktion: „At the collective level things help build and strengthen interpersonal relations as they serve to connect people.“14 Interessant an diesem Ansatz ist, dass Fotos, aber auch Briefe als material performances verstanden werden, als rohe Materialien, die etwas in uns auslösen, an denen wir uns reiben, und zwar, wie ich zeigen werde, in immer neuen Kontexten. Fotografien und Briefe schreiben sich in eine breite kulturelle Matrix des Bewahrens (Elizabeth Edwards) und Vermittelns (Marianne Hirsch) ein.15 In einer komplexen Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehend, materialisieren sie im Laufe der Zeit in ihrer ‚sozialen Biografie‘ eine Bandbreite von menschlichen Wünschen, Bedürfnissen, Sehnsüchten und Begierden.16 Sie bestimmen das menschliche Verhältnis zur Gegenwart und ermöglichen gleichzeitig einen subjektiven Zugang zur Vergangenheit. Archivieren – persönliches wie auch institutionalisiertes – ist ein fortwährendes Auswählen, was gesammelt, aufgenommen und verwahrt wird und was nicht. Wie ich verdeutlichen werde, spiegeln selbst Privatarchive gesellschaftliche und politische Machtverhältnisse wider. In den Vordergrund rücken somit Fragen nach der Medialität und Materialität dieser Quellen sowie die Bedeutung und (Langzeit‐) Wirkung von Briefen und Fotografien. 11 Vgl. Leora Auslander, Beyond Words, in: The American Historical Review, 110 (2005), 1015– 1045. 12 Vgl. Elizabeth Edwards, Photography and the Material Performance of the Past, in: History and Theory, 48 (2009), 130–150. 13 Vgl. Domanska, The Material Presence of the Past, wie Anm. 10, 342; vgl. auch Sebastian Jobs u. Alf Lüdtke (Hg.), Unsettling History: Introduction, in: Sebastian Jobs u. Alf Lüdtke (Hg.), Unsettling History. Archiving and Narrating in Historiography, Frankfurt a. M. 2010, 7–25. 14 Domanska, The Material Presence of the Past, wie Anm. 10, 339. 15 Vgl. Edwards, Photography and the Material Performance of the Past, wie Anm. 12, 131; Marianne Hirsch, The Generation of Postmemory, in: Poetics Today, 29 (2008), 103–128. 16 Vgl. Edwards, Photography and the Material Performance of the Past, wie Anm. 12, 131–132.

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Franziska Grasels Vorlass dient mir daher als Ausgangspunkt einer dreistufigen Erkundung. Zunächst widme ich mich ihrer gelebten Erfahrung der NS-Zeit und der Bedeutung von Briefen und Fotografien: Inwiefern bilden diese Objekte Räume für subjektives Erleben und für soziale Handlungen? Wie produzieren sie Gemeinschaft und tragen dazu bei, den Alltag zu politisieren? In einem zweiten Schritt hinterfrage ich die Praxis des privaten Archivierens: Was bedeuteten all die NS-Objekte für Franziska Grasel, warum steckte sie so viel Mühe und Energie in deren Verwahrung? Was sagt der Akt des Aufbewahrens über ihre emotionale Bindung zum Nationalsozialismus während des Krieges und nach 1945 aus? Im dritten Teil geht es um Grasels Vorlass als öffentlich zugängliches Archiv: Wie gehen wir als Forscher:innen und Nachfahr:innen mit diesem Vorlass um? Was tun diese Objekte heute beziehungsweise was werden sie in der Zukunft tun? Der geschärfte Blick auf das Verhältnis zwischen Artefakt und Akteur:in, so die These dieses Beitrags, nuanciert unser Verständnis von Politisierung, weil er sich nicht ausschließlich auf den Zusammenhalt der Volksgemeinschaft durch die historischen Akteur: innen konzentriert, sondern die Perspektive weg vom Inhalt hin zu den performativen Langzeitwirkungen von Objekten richtet. Die über Gegenstände transzendierte emotionale Präsenz des Nationalsozialismus erlaubt es, die Nachkriegszeit neu und kritisch zu hinterfragen und wirft gleichzeitig ethische Fragen an uns Forscher:innen auf, zumal wir diese Erfahrungen erforschen und weitertragen.

1.

Objekte als wichtige Manifestationen der NS-Zeit

Der männliche RAD betonte das Mannsein und die Aufnahme der von der Hitlerjugend kommenden jungen Männer in die Gruppe der Erwachsenen. Im Gegensatz dazu führte der Reichsarbeitsdienst für die weibliche Jugend (RADwJ) die Bezeichnung des BDM weiter: Aus Mädeln wurden Maiden, was sowohl ein Kind weiblichen Geschlechts (Mädchen), eine unverheiratete geschlechtsreife weibliche Person (Jungfrau) als auch eine Hausangestellte bezeichnen kann.17 Die Wahl dieses bereits in den 1930er Jahren veralteten Begriffs aus dem Mittelhochdeutschen war eine klare Reminiszenz an die im Nationalsozialismus gepflegte Agrarromantik. Sie macht zudem klar, dass die Zielgruppe, ähnlich wie beim BDM und dem weiblichen zivilen Gefolge der Wehrmacht und SS, junge, ledige Frauen vor ihrem Eintritt in ein eigenständiges Familienleben waren.18 17 Vgl. Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York 200224, 588. Zur Wortbedeutung vgl. Duden online, unter: http://www.duden.de/rechtschreibung/Maedchen#b2Bedeutung-1a, Zugriff: 9. 1. 2022. 18 Vgl. Elizabeth Harvey, „Der Osten braucht dich!“ Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik, Hamburg 2009 (2003), 109–156; Dagmar Reese (Hg.), Die BDM-Generation: Weibliche Jugendliche in Deutschland und Österreich, Berlin 2007; Franka Maubach, Die Stellung

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Ursprünglich stand der RAD ganz im Zeichen der Blut-und-Boden-Ideologie, die sich auf die Prädikate „gesund, bäuerlich, deutsch [arisch]“ konzentrierte.19 Folgerichtig war der primäre Einsatzsektor der Arbeitsmaiden die Landwirtschaft, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung exemplarisch aufgewertet wurde. Insbesondere Städterinnen sollten sich mit der Land- und Erntearbeit vertraut machen. Ein weiterer Aufgabenbereich bestand in der sogenannten Volkstumsarbeit. In den eingegliederten und annektierten Ostgebieten leisteten junge Frauen Kolonisierungsarbeiten. Ihnen fiel die wichtige Aufgabe zu, die volksdeutschen Ansiedler:innen zu betreuen und mit einer genuin ‚deutschen‘ Lebensweise vertraut zu machen, während sie gleichzeitig mithalfen, die lokale slawische Bevölkerung aus ihren Dörfern und Häusern zu vertreiben.20 Die Historikerin Franka Maubach sieht im Reichsarbeitsdienst für die weibliche Jugend zu Recht ein „entscheidendes Kriegseinsatzpropädeutikum für Frauen“.21 Für weibliche Jugendliche zwischen 17 und 22 war der Reichsarbeitsdienst zunächst freiwillig, während für 18- bis 25-jährige Männer seit 1935 eine zwingende Dienstpflicht galt.22 Erst mit Kriegsbeginn, im September 1939, setzte auch für junge Frauen ein sechsmonatiger obligatorischer Arbeitsdienst ein. Trotzdem kam der weibliche Arbeitsdienst über einen Personalstand von jährlich 40.000 Maiden nie hinaus,23 in der Gesamtstruktur blieben die Frauen den Männern nicht nur zahlenmäßig unterlegen, sondern auch hierarchisch nachgeordnet. Ihr Eintauchen in die RAD-Umgebung während des sechsmonatigen Pflichtdienstes war dennoch ebenso prägend wie nachhaltig, wie ein von Franziska Grasel 2003 für die Sammlung Frauennachlässe zusammengestelltes Fotoalbum und ihre im Sommer 2002 verfassten autobiografischen Aufzeichnungen bezeugen: „Ein paar hochgewachsene Birken dazwischen, die lange Baracke der 4 Schlafräume der Kameradschaften. […] Eine buntzusammengewürfelte Schar – aus allen Windrichtungen wurde nun aufgeteilt in unsere zukünftige Behausung. […] unsere Schar bestand aus Wie-

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halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Göttingen 2009, 45–53, 64; Elissa Mailänder Koslov, Gewalt im Dienstalltag. Die Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek, Hamburg 2009, 93–136. Gesine Gerhard, Gesund, bäuerlich und deutsch: Das Körperideal in der nationalsozialistischen Rassenideologie Richard Walther Darrés, in: Magdalena Vuković (Hg.), „Im Dienst der Rassenfrage“. Anna Koppitz’ Fotografien für Reichsminister R. Walther Darré, Salzburg 2016, 13–30. Harvey, „Der Osten braucht dich!“, wie Anm. 18, 193–198 und 401–412. Maubach, Die Stellung halten, wie Anm. 18, 63. Am 26. Juni 1935 verabschiedete das Kabinett Hitler das Reichsarbeitsdienstgesetz, das die Ausrichtung und das Profil des RAD definierte. Vgl. Reichsarbeitsdienstgesetz, in: Reichsgesetzblatt 1935, Teil 1, 769–771. Die Gesamtzahl der RAD-Lager lässt sich heute nicht mehr genau feststellen. Seifert geht von 1500 bis maximal 2000 Lagereinheiten für die weibliche Jugend aus. Vgl. Manfred Seifert, „Ehrendienst am deutschen Volke“ und „Schule der Volksgemeinschaft“: Der Reichsarbeitsdienst (RAD), in: Stephanie Becker (Hg.), „Und sie werden nicht mehr frei sein ihr ganzes Leben.“ Funktion und Stellenwert der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände im „Dritten Reich“, Berlin 2012, 105–140, 105, 114 und 121–122.

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nerinnen, Niederösterreicherinnen, Oberösterreicherinnen u. Sachsenmädchen. […] Nun lernten wir uns auch näher kennen, ich staunte – […] Die ersten 3 Wochen vergingen schnell vorbei. Nach dem Wecken Frühsport, Waschen, Bettenbauen!!! Frühstück, Singen, Schulung, Wehrmachtsbericht, Fronten nachvollziehen u. dgl. […].“24

Abb.1: Franziska Grasel (erste von rechts) mit ihrer Kameradschaft IV im RAD-Ausbildungslager Irnfitz. Die vermutlich im Winter 1942/1943 aufgenommene Fotografie stammt aus dem 2003 von ihr eigenhändig angelegten und beschrifteten Fotoalbum. Fotoalbum Franziska Grasel, SFN, NL 48.

Die jungen Frauen lebten also in Baracken und hatten sich einem strikt geregelten Tagesablauf zu unterwerfen. Im Gegensatz zu den Lagern für junge Männer, die 150 bis zu 200 Personen umfassten, operierten die Lagereinheiten des weiblichen Arbeitsdienstes mit kleineren Belegschaften von 30 bis 50 Jugendlichen. Das erlaubte ein intimeres Umfeld, was wiederum das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den jungen Frauen förderte. Vordergründiges Ziel der Organisation war es, dem Ethnologen und RAD-Forscher Manfred Seifert zufolge, ein „tiefes intuitives Erlebnis zu schaffen“.25 24 Lebenserinnerungen Franziska Grasel, 8f., SFN, NL 48. 25 Seifert, Ehrendienst am deutschen Volke, wie Anm. 23, 109; vgl. auch Gudrun Brockhaus, Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot, München 1997, 58.

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Dabei verfolgte die Dienstpflicht in zumeist entlegenen Gegenden das Ziel, die jugendlichen Frauen aus ihrem familiären Umfeld und ihren gewohnten Sozialkontakten herauszulösen, um dann in geografischer Abgeschiedenheit aus einer heterogenen Gruppe eine weibliche Lagergemeinschaft zu bilden.26 Der RADwJ hatte einen dezidiert militärischen Anstrich: Ein Lager zählte in der Regel drei bis vier in Elfergruppen zusammengefügte Kameradschaften, denen jeweils eine Kameradschaftsälteste vorstand. Bei aller Begeisterung konnte der Lageralltag mit seinen Ritualen (Appelle, Fahnenaufziehen, Feldarbeiten, Marschieren, Singen, Sport, Flickstunden) für junge Frauen zuweilen jedoch auch sehr eintönig sein. Obwohl zutiefst vom Arbeitsdienst überzeugt, erinnerte sich Franziska Grasel 2003 rückblickend auch an die dort herrschende Monotonie: „Beim R.A.D. gab es ja nicht viel Abwechslung in punkto Unterhaltung, die Lager waren ja in den entlegensten Gegenden. Außer die Arbeit bei den Bauern, oder gemeinsame Ausflüge und Wanderungen, ansonsten durfte man nicht aus dem Lager. […] Also was war das Naheliegendste – schreiben in alle Windrichtungen und warten auf Post. Das war immer der schönste Augenblick Postverteilung! Manchmal auch Enttäuschung, wenn nichts dabei war.“27

Der RAD förderte ausdrücklich Korrespondenzen und stellte Papier und Briefporto kostenlos zur Verfügung,28 weil er in Briefen und Fotografien wichtige Technologien und Instrumente der Vermittlung sah, die Menschen zusammenbrachte. Dem Lateinischen correspondere entlehnt, bezeichnet Korrespondieren ein Wechselspiel zwischen Antworten, Versichern, Versprechen, Übereinstimmen und Austauschen, das aber nicht notgedrungen ein Dialog sein muss, sondern auch ein Tausch von Objekten zwischen Sender:in und Empfänger:in sein kann. Eine Fotografie in Franziska Grasels Fotoalbum hält den Moment der Postverteilung fest: Die jungen Frauen haben sich in Reih und Glied aufgestellt, um von ihrer Vorgesetzten, vermutlich der Jungführerin, ihre Briefe zu empfangen. Neben dem Briefeschreiben war auch das Fotografieren ein beliebter Zeitvertreib, der Austausch von Fotos laut Franziska Grasel sogar „bestimmt das Wichtigste in den Lagern, ja in jeder Kameradschaft, […] alles wurde zur Erinnerung getauscht und gesammelt“.29 2003 erläuterte sie diesen Prozess der Sammlung Frauennachlässe: „In jedem Lager waren immer einige Wienerinnen in der Belegschaft, die schickten die Filme zur Ausarbeitung nach Hause, wir bekamen dann die Bilder nach aufgelisteter Bestellung zurück. Auch Filme bekamen wir anstandslos.“30 So finden sich auch in Briefen aus Franziska Grasels Sammlung immer wieder Hinweise auf Fotos als beliebte 26 Vgl. Seifert, Ehrendienst am deutschen Volke, wie Anm. 23, 121. 27 Begleitbrief zum Vorlass, Scheiblingkirchen, 4. Juni 2003, Blatt 4/5, SFN, NL 48. Auch das Zitat im Titel dieses Beitrags entstammt diesem Brief (Blatt 4/5). 28 Vgl. Begleitbrief zum Vorlass, Scheiblingkirchen, 4. Juni 2003, Blatt 4/5, SFN, NL 48. 29 Begleitbrief zum Vorlass, Scheiblingkirchen, 4. Juni 2003, Blatt 5, SFN, NL 48. 30 Begleitbrief zum Vorlass, Scheiblingkirchen, 4. Juni 2003, Blatt 5, SFN, NL 48.

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Tauschware und Briefzugabe: „Auf die Bilder freue ich mich schon sehr, auch die von Dir lässt Du mir machen, ja? Ich schicke dann gleich das Geld.“31

Abb. 2: „Postverteilung“, aufgenommen in Irnfitz im Winter 1942/1943. Fotoalbum Franziska Grasel, SFN, NL 48.

Wie eng Fotografieren und Korrespondieren miteinander verknüpft und konstitutiv für die Lagergemeinschaft waren, zeigt sich insbesondere, wenn eine Maid versetzt wurde oder die Gruppe sich berufsbedingt trennen musste, wie in dem eingangs zitierten Brief. Die dialogische Ausrichtung von Briefen erlaubte es den Kameradinnen aus Irnfitz über den Krieg hinaus Kontakt zu halten. Die jungen Frauen nutzten das „schriftliche Gesprächsmedium“ gezielt,32 um räumliche Distanzen zu überwinden und den Zusammenhalt aufrecht zu halten. Freundinnen berichteten über ihre Versetzungen, schilderten einander detailgenau die Freuden und Mühen ihres Alltags und schrieben über ihre Liebesnöte oder über Berufliches. Regelmäßig erkundigten sich die jungen Frauen nach dem Verbleib oder Befinden der anderen Kameradinnen, gelegentlich gab es auch abenteuerliche Anekdoten zu berichten, beispielsweise über Bombenangriffe oder Kameradschaftsabende sowie Flirts mit Soldaten. 31 Brief von Ilse an Franziska Grasel, o. D. [ohne Datum], vgl. auch den Brief von Elfriede an Franziska Grasel, Jefalten, 10. 7. 1944, SFN, NL 48. 32 Latzel, Deutsche Soldaten, wie Anm. 5, 17.

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Von der technischen Möglichkeit, mit Pauspapier ihre Briefe zu vervielfältigen und damit an mehrere Adressatinnen gleichzeitig zu richten, schienen sie jedoch nicht Gebrauch zu machen. Sehr wohl nutzten die jungen Frauen aber die Gelegenheit, gemeinsam einen Brief zu gestalten, wann immer zwei oder drei aus einer Kameradschaft sich am selben Einsatzort befanden. Ein Wort gab das andere, Neckereien, Anekdoten und Karikaturen machten das Schreiben zu einem vielstimmigen, lebhaften verbalen Schlagabtausch, wie Ursel aus Bremen, eine Kameradin aus Irnfitz (1942), zusammen mit anderen Absenderinnen Franziska Grasel im März 1944 fröhlich berichtete: „[…] Elsbeth hatt sich hier einen „festen“ Uffz. [Unteroffizier] zugelegt, den sie bei zu jeder Zeit am Rock hängt. Lotte versucht es natürlich auch. Allerdings reichte es nur bis zu einem OGefr. [Obergefreiter]. Friedel hat vielleicht schon den 10. Sie macht alle durch (Leider auch verheiratete!). Hanna bildet sich ein, von einem Uffz. verehrt zu werden u. wird immer rot. Um Marias Verlobung ist es immer noch so komisch, sie sucht sich auch hier Abwechslung! Frieda, die immer so vernünftig sprach, hält es auch mit einem ‚Verlobten‘! Es soll angeblich nur ‚Kameradschaft‘ sein! In unserem Zimmer ist ‚Gott sei Dank‘ keiner so verrückt. Fanny’s Verlobter hat sie vor einigen Tagen einmal besucht, auch war sie schon einmal auf Sonderurlaub! Lisa ist nicht besonders hübsch! Erna und wir 2 führen die Soldaten an der Nase rum! Gestern abends waren wir zum Volkstanzen im Privatdirndl! Es war recht nett u. als es etwas ‚persönlicher‘ wurde, sind Ly und ich davongerannt. Wir fressen alles mögliche aus! Einen Spaß machen wir schon mit, aber dann ist Schluß! Auch mit meinem Brief soll nun Schluß sein, denn ich habe schon viel getratscht! Es grüßt Dich recht herzlich Deine Ursel“33

Kommuniziert wurde somit nicht allein zwischen Lager- und Außenwelt, sondern insbesondere auch innerhalb des RAD-Kosmos. Christa Hämmerle spricht in Bezug auf Korrespondenzen zwischen Ehe- und Liebespaaren von einem „Paarkosmos“, den die Schreibenden als Deutungs-, Möglichkeits- und Handlungsraum in Briefen gemeinsam gestalteten.34 Die Freundinnen folgten ähnlichen Mustern, wobei sie genau wussten, wovon gesprochen wurde und wie sie sich das Beschriebene vorzustellen hatten. Die Adressatinnen konnten sich Inhalt, Stimmen, Tonfall, Akzentuierung und Mimik der Schreiberinnen nur allzu gut ausmalen. Dabei schufen sich die Schreiberinnen mit den Briefen einen gemeinsamen virtuellen Raum, der Nähe vermittelte. Mit den dort vermittelten Gedanken, Gefühlen sowie durch Klatsch und Tratsch verliehen die Korrespondierenden einer propagandistisch aufgeladenen Vergemeinschaftung eine konkrete intime Gestalt. 33 Verschiedene Absenderinnen, Brief von Ursel an Franziska Grasel, o. O. [ohne Ort], 4. 3. 1944, SFN, NL 48 [Hervorhebungen von E. M.]. 34 Christa Hämmerle, Gewalt und Liebe – ineinander verschränkt. Paarkorrespondenzen aus zwei Weltkriegen: 1914/18 und 1939/45, in: Ingrid Bauer u. Christa Hämmerle (Hg.), Liebe schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2017, 171–230.

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Briefe und Fotografien, als materielle Objekte verstanden, wurden von den historischen Akteur:innen also geschrieben beziehungsweise geknipst, entwickelt, aufbewahrt, vorgelesen, herumgereicht, gezeigt und getauscht, in Fotoalben geklebt oder weggeworfen. In all diesen Etappen (und davon gibt es sicherlich noch mehr) erfüllten sie soziale, kulturelle und politische Bedürfnisse beziehungsweise Erwartungen, und das auf staatlich-institutioneller wie auch auf einer privaten mikrosozialen Ebene. Die Berücksichtigung der materiellen Praktiken des Fotografierens und Schreibens eröffnet nicht nur neue Interpretationsstrategien, sie wirft auch die Frage auf, welches Potenzial die Fotografinnen, Schreiberinnen und Sammlerinnen selbst in den Bildern und der Post sahen – und das weit über den Nationalsozialismus hinaus. Das Betrachten und Austauschen solcher Objekte verband die gemeinsam erlebte nahe Vergangenheit mit der Gegenwart und öffnete gleichzeitig Zukunftsperspektiven.

2.

Vom Privatarchiv zum Vorlass: Franziska Grasels Umdeutung historischer Materialien

Nach Absolvierung des sechsmonatigen Pflichtdienstes stand die nunmehr 22-jährige Franziska Grasel im Frühjahr 1943 vor der Frage, wie es nun beruflich weitergehen sollte. Bei guter Eignung gab es nach dem ersten Pflichtdienst die Möglichkeit, von der Lagerführerin zur Kameradschaftsältesten ernannt zu werden, mit weiteren Aufstiegsperspektiven. Der Reichsarbeitsdienst unterschied zwischen einberufenen Arbeitsdienstpflichtigen, Freiwilligen und Längerdienenden. Während sich Franziska Grasel ohne viel Umschweife hauptberuflich für den RAD und eine berufliche Laufbahn in einer politischen Organisation entschied, ließ ihre Freundin Else sich wohl eher halbherzig und aus Mangel an Perspektiven weiterhin zur Büroarbeit verpflichten. Im Gegensatz zu Franziska Grasel fand Else wenig Befriedigung an ihrer Betätigung, die sie konsequent als „Einsatz“ und somit nicht als eine berufliche Wahl bezeichnete. Trotzdem gratulierte Else ihrer Freundin gleich am Beginn eines Briefes vom August 1944 zur erneuten Beförderung: „Ist ja toll wie schnell das bei Dir gegangen ist, ich war ganz erstaunt, als ich bei Deinem Absender Muf. [Maidenunterführerin] las.“35 Ein Blick auf den Briefumschlag genügte, um den Karrieresprung sofort zu registrieren. Scherzhaft fügte Else am Ende des Briefes hinzu: „Ja liebe Franzi ob Du willst oder nicht, ich werde unbedingt einmal das Lager besuchen, indem Du ‚herrschst‘.“36 Hinter

35 Brief von Else [Nachname unbekannt] an Franziska Grasel, Bruck an der Leitha, 24. 8. 1944, S. 1, SFN, NL 48. 36 Brief von Else [Nachname unbekannt] an Franziska Grasel, Bruck an der Leitha, 24. 8. 1944, SFN, NL 48.

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dem scherzhaft neckischen Ton steckt eine aufrichtige Anerkennung und so bezeugen auch Elses Briefe vor allem eines: Respekt.37 In der Tat ist der Nationalsozialismus nicht für seine flachen Hierarchien bekannt. Vielmehr funktionierte das nationalsozialistische Herrschaftsmodell „über die widersprüchliche und gleichzeitig hochdynamische Form einer bis ins Kleinste ausdifferenzierten Über- und Unterordnung, die sich in ihr auflösen sollte“.38 Dennoch gelang es Organisationen wie dem RAD Franka Maubach zufolge, die Vertikale der Hierarchie so weit in die Horizontale zu ziehen, dass die Mitglieder mit der Führerin als einer „besten Kameradin“ das Gefühl hatten, ihr ebenbürtig zu sein. „Innerhalb des undurchschaubaren Kosmos nationalsozialistischen Gradierungswahns entstanden Positionen mit denkbar kleinsten Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereichen, sodass zuletzt jeder und jede eine Stellung besetzte […]. Jedem und jeder sollte ein Gefühl der gesteigerten Selbstbedeutsamkeit suggeriert werden.“39 Den Korrespondenzen nach zu urteilen, schien dieses System sehr gut zu funktionieren. Neben der Bewunderung für die Leistungen ihrer Freundin schwingt bei Else aber auch ein leichter Unterton von Neid über die Berufung (vocatio) – verstanden im doppelten Wortsinn, als Beförderung, aber auch als besondere Befähigung – Franziska Grasels mit: „Jedenfalls Franzi bist Du sehr zu beneiden, denn Du hast Deinen Beruf, der Dich auch wirklich ausfüllen kann. Ich bin ja neugierig, ob und wann ich einmal was werde.“40 Immer wieder tritt in Elses Briefen dieses Gemisch aus zwiespältigen Gefühlen und Humor in Erscheinung. Sie und andere Freundinnen von Franziska Grasel beklagten sich zwar häufig über ihre Einsätze, ihre Briefkorrespondenzen bezeugen jedoch ebenso, welch positiv-prägendes Erlebnis die RAD-Zeit für die jungen Frauen war. „Ich denke wirklich jetzt sehr gerne an die RAD Zeit zurück, umso mehr als einem ja später nur das Schöne in Erinnerung ist, aber nocheinmal möchte ich nicht dahin“,41 gestand Else im Oktober 1944 ihrer Freundin. In einem ihrer letzten Briefe an Franziska Grasel, einem undatierten, auf kariertem Schulpapier in Eile notierten Neujahrsgruß, schrieb Else vermutlich im Dezember 1944: „Nun noch alles Gute u. viel Erfolg im kommenden Jahr, aber nicht, daß Du mich am Ende, wenn Du mich wieder triffst und mindestens Stabsführerin geworden bist nicht mehr kennst!!“42 Hier werden Zukunftsperspektiven benannt, die für Franziska Grasel und viele ihrer Altersgenossinnen, wie wir heute wissen, nicht in 37 Vgl. beispielsweise den Brief von Else [Nachname unbekannt] an Franziska Grasel, Wien, 17. 5. 1944 oder das Schreiben von Gottfried G. vom 24. 11. 1943, o. O., SFN, NL 48. 38 Maubach, Die Stellung halten, wie Anm. 18, 66. 39 Maubach, Die Stellung halten, wie Anm. 18, 66–67. 40 Brief von Else [Nachname unbekannt] an Franziska Grasel, Bruck an der Lahn, 24. 8. 1944, SFN, NL 48. 41 Brief von Else [Nachname unbekannt] an Franziska Grasel, Bruck a. d. L., 13. 10. 1944, S. 3, SFN, NL 48. 42 Brief von Else [Nachname unbekannt] an Franziska Grasel, Neujahrswunsch, ohne Ortsangabe und Datum, SFN, NL 48.

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Erfüllung gingen. Nach Kriegsende kehrte Franziska Grasel im November 1945 zu ihren Eltern nach Niederösterreich zurück, wo sie zunächst als Strickerin in Heimarbeit ihr Geld verdiente, bevor sie in Wiener Neustadt in einer Grafit-Schmelztiegelfabrik und später in einer Großwäscherei arbeitete.43 Daneben baute sie weiter an ihrem Privatarchiv. Der Kontakt mit der Sammlung Frauennachlässe in Wien ergab sich 2002 indirekt und zufällig. Maria Bauer, eine Schulfreundin von Franziska Grasel, hatte sich 1998 an einem niederösterreichweiten Schreibaufruf zum Thema ‚Altern‘ beteiligt. Darüber kam die Verbindung mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku) an der Universität Wien zustande, wo sie weitere Dokumente einreichte. 2002 befand sich unter den autobiografischen Texten, die Bauer einschickte, auch die Feldpostkorrespondenz eines Schulfreundes mit Grasel, welche dann an die Sammlung Frauennachlässe weitergegeben wurde. Über diesen ersten indirekten Kontakt entwickelte sich ab Mai 2002 eine rege Kommunikation mit Franziska Grasel persönlich: „Habe Frau Bauer versprochen, falls ich noch Verwertbares von früherer Zeit auffinde, es noch zusammen zustellen“44, schrieb Grasel Li Gerhalter von der Sammlung Frauennachlässe. Die damals Einundachtzigjährige hatte für die Sammlung einen ersten lebensgeschichtlichen Bericht verfasst und dieser persönliche Unterlagen sowie 16 Feldpostbriefe ihres Bruders anvertraut. Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive ist interessant, dass diese ersten Originaldokumente, die sie einreichte, von einem Mann stammten und nicht ihre eigenen waren. Alsbald baute sich ein Vertrauensverhältnis zur Sammlung Frauennachlässe auf, der Grasel mit diversen Schenkungen nach und nach ihre Privatsammlung vermachte. Die umfangreichen Sendungen waren erstaunlich präzise sortiert und beschriftet.45 „Nachdem ich ja niemanden mehr habe, wird sicher alles im Kontainer landen“46, kommentierte Grasel eine ihrer letzten Schenkungen lakonisch. Eine wichtige Motivation für die kinderlose Vorlassgeberin war es offensichtlich, die unerwartete Gelegenheit am Schopf zu packen und ihre persönlichen Dokumente und Erinnerungen vor einer Zerstörung nach ihrem Ableben zu bewahren. Ende 2002 nahm sich Franziska Grasel über die Feiertage vor, der Sammlung Frauennachlässe auch noch ein Konvolut von insgesamt 380 Fotografien zu übergeben, „als Abschluss […] bevor sie im Altpapier oder im Ofen landen“.47 Sie ließ dafür neue 43 Vgl. Elissa Mailänder, Amour, mariage, sexualité. Une histoire intime du nazisme (1930–1950), Paris 2021, 129–189. 44 Handschriftlicher Brief von Franziska Grasel an die Sammlung Frauennachlässe, Scheiblingkirchen, 25. Mai 2002, SFN, NL 48. 45 Vgl. Schreiben von Li Gerhalter im Namen der Sammlung Frauennachlässe an Franziska Grasel, Wien, 11. Juni 2002, SFN, NL 48. 46 Handschriftlicher Brief von Franziska Grasel an die Sammlung Frauennachlässe, Scheiblingkirchen, 3. März 2003, SFN, NL 48. 47 Handschriftlicher Brief von Franziska Grasel an die Sammlung Frauennachlässe, Scheiblingkirchen, 20. Dezember 2002, SFN, NL 48.

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Abzüge anfertigen und legte sogar ein eigenes Album mit 316 Fotografien an, das sie für zeitgenössische und zukünftige Betrachter:innen datierte und kommentierte.48 Das Zusammenstellen dieses Fotoalbums war mühsamer als erwartet, wie Grasel Li Gerhalter gestand: „Na, das war vielleicht Schwerarbeit bis ich mit meinen zittrigen Händen das Paket versandfertig zusammenbrachte.“49 Der Großteil der Bilder, insgesamt 249, stammt aus ihrer Zeit im Reichsarbeitsdienst und zeigt Franziska Grasel und ihre RAD-Kolleginnen, daneben finden sich in der Albumkompilation Kunstpostkarten und ausgewählte, an sie adressierte Postkarten. 30 Fotos auf eingelegten Albumblättern zeigen auch ihre Brüder als Soldaten, dazu kommen weitere lose Familienfotografien. Vielleicht gab es auch ein Album aus der NS-Zeit, von dem Grasel sich nicht trennen wollte. Falls jedoch das im März 2003 fertiggestellte Album wirklich ihr erstes war, ist dieses, verglichen mit den Fotoalben von Altersgenoss:innen, erstaunlich spät entstanden.50 Der zeitlich große Abstand zwischen dem Anlegen des Albums und den historischen Ereignissen spiegelt sich auch in der Montage wider, zumal sich unter all den Schwarz-Weiß-Bildern aus der NS-Zeit gelegentlich auch eingelegte Albumblätter mit Farbfotografien finden. In den 1980er Jahren hatte Franziska Grasel ihre ehemaligen RAD-Lager Irnfitz und Reingers erneut aufgesucht und fotografiert. Zwanzig Jahre später erläuterte sie diesen Besuch noch einmal mit rotem Stift für die zukünftigen Archivnutzer:innen: „Ausgebombte Menschen haben sich die Holzbaracken wohnlich gemacht.“51 Wo sich 1942 die Schlafräume der RAD-Kameradschaft IV befunden hatten, stand 1982 eine Blumenveranda. Auf Nachfragen der Betreuerin der Sammlung Frauennachlässe antwortete die Vorlassgeberin stets gewissenhaft, die Übergabe des Vorlasses war aber im Sommer 2003 abgeschlossen. Der direkte Kontakt mit Franziska Grasel blieb bis 2011 erhalten, ab 2013 bis zu ihrem Tod im Oktober 2017 lief er dann über ihre Betreuerin vom mobilen Pflegedienst. Die heutige Fülle und Beschaffenheit dieses Bestandes zeugt von seiner wichtigen emotionalen Bedeutung für die Besitzerin während und nach der NS-Zeit. Wie sie Li Gerhalter im Zuge der Archivierung ihres Vorlasses in der Sammlung Frauennachlässe erklärte, schickte Franziska Grasel als Arbeitsmaid alles, was sie nicht unbedingt vor Ort bei ihren RAD-Einsätzen in Irnfitz und Reingers (Ostmark), Groß Machmin (Pommern) oder in Brünn (Protektorat Böhmen und Mähren) brauchte, regelmäßig nach 48 Manche Fotos sind doppelt vorhanden, beispielsweise Abb. 1, 3 und 4 in diesem Beitrag. 49 Handschriftlicher Brief von Franziska Grasel an die Sammlung Frauennachlässe, Scheiblingkirchen, 3. März 2003, SFN, NL 48. 50 Vgl. Petra Bopp, unter Mitarbeit von Sandra Starke, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009; Linda Conze, Ulrich Prehn u. Michael Wildt, Photography and Dictatorships in the Twentieth Century: Introduction, in: Journal of Modern European History, 16 (2018), 453–462. 51 Fotoalbum Franziska Grasel, März 2003, SFN, NL 48.

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Hause. In Scheiblingkirchen (Niederösterreich) lagerte die Mutter dann diese Post im elterlichen Bauernhof in Franziska Grasels ehemaligem Mädchenzimmer. Nach dem Krieg zog Grasel wieder nach Wiener Neustadt (Niederösterreich), der Großteil der Briefe und Fotos blieb aber in Scheiblingkirchen. „Mein Raum im Elternhaus, in dem ich meine Sachen aufbewahrte war sehr sonnig […]. Ja und in den 60 Jahren hat sich so manches gelöst, teilweise vergilbt oder ist brüchig geworden“52, erläuterte Franziska Grasel. Einige Objekte, wie auch Elses maschinengetippter Brief, tragen somit stoffliche Spuren der Zeit und Verwitterung. Erst später, als Franziska Grasel wieder zurück nach Scheiblingkirchen zog, lagerte sie ‚ihre Sachen‘ sorgsam im Dunkeln. Warum bewahrte sie diese Dinge so lange und so sorgfältig auf ? Die materiellen Praktiken des Aufbewahrens (in Schachteln, Alben oder Akten) und die Sorge um ihre Fotos und Briefe, all die Vorkehrungen, die Franziska Grasel traf, um sie zu überliefern, sagen sehr viel über ihre Beziehung zu diesen Objekten aus. Die materielle und chemische Empfindlichkeit dieser Artefakte sind keine bloßen Attribute, sie bestimmen Elizabeth Edwards zufolge vielmehr die ‚sozialen Beziehungen‘ zwischen diesen Gegenständen und den historischen Akteur:innen. Die beschriebene materielle Anfälligkeit der Objekte hat auch Einfluss auf den emotionalen Wert, den Menschen ihnen zusprechen und das Engagement, mit denen sie sich um ihren Erhalt bemühen. Spannungen zwischen dem potenziellen materiellen Verlust der Vergangenheit und der Sorge um die Konservierung der Materialität sind folglich auch Ausdruck von Begehren: „It is precisely such close attention to the way the material performs the intersection of historical and photographic desire that forces a more profound engagement with the nature of the historical statement so produced.“53 Die heute in der Sammlung Frauennachlässe verwahrten Briefe, Fotos und Erinnerungsobjekte Franziska Grasels haben also den Krieg und über 60 Jahre überstanden, bevor die Besitzerin sie aus der Hand gab. Die archivalischen Praktiken der Sammlerin zeugen davon, dass es ihr zunächst einmal ein privates Anliegen war, die Dinge für sich aufzuheben. Indem sie während des Krieges die Gegenwart (den Nationalsozialismus) durch Fotos, Briefe oder eben Gebrauchsgegenstände dokumentierte und sammelte, bewahrte sie mit diesen Objekten auch sorgfältig Erlebnisse, die sich in Form von materialisierter Erinnerung in die Zukunft übersetzen ließen, selbst nach dem als abrupt empfundenen Kriegsende und dem Zusammenbruch sämtlicher Berufsperspektiven. Alles andere als banal erscheint unter diesem Gesichtspunkt die Besteckgarnitur, die Franziska Grasel als RAD-Maid bei der Einkleidung 1942 ausgehändigt bekam, aber bei der Auflösung des Reichsarbeitsdienstes zu Kriegsende nicht, wie angeordnet, abgab, sondern als Andenken für sich behielt. In Zeiten, wo Telefonate 52 Begleitbrief Franziska Grasels zum Vorlass, Scheiblingkirchen, 4. Juni 2003, Blatt 4, SFN, NL 48. 53 Edwards, Photography and the Material Performance of the Past, wie Anm. 12, 150; vgl. auch Alf Lüdtke, Stofflichkeit, Macht-Lust und Reiz der Oberflächen. Zu den Perspektiven der Alltagsgeschichte, in: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994, 65–80.

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teuer und selten waren, blieben den Frauen ihre Briefe, Fotos und RAD-Objekte, die es ihnen erlaubten, das Erlebte festzuhalten, damit diese Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft nachhallen kann.54 „Schade ist nur, daß wir uns nicht ab u. zu mündlich ausplaudern können, das wäre halt sooo schön!“, klagte Elfriede aus Nürnberg, Franziska Grasels ehemalige Ausbilderkollegin aus der Lagerschule 19 in Groß Machmin (Pommern) 1949. Und weiter: „Mein Peter hört sich das dann geduldig an, aber er kann sich da ja nicht so richtig reindenken, wie das alles war. Wer das so mit erlebt hat, dem braucht man nur ein Stichwort zu sagen u. der andere ist genau im Bilde.“55 Das haptische Element ist hierbei nicht zu unterschätzen; Briefe und Fotografien kann man aufstellen, anschauen, angreifen und damit eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Wir alle verwahren bestimmte Objekte, die uns lieb oder wichtig sind (Briefe, Tagebücher, Fotos, Alben). Und obwohl wir selten auf sie zurückgreifen – wie oft lesen wir alte Briefe? –, ist es allein das Wissen um ihr physisches Dasein und Bestehen, das uns etwas bedeutet. Auf einer alltäglichen Ebene sind Franziska Grasels materielle Praktiken des Aufbewahrens, der Beschriftung von Fotografien und Briefkonvoluten sowie die Montage ihres Fotoalbums daher zwar zutiefst banal, aber trotzdem bedeutungsvoll, weil sie historisches und archivarisches Begehren verkörpern, das sich materiell vollzieht.56 Als Franziska Grasel 2002 mit der Sammlung Frauennachlässe in Wien in Kontakt trat und damit begann, dieser Einrichtung ihre Materialien anzuvertrauen, fand eine Umdeutung vom privaten zum öffentlichen Archiv statt. Mit der Übergabe ihres persönliches Vorlasses sicherte sie den Erhalt ihrer Erinnerungsobjekte auch nach ihrem Tod. Gleichzeitig machte sie diese jenseits des privaten Gebrauchs einem späteren Publikum – uns – als Forschungsmaterial zugänglich. Bei der Übergabe an ein Archiv ändert sich, wie Li Gerhalter auch gegenüber Grasel betonte, der Zweck jedes Stücks: „[…] es ‚wird‘ zur Quelle.“57 Franziska Grasel wusste um das dynamische Potenzial ihrer Geschichte und vor allem um die Möglichkeit, ihre persönlichen Objekte und Erinnerungen für die Zukunft zu retten und damit in ein größeres Ganzes einzuschreiben. Sie hinterließ bewusst ein Privatarchiv, das hauptsächlich aus Dokumenten mit positivem Bezug zur NS-Zeit besteht. Die Vor- und Nachlassgeber:innen treffen Li Gerhalter zufolge eine Auswahl aus den vorhandenen Materialien und bestimmen aktiv mit, „welche Art von Informationen überhaupt archivalisch dokumentiert (und in

54 55 56 57

Vgl. Edwards, Photography and the Material Performance of the Past, wie Anm. 12, 134. Brief von Elfriede A. (geb. K.) an Franziska Grasel, Nürnberg, 20. 2. 1949, S. 3/4, SFN, NL 48. Vgl. Edwards, Photography and the Material Performance of the Past, wie Anm. 12, 145. Li Gerhalter, „Selbstzeugnisse sammeln“. Logiken der Sammlung: Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik, in: Petra-Maria Dallinger u. Georg Hofer (Hg.), Berlin/Boston 2020, 51–70, 53; vgl. Schreiben von Li Gerhalter an Franziska Grasel, Wien, 20. Mai 2003, SFN, NL 48.

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weiterer Folge wissenschaftlich ausgewertet) werden können“.58 Die Sammlungsbetreuerin und Historikerin spricht vom Geschichtsbewusstsein der Geberinnen, die sie als „Citizen Scientists“ bezeichnet, „auch wenn sie sich dessen womöglich gar nicht gewahr sind“.59 In dem Moment, in dem Franziska Grasel ihr Privatarchiv aus der Hand gab und dem Archiv Sammlung Frauennachlässe vermachte, stimmte sie einer vielfältigen und vor allem von ihr nicht mehr kontrollierbaren Nutzung, ja Objektivierung ihres Lebens, durch uns Historiker:innen zu.

3.

Adoptive Zeugenschaft: Schöne Zeiten und ihre blinden Flecken

Bei meinen Archivbesuchen löste die Vielfalt von Franziska Grasels persönlichem Vorlass Freude, ja auch Begeisterung in mir aus.60 Von der KZ-Aufseherinnenforschung kommend, ist jeder private Fundus aufregend und bedeutsam, denn die ca. 4000 ehemaligen Wächterinnen hinterließen nur spärliche Ego-Dokumente über ihren KZ-Dienst.61 Der unterschiedliche Umgang mit Fotografien und Briefen von Arbeitsmaiden und KZ-Aufseherinnen erklärt sich zum einen institutionell: Das Konzentrationslager war anders als der RAD keine Organisation, die Korrespondenz über Erfahrung und das Teilen von Objekten förderte. Das Spurenverwischen der Aufseherinnen stellte auch eine Vorsichts- und Schutzmaßnahme dar. Als 1945 im Zuge der Vorbereitungen der Nürnberger Prozesse das internationale Militärgericht die SS zur kriminellen Organisation erklärte, fielen die KZ-Aufseherinnen als zivile Angestellte der Waffen-SS zwar nicht in diese Kategorie, als Gewalttäterinnen standen sie dennoch im Fokus der Justiz. Die ehemaligen Aufseherinnen wussten spätestens seit Ende des Zweiten Weltkrieges, dass alles vor Gericht gegen sie verwendet werden konnte. Im Gegensatz dazu sind Franziska Grasel und ihre Altersgenossinnen auffallend extrovertiert, sahen sie doch selbst 60 Jahre nach Kriegsende ihre Arbeit im RAD nicht als politisch kompromittierend an.62 Mit Blick auf den Holocaust haben Wissenschaftler:innen die konstitutive Rolle der Fotografie als primäres Medium der inter- und transgenerationalen Vermittlung und die Wichtigkeit von Geschlecht als Erinnerungssprache erforscht: „At stake is precisely the ‚guardianship‘ of a traumatic personal and generational past with which some of us 58 Gerhalter, Selbstzeugnisse sammeln, wie Anm. 57, 61. 59 Gerhalter, Selbstzeugnisse sammeln, wie Anm. 57, 61. 60 Vgl. Arlette Farge, Der Geschmack des Archivs. Aus dem Französischen von Jörn Etzold, in Zusammenarbeit mit Alf Lüdtke, Göttingen 2011 (1989). 61 Vgl. Simone Erpel (Hg.), Im Gefolge der SS: Die Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück, Berlin 2007. 62 Vgl. die Nachlässe von Erika Schöffauer (geb. Nageler), Helma Spiegel und Marianne Leitner, in: Mailänder, Amour, mariage, sexualité, wie Anm. 43, 129–189.

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have a ‚living connection‘ and that past’s passing into history“, argumentiert die Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch. „At stake is not only a personal/familial/ generational sense of ownership and protectiveness but also an evolving theoretical discussion about the workings of trauma, memory, and intergenerational acts of transfer.“63 Postmemory bezeichnet somit die Beziehung von gleich mehreren Generationen zu einschneidenden historischen Ereignissen und persönlichen Erfahrungen, die ihrer Geburt zwar vorausgingen, aber derart prägend für eine Gruppe oder Gesellschaft sind, dass sie den Nachfolgenden als eigenständige Erinnerungen erscheinen. Der Begriff umfasst nicht allein den intimen, verkörperten Raum der Familie, sondern öffnet, wie Hirsch betont, einen Vermittlungstransfer zu adoptiven Zeugen:innen (adoptive witnesses).64 Aber wie verhält es sich mit nicht vordergründig traumatischen, sondern vielmehr positiven Erfahrungen und Erinnerungen an den Nationalsozialismus als generationenübergreifendes Vermächtnis? Postmemory beschränkt sich nicht nur auf die Opfer, sie schließt auch das Vermächtnis von Zuschauer:innen und Täter:innen mit ein. Insbesondere die Wehrmachts- und RAD-Generation vermittelte uns Nachfolgegenerationen eine ‚lebendige Verbindung‘ zum Nationalsozialismus. Die Geschichten, Bilder und Verhaltensweisen unserer (Groß‐)Mütter, (Groß‐)Väter beziehungsweise ihrer Freund:innen, mit denen wir aufwuchsen, sind notgedrungen Teil davon, wie wir das Dritte Reich und ‚den Krieg‘ imaginieren, ja erinnern. Postmemory, verstanden als inter- und transgenerationelle Übertragungsstruktur von historischem Wissen und subjektiven Erfahrungen, konfrontiert somit nicht zuletzt uns NS-Historiker:innen wie auch unsere Leser:innen immerfort mit Fragen nach unseren vielschichtigen Beziehungen zur NS-Vergangenheit. Franziska Grasel, die unverheiratet blieb und selbst keine Kinder hatte, stellte mit ihrem Vorlass das Übertragen ihrer NS-Erfahrung beziehungsweise -Erinnerung materiell wie intersubjektiv sicher. Zwei Fotografien veranschaulichen eindrucksvoll und auf einen Blick entscheidende Veränderungen in Franziska Grasels Leben: Ein Familienporträt – aufgenommen im Juni 1942 vor dem elterlichen Haus zu Ehren des älteren Bruders, kurz vor seiner Einberufung in die Wehrmacht und dem Abzug in den Kaukasus – zeigt eine junge Frau im Dirndl, die ihre Hände in ihre Jacke vergräbt. Ob diese Pose, im Vergleich zur Körperhaltung ihrer Mutter, Schüchternheit oder Lässigkeit bedeutet, muss offenbleiben. Wichtig erscheint mir jedoch, dass die junge Hausangestellte auf dem gestellten Foto eher im Abseits positioniert ist, im Bildzentrum steht erwartungsgemäß der eingezogene älteste Bruder, der gar nicht in die Kamera schaut. Nur ein Jahr später schreitet Franziska Grasel mit ihren Kameradinnen flotten Schrittes über die Mariahilfer Straße. Die frischgebackene Jungführerin ab63 Hirsch, The Generation of Postmemory, wie Anm. 15, 104. 64 Vgl. Marianne Hirsch, Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York 2012, 6.

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solvierte damals in Wien einen einmonatigen Lehrgang als Vorbereitung auf ihre neue Funktion in der Lagerleitung. Beim Betrachten der beiden Fotografien schärft ein intersektioneller Blick die Sensibilität für Ungleichheiten, insbesondere die Kombination der Analysekategorien Geschlecht und soziale Klasse: Franziska Grasel genoss im österreichischen Ständestaat nicht dieselben Bildungschancen wie ihre beiden Brüder. Obwohl sie eine sehr gute und fleißige Schülerin war, musste sie nach acht Jahren die Hauptschule verlassen, um als Hausangestellte in Wiener Neustadt Geld zu verdienen. Den sozialen Aufstieg ermöglichte ihr, wie vielen ihrer Altersgenossinnen, bezeichnender-, ja paradoxerweise, erst der Anschluss Österreichs an das Dritte Reich. Ihr Eintritt in den RAD-Dienst bedeutete neben finanzieller Eigenständigkeit und sozialem Prestige auch eine Emanzipation von der Familie.

Abb. 3: Familienporträt, aufgenommen im Juni 1942 in Scheiblingkirchen vor dem elterlichen Hof. Fotoalbum Franziska Grasel, SFN, NL 48.

Der Lohn als Maidenführerin von monatlich ca. 20 Reichsmark (RM) kam für viele zwar wohl eher einem Taschengeld gleich, wie es Franka Maubach pointiert formu-

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Abb. 4: Die Fotografie zeigt Franziska Grasel (ganz rechts) mit RAD-Kameradinnen und wurde in Wien im Juli 1943 während einer Schulung aufgenommen. Das Bild befindet sich unbeschriftet im 2003 angelegten Fotoalbum; 2008 reichte Grasel diesen mit blauem und rotem Kugelschreiber kommentierten weiteren Abzug nach. Fotoalbum Franziska Grasel, SFN, NL 48.

liert.65 Für eine junge Frau von Franziska Grasels ländlicher, bildungsferner Herkunft war dieses dürftige RAD-Salär dennoch attraktiv, ja eine konkrete Gehaltsverbesserung, hatte sie doch 1938 als Hausangestellte lediglich 13,67 RM verdient.66 Neben kostenloser Verpflegung und Logis brachte die Festanstellung beim RAD zudem eine zur Verfügung gestellte Dienstkleidung mit sich. Abgesehen davon, dass Franziska Grasel gerne Uniform trug, schonte sie damit ihre bescheidene Garderobe. Darüber hinaus bot der Reichsarbeitsdienst dieser intelligenten jungen Frau eine Möglichkeit zur Weiterbildung sowie eine ernsthafte berufliche Karriereperspektive. Ein Blick auf die beiden Aspekte Leistung und Erfolg veranschaulicht gleichzeitig aber auch, wie Geschlecht zu einer wirkungsmächtigen und gleichzeitig tückischen „Erinnerungssprache“ für die Nachfolgegeneration werden kann.67 Die Kategorie ‚Rasse‘ lenkt dabei unsere Aufmerksamkeit weg von Franziska Grasels sozioökonomischem Hintergrund und ihrer geschlechterspezifischen Konditionierung hin zu 65 Vgl. Maubach, Die Stellung halten, wie Anm. 18, 67. 66 Vgl. Lebenserinnerungen von Franziska G. ohne Datum, 5, SFN, NL 48/VI. 67 Hirsch, The Generation of Postmemory, wie Anm. 15, 103.

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ihren Privilegien. Als Teil der arischen Mehrheitsgesellschaft war sie Nutznießerin von Rechten und Karrierechancen und obwohl sie selbst vermutlich keine direkte Gewalt ausübte, arbeitete sie an der Festigung des NS-Staates und seiner Kolonisierungs- und Germanisierungspolitik aktiv mit. Schon die physische Existenz ihres Vorlasses wie auch die Tatsache, dass Franziska Grasel ihre Post und alle ihre persönlichen, für sie wertvollen Gegenstände mitten im Krieg quer durch das Dritte Reich und das besetzte Europa schicken konnte, sind ein manifester materieller Beweis ihrer Privilegien in einer auf Ein- und Ausgrenzung beruhenden Gesellschaft. Ein Brief von Frances Nunnally, geborene Franziska Huppert (Jahrgang 1923), an die Sammlung Frauennachlässe ging mir bei meinem ersten Archivbesuch in Wien sehr nahe, weil er die Diskrepanz der unterschiedlichen Lebensrealitäten eindrücklich veranschaulicht: „Wir waren eine jüdische Familie und ich war die einzige die den Krieg überlebt hat. Im May 1939 wurde ich von meinen verzweifelten Eltern nach England geschickt. Für 3 Monate, bis zum Kriegsausbruch, konnten wir korrespondieren. Nachher schrieben meine Eltern an Verwandte in Brüssel, die mir die Briefe schickten. Nach der Eroberung von Belgien, ging unsere Korrespondenz über die USA – – eine langsame Angelegenheit! Dann, als Amerika in den Krieg eintrat – – nichts mehr. Meine Eltern, Bruder, Großmutter, Tanten, Onkeln, usw. kamen alle im Holocaust um. Von ihnen verbleibt nichts – keine alten Möbel, Kunstgegenstände, eine goldene Uhr, ein Ring – alles Sachen die in Familien von Generation zu Generation weitergehen. Nicht einmal Gräber gibt es für diese Menschen. Der einzige Beweis, dass sie jemals auf der Welt waren, liegt in ihren Briefen.“68

Der Nationalsozialismus und seine europäische Expansion vernichteten somit unzählige kulturelle Archive, persönliche Aufzeichnungen und Gegenstände. Verfolgung, Exil, Flucht, Versteck und Genozid verursachten auf der Opferseite Zerstörung, Verlust und Trauma, unter anderem weil sie die verkörperten Verbindungen unterbanden, aus denen Familienerinnerung, Gemeinschaft und Gesellschaft entstehen.69 Während junge Frauen wie Franziska Grasel oder Else vom RAD als Institution und dem Regime geradezu animiert wurden, sich auszutauschen, mitzuteilen und zu sammeln, hatten Jüdinnen im nationalsozialistischen Deutschland und den besetzten Gebieten wenig Möglichkeit und auch keine Zeit, schriftliche Selbstzeugnisse oder Objekte zu hinterlassen.70 Die Arbeitsmaiden hingegen waren in eine stabile, für sie dauerhafte Or68 Brief von Frances Nunnally an Christa Hämmerle und Edith Sauer vom 21. 2. 2000, SFN, NL 36 [Hervorhebungen im Original]. 69 Vgl. Hirsch, The Generation of Postmemory, wie Anm.15, 111; Zuzanna Dziuban u. Ewa Stańczyk, Introduction: The Surviving Thing: Personal Objects in the Aftermath of Violence, in: Journal of Material Culture, 25, 4 (2020), 381–390; Christiane Heß, Notizen aus der Lagerzeit. Über Rezepte, Bastelanleitungen und eine Karte, in: Sabine Arend (Hg.), Ravensbrück denken, Berlin 2020, 281–288. 70 Vgl. Alexandra Garbarini, Numbered Days: Diaries and the Holocaust, New Haven/London, 2006; Katherine Roseau, The Diary as Witness to the Holocaust: Materiality, Immediacy, and Mediated Memory, in: Holocaust Studies. A Journal of Culture and History, 25 (2019), 492–513.

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ganisation eingebunden und eine soziale Gruppe im soziologischen Sinn.71 Es erstaunt somit wenig, dass für Franziska Grasel und viele ihrer Kameradinnen der RAD-Dienst eine gute Zeit war, beruflich vermutlich die erfüllteste ihres Lebens, sodass sie diese positiven Erfahrungen nicht zuletzt über die Objekte und Medien Brief und Fotografie weit über die zeitliche Zäsur 1945 hinaus überlieferten.72 Diese blinden Stellen und Machtasymmetrien in Archiven stellen uns Historiker:innen vor ein Dilemma, denn obgleich wir versuchen, kritisch mit dem Material umzugehen und darauf bedacht sind, eine analytische Distanz aufzubauen, verleihen wir dennoch den Privilegierten im Nationalsozialismus weiterhin Raum und historische Bedeutung. Mit ihren Objekten aus der NS-Zeit setzen Menschen, die damals schreiben, fotografieren und sammeln konnten, ihre selektive Wahrnehmung, aber auch ihre materiellen Vorrechte weiter fort. Genau das stellt eine Herausforderung dar, mit der nicht nur auto/biografische Archive im deutschsprachigen Europa zunehmend konfrontiert sind, sondern auch Museen, wie das 2001 gegründete Dokumentationszentrum Reichsparteigelände in Nürnberg oder das 2017 eingerichtete Haus der Geschichte am Wiener Heldenplatz.73 Für Marianne Hirsch nehmen Fotografien, mehr noch als Briefe, als visuelle Medien in diesem Kontext eine Schlüsselrolle ein, denn das Sehen ist eng mit dem „affektiven Gedächtnis“ verbunden. Fotografien sagen etwas über die vergangene Welt aus, die sie „abbilden“, aber auch über die Bedürfnisse, Wünsche und Projektionen der Betrachter:innen.74 Hirsch zufolge suchen wir beim Betrachten von Bildern aus einer fremden, vergangenen Welt nicht nur nach Informationen oder Bestätigung, sondern immer auch nach einer intimen materiellen und affektiven Verbindung zum abgebildeten Vergangenen. Als Objekte, die eine verkörperte „lebendige Verbindung“ zwischen Betrachtenden und Fotografierten suggerieren, sind historische fotografische Archivdokumente visuelle und materielle Spuren, die es uns erlauben, mitunter auf einen Blick eine haptische und emotionale Beziehung zur Vergangenheit aufzubauen.75 Im Gegensatz zu offiziellen Propagandafotos oder Bildern von Gräueltaten verringern insbesondere private, vermeintlich harmlose Fotos aus der NS-Zeit die emotionale Distanz oder ideologischen Hemmungen und erleichtern Empathie, ja Identifikation.

71 Vgl. Bernhard Schäfers, Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte – Theorie – Analysen, Heidelberg/Wiesbaden, 1999, 20–21. 72 Vgl. Ulrich Herbert, Die guten und die schlechten Zeiten. Überlegungen zur diachronen Analyse lebensgeschichtlicher Interviews, in: Lutz Niethammer (Hg.), „Die Jahre weiß man nicht, wo man sie heute hinsetzen soll“. Faschismuserfahrung im Ruhrgebiet, Berlin/Bonn, 1983, 67–96. 73 Vgl. insbesondere die Ausstellung „Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum“ im Haus der Geschichte Wien, 12. Dezember 2021 bis 22. Oktober 2022, unter: https://www.hdgoe.at/hitler_ent sorgen, Zugriff: 9. 1. 2022. 74 Hirsch, The Generation of Postmemory, wie Anm. 15, 117. 75 Sandra Starke, Fenster und Spiegel. Private Fotografie zwischen Norm und Individualität, in: Historische Anthropologie, 19 (2011), 447–474.

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Postmemory: Zwischen Empathie und kritischer Distanz

Auf Franziska Grasels Fotos sehen wir keine Welt der Zerstörung, sondern vielmehr Unversehrtheit und Kontinuitäten. Das Leben im Nationalsozialismus war für sie und viele andere kein Orwellscher Albtraum der totalen Überwachung der Privatsphäre, wie Janosch Steuwer unterstreicht, vielmehr erlaubte es den Menschen ein relativ normales Privat-, Berufs- und Familienleben mit Freiräumen zu führen.76 Else und Franziska Grasel teilten Alter, Geschlecht, geografisch-ethnische Herkunft und vielleicht sogar die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse. Mit dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich wurden die beiden zu Ostmärkerinnen. Wie für alle zwischen 1921 und 1925 Geborenen veränderte sich nach dem 13. März 1938 auch für die weiblichen Jugendlichen im Schulalter vorerst wenig; sie gingen weiterhin zur Schule, mussten fortan allerdings den BDM besuchen.77 Unabhängig von der politischen Haltung der Familie oder ihren eigenen ersten Erfahrungen mit dem neuen Regime schrieb sich die nationalsozialistische Politik unvermeidbar in den Familien-, Schul- und Arbeitsalltag junger Frauen ein: Else und Franziska Grasel wuchsen im Nationalsozialismus zu Erwachsenen heran. Als Alltagshistorikerin beschränke ich politisches Handeln und Denken nicht allein auf Parteizugehörigkeit beziehungsweise politisches Engagement im engeren Sinne. Aus dieser Perspektive wären nämlich die jungen Frauen aus dem Altreich und der Ostmark überwiegend als ‚unpolitisch‘ einzustufen – und so verstanden sie sich auch. Ohne dieses Selbstverständnis hätte Franziska Grasel vermutlich ihren Vorlass auch nicht der Sammlung Frauennachlässe übergeben. Und doch wird gerade an ihrem Privatarchiv deutlich, welche unterschiedlichen und vielfältigen, sehr wohl politischen Bedeutungen ihre Objekte im Laufe der Zeit für sie einnahmen: Das sind einerseits Gemeinschaftsstiftung, Manifestation von Erfolg und Freiheit und optimistische Zukunftsperspektiven für die Zeit während des Nationalsozialismus; andererseits fungieren die Briefe, Fotos und anderen Gegenstände aus der NS-Zeit seit 1945 als materielle Relikte einer mit Nostalgie und Sympathie behafteten Erinnerung an die Jugend und eine ‚schöne Zeit‘. Propaganda, so könnte man sagen, entfaltete sich im Nationalsozialismus gerade im Bonding um Nichtigkeiten wie auch in der Performanz der guten Laune. Briefe und Fotos waren soziale Kommunikationsmedien, die das Regime förderte, um spielerische Vergemeinschaftung, aber auch politische Zugehörigkeit zu schaffen. Dabei waren es nicht nur die Worte und Bildinhalte, die solche sozialen und emotionalen Bindungen förderten; vielmehr verlieh gerade der Objektcharakter von Briefen und Fotografien, das Tauschen und Sammeln dem Gefühl von Gemeinschaft eine dezidiert materielle 76 Vgl. Janosch Steuwer, A Particular Kind of Privacy: Accessing the ‚Private‘ in National Socialism, in: Harvey et al. (Hg.), Private Life and Privacy in Nazi Germany, 30–54, 31. 77 Vgl. Mailänder, Amour, mariage, sexualité, wie Anm. 43, 147–151.

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und haptische Dimension.78 Und nicht zuletzt mithilfe dieser Materialien bildeten sich Erinnerungsgemeinschaften heraus, bereits in der NS-Zeit, aber eben auch danach. Wenn wir Fotografien und Briefe als wirkungsmächtige Gegenstände und Träger von Erfahrungen, Erinnerungen, Projektionen und Imaginationen ernst nehmen, dann geht es nicht allein um die Frage, ob Briefeschreiben und Fotografieren unter den Bedingungen des RAD die Erwartungen des Regimes erfüllten und/oder als Eigen-Sinn (Alf Lüdtke) beziehungsweise List der Ohnmacht (Brigitte Suder) zu werten sind, sondern auch darum, was diese Objekte nach 1945 weiter tun. Die dichten Überschneidungen von Materialität, intergenerationell vermitteltem Sinn und moralisch-emotionalem Wert für die Besitzer:innen beziehungsweise Betrachter:innen verweisen auf die Standortgebundenheit jeder Perzeption dieser Objekte, aber auch auf ihre materielle Ambivalenz und aktive Gestaltungsmacht.79 Voroder Nachlässe konfrontieren uns mit einem beunruhigenden Oszillieren zwischen Kontinuitäten und Brüchen, was uns dazu zwingt, unser Verhältnis zu den historischen Akteur:innen ständig aufs Neue zu reflektieren. „Archivists, museum curators, and historians face the extraordinarily difficult and painful task of deciding who will be granted the sort of immortality history provides“80, konstatiert Leora Auslander in Bezug auf Holocaustüberlebende: Wir Historiker:innen verleihen Individuen eine historische Signifikanz, welche die im Holocaust ermordeten oder verstorbenen Personen vielleicht gar nicht anstrebten. Archivalische Vermächtnisse wie das von Franziska Grasel stellen uns vor ein anderes Dilemma, nämlich, dass wir durch unsere historische Arbeit gewöhnlichen Akteur:innen nicht nur eine Stimme verleihen, sondern ein Stück weit auch das Leben im Nationalsozialismus mit all seinen blinden Stellen und Machtasymmetrien weitertradieren, auch wenn wir das nicht beabsichtigen, ja sogar versuchen zu durchbrechen. Diese Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten auszuhalten und stets von Neuem selbstkritisch zu überdenken, gehört auch zum Geschmack des Archivs und zur Arbeit von Historiker:innen.

78 Vgl. Ester Võsu, Ene Kõesaar u. Kristin Kuutma, Mediation of Memory: Towards Transdsciplinary Perspectives in Current Memory Studies, in: Trames, 12 (2008), 243–262 u. 249–250. 79 Vgl. Edwards, Photography and the Material Performance of the Past, wie Anm. 12, 136; Brigitte Studer, „L’Homme. Z. F. G. – Ein zentrales Instrument zur Etablierung des wissenschaftlichen Feldes „Frauen- und Geschlechtergeschichte“, in: L’Homme. Z. F. G., 11 (2000) 1, 162–165, 164. 80 Leora Auslander, Archiving a Life: Post-Shoah Paradoxes of Memory Legacies, in: Sebastian Jobs u. Alf Lüdtke (Hg.), Unsettling History, 127–148, 130.

Medieval Mary: A Kaleidoscope of the Divine

Catholic theologians have long argued, from a doctrinal standpoint, that the veneration of the Virgin Mary cannot be indebted to the veneration of ancient goddesses because she was the mother of Jesus, that is mother to the full humanity of God.1 However, the origins of the cult of her figure, her many similarities to goddesses that predated Christianity and the ways in which she was revered during the Middle Ages leave in no doubt the fact that Mary functioned as a feminine deity for the faithful. Alongside discussing the pre-Christian roots of her medieval cult, I will argue that Mary in the medieval Christian world fulfilled many aspects of the divine, and that her status as a goddess is more of a definitory problem than one of lived experience (I use this term ‘lived experience’ in the phenomenological sense, thereby highlighting the gap between discourse and historical practice). The results will be embedded in debates about preChristian cults of goddesses and their place in medieval Mariology.2 At the core of the academic argument over whether or not to attribute a divine nature to Mary lies the definition of a goddess. So many and varied are the definitions of ‘a god’ that to quote even a few would seem an arbitrary selection. In her work “God and the Goddesses”, for example, Barbara Newman has shown that medieval goddesses are not merely allegorical; as “distinctive creations of the Christian imagination” they are “neither ‘pagan survivals’ nor versions of ‘the Great Goddess’”.3 As a goddess in the strictest sense, Mary would need to be out of this world, not human and equal to the omnipotent, omniscient male-defined God. This is already impossible for Catholic doctrine because Mary, as a saintly figure, was born in this world, was human and only served for the monotheistic God to be incarnated as a human. However, once we define goddess differently, less as a non-human supernatural being, and more from the perspective of enjoying a tangible cult, the medieval Mary ticks all the boxes of a goddess: 1 See esp. the work of Karl Prümm, Der christliche Glaube und die altheidnische Welt, 2 vols., Leipzig 1935. 2 For a discussion on ‘lived religion’ see for instance Anne Page, Is there a history of lived religion?, at: https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01911885/document; access: 5. January 2022. 3 Barbara Newman, God and the Goddesses: Vision, Poetry, and Belief in the Middle Ages, Philadelphia 2003, 2.

FORUM

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the faithful worshipped and prayed to her (even though some theologians will contest this and reduce her cult to mere veneration – again another matter of definition); she stood in a close relationship to the lives of devotees as she was considered responsible for harvest as well as fertility more general; she was said to have healing powers together with a vindictive side and to carry redemptive might when it came to the eternal salvation of believers’ souls. Another aspect to bear in mind when defining her status as a goddess is that ancient peoples too anthropomorphised their gods and goddesses to the degree that they could give birth to human children and interact with humans as real persons. While technically Mary could only function as an intercessor between humans and God, in practice an independent cult developed in the early Middle Ages, peaking in the eleventh to thirteenth centuries. At this time numerous Marian hymns and offices emerged, and many cathedrals, following the examples of Notre Dame of Chartres, Laon and Paris, were dedicated to Mary, highlighting the representative and dynamic power that accompanied her cult. In some local traditions she also served as the patroness of sailors, matching the medieval hymn sung about her as the Star of the Sea (Ave maris stella). The eleventh-century hymn Salve Regina stresses her maternal side as much as her elevated status as queen on high. The crowning of Mary was a popular motif in medieval art, sometimes depicting her as cosmological queen controlling sun, moon and stars. Sundry medieval prayers make Mary the source and hope of salvation as she is not only genetrix but also redemptrix in her function as being in charge of purgatory,4 the birth of purgatory in the twelfth century correlating to a stark rise in Marian devotion.5 With the increased reception of the Song of Songs in the eleventh and twelfth centuries, Marian interpretations of ecclesia as the beloved of God – ecclesia meaning the community of Christians and following the Judaic mystical concept of synagoga – led to a boom in literary portrayals of Mary as the typological bride of Christ.6 For example, the thirteenth to fourteenth-century Minnesinger Heinrich of Meissen, known as Frauenlob, composed an intricate song, the “Marienleich”, in

4 See Klaus Schreiner, Maria, Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994, 162; Frank O. Büttner, Imitatio pietatis. Motive der christlichen Ikonographie als Modelle zur Verähnlichung, Berlin 1983, 89; David Kinsley, The Goddesses’ Mirror. Visions of the Divine from East to West, Albany 1989, 237–244. 5 See Johanna Thali, Beten – Schreiben – Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal, Tübingen 2003, 7; see also Miri Rubin, Mother of God. A History of the Virgin Mary, London 2010, 131: “Mary was attractive not only for her purity, but for the intimacy that linked her to the redemption by her son”, and ibid., 224: “Mary was imagined as an intercessor of great force who could determine the destiny of souls.” 6 See the commentary and translation of the Song of Songs by Williram von Ebersberg, Expositio in Cantica Canticorum, ed. by Henrike Lähnemann and Michael Rupp, Berlin/Boston 2004; Rudolf Schützeichel and Birgit Meineke eds., Die älteste Überlieferung von Willirams Kommentar des Hohen Liedes. Edition, Übersetzung, Glossar, Göttingen 2001. See also the first entirely vernacular commentary of the Song of Songs: Friedrich Ohly and Nicola Kleine eds., Das St. Trudperter Hohelied. Eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis, Frankfurt a. M. 1998.

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which Mary features as the bride of the Song of Songs;7 through his “praise to the highest heaven” (versicle 6) she is exalted to “reign” at the king’s, that is God’s, “right” (versicle 8), she is “famed, acclaimed, adored, / the palace of the highest Lord”, and “the tribute of the Throne” is hers (versicle 10).8 The throne in particular is a motif that repeatedly appears in association with Mary and that medieval bible commentaries related to the ivory throne of King Solomon,9 the alleged poet of the Song of Songs.10 Moreover, the image of the throne serves another aspect of Mary’s many functions: as the sedes sapientiae, the Seat of Wisdom, she was also patroness of the artes liberales.11 As such she superseded all disciplines, which even together were thought to be insufficient in order to reach God, this goal being the ultimate aim of all academic pursuit in the Middle Ages; only Mary, writes the fourteenth-century theologian Henry of St. Gall in his “Life of Mary” (“Marienleben”), is fully, that is without mediation, with God (an alles mittel bey got).12 This unique status leads us to reconsider Mary’s position viz-à-viz the Trinity (God Father-Son-Holy Ghost); was she, according to medieval ideas, a part of it? As the Mother of God, Mary was integrated into “Trinitarian piety”, and this integration “both feminized the Godhead and divinized the family.”13 For the twelfth-century bishop Peter of Celle, for instance, Mary’s virgin womb allowed God to become human – an understanding that connected Mary tightly to the Trinity.14 In the “Life” of the thirteenth-century Premonstratensian mystic and visionary Christina of Hane, Mary’s so-called Seven Joys are revealed to Christina on the Marian feast of the Annunciation.15 Some of these are directly related to the Trinity as “she is elevated above the angelic choirs and closest to the Holy Trinity” and as “the will of the Holy Trinity is united with her will”, that is “[a]nything she wills is also in perfect union with the will of 7 On the text genre Leich and its importance for medieval music and literature see Racha Kirakosian and David William Hughes, ‘Mynne tzeichen und ir don’: The Text and Music of Meister Alexander’s Minneleich in the Jena Songbook, in: Speculum, 94 (2019), 385–419. 8 Middle High German original text and translation: Barbara Newman and Karl Stackmann, Frauenlob’s Song of Songs. A Medieval German Poet and His Masterpiece, University Park, PA 2006. 9 See 1 Rg. 10:8 and 2 Par. 9:17. 10 See Schreiner, Maria, see note 4, 160, for the Mariological understanding of the ivory throne. 11 See Michael Stolz, Maria und die Artes liberales: Aspekte einer mittelalterlichen Zuordnung, in: Claudia Opitz et al. eds., Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.– 18. Jahrhundert, Zürich 1993, 95–120. 12 See Michael Stolz, Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter, Tübingen/Basel 2004, 255. 13 Newman, God and the Goddesses, see note 3, 247. 14 See Barbara Newman, Intimate Pieties: Holy Trinity and Holy Family in the Late Middle Ages, in: Religion and Literature, 31 (1999), 77–101, 91. See also Schreiner, Maria, see note 4, 159–160; and on the Mariological aspect of Christ’s incarnation see Stolz, Artes-liberales-Zyklen, see note 12, 221, note 15. 15 For a discussion on the Seven Joys of Mary, see Racha Kirakosian, Die Vita der Christina von Hane. Untersuchung und Edition, Berlin/Boston 2017, 200–201.

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the Holy Trinity”.16 Mary as a fourth element to the Trinity was discussed in medieval debates – debates that demonstrate the attempts to understand her relationship to the divine as much as her own god-like status. As well as having healing and redemptive powers, Mary was also thought to exercise destructive powers – a trait that matches that of ancient goddesses who act without mercy. In the “Life of Christina of Hane” we find an example for Mary acting angrily: during Christina’s devotional practices in front of a sculpture of Mary, the sculpture becomes animated, extends its hand and slaps Christina in the face, punishing her for a previously performed prayer practice (chap. 28). This behaviour of the enlivened sculpture is surprising insofar as this scene follows the description of Mary appearing to Christina in her sleep to heal her injured knees with balm after she had prayed too hard (chap. 27).17 Visions of a vindictive Mary, especially in the form of a punishing sculpture, appear predominantly in twelfth- and thirteenth-century miracle stories like a twelfth-century miracle at Canterbury recounted by Gerald of Wales.18 These stories about a disciplinarian Mary by no means mitigated her model character as a speculum in the medieval understanding, that is an exemplary ideal which, though unattainable for mortals, is worthy of imitation.19 Her double character as both human and divine made this principle of imitatio Mariae possible. The attribution of divine traits to Mary, who nowhere in the Bible itself is singled out as godly, happened haphazardly and over many centuries; their eventual codification as official Church doctrine followed processes that often – though not always – started in popular belief and then ‘made their way up’, creating the need for a systematic explanation. But the Catholic Church’s answers to the lived cult or to stimuli from other Christian traditions took time to develop, and Mariological dogmas were only settled after long-lasting theological debates.20 Take, for instance, the Immaculate Conception, which bears consequences for the question of whether Mary could have 16 Racha Kirakosian, The Life of Christina of Hane, New Haven 2020, 65. Original text edited in: Kirakosian, Die Vita der Christina von Hane, see note 15. 17 For a full analysis of Marian visions in the “Life” and how they relate to liturgical space, see Racha Kirakosian, La vision spirituelle dans l’espace corporel et le pouvoir performatif du langage dans la biographie mystique de Christina de Hane, in: Le Moyen Âge, 123 (2017), 589–607. 18 See “Gemma ecclesiastica, distinction”, in: John S. Brewer ed., Giraldi Cambrensis opera, London 1869, 2:105–7. For discussion, see Jean-Marie Sansterre, “Omnes qui coram hac imagine genua exerint…”, La vénération d’images de saints et de la Vierge d’après les textes écrits en Angleterre du milieu du xie aux premières décennies du xiiie siècle., in: Cahiers de Civilisation médiévale, 49 (2006), 257–294, 278. See also Alexa Sand, Vindictive Virgins: Animate Images and Theories of Art in Some Thirteenth-Century Miracle Stories, in: Word & Image. A Journal of Verbal/Visual Enquiry, 26 (2010), 150–159. 19 On the model character of Mary and its social dimension in the Middle Ages, see the volume Hedwig Röckelein, Claudia Opitz and Dieter R. Bauer eds., Maria, Abbild oder Vorbild? Zur Sozialgeschichte mittelalterlicher Marienverehrung, Tübingen 1990. 20 For an ecclesiastical history of Mary, see the volume R.N. Swanson ed., The Church and Mary, in: Studies in Church History, 39, Woodbridge 2004.

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been subject to original sin. According to a maculist position, Mary, though free of sins, nonetheless automatically had original sin. In the “Life of Christina of Hane”, for example, in a vision on the day of Mary’s Assumption, the reader is told that if Mary had died before Christ could have been born, she would have gone straight to limbo, literally to “pre-hell” (vorhelle).21 Mary’s alternative fate in limbo is coherent with the Messianic belief that Christ would need to be born in order to liberate the souls from hell. Bernard of Clairvaux and early thirteenth-century scholastics, including Bonaventure and Thomas Aquinas, argued that Mary could not have been free of original sin because otherwise she would not have needed salvation. This economy of salvation pertaining to Mary was uniformly believed until the very late thirteenth century when immaculist ideas, brought forward by William of Ware and John Duns Scotus, emerged from the British Isles. Immaculist arguments developed there around 1290, but it was not until the fourteenth century that they firmly took root on the continent.22 Following the argumentation of Aquinas, most Dominicans of the Late Middle Ages and Early Renaissance opposed the idea of the Immaculate Conception, in contrast to Franciscans and the secular clergy.23 For example, the fourteenth-century Franciscan Marquard of Lindau, a reforming leader of his order and by 1389 Provincial Minister of the vast area of Southern Germany, keenly defended Mary’s perfection.24 Marquard, who has been described as “a very strong candidate to have been the most widelytransmitted medieval German author of all” argued against those who denied the doctrine of the Immaculate Conception, that is against Dominicans.25 Although the Dominicans continuously disapproved of immaculism, the conflict became considerably fiercer in the aftermath of the Council of Basel (1431–1449) when the Immaculate Conception was elevated to a dogma.26 21 On the handling of the afterlife and the resurrection of the body in German-language texts, see Timothy R. Jackson, Versehrtheit, Unversehrtheit und der auferstandene Körper, in: Sarah Bowden, Nine Miedema, and Stephen Mossman eds., Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters: XXIV Anglo-German Colloquium, Saarbrücken 2015, Tübingen 2020, 139–152. 22 See Marielle Lamy, L’immaculée conception: étapes et enjeux d’une controverse au Moyen-Age, XIIe–XVe siècles, in: Collection des études augustiniennes: Série Moyen-Age et temps modernes 35, Paris 2000, 396–408. 23 See Ulrich Horst, Die Diskussion um die Immaculata Conceptio im Dominikanerorden. Ein Beitrag zur Geschichte der theologischen Methode. Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der Mittelalterlichen Theologie und Philosophie, n. F. 34, Paderborn 1987, 7–11; Lamy, L’immaculée conception, see note 22, 422–430. 24 On Marquard’s importance as “a significant contributor to the Marian cult in late medieval Germany” (244), see Stephen Mossmann, Marquard von Lindau and the Challenges of Religious Life in Late Medieval Germany.The Passion, the Eucharist, the Virgin Mary, Oxford 2010, 243–334. 25 Stephen Mossman, The Western Understanding of Islamic Theology in the Later Middle Ages: Mendicant Responses to Islam from Riccoldo Da Monte Di Croce to Marquard von Lindau, in: Recherches de Théologie et Philosophie Médiévales, 74 (2007), 169–224, 171. 26 Dominicans tended to make use of their own saints in their arguments against immaculists, mentioning above all the mystic Catherina of Siena as a maculist. For a detailed study on this debate,

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Marian devotion in the Latin Christian world was influenced by waves of inspiration from the Eastern Churches – ideas that were partly inherited from older traditions and originated in pseudoepigraphical writings, which fuelled legends about Mary’s birth and childhood, and that concerned the Christological understanding of her role as God-bearer. Theotokos, the one who gives birth to God, began as a Marian concept that focused on Christ’s humanity, yet it became subject of Mariological speculations, stood for a “reverence for motherhood and childbirth” and advanced to become “the basic principle of Mariology, a principle which Christianity inherited from its pagan forerunners”.27 Closely linked to the idea of Mother Goddess was that of the Earth Goddess, a development which in Constantinople led to Mary being “recreated as the mystery of divinity touching earth, an unexpected female intrusion upon the stage of male world power”.28 As with the prehistoric goddesses, the aspect of fertility outweighs all others in Mary. Attempts to trace back medieval Mary to the grain goddess of the Upper Paleolithic Period assert that “from prehistoric times, the woman’s body was envisioned both as the fertile field and the ‘mystic oven,’ in which life-sustaining bread was produced”.29 The aforementioned Salve Regina speaks of the “fruit of thy womb” (fructus ventris tui), Christ in the New Testament says of himself that he is the bread of life or the living bread (John 6:35 and 6:51), and many medieval depictions as well as texts associate Mary and her Son with agricultural fertility and bread being baked in the womb. For Naoë Kukita Yoshikawa, the “power of the grain goddess prevailed” in the redemptive role that the Virgin Mary came to occupy in the Christian tradition.30 Connections between pagan goddesses and the Christian Virgin Mary, Mother of God, have been sought for centuries, not least because of the reproaches of Protestant reformers in the sixteenth century that Catholics had retained Greco-Roman cults. The debates about whether or not it is true that the Christian Mary goes back to ancient goddesses have been controversial for a while, but today secular historians and historians of religion agree that elements of pre-Christian cults, especially of fertility and the Mother Goddess, entered the Church and found their personification in Mary. For Stephen Benko, who examines lines of a direct influence of ancient goddesses on the Christian Queen of Heaven, the continuity of reverence for a feminine god was secured

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see Thomas Izbicki, The Eucharist in Medieval Canon Law, New York 2015. “Dominican Maculism did not vanish overnight” but Pope Sixtus’ IV (1471–1484) decrees weakened the opposition, ibid., 169. Stephen Benko, The Virgin Goddess. Studies in the Pagan and Christian Roots of Mariology, Leiden 1993, 5. Rubin, Mother of God, see note 5, 48. Naoë Kukita Yoshikawa, Symbolic Grain and Symbolic Bread: Relationships between the Ancient Grain Goddess and the Virgin Mary in the Late Middle Ages, in: Magistra, 3.1 (1997), 112. Yoshikawa, Symbolic Grain, see note 29, 141.

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in this way.31 The official line, however, was never able to allow a goddess next to a monotheistic deity, no matter how trinitarian that deity may be. This, I suggest, implies the accusation that Mary’s position in the Church is an expression of patriarchy; but rather than pursuing a contemporary feminist argument, I would like to spotlight the medieval understanding of Mary’s status. Medieval theology allowed for a nuanced understanding of the nexus ‘divinity and gender’ even though “symbol systems of both religious and secular culture in the modern West [that] are male-centered”,32 have their roots in pre-modernity. Numerous studies by scholars such as Caroline Walker Bynum, Patrick Geary and Barbara Newman have discussed the dynamic gender aspects which Marian devotion entailed; these studies, applying a historically informed and critical understanding of gender, complicate the view of a purely male God in contrast to a female mother vessel, instead stressing the human as well as feminine sides of Christ on the one hand and the authoritative divinity of Mary on the other.33 Another gender-related argument about Mary’s divinity is that “[t]he Virgin Mary and the female saints, symbols of female power in Western religion, are revered because they have transcended female sexuality. But Western religious tradition has never been able wholly and fully to affirm female power as female.”34 However, we need to remember that motherhood, the most stressed aspect of Mary’s divinity, was considered an inherently female trait. And it is thus not surprising that up to 1500 the majority of medieval Marian depictions would show Mary as a pregnant woman or holding the Christ child in her arms; after all the medieval reality was such that women in childbearing age were for the majority of their adult lives either pregnant or nursing. Perhaps it is this kind of strong link to human experience that means for Andrew Greeley that Mary goes beyond many pre-Christian goddesses with whom she bears similarities, when he interprets Mary as “the Catholic Christian religion’s symbol which reveals to us that the Ultimate is androgynous”.35 It remains, however, mysterious what Greeley, indebted to the emerging Women Studies of the 60s and 70s on the one hand but taking explicitly distance from its proponents on the other, actually has in mind when evoking the androgynous.36 Considering his statements about Mary as 31 For an overview of the question and defence of the continuity argument, see Benko, The Virgin Goddess, see note 27, 1–15. 32 Carol Christ, Symbols of Goddess and God in Feminist Theology, in: Carl Olson ed., The Book of the Goddess, Past and Present, Long Grove, IL 2002, 234. 33 See Caroline Walker Bynum, Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley, CA 1982; Newman, God and the Goddesses, see note 3; eadem, From Virile Woman to Woman Christ. Studies in Medieval Religion and Literature, Philadelphia 1995; Patrick J. Geary, Women at the Beginning. Origin Myths from the Amazons to the Virgin Mary, Princeton 2006. 34 Carol Christ, Symbols of Goddess, see note 32, 236. 35 Andrew M. Greeley, The Mary Myth. On the femininity of God, New York 1977, 216–217. 36 See Andrew Greeley, Necessity of Feminism, in: Society, 12 (1993), 12–15, Andrew M. Greeley writes about the feminist movement: “What contribution will the various academic programs of women’s studies and even ‘men’s’ studies have to make in this work? Not much.” (15).

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“passionately tender, seductively attractive, irresistibly inspiring, and graciously healing” the suspicion arises that he essentially denies Mary a particularly divine side when he disparages what he terms to be a “sex goddess” as the “Ultimate androgynous”.37 Calling the divine androgynous removes any claims to femininity even though Greeley contradictorily aims to reveal the feminine side of God. The theologian and sociologist seems aware of his potentially provocative views as he criticises “man-hating, quasilesbian circles” – his derogative words to describe feminists.38 Greeley’s own identity as a man writing about Mary ironically is not reflected upon, existing important research about Mary is ignored and androcentric ideas get unfolded independently from Gender Studies. His idea of a feminine principle is based on a kind of symbolism that is selffulfilling and limited to those who subscribe to it.39 Greeley’s book shows us that Mary is not an apolitical subject to study and that battles concerning gender and feminist issues more generally are carried out in the name of Marian research. Differently, yet likewise in terms of symbolism, Victor and Edith Turner also highlight the femininity of Mary’s functions in Christianity, contending that “Marianism has become almost the epitome of iconicity, even iconophily, in Christian ritual practice, while contra-Marianism is the most extreme form of iconoclasm.”40 Be that as it may, we do not necessarily need to subscribe to the Turner scheme of the symbolical female, which draws on a long history of a ‘female principle’ revealed in Marian representations that was followed by centuries of iconoclasm, in order to understand that Mary in the Middle Ages functioned very much like a goddess. Scholastic tradition has it that Mary is not God (nor a goddess which would undermine the monotheistic principle) but it is in the Catholic tradition, as Elisabeth Schüssler Fiorenza has argued, that Mary is still experienced as a symbol of God.41 I would like to propose that this lived phenomenon goes back to medieval practices of worshipping Mary. “Where she is venerated, Mary holds a place of such high esteem as to muddle the distinction between divine and human”, as Ann Matter has pointed out; perhaps it is because Mary was conceived as a goddess, though never officially confirmed as one, that the Protestant zeal was directed against her “powers and her role in the divine realm”.42 37 Greeley, The Mary Myth, see note 35, 13. 38 Greeley, The Mary Myth, see note 35, 5. 39 See also the reaction of Carol P. Christ, in her review of the book, in: Journal of the American Academy of Religion, 46 (1978), 416–417, who concludes that “one searches in vain in his book for a clue about the significance of Marian symbolism for women, or even for a clear indication that Greeley is aware of the limitation of his perspective” (417). 40 Victor and Edith Turner, Image and Pilgrimage in Christian Culture. Anthropological Perspectives, New York 1978, 236. 41 See Elisabeth Schüssler Fiorenza, Feminist Spirituality, Christian Identity, and Catholic Vision, in: Carol P. Christ ed., Womanspirit Rising. A Feminist Reader in Religion, San Francisco 1979, 136– 147. 42 E. Ann Matter, The Virgin Mary: A Goddess?, in: Carl Olson ed., The Book of the Goddess, Past and Present, Long Grove, IL 2002, 80.

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The sacred power that, as Bynum has discussed, resigned in objects depicting saints such as Mary became the target of Protestant iconoclastic aggression, precisely because they were conceived as “holy matter”, as manifestations of the sacred itself rather than its symbolical representation.43 The kaleidoscope of Marian devotion in the Middle Ages shows that underlying the official theological and canonical negotiations about her position was a popular piety which tended to ascribe to her a variety of functions that in pre-Christian cultures were associated with feminine deities. These influences also had their impact on scholastic stances, an illustration for which is given by Mary’s role as the Seat of Wisdom and patroness of the medieval curriculum since this notion of Mary is grafted onto the figure of the ancient goddess Sophia. It remains hard to draw direct lines from ancient ideas such as the Gnostic tradition of Sophia, who next to holding the symbolic place of Eve also represented the motherly and feminine side of God, to medieval ideas about Mary, who was sometimes referred to as the second Eve. Nevertheless, the ideological and cosmological place of the medieval Mary was influenced by ancient philosophical traditions pre-dating Christianity that were brought into it through different routes such as the Jewish Midrashic tradition, (Neo‐)Platonism and Gnosticism.44 For psychologist Erich Neumann, the feminine deity in Christianity – sometimes depicted as Philosophia, “one of the medieval forms of Sophia” – even though “reduced to an inferior position by the male god” kept the creative centre of the cosmos, she remained “the Great Mother”.45 Neumann explains how the “spiritual power” of “living and saving” that once belonged to Sophia underwent a process of abstraction due to the monotheistic trend where “the goddess, as a feminine figure of wisdom, was disenthroned and repressed. She survived only secretly”,46 for example in a saintly figure different to Mary, but according to apocryphal tradition closely related her; Mary’s mother Saint Anne. But we have to be aware that Erich Neumann’s underlying assumption about an archetypical Great Mother belongs to the modern tradition following Bachofen’s construct of prehistorical matriarchy that has been discarded by archaeologists and historians of ancient history.47 From a medievalist point of view, the question of whether Mary did or did not absorb features of some ancient goddesses is not the key for her understanding. The medieval 43 Caroline Walker Bynum, Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe, New York 2011, 25. 44 On the Sophia tradition, see Pheme Perkins, Sophia and the Mother-Father: The Gnostic Goddess, in: Carl Olson ed., The Book of the Goddess, see note 42; see also the volume Karen L. King ed., Images of the Feminine in Gnosticism, Philadelphia 1988. 45 Erich Neumann, The Great Mother. An Analysis of the Archetype, Princeton, NJ 2015, 326. For the original, see idem, Die große Mutter. Der Archetyp des großen Weiblichen, Zürich 1956, 305. 46 Neumann, The Great Mother, see note 45, 331–332. For the original, see idem, Die große Mutter, see note 45, 309–310. 47 See Beate Wagner-Hasel, Matriarchat, in: Der Neue Pauly Bd. 15, Stuttgart 2006; see also the contribution of Anja Hänsch and Almut Höfert in this volume.

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richness of Marian devotion shows that Mary’s divineness was in any case not simply a Christian baptism of ancient ideas, but that in the course of the Middle Ages, the people who prayed to her and the philosophers who portrayed her created a dynamic cult that was in constant flux.

Religion, Geschlecht, Körper – mediävistische Verortungen

Die amerikanische Mediävistin Caroline Walker Bynum ist zweifelsohne eine der wichtigsten Vertreterinnen der Geschlechter- und Körpergeschichte. Sie hat in Harvard, an der University of Washington, an der Columbia University und am Institute of Advanced Study in Princeton unterrichtet. Mit ihren präzisen, mehrfach preisgekrönten Studien zum mittelalterlichen Mönchtum und Nonnenwesen, zur Bedeutung von Körperlichkeit in der Geschichte des Christentums, zu religiösen Bildern und Frömmigkeitspraktiken, die an Objekte gebunden sind, hat sie die Forschungen zum europäischen Mittelalter seit dem Ende der 1970er Jahre bereichert und erweitert. In den 1980er Jahren hat sie mit „Jesus as Mother“ (1982) und „Holy Feast and Holy Fast“ (1987) entscheidend dazu beigetragen, dass in der Mediävistik geschlechtergeschichtliche Perspektiven eingenommen wurden.1 Ihre Studien „Fragmentation and Redemption“ (1991), „The Resurrection of the Body in Western Christendom“ (1995) und „Wonderful Blood“ (2007) sind zu wichtigen Referenzwerken der Körpergeschichte geworden.2 Dabei hat sie mit ihren theoretisch anspruchsvollen Studien zur Körper- und Materialitätsgeschichte3 auch über die Grenzen ihres eigenen Faches hinaus begeisterte Leser*innen gefunden. Nach wie vor trägt die äußerst produktive Forscherin zu geschichtswissenschaftlichen Debatten bei. Mit großer Akribie sucht sie nach „Fußabdrücken“ des Vergangenen,4 beweist besonderes Geschick in der vielschichtigen Interpretation ihrer Quellenfunde und hinterfragt die methodischen Im1 Caroline Walker Bynum, Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley/Los Angeles, 1982; dies., Stevan Harrell u. Paula Richman (Hg.), Gender and Religion. On the Complexity of Symbols, Boston 1986; Caroline Walker Bynum, Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women, Berkeley/Los Angeles 1987. 2 Caroline Walker Bynum, Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1991; dies., The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200–1336, New York 1995; dies., Wonderful Blood. Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond, Philadelphia 2007. 3 Caroline Walker Bynum, Christian Materiality. An Essay on Late Medieval Religion, New York 2011. 4 Caroline Walker Bynum, Footprints. The Xenophilia of a European Medievalist, Symposium: Xenophilia, Part 4, in: Common Knowledge, 24, 2 (2018), 291–311.

IM GESPRÄCH

Almut Höfert und Xenia von Tippelskirch im Gespräch mit Caroline Walker Bynum

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plikationen und Konsequenzen von historischen Vergleichen – zuletzt in „Dissimilar Similitudes. Devotional Objects in Late Medieval Europe“ (2020).5 Gegenwartsbezüge tauchen in Form vignettenhaft beschriebener persönlicher Erlebnisse in ihrer elegant formulierten Wissenschaftsprosa auf und zeugen nicht zuletzt auch vom politischen und zivilgesellschaftlichen Engagement der Forscherin. Es lag daher nahe, sie passend zum Thema dieses „L’Homme“-Heftes nach der Genese ihrer Studien zu den geschlechtlichen Dimensionen von Religiosität im Mittelalter zu fragen. Außerdem haben wir mit ihr über aktuelle Entwicklungen der amerikanischen Mediävistik gesprochen. Das sehr anregende Gespräch mit Caroline Walker Bynum fand im Frühjahr 2021 auf Englisch über Zoom statt und wurde im Anschluss ins Deutsche übertragen. Almut Höfert und Xenia von Tippelskirch: Wie kam es, dass Sie sich für das Studium der Religionsgeschichte entschieden haben, wieso haben Sie sich für die Epoche des Mittelalters interessiert und warum haben Sie gerade Deutschland als Untersuchungsfeld gewählt? Caroline Walker Bynum: Für mich war von Anfang an klar, dass ich Religionsgeschichte studieren wollte. Das hatte in erster Linie autobiografische Gründe, denn ich bin im amerikanischen Süden aufgewachsen, wo Religion – nicht nur im positiven Sinne – sehr prägend war und ist. Die Bedeutung von Religion einerseits als Handlungs- und Interpretationsrahmen, andererseits als schreckliche Last hätte ich in allen historischen Perioden untersuchen können. Zum Mittelalter bin ich eher zufällig gekommen. Hätte ich eine andere Epoche gewählt, wären meine Forschungsschwerpunkte sicher andere gewesen. Gerade in jüngster Zeit habe ich intensiv zu Phänomenen im norddeutschen Raum im 16. Jahrhundert geforscht, wo es ständig zu Konflikten zwischen lutherischer Bewegung und katholischen Gruppierungen kam. In meinen Arbeiten zum Mittelalter tauchen Konflikte hingegen weniger auf. Aber die grundlegenden Fragen, wie etwa Religion die Gedanken der Menschen geformt hat, wären sicher immer die gleichen geblieben. Mein Forschungsinteresse für Deutschland hängt unter anderem damit zusammen, dass mein verstorbener Ehemann aus Deutschland stammte. Zudem durfte ich Forschungsaufenthalte am Wissenschaftskolleg und an der American Academy in Berlin wahrnehmen. Ich reiste in dieser Zeit durch Norddeutschland und besichtigte verschiedene Klöster. Insbesondere mein Besuch im Kloster Wienhausen hat tiefen Eindruck auf mich gemacht. Wenn man einmal dort war, kann man das nicht mehr vergessen. Für eine Historikerin wie mich ist besonders bewegend, wie die heute dort lebenden Konventualinnen die Bewahrung von Kultur zu ihrer Aufgabe gemacht haben.

5 Caroline Walker Bynum, Dissimilar Similitudes. Devotional Objects in Late Medieval Europe, New York 2020.

Im Gespräch

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Inwiefern spielte es eine Rolle, dass Sie Ihre Forschungen zum deutschen Mittelalter aus einer amerikanischen Perspektive durchgeführt haben? Ich habe häufig mit meinem Ehemann darüber gesprochen. Wir kamen beide aus Gegenden, die zu Recht besiegt worden waren. Ich bin im amerikanischen Süden aufgewachsen, meine Großeltern waren zutiefst rassistisch und bedauerten den Verlust eines Lebens, das sich auf Sklaverei gründete. Die Generation meiner Eltern lehnte das hingegen ab. Mein Mann wuchs als kleiner Junge im Dritten Reich auf, sein Vater hatte als kritischer Journalist seine Stelle verloren, aber sie hatten Verwandte, die überzeugte Nationalsozialisten waren. Diese Hintergründe beeinflussten unser Nachdenken über Ideologien und darüber, wie Familien mit kulturell geprägten Erfahrungen umgehen. Man kann diesbezüglich von einer parallelen Entwicklung in Deutschland und den USA sprechen. Ich habe gerade einen Artikel geschrieben,6 in dem ich auf einen Text von Susan Neiman,7 Direktorin am Einstein Forum in Potsdam, reagiere. Neiman regt in ihrem Buch „Learning from the Germans“ an, dass Amerikaner*innen davon, wie Deutsche den Holocaust erinnern, lernen sollten. Ich argumentiere, dass man nicht vergessen sollte, dass Deutschland den Krieg verloren und dass es einen Regimewechsel gegeben hat, was in Amerika nicht der Fall war, obwohl der amerikanische Süden der Verlierer des Bürgerkriegs war. In meinem Text bespreche ich die sogenannten Sights of Horror (Orte der Deportation, Sklavenmärkte, Orte, an denen gelyncht wurde, Massengräber) und zeige, wie unterschiedlich in Deutschland und den USA damit umgegangen wurde. Auch wenn ich jetzt damit etwas vom Thema abweiche: Ich denke, dass die Tatsache, dass ich mich zu meinem Ehemann hingezogen fühlte und dass mich deutsche Forschungsobjekte anziehen, eng damit zusammenhängt, wie ich aufgewachsen bin: im amerikanischen Süden, bei Eltern, die ihre eigenen Eltern aufgrund eines Wertewandels abgelehnt haben. Wie nehmen Sie Unterschiede zwischen den mediävistischen Forschungen in Deutschland und in den USA wahr? Welche Rolle spielen politische Positionierungen im Fach? Man kann von unterschiedlichen Entwicklungswellen und von unterschiedlichen Geschwindigkeiten sprechen. Natürlich kennt man immer den eigenen Kontext am besten, aber ich habe den Eindruck, dass Forschungen, wie ich sie betrieben habe, in den 1980er und 1990er Jahren zunächst im Bereich der Women Studies ghettoisiert waren – und dass sie dann in den USA schneller zum Mainstream wurden, als das in Deutschland der Fall war. Heutzutage ist es so, dass die Mediävist*innen in den USA 6 Caroline Walker Bynum, Growing Up in the Shadow of Confederate Monuments, in: Common Knowledge, 27, 2 (2021), 163–170, unter: http://dx.doi.org/10.1215/0961754X-8906103, Zugriff: 27. 1. 2022. Eine deutsche Übersetzung dieses Artikels wird 2023 in der Zeitschrift „Historische Anthropologie“ erscheinen. 7 Susan Neiman, Learning from the Germans. Race and the Memory of Evil, New York 2019.

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sehr darauf bedacht sind, den Eindruck zu vermeiden, dass ihre Forschungen irrelevant oder konservativ seien, – und sich daher auf globale Forschungen stürzen. Das Betreiben von global medieval studies mag viele Vorzüge haben, aber kann auch sehr schnell zu einem kolonialistischen Unterfangen werden. Ich habe Bedenken, ob die Forscher*innen, die den konservativen Ruf ihres Faches revidieren möchten und nun Mittelamerika oder Japan untersuchen, wirklich auf der richtigen Fährte sind, oder ob sie nicht nur ihre Sichtweise überstülpen. Sie wollen sich nicht ausschließlich mit Europa und dem Mittelmeerraum beschäftigen, sondern den Blick weiter spannen, aber ich habe das Gefühl, dass das schnell kippen kann. Sie tun sich hier sehr viel schwerer als die Frühneuzeitler*innen. Wenn diese sich mit der Zeit nach dem ersten Entdeckerzeitalter beschäftigen, dann ist der Rest der Welt immer schon in die europäische Geschichte mit eingeschlossen. Man muss das nicht einmal umständlich begründen, es ist immer schon da. Auch die Forschungen zur Spätantike haben es sehr viel besser geschafft, die Welt östlich des Mittelmeers zu integrieren, und die Wissenschaftler*innen haben vor allem die Geschichte ihres eigenen Fachs besser aufgearbeitet und darüber nachgedacht, wie man über diese sprechen muss, damit man im Fach auch aktuell relevante Fragestellungen behandeln kann. Sowohl in Bezug auf die geografische als auch die historiografische Erweiterung waren die Althistoriker*innen sehr viel erfolgreicher. Es gibt sicher unterschiedliche Gründe, warum das für Mediävist*innen schwieriger ist. Wenn wir ehrlich sind, ist es unmöglich, Globalgeschichte angemessen zu unterrichten, denn eine einzelne Person weiß nie genug und ist dann gezwungen sich auf Einzelaspekte zu beschränken. Die Pandemie mag dazu geführt haben, dass wir die politischen Spannungen in den verschiedenen Fächern noch stärker spüren. Die wichtigen großen Konferenzen konnten nicht stattfinden, amerikanische Forscher*innen konnten nicht nach Europa reisen. Das hat auch dazu geführt, dass sie eine Art Nabelschau betrieben haben und sich über die Terminologie ihres Faches Gedanken gemacht haben. Sie können nicht in Archive gehen und treffen ihre Fachkolleg*innen nur in Zoom-Konferenzen. Sie drehen sich solipsistisch nur um das eigene Fach. Wenn sie mal wieder neues Material bearbeiten könnten, wäre das befreiend. Eine Schülerin von mir sitzt zur Zeit in Italien in der Villa I Tatti in Florenz. Sie hätte dieses ganze Jahr im Archiv arbeiten sollen, stattdessen unterrichtet sie mitten in der Nacht über Zoom ihre amerikanischen Studierenden, kümmert sich um das Homeschooling ihrer drei Kinder und verfasst Gliederungen, die anzeigen sollen, was sie wohl tun könnte, wenn sie endlich wieder ins Archiv kann. Herzzerreißend. In den 1990er Jahren kam die Kritik an Genderstudies und insbesondere an mittelalterlichen Themen vom linken politischen Spektrum. Sie ging insbesondere von Gruppen aus, die Gender nicht berücksichtigt wissen wollten, weil sie um ihre eigene Position fürchteten. Als ich 1993 am Smith College [ein College ausschließlich für Frauen in Massachusetts, Anm. X. v. T. und A. H.] einen Vortrag halten sollte, hingen auf dem Campus

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Plakate eines radikalfeministischen lesbischen und spirituellen Frauenkollektivs, die dazu aufriefen, meinen Vortrag zu boykottieren. Die Frauen der Gruppe, in Motorradjacken und schwerbehängt mit Ketten, wollten mich am Reden hindern. Ich erklärte ihnen, dass ich über Frauen sprechen wollte, die in Frühniederländisch geschrieben hatten, und bat sie, mir erst mal zuzuhören. Wie bereits erwähnt kamen die Anfeindungen damals von links. Nun ist die Situation eine andere, denn es ist jetzt das rechte Spektrum, das mittelalterliche Symbole, keltische Kreuze und eine Kreuzfahrersprache benutzt. Personen, die sich eher in der politischen Mitte verorten, fühlen sich gezwungen, darauf zu reagieren. Der Kontext ist ein völlig anderer. Konsens scheint heute – und das war vor zehn Jahren noch anders –, dass das Mittelalter eine schlimme Epoche sei, in der Muslime getötet, in der Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt, in der Schwule umgebracht wurden. Dabei wird nicht zwischen frühneuzeitlichen und mittelalterlichen Phänomenen unterschieden. Das führt dazu, dass Mediävist*innen sich in einer defensiven Position befinden. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gibt es auch Personen, die behaupten, dass Gendergeschichte bereits binäre Kategorien vorgibt, was politisch inakzeptabel sei. Ich habe das Gefühl, dass in Europa die Situation nicht ganz so angespannt ist. Im amerikanischen Kontext scheint es immer wichtiger, von welcher Position aus man spricht, wie denken Sie darüber? Ich bin beunruhigt darüber, dass die Identitätspolitik in Amerika inzwischen so weit geht, dass jede*r, die/der mit einer anderen Stimme als der eigenen spricht, Gefahr läuft, sich diese zu Unrecht anzueignen. Heute ist es nicht mehr möglich, als weiße Frau über schwarze Geschichte zu arbeiten. Wir sind schon fast so weit, dass schwarze Frauen nicht mehr über schwarze Männer arbeiten können und umgekehrt. Das Absurde dabei ist, dass niemand von uns aus dem Mittelalter stammt, wir sind keine Zisterzienserinnen aus dem 12. Jahrhundert, alles was wir tun, ist eigentlich immer schon kulturelle Übernahme. Wir brauchen eine nuancierte Vorstellung davon, was es heißt, mit einer anderen Stimme zu sprechen oder eine andere Stimme hörbar zu machen. Das schon von vorneherein zu unterbinden, ist problematisch. Das einzige, worüber dann Kolleg*innen noch glauben reden zu können, ist die Zweckentfremdung mittelalterlicher Symboliken durch die heutige Rechte. Wenn sie über die Kreuzzüge sprechen, dann geht es nur um die Vereinnahmung von Kreuzzugsideologie, Eisernen Kreuzen, Schilden, Lanzen etc. Dabei gibt es viele spannende Fragen, die sich anschließen ließen, zum Beispiel nach dem Kreuz im Zusammenhang mit den Kreuzzügen. Was bedeutete es, ein Kreuz auf das Wams zu sticken, oder: Wenn ein Kreuz auf der Schulter zu sehen ist, welcher Zusammenhang besteht mit Tattoos, mit spätantiken Vorstellungen von Stigmata und Zeichen, wie lässt sich das mit Auschwitztätowierungen in Zusammenhang bringen, was bedeutet es, den Körper zu markieren? Umgekehrt kann man auch Vertreter*innen der Minderheiten nicht die Last zumuten,

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immer und ausschließlich für ihre gesamte Gruppe zu sprechen. Man muss zulassen, dass es auch andere Stimmen gibt, aber man kann nicht so weit gehen, dass Schwarze ausschließlich über Blackness schreiben dürfen. Wir sollten uns daran erinnern, dass es einmal eine Zeit gab, in der man uns erklärte, über Frauen zu arbeiten sei eine Beschäftigung mit einem geschichtlichen Randphänomen, oder aber uns davor warnte, die ganze Geschichtswissenschaft zu revolutionieren. Es war leicht, Frauenforscher*innen zum Schweigen zu bringen. Weiße Frauen sollten dank ihrer eigenen Erfahrung – Ausschluss aus dem Mainstream – versuchen, andere Wege der Verständigung zu finden. Auch die Frage, ob man selbst glaubt oder nicht, ist eine Frage, die Religionshistoriker*innen gestellt bekommen. Vor 20 Jahren wurde das fast noch häufiger diskutiert. In einem ideengeschichtlichen Kurs zu einer Reihe von Theologen von Augustinus bis Calvin habe ich am Ende die Studierenden gefragt, welche Position ihrer Meinung nach meiner eigenen besonders nah käme. In den Augen der Studierenden kamen alle möglichen Denker in Frage, was für mich eine Bestätigung war, denn ich wollte ihnen zeigen, wie mächtig diese Ideen waren. Ich fühle mich von religiösen Positionen angezogen, muss mich aber keiner dieser Positionen anschließen, um darüber sprechen zu können. Wenn ich mit Kolleg*innen aus Tel Aviv zusammenarbeite, tue ich das nicht als Christin, sondern als Person, die sich für religiöse Zusammenhänge interessiert und die davon überzeugt ist, dass Religion ein wichtiges Phänomen in dieser Welt ist. Die Mediävist*innen sind nicht allein dafür verantwortlich, dass Menschen in Virginia unter dem keltischen Kreuz marschieren, aber sie sind auch nicht die Einzigen, die dazu Stellung beziehen müssen. Das eigentliche Problem sind die Werte, die durch das keltische Kreuz verbildlicht werden. Wenn Mediävist*innen nur noch damit beschäftigt sind, solche Praktiken zu denunzieren, dann geben sie viel von der Vielfalt einer 1000 Jahre langen Geschichte auf. Zahlreiche Länder und Themen sind noch unbekannt. Wir wollen nicht nur darüber sprechen müssen, dass Menschen keltische Kreuze und Ku-Klux-Klan-Hauben tragen. Forschung sollte nicht diktiert werden, auch wenn die Agenda natürlich bis zu einem gewissen Grad von aktuellen politischen Entwicklungen bestimmt wird – in Amerika sicher mehr als in Europa. Ihr Buch „Jesus as a Mother“, das schon Anfang der 1980er Jahre erschienen ist,8 ist gewissermaßen Geschlechtergeschichte avant la lettre, wie kamen Sie auf die Idee? Dieser Text mag ein Beispiel dafür sein, dass man die Kategorie Geschlecht nicht braucht, um geschlechtsspezifische Phänomene wahrzunehmen. Wenn man sensibel für Sprachgebrauch ist und nach Selbstwahrnehmung fragt, dann sind geschlechtsspezifische Besonderheiten unmittelbar sichtbar. In meiner Dissertation hatte ich mich 8 Caroline Walker Bynum, Jesus as Mother, wie Anm. 1.

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mit dem Gemeinschaftsgefühl von Mönchen im 12. Jahrhundert beschäftigt. Zu diesem Zeitpunkt ging es nicht um Frauen, sondern ausschließlich um Männer. Für mich als akademische Lehrerin war das Selbstverständnis der Mitglieder religiöser Gemeinschaften als religiöse Lehrer bemerkenswert. Besonders interessiert hat mich dabei das Lehren durch das eigene Beispiel.9 Wenn man ihre Texte nun genauer liest, ist es schier unmöglich, nicht darüber zu stolpern, dass diese Männer eine geschlechtlich konnotierte Sprache nutzten. Um über Eigenverantwortung und Gewissenskonflikte zu sprechen, wurde sehr häufig eine geschlechtlich konnotierte Sprache verwendet, auch wenn man diese nicht notwendigerweise so nennen muss, um darauf aufmerksam zu werden. André Cabussat hatte lange vor mir einen Aufsatz zu Jesus als Mutter veröffentlicht.10 Das hat mich ermutigt, dieses Phänomen genauer zu untersuchen. Besonders interessiert hat mich damals, wie Männer eine geschlechtlich nuancierende Sprache benutzten, um über Selbstzweifel zu sprechen, und wie sie im Umgang mit anderen Mitgliedern ihres Ordens und vor allem gegenüber jüngeren Männern auf diese Sprache zurückgriffen. Der nächste logische Schritt war, dass ich untersucht habe, ob Frauen ähnlich sprachen. Das hat mich zu meinem Band „Holy Feast and Holy Fast“ geführt.11 Ich untersuchte darin Frauen vom Ende des 12. Jahrhunderts bis ins 14. Jahrhundert und wie diese Sprache nutzten, wobei mir dies komplexer erschien als das männliche Sprechen ein Jahrhundert zuvor. Es ist dabei unerheblich, ob man von Gender Studies oder Metaphor Studies spricht, in jedem Fall schien es mir unübersehbar und erwähnenswert, dass Menschen, die über sich selbst nachdachten, über sich als „Mann“, „Frau“, „Mutter“, „Vater“, „Schwester“ oder auch „Bruder“ sprachen. Wann haben Sie zum ersten Mal die Kategorie Geschlecht explizit verwendet? Das war wohl eher keine bewusste Entscheidung, ich habe die Kategorie überhaupt nicht sehr häufig benutzt. Wer meine Texte kennt, weiß, dass ich nicht dazu tendiere, mich explizit theoretisch zu äußern. Theoretische Auseinandersetzungen stehen bei mir nicht im Vordergrund, ich beziehe mich im Fließtext auch eher selten auf andere Forscher*innen. Die Diskussion mit ihnen passiert eher in den durchaus auch langen Fußnoten. Für mich ist es sehr wichtig, präzise mit dem historischen Quellenmaterial zu arbeiten, und häufig stellt sich dann heraus, dass das, was ich aus den Quellen lesen kann, hochkomplex ist. Wenn ich dann neben der Analyse des paradoxen Sprechens der Quellen auch noch mit anderen Forscher*innen ins Gespräch kommen will, dann wird es hoffnungslos kompliziert. Häufig kreist die historische Debatte auch um andere Themen, als um das, was ich gerade bearbeite. Ich glaube dabei keineswegs, dass die 9 Vgl. dazu Caroline Walker Bynum, Docere Verbo et Exemplo: An Aspect of Twelfth-Century Spirituality, Missoula/Mont 1979. 10 André Cabassut, Une dévotion médiévale peu connue: la dévotion à Jésus Notre Mère, in: Mélanges Marcel Viller, RAM 25 (1949), 234–245. 11 Caroline Walker Bynum, Holy Feast and Holy Fast, wie Anm. 1.

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Quellen ‚von sich aus sprechen können‘, man muss sie zum Sprechen bringen. Mir ist mehr daran gelegen, die Quellen zu bearbeiten als historiografische Thesen zu formulieren, zumindest in den Monografien. Selbstverständlich ist das nicht immer der Fall. In meinen Aufsätzen „Why all the Fuss about the Body“,12 „Reply to Steinberg“13 und einigen neueren Texten zum Paradox spreche ich explizit über die jeweilige Historiografie, das sind aber eher Ausnahmen. Es stimmt, dass man mich eher auf die Aufsätze anspricht, in denen ich einen Beitrag zu geschichtswissenschaftlichen Debatten geleistet habe. Ich sage auch nicht, dass diese nicht wichtig wären, bestimmte Themen müssen dringend angesprochen werden. Würden Sie sich selbst explizit als ‚Geschlechterhistorikerin‘ bezeichnen? Das hängt davon ab, mit wem ich spreche. Wenn ich mit Women Studies Gruppen spreche, könnte es sein, dass ich mich als Geschlechterhistorikerin bezeichne. Im Kontakt mit anderen Gruppen würde ich vielleicht eher von mir als Religionshistorikerin sprechen und in noch anderen Kontexten würde ich mich vielleicht einfach als Mediävistin bezeichnen. Wenn man zu spezifisch ist, schließt das anderes aus. Was ich konzeptionell zu sagen habe, bezieht sich auf Geschlecht, aber eben auch auf Religion und Mittelalterstudien beziehungsweise Körpergeschichte. Das hängt sehr vom jeweiligen Gesprächszusammenhang ab. Wenn man mit anderen Personen spricht, ist es immer gut, zu versuchen, Teil ihrer Debatten zu werden. Indem ich mich unterschiedlich bezeichne, kann ich eine größere Gruppe von Leuten dazu einladen, sich mit meinen Forschungen auseinanderzusetzen. Wir haben als Heftthema „Göttinnen“ gewählt. Was würden Sie auf die Frage eines kleinen Mädchens antworten, das danach fragt, warum es nur einen männlichen Gott gibt? Das ist eine sehr gute Frage. Ich arbeite abends als Mentorin für Kinder aus sozial benachteiligten Milieus, um ihnen bei ihren Hausaufgaben zu helfen. Und bevor wir das auf Zoom gemacht haben, haben wir uns mit den Kindern in einer Kirche getroffen. Und eines Tages sah ein kleiner Junge, dem ich helfen sollte, zu dem dort hängenden Christus am Kreuz auf und fragte mich, warum Jesus immer ein Mann sei. Das war großartig, denn das ist ja wirklich eine wichtige Frage und für diesen Jungen, der aus einem hispanischen Umfeld stammt, in dem die Jungfrau Maria eine wichtige Rolle spielt, hätte es genauso gut eine Frau sein können. Es kommt auch hier darauf an, mit wem man spricht, so scheint es mir wichtig, nicht nur auf die paradoxe Figur der 12 Caroline Walker Bynum, Why All the Fuss about the Body? A Medievalist’s Perspective, in: Critical Inquiry, 22, 1 (1995), 1–33, unter: http://www.jstor.org/stable/1344005, Zugriff: 27. 1. 2022. 13 Caroline Walker Bynum, The Body of Christ in the Later Middle Ages: A Reply to Leo Steinberg, in: Renaissance Quarterly, 39, 3 (Autumn 1986), 399–439.

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jungfräulichen Mutter Maria hinzuweisen, sondern auch auf weibliche Heilige, wie etwa Katharina von Alexandrien – als Philosophin, auf Perpetua und andere. Für Mädchen ist es wichtig zu erfahren, dass es im Christentum viele weibliche Figuren gibt, die um die männliche Trinität herum verortet werden können, und dass einige zum Empowerment von Frauengruppen beigetragen haben. Die quasi institutionellen Frauengruppen des späten Mittelalters, die Beginen, schöpften Kraft aus dem Bild der Jungfrau und der heiligen Frauen. Das kann sogar ein Kind verstehen. Wenn man zu Erwachsenen spricht, kann man auf weibliche allegorische Figuren (Sapientia, Gott als Weisheit und als Tugend) hinweisen, die sich um die Figur des Vaters verorten lassen. Auch kann man daran erinnern, dass eigentlich kein Theologe glaubt, dass Gott wirklich als Mann oder als männlich bezeichnet werden kann. Möglich ist eigentlich nur – darüber sind sich viele Philosoph*innen und Theolog*innen einig – ein Sprechen ex negativo, denn das Treffendste, was man über Gott sagen kann, ist das, was Gott nicht ist. Wenn man doch von Gott als männlich spricht, dann kann man natürlich auch die weiblichen Attribute erwähnen, aber das ist allegorisches und symbolisches Sprechen. Nichts davon berührt die nicht sagbare Essenz des Göttlichen. Dann bleibt noch zu klären, wie das mit Jesus ist, der als junger Mann Mensch geworden ist. Hier scheint mir unumgänglich, auf den kulturellen historischen Hintergrund zu verweisen. Zu seiner Zeit wäre es unmöglich gewesen, dass eine unabhängige Frau eine religiöse Anführerin geworden wäre, sie wäre sofort als eine Prostituierte abgestempelt worden. Der nächste Schritt wäre dann, über das Handeln von Jesus nachzudenken. Dabei wird dann klar, dass Geschlecht nicht immer eine Rolle spielt. Jesus war sicher kein gewöhnlicher Jude des ersten Jahrhunderts, beispielsweise war er nicht verheiratet. Auch wird konventionelle Männlichkeit durch sein Engagement, seine Taten und die Rolle weiblicher Figuren im Neuen Testament ständig unterlaufen. Halten Sie es für sinnvoll, von einer klerikalen Geschlechtergeschichte zu sprechen? Das könnte hilfreich sein. Mein Text „Jesus as Mother“ könnte sicher in diesen Kontext eingeordnet werden. Wichtiges könnte mit solch einem analytischen Instrument in den Blick genommen werden; allerdings müssten Nonnen und Laienschwestern unbedingt auch einbezogen werden. Bedeutsam ist, dass diese nicht nur als passive Rezipientinnen von Aktionen männlicher Kleriker gedacht werden dürfen. Nonnen umgehen häufig Vorschriften, die ihnen von ihren Oberen gemacht werden. Wenn ihnen vorgeschrieben wird, nicht allzu häufig Kommunion zu halten, dann haben sie Visionen von Jesus, der ihnen das erlaubt. Dadurch erhalten sie direkten Kontakt zum Göttlichen. Wenn man über das Geschlecht der Kleriker spricht, dann muss man diese Komplexität mit berücksichtigen. Forschungen zum Klerus aus einer Geschlechterperspektive sind nach wie vor ein Desiderat. Äbtissinnen, aber auch weniger organisierte Gruppe wie die Beginen könnten noch weitergehend bearbeitet werden. Ebenfalls vorstellbar wäre eine Arbeit zu den unverweslichen Körpern von Frauen und Männern.

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Um auf Ihre neueren Forschungen zu sprechen zu kommen: Haben Dinge ein Geschlecht? Das ist eine komplizierte Frage. Religiöse Materialität muss anders konzeptionalisiert werden als die anderer Objekte.14 Nach Bruno Latour hat jedes Objekt Agency. Religiöse Objekte haben sicherlich eine religiöse Funktion, aber das ist nicht alles, was man über sie sagen kann. Sie haben auf paradoxe Art und Weise Agency. Dabei ist nicht das Objekt selbst geschlechtsspezifisch, aber das Objekt wirkt unterschiedlich, je nach weiblichem oder männlichem Kontext. So wirken die Krippen und Jesuskinder, über die Ulinka Rublack geschrieben hat,15 auf geschlechtsspezifische Art und Weise. Das Setting und das Publikum sind geschlechtsspezifisch. Ich denke daran, wie ein Vater mit seinen Kindern im Metropolitan Museum zunächst eine Krippe, dann Waffen anguckte, und das Mädchen und der Junge reagierten dabei sehr unterschiedlich. Man konnte daran sehr schön beobachten, wie zentral das Setting für die Rezeption von Objekten ist. Es ist sehr wichtig, zwischen religiösen Objekten und Alltagsgegenständen zu unterscheiden, denn ein Wasserbehälter ist nicht das Gleiche wie ein Weihwasserbecken. Beides enthält Wasser, aber das Weihwasserbecken lässt uns fragen, wie dieses Macht gewinnt. Muss es geweiht sein, von wem? Was passiert, wenn ich von einem Priester geweihtes Wasser nach Hause mitnehme? Wenn ich es verdünne, wie lange dauert es, bis es nicht mehr heilig ist? Kann ich es selbst zu heiligem Wasser machen? Ähnliche Fragen stellen sich in Bezug auf die Eucharistie: Wenn ich die Hostie schlucke, ist sie der Körper Christi, aber ist sie das immer noch, wenn sie in meinem Magen angekommen ist? Das sind Fragen, die sich im Kontext christlicher Materialität stellen. Gilt das unabhängig von der im 19. Jahrhundert eingeführten Unterscheidung zwischen religiöser und säkularer Sphäre und bezieht sich diese Komplexität tatsächlich nur auf den christlichen Kontext? Der wichtigste Theoretiker zur religiösen Materialität ist der Anthropologe Alfred Gell, der sich zur Bedeutung von Masken geäußert hat. Kürzlich habe ich über Masken im Amazonasgebiet gelesen, dabei stellen sich dieselben Fragen, Fragen nach der Bedeutung des Geschlechts, nach Agency. Man braucht dort keinen Priester, der die Masken weiht, um Unterschiede wahrnehmen zu können zwischen einer Maske, die in einer Zeremonie benutzt wird, und einer Schale. Das ist keine Frage, die ausschließlich das 14 Zur Materialität vgl. u. a..: Caroline Walker Bynum, Christian Materiality. An Essay on Late Medieval Religion, New York 2011; dies., Are Things Indifferent? How Objects Change Our Understanding of Religious History, in: German History: The Journal of the German History Society, 34 (2016), 88–112; Dissimilar Similitudes, wie Anm. 5. 15 Ulinka Rublack, Female Spirituality and the Infant Jesus in Late Medieval Dominican Convents, in: Bob Scribner u. Trevor Johnson (Hg.), Popular Religion in Germany and Central Europe, 1400– 1800, Basingstoke/New York 1996, 16–37, 210–214.

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Christentum betrifft. Als Anthropologe oder als anthropologisch arbeitende*r Mediävist*in kommt man von außen und mag durchaus feststellen, dass religiöse Objekte sich von anderen Objekten unterscheiden, aber welches sind dann die religiösen Objekte? Es gibt viele Dinge, die einen ambivalenten Status haben. Diesen in den Blick zu nehmen, ist besonders spannend. Eine Frage, die sich unmittelbar an diese Bemerkungen anschließen lässt, ist eine sehr viel weitreichendere Frage, nämlich, was eigentlich womit verglichen werden kann. Es ist selbstverständlich sehr wichtig, das Framing zu beachten, sich also darüber klar zu werden, in welchen Zusammenhang man das eigene Vorgehen einordnet. In den letzten 30 Jahren ist das in kulturwissenschaftlichen Forschungen zuweilen in Vergessenheit geraten. Wir sprechen immer zu einem spezifischen Publikum. Manche sind davon überzeugt, sie würden nur zu zwei Spezialist*innen sprechen, und das Ergebnis ist dann etwas, was man wirklich nur als Gespräch zwischen drei Theoretikern bezeichnen kann. So etwas kann von anderen kaum weiterverwendet werden. Man muss sich immer darüber im Klaren sein, wer eigentlich die adressierte Person ist. Auch wenn man nicht immer zu allen sprechen kann, ist es gut, ein großes Publikum im Auge zu behalten. (aus dem Englischen von Xenia von Tippelskirch)

GRÜSS GÖTTIN. Ein Autobahnschild als künstlerische Provokation in Tirol

GRÜSS GÖTTIN. In weißen Lettern mit pinkfarbenem Rand auf schwarzem Grund stand dieser Gruß der Tiroler Bildhauerin Ursula Beiler auf einem fünf Meter langen und eineinhalb Meter breiten Schild sieben Jahre lang an der Autobahn bei Kufstein. Von Osten kommend handelt es sich um die am meisten frequentierte Einfahrt nach Tirol. Mittlerweile ist die Tafel auch an anderen Standorten zu bewundern, wobei der Widerstand gegen sie anhält. Zum Hintergrund: 2008 schrieb die Tiroler Künstlerschaft einen Wettbewerb aus, in dem Kunstschaffende dazu aufgefordert wurden, sich inhaltlich auf die pompösen Feierlichkeiten zum zweihundertsten Jubiläum des national glorifizierten Tiroler Volksaufstands (1809) zu beziehen.1 Ursula Beilers Einreichung wurde schließlich prämiert. Damit war die Realisierung ihres Kunstprojekts im öffentlichen Raum durch die Tiroler Landesregierung finanziert und rechtlich gesichert. Die Idee der 1959 in Tirol geborenen Bildhauerin für ihr GRÜSS GÖTTIN-Autobahnschild entstand aus der Beobachtung, dass sich in nahezu allen Tiroler Tourismusorten Tafeln mit der Aufschrift „Grüß Gott in …“ finden, so dass sie sich fragte: „Warum nicht auch einmal ‚Grüß Göttin‘?“ Schon früher fiel Ursula Beiler durch ihre Auseinandersetzung mit der ‚weiblichen Seite Gottes‘ auf. Zu ihren sakralen Skulpturen gesellte sich bald die Darstellung von Göttinnen. Neu an GRÜSS GÖTTIN war, dass es sich um ihr erstes plakatives Werk handelte. Mit diesem hinterfragt Beiler einerseits die Reduktion auf den einen, männlichen Gott. Andererseits regt sie die Betrachter*innen zur eigenständigen Reflexion an und fordert die Enttabuisierung der schöpferischen Kreativität von Frauen. In Tirol ist beides immer noch nicht selbstverständlich. Das Kunstwerk gefiel vielen Einheimischen und Besucher*innen Tirols, erfuhr aber auch offene Ablehnung. Das Hinzufügen von zwei Punkten und zwei Buchstaben zur landesüblichen Grußformel erregte die Gemüter. Stellte GRÜSS GÖTTIN die gel1 Der offizielle Text lautete: „Mit dieser Ausschreibung werden sowohl permanente Kunstprojekte als auch temporäre Interventionen im öffentlich zugänglichen Raum angeregt, welche die in Tirol besonders gelagerten Spannungsverhältnisse zwischen Kultur und Landschaft, zwischen Nutzung und Wahrnehmung der Kulturlandschaft sowie damit verbundene kulturelle Auseinandersetzungen reflektieren.“, unter: https://www.koer-tirol.at/ausschreibung/2008/, Zugriff: 24. 8. 2020.

AKTUELLES & KOMMENTARE

Martina Kaller

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Abb.1: Ursula Beiler mit ihrem Kunstwerk GRÜSS GÖTTIN © ASFINAG.fotoformat.at

tende Landesverfassung in Frage? Darin ist heute noch von der „Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe“ sowie der „geordneten Familie als Grundzelle von Volk und Staat“ die Rede.2 Leserbriefschreiber*innen verteidigten in der Lokalpresse das in Süddeutschland und Österreich übliche ‚Grüß Gott‘. Sie warfen der Künstlerin vor, eine ‚eigentliche Tiroler Identität‘ in Frage zu stellen. Mittlerweile wurde die Aufschrift mehr als 70-mal übermalt. Meistens schrumpfte die Göttin zu Gott. Nicht selten hinterließen die nächtlichen Vandal*innen das Schild schwarz, also nichtssagend. GRÜSS GÖTTIN sollte verschwinden. Neben dem Kunstwerk geriet auch die Künstlerin selbst ins Visier empörter Tiroler*innen. So schrieb etwa ein Leser in der „Rundschau. Tiroler Woche“: „Es könnte durchaus sein, dass so eine Person [die Künstlerin] „als Kind zu heiß gebadet wurde und nachher noch zu lange studiert hat. […] Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass jemand mit einer normalen Schulbildung so einen Irrsinn zustande bringt. Herr verzeih ihr, denn sie wusste vielleicht wirklich nicht, was sie tat!“3 In zahlreichen Leserbriefen wurden theologische Begriffe wie ‚Blasphemie‘ und ‚Ketzerei‘ bemüht. Vermutlich deshalb nahmen auch der Bischof und einige Laienpriester an der hitzigen Diskussion teil. Anerkennende Worte für GRÜSS GÖTTIN fand jedenfalls 2 Landesrecht konsolidiert Tirol: Gesamte Rechtsvorschrift für Landesordnung 1989, Tiroler, Fassung vom 11. 1. 2021: Präambel/Promulgationsklausel, unter: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassu ng.wxe?Abfrage=LrT&Gesetzesnummer=10000103, Zugriff: 11. 1. 2022. 3 Hans Greiderer, „Herr, verzeih ihr, denn …“ [Leserbrief], in: Rundschau. Tiroler Woche, Ausgabe Wörgl, 3. Juli 2009.

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Christian Bauer, Professor für Pastoraltheologie an der Universität Innsbruck. Er versuchte eine Entdramatisierung der Leserbriefschlachten herbeizuführen, hatten diese doch auch einen Antrag der rechtsradikalen Freiheitlichen Partei Österreichs an den Landtag zur Folge gehabt, in dem die Entfernung der Tafel aus Tirol gefordert wurde. Im Theologischen Feuilleton „feinschwarz.net“ schrieb Bauer im März 2016: „Als professioneller Theologe kann ich nur für entsprechende Aufklärung argumentieren, und als aus Deutschland stammender Arbeitsmigrant möchte ich mich nicht in dortige identitätspolitische Streifragen einmischen. Was aber tun zugereiste Neotiroler (und vielleicht auch Einheimische), wenn es ihnen schwerfällt, sich an bestimmte Kulturdifferenzen [wie die im Alpenraum übliche Grußformel Grüß Gott] zu gewöhnen? Zum Beispiel einen Blick in die neue offizielle Integrationsbroschüre des österreichischen Innenministeriums werfen! Dort heißt es: ‚Frauen und Männer haben in Österreich die gleichen Rechte.‘ Und weiter: ‚Jeder darf nach seiner Religion leben.‘ Also müsste eine von archaischen Naturreligionen inspirierte Tiroler Künstlerin doch auch beides, Frauenrechte und Religionsfreiheit, miteinander kombinieren und das Ergebnis öffentlich ausstellen können? In beiden Bereichen hat ja auch die katholische Kirche noch einen gewissen Nachholbedarf. Grüß Göttin jedenfalls verweist auf die weiblichen Anteile des – ohnehin alle menschlichen Bilder sprengenden – christlichen Gottes, zugleich ironisiert das Kunstwerk diese Aussage mit einem Augenzwinkern.“4

1.

Feministische Kunst und Spiritualität

Gelegentlich wird Beiler wegen ihrer künstlerischen Beschäftigung mit sakraler Weiblichkeit ein Abgleiten in die Esoterik vorgeworfen. Dadurch wird suggeriert, dass die Künstlerin mit einer Spiritualität liebäugle, die nur ausgewählten Menschen, die sich in Geheimzirkeln organisieren, zugänglich ist. Beiler positioniert sich jedoch ganz anders. Ihre Interventionen sind öffentlich und feministisch gemeint. Sie richten sich nicht an weltfremde Eingeweihte, sondern an die eigene Gesellschaft, die einer anachronistischen Deutung dessen anhängt, was sie das ‚Heilige Land Tirol‘ nennt. Beiler bemängelt, dass die Tiroler Frauen in dieser Identitätskonstruktion nicht vorkommen und widerspricht damit einer in der Öffentlichkeit hochgehaltenen, patriarchalen Tradition. Jennie Klein, Kunsthistorikerin an der Ohio University, schreibt über zeitgenössische Kunst, Performance und die Überschneidung von Geschlecht und visueller Kultur. Als Kennerin der feministischen Kunstszene befasst sie sich auch mit der Spiritualität von Frauen in der darstellenden Kunst der 1970er Jahre.5 Damals war die Anwesenheit der heftig diskutierten Archäologin Marija Gimbutas, ab 1963 Profes4 Christian Bauer, Grüß Göttin? Anmerkungen zu einem Tiroler Streitfall, in: feinschwarz.net. Theologisches Feuilleton, 8. 3. 2016, unter: https://www.feinschwarz.net/gruess-goettin-anmerkun gen-zu-einem-tiroler-streitfall/, Zugriff: 12. 1. 2022. 5 Vgl. Jennie Klein, Goddess: Feminist Art and Spirituality in the 1970s, in: Feminist Studies, 35, 3 (2009): The Politics of Embodiment, 575–602.

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sorin an der University of California in Los Angeles, Inspirationsquelle für das südkalifornische Feminist Spirituality Movement.6 Basierend auf der Annahme, dass sich das Göttliche in allen Lebensformen zeige, beschäftigten sich besonders die Künstlerinnen im Los Angeles Women’s Building (1973–1991) mit Frauenkörpern und interpretierten prähistorische Fundstücke auf zeitgenössische Art. In diesen frühen Tagen der Zweiten Frauenbewegung galt es, den weiblichen Körper erst einmal aus feministischer Sicht zu entdecken. Dass diesem Körper auch eine eigene Spiritualität eigen sei, begannen Künstlerinnen, zum Beispiel Mary Beth Edelson, in ihren Werken und Aktionen herauszuarbeiten. Die sakralen Frauenkörper der Vergangenheit dienten ihnen dazu, Sexismus und Misogynie ihrer eigenen Gegenwart anzuprangern. Die Künstlerinnen nutzten verschiedene Ausdrucksformen – so kombinierte etwa Edelson Skulpturen, Zeichnungen, Fotografien und öffentliche rituelle Darbietungen, um sie in ein zeitgemäßes Umfeld zu integrieren. Sie praktizierten eine ganzheitliche Schau auf das Leben, die Natur und das Kunstschaffen als einen politisch engagierten Akt der Selbstvergewisserung sowie als eine entschiedene Zurückweisung jener patriarchalen Kunst, die Frauen, Kinder und Menschen anderer Hautfarbe zu Objekten gemacht hat, sie aber als Kunstschaffende nicht anerkannte. Ausdrücklich verurteilten besagte Künstlerinnen die männliche Aneignung von Natur und deren Zerstörung.7 Zu ihrem Verständnis des Göttlichen passten die sexuell unschuldigen, geradezu kindlichen christlichen Heiligenfiguren nicht mehr. Stattdessen stellten sie eine Weiblichkeit zur Schau, die ausufernd sexuell und gleichzeitig spirituell ist. Das verstörte. Das Exzessive erlaubte es den kalifornischen Künstlerinnen, jene Grenzen zu überschreiten, die ihnen die patriarchale Gesellschaft gesetzt hatte. Ein wichtiger Beitrag dieses Frauenkollektivs zur kritischen Entwicklung der sogenannten Feminist Culture war „Chrysalis: A Magazine of Women’s Culture“ (1977–1980). Darin lässt sich nachlesen, wie kritisch und revolutionär der weibliche sakrale Körper verwendet wurde, um gegen die herrschende Ordnung zu protestieren. Heute würde man kritisieren, dass die Künstlerinnen die Topoi von Essentialisierung und Biologisierung von Geschlecht nicht dekonstruierten.8 Solche Topoi erkannten sie im künstlerischen Mainstream und entschieden sich für verfremdende Darstellungen von Frauen, eben als Göttinnen. Dieselbe kritische Freiheit gestattet sich auch Ursula Beiler. Mit GRÜSS GÖTTIN verarbeitete sie ihre persönliche Sicht auf eine Göttin, die zunächst einmal provoziert. Konkret beschäftigen sie die historischen Deutungen der jüngeren Tiroler Geschichte und Gegenwart, die blind für die Göttinnen-Vereh-

6 Vgl. zu Gimbutas und dem spirituellen Feminismus auch den Beitrag von Almut Höfert und Anja Hänsch in diesem Heft. 7 Vgl. Jennie Klein, Goddess, wie Anm. 5, 595. 8 Vgl. etwa Miriam Sarah Marotzki, Historische Perspektiven auf die Essentialisierung und Biologisierung von Geschlecht, in: Feministische Studien, 36, 1 (2018), 197–200, unter: https://doi.org /10.1515/fs-2018-0016.

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rung in der Tiroler Volksfrömmigkeit ist. In letzterer bestünde, so Beiler, das Bild der christlichen Maria als Gebärerin Gottes fort.9 Die Interpretation Marias als Schöpferin Gottes manifestiert sich laut Beiler etwa in den mittelalterlichen Schrein-Madonnen. Diese Figuren stellen nicht nur Jesus, sondern Gottvater in ihrem Leib (Schrein) dar. Maria als Gottesmutter und Mutter Gottes zugleich. Im Zuge des Konzils von Trient (1545–1563) wurden derartige Darstellungen verboten und ihre Zerstörung angeordnet.10 Heute sind noch 45 SchreinMadonnen erhalten. Dabei handelt es sich um geschlossene Marienfiguren mit dem Jesuskind segnend auf ihrem linken Arm. Öffnet man den Schrein dieser ursprünglichen Schutzmantelmadonna, zeigt sich die Dreifaltigkeit. Im Schoß der Madonna sitzt der bärtige Gott Vater; Maria wird somit als Gottgebärende präsentiert. „Die Heilige Geistin (Hebräisch Ruach, die Schöpferin männlicher Gottheiten und somit weiblich), dargestellt als Taube“,11 ergänzt die gängigen Schrein-Madonnen. Im Dommuseum Wien kann man ein gut erhaltenes Exemplar bewundern, das ein Wiener Bildhauer um 1420 geschaffen hat.12 Dem Begleittext sind Einzelheiten zu entnehmen: „Sie breitet ihre Arme über die Frauen zu ihrer Rechten und die Männerfiguren zu ihrer Linken aus, unter denen beispielsweise ein Papst, ein Kanoniker und ein Bischof zu erkennen sind. Diese Figuren wurden nicht wie sonst üblich gemalt, sondern als Relief ausgeführt. Im Schreininneren hat der Bildhauer zur Darstellung der Dreifaltigkeit das (sehr beliebte) Motiv des Gnadenstuhls gewählt, wobei sowohl Kruzifix als auch Taube heute verloren sind. Obwohl nur noch der thronende Gottvater zu sehen ist, lässt sich noch gut nachvollziehen, wie einst das Kreuz auf seinen Händen und Beinen auflag.“13 Ursula Beiler ruft mit ihren Kunstwerken christliche Bilder, wie Maria als Ursprung Gottes, in Erinnerung und deutet deren Auslöschung als einen gesellschaftlichen Konflikt, der aufgrund der Dominanz der Katholischen Kirche in Tirol ungelöst ist. Dass der Herrgott ein Mann und Tirol das Land katholischer Patriarchen sein sollen, nimmt sie nicht hin und fordert trotzig, die Göttin in all ihren Manifestationen zu grüßen. Traditionsverbände, allen voran die Tiroler Schützen, wehren sich gegen die angeblich sinnentstellende Grußformel GRÜSS GÖTTIN. So erteilte der Kufsteiner Schützen-Bataillonskommandant Hermann Egger dem Kunstwerk eine energische 9 Dasselbe wird zum Beispiel auch in der griechisch-orthodoxen Lehre über die Rolle Marias betont. Vgl. Gisela-Athanasia Sehröder, Maria, die Gottesgebärerin, in der orthodoxen Kirche, in: Manfred Kießig (Hg.), Maria, die Mutter unseres Herrn eine evangelische Handreichung, Lahr 1991, 90–99. 10 Vgl. Heiner Grote, Maria/Marienfrömmigkeit II: Kirchengeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie 22, Berlin 1992, 119–137, 132. Vgl. zum Marienkult im Mittelalter den Beitrag von Racha Kirakosian in diesem Heft. 11 Helene L. Köppel, Virge Ouvrant, genannt La Trinité, in: Jüdisches Museum Hohenems (Hg.), Die weibliche Seite Gottes, Hohenems 2017, 150. 12 Vgl. Dommuseum Wien, Inv.Nr. L/26. 13 Eine gotische Schutzmantelmadonna, unter: https://dommuseum.at/collection/schreinmadonna, Zugriff: 11. 1. 2022.

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Absage: „In Tirol braucht es eine Kunst mit polarisierenden Sprüchen nicht. Die Tafel ist eine Verfälschung unserer Werte, unserer Identität und eine Verfälschung unseres christlichen Glaubens.“14

2.

Die Tiroler Schützen

Wenn es in Tirol um Kultur geht, haben die Schützen ein wichtiges Wort mitzureden. Mehr als 20.000 Männer sind heute in den sogenannten Tiroler Schützenkompanien organisiert. Dieser Männerbund verklärt seinen Ursprung mit Hinweis auf ein Landlibell Kaiser Maximilians, einer Wehrverfassung Tirols von 1511, die den Männern gestattete, zur Landesverteidigung Waffen zu tragen. Entstanden sind die Tiroler Schützen, wie wir sie heute kennen, aber erst 1909 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des sogenannten Tiroler Freiheitskampfs. Ihr Heldenlied wurde 1948 zur Hymne des Landes erklärt. Im Refrain der zweiten Strophe wird vom „Heilige[n] Land Tirol“ gesprochen.15 Begeistert berichteten im 18. Jahrhundert Jesuitenmissionare von der unvergleichlichen Vielfalt an Kirchen und Heiligendarstellungen in den Tiroler Alpen. Die Rede vom ‚Heiligen Land‘ geht aber weder auf Schwüre bewaffneter Tiroler noch auf jesuitische Beschreibungen zurück. Vielmehr äußerten sich Aufklärer ironisch über das „Heilige Land“ und kritisierten damit bigotte Landesherren und Kirchenvertreter. Erst der Tiroler Freiheitskampf und dessen Folgen ergaben die Umdeutung des Begriffs, so dass unter anderem Bettina von Brentano in einem Brief an Goethe von einer „Heiligen Natur“ dieses Landes schwärmte.16 Bei öffentlichen Kundgebungen der Tiroler Schützen und ihnen nahestehender traditionsverbundener Vereine wird noch immer dem Anführer der Freiheitshelden, Andreas Hofer (1767–1810), gehuldigt. In der NS-Zeit musste der Kommandant der Freiheitskämpfer als leuchtendes Symbol deutscher Kraft und Stärke herhalten.17 Die 14 In Kufstein abmontiert: „Grüss Göttin“ grüßt bald aus Innsbruck, in: Tiroler Tageszeitung, 6. 2. 2016, unter:: https://www.tt.com/artikel/11057951/in-kufstein-abmontiert-gruess-goettin-gruess t-bald-aus-innsbruck, Zugriff: 24. 8. 2020. 15 Tiroler Landeshymne, unter: https://www.tirol.gv.at/tirol-europa/tirol-zahlen-fakten/landeshymne /, Zugriff: 22. 10. 2021. 16 Anton Dörrer, Wie kam Tirol zur Bezeichnung „Heiliges Land“?, in: Tiroler Heimatblätter, Heft 9/ 19 (1949),146–154, unter: https://diglib.uibk.ac.at/download/pdf/1563694?name=Wie%20kam %20Tirol%20zur%20Bezeichnung%20%22heiliges%20Land%22, Zugriff: 20. 10. 2021. 17 „Parteigenossen, Schützen, Männer und Frauen! Erhebt Eure Hände zum Schwur und lasst uns Gelöbnis ablegen, dass wir so wie einst unsere Vorfahren Andreas Hofer, heute unserem Führer Adolf Hitler und seinem von ihm uns eingesetzten Gauleiter treu und gehorsam sein wollen“, hieß es 1939 in den Innsbrucker Nachrichten, zit. nach: NS-Zeit: „Mythen überdeckten die Rolle der Tiroler Schützen“, in: Tiroler Tageszeitung online, 4. 12. 2018, unter: https://www.tt.com/artikel /15084462/ns-zeit-mythen-ueberdeckten-die-rolle-der-tiroler-schuetzen, Zugriff: 20. 10. 2020; zu diesem Thema vgl. auch Michael Forcher, Die Tiroler Schützen in der NS-Zeit 1938–1945, Neumarkt, Südtirol 2018.

Aktuelles & Kommentare

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Präambel der gültigen Landesverfassung von 1989 hält die „Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe“ sowie der „geordneten Familie als Grundzelle von Volk und Staat“ hoch.18 Die Schützen schwören bei ihrer Aufnahme in den Verein explizit auf diese Treue – eine erstaunliche Verschränkung mit der Tiroler Landespolitik. Seit Ende des Ersten Weltkriegs sind die Schützenkompanien zwischen Österreich und Italien aufgeteilt, folgen allerdings denselben Idealen und haben sich 2011, mit dem Wunsch einer Landeseinheit Tirols, im grenzüberschreitenden Verband Tiroler Schützen zusammengefunden. Implizit fühlen sie sich damit der verfassungswidrigen Forderung „Weg von Rom!“ verpflichtet. In dieselbe Kerbe schlugen 2011 die Worte des Landeshauptmanns und der Landesrätin für Kultur: „Als sich mit der Teilung Tirols [in Nord- und Südtirol] nach dem Ersten Weltkrieg die Geschichte der Fremdherrschaft zu wiederholen begann, wurde der Bergisel19 zum Mythos eines leidgeprüften Landes.“20 Die Verzahnung von Landespolitik und den Schützen Tirols besteht bis heute. In den vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) als neonazistisch definierten Ekart-Schriften der rechtsradikalen Österreichischen Landsmannschaft erschien 2015 ein Band über die Tiroler Schützen. Die Verlagsankündigung spricht für sich: „In der langen Friedensphase [kam es zu] einer pazifistischen ‚Entwaffnung‘ des Mannes […].“ Tirols Schützen [sind aber] ein überzeitig anmutender Ausdruck eines archaischen Wehrwillens, der bis in die früheste Formung des Landes zurückreicht. […] Die Schützentradition ist der unmittelbarste Ausdruck der Tiroler Verteidigungskultur. Aufgabe der Schützen heute ist die Verteidigung der Tiroler Identität. Schützen sind – so gesehen – aktive Heimatschützer!“21

3.

GRÜSS GÖTTIN am Bergisel

Bevor die behördliche Genehmigung für das Autobahnschild in Kufstein 2016 auslief, machten sich die Künstlerin und einige Landespolitikerinnen auf die Suche nach einem neuen Standort. Dabei war bereits der Bergisel im Gespräch. Als Reaktion darauf fand sich die Tafel in Kufstein abermals über Nacht umgestaltet. Die Punkte auf dem „O“ und das „IN“ wurden abgedeckt und die Tafel um einen Teil verlängert, auf dem „IN 18 Landesrecht konsolidiert Tirol: Gesamte Rechtsvorschrift für Landesordnung 1989, Tiroler, Fassung vom 11. 1. 2021: Präambel/Promulgationsklausel, unter:https://www.ris.bka.gv.at/Geltende Fassung.wxe?Abfrage=LrT&Gesetzesnummer=10000103, Zugriff: 11. 1. 2022. 19 Hier ist die Schlacht am Bergisel im Jahr 1809 gemeint. 20 Günther Platter u. Beate Palfrader, Geleitworte, in: Isabelle Brandauer u. Philipp J. Pamer, Das Tirol Panorama. Der Bergisel und das Kaiserjägermuseum. Tiroler Landesmuseen, Innsbruck 2011, 4. 21 Verlagsankündigung des Buches „Die Tiroler Schützen gestern und morgen. Zusammengestellt von Freunden Tirols“, (Wien 2015), unter:http://www.kk21.at/media/files/Die-Tiroler-Sch-tzen-219 .pdf, Zugriff: 12. 1. 2022.

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TIROL“ stand. Also GRÜSS GOTT IN TIROL. An der Stelle einer Signatur fand sich „Kunstwerk vollendet“; auf einer zusätzlichen Tafel stand: „Schriftzug jetzt für den Bergisel geeignet.“22 Der Standort Bergisel war damit jedoch nicht vom Tisch. Denn 2020 kaufte das Tiroler Landesmuseum eine Replik des Schildes an und stellte es bis April 2021 auf einem der attraktivsten Plätze der Landeshauptstadt aus: auf dem Flachdach des Panorama Museums am Bergisel. Der Berg im Süden der Landeshauptstadt Innsbruck wird in seiner traditionellen Deutung als ‚Heldenberg Tirols‘ bezeichnet. Er fungiert als revisionistischer Erinnerungsort für die Tiroler Freiheitskämpfe. So befinden sich dort ein riesenhaftes Standbild von Andreas Hofer, die anlässlich der Winterolympiade 1964 errichtete Bergisel-Sprungschanze (2003 neu gestaltet von der irakisch-britischen Architektin Zaha Hadid) und eben das neue Panorama-Museum. Es beherbergt seit 2011 ein naturalistisches Rundgemälde mit lebensgroßen Figuren, auf dem die Schlacht von 1809 auf diesem Berg dargestellt wird. Innsbrucker Bürger hatten das Kunstwerk Ende des 19. Jahrhunderts bei dem Münchner Künstler Michael Zeno Diemer (1867–1939) in Auftrag gegeben. 1896 wurde es in einer eigens dafür errichteten Rotunde in Innsbruck zur Schau gestellt. Mehrmals wanderte das Rundgemälde – unter anderem zur Weltausstellung nach London und in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs zum Schutz vor Bombenangriffen nach Wien ins Kunsthistorische Museum. Es wechselte wiederholt den Eigentümer und gelangte 2008 schließlich in den Besitz des Landes Tirol. Der 2009 berufene Direktor der Tiroler Landesmuseen, Peter Assmann, beschloss, dem Mythos Tirol und seinen männlichen Helden etwas entgegenzusetzen und lud Ursula Beiler ein, eine Replik ihres Kunstwerks auf dem Flachdach des PANORAMA Museums auszustellen. Damit grüßte die Göttin an der Schnittstelle der Nord-Südund Ost-Westautobahnen inmitten Europas. Eine Ausstellung im Inneren des Museums ergänzte Beilers vielfältige Interpretationen Tirols: ein Land, das für sie auch weiblich ist, zumal Monotheismus, Einstimmigkeit, Einklang, Einseitigkeit und eine sich darin begründende hierarchische Deutungshoheit stets zum gleichen Resultat führen: zur Verherrlichung des Patriarchats und einem touristisch vermarkteten, anachronistischen Kitschbild Tirols. Die Künstlerin stellt diesen in Tirol zementierten Dogmen eine komplexe Modernität gegenüber ( jüngst im Rahmen der Ausstellung „Göttinnen“, vom 4. April bis 5. Mai 2022 in der Galerie Taxis-Palais, Kunsthalle Tirol), wobei das Ende der GRÜSS GÖTTIN-Debatte nicht absehbar ist. Das ursprüngliche Schild übersiedelte 2019 an den Kreisverkehr Innsbruck Mitte. Nach wie vor ist es Zielscheibe von Vandal*innen aber auch willkommene Aufforderung für kreative Interventionen rühriger Menschen im Land. Sie zerstören den ursprünglichen Schriftzug nicht mehr durch Übermalung, sondern überkleben die 22 Zahlreiche Artikel und Leserbriefe in der „Tiroler Tageszeitung“ sowie in weiteren regionalen Printmedien widmeten sich im April 2015 ausführlich diesem Thema.

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Abb. 2: Replik von GRÜSS GÖTTIN auf dem Dach des PANORAMA Museums © Wolfgang Lackner, Tiroler Landesmuseen.

Buchstaben bloß. Zu lesen war kürzlich NICHT GEIMPFT, am folgenden Tag GEIMPFT. Die Tafel wird auch für andere politische Äußerungen genützt, zum Beispiel um gegen die Abschiebung von zwei minderjährigen, in Österreich aufgewachsen Mädchen in deren angebliche ‚Heimatländer‘ zu protestieren. Viele Umgestaltungen lassen nun aber die Göttin stehen: KÜSS GÖTTIN oder zum GoetheJahr GRÜSS GÖTHIN, in Anspielung an eine verbale Entgleisung eines Landespolitikers GRÜSS LUDER. Neulich stand auf einem Extra-Schild daneben schlicht RESPEKT.

Beate Hausbichler

Alte Herausforderungen und neue Mittel für feministische Kämpfe

Der Feminismus musste sich schon immer aktiv damit auseinandersetzen, inwieweit er sich selbst weiterentwickelt: ob politische Grundsätze erweitert oder überdacht werden sollten und ob er noch oder wieder ,neu’ ist. Bezogen auf das Hier und Jetzt erscheinen diese Fragen allerdings besonders interessant, denn neben der Reflexion, ob der aktuelle Feminismus inhaltlich vor ganz neuen Herausforderungen steht und ob womöglich manche seiner ursprünglichen Ziele als erreicht gelten können, kommt seit ca. zehn Jahren ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu: Mit welchen neuen Kulturtechniken und Formen der Kommunikation ist der feministische Aktivismus gegenwärtig konfrontiert? Verändern diese womöglich den feministischen Aktivismus selbst? Machen sie etwas mit den Feminismen? Eine offenkundige Entwicklung der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre ist, dass es eine neue und durchaus kräftige Sichtbarkeit feministischer Themen gibt. Diese offenbart sich erstens auf der Ebene des Konsums: Seit Jahren werden Produkte mit feministischen Slogans wie „Smash the Patriarchy“ oder schlicht und einfach T-Shirts, Tassen oder Notizbücher mit der Aufschrift „Feminism“ vertrieben. Zweitens beziehen sich so viele Kulturgüter wie noch nie explizit auf den Feminismus. Streamingdienste wie Netflix und Amazon Prime veröffentlichen und produzieren Formate, die sich entweder explizit mit feministischen Kämpfen befassen (z. B. „Moxie“1, „Diet Land“2) oder Hollywood mit einem auffallend diversen Cast blass aussehen lassen (z. B. „Bridgerton“3 oder „Die Professorin“4). Diskutiert werden muss allerdings, welche feministischen Aspekte in diesem Hype sichtbar werden und ob beziehungsweise inwiefern sie für kapitalistische Interessen passend gemacht werden.5 Ganz unabhängig davon, ob es sich um Femwashing, also die bloße Nutzung eines feministischen Images zu einem kommerziellen Zweck, oder um klugen feministischen Aktivismus handelt, wie wir ihn unter dem Motto #MeToo 1 2 3 4 5

„Moxie. Zeit zurückzuschlagen“, Spielfilm, USA 2021, Netflix. „Dietland“, Serie, USA 2018, Amazon Prime. „Bridgerton“, Serie, USA 2020, Netflix. „Die Professorin“, Serie, USA 2021, Netflix. Vgl. Beate Hausbichler, Der verkaufte Feminismus. Wie aus einer politischen Bewegung ein profitables Label wurde, Wien 2021.

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beobachten können – eine zentrale Erkenntnis lässt sich hinsichtlich der medialen Präsenz von Feminismen festhalten: Sie ist so groß wie wohl noch nie zuvor. Auf der Ebene der inhaltlichen Reflexion wird jedoch schnell klar, dass nichts erledigt ist, zumindest längst nicht für alle. Denn wie weit eine gleichberechtigte Gesellschaft gediehen ist, hängt heute stark vom jeweiligen sozioökonomischen Status der Individuen ab. Ob Frauen etwa die unerledigte Umverteilung der unbezahlten Sorgearbeit mit einer Putzkraft oder mit privater Kinderbetreuung kompensieren können und ob sie das knappe Zeitbudget neben der Lohnarbeit zumindest mit Lieferservices für frisches Essen oder kostspieliger Freizeitgestaltung aufbessern können oder nicht. Für Einzelne – sofern finanziell abgesichert – fühlen sich der gleichstellungspolitische Stillstand und die vielen unerledigten feministischen Ziele nicht so drastisch an. Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen spüren die unerledigte Gleichstellung hingegen in einem viel deutlicheren Ausmaß: Sie sind der Unzulänglichkeit öffentlicher Kinderbetreuung ebenso ausgeliefert wie steigenden Mieten bei gleichzeitig stagnierenden Löhnen. Der noch immer stark nach Geschlecht segregierte Arbeitsmarkt und der fehlende Ausbau der Kinderbetreuung (die Betreuungsquote bei den unter Dreijährigen liegt in Österreich nur bei 27 Prozent)6 sind nur zwei Bereiche, in denen die Frauenpolitik der vergangenen Jahre kaum Fortschritte erzielen konnte. Das Einstiegsgehalt bei den von Frauen am häufigsten gewählten Lehrberufen Bürokauffrau, Frisörin und Einzelhandel liegt unter 2.000 Euro brutto. Jenes von Metall-, Elektro- oder Kfz-Techniker*innen – die am häufigsten von Männern gewählten Lehrberufe – liegt hingegen über 2.130 Euro. So öffnet sich die Gehaltschere schon beim Berufseintritt und setzt sich mit weitaus häufigeren Teilzeitbeschäftigungen (47,3 % der Frauen arbeiteten im Jahresdurchschnitt 2020 Teilzeit) 7 und Berufsunterbrechungen fort. Zehn Jahre nach der Geburt des ersten Kindes liegt das Erwerbseinkommen von Frauen in Österreich im Schnitt um 51 Prozent unter dem Wert des Einkommens ein Jahr vor der Geburt.8 Gleichzeitig bleibt der Anteil jener Väter, die für die Kinderbetreuung ihre Lohnarbeit unterbrechen, konstant auf einem sehr niedrigen Niveau: Nur 4,5 Prozent der genehmigten Anspruchstage des Kinderbetreuungsgeldes entfallen auf Männer.9 So alt diese wenigen Beispiele gleichstellungspolitischer Herausforderungen auch sein mögen, so neu sind die Mittel, mit denen feministische Anliegen seit einigen 6 Vgl. Wie viele Kinder besuchen Kinderbetreuungseinrichtungen, unter: https://www.statistik.at/ web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bildung/kindertagesheime_kinderbetreuung/in dex.html, Zugriff: 19. 10. 2021. 7 Vgl. Teilzeit, Teilzeitquote, unter: https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gese llschaft/arbeitsmarkt/arbeitszeit/teilzeitarbeit_teilzeitquote/index.html, Zugriff: 19. 10. 2021. 8 Vgl. András Szigetvari, Gehaltseinbußen für Mütter in Österreich besonders stark, in: Der Standard, unter: https://www.derstandard.at/story/2000096990974/gehaltseinbussen-fuer-muetter-in-oesterr eich-besonders-stark, Zugriff: 19. 10. 2021. 9 Vgl. Karenzgeld: Väter nur mit 4,5 Prozent der Anspruchstage, unter: https://orf.at/stories/31782 94/, Zugriff: 19. 10. 2021.

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Jahren verhandelt werden können. Nicht nur die bereits erwähnten Produkte und Konsumgüter, sondern auch soziale Medien trugen zu einem noch nie dagewesenen Ausmaß der Sichtbarkeit von feministischen Themen bei. Diese entwickelte sich zeitgleich mit dem Aufstieg digitaler Kommunikationsplattformen. Das soziale Netzwerk Facebook ging 2004 online, der Mikrobloggingdienst Twitter 2006, der auf Bilder und Videos fokussierte Onlinedienst Instagram folgte 2010. Durch diese neuen Kommunikationskanäle wurde es Aktivistinnen möglich, die klassischen und noch immer stark männlich geprägten Redaktionen zu umgehen, welche den Nachrichtenwert von ‚alten‘, nicht mehr besonders aufsehenerregenden frauenpolitischen Themen häufig in Frage stellten und abgesehen vom jährlichen Internationalen Frauentag aussparten. Für eine konstante Skandalisierung der Hierarchien zwischen den Geschlechtern und eine ausführliche Berichterstattung fehlt das, was im Journalismus noch immer oft vordergründig nicht sein darf: die persönliche Betroffenheit, die spezifische Perspektive. Der Verzicht darauf unter dem Banner der Objektivität führte allerdings keineswegs zu einer ‚objektiven‘ Themenwahl. Stattdessen brachte er eine androzentrisch verzerrte Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse und somit eben keine erhellende Sicht auf geschlechtlich grundierte Machtverhältnisse mit sich. Spätestens ab Anfang der 2010er Jahre mussten sich jedoch etablierte klassische Medien ebenfalls daran orientieren, was in sozialen Medien Thema war. Prominente Beispiele sind sexualisierte Übergriffe, vorrangig auf Frauen und im Jobumfeld. 2013 kam im deutschsprachigen Raum kaum jemand um die Kampagne #Aufschrei herum, die primär auf Twitter stattfand. Sie war eine Reaktion auf eine sexuelle Belästigung durch den deutschen FDP-Politiker Rainer Brüderle. Die davon betroffene Journalistin Laura Himmelreich machte diese öffentlich, woraufhin Abertausende auf Twitter ähnliche Erfahrungen aus dem Job und aus vielen anderen Lebensbereichen schilderten. Nun war es also genau diese persönliche Betroffenheit, die ein zwar bekanntes, im Ausmaß aber durchaus unterschätztes gesellschaftliches Problem aufzeigte. #BlackLiveMatters und natürlich #MeToo sind jüngere Beispiele dafür, wie bisher marginalisierten Perspektiven zu ihrem Recht verholfen wurde. Feminismus, Antirassismus oder auch die Rechte und Sichtbarkeit von LBTIQ+ erreichten eine bisher noch nie dagewesene Aufmerksamkeit. Die Frage nach einem ‚neuen Feminismus‘ lässt sich also nicht ohne die Entwicklungen neuer Kommunikationsplattformen diskutieren. In diesem Kontext drängt sich jedoch auch die Frage nach möglichen Nebenwirkungen dieser neuen Sichtbarkeit auf. Genügt Sichtbarkeit um der Sichtbarkeit willen? Entsteht daraus Druck auf politische Entscheidungsträger*innen? Gibt es so etwas wie einen Trickle-down-Effekt, wonach allein die neue Akzeptanz von Feminismus – unabhängig davon, ob es sich um einen liberalen oder linken Feminismus handelt – nach und nach ins kollektive Bewusstsein sickert und sich letztlich in einen stärker artikulierten Anspruch der Menschen nach einer gleichberechtigteren Gesellschaft übersetzt? Oder ist sogar das Gegenteil der Fall, nämlich, dass durch die stärkere Präsenz von Feminismus in der Öffentlichkeit

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Gleichstellungspolitik als überflüssig erachtet wird, weil sich die letzten ‚patriarchalen Brocken‘ scheinbar durch das wachsende Bewusstsein wegschaffen lassen? Müssen Einzelne nur durch ausreichend Wissen ermächtigt werden, um Diskriminierung aus ihrem eigenen Leben zu beseitigen? Derartige Fragen lassen sich nicht abschließend beantworten. Umso wichtiger ist der Blick auf bereits bekannte Folgen des aktuellen Feminismus-Hypes. Die Architekturen der genannten Kommunikationsplattformen sind zu einem wesentlichen Teil auf Aufmerksamkeit, Authentizität und Emotionalität ausgerichtet. Wenn wir davon ausgehen, dass die aktuell beobachtbare Popularisierung des Feminismus eng mit dem Aufstieg von sozialen Medien zusammenhängt, lohnt es sich, diese drei Phänomene in Hinblick auf ihre Rolle für aktuelle feministische Debatten hin zu betrachten. In einem stark wachsenden Angebot und unübersichtlichen Knäuel an Informationen, persönlichen Geschichten und Selbstdarstellungen ist Aufmerksamkeit zu einer zentralen Währung geworden. Wer viel Zeit investiert, viel Wissen oder auch einfach nur Persönliches von sich preisgibt, hat gute Chancen auf diese Aufmerksamkeit, und wer tatsächlich im Stande ist, sie zu lukrieren, gewinnt. José van Dijck, Professorin fü r Medien und digitale Gesellschaft in den Niederlanden, spricht in diesem Zusammenhang von einem „Beliebtheitsprinzip“.10 Diesem zufolge gewinnen im Wettbewerb um Beliebtheit – die letztlich Aufmerksamkeit bedeutet – jene, die möglichst viele Personen dazu bewegen, sich mit ihren Inhalten zu befassen, diese zu teilen und dazu zu posten. Wer bei diesem Wettstreit ganz vorne mit dabei ist, verschafft sozialen Plattformen mehr User*innen, die umso mehr Zeit dort verbringen, je spannender dort versammelte Themen und Personen zu sein scheinen. „Je populärer jemand auf sozialen Medien ist, desto größer ist sein Wert für die Plattform.“11 Fesselnd ist, was emotional, privat und auch, was kontrovers ist. Für feministische Inhalte ist diese Mischung aus Aufmerksamkeit, Privatem und Emotionalem durchaus bedeutsam. Im Kontext der Zweiten Frauenbewegung spielten genau diese Faktoren, allerdings in der analogen Welt, eine zentrale Rolle. So war das Beleuchten scheinbar privater Probleme für die Zweite Frauenbewegung wesentlich für einen ihrer bekanntesten feministischen Leitsätze: „Das Private ist politisch.“ Aus dieser Feststellung resultierte, dass Schwierigkeiten im Leben einer Frau kein persönliches Problem sind, sondern ein strukturelles. „Wir haben uns damals getroffen, um über unser eigenes Leben zu reden. Das war damals in den Siebzigerjahren ganz wichtig neben den Gesprächen über politische Inhalte“, erzählte die Feministin Erna Dittelbach über gelebte feministische Praxis während der Zweiten Frauenbewegung.12 In Bezug auf die 10 José van Dijck, „Social Media and the Culture of Connectivity“, in: OUP-Blog, unter: https://blog.oup.com/2013/02/social-media-culture-connectivity/, Zugriff: 19. 10. 2021. 11 Hausbichler, Der verkaufte Feminismus, wie Anm. 5, 173. 12 Beate Hausbichler, „Im kollektiven Gedächtnis kommt die Frauenbewegung nicht vor“, in: Der Standard, unter: https://www.derstandard.at/story/2000085003661/im-kollektiven-gedaechtniskommt-die-frauenbewegung-nicht-vor, Zugriff: 19. 10. 2021.

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Gegenwart zeigt sich die britische Politik- und Kommunikationswissenschafterin Sarah Banet-Weiser jedoch skeptisch, ob durch die Architektur von sozialen Medien und die Art und Weise, wie in diesen das Private verhandelt wird, ein Politisierungsschub möglich ist. Zu dieser Architektur gehört eben, dass möglichst konfrontative und undifferenzierte Inhalte, die kaum Möglichkeit für Diskussionen mit Mehrwert lassen, besonders viel Aufmerksamkeit lukrieren. Oder anders gesagt: Es geht oft schlicht nur um den maximalen Krawall und um eine besonders intime und auf das Individuum zugeschnittene Nabelschau. Deshalb sieht Banet-Weiser auch die Gefahr, dass die persönlichen Erzählungen über strukturelle Probleme durch die Konzeption der sozialen Medien eine entgegengesetzte Richtung einschlagen, nämlich hin zu: Das „Politische wird privat“.13 Die öffentliche Präsenz und scheinbare Popularität von Feminismus, die interessanterweise mit einer stagnierenden Umsetzung konkret wirksamer gleichstellungspolitischer Maßnahmen einhergeht (etwa hinsichtlich einer raschen Verkleinerung des Gender-Pay-Gap), wirft die Frage auf, wie politisch dieser ‚neue‘ Feminismus tatsächlich noch ist. Die neue Qualität des Feminismus beschreibt die US-amerikanische Publizistin Andi Zeisler mit dem Begriff „Marktplatz Feminismus“14 („Marketplace Feminism“), und ich selbst habe die notwendigen Bedingungen für die Popularisierung von Feminismus anhand der Bereiche Konsum und Kulturgüter untersucht und in einem wirkmächtigen Individualisierungsdiskurs verortet. Die britische Amerikanistin Catherine Rottenberg hat wiederum den Aufstieg dieses populären und öffentlichkeitswirksamen Feminismus allein als Erfolg des neoliberalen Feminismus identifiziert.15 Sie definiert Neoliberalismus nicht als bloßes Wirtschaftssystem, sondern als eine Form der Rationalität, die weite Teile unseres Handelns und Denkens bestimmt und Individuen zu unternehmerisch denkenden und handelnden Subjekten macht. Was bedeutet das für politisch agierende Menschen auf Instagram & Co? Auch sie müssen auf die dort wirksamen Strategien zurückgreifen, um sichtbar zu werden und zu bleiben. Neben Aufmerksamkeit ist dafür Authentizität wesentlich. Die auf Kommunikationsplattformen verbreiteten Erzählungen müssen ‚rund‘ und in sich stimmig sein. Jede Aussage muss zu einem kohärenten digitalen Subjekt passen, das eine stabile Identität vermittelt. Die US-amerikanische Essayistin Jia Tolentino weist auch darauf hin, dass diese durchgängigen Erzählungen des Selbst Authentizität und somit Glaubwürdigkeit suggerieren sollen, und spricht von einem „aufgeblähten Identitätsgefühl“,16 das Ambivalenzen, Nachdenkprozesse und nicht fertig Gedachtes kaum zulasse, geschweige denn zu gemeinsamen Nachdenkprozessen führe. Dass diese Einschätzung tatsächlich zutrifft, zeigt die Art und Weise, wie politische Debatten im 13 Sarah Banet-Weiser, Empowered. Popular Feminism and Popular Misogy, Durham 2018, 17. 14 Andi Zeisler, Wir waren doch mal Feministinnen. Vom Riot Grrrl zum Covergirl – Der Ausverkauf einer politischen Bewegung, Zürich 2017. 15 Vgl. Catherine Rottenberg, The Rise of Neoliberal Feminism, New York 2018. 16 Jia Tolentino, Trick Mirror. Über das inszenierte Ich, Frankfurt a. M. 2021, 26.

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Netz geführt werden, deutlich. Bei feministischen Debatten verhält es sich nicht anders, womit wir bei den damit verbundenen Emotionen angelangt sind. Mit schön abgerundeten Erzählungen und kantigen politischen Positionen gehen Nutzer*innen im Netz in einer neuen Brutalität aufeinander los und verbringen endlos viel Zeit im virtuellen Raum. Wenn wir, wie oben angesprochen, neue Herausforderungen für den Feminismus eruieren möchten, müssen wir unbedingt den ‚Hass im Netz‘ thematisieren, der auch durch die stärkere Sichtbarkeit von Feminismus bedingt ist. BanetWeiser vertritt die durchaus deprimierende These, dass die neue Präsenz von Feminismus leider auch zu einer neuen Sichtbarkeit von Misogynie geführt hat. Sie meint das nicht in dem Sinne, dass feministische Fortschritte die üblichen Gegner*innen auf den Plan treten lassen, was nichts Neues wäre, sondern, dass die Sichtbarkeit von Feminismus in einem engen Verhältnis zur Sichtbarkeit von Frauenhass steht. Aufgrund der Ökonomie der Sichtbarkeit stehen feministischer Aktivismus und Frauenhass vor den gleichen Bedingungen, sie müssen letztlich gleich agieren, um gehört zu werden: mit einer Verknappung der Inhalte, Radikalisierung und auch Polarisierung, also mit den gängigen Kniffen für den Kampf um Aufmerksamkeit im Netz. Deshalb müssten wir populären Feminismus und populäre Frauenfeindlichkeit als eine Beziehung verstehen, sagt Banet-Weiser.17 Sie möchte damit Feminismus und Misogynie nicht als gleichrangige politische Ansprüche beschreiben, macht aber deutlich, dass feministischer Aktivismus und Gleichstellungsbestrebungen heute mit denselben Instrumentarien arbeiten müssen wie all jene Strömungen, die feministische Bewegungen stoppen und die Geschlechterhierarchien dort wieder aufbauen wollen, wo sie schon erfolgreich bekämpft werden konnten, oder dort, wo sie noch bestehen. Trotz der zunehmenden Sichtbarkeit von feministischen Aktivitäten, insbesondere in den Ländern des globalen Nordens, konnten in der jüngsten Vergangenheit sowohl in den USA als auch in Europa antifeministische Kräfte große Erfolge erzielen. Deutlich wird dies etwa an der neuen restriktiven Gesetzeslage in Texas, die Schwangerschaftsabbrüche schon ab der sechsten Schwangerschaftswoche,18 selbst im Falle einer Vergewaltigung oder Inzest, kriminalisiert und noch dazu die Bevölkerung mit finanziellen Belohnungen aufstachelt, Frauen anzuzeigen. Ein weiteres Beispiel ist die Unterbindung der Gender Studies in Ungarn,19 deren Akkreditierung die ungarische Regierung 2018 per Dekret zurückgezogen hat. Auch das Gesetz zur Einschränkung 17 Vgl. Sara Banet-Weiser, Banet-Weiser on Empowered. Popular Feminism and Popular Misogyny, in: LSE Review of Books 2019, unter: https://blogs.lse.ac.uk/lsereviewofbooks/2019/03/08/autho r-interview-qa-with-sarah-banet-weiser-on-empowered-popular-feminism-and-popular-misogyny/, Zugriff: 19. 10. 2021. 18 Vgl. De facto vollständiges Abtreibungsverbot in Texas in Kraft, in: Der Standard, unter: https:// www.derstandard.at/story/2000129320270/de-facto-vollstaendiges-abtreibungsverbot-tritt-in-tex as-in-kraft, Zugriff: 19. 10. 2021. 19 Vgl. Ungarn schafft das Fach Gender Studies ab, in: Der Spiegel, unter: https://www.spiegel.de/le benundlernen/uni/ungarn-schafft-das-fach-gender-studies-ab-a-1233500.html, Zugriff: 19. 10. 2021.

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von Informationen über Homo- und Transsexualität, das 2021, ebenfalls in Ungarn, verabschiedet wurde, weist in diese Richtung.20 Und nicht zu vergessen Polen, wo 2020 die Regelung, Schwangerschaftsabbrüche nach einer Vergewaltigung und aufgrund einer schweren Schädigung des Fötus zu erlauben, aufgehoben wurde. Die Kräfte, die sich gegen LGBTIQ+, Frauenrechte und Feminismus stemmen, sind derzeit enorm stark. Somit sind auch die Herausforderungen für feministische Politiken groß. Dabei sind die Themen überwiegend dieselben geblieben. Die Tatsache allerdings, dass sowohl feministische Akteur*innen als auch ihre politischen Gegner*innen in einem neuen Ausmaß auf dieselben Logiken zurückgeworfen sind, die ihnen Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit verschaffen, ist neu. Unser Augenmerk muss deshalb künftig verstärkt darauf ausgerichtet sein, welcher Feminismus und welche Themen innerhalb dieser Logik eine Chance haben. Denn Themen, die womöglich auf den ersten Blick nicht unter dem neuerdings medial so beliebten Logo ‚feministisch‘ funktionieren, die komplex und weniger emotionalisierend sind, können so schnell untergehen. Es sind Themen, bei denen es weniger um Repräsentation geht, sondern etwa um Verteilungsgerechtigkeit in all ihren Facetten. Als Fazit lässt sich festhalten, dass relativ neue, einer neoliberalen Marktlogik unterworfene Mittel nicht zu große Macht über feministische Zwecke gewinnen sollten. Denn sonst ist es letztlich eine Marktlogik, die darüber entscheidet, welche feministischen Inhalte es auf den Radar der breiten Masse schaffen. Und das sind letztlich oft auch jene, die diese Marktlogik nicht weiter stören.

20 Vgl. Ungarns Parlament verabschiedete umstrittenes Anti-LGBTIQ-Gesetz, in: Der Standard, unter: https://www.derstandard.at/story/2000127426707/ungarns-parlament-verabschiedete-ums trittenes-lgbt-gesetz, Zugriff: 19. 10. 2021.

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Claudia Opitz-Belakhal, Streit um die Frauen und andere Studien zur frühneuzeitlichen ‚Querelle des femmes‘, Darmstadt: Ulrike Helmer Verlag 2020, 312 S., ca. EUR 22,–, ISBN 978-3-89741-440-2. Der französische Begriff der Querelle des femmes, oder auch Querelle des sexes, beschreibt die Polemik um die Geschlechterverhältnisse im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Aufgrund der hohen Rhetorizität, der Topik immer wiederkehrender Streitkerne, die allenfalls nach historischem und geografischem Kontext eine andere Akzentuierung erfahren, wurde die Querelle des femmes aus literaturhistorischer Sicht bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vornehmlich als rhetorische Stilübung beziehungsweise Spiel gelesen, der jedwedes politisches Engagement abgesprochen wurde. Erst in den 1990er Jahren und insbesondere zu Beginn des 21. Jahrhunderts kam es zu einer Revalorisierung dieser für die europäische Kulturgeschichte so fundamentalen Debatte im Hinblick auf den protofeministischen Gehalt der Querelle. In diesen Kontext sind die Arbeiten von Friederike Hassauer,1 von Gisela Bock und Margarete Zimmermann2 sowie die Forschungsinitiative der SIEFAR (Société Internationale pour l’Études des Femmes de l’Ancien Régime) und eben auch die Arbeiten der Historikerin Claudia Opitz-Belakhal hervorzuheben, die sich in diesen Trend einschreiben. Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eine Sammlung von 13 Artikeln und Vorträgen der Autorin, die zwischen 1995 und 2018 verfasst wurden und hier nun mit einer den Forschungszusammenhang umreißenden Einleitung systematisch geordnet dem Lesepublikum zugänglich gemacht werden. Ebendiese Einleitung fokussiert auch die nach wie vor nicht abschließend beantwortete Frage nach der Kontinuität der Querelle des femmes als möglichem Part der Geschichte des europäischen Feminismus und damit das Problem ihrer politischen Wirkmacht. Die Lektüre der Aufsätze von Claudia Opitz-Belakhal entscheidet diese Frage positiv. In einem ersten Teil des Buches geht es so um die großen Fragen und Linien der Querelle des femmes, wobei neben Agrippa von Nettesheim die französischen Texte im Vordergrund stehen. Man mag bedauern, dass die Debatten nicht in einem größeren europäischen Kontext behandelt werden,3 aber der Band erhebt tatsächlich nicht den Anspruch auf Exhaustivität. Der zweite Teil der Beiträge ist der Verfasstheit der Querelle-Texte als Rede- und Gegenrede gewidmet. Die nachfolgenden Hauptteile behandeln die Frühaufklärung (Teil III) sowie die Revolutionszeit (Teil IV). 1 „Revisiter la Querelle des femmes“, unter: http://siefar.org/revisiter-la-querelle-des-femmes/, Zugriff: 17. 3.2021; Friederike Hassauer (Hg.), Heißer Streit und kalte Ordnung. Epochen der ‚Querelle des femmes‘ zwischen Mittelalter und Gegenwart, Göttingen 2008. 2 Gisela Bock u. Margarete Zimmermann (Hg.), Die europäische Querelle des femmes: Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1997. 3 Zu diesem vgl. Armel Dubois-Nayt, Marie Elisabeth Henneau u. Rotraud von Kulessa (Hg.), Revisiter la Querelle des femmes: Les discours sur l’égalité/inégalité des femmes et des hommes, à l’échelle européenne de 1400 à 1800, Saint-Etienne 2015.

REZENSIONEN

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Im ersten Beitrag („Streit um die Frauen? Die frühneuzeitliche Querelle des femmes aus sozial- und geschlechtergeschichtlicher Sicht“), der bereits 1995 erschien, verhandelt Claudia Opitz-Belakhal ganz grundsätzliche systemische Fragen, die nicht zuletzt an die fächerbedingten unterschiedlichen Lesarten der Querelle-Texte gekoppelt sind. So fordert sie zu Recht auch für die Literaturwissenschaft eine stärkere soziohistorische Kontextualisierung bei der Lektüre der Texte ein. Tatsächlich kommt eine Querelle selten allein daher; auch der Geschlechterstreit erscheint häufig als ‚Unterquerelle‘ größerer politischer oder gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, vor allem im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts, wobei nicht zuletzt die Religionsstreitigkeiten der Frühen Neuzeit besondere Berücksichtigung verdienen, so Opitz-Belakhal. Der zweite Aufsatz stellt die wiederum berechtigte Frage nach dem Stellenwert der Stimme der Frauen in der Querelle: Erweisen sich diese als Verteidigerinnen des eigenen Geschlechts, sind ihre Texte kämpferischer? Hier kommt Opitz-Belakhal zu durchaus nuancierten Ergebnissen, wenn sie unter anderen die Texte von Christine de Pizan, Marie de Gournay, Gabrielle Suchon, bis hin zu Olympe de Gouges untersucht. Zu unterscheiden bleibt dabei ganz klar zwischen tatsächlicher politischer Macht und der ‚Macht der Stimme‘, das heißt erst einmal der Autorisierung der weiblichen Rede. Im dritten Aufsatz („Jenseits des Sündenfalls. Ursachen der Geschlechter-Ungleichheit in der frühneuzeitlichen Querelle des femmes“) geht es sodann um die religiösen beziehungsweise heilsgeschichtlichen Argumentationsmuster, die zwecks Legitimation der Geschlechterordnung von AutorInnen wie Christine de Pizan, Agrippa von Nettesheim, Marie de Gournay und François Poulain de la Barre bedient werden. Im zweiten Teil des Bandes sind Texte versammelt, die die Verfasstheit der QuerelleTexte als Rede und Gegenrede analysieren, angefangen mit den frühneuzeitlichen Gynäkokratie-Debatten, die vom Frauenverteidiger Nettesheim und dem Frauenverächter Jean Bodin geführt werden. Auch im nächsten Artikel („Gleichheit der Geschlechter oder Anarchie? Zum Gleichheitsdiskurs in der Querelle des femmes und in der politischen Theorie um 1600“) steht Bodin zusammen mit Marie de Gournay im Mittelpunkt. Opitz-Belakhal verweist hier auf die Notwendigkeit der politischen Kontextualisierung dieser Texte, die nicht zuletzt auf den Streit um das Salische Gesetz verweisen, das in Frankreich die Frauen von der Thronfolge ausschloss, ein Thema, das im sechsten Kapitel vertieft wird („Anwältin der Gleichheit: Marie de Gournay und die französische Rechtskultur um 1600“). Das siebte und achte Kapitel des der Frühaufklärung gewidmeten dritten Teils befasst sich mit der Rezeption Poulain de la Barres als galantem Philosophen sowie der weniger bekannten Schrift, dem „Traité de la jalousie“ (1674) von Antoine de Courtin, die die Frage nach einer möglichen geschlechtlichen Codierung der Leidenschaften im Frankreich des 17. Jahrhunderts stellt und sich so in die Emotionsgeschichte einschreibt. Die Frage nach der Eifersucht in der Ehe, nach Eheformen und politischen Herrschaftsmodellen beziehungsweise nach dem Zusammenhang von Geschlechterordnung, politischer Ordnung und Kulturkreisen wird im zehnten Kapitel anhand der

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Texte Montesquieus, dem Briefroman „Lettres Persanes“ (1721) und der Abhandlung zur politischen Theorie „De l’Esprit des Lois“ (1748) untersucht. Im vierten und letzten Teil des Buches, welcher der Frage nach einer möglichen Revolution der Geschlechterordnung gewidmet ist, steht zuerst Olympe de Gouges mit ihrem Entwurf zu einem Gesellschaftsvertrag zwischen Mann und Frau im Mittelpunkt, vor dem Hintergrund der Trennung von öffentlichem und privatem Recht, wobei Opitz-Belakhal gezielt die Widersprüchlichkeiten des Ehevertragsmodells der Olympe de Gouges herausarbeitet. Die Frage der Ambivalenz bestimmt auch das zwölfte Kapitel („Die Verbrechen der französischen Königinnen: Geschlecht, Autorschaft und Antifeminismus in der revolutionären Querelle des femmes“), das die von Louise de Kéralio verfasste ‚Gegengeschichte‘ der französischen Monarchie als antimonarchistisches und antifeministisches Pamphlet in den Blick nimmt. Im letzten Kapitel („Revolution der Geschlechterordnung? Geschlechterdebatten und Wandel der Geschlechterbeziehungen um 1800“) wird noch einmal Montesquieu mit seinem „De l’Esprit des lois“ und seiner Kritik am Verfall der Sitten und dem Einfluss der Frauen in der Monarchie diskutiert, von welchem ausgehend Opitz-Belakhal den Ausschluss der Frauen von der Revolution sowie auch ihre vermeintliche Machtausübung im Ancien Régime hinterfragt und für eine stärkere Nuancierung im Hinblick auf diese historiografischen Gemeinplätze plädiert. Der abschließende Fußnotenapparat sowie eine umfassende Bibliografie vervollständigen diesen für die Querelle-Forschung wertvollen Band, der auch die neuere französischsprachige Forschung berücksichtigt und somit französische Querelle-Texte und die Forschung dazu einem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht. Da der Band Texte der letzten zwanzig Jahre zusammenfasst, sind nicht alle gleichermaßen aktuell, geben aber in Kapitel III und IV einen wichtigen Überblick, vor allem über die Querelle-Debatten der französischen Aufklärung, die von der deutschsprachigen Forschung bisher weniger beachtet wurden. Rotraud von Kulessa, Augsburg

Anne Conrad (Hg.), Spannungen. Religiöse Praxis und Theologie in geschlechtergeschichtlicher Perspektive (= SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung 23), St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2019, 306 S., ca. EUR 34,–, ISBN 978-386110-747-7. Als vor dreißig Jahren Anne Conrads Dissertation erschien,1 war die Bedeutung von Geschlecht als Analysekriterium historischer Forschung noch keinesfalls selbstver1 Anne Conrad, Zwischen Kloster und Welt. Ursulinen und Jesuitinnen in der katholischen Reformbewegung des 16./17. Jahrhunderts, Mainz 1991.

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ständlich und auch das Wissen über spezifisch weibliche Spiritualität und Handlungsräume von (Ordens‐)Frauen im Katholizismus der Frühen Neuzeit war noch recht beschränkt. Es ist nicht zuletzt das Verdienst der Herausgeberin des hier zu besprechenden Bandes, dass sich die Forschungslage mittlerweile gewandelt hat. Und doch, so konstatiert Conrad in ihrer Einleitung, bestehen nach wie vor Forschungslücken „im Hinblick auf die Veränderungen, die der frühneuzeitliche Katholizismus durchlaufen hat“ (S. 11). Anliegen des Bandes ist es daher, diesem Wandel unter dem Titel „Spannungen“ nachzuspüren. Auf einen engen methodischen Zuschnitt wurde zugunsten einer Perspektive auf die longue durée verzichtet. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf der Frühen Neuzeit, mit je einem Beitrag zum Spätmittelalter und zweien zum 20. Jahrhundert. Die zwölf Aufsätze, die aus zwei 2017 und 2018 veranstalteten Workshops des AKHFG e.V. (Arbeitskreis für Historische Frauen- und Geschlechterforschung e.V.) hervorgingen, zeigen, wie konfessionelle Grenzen zwar formell fixiert waren, jedoch durch persönliche Frömmigkeitspraktiken sowie durch einen individuellen Bezug auf Christus und die Orientierung an biblischen Texten immer wieder durchbrochen wurden. Deutlich wird auch, wie durchlässig die Grenzen zur Heterodoxie waren, dass etablierte Hierarchien mitunter ins Wanken geraten und neue Handlungsräume erobert werden konnten. Im ersten Teil des Buches werden Spannungen zwischen Frömmigkeit und Heterodoxie ausgelotet. Die ersten beiden Beiträge thematisieren die Adaption männlicher Rollenbilder durch Frauen. Michaela Bill-Mrziglod untersucht die Hoheliedauslegung Teresa von Ávilas, die durchaus als Exegese bezeichnet werden kann, wenn ihr die frühneuzeitliche Begriffsbedeutung im Sinne einer ‚Erklärung‘ zugrunde gelegt wird. Die Grundlagen ihrer Exegese waren eine dezidiert schriftbezogene Christusnachfolge und eine kontemplativ-weltoffene Mystik mit Ausrichtung auf ein prophetisches Gebetsapostolat von Nonnen. Auf diese Weise gelang es Teresa von Ávila Kritik an der vorwiegend wissenschaftlichen Beschäftigung mit Glaubensgeheimnissen durch die zeitgenössische (männliche) Theologie zu üben. Monika Frohnapfel-Leis ergründet am Fall der valenzianischen Terziarin Francisca Roselló, wie kirchliche und gesellschaftliche Hierarchien durch gezieltes Agieren einer Frau in Frage gestellt wurden, auch wenn diese Aneignung einer theologischen Führungsrolle durch eine Laiin in diesem Fall vor der Inquisition endete (1624–1626). Dem Thema weiblicher Netzwerkbildung in einem als weiblich codierten religiösen Rahmen, widmen sich die Beiträge von Ines Peper und Irene Rabl. Peper prüft die Memoiren der calvinistisch erzogenen und am Wiener Hof zum katholischen Glauben konvertierten Gräfin Charlotte Luise von Schwerin (1648–1732) im Hinblick auf konfessionsspezifische Prägungen beziehungsweise Aspekte einer überkonfessionellen Frömmigkeit und befragt diese nach religiös definierten Handlungsspielräumen adliger Frauen innerhalb des Hofes. Deutlich wird die innere Zerrissenheit der Gräfin angesichts der religiösen Pluralität ‚barockkatholischer‘ Praktiken, Ordenstraditionen, Heiligenkulte und Frömmig-

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keitsstile, die den Rahmen ihres Netzwerkes vorgaben. Rabl betrachtet die jährlich versandten Rundschreiben der 1693 gegründeten Josephsbruderschaft im Zisterzienserkloster Lilienfeld in Niederösterreich auf Geschlechtsspezifika der Frömmigkeit weiblicher Mitglieder. Strategien von Frauen, ein selbstbestimmtes religiöses Leben entlang der Grenze zur Normverletzung zu führen, nimmt Schwester Anna Elisabeth Rifeser in ihrem Beitrag zur Frömmigkeitskultur der Tiroler Drittordenskongregationen in den Blick. Diesen gelang es, ihr innovatives Ordensmodell, das weder zu den traditionellen Orden noch zu einem welt-geistlichen Leben gezählt werden konnte, dauerhaft zu etablieren, indem sie ihre Lebensweise zuerst intern und dann sukzessive nach außen hin vermittelten. Symbole, gezielte Verflechtung in Form einer MatronageKlientel-Beziehung sowie eigene spirituelle Praktiken boten den Schwestern die Möglichkeit, ihre präferierte Lebensform nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten. Christine Schneider zeigt, wie die Ordensfrauen des Wiener Ursulinenklosters ihre vielfältigen Einfluss- und Kontaktmöglichkeiten nutzten. Frauenklöster waren religiöse Zentren von Laien und diese traten als (Gottesdienst‐)Besucherinnen, Kostgängerinnen, etc. mit den Nonnen in Kontakt. Durch eine gute Ordensschule, musikalisch anspruchsvolle Gottesdienstgestaltung oder eine prächtige Kirche konnten einzelne Klöster unterschiedliche Bevölkerungsschichten erreichen und nennenswerten sozialen, geistlichen und politischen Einfluss ausüben. In der zweiten Hälfte des Bandes stehen die Spannungen zwischen Klerikern und Laien, zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre im Vordergrund, die je nach Konstellation als fruchtbringend oder kompetitiv beschrieben werden können. Daniela Blum analysiert, wie Jakob von Vitry (1160/70–1240) in seinen hagiografischen Werken die von ihm porträtierten Brabanterinnen als Alternative zu den von der Kirche gefürchteten, asketisch-radikalen Wanderpredigern der Katharer zeichnet: Hätten diese Frauen doch ähnlich radikal, nur eben innerhalb der kirchlichen Orthodoxie agiert. In ihrem zweiten Beitrag behandelt Monika Frohnapfel-Leis die Praktik des „Angelisierens“, also der Wahrsagerei mit Hilfe von Engeln. Bei dieser in Venedig des 16. Jahrhunderts verbreiteten, offiziell verbotenen Technik wurde Reinheit als „richtige Ordnung der Dinge“ verstanden.2 So musste für die erfolgreiche Durchführung des Rituals eine bestimmte Form ritueller, kultischer und körperlicher Reinheit gegeben sein. Es ging also weniger um Heiligkeit, die christliche Suche nach Gott oder ausschließlich körperliche Makellosigkeit. Geschlecht spielte nur eine sekundäre Rolle, da sowohl ein männliches Kind als auch eine schwangere Frau (beziehungsweise ihr ungeborenes Kind) als Medium zum Einsatz kommen konnten. Michaela Bill-Mrziglod fragt in ihrem zweiten Beitrag nach dem Verhältnis von LeserInnen und Verfassern von Erbauungsliteratur im 17. Jahrhundert. Nach einer Darlegung der Ausdifferenzierung, die der Begriff des Laien seit dem 14. Jahrhundert erfahren hat, betont sie die aktive 2 Zit. nach: Peter Burschel, Die Erfindung der Reinheit. Eine andere Geschichte der frühen Neuzeit, Göttingen 2014, S. 16–18.

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Rolle verschiedener Diskurs- und Lesegemeinschaften bei der Gestaltung erbaulicher Texte. Beispiele gleichgeschlechtlicher Kooperation, frei von Konkurrenz, beleuchtet Lina Peiffer anhand des Briefwechsels (1731–1738) zwischen der als lebende Heilige geltenden Franziskanerin Crescentia Höß und der bayerischen Kurfürstin Maria Amalia. Peiffer, die das Verhältnis beider Frauen als von affirmativen und subversiven Hierarchien geprägt sieht, erläutert, wie die zwei Frauen aufgrund ihrer Freundschaft in ihrer eigenen, aber auch der jeweils anderen Sphäre (Glaube beziehungsweise Politik) Einfluss ausüben konnten. Katharina Piro hinterfragt das generative Verhalten von Pfarrehepaaren während des ‚Fertilitätswandels‘ (1880–1930), als der Großteil der Bevölkerung anstelle der bis zu diesem Zeitpunkt üblichen großen Kinderanzahl nur noch wenige Kinder bekam. Hinsichtlich dieses Wandels gelten Pfarrehepaare als ‚late adopters‘. Piro greift gängige Forschungsthesen zu den Gründen der andauernd hohen Fertilität dieser Paare auf und widerlegt sie in einer mikrohistorischen Untersuchung von Ego-Dokumenten. Dieser Perspektivwechsel stellt den Wert ihres Beitrags dar. Gabriel Rolfes ergründet das Engagement des katholischen Journalisten und Publizisten Walter Dirks (1901–1991) mit Hilfe der populären Figur des ‚zornigen, alten Mannes‘. Anhand eines von Dirks gegebenen Rundfunkinterviews wird sein Glaubensverständnis als Kind der Kriegsgeneration (‚alt‘), seine Kritik an der Kirche (‚zornig‘) und sein Wunsch nach einer Aufwertung der Leistung von Frauen in der Kirche (‚männlich‘) herausgearbeitet. Rolfes skizziert Dirks als einen der Hauptvertreter des Linkskatholizismus, der sich als Vermittler zwischen den institutionalisierten und den freien Foren der zahlreichen innerhalb der Bundesrepublik gelebten Katholizismen verstand. Aufgrund der großen zeitlichen Spanne, die die Beiträge abdecken, wäre eine stärkere methodische Anbindung und die Herausarbeitung von Entwicklungslinien hilfreich gewesen. Auch muss hinsichtlich der Frage nach der agency von Frauen immer auch nach dem Erfolg und der Dauerhaftigkeit von Handlungen gefragt werden. Denn nicht jede handelnde Frau, die in den Quellen auftaucht, kann als (bewusste) Verkörperung männlicher Rollenbilder und Eroberin religiöser Handlungsräume gewertet werden – ein Einwand, der in Hinblick auf mehrere Beiträge relevant erscheint. Dies soll das Verdienst des Bandes nicht schmälern, der die mittlerweile reiche Forschungslandschaft zu religiösen Umbrüchen, konfessionsspezifischen Besonderheiten und transkonfessionellen Überschneidungen sowie zur Rolle von Frauen und Handlungsmöglichkeiten mit wichtigen Einzelstudien und Nuancierungen bereichert. Elisabeth Fischer, Hamburg/Stuttgart

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Julia Heinemann, Verwandtsein und Herrschen. Die Königinmutter Catherine de Médicis und ihre Kinder in Briefen 1560–1589 (= Pariser Historische Studien, Bd. 118), Heidelberg: Heidelberg University Publishing 2020, 520 S., EUR 49,90, ISBN 978-3968220239. Catherine de Médicis (1519–1589) ist als französische Regentin und Königinmutter schon lange Gegenstand der Historiografie und war als solche sehr unterschiedlichen, jedoch meist negativen Deutungen unterworfen – von der ‚bösen Königin(‐mutter)‘, die 1572 das Massaker an den französischen Hugenotten angezettelt haben soll, bis hin zur manipulativen und machtbesessenen Frau, die ihren Söhnen die Königsherrschaft streitig machte oder diese sogar – zumal als ‚Italienerin‘ und damit als ‚Fremde‘ – gegen die Regeln der französischen Monarchie usurpierte. In der jüngeren, feministisch inspirierten Geschichtsschreibung dient sie hingegen als weibliche Vorbildfigur und als interessantes Gegenbeispiel zu den gängigen Vorstellungen zum Verhältnis von Herrschaft und Geschlecht in der Vergangenheit. Wie Julia Heinemann in der Einleitung zu ihrem Buch betont, ist Catherine de Médicis jedoch bislang als verwandtschaftliche Figur in der historischen Forschung kaum in Erscheinung getreten. Einige neuere Forschungen zeigen immerhin das Potenzial der Integration verwandtschaftlicher Perspektiven, die Position der Königin/ Königinmutter/Regentin als integrales, legitimes Element der französischen Königsherrschaft zu charakterisieren, während die stärker politikgeschichtlich ausgerichtete Forschung bisher angesichts ihrer Regentschaft von einem „coup d’État“ der Königinmutter sprach – was eher auf einen ‚irregulären‘ Akt der Herrschaftsübernahme durch Catherine de Médicis verweist als systematische Zusammenhänge aufzuzeigen. Tatsächlich war es in der Frühen Neuzeit ganz allgemein auch weniger ‚die Frau‘ als ‚die Mutter‘, die in den Mittelpunkt der Regentschaftsdiskurse gerückt wurde, wie etwa Fanny Cosandey und Elizabeth McCartney gezeigt haben. Solche Erkenntnisse bieten eine gute Ausgangslage für eine sowohl verwandtschaftsgeschichtlich wie geschlechtergeschichtlich ausgerichtete Forschung, die Mutterschaft auf der Ebene von rechtlich-politischen Diskursen über Regentschaft analysiert. In welchem Verhältnis derartige Diskurse jedoch zur Herrschaftspraxis standen, wie in diesem Kontext Königinmutter-Sein konkret funktionierte und als verwandtschaftliche Beziehung und Praxis zu verstehen ist, bleibt bislang jedoch ein Desiderat der historischen Forschung. Genau hier setzt Julia Heinemann mit ihrer Arbeit an. In insgesamt fünf Kapiteln und einer Schlussbetrachtung entwickelt sie ihre Kernidee von der Regentschaft der Catherine de Médicis als einer sozialen und politischen Praxis, die Königinmutter als eine relationale verwandtschaftliche Figur. (S. 40f.) Was Verwandtsein für die Akteurinnen und Akteure konkret bedeutete und wie die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Mutter und Kindern in der Kommunikation hergestellt und ausgehandelt wurden, das ist die zentrale Frage des Buches und wird daher nicht bereits einleitend konzeptionell festgelegt, sondern soll erst im

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Weiteren herausgearbeitet und entwickelt werden. Nach einem ersten Kapitel über die französische Monarchie im 16. Jahrhundert, das den historischen Kontext der Regentschaft knapp umreißt, folgt daher ein zweites Kapitel, das sich ausführlicher mit dem Quellenmaterial befasst, welches die Grundlage der Arbeit bildet, nämlich jene große Zahl an Briefen (es sind über 1500 überliefert!), die sich Catherine de Médicis und ihre Nachkommen in den Jahren zwischen 1560 und 1589 – zwischen dem Beginn der Regentschaft und dem Tod der Königinmutter – schrieben. Die Auswahl der Schreiben erfolgte aufgrund der Anreden: Es wurden alle Personen berücksichtigt, die von Catherine de Médicis als fils oder fille (beziehungsweise petit-fils/petite-fille) bezeichnet wurden. Dies betrifft interessanterweise sowohl leibliche als auch Schwiegerkinder sowie teilweise sogar Enkelinnen und Enkel und neue Ehepartnerinnen von Schwiegersöhnen. Auf diese Weise konstituiert (oder konstruiert) Julia Heinemann eine Gruppe aus der Perspektive der Königinmutter, die letztere als „Kinder oder Kinderschar“ bezeichnete. Den Begriff „Königsfamilie“ verwendet Heinemann, wie auch Cathérine de Medicis selbst, in diesem Sinne „möglichst offen – es ist immer wieder neu die Frage, wer oder was sie war…“. (S. 68) Tatsächlich bildet so die Briefauswahl selbst schon eine wesentliche Vorentscheidung darüber, was (und wer) jeweils als ‚verwandt‘ betrachtet wird – eine Vorentscheidung, die Heinemann im dritten Kapitel dann auch konzeptionell weiter vertieft. Unter dem Titel „Leib und Liebe“ werden die verschiedenen Formen, Verwandtschaft zu konstituieren und (auch politisch) zu nutzen, vorgestellt. Im vierten Kapitel folgt schließlich hierauf aufbauend die Selbstdarstellung und -konzeptionalisierung der Königin und Mutter Catherine de Médicis, deren Aktivitäten und Funktionen vom „Nähren“ über das „Ratgeben“ bis hin zum Herrschafts- und Machttransfer reichten. Im fünften und letzten Kapitel liegt schließlich der Akzent auf der weiteren Bedeutung dieser verwandtschaftlichen Konzepte und Konstruktionen für „Ehre, Haus und Staat“ und damit im weiteren Sinn für die Herrschaftslegitimation und -ausübung in der französischen Monarchie des 16. Jahrhunderts. In der Schlussbetrachtung kehrt Heinemann dann nochmals zurück zu den Eingangsfragen und -überlegungen, resümiert die gewonnenen Erkenntnisse und rundet so das Buch in überzeugender Weise ab. Julia Heinemann konzentriert ihre Forschung vor allem auf die Selbstdarstellung und auf die gleichsam „diplomatischen Handlungen“, wie sie in den Briefen der Königinmutter (nicht der Regentin!) an ihre Kinder, Schwieger- und Enkelkinder hervortreten. Und hier zeigt sie – was in der Forschung bislang sicherlich noch nicht genügend Beachtung gefunden hat –, dass die Position des Mutter-Seins, vielleicht sogar mehr noch als die Position der Ehefrau des Fürsten (beziehungsweise im französischen Kontext die der gekrönten Königin), eine hervorragende Ressource für weibliche Herrschaftsausübung darstellte – allerdings im Kontext einer generell durch Verwandtschaftsbeziehungen charakterisierten politischen Herrschaft und in diese eingebunden.

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Zur Herausforderung wird angesichts einer solchen Interpretation dann aber die Frage, was genau die Position der Königinmutter – etwa im Unterschied zu derjenigen der Königin-Ehefrau – auszeichnete und was die jeweilige geschlechtliche Codierung dabei für eine Rolle spielte. Gleichzeitig werden aber auch die geschlechtsspezifischen Konnotationen des Mutter-Seins zum Problem, wenn etwa in frühneuzeitlichen Fürstenspiegeln Herrschaft als männlich codiert wurde, und zwar vor allem in Gestalt von (Haus‐)Vätern und Ehemännern. Bereits in der Einleitung verweist Julia Heinemann explizit darauf, dass nur eine konsequente Historisierung – und zwar nicht nur des Verwandtschaftsbegriffs und seiner Bedeutung im Rahmen politischer Herrschaft, sondern ebenso der Begriffe der Mutter beziehungsweise der Mutterschaft – für die Analyse taugliche Ergebnisse zeitigen könne: „Das Erkennen von historischer Alterität beginnt im vorliegenden Fall schon bei der Feststellung, dass das, was wir heute Biologie nennen, für Catherine de Médicis und ihre Nachkommen keine unverhandelbare Tatsache darstellte; physiologische Konzeptionen von Verwandtschaft und Abstammung erscheinen in der Praxis situativ und wandelbar.“ (S. 43)

Auf welche Weise Mutterschaft und Herrschaft verflochten sind, blieb bislang in der Geschichtswissenschaft ein wenig diskutierter Aspekt – weder in der Forschung zu Herrschaft und Geschlecht (beziehungsweise zu weiblicher Herrschaft in der Frühen Neuzeit und darüber hinaus) wird diese spezifische Konfiguration bislang ausführlicher diskutiert, noch wird in Studien zu Mutterschaft, Mütterlichkeit oder Mutterliebe der Herrschaftsaspekt intensiver berücksichtigt, vielleicht abgesehen von Forschungen zu Müttern in der Oberschicht der italienischen Städte während der Renaissance, wie Julia Heinemann zurecht festhält: „Während Vaterschaft in der neueren historischen Forschung vor allem mit Transmission assoziiert wird – von Namen, Ansprüchen, Wissen etc. –, wird Mutterschaft immer noch oft physiologisch und fürsorglich verstanden. Der Zusammenhang Mütter – Frauen – Biologie scheint schwer zu durchbrechen.“ (S. 48) Nun macht es aber auch nicht viel Sinn, Mutterschaft völlig analog zu Vaterschaft zu konzipieren – das ist schon traditionell in entsprechenden Diskursen seit der Antike keine aufzufindende Parallelität, im Gegenteil; beim Vater wird häufig das Prinzip der ‚Urheberschaft‘ betont (übrigens nicht selten analog zum Schöpfergott, vor allem in der christlichen Adaptation aristotelischer Konzepte), mit Mutterschaft wird eher Passivität assoziiert (der Mutterleib als ‚Ackerboden‘, ‚Gefäß‘ etc.) und weniger das ‚Hervorbringen‘ von Nachkommen (etwa im Geburtsakt). Als produktiv erweist sich hierfür vielmehr, so Julia Heinemann weiter, „die methodische Unterscheidung zwischen motherhood und mothering, die unter anderem auf eine vielzitierte Studie von Adrienne Rich, „Of Woman Born“, zurückging: Während motherhood eine Institution bezeichnet, die vor allem aus feministischer Perspektive mit dem Patriarchat assoziiert wurde, wird mothering als Prozess und Set von diversen Praktiken und Beziehungen verstanden. Dabei lässt sich zeigen, dass solche Praktiken nicht an ein Geschlecht

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gebunden sind, nicht isolierbar von anderen Beziehungsformen und von einer Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren ausgeführt wurden.“ (S. 49) Ein konzeptioneller Zugang zum Muttersein als Praxis (mothering) bietet in der Tat den Vorteil, dass er die Kontextbezogenheit und Wandelbarkeit des KöniginmutterSeins sichtbar macht. Der Fokus auf das Mutter-Sein als Set von Praktiken wird konzeptionell erweitert, indem er mit der Annahme der Mehrfach-Relationalität der verwandtschaftlichen Figur der Mutter verbunden wird. Dies wirft insbesondere die Frage, inwiefern Muttersein, Geschlecht und Körper überhaupt in Zusammenhang stehen, wieder und auf neue Weise auf. (S. 50) Tatsächlich zeigt sich in einer solchen Perspektivierung dann zum Beispiel, dass Transmission ein ganz zentraler Aspekt auch der Figur der Königinmutter war, der letztlich ja auch eine wichtige Komponente nicht nur von Verwandtschaft, sondern auch von fürstlicher Herrschaft schlechthin darstellt. So wird hier auch eine Parallele zum Konzept der (fürstlichen) Vaterschaft sichtbar, die sich etwa in der Hervorhebung der mütterlichen beziehungsweise väterlichen Liebe zu den Kindern/Söhnen als Urgrund mütterlicher beziehungsweise väterlicher Autorität zeigt. Auch die Rolle und Funktion des Ratgebers beziehungsweise der Ratgeberin scheint geschlechtlich eher unspezifisch gewesen zu sein – oder aber Catherine eignete sich diese zunächst männlich gedachte Rolle („conseiller du roi“) erfolgreich für ihre eigene Herrschaftspraxis und Legitimation an. Und dies gilt schließlich auch für ihre Funktion als „Vorbild“ für die jüngere Generation, die Julia Heinemann besonders hervorhebt. Zeichnet sich hier also ein De-Gendering der Herrscher_innenposition ab – oder eher eine (individuelle) Aneignung herrscherlich-männlicher Qualitäten? Ein DeGendering oder eben auch eine Aneignung männlich-väterlicher Herrschaftstitel und -funktionen findet sich auch dort, wo Catherine de Médicis sich in ihren Briefen „angesichts des verstorbenen Vaters auch in eine Linie von französischen Königen stellt und geradezu selbst zum König und Vater werden“ konnte. (S. 445) Anderes gilt dagegen für das Konzept der nourriture – oder englisch nurturing –, das in der anthropologischen Forschung meist mit Mutterschaft oder Muttersein verbunden wird, wie Julia Heinemann konstatiert. Im Allgemeinen verbindet sich damit die Idee der „nährenden Mutter“ – also vor allem der stillenden Frau beziehungsweise der Nähr-Mutter (ein anderes Wort für Amme), was ja nicht identisch sein muss. Auch Catherine de Médicis verweist in ihren Briefen immer wieder darauf, wie sie die Kinder „nährt“ (beziehungsweise im mütterlichen Körper genährt hat). Zeigt sich hier nicht ein substanzieller Unterschied – gar ein Vorteil – in der Mutter- gegenüber der Vaterrolle? Immerhin, so betont Julia Heinemann, unterstrich Catherine in ihrer Korrespondenz immer auch den schöpferischen Akt des „Herstellens“ von Nachkommen: „Ceux que j’ai fait“ – „Jene, die ich gemacht habe“ – sind ihre Kinder und Kindeskinder, wodurch sie sich in ihrem Herrschaftsanspruch und Gebaren deutlich von dem der männlichen Thronfolger absetzte: „Während für die königlichen Töchter und

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Söhne die Geburt Herrschaftsansprüche begründete, war es für die Königinmutter das Gebären und das fortdauernde Formen der Kinder.“ (S. 443) Vollends komplex wird das Bild dort, wo sich Catherine nicht nur als Mutter des regierenden Sohnes, sondern gleichsam auch als eine Art Ehefrau oder Gefährtin präsentiert – und damit den Sohn in die Position des Hausvaters und Eheherrn emporhebt, ohne jedoch gleichzeitig auf ihre mütterliche Autorität verzichten zu wollen (S. 445). Dies lässt sich vor allem auch dadurch erklären, dass, wie Julia Heinemann richtig festhält, die Briefe eben Teil der Praxis selbst sind und nicht in erster Linie als theoretische Entwürfe gelesen werden dürfen, sondern ihrerseits höchst situativ, wenn auch ganz und gar nicht ‚privat‘ oder gar intim gewesen sind, sondern im Gegenteil als Herrschaftsinstrumente und -legitimation Geltung beanspruchen konnten oder sollten. Da der tote König und Vater in den Briefen weder als Autor noch als direkter Adressat in Erscheinung treten kann, verschiebt sich das diskursive Feld zugunsten der Mutter und ihrer Selbst- und Herrschaftsentwürfe. Insofern ist es meines Erachtens nach auch wenig erstaunlich, dass Catherine de Médicis die gesamte Bandbreite von Herrschaftslegitimation und Familienrollen dafür nutzte, die Familie zusammenzuhalten und damit die Herrschaft für die Dynastie zu erhalten. Julia Heinemann zeigt in ihrem Buch sehr klar, dass Mutterschaft – insbesondere innerhalb der spezifischen Konstellation in der französischen Monarchie des 16. Jahrhunderts – eine besondere Ressource für weibliche Machtansprüche darstellte, vor allem auch deshalb, weil Catherine de Médicis eine so besonders fruchtbare und damit ‚erfolgreiche‘ Mutter war und weil sie im Namen ihres unmündigen Sohnes, nicht aber in dem ihres verstorbenen Mannes, ab 1560 (mit‐)regierte. Offen bleibt dabei aus meiner Sicht letztendlich, inwiefern die Königin-Mutterschaft nicht doch auch in Verbindung mit der Rolle der Witwe und Stellvertreterin des ‚Eheherrn‘ und königlichen Hausvaters gedacht werden sollte und auch wurde. Claudia Opitz-Belakhal, Basel

Ruth Nattermann, Jüdinnen in der frühen italienischen Frauenbewegung (1861– 1945). Biografien, Diskurse und transnationale Vernetzungen (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 140), Berlin/Boston: De Gruyter 2020, 326 S., ca. EUR 100, –, ISBN 978-3110693287. Ruth Nattermanns Buch ist nicht nur eine nationale Frauenbewegungsgeschichte, sondern ihr ‚italienisches‘ Fenster eröffnet verschiedene Perspektiven auf zentrale Themenfelder der Frauen- und Geschlechtergeschichte: Wie funktionierte die Kategorie Geschlecht/Frausein in ihrer Relationalität, konkret, wenn Jüdisch-Sein als (Identitäts‐)Marker gesetzt wird? Wie fand der Wissenstransfer im internationalen

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Frauenbewegungsnetzwerk statt? Wie stand es um die Medien, die Übersetzungen in der Kommunikation dieser Netzwerke? Diesen und anderen Fragen widmet sich Ruth Nattermann in ihrer überarbeiteten Habilitationsschrift in fünf thematischen Kapiteln, die gleichzeitig die historische Entwicklung Italiens von der Staatsgründung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges umspannen. Diese ‚Langzeitperspektive‘ ermöglicht es, mit organisations- und diskursgeschichtlichen Methoden die Veränderungen der Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbeziehungen sowie der Identitäten von jüdischen frauenbewegten Akteurinnen zu analysieren. Die kleine jüdische Minderheit Italiens, die vor allem auf Nord- und Mittelitalien beschränkt war, erlaubt Einblicke in ein mittelständisches und urbanes Milieu. Mit der Auswertung von Nachlässen, Familien- und staatlichen Archiven sowie Korrespondenzen in verschiedenen Sprachen ist Ruth Nattermann eine flüssig zu lesende, dichte und empirisch gesättigte Arbeit gelungen. Die Studie fokussiert auf Jüdinnen in Frauenorganisationen, die die Bezeichnung ‚überkonfessionelle Frauenbewegung‘ vereint, und auf die 1927 gegründete Associazione Donne Ebree d’Italia, dem ersten explizit jüdischen Frauenbund. Unter dem Begriff Frauenbewegung firmierten in Italien bis in die 1920er Jahre Vereine, in denen sich bürgerlich-liberale, sozialistische, nationalistische und katholische Akteurinnen organisierten, zum Teil gemeinsam, zum Teil getrennt. Eine explizite Thematisierung von Handlungs(spiel‐)räumen jüdischer Frauen aus nicht mittelständischen Schichten, etwa Arbeiterinnen, oder die Frage, ob sich Jüdinnen auch in einer explizit so definierten sozialistischen Frauen- beziehungsweise Arbeiterinnenbewegung Italiens engagierten (gab es eine solche, neben der 1899 in Mailand gegründeten, von Nattermann als sozialistisch bezeichneten Unione Femminile Nazionale?), bleibt offen. Ebenso wie die Frage, ob die Frauenbewegung Italiens vor 1914 beziehungsweise 1918 ähnliche Ausdifferenzierungen wie in anderen Ländern Europas zeigt, das heißt, ob es etwa im hegemonial katholischen Italien auch als katholisch bezeichnete Frauenvereine gegeben hat. Drei frauenbewegte Generationen strukturieren und führen als biografische Fäden durch das Buch: Die erste, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts geboren, war Teil der jüdischen Emanzipation in der Gründungsphase des italienischen Einheitsstaates 1861 und vor allem journalistisch und sozialreformerisch tätig. Wir lernen unter anderem Sara Levi Nathan kennen, intellektuelle Gefährtin des Staatsgründers Giuseppe Manzini und zentrale Figur der entstehenden Frauenbewegung. Als Teil von weitverzweigten jüdischen Familien war die Transnationalität schon zu dieser Zeit kein programmatischer Anspruch, sondern gehörte zur Lebenswelt dieser Akteurinnen, was auch in der frühen feministischen Zeitschrift „La Donna“ zum Ausdruck kam. Die zweite Generation, geboren in den 1860er und 1870er Jahren, wuchs in Bezug auf ihr Jüdisch-Sein gesetzlich gleichgestellt auf. In ihren Handlungsspielräumen, die journalistische Tätigkeiten ebenso umfassten wie zentrale Positionen in der sich institutionalisierenden Frauenbewegung Italiens, wird die vielfach einfachere Ausgangslage

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im Vergleich zur Pionierinnengeneration deutlich. Allerdings war ihnen die Gleichstellung beziehungsweise Emanzipation als Frauen – qua Geschlecht – verwehrt. Das war nicht nur entscheidend für die Situation der jüdischen „Minderheit in der Minderheit“ (S. 11), der Frauenbewegten in Italien, sondern prägte strukturell und nachhaltig die Geschlechterverhältnisse der bürgerliche Moderne. Die dritte Generation, um 1900 geboren, erlebte die steigende Marginalisierung und Diskriminierung als laizistische und jüdische Frauenbewegte durch die Faschisierung Italiens, inklusive der Rekatholisierung durch die Lateranverträge 1927, die den Katholizismus zur Staatsreligion machten, und der Einführung der ‚Rassegesetzgebung‘ 1938. Die Ausgangslage für die Agency aller drei Generationen war nicht einfach, denn die innerjüdische Ordnung sah für Frauen – trotz ihrer zentralen familiären Bedeutung – eine untergeordnete Stellung vor. Sie waren vom Thorastudium und dem Großteil der Gemeindeaktivitäten ausgeschlossen und hatten bezüglich Erbschaft oder Scheidung nicht dieselben Rechte wie Männer. Vor diesem Hintergrund ist bedeutsam, dass die frauenbewegten jüdischen Akteurinnen fast alle aus Familien mit Vätern, Ehemännern und anderen männlichen Verwandten kamen, die die Loslösung von religiös begründeten Geschlechterverhältnissen und die Emanzipation – auch – der Frauen befürworteten, denn exponiert in der überkonfessionellen Frauenbewegung aktiv zu sein, benötigte nicht nur Bildung, sondern auch soziale Sicherheit. Nur in Ausnahmefällen engagierten sich Jüdinnen in Italien gegen den Willen ihrer Familien in der Öffentlichkeit. Die ersten Kapitel des Buches widmen sich dieser Konstruktion von jüdischem Selbstverständnis im Spannungsverhältnis zwischen religiösen Zugehörigkeiten und Modernisierungs- bzw. Säkularisierungsprozessen. Für die individuelle Selbstverortung ebenso wie für das öffentliche Engagement der frauenbewegten Protagonistinnen blieb die Familie zentral. Hier gelingt es Ruth Nattermann überzeugend, das Narrativ von der reibungslosen Emanzipation des Judentums in Italien zu dekonstruieren. Auch im neuen Staat blieben die Katholische Kirche, ihre Ideologie und ihre Institutionen hegemonial bedeutsam für die gesellschaftspolitische Entwicklung. Antijudaismus beziehungsweise Antilaizismus prägten die politische Kultur auch innerhalb der Frauenbewegung, vor allem im Bereich der Erziehung und der Mode. Seit 1911 zeugen Publikationen von katholischen Frauen von der Radikalisierung der antijudaistischen Diskurse und dem Beginn antisemitischer Polemiken, die sich während des Ersten Weltkrieges weiter verschärften. Der Erste Weltkrieg bedeutete auch für die Jüdinnen in der überkonfessionellen Frauenbewegung Italiens die Möglichkeit, die Verwobenheit mit ‚ihrer‘ Nation zu demonstrieren – Stichwort Heimatfront – und damit quasi den Beweis für ihre begründete Forderung nach der gleichberechtigten Staatsbürgerinnenschaft zu liefern. Diese Erwartung teilten sie mit Frauenbewegungen in allen kriegführenden Staaten. Ebenso gab es unter den italienischen Frauenbewegten von Beginn an im Kreis der bürgerlich-liberalen Feministinnen bekennende Kriegsgegnerinnen. Bei der Frauen-

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friedenskonferenz in Den Haag Ende April 1915, kurz vor dem Kriegseintritt Italiens, befand sich keine Jüdin unter den italienischen Delegierten. Allerdings gab es mit Angelica Balabanova eine exponierte frauenbewegte Sozialistin jüdisch-russischer Herkunft, die seit Jahren in Italien führend politisch tätig war, unter den Organisatorinnen der einen Monat zuvor in Bern abgehaltenen Sozialistischen Frauenfriedenskonferenz. Eine Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen den jüdischen bürgerlichen Pazifistinnen und den Akteurinnen dieses Milieus hätte die Studie bereichert und die Definition des verwendeten Begriffes Frauenbewegung geschärft. Das letzte Kapitel widmet sich der Marginalisierung, der Entrechtung und schließlich der Verfolgung der jüdischen Frauenbewegten seit der Machtübernahme Mussolinis 1922 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die laizistischen Kräfte verloren sukzessive an Bedeutung und eine Koalition von Antilaizismus, Rekatholisierung und Antisemitismus begann das soziokulturelle und politische Italien zu dominieren – auch die bislang überkonfessionelle Frauenbewegung. Nach der Einführung der ‚Rassegesetzgebung‘ 1938 begann ab 1943 in Italien die gezielte Verfolgung und Vernichtung von als jüdisch kategorisierten Menschen – Untergrund, Flucht und Ermordung waren die Konsequenzen. Seit den 1940er Jahren, so Ruth Nattermann, verbanden sich feministische, zionistische und internationalistische Positionen mit einem speziellen Antifaschismus, dessen Ursprung sie in der Tradition jüdischen Denkens selbst verortet. Nachvollziehbar wird ihre These in den Aussagen der Schriftstellerin und Widerstandskämpferin Amelia Rosselli und ihrer Söhne. Sie begründeten ihren Antifaschismus mit ethischen Werten des Judentums wie Gerechtigkeit, Freiheit und der sozialen Verantwortung für ein gesellschaftspolitisches Engagement im ‚Hier und Jetzt‘. Ruth Nattermann hat eine äußerst lesenswerte frauenspezifisch perspektivierte Geschichte eines wichtigen Handlungsraumes der jüdischen Minderheit Italiens im transnationalen Kontext vorgelegt: das Engagement für Frauenemanzipation in der Frauenbewegung. Zentral analysiert sie dabei den Transfer der Diskurse und Praktiken durch die weitreichenden Beziehungen der Akteurinnen. Nicht nur in viele Länder Europas, sondern auch in die Amerikas reichten die jüdischen Frauennetzwerke und stehen für die globalgeschichtliche Dimension, die einer italienisch-jüdischen Geschichte auch innewohnt. Gabriella Hauch, Wien

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Lucy Delap, Feminisms. A Global History, London: Pelican 2020, 416 S., ca. EUR 20,–, ISBN 9780241398142. Bibia Pavard, Florence Rochefort u. Michelle Zancarini-Fournel, Ne nous libérez pas, on s’en charge. Une histoire des féminismes de 1789 à nos jours, Paris: La découverte 2020, 750 S., ca. EUR 25,–, ISBN 9782348055614. Wer zum Feminismus forscht und lehrt, wird an zwei Publikationen aus dem Jahr 2020 nicht vorbeikommen. Durch die Neuordnung der Forschungsergebnisse zur Geschichte des Feminismus bieten die beiden oben genannten Bücher Überblickswissen, erweitern es und stellen es gleichermaßen in Frage. Die Historikerin Lucy Delap beleuchtet das Spektrum feministischen Denkens und Handelns seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert rund um den Globus. Westliche LeserInnen treffen auf Bekanntes, wie etwa die Ausführungen der sozialistischen TheoretikerInnen der Frauenunterdrückung Clara Zetkin und August Bebel. Die Autorin rekonstruiert solche Bausteine feministischen Wissens, relativiert aber stets, indem sie ihnen andere, dem westlichen Kanon weniger bekannte Texte zur Seite stellt. Damit schreibt sie ihre Studie in Forschungsansätze ein, die, an Dipesh Chakrabarty anknüpfend, Europa programmatisch ‚provinzialisieren‘.1 Delap beschreibt ihre eigene Vorgehensweise, indem sie auf das Mosaik Bezug nimmt: Beim Zusammensetzen von Bildern oder Mustern wird auch den Fugen und dem Kitt zwischen den bildgebenden Teilen Bedeutung zugesprochen. Was das Buch besonders interessant für die historische Forschung macht, ist die Kombination verschiedener Zugriffe auf die Geschichte des Feminismus. Die Autorin schöpft dafür aus der politischen Ideengeschichte, der Geschichte kultureller Praktiken, sozialer Bewegungen und Zirkulationen von Texten, Waren und Personen. So greift die Untersuchung auf diverse Quellengattungen zurück, die von gedruckten und breit zirkulierenden Texterzeugnissen über Gebäude und Räume bis hin zu Objekten und musikalischen Ausdrucksformen reichen. Entsprechend handelt es sich um ein Buch, dessen Lektüre man mit Gewinn in beinahe jedem der acht Kapitel beginnen kann. Einige der Themenschwerpunkte seien im Folgenden herausgegriffen. Feministische Träume bieten „a very personal, intimate sense of what has motivated feminist activism“ (S. 28), und dies, obwohl, wie die Autorin selbst bemerkt, die historische Deutung von Quellen, die über Träume Auskunft geben, schwierig ist. Hier geht es aber darum, das utopische Potenzial des Feminismus in seiner Vielfalt aufzuzeigen, ohne dessen Paradoxien und Aporien zu glätten. So erwies sich der Traum der Schwesterlichkeit (sisterhood) mitunter als Quelle von Frustration und Konflikt angesichts anhaltender Ungleichheitserfahrung aufgrund ethnischer Herkunft und 1 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, New Edition, Princeton 2007.

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Klassenzugehörigkeit. Ein Gedicht der schwarzen Lyrikerin Audre Lorde aus dem Jahre 1983 belegt das eindrucksvoll: „[…] Being Black together was not enough. We were different / Being Black women together was not enough. We were different / Being Black dykes together was not enough. We were different“ (S. 57). Delaps Begeisterung für eine kontextualisierende politische Ideengeschichte kommt besonders zum Tragen, wenn sie Vorstellungen von sexueller Differenz und männlicher Überlegenheit – durchaus auch kritisch – unter die Lupe nimmt. Im Mittelpunkt steht das vielschichtige Projekt der europäischen Aufklärung mit seiner widersprüchlichen Botschaft an die Trägerinnen ‚weiblicher‘ Tugenden. Anhand von Begriffen wie „Turk Complex“, im späten 19. Jahrhundert unter dem Einfluss kolonialer Ideen im Westen kolportiert, um männliche Tyrannei über Frauen zu versinnbildlichen, oder „Nannü“, gebraucht in China, um eine patriarchale Gesellschaftsorganisation zu beschreiben, analysiert die Autorin die komplexen Verschränkungen von Feminismus und Nationenbildung, Frauenbefreiung und kolonialem Programm. Die Bedeutung von Räumen für das feministische Projekt ist seit Virgina Woolfs Essay „A room of one’s own“ unumstritten. Private Räume, öffentliche Plätze und Straßen, Arbeitsstätten, Orte für kulturelle, wirtschaftliche oder religiöse Aktivitäten waren in Japan, Europa, Australien, Afrika und den Amerikas Schauplätze feministischen Engagements. Entgegen dem formulierten Anspruch gelang es diesem nicht immer, Spannungen zwischen Frauen unterschiedlicher sexueller Orientierung und sozialer oder ethnischer Herkunft zu verhindern. Das Beispiel Australiens veranschaulicht, dass gerade die erfolgreiche Einwerbung von staatlichen Mitteln zur Unterstützung von Frauenräumen eine ambivalente Wirkung hatte: Einerseits waren finanzielle Ressourcen eine Voraussetzung für den breiten Ausbau von Frauenzentren und -projekten, andererseits verloren staatlich unterstützte Vorhaben gerade das Vertrauen der verletzlichsten aller Frauen: jener, die systematisches Unrecht durch den Staat erfahren hatten, im australischen Fall die Aborigines als Opfer von Zwangssterilisierung, Zwangsadoption und ethnischer Vertreibung. Das Buch befasst sich immer wieder mit materiellen Zeugnissen, denen im feministischen Universum Bedeutung zugesprochen wurde. Das gynäkologische Spekulum ist hier ein eindrückliches Beispiel, da es als Symbol männlichen Wissens und männlicher Macht über Frauenkörper gedeutet wurde und gleichzeitig sinnbildlich für weibliche Selbstermächtigung und Selfhelp stand. Der Blick auf die materielle Kultur erlaubt, unterschiedlichen Verwendungs- und Deutungsweisen von Objekten nachzuspüren. Beispielsweise geht es um weibliche Hygieneartikel, die im Kontext kapitalistischer Märkte des globalen Nordens als befreiend aufgefasst wurden, manchmal aber auch im Zeichen von antikapitalistischen oder ökologischen Überlegungen ins Zentrum von Kritik und der Suche nach Alternativen rückten, und denen im subsaharischen Afrika aufgrund von Unterversorgung, aber auch von kulturellen Überzeugungen kaum Bedeutung zukam.

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Auch eine globale Perspektive kommt ohne die herkömmlichen Akteurinnen der Feminismusgeschichte nicht aus: die Frauenorganisationen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Ihre Aktionsformen aufgreifend, führt die Autorin uns indes in Gegenden und zu Sachverhalten, die weit über den nordatlantischen Raum hinausgehen, den die klassische westliche Historiografie beleuchtet. Steine in (Schau‐) Fenster zu werfen, gehörte etwa zum Repertoire nicht nur der britischen Suffragetten, sondern auch der chinesischen und der brasilianischen. Das Plädoyer für eine Globalgeschichte des Feminismus ist keineswegs neu.2 Doch Delap geht über eine Addition von Fallstudien zu unterschiedlichen Weltregionen hinaus: Zum einen ermöglicht der Fokus auf kulturelle Praktiken nicht nur Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen feministischen AkteurInnen rund um den Globus herauszuarbeiten, sondern auch die Zirkulation von Wissen und Objekten sowie spezifische Aneignungsweisen derselben nachzuzeichnen. Zum anderen hält die Wahl der Themenschwerpunkte für die Leserschaft immer wieder Überraschungen bereit, die Anknüpfungspunkte für Bekanntes darstellen und zugleich für künftige Forschungen öffnen, wie etwa das Kapitel über feministische Musik und Musikerinnen. Gemessen an den geschilderten globalgeschichtlichen Ambitionen nimmt sich das Werk der Historikerinnen Bibia Pavard, Florence Rochefort und Michelle ZancariniFournel bescheidener aus, bleibt es doch der Geschichte Frankreichs verschrieben. Es greift eingangs auf, was ForscherInnen seit dem Aufbruch der Frauen- und Geschlechtergeschichte im Hexagon, und oftmals angestoßen durch den Bicentenaire de la Révolution Française, herausgearbeitet haben, etwa die historische Nähe der AntiSklaverei-Bewegung zum Feminismus und die überragende Bedeutung von Frauen für den Fortgang der Französischen Revolution. Die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte unterschreibt der König im Oktober 1789 unter dem Druck der Marktund Arbeiterfrauen. Ihre Universalität zieht Olympe de Gouges mit ihrer „Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin“ von 1791 in Zweifel und eröffnet damit eine bis heute nicht beendete Diskussion über das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus. Stationen und Schauplätze dieser mehr als 200-jährigen Aushandlung bilden das Herzstück der Darstellung. Die vier Teile und dreizehn Kapitel sind chronologisch angeordnet und orientieren sich an den klassischen Zäsuren der politischen Geschichte Frankreichs, angefangen mit den Revolutionen von 1789 und 1848 über die Pariser Kommune, die Dritte Republik und das Vichy-Regime bis hin zu 1968, zur Ära Mitterrand und schließlich zu den Bewegungen der unmittelbaren Vergangenheit (unter anderen MeToo). Dieses Vorgehen erklärt sich dadurch, dass das Buch sich in 2 Vgl. u. a. Bonnie G. (Hg.), Global Feminisms since 1945, London 2000; Karen Offen (Hg.), Globalizing Feminisms 1789–1945, New York 2010. Allen voran: Robin Morgan (Hg.), Sisterhood is Global. The International Women’s Movement Anthology, New York 1984.

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weiten Teilen mit den Aporien des modernen Republikanismus befasst und mit den Herausforderungen, die sich für FeministInnen daraus ergaben. Trotz der konventionellen Gliederung treten die Verfasserinnen an, die Geschichte Frankreichs und des französischen Feminismus neu zu schreiben. Sie lassen aktuelle Erkenntnisse der Geschlechtergeschichte und der Geschichte von Sexualitäten in die Darstellung einfließen, die über ältere Überblickswerke hinausgehen.3 Zudem gehen sie konsequent der Frage nach Überlappungen verschiedener sozialer Diskriminierungskategorien nach und machen damit das Konzept der Intersektionalität fruchtbar. Vor allem den sich aus Kolonialismus und Dekolonisierung ergebenden Auseinandersetzungen zwischen Frauen verschiedener ethnischer und sozialer Herkunft räumen die Autorinnen einen Vorrang ein. An verschiedenen Stellen des Buches wird deutlich, dass Frankreich nie an den Grenzen des Hexagons endete und dass Frauen am Projekt des Kolonialismus ebenso beteiligt waren wie an der antikolonialen Bewegung. An Persönlichkeiten wie der Künstlerin Lucie Cousturier (1870–1925) oder ihrer Zeitgenossin Andrée Viollis (1870–1950) zeigt sich, dass die Grenzen zwischen Antikolonialismus und kolonialem Denken in der Idee einer westlich-zivilisatorischen Mission verschwimmen. Diese kritische Perspektive auf die Geschichte des französischen Feminismus ist so überfällig wie überzeugend. Schlüsselfiguren dieser Geschichte spielen eine wichtige Rolle in dem Buch, darunter Louise Michel, Hubertine Auclert, Gisèle Halimi und Simone de Beauvoir. Chronologisch fortschreitend allerdings rücken kollektive Akteurinnen in den Vordergrund, der Logik der Neuen Frauenbewegung folgend, ‚Stars‘ zu vermeiden und der Rede von ‚der Frau‘ die von ‚Frauen‘ entgegenzustellen. Das gilt für das Ringen um die Freigabe der Abtreibung, für den Kampf gegen Vergewaltigung und Gewalt sowie gegen Diskriminierung homosexueller und schwarzer Frauen. Vielleicht spiegelt die Betonung des Kollektiven auch die Tatsache wider, dass Deutungskämpfe über den Feminismus seit 1968 noch anhalten und die Plätze in der Ahnengalerie des Feminismus für diesen Zeitraum noch nicht endgültig zugewiesen sind. Den Eindruck gewinnt man besonders im abschließenden Kapitel über den Feminismus um die Jahrtausendwende, das Neuland betritt. Klar werden hier die späten 1990er Jahre als Moment des Wiederaufblitzens feministischen Aktivismus’ benannt. Deutlich wird aber auch, dass es angesichts eines vielstimmigen, heterogenen Aufbegehrens schwierig ist, einen roten Faden durch die Erzählung zu spinnen und dominante Akteurinnen und Themen zu identifizieren. Angesichts der Herausforderungen vermissen LeserInnen hier Elemente einer expliziten Selbstreflexion darüber, was es heute heißt, Feminismusgeschichte zu schreiben. Trotz ihrer unterschiedlichen Zugänge weisen die beiden hier rezensierten Bände Gemeinsamkeiten auf: Sie plädieren für eine Geschichte der langen Dauer und ver3 Allen voran: Maité Albistur u. Daniel Armogathe, Histoire du féminisme français du moyen âge à nos jours, Paris 1977. Vgl. auch Michèle Riot-Sarcey, Histoire du féminisme, Paris 2002.

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zichten dabei auf die Wellenmetapher, die den komplexen Mobilisierungsdynamiken des Feminismus nicht gerecht werde. Beide gehen von einem historischen Verständnis von Feminismus als einem „variable labelling of gender activism“ (Delap, S. 14) aus, dessen Ausformungen jeweils „en contexte“ (Pavard/Rochefort/Zancarini-Fournel, S. 6) zu analysieren seien. Und beide entgrenzen Feminismus geografisch und politisch, auf unterschiedlichen Ebenen zwar, aber ganz klar im Gegensatz zu national eng gefassten Darstellungen der Geschichte des Feminismus. Dass – frei nach Wittgenstein – die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt sind, stellt sich den Autorinnen beider Werke als Problem, wie generell jedem Ansatz, der ernsthaft versucht, über den Tellerrand der Nationalgeschichte hinauszublicken. So bleiben die Bibliografien beider Werke, bis auf wenige Ausnahmen, einsprachig – die Autorinnen können nur dort auf die Quellen und Darstellungen eines globalen Phänomens zurückgreifen, wo Übersetzungen ins Französische beziehungsweise Englische vorliegen. Nicht zuletzt aufgrund der Begrenzungen, die Sprache und kultureller Hintergrund Forschenden auferlegen, wird die Feminismusgeschichte das bleiben, was auch der Feminismus war und ist: ein kollektives und kooperatives Projekt oder, mit Delap gesprochen, neben seiner Radikalität und seiner Vehemenz auch stets ein „Gespräch“ (S. 20). Kristina Schulz, Neuchâtel

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Oliver Auge and Felicia E. Engelhard, Ancient Goddesses in the Medieval Period: Allegorical Figures, Daughters of God or Divine Competitors? Despite the monotheistic claim of Christianity, ancient heritage persisted in the medieval worldview in the form of female deities who – as Barbara Newman was able to show – were integrated into the Christian faith and entrusted with certain divine tasks and functions. The aim of this article is therefore to quantitatively expand Newman’s study by comparing the medieval perpetuation of the ancient goddesses Fortuna, Natura, Justitia and Diana, and to add other important aspects in order to illustrate the spectrum of female divinity during the Middle Ages. The antique goddesses were not only integrated, they even experienced a differentiation and cultural flourishing phase during the Middle Ages, as shown in the case of Natura and Justitia. Diana, on the other hand, did not receive theological appreciation and embedding in the divine order of Christianity but was degraded as part of the ‘pagan folk cultures’ and demonised in the context of the invention of witchcraft crime. The integration of ancient goddesses as shown by Newman must hence be seen in the context of the exclusion and suppression of the ancient traditions.

Birgit Heller, Goddesses and Their Ambivalent Relationship to Women Through the Example of Hindu Traditions At the beginning of religious studies in the late nineteenth and early twentieth centuries, goddesses were primarily interpreted as mother goddesses. In connection with evolutionary theories explaining both the origin of religion and the idea of god, the religious symbol of the mother was assessed to have been overcome by the symbol of the father. Nevertheless, there is plenty of historical evidence documenting that mother worship has always been only one of the many facets of goddess worship. According to another widespread assumption – mostly linked to theories of matriarchy – goddess worship is seen as the cause for the high social status of women. Research has shown that

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the relationship between goddesses and women is complex and ambivalent: on the one hand, goddesses can represent models for female identity but, on the other hand, they reflect normative gender roles and legitimise the given gender order. The variety of goddess symbols as well as their diverse connections with women are demonstrated within Hindu traditions. Central to the Hindu idea of the goddess is the concept of a cosmic female principle named Shakti; in regard to women as manifestations of Shakti different impacts on the perceptions and status of women can be observed.

Almut Höfert and Anja Hänsch, Goddess Times: the ‘Great Goddess’ in Scholarship and Religious Movements This article investigates into the manifold links between nineteenth- and twentiethcentury scholarship and the neopagan feminist Wicca/Goddess movements originating from the second half of the twentieth century onwards. The analysis focuses on the variety of gender conceptions attached to ‘the Goddess’ ranging from binary to queer. In a first step, the idea of a prehistorical ‘Great Goddess’ figuring prominently within a presumed matriarchal society is traced back to nineteenth-century scholars. Furthermore, the article shows how the conceptions of the ‘Great Goddess’ are clearly delineated by several scholars (e. g. Robert Graves, Raphael Patai, Marija Gimbutas) in the twentieth century. Additionally, these scholars connected elements of what Zygmunt Bauman called “retrotopia” to the ‘Great Goddess’. The Wicca and Goddess movements picked up on these retrotopian elements elaborating further on them. Occasionally this has provoked conflict between historians/archaeologists on the one side and the religious movements on the other. Whenever religious movements claimed historicity for the retrotopical Goddess times, academia would object. Thus the contentions regarding the discourse on the ‘Great Goddess’ predominantly lie with the question of the Goddess times.

Elissa Mailänder, “Writing to the Four Winds and Waiting for Mail”: Material Hermeneutics of Letters and Photographs as Memory Objects of the Reich Labour Service Generation (1939–2022) This article draws upon the private collection of Franziska Grasel, born in Austria in 1921. It focuses, in particular, on her archiving practices and the bequest of her private archive to a public collection in Vienna, through which she turned her personal documents into historical source material. The first section explores Franziska Grasel’s lived experience of National Socialism, including the role letters and photographs played in community-building in the Reich Labour Service and the significance Grasel and her friends paid to the objects that she collected and stored with great care. Part two

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considers the changed meaning of Grasel’s archive as it transitioned from private to public. While Grasel’s private archiving practices during and after National Socialism served as a personal attempt to preserve experience and memory through objects, her 2002 decision to bequeath her personal archive piece by piece to the Viennese archival collection Sammlung Frauennachlässe made it accessible to a wide audience. The third part reflects upon Grasel’s estate as a publicly accessible archive, shedding light on the way our work as historians gives her experiences and memories a voice and thereby contributes to passing on her legacy. Considering that Franziska Grasel’s well-preserved collection reflects the privileges of those who were part of the “Aryan” majority society, her archive raises epistemological as well as ethical questions about the ambiguous meanings of those objects.

Anschriften der Autor*innen

Oliver Auge, Historisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt Schleswig-Holstein, Leibnizstr. 8, 24118 Kiel, Deutschland – [email protected] Caroline Walker Bynum, Professor emerita, Institute for Advanced Study, Princeton, NJ, and University Professor emerita, Columbia University, New York, Mail to: 410 Riverside Drive #101, New York, NY 10025, USA – [email protected] Felicia E. Engelhard, Historisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt Schleswig-Holstein, Leibnizstr. 8, 24118 Kiel, Deutschland – [email protected] Elisabeth Fischer, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 4, 70173 Stuttgart, Deutschland – [email protected] Anja Hänsch, Amsterdam, Niederlande – [email protected] Gabriella Hauch, Institut für Geschichte, Universität Wien, Universitätsring 1, 1010 Wien, Österreich – [email protected] Beate Hausbichler – [email protected] Birgit Heller, Institut für Religionswissenschaft, Schenkenstraße 8–10, Universität Wien, 1010 Wien, Österreich – [email protected] Almut Höfert, Fakultät IV – Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, Ammerländer Heerstr. 114–118, Gebäude A11, 26129 Oldenburg, Deutschland – [email protected]

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Martina Kaller, Institut für Geschichte, Universität Wien, Universitätsring 1, 1010 Wien, Österreich – [email protected] Racha Kirakosian, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar – Germanistische Mediävistik, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg, Deutschland – racha. [email protected] Rotraud von Kulessa, Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft, Universität Augsburg, Universitätsstraße 10, 86159 Augsburg, Deutschland – Rotraud.kulessa@ philhist.uni-augsburg.de Elissa Mailänder, Centre d’histoire de Sciences Po, 27 rue Saint-Guillaume, 75337 Paris, cedex 07, France – [email protected] Claudia Opitz-Belakhal, Departement Geschichte, Universität Basel, Hirschgässlein 21, 4052 Basel, Schweiz – [email protected] Kristina Schulz, Institut d’Histoire, Université de Neuchâtel, Espace Tilo Frey 1, 2000 Neuchâtel, Suisse – [email protected] Xenia von Tippelskirch, Seminar für Neuere Geschichte, Fachbereich Geschichtswissenschaft der Universität Tübingen, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen, Deutschland – [email protected]

Weitere Hefte von „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ 32. Jg., Heft 2 (2021)

32. Jg., Heft 1 (2021)

hg. von Rukmini Barua, Alexandra Oberländer, Christa Hämmerle und Claudia Kraft

hg. von Birgitta Bader-Zaar und Mineke Bosch

Fluid Feelings

Frauenwahlrecht – umstrittenes Erinnern 180 Seiten, kartoniert € 25,– D / € 26,– A ISBN 978-3-8471-1249-5 eBook: € 23,– ISBN 978-3-8470-1249-8

177 Seiten, kartoniert € 25,– D / € 26,– A ISBN 978-3-8471-1325-6 eBook: € 23,– ISBN 978-3-8470-1325-9

Vorschau:

33. Jg., Heft 2 (2022)

34. Jg., Heft 1 (2023)

hg. von Bożena Chołuj, Maria Fritsche und Heidrun Zettelbauer

hg. von Sandra Maß und Anelia Kassabova

Kinder in Heimen

Schmerz

Erscheint im Frühjahr 2023

Erscheint im Herbst 2022

L’Homme Schriften Bd. 28: Veronika Helfert

Frauen, wacht auf!

Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916–1924 2021. 399 Seiten mit 15 Abbildungen, gebunden € 50,– D / € 52,– A ISBN 978-3-8471-1184-9 eBook: € 50,– D ISBN 978-3-8470-1184-2

Bd. 27: Li Gerhalter

Tagebücher als Quellen

Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800 2021. 459 Seiten, gebunden € 40,– D / € 42,– A ISBN 978-3-8471-1179-5 eBook: € 40,– D ISBN 978-3-8470-1179-8

www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

Ältere Ausgaben von „L’Homme. Z. F. G.“ (1990 bis 2015) sind im Böhlau Verlag erschienen und über die Redaktion erhältlich: www.univie.ac.at/Geschichte/LHOMME/ und [email protected] Heft 26, 2 (2015) Maria Fritsche, Anelia Kassabova (Hg.) Visuelle Kulturen

Heft 20, 2 (2009) Ingrid Bauer, Hana Havelková (Hg.) Gender & 1968

Heft 26, 1 (2015) Ulrike Krampl, Xenia von Tippelskirch (Hg.) mit Sprachen

Heft 20, 1 (2009) Ulrike Krampl, Gabriela Signori (Hg.) Namen

Heft 25, 2 (2014) Gabriella Hauch, Monika Mommertz, Claudia Opitz-Belakhal (Hg.) Zeitenschwellen Heft 25, 1 (2014) Margareth Lanzinger, Annemarie Steidl (Hg.) Heiraten nach Übersee Heft 24, 2 (2013) Claudia Ulbrich, Gabriele Jancke, Mineke Bosch (Hg.) Auto/Biographie Heft 24, 1 (2013) Ingrid Bauer, Christa Hämmerle (Hg.) Romantische Liebe Heft 23, 2 (2012) Almut Höfert, Claudia Opitz-Belakhal, Claudia Ulbrich (Hg.) Geschlechtergeschichte global Heft 23, 1 (2012) Mineke Bosch, Hanna Hacker, Ulrike Krampl (Hg.) Spektakel Heft 22, 2 (2011) Sandra Maß, Kirsten Bönker, Hana Havelková (Hg.) Geld-Subjekte Heft 22, 1 (2011) Karin Gottschalk, Margareth Lanzinger (Hg.) Mitgift Heft 21, 2 (2010) Caroline Arni, Edith Saurer (Hg.) Blut, Milch und DNA. Zur Geschichte generativer Substanzen Heft 21, 1 (2010) Bożena Chołuj, Ute Gerhard, Regina Schulte (Hg.) Prostitution

Heft 19, 2 (2008) Christa Hämmerle, Claudia Opitz-Belakhal (Hg.) Krise(n) der Männlichkeit? Heft 19, 1 (2008) Ute Gerhard, Karin Hausen (Hg.) Sich Sorgen – Care Heft 18, 2 (2007) Caroline Arni, Susanna Burghartz (Hg.) Geschlechtergeschichte, gegenwärtig Heft 18, 1 (2007) Gunda Barth-Scalmani, Regina Schulte (Hg.) Dienstbotinnen Heft 17, 2 (2006) Margareth Lanzinger, Edith Saurer (Hg.) Mediterrane Märkte Heft 17, 1 (2006) Ingrid Bauer, Christa Hämmerle (Hg.) Alter(n) Heft 16, 2 (2005) Mineke Bosch, Hanna Hacker (Hg.) Whiteness Heft 16, 1 (2005) Ute Gerhard, Krassimira Daskalova (Hg.) Übergänge. Ost-West-Feminismen Heft 15, 2 (2004) Erna Appelt, Waltraud Heindl (Hg.) Auf der Flucht Heft 15, 1 (2004) Caroline Arni, Gunda Barth-Scalmani, Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Margareth Lanzinger, Edith Saurer (Hg.) Post/Kommunismen Heft 14, 2 (2003) Susanna Burghartz, Brigitte Schnegg (Hg.) Leben texten

Heft 14, 1 (2003) Gunda Barth-Scalmani, Brigitte Mazohl-Wallnig, Edith Saurer (Hg.) Ehe-Geschichten

Heft 7, 2 (1996) Andrea Griesebner, Claudia Ulbrich (Hg.) Gewalt

Heft 13, 2 (2002) Mineke Bosch, Francisca de Haan, Claudia Ulbrich (Hg.) Geschlechterdebatten

Heft 7, 1 (1996) Gunda Barth-Scalmani, Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Gabriella Hauch, Waltraud Heindl, Brigitte Mazohl-Wallnig, Brigitte Rath (Hg.) Tausendundeine Geschichten aus Österreich

Heft 13, 1 (2002) Karin Hausen, Regina Schulte (Hg.) Die Liebe der Geschwister Heft 12, 2 (2001) Waltraud Heindl, Claudia Ulbrich (Hg.) HeldInnen? Heft 12, 1 (2001) Susanna Burghartz, Christa Hämmerle (Hg.) Soldaten Heft 11, 2 (2000) Ute Gerhard, Edith Saurer (Hg.) Das Geschlecht der Europa Heft 11, 1 (2000) Christa Hämmerle, Karin Hausen, Edith Saurer (Hg.) Normale Arbeitstage Heft 10, 2 (1999) Hanna Hacker, Herta Nagl-Docekal, Gudrun Wolfgruber (Hg.) Glück Heft 10, 1 (1999) Erna Appelt (Hg.) Citizenship Heft 9, 2 (1998) Christa Hämmerle, Karin Hausen (Hg.) Heimarbeit Heft 9, 1 (1998) Susanna Burghartz, Edith Saurer (Hg.) Unzucht Heft 8, 2 (1997) Waltraud Heindl, Regina Schulte (Hg.) Höfische Welt Heft 8, 1 (1997) Hg. vom Herausgeberinnen-Gremium der L’Homme. Z. F. G. Vorstellungen

Heft 6, 2 (1995) Gudrun-Axeli Knapp, Edith Saurer (Hg.) Interdisziplinarität Heft 6, 1 (1995) Erna Appelt, Verena Pawlowsky (Hg.) Handel Heft 5, 2 (1994) Susan Zimmermann, Birgit BologneseLeuchtenmüller (Hg.) Fürsorge Heft 5, 1 (1994) Herta Nagl-Docekal (Hg.) Körper Heft 4, 2 (1993) Christa Hämmerle, Bärbel Kuhn (Hg.) Offenes Heft Heft 4, 1 (1993) Hanna Hacker (Hg.) Der Freundin? Heft 3, 2 (1992) Waltraud Heindl, Jana Starek (Hg.) Minderheiten Heft 3, 1 (1992) Hg. vom Herausgeberinnen-Gremium der L’Homme. Z. F. G. Krieg Heft 2, 2 (1991) Brigitte Mazohl-Wallnig, Herta NaglDocekal (Hg.) Intellektuelle Heft 2, 1 (1991) Erna Appelt, Edith Saurer (Hg.) Ernährung Heft 1, 1 (1990) Christa Hämmerle, Edith Saurer (Hg.) Religion

Diese Hefte sind Open Access unter https://lhomme-archiv.univie.ac.at abrufbar.

Einblicke in das Privatleben eines Brautpaares in der Mitte des 19. Jahrhunderts Helmut Neuhaus (Hg.) Die Brautbriefe Karl Hegels an Susanna Maria von Tucher

Aus der Verlobungszeit des Rostocker Geschichtsprofessors und der Nürnberger Patriziertochter 1849/50 2018. 256 Seiten mit 13 s/w- und 17 farb. Abb., geb. € 45,00 ISBN 978-3-412-51128-9 Auch als e-Book erhältlich.

Preisstand: 3/2022

Im privaten Nachlaß des an der Universität Rostock wirkenden Historikers Karl Hegel, eines Sohnes des Philosophen G.W.F. Hegel, haben sich seine 27 Brautbriefe an die Nürnberger Patriziertochter Susanna Maria von Tucher erhalten, mit einem roten Bändchen zusammengebunden und mit einer Schleife geschmückt. Über Einblicke in das Privatleben eines Brautpaares in der Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus geben sie den Blick frei auf das Denken und Fühlen eines Gelehrten und auf die Entstehung eines Professoren-Haushaltes. Sie eröfffnen zugleich das Panorama einer Zeit der politischen Umbrüche in Revolution und Restauration, einer Epoche der wirtschaftlichen und kommunikativen Veränderungen, einer Zeit des geistigen Aufbruchs in den Wissenschaften sowie der kulturellen Verfestigungen bürgerlichen Lebens. Zu lesen sind sie aber auch vor dem Hintergrund einer wenig bekannten Brautbrief-Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts.

Die Geschichte einer Liebesbeziehung im Dritten Reich und in den Kriegszeiten

Peter Matheson | Heinke SommerMatheson Sei also ohne Sorge, Liebling Briefe über Liebe und Schrecken im Dritten Reich 2021. 199 Seiten mit 16 Abb., gebunden € 29,00 D | € 30,00 A ISBN 978-3-525-31545-3 Auch als E-Book erhältlich!

Preisstand 12.10.2021

Lilo und Ernst lernen sich 1935 während des Landjahrs kennen und verlieben sich ineinander. Sie schmieden Zukunftspläne, ziehen zusammen und heiraten schließlich. Beide sind vom Nationalsozialismus und seinen Werten überzeugt. Dann bricht der Krieg aus und Ernst wird eingezogen. Sie schreiben sich Briefe, die in einer unvergleichlichen Intensität den Zusammenprall ihrer persönlichen Träume mit den politischen und militärischen Realitäten des Dritten Reiches zeigen. Siebzig Jahre später entziffert ihre Tochter Heinke die in Sütterlin geschriebenen Briefe und stellt die Fragen der nachgeborenen Generation: Warum glaubten sie an Hitler? Wussten sie von den Verbrechen an den Juden und in Russland?

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Die Welt verstehen wollen - ein nie versiegendes Gespräch

Ingeborg Gleichauf Hannah Arendt und Karl Jaspers Geschichte einer einzigartigen Freundschaft 2021. 200 Seiten mit 10 s/w Abb., gebunden € 23,00 D | € 24,00 A ISBN 978-3-412-52289-6 Auch als E-Book erhältlich!

Preisstand 29.7.2021

Über beide ist viel geschrieben und geforscht worden – allein ihre sehr tiefe und besondere, fast lebenslange Freundschaft, beginnend mit Arendts Studium bei Jaspers ab 1926, ist bislang seltsam unerforscht. Zwar ist der umfangreiche Briefwechsel ediert, es existiert jedoch keine einzige Monographie zum Thema. Diesem Umstand will das vorliegende Buch abhelfen. Ingeborg Gleichauf, Philosophin und Schriftstellerin, nähert sich der Beziehung von Arendt und Jaspers über die Beschäftigung mit den großen Fragen und Themen, die die beiden zeit ihres Lebens umtrieben, und legt den Fokus auf das über lange Zeiträume und große Distanzen nie versiegende Gespräch zwischen ihnen, ob persönlich oder in Briefen – auf den fruchtbaren, auch manchmal streitbaren, immer vertrauensvollen, von Neugier, Offenheit und Redlichkeit geprägten Austausch.