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Table of contents :
Vorwort des Herausgebers
Das Epos
Ilias
Odyssee
Hesiod
Die Elegie
Der Iambos
Das lyrische Einzellied
Die Chorlyrik
Die Tragödie
Aischylos
Sophokles
Euripides
Die Komödie
Die Geschichtsschreibung
Herodot
Thukydides
Die Redekunst
Die Philosophie
Prodikos von Keos
Hippokrates von Kos
Platon
Aristoteles
Kleanthes von Assos
Zu den Abbildungen
Quellenverzeichnis
LESEBUCH DER ANTIKE
Das klassische Griechenland
Die Dichtung und die Geisteswelt der Antike : ihre Höhepunkte sind bis heute lebendig geblieben. Die »Ilias«, die »Odyssee«, die Dramen um Orestes, Oidipus und Medeia (um Beispiele aus dem vorliegenden Band zu nennen) haben die Dichter nahezu aller neuzeitlichen Jahrhunderte beschäftigt bis in unser zwanzigstes: weil sie Schicksale darstellen, die sich ähnlich ewig wiederholen. Dieser erste Band des auf drei Bände angelegten Lesebuchs der Antike führt in das halbe Jahrtausend des »klassischen« Griechenland. An seinem Beginn steht das Epos Homers und Hesiods. Ihm folgt die Entfaltung des Individuums in der frühen Lyrik; wir lesen unvergessene Namen: Sappho zum Beispiel, deren Dichtung wie kaum eine andere des Altertums die innere Beteiligung widerspiegelt, Anakreon und Pindar. Aischylos, Sophokles und Euripides waren die Meister der
LESEBUCH DER ANTIKE
LESEBUCH DER ANTIKE Ausgewählt und zusammengestellt von Ludwig Voit
Band 1 Das klassische Griechenland von Homer bis Aristoteles
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Heimeran Verlages, München für die Bertelsmann Club GmbH, Gütersloh die Europäische Bildungsgemeinschaft Verlags-GmbH, Stuttgart die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien und die Buch- und Schallplattenfreunde GmbH, Zug/Schweiz Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buch-Gemeinschaft C. A. Koch's Verlag Nachf., Berlin — Darmstadt — Wien Umschlag- und Einbandgestaltung K. Hartig Gesamtherstellung Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Germany • Buch-Nr. 02161 8
INHALT VORWORT DES H ERAU SG EB ERS
IO
DICHTUNG DAS EPOS
H omer Ili as Hektors Abschied von seiner Gattin Andromache Die Bittges andsch aft an Achilleus Hektors Freigabe
13 13 15 24 4!
Odyssee
6i
Ankunft des Odysseus bei den Ph ai aken Die Erkennung
63 71
Hesiod
83
Der Mythos von den Weltaltern
83
FROHGRI EŒIISŒI E LYRIK DIE ELEGIE Mimnermos
87
Vergänglichkeit
88
Tyrtaios
88 88
Aufruf zum Kampf Solon
89
Gebet an die Musen An das Volk von Athen
90 91
DER IAMBOS
Archiloch os
Krieger und Dichter Der Feldherr Im Sturm Thasos Die Macht der Götter Herz, mein Herz Ein Mädchenbild Einst war er mein Freund. Elegie auf den Tod des Schwagers
92 93 93 93 93 94 94 95 95 95
Sem onides
96
Katalog der Weiber
96
DAS LYRISCHE EINZELLIED
Sappho An Aphrodite An Kypris Gefühl der Liebe Das Mädchen schmückt sich Mondschein Abschied Willkommen Allein Resignation Alkaios und Sappho Alkaios
An Sappho Unser Schiff Gebet an Zeus Die Rüstkammer Tot ist Myrsilos! An die Dioskuren, Retter in Sturmesnot Gebet des Verbannten Trost des Verbannten Weinlied I Weinlied II Weinlied III Helena und Thetis Spruch
99 100 Io1 501 102 102 102 503 503
104 105 505 105 105 106 106 107 107 507 108 109 109 109
iio I Io
Ankre on
IIO
An Artemis An Dionysos Krieg und Wein Thrakisch Füllen Verlockung Trink mit Vernunft Das Alter
I12 I 1 I 1 I12 I13 113 I13
Anacreontea
114
An die Leier An die Zikade
I 14 I 14
Skolia
I
15
DIE CHORLYRIK
Pindar An die Ch ariten von Orchomenos
Ruhm und Bescheidung Angeborener Wert Für Hieron aus Syrakus, Sieger mit dem Rennpferd Für Hieron aus Syrakus zum Trost in Krankheit Wege des Schicksals Macht der Musik Ehrsucht Menschen und Götter frg. 119
117 118 I19 120 120 124 128 129 131 131 131
DAS DRAMA DIE TRAGÖDIE
Aischylos Die Eumeniden
1 33
1 35 1 37
Soph okles
171
König Oidipus
172
Euripides
225
Medeia
225
DIE KOMÖDIE
267
Aristophanes Die Frösche
267 269
PROSA DIE GESCHICHTSSCHREIBUNG
Herodot Der Bau der Cheopspyramide Aus der Geschichte der Lyder: Gyges und Kandaules Kroisos und Solon Der Ring des Polykrates Der große Perserkrieg 48o v. Chr.
Beratung im persischen Reichsrat Xerxes und Demaratos Die Orakel. Die »Hölzernen Mauern« Die Seeschlacht bei Artemision — Der Entscheidungskampf bei Salamis
340 341 342 344 348 35 1 35i 359 361 367
Thukydides
Die Vorrede Die Leichenrede des Perikles auf die Gefallenen Die Pest in Athen Die Würdigung des Perikles Die »Pathologie des Krieges« Der Überfall auf Melos. Das Meliergespräch
399 399 400
406 410 413 416
DIE REDEKUNST Demosthenes
Die dritte Rede gegen Philipp
423 423
DIE PHILOSOPHIE
Aus der Gedankenwelt der Sophistik: Prodikos von Keos Herakles am Scheideweg
440
440
Hippokrates von Kos Medizinische Schriften Der Eid des Arztes Aphorismus Aufgabe des Arztes ist es ... Über die sogenannte »Heilige Krankheit«, die Epilepsie
444
Platon
447 447 472 48 5
Des Sokrates Verteidigung (Apologie) Diotimas Preisrede auf den Eros Kurze Einführung in die Ideenlehre Aristoteles
444
445 445 445
Aus der Nikomachischen Ethik Erstes Buch Zweites Buch
493 493 493 51I
Kleanthes von Assos Dem höchsten Gott
52 5 52 5
ZU DEN ABBILDUNGEN
528
QUELLENVERZEICHNIS
531
Die Akropolis von Athen
VORWORT DES HERAUSGEBERS
Es ist schwierig, ein Lesebuch der griechischen und römischen Literatur für den heutigen Leser zusammenzustellen. i . In den rund i 200 Jahren, die mit Homer beginnen und mit dem Ende Roms als der Hauptstadt eines Weltreiches enden, haben erleuchtete Geister als die Begründer unserer europäischen Kultur und
Literatur eine solche Fülle bedeutender Werke hervorgebracht, daß es nicht leicht ist, eine Auswahl zu treffen, die letzten Endes nur einen schmalen Querschnitt bieten kann und dabei stets subjektiv bleiben muß. Vielleicht würde ein anderer anderes für wertvoller halten. 2. Eine noch größere Schwierigkeit bildet die Wahl der rechten Übersetzung, die die Mitte halten soll zwischen leicht verständlicher Freiheit und allzu engem Anschluß an das Original. Im ersteren Fall muß auf viele Feinheiten der Sprache verzichtet werden — so wie eine freie Kopie eines originalen Bildwerks, wie sie unsere heutigen Antikensammlungen füllen, nie ganz die genauen Maße und Verhältnisse und den ursprünglichen Schmelz der Erstschöpfung wiedergeben kann —; im zweiten Fall wird durch eine allzu wörtliche Wiedergabe der deutschen Sprache oft Gewalt angetan, so daß nicht nur der deutsche Stil, sondern auch oft die Verständlichkeit des Textes darunter leidet. Manche Übersetzungen — wie etwa die Platonübersetzung Schleiermachers aus dem Jahren 1804-18IO — sind ihrerseits bereits »klassisch« geworden und darum nicht verzichtbar, auch wenn ihr Deutsch dem Nachgeborenen altmodisch erscheint; von anderen Autoren wiederum gibt es heute kaum eine wirklich gute Übersetzung, die flüssig und lebendig wirkt. — Es ist versucht worden, in dieser Textsammlung die richtige Mitte zu finden, so daß der heutige Leser Gewinn aus der Lektüre ziehen und zugleich Freude an ihr empfinden kann, auch und vor allem der Leser, der die beiden alten Sprachen nicht beherrscht. Dieser Leser, an den wir in erster Linie denken, soll erkennen, daß in dieser fernen Welt, die wir ihm zu erschließen versuchen, viele Erwägungen und Probleme, die uns auch heute noch beschäftigen, erstmalig gedacht und formuliert wurden und seitdem in alle modernen Literaturen hineingewirkt haben. Diesem Leser soll zugleich dadurch bewußt gemacht werden, daß der Mensch als Mensch in den IO
fast 3000 Jahren, die uns von Homer trennen, in vieler Hinsicht der gleiche geblieben ist und daß auch Griechen und Römer Menschen gewesen sind, die geweint und gelacht, gelitten und auch für ihren Tag gehandelt haben, nicht Heroen in einer einstigen, vermeintlich besseren Welt. Freilich wird dieser Leser auch zu manchen Partien schwer den Zugang und das Verständnis finden, dort vor allem, wo der Autor die Welt des Mythos in sein Werk aufgenommen hat, in der ja seine antiken Leser lebten, so wie etwa heute ein ernster Christ in der Welt der Bibel mit ihren Gestalten und Geschichten zu Hause ist. Der heutige Leser sei darum gebeten, über solche Stellen einfach hinwegzulesen : die Freude am Ganzen wird dadurch kaum beeinträchtigt, wieumgekehrt etwa auch der fragmentarische Zustand vieler antiker Texte, der Lyriker vor allem, doch reinen Genuß zu vermitteln vermag, selbst wenn wir hier das Ganze, aus dem die Fragmente stammen, nicht kennen. Im übrigen mag ein gutes mythologisches Lexikon (etwa das von Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Verlag Brüder Hollinek, Wien 1975; es gibt auch eine ro-ro-ro-Ausgabe) über schwierige Stellen hinweghelfen. Für den, der den Urtext zu lesen vermag, ist in einem Stellenverzeichnis am Ende des B andes der Weg zu den Quellen gewiesen; für den, der ohne Kenntnis der alten Sprachen Neugier empfindet, weiter und mehr zu lesen, als in dieser Auswahl gebracht werden konnte, ist im gleichen Verzeichnis der Hinweis auf den Übersetzer und den Verlag zu finden, in dem die Übersetzung erschienen ist. Denn eben diese Neugier ist es j a, die wir mit diesem Lesebuch wecken wollen. Die beigegebenen Abbildungen mögen die Lektüre unterstützen und ihre Wirkung verstärken. Ein Wort noch zum Aufban des Ganzen: der 1. Band enthält die »klassische« griechische Literatur von Homer bis zu Aristoteles (t 322 v. Chr.). Dabei kommt zustatten, daß im Verlauf dieses halben Jahrtausends die einzelnen Literaturgattungen von der epischen Dichtung eines Homer bis zur wissenschaftlichen Prosa eines Aristoteles sich im Einklang mit der Entwicklung des Menschen zu seiner Selbstfindung fast planmäßig — die eine aus der anderen — entwikkelt haben. Der 2. Band enthält die griechische Literatur der »hellenistischen«, nachklassischen Periode und die römische der gleichen Zeit von etwa 30o v. Chr. bis hin zum Kaiser Augustus und damit bis zur Schwelle der nunmehr »klassischen« lateinischen Literatur, also jeII
ner Zeit, in der sich Griechisches und Römisches im Anregen und Empfangen gegenseitig befruchtet haben. Der 3. Band setzt mit der augusteischen Klassik ein und führt nunmehr in rein chronologischer Reihung bis zum Ende des Altertums an der Wende vom S. zum 6. Jahrhundert, wo die Grundlage zum Mittelalter gelegt ist, das dann aus dem Wandel der politischen und sozialen Verhältnisse und durch den Sieg des Christentums etwas Neues zutagetreten läßt. Es wurde dabei versucht, durch überleitende Bemerkungen nicht nur die einzelnen Autoren vorzustellen, sondern diese auch miteinander in Zusammenhang zu bringen, so daß diese Bücher zugleich auch einen Gang durch die Geschichte der antiken Literatur darstellen. So seien Sie nun, verehrte Leserinnen und Leser, zur Lektüre dieser Bände herzlich eingeladen. Möge sich Ihnen damit ein neues — oder vielleicht vergessenes —, aber wie wir hoffen, unverlierbares Reich des Geistes und der Schönheit auftun, das Sie in Ihrem Menschsein bekräftigt und bestätigt. Der Weg ad fontes, »zu den Quellen«, war noch nie vergebens. Ludwig Voit
I2
DICHTUNG
DAS Enos Homer Am Beginn der griechischen und damit der europäischen Literatur steht Homer — mag nun eine historische Gestalt aus Chios oder aus dem Hinterland von Smyrna diesen Namen getragen haben — oder mag es ein erfundener und zugleich redender Name sein, denn »ho meros« heißt übersetzt »der Blinde«, und als »blinden Sänger« hat die Kunst der Antike den Dichter stets dargestellt. Wie dem auch sei: jedenfalls darf man unter dem Namen »Homer« jenen Mann verstehen, der im B. Jahrhundert v.Chr. endgültig die wandernden Hel-
denlieder einer halb-mythischen Vorzeit zu kunstvollen »Epen«, erzählenden Gedichten im Versmaß des »heroischen« Hexameters, zusammengefügt hat, die wir als »Homers Ilias« und »Homers Odyssee» kennen, beide jeweils in 24 »Gesänge« aufgegliedert. Wenn auch die Art und Weise, wie sich die einzelnen Bestandteile oder Blöcke zum größeren Ganzen geordnet haben, strittig ist: am Ende stehen doch zwei großartig konzipierte Werke, die wir getrost als künstlerische Ganzheiten lieben dürfen, so wie die ganze Antike sie bewundert hat. ILIAS Die Ilias behandelt den — auf der Grundlage historischer Ereignisse zu Ende des 2. Jahrtausends dichterisch ausgeformten — Kampf der Griechen oder Achaier um Troja oder Ilios (Ilion), jene Stadt, deren mächtige Ruinen wir heute noch am südlichen Eingang der Dardanellen (Dardanos hieß ein uralter Ahnherr der Trojaner) besuchen können: ostwärts vom Kap Sigeion, dort, wo der größere Skamander (Xanthos) und der bescheidene Simoeis zusammenfließen, um sich bald darauf an der Stelle etwa, wo die Griechen gelandet waren und ihr Schiffslager aufgeschlagen hatten (6 km von Troja entfernt), heute noch wie einst gemeinsam ins Meer zu ergießen. Und heute noch betritt der Reisende das Gelände der Stadt durch einen der nach »links« gebogenen Torgänge, und eben dies, diese «LinksI
3
biegung«, ist wohl gemeint, wenn bei Homer das Haupttor der Stadt das »Skaiische Tor« genannt wird. — Von dem »Kampf um Troja« also berichtet die Ilias. Aber: Homers Ilias schildert -- wie bereits die Einleitungsverse ausdrücklich besagen -- nicht das ganze leidvolle Geschehen um Troja, sondern nur eine auf wenige Tage geraffte Episode: den Zorn des Helden Achilleus und seine für die Griechen wie für ihn selber schmerzlichen Folgen. Indes Vor- und Rückverweise, Prophezeiungen und Andeutungen lassen doch Anfang und Ende des ganzen Kampfes deutlich genug erkennen: der Fall Hektors, des edelsten Priamossohnes und Vorkämpfers der Trojaner, durch die Hand des Achilleus besiegelt zugleich das Ende der Stadt.
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Totenklage. Geometrische Amphora
4
Hektors Abschied von seiner Gattin Andromache Als nun Hektor zum skaiischen Tor und zur Eiche gelangt war, Da umringten ihn gleich die troischen Weiber und Töchter, Welche nach Söhnen ihn fragten und Anverwandten und Brüdern Und den Gemahlen. Er mahnte sie drauf, zu den Göttern zu flehn. Alle der Reihe nach; doch vielen war Jammer beschieden. Aber sobald er zu Priamos' prächtigem Hause gekommen, Das mit geglätteten Hallen geschmückt war, — aber im Innern Waren fünfzig Gemächer aus schöngeglättetem Steine Dicht aneinander gebaut; es ruhten drinnen des Königs Priamos Söhne, und jedem zur Seite die Ehegemahlin; Aber den Töchtern waren zur anderen Seite des Hofes Zwölf gedeckte Gemächer aus schöngeglättetem Steine Dicht aneinander gebaut; es ruhten drinnen des Königs Priamos Eidame, jedem zur Seite die züchtige Gattin — Dort nun trat ihm entgegen die gütig spendende Mutter, Welche Laodike führte, die holdeste unter den Töchtern, Nahm ihn gleich bei der Hand und redete, also beginnend: Warum kommst du, mein Kind, und verließest das wilde Getümmel? Hart wohl drängen sie uns, die verwünschten Söhne Achaias, Dort im Kampf um die Stadt, daß nun dein Herz dich hierhertrieb, Deine Hände zu Zeus empor von der Burg zu erheben? Warte nur, bis ich den Wein, den honigsüßen, dir bringe, Daß du Zeus, dem Vater, zuerst und den anderen Göttern Sprengest und dann auch selber des Labetrunks dich erfreuest. Denn dem ermatteten Mann ist der Wein ja kräftige Stärkung, So wie du dich ermattet hast, die Deinigen schirmend. Ihr entgegnete drauf der helmumflatterte Hektor: Hole mir nicht den süßen Wein, ehrwürdige Mutter, Daß ich entkräftet nicht des tapferen Mutes vergesse. Ungewaschener Hand des funkelnden Weines zu sprengen Scheu' ich mich; nimmer geziemt es, den schwarzumwölkten Kronion Anzuflehen, mit Blut und Kampfesstaube besudelt. Du aber steige zum Tempel der beutegewohnten Athene Jetzt mit Opfern empor, die würdigsten Weiber versammelt, Und das Gewand, so dir das köstlichste scheint und das größte Dort im Palaste, zugleich von allen das liebste dir selber, Dieses leg' auf die Kniee der schöngelockten Athene,
15
Und gelob' in dem Tempel ihr zwölf untadlige Rinder, Jährig und ausgewachsen, zu opfern, wenn sie der Stadt sich Und der troischen Frauen und zarten Kinder erbarmet; Wenn sie des Tydeus Sohn von der heiligen Ilios abwehrt, Jenen stürmischen Krieger, der Flucht gewalt'gen Erreger. Auf denn, steige zum Tempel der beutegewohnten Athene, Während ich selbst zu Paris eile, diesen zu rufen, Ob er vielleicht noch achte des Redenden. O daß die Erde Gleich ihn verschläng'! Ihn erzog zum Verderben der Gott des Olympos Trojas Volke, dem Priamos selbst und den Söhnen des Herrschers. Säh' ich jenen hinab ins Reich des Aides steigen, Dann vergäß' ich im Herzen der unerfreulichen Drangsal! Also sprach er; die Mutter enteilte zum Hause und sandte Mägde, die gleich in der Stadt die würdigsten Frauen beriefen. Selbst dann stieg sie hinab in die lieblich duftende Kammer, Wo sie die schönen reichbestickten Gewande verwahrte, Werke sidonischer Fraun, die der göttliche Held Alexandros Selbst aus Sidon gebracht und über die Wogen geleitet, Als er Helena eben entführte, die edelgeborne. Deren entnahm jetzt Hekabe eins zum Geschenk für Athene, Welches das größte war und das am schönsten gestickte; Hell wie ein Stern, so strahlt' es und lag zu unterst von allen. Eilend ging sie, begleitet von vielen würdigen Frauen. Als sie nun, hoch auf der Burg, den Tempel Athenes erreichten, Öffnete ihnen die Pforte die anmutsvolle Theano, Kisses' Tochter, die Gattin des Rossebezähmers Antenor, Welche die Troer geweiht zur Priesterin Pallas Athenes. Klagend erhoben sie alle die Hände zur Göttin Athene. Aber es nahm das Gewand die anmutsvolle Theano, Legte es dar auf die Kniee der schöngelockten Athene. Betend flehte sie drauf zu Zeus', des gewaltigen, Tochter: Stadtbeschirmerin Pallas Athene, herrlichste Göttin! Ach, zerbrich doch den Speer Diomedes', aber ihn selber Laß vor dem skaiischen Tore dort niederstürzen aufs Antlitz! Daß wir im Tempel sogleich nun zwölf untadlige Rinder, Jährig und ausgewachsen, dir opfern, wenn du der Stadt dich Und der troischen Frauen und zarten Kinder erbarmest. Also flehte sie; aber Athene versagte die Bitte. Während sie also flehten zu Zeus', des gewaltigen, Tochter, War der herrliche Hektor zum Hause des Paris gekommen, Iú
Das er selbst sich erbaut mit Männern, welche die besten Zimmerer damals waren in Trojas Schollengefilde. Diese hatten ihm nahe bei Hektors und Priamos' Wohnung, Hoch auf der Burg die Halle, den Hof und die Kammer bereitet. Hier ging Hektor hinein, der göttliche; fest in der Rechten Hielt er den Speer, elf Ellen an Länge, und vorn an dem Schafte Blinkte die eherne Spitze, umlegt mit goldenem Ringe. Jener war im Gemache bemüht um die stattlichen Waffen, Panzer und Schild, und prüfte die Krümmung des mächtigen Bogens. Aber Helena saß inmitten der dienenden Weiber Und ermahnte die Mägde zu schaffen am künstlichen Werke. Als ihn Hektor erblickte, da schalt er mit schmähenden Worten: O du Verblendeter, wenig ziemt es dir, also zu grollen! Siehe, die Völker verschwinden im Kampf um die Stadt und die Mauer; Deinetwegen jedoch ist Feldgeschrei und Getümmel Rings entbrannt um die Feste! Du selbst wohl zanktest mit jenem, Welchen du etwa säumig fändest zum furchtbaren Kampfe. Auf denn, ehe die Stadt vom lodernden Feuer verzehrt wird! Ihm erwiderte drauf der göttliche Held Alexandros: Hektor, dieweil du gebührend, nicht ungebührend mich tadelst, Darum sag' ich dir an, doch du vernimm es und höre: Keineswegs auf die Troer so aufgebracht und erbittert, Sag ich hier im Gemache; zum Grame nur wollt' ich mich wenden. Jetzt aber hat mich die Gattin mit freundlichen Worten beredet Und zum Kampfe gespornt: auch dünkt es also mir selber Künftig besser zu sein; denn wechselnd siegen die Männer. Harre nur jetzt, ich will in die Waffenrüstung mich werfen, Oder geh, so folg' ich und hoffe dich bald zu erreichen. Nichts erwiderte drauf der helmumflatterte Hektor, Aber Helena sprach ihm zu mit schmeichelnden Worten: O du Schwager des hündischen, unheilstiftenden Weibes! Hätte doch jenes Tags, sobald mich die Mutter geboren, Ungestüm ein Orkan mich entführt auf ein odes Gebirge Oder hinab in die Wogen des stürmisch brandenden Meeres, Wo mich die Woge verschlang, noch ehe solches geschehen! Aber nachdem das Ubel im Rate der Götter bestimmt ward, Wäre ich wenigstens doch des besseren Mannes Gemahlin, Welcher empfände die Schmach und die kränkenden Reden der Menschen!
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Dieser indes ist zaghaft jetzt und wird es in Zukunft Immer sein; doch wird er dafür die Früchte noch ernten! Aber so komm doch herein und setze dich hier auf den Sessel, Schwager, dieweil dein Herz am meisten von Sorge bedrängt wird Ober mich hündisches Weib und die Freveltat Alexanders: Welchen Zeus ein trauriges Los bestimmte, damit wir Künftig im Liede noch leben der kommenden Menschengeschlechter! Ihr entgegnete drauf der helmumflatterte Hektor: Heiße mich, Helena, nicht so freundlich sitzen; ich darf nicht. Denn es treibt mich der stürmische Mut, den Troern zu helfen, Welche so sehnsuchtsvoll nach mir, dem Entfernten, verlangen. Du aber sporne mir diesen nur an, auch eil' er sich selber, Daß er mich noch erreiche, solang ich im Innern der Stadt bin. Denn auch ich will heimwärts gehen, auf daß ich begrüße Mein Gesinde, den zarten Sohn und die teure Gemahlin. Denn wer weiß, ob ich wieder zurück zu den Meinigen kehre, Oder ob gleich durch der Danaer Hand mich die Götter bezwingen. Als er dieses gesagt, enteilte der mächtige Hektor Und war bald an die Pforte des wohnlichen Hauses gekommen. Aber er fand die holde Andromache nicht im Gemache, Sondern mitsamt dem Kind und der wohlgeschmückten Gefährtin Stand sie hoch auf dem Turme und jammerte, seufzend und weinend. Als nun Hektor die herrliche Gattin daheim nicht gefunden, Schritt er zur Schwelle hinan und rief den Mägden des Hauses: Auf ihr Mägde, verkündet mir gleich die lautere Wahrheit. Wohin ging die holde Andromache aus dem Gemache? Ist sie zu Schwestern des Manns, zu den stattlichen Frauen der Schwäger, Oder zum Tempel Athenes geeilt, wo grade die andern Lockigen Troerinnen die schreckliche Göttin versöhnen? Ihm erwiderte drauf die emsige Schaffnerin also: Hektor, da du so sehr uns drängst, die Wahrheit zu künden, Nicht zu den Schwestern des Manns noch den stattlichen Frauen der Schwäger, Oder zum Tempel Athenes enteilte sie, wo auch die andern Lockigen Troerinnen die schreckliche Göttin versöhnen, Sondern sie stieg zum Turme von Ilios, weil sie vernommen, Daß die Achaier mit Übermacht die Troer bedrängten. Eben ist sie zur Mauer mit eilenden Schritten gegangen, 1ó
Einer Rasenden gleich, und die Wärterin trägt ihr das Kind nach. Also sprach sie; doch Hektor enteilte stürmisch dem Hause, Wieder zurück des nämlichen Wegs durch die prangenden Gassen. Als er das skaiische Tor im Lauf durch die mächtige Feste Jetzt erreicht', um dort hinaus ins Feld zu gelangen, Kam die begüterte Gattin Andromache eilenden Schrittes Gegen ihn her, des hochgemuten Eëtion Tochter: Dieser, Eëtion, wohnte am waldigen Hange des Plakos, Unter dem Plakos in Thebe, Kilikiens Männer beherrschend; Dessen Tochter besaß der eherne Hektor zum Weibe. Diese begegnet' ihm jetzt. Und die Dienerin, welche ihr folgte, Trug an der Brust das muntre, noch unbehilfliche Knäblein, Hektors einzigen Liebling, dem schimmernden Sterne vergleichbar. Hektor nannte den Sohn Skamandrios, aber die andern Nannten Astyanax ihn, weil Hektor Ilion schirmte. Siehe, mit Lächeln blickte der Vater still auf das Knäblein; Aber neben ihn trat Andromache, Tränen vergießend, Nahm ihn gleich bei der Hand und redete, also beginnend: Unglücksel'ger, dich tötet dein Mut noch, und du erbarmst dich Nicht des stammelnden Kindes noch meiner, des elenden Weibes, Bald nun Witwe von dir, denn dich morden gar bald die Achaier, Gegen dich alle vereint! Für mich wohl wäre das beste, Deiner beraubt, in die Erde zu sinken; bleibt mir doch sonst kein Anderer Trost, wenn du selbst dein trauriges Schicksal vollendest, Sondern Weh! Und ich habe nicht Vater noch sorgende Mutter! Meinen Vater erschlug ja der göttliche Streiter Achilleus Und zerstörte die wohlbevölkerte Stadt der Kiliker, Thebe mit ragendem Tor; den Eëtion selber erschlug er, Ohne die Waffen zu rauben, denn solches scheut' er im Herzen; Nein, er verbrannte den Helden mitsamt der künstlichen Rüstung, Häufte darüber ein Mal, und rings umpflanzten mit Ulmen Bergbewohnende Nymphen, Kronions Töchter, die Stätte. Sieben Brüder besaß ich daheim in unserm Palaste, Welche des nämlichen Tages ins Reich des Hades entwichen; Denn sie tötete alle der herrliche schnelle Achilleus Unter schleppenden Rindern und Schafen in schimmernder Wolle. Meine Mutter, die Fürstin am waldigen Hange des Plakos, Führte er zwar hierher mit anderer Beute des Krieges, Doch befreit' er sie wieder und nahm unendliche Buße. Aber sie starb durch Artemis' Pfeil im Palaste des Vaters. Hektor, siehe, du bist mir Vater und waltende Mutter 19
Und auch Bruder zugleich, du bist mein blühender Gatte! Ach, erbarme dich doch und bleib jetzt hier auf dem Turme! Mache nicht zur Waise das Kind und zur Witwe die Gattin! Stelle das Heer zum Feigenbaume, denn dort ist die Feste Leichter als sonst zu ersteigen, und frei die Mauer dem Angriff. Dreimal haben ja dort es versucht die tapfersten Krieger, Welche den beiden Ajas, dem hehren Idomeneus folgten, Atreus' Söhnen sowie dem streitbaren Sohne des Tydeus; Ob nun diesen vielleicht ein kundiger Seher es anriet, Oder auch selbst ihr Herz aus eigener Regung sie spornte. Ihr erwiderte drauf der helmumflatterte Hektor: Mich auch kümmert das alles, mein Weib, allein ich verginge Wohl in Scham vor den Troern und Frauen in Schleppengewändern, Wenn ich hier wie ein Feiger entfernt vom Kampfe mich hielte. Das verbietet mein Herz, denn ich lernte, tapferen Mutes Immer zu sein und unter den ersten der Troer zu kämpfen, Schirmend zugleich des Vaters erhabenen Ruhm und den meinen! Das zwar weiß ich gewiß in meinem Geist und Gemüte: Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt, Priamos selbst und das Volk des lanzenkundigen Königs. Doch nicht kümmert mich so der Troer künftiges Elend, Weder des Priamos Leid, noch das der Hekabe selber Und der leiblichen Brüder, die dann, so tapfer, in Scharen Niedersinken im Staub, von feindlichen Händen getötet, Als wie deins, wann einer der erzumschirmten Achaier Dir den Tag der Freiheit raubt und die Weinende wegführt; Wenn du in Argos webst für die fremde Gebieterin oder
Wasser trägst aus dem Quell Hypereia oder Messeïs, Unwillig zwar, doch hart vom lastenden Zwange genötigt! Jemand sagte dann wohl, die Tränenvergießende schauend: Hektors Weib war diese, des tapfersten Helden im Kampfe Unter den reisigen Troern, die dort um Ilion kämpften! Also spricht man dereinst, und neu erwacht dir der Sehnsucht Schmerz nach dem einzigen Mann, daß er wehre dem Tage der Knechtschaft! Aber es decke mich Toten der aufgeworfene Hügel, Eh' ich gehört von deinem Geschrei und deiner Entführung! Also, sprach der glänzende Held und griff nach dem Kinde; Aber zurück an den Busen der schöngegürteten Amme Schmiegte sich schreiend das Kind, erschreckt vom Anblick des Vaters, 20
Scheu vor des Erzes Glanz und der flatternden Mähne des Busches, Welchen es furchtbar winken sah von der Spitze des Helmes. Herzlich lachte der Vater darob und die zärtliche Mutter. Eilend nahm vom Haupte den Helm der strahlende Hektor, Setzte den schimmernden hin auf den Boden sogleich, und er selber Kiißte sein liebes Kind und wiegte es sanft in den Armen; Flehend sprach er darauf zu Zeus und den anderen Göttern: Zeus und ihr anderen Götter, o laßt doch dieses mein Knäblein Einst mir gleichen an strahlendem Ruhm im Volke der Troer, Auch an herrlicher Kraft, und Ilion mächtig beherrschen! Und man sage: Ja, dieser ist trefflicher noch als der Vater! Kehrt er vom Kampfe zurück, mit der blutigen Beute beladen Seines erschlagenen Feinds! Dann freue sich herzlich die Mutter! Also sprach er und legt' in die Arme der liebenden Gattin Seinen Sohn, und sie drückt' ihn an ihren duftenden Busen, Unter Tränen noch lächelnd; ihr Gatte, von Mitleid ergriffen, Steichelte sie mit der Hand und redete, also beginnend: Armes Weib, nicht mußt du zu sehr mir im Herzen dich grämen! Gegen das Schicksal wird keiner hinab zum Hades mich senden. Doch dem Verhängnis entrann wohl nie der Sterblichen einer, Edel oder gering, nachdem er einmal gezeugt ward. Aber nun geh ins Haus, besorge du deine Geschäfte, Spindel und Webestuhl, und mahne die dienenden Mägde, Fleißig am Werke zu sein. Der Krieg sei Sorge der Männer Aller, und meine zuerst, die hier aus Ilios stammen. Also der glänzende Held, und hob den buschigen Helm auf; Schon aber war sie nach Hause geeilt, die liebende Gattin, Häufig zurück sich wendend und quellende Tränen vergießend. Bald erreichte sie nun die schöne, prangende Wohnung Hektors, des Männermörders, und traf die Mägde versammelt Dort im Gemach, und allen erweckte sie Jammer und Klage. Lebend noch ward Hektor beweint in seinem Palaste, Denn sie glaubten, er würde schon nimmer zurück aus dem Kampfe Kehren und nimmer den Händen der starken Achaier entrinnen. Paris auch zauderte nicht im hochgebauten Palaste, Sondern, sobald er in Waffen von schimmerndem Erz sich gerüstet, Eilt' er dahin durch die Stadt, den hurtigen Füßen vertrauend. Wie wenn im Stall ein Roß, vom reichlichen Futter gesättigt, Mutig die Halfter zerreißt und stampfend über das Feld eilt, Hin zum gewohnten Bade im lieblich strömenden Flusse, Strotzend von Kraft, mit erhobenem Haupt, es flattert die Mähne 2I
Um die Schultern, und stolz im feurigen Glanze der Jugend Tragen die Schenkel es leicht zum vertrauten Gefilde der Weide: Also eilte des Priamos Sohn von Pergamos nieder, Paris, leuchtend im Schmucke der Waffen, der Sonne vergleichbar, Freudigen Muts, es flogen die Schenkel ihm; eilend erreicht' er Hektor nun, den erhabenen Bruder, welcher sich eben Wandte vom Ort, wo er traulich mit seinem Weibe geredet. Und als erster begann der göttliche Held Alexandros: Lieber, zu lang schon hemmt' ich den stürmenden Eifer dir wahrlich Durch mein Säumen und kam nicht zur Stunde, wie du gebotest. Ihm entgegnete drauf der helmumflatterte Hektor: Tor, es darf dir schwerlich ein Mann, der Billigkeit achtet, Tadeln die Werke der Schlacht, dieweil du ein tapferer Held bist. Oft nur säumest du gern und willst nicht; es kränkt mich im Herzen Bitterlich, über dich dann die schmählichen Reden zu hören Unter dem troischen Volk, das um dich so manches erduldet. Komm! Dies machen wir gut, wenn Zeus uns künftig noch einmal Gönnen sollte, des Himmels unendlich waltenden Göttern Hinzustellen im Hause den Krug zum Dank für die Rettung, Weil wir die hellumschienten Achaier verjagten aus Troja. Die Bittgesandtschaft an Achilleus Es steht — am zweiten Tag des Kampfes — schlecht um die Griechen, weil sich Achilleus im Zorn gegen Agamemnon, von dem er sich entehrt fühlt, vom Kampfe fernhält. So beschließen die Griechen, Achilleus zu bitten, seinen Groll zu bezwingen und wieder in den Kampf einzugreifen. Also wachten die Troer vor Ilios. Doch die Achaier Lähmte die schmähliche Flucht, des grausamen Schreckens Genossin; Unerträglicher Schmerz durchdrang die Tapfersten alle. Wie die Winde die fischdurchwimmelten Fluten erregen, Nord und West, wann beide herüber vom thrakischen Lande Jählings nahn mit Gewalt, und gleich die dunkele Woge Hoch sich türmt, ans Gestade spülend Haufen von Seegras: Also ward im Busen das Herz der Achaier zerrissen. Atreus' Sohn, das Gemüt von heftigem Grame verwundet, Schritt umher und befahl den Boten von tönender Stimme, Jeglichen Mann mit Namen zur Ratsversammlung zu rufen, 22
Ohne Geschrei; er selbst war unter den ersten geschäftig. Da sie voller Betrübnis versammelt saßen, erhob sich Tränen vergießend der Held Agamemnon, dem dunklen Quell gleich, Der sein trübes Gewässer vom steilen Felsen herabgießt. Also seufzte er tief und sprach zu den Männern von Argos: Freunde, des Volkes von Argos erhabene Fürsten und Pfleger, Zeus, der Kronide, verstrickte mich doch in schwere Verblendung! Ach der Grausame, welcher mir einst versprach und gelobte, Erst nach Hause zu kehren, wenn Ilios' Feste gesunken. Jetzt aber sann er verderblichen Trug und heißet mich ruhmlos Wieder gen Argos ziehen, nachdem viel Volks mir verloren. Also gefällt's nun wohl dem hocherhabnen Kronion, Der schon vielen Städten das Haupt zu Boden gebeugt hat Und auch beugen noch wird, denn er ist mächtig vor allen. Aber wohlan, wie ich rede, so wollen wir alle gehorchen: Laßt uns fliehn in den Schiffen zum teuren Lande der Väter; Nie erobern wir doch die weitdurchwanderte Troja! Also sprach Agamemnon, und alle verstummten und schwiegen. Lange verharrten so die Achaier voll tiefer Betrübnis. Endlich begann vor ihnen der Rufer im Streit Diomedes: Gleich, Agamemnon, muß ich dein törichtes Wort doch bekämpfen, Wie es gebührt, o König, im Rat; drum zürne mir ja nicht. Zwar mir schmähtest du jüngst die Tapferkeit vor den Achaiern, Kraftlos sei ich und feig, so sagtest du, aber das alles Wissen Achaias Söhne, die Jungen sowohl wie die Greise. Dir gab eins nur von beiden der Sohn des verschlagenen Kronos: Nur durch die Macht des Zepters geehrt zu werden vor allen, Aber Standkraft gab er dir nicht, die edelste Stärke. O du Verblendeter, glaubst du denn wirklich, die Männer Achaias Wären alle so feig und kraftlos, wie du gesagt hast? Doch wenn dir selber das Herz so eifrig drängt nach der Heimkehr, Wandere! frei ist der Weg, und die Schiffe sind nahe beim Meere Aufgestellt, die in Menge dir tiergefolgt von Mykene. Aber die andern bleiben, die hauptumlockten Achaier, Bis wir Priamos' Feste zerstört! Und wollen auch diese, — Wohl, so mögen sie fliehn in den Schiffen zum Lande der Väter! Ich und Sthenelos aber, wir kämpfen, bis wir das Schicksal Ilios' endlich gefunden; uns hat ein Gott ja geleitet! Also sprach er, da jauchzten ihm zu die Männer Achaias, Voller Bewunderung über die Rede des reisigen Helden. 23
Unter ihnen erhob sich und sprach der reisige Nestor: Tydeus' Sohn, wohl bist du der tapferste Krieger im Schlachtfeld, Auch im Rate der beste von deinen Altersgenossen. Keiner mag dein Wort mißachten von allen Achaiern, Noch dawider dir sprechen; nur kamst du nicht völlig zum Ende. Zwar noch bist du ein Jüngling und könntest selber mein jüngster Sohn auch sein an Geburt, allein du sprichst mit Verstande Unter den Füsten des Heers, dieweil du gebührend geredet. Aber wohlan, ich selber, der höherer Jahre sich rühmet, Will nun reden und alles durchforschen; schwerlich auch wird mir Einer die Rede verschmähn, auch nicht Agamemnon, der Herrscher. Ohne Geschlecht und Gesetz und ohne Heimat ist jener, Welcher Gefallen findet am grausamen Bürgerkriege! Auf, und laßt jetzt alle der finsteren Nacht uns gehorchen Und das Mahl uns bereiten. Allein die Wächter des Heeres Mögen, ein jeder, sich lagern am Graben außer der Mauer. Solches trag' ich den Jünglingen auf. Doch du, Agamemnon, Schreit' uns allen voran; denn du bist oberster Herrscher. Gib uns Alten ein Mahl, ein gebührendes, wie es dir ansteht. Deine Zelte sind voll des Weins, den der Danaer Schiffe Täglich über das weite Meer aus Thrakia bringen; Alle vermagst du reich zu bewirten, du Herrscher der Völker. Sind aber viele versammelt, so folge dem, welcher den besten Rat zu raten vermag; denn alle Achaier bedürfen Guten, verständigen Rats, weil nahe den Schiffen die Feinde Reichliche Feuer brennen; und wer mag dessen sich freuen? Diese Nacht wird das Heer vernichten oder bewahren! Also der Greis; da hörten sie aufmerksam und gehorchten. Schnell enteilten die Wächter, in Waffen gerüstet, dem Lager: Ihnen voran des Nestor Sohn Thrasymedes, der Herrscher, Ferner Askalaphos samt Ialmenos, Söhne des Ares, Dann Meriones, auch Deïpyros, ferner Aphareus, Endlich Kreions erhabener Sohn, der Held Lykomedes. Sieben führten die Wächter an, und jeglichem folgten Hundert Jünglinge nach, in den Händen die ragenden Speere. Mitten zwischen Graben und Mauer saßen sie nieder; Dort entflammten sie Feuer und rüsteten jeder das Nachtmahl. Atreus' Sohn aber führte die würdigsten Männer Achaias Alle zusammen ins Zelt und bewirtete reichlich die Gäste, Und sie erhoben die Hände zum zubereiteten Mahle. 24
Achilleus und Patroklos
Aber nachdem die Begierde nach Trank und Speise gestillt war, Da begann als erster der Greis einen Plan zu enthüllen, Nestor, der schon früher am besten immer geraten; Dieser begann mit Bedacht und redete vor der Versammlung: Atreus' mächtigster Sohn, du Völkerfürst Agamemnon, Schließen will ich bei dir und beginnen, weil du so vielen Völkern gebietest als Herr, und Zeus dir selber des Zepters Macht und Gerechtsame gab, auf daß du alle beratest. Drum ziemt dir's vor allen zu reden ein Wort und zu hören, Auch zu erfüllen, wem sonst von den andern das Herz es gebietet, Ernst zum Guten zu reden, denn dir gehört die Entscheidung. So will ich denn sagen, wie mir's am besten zu sein dünkt. Denn kein anderer mag wohl besseren Rat noch ersinnen, Als mein Herz ihn bewegt, schon vormals, aber noch heute, Seit dem Tag, da du, Liebling des Zeus, die schone Briseïs Aus dem Zelte dem zürnenden Peleussohne geraubt hast, Nicht nach unserem Sinne fürwahr, denn ich habe mit großem
Ernste dir abgeraten. Doch übermütigen Geistes, Hast du den tapfersten Mann, den selbst die Unsterblichen ehrten, Schmählich entehrt, denn du nahmst sein Geschenk ihm. Aber auch
Jetzt noch Sinnt umher, wie wir etwa sein Herz zur Versöhnung bewegen Durch gefällige Gaben und sanft beruhigende Worte. Ihm entgegnete drauf der Herrscher des Volks Agamemnon: 25
Greis, nicht unwahr hast du mir meine Verblendung geschildert. Ja, ich fehlte und leugn' es auch nicht! Wohl viele der Völker Wiegt ein einzelner auf, den Zeus im Herzen erwählt hat: Wie er diesen jetzt ehrt und schlug das Volk der Achaier. Aber nachdem ich in leidigem Eigensinn mich vergangen, Will ich ihn wieder versöhnen und biete unendliche Buße. Vor euch allen will ich die herrlichen Gaben benennen: Zehn Talente von Gold und sieben dreifüßige Kessel, Ungeschwärzt von Feuer, und zwanzig schimmernde Becken, Zwölf der kräftigsten Rosse, gekrönt mit Preisen des Wettlaufs. Nicht besitzlos wäre der Mann noch dürftig an Schätzen Hochgepriesenen Goldes, dem so viel würde zu eigen, Als mir Siegespreise gewannen die stampfenden Rosse. Sieben Weiber auch geb' ich, erfahren in zierlicher Arbeit, Lesbische Fraun; als er selber die prangende Lesbos erobert, Wählt' ich sie, welche die sterblichen Weiber an Reizen besiegten. Diese will ich ihm geben; auch sei die Geraubte darunter, Briseus' blühende Tochter; mit heiligem Eide beschwör' ich, Daß ich nie ihr Lager geteilt, noch l e ihr genaht bin, Wie im Geschlechte der Menschen die Männer den Weibern sich nahen. Alles empfang' er sogleich. Doch sollten die Götter gewähren, Daß wir die mächtige Feste des Priamos endlich erobern, Reichlich mag er sein Schiff mit Gold und Erz dann belasten, Mag auch, wann wir Achaier die Siegesbeute verteilen, Nahen und unter den troischen Frauen sich zwanzig erwählen, Die nach Helena selbst die allerschönsten erscheinen. Sind wir zurück im achaiischen Argos, dem strotzenden Lande, Soll er mein Eidam sein, und ich ehr' ihn gleich dem Orestes, Der, mein einziger Sohn, erblüht in freudiger Fülle. Drei der Töchter besitz' ich im festgebauten Palaste: Deren wähl' er sich eine, Chrysothemis, Iphianassa, Oder Laodike auch, und führe umsonst die Erkorne Heim in des Peleus Haus; dazu noch geb' ich den reichen Brautschatz, mehr als je ein Mann der Tochter gegeben. Sieben reichbevölkerte Städte will ich ihm schenken: Enope, Kardamyle sodann, und die grünende Hire, Pherai, die heilige Burg, und die Wiesengründe Antheias, Auch die schöne Aipeia und Pedasos' Rebenhügel. Alle sind nah' am Meere, begrenzt von der sandigen Pylos, Und es bewohnen sie Männer, begütert an Schafen und Rindern, 26
Welche ihn wohl mit Geschenken, wie einen Unsterblichen, ehrten Und, vom Zepter beherrscht, ihm steuerten reichliche Schatzung. Alles bring' ich ihm dar, sobald er den Zorn überwunden. Mög' er sich zähmen! — Hades allein ist hart und unbeugsam, Aber den Sterblichen auch der verhaßteste unter den Göttern. — Beugen sollt' er sich nur, soweit ich höher an Macht bin, Und soweit ich älter zu sein an Jahren mich rühme. Ihm entgegnete drauf der gerenische reisige Nestor: Atreus' mächtiger Sohn Agamemnon, Gebieter der Männer, Nicht verächtliche Gaben gewährst du dem Herrscher Achilleus. Auf denn, laßt uns erlesene Boten entsenden, die eilend Hmgehn mögen zum Zelte des Peleussohnes Achilleus. Oder wohlan, ich wähle sie aus, dann mögen sie folgen. Phoinix geh' als Führer voran, der Liebling Kronions, Drauf der mächtige Ajas zugleich mit dem edlen Odysseus. Odios und Eurybates mögen als Herolde mitgehn. Sprengt nun die Hände mit Wasser und mahnt zur Stille der
Andacht, Daß wir flehen zu Zeus, dem Kroniden, ob er sich erbarme. Also sprach er, und allen gefiel die Rede des Greises. Eilend gossen die Herolde Wasser über die Hände, Jünglinge füllten die Mischgefäße mit Wein bis zum Rande, Spendeten erst und verteilten darauf an alle die Becher. Aber nachdem sie gesprengt und nach Herzenswunsche getrunken, Eilten sie fort aus dem Zelte des Atreussohns Agamemnon. Viel ermahnte sie noch der greise gerenische Nestor, Jedem einzelnen winkend, besonders aber Odysseus, Daß sie mit Eifer versuchten, den Peleussohn zu gewinnen. Beide gingen am Ufer entlang des brausenden Meeres, Beteten laut und flehten zum Erdumgürter Poseidon, Daß sie leicht nun gewännen den hohen Sinn des Achilleus. Als sie die Zelte und Schiffe der Myrmidonen erreichten, Fanden sie ihn, wie er grade sein Herz an der künstlichen, schönen, Klingenden Leier vergnügte, geschmückt mit silbernem Stege, Die er gewonnen, nachdem er Eëtions Feste vernichtet. Damit erfreut' er sein Herz und besang die Taten der Männer. Patroklos saß ihm allein gegenüber in Schweigen und harrte, Bis des Aiakos Enkel sein Lied zu Ende gesungen. Beide nahten sich nun, voran der edle Odysseus; Vor ihm blieben sie stehn, und staunend erhob sich Achilleus Samt der Leier zugleich vom Sitz, auf dem er gesessen. 27
Patroklos auch erhob sich, sobald er die Männer gewahrte. Also begrüßte die beiden und sprach der schnelle Achilleus: Freude mit euch! Willkommen, ihr Teuersten! Sicherlich drängt euch Not; doch seid ihr die liebsten Achaier mir, ob ich auch zürne. Also sprach der edle Achilleus und führte sie vorwärts, Setzte sie dann auf Sessel und Teppiche, schimmernd von Purpur. Eilend sprach er darauf zu Patroklos, der ihm zur Seite: Sohn des Menoitios, stell' vor uns einen größeren Kessel, Misch uns stärkeren Wein, und jeglichem fülle den Becher; Denn die wertesten Männer sind unter mein Dach nun gekommen. Also sprach er, und Patroklos folgte dem lieben Gefährten. Selbst nun stellt' er die Fleischbank nieder im Scheine des Feuers, Legte darauf den Rücken der feisten Zieg' und des Schafes, Legt' auch des Mastschweins Schulter darauf, voll blühenden Fettes. Während Automedon hielt, zerschnitt es der edle Achilleus; Wohl zerstückt' er das Fleisch und steckt' es alles an Spieße. Mächtige Glut entfachte Menoitios' göttlicher Sprosse. Als nun die Lohe verlöscht und des Feuers Blume verwelkt war, Ordnete dieser die Kohlen und richtete drüber die Spieße, Hob sie auf stützende Gabeln und streute vom heiligen Salze. Als er nun alles gebraten und ausgebreitet auf Borden, Nahm Patroklos das Brot und verteilt' es in zierlichen Körben Ober den Tisch, doch die Stücke des Fleisches verteilte Achilleus. Dieser setzte sich gegenüber dem hehren Odysseus Hin an die andere Wand und gebot dem Gefährten Patroklos, Erst den Göttern zu opfern; der warf die Spenden ins Feuer. Und sie erhoben die Hände zum zubereiteten Mahle. Aber nachdem das Verlangen nach Trank und Speise gestillt war, Winkte Ajas dem Phoinix. Das merkte der edle Odysseus, Füllte den Becher mit Wein und hob ihn Achilleus entgegen: Heil dir, Achilleus! Es mangelt uns nicht am gebührenden Mahle, Weder dort im Zelte des Atreussohns Agamemnon, Noch auch jetzt bei dir, denn reichlich stehen die Speisen Hier zum Schmause; doch lockt uns nicht die liebliche Mahlzeit, Sondern die bittere Not, du Göttlicher, läßt uns verzagen; Zweifeln wir doch, ob den wohlgebordeten Schiffen die Rettung Oder Verderben winkt, wo du nicht mit Stärke dich gürtest! Nahe den Schiffen bereits und der Mauer drohn sie gelagert, Trojas mutige Krieger und weitberühmte Genossen; Rings entflammten sie Feuer durchs Heer, und keine Gewalt wohl 28
Hemmt sie ferner, sich über die dunklen Schiffe zu stürzen. Zeus Kronion erfreut sie durch glückverheißende Zeichen Seines Strahls, und Hektor tobt, voll wütenden Trotzes Schrecklich daher, im Vertrauen auf Zeus; sonst achtet er gar nichts, Weder Menschen noch Götter; so rast er im Taumel des Kampfes. Sehnlich wünscht er, daß bald der heilige Morgen erscheine; Denn er verheißt von den Schiffen die krönenden Schnäbel zu schlagen, Selbst sie mit flammender Glut zu verbrennen, und alle Achaier Niederzuhaun bei den Schiffen, betäubt vom Rauche des Brandes. Darum fürcht' ich in Herzensangst, es möchten die Götter Ihm die Drohung erfüllen, doch uns bestimmte das Schicksal, Hinzusterben vor Troja, entfernt von der fruchtbaren Argos. Aber wohlauf, sofern du gedenkst, die Männer Achaias Jetzt, wie spät es auch sei, zu befrein aus der Troer Getümmel! Sonst gereut es dich selbst hernach, und vergeblich ist alle Mühe, geschehenem Übel zu steuern; besinne dich lieber Vorher, wie du dem Unglückstag der Achaier begegnest. Ach, mein Freund, wie sehr ermahnte dich Peleus, der Vater, Damals, als er aus Phthia dich sandte zum Sohne des Atreus: Lieber Sohn, dir werden den Sieg Athene und Here Schenken, wenn's ihnen gefällt; nur bändige du dein erhabenes Stolzes Herz in der Brust, denn freundlicher Sinn ist besser. Meide den unheilstiftenden Zank, auf daß dich noch höher Ehre das Volk der Argeier, die Jungen sowohl wie die Alten. Also mahnte der Greis; du vergaßest es. Aber auch jetzt noch Ruh und entsage dem kränkenden Zorne! Sieh, Agamemnon Beut dir würdige Gaben, sobald du den Zorn überwunden. Willst du, so höre mich an und laß mich alles erzählen, Was dir dort im Zelte zur Gabe verhieß Agamemnon: Zehn Talente von Gold und sieben dreifüßige Kessel, Ungeschwärzt vom Feuer, und zwanzig schimmernde Becken, Zwölf der kräftigsten Rosse, gekrönt mit Preisen des Wettlaufs. Nicht besitzlos wäre der Mann, noch dürftig an Schätzen Hochgepriesenen Goldes, dem soviel würde zu eigen, Als Agamemnons Renner an Siegespreisen gewannen. Sieben Weiber auch gibt er, erfahren in zierlicher Arbeit, Lesbische Fraun; als du selber die prangende Lesbos erobert, Wählt' er sie, welche die sterblichen Weiber an Reizen besiegten. Diese will er dir geben; auch wird die Geraubte dabei sein, Briseus' blühende 'Tochter; mit heiligem Eide beschwört er, 29
Daß er nie ihr Lager geteilt, noch je ihr genaht sei, Wie bei den Menschen, Herr, die Männer den Weibern sich nahen. Alles empfängst du sogleich. Doch sollten die Götter gewähren, Daß wir die mächtige Feste des Priamos endlich erobern, Reichlich sollst du dein Schiff mit Gold und Erz dann belasten, Sollst auch, wann wir Achaier die Siegesbeute verteilen, Nahen und unter den troischen Frauen dir zwanzig erwählen, Welche nach Helena selbst die allerschönsten erscheinen. Sind wir zurück im achaiischen Argos, dem strotzenden Lande, Sollst du sein Eidam sein, und er ehrt dich gleich dem Orestes, Der, sein einziger Sohn, erblüht in freudiger Fülle. Drei der Töchter besitzt er im festgebauten Palaste: Deren wähle dir eine, Chrysothemis, Iphianassa, Oder Laodike auch, und führ umsonst die Erkorne Heim in des Peleus Haus; dazu noch gibt er den reichen Brautschatz, mehr als je ein Mann der Tochter gegeben. Sieben reichbevölkerte Städte will er dir schenken: Enope, Kardamyle sodann, und die grünende Hire, Pherai, die heilige Burg, und die Wiesengründe Antheias, Auch die schöne Aipeia und Pedasos' Rebenhügel. Alle sind nah' am Meere, begrenzt von der sandigen Pylos, Und es bewohnen sie Männer, begütert an Schafen und Rindern, Welche dich wohl mit Geschenken wie einen Unsterblichen ehrten Und, vom Zepter beherrscht, dir steuerten reichliche Schatzung. Alles brächt' er dir dar, sobald du den Zorn überwunden. Aber wenn Atreus' Sohn zu sehr dir im Herzen verhaßt ist, Er und die Gaben, erbarme dich wenigstens doch der bedrängten Andern Achaier im Heer, die dich künftig wie einen der Götter Ehrten; du würdest vor ihnen gewaltigen Ruhm dir gewinnen. Hektor fälltest du jetzt, dieweil er zu nahe dir käme, Grimmig in Kampfeswut, da er wähnt, nicht einer von allen Danaern wäre ihm gleich, die hierher trugen die Schiffe. Ihm entgegnete drauf und sprach der schnelle Achilleus: Göttlicher Sohn des Laërtes, erfindungsreicher Odysseus, Sieh, ich muß dir offen und frei die Meinung bekennen, Just wie ich's denke im Herzen, und wie's unfehlbar geschehn wird, Daß ihr mich nicht mit Gewinsel von allen Seiten bedränget. Denn ich hasse den Mann so sehr wie die Pforten des Hades, Der ein andres im Herzen verbirgt und ein anderes ausspricht. Aber ich selbst will sagen, wie mir's am besten zu sein dünkt. Weder des Atreus Sohn Agamemnon soll mich bereden, 30
Noch die anderen Danaer; Undank ward mir zuteil nur, Wenn ich unermüdlich die feindlichen Männer bekämpfte! Gleiches Los wird dem säumigen Mann und dem eifrigen Krieger, Gleicher Ehre genießt der Feigling wie der Beherzte, Auch der Müßige stirbt gleich dem, der vieles gewirkt hat. Gar nichts fruchten mir nun die Leiden, die ich erduldet, Da ich stets im Kampf zum Preise setzte mein Leben. So wie die Vogelmutter den nackenden Jungen die Atzung Herbringt, welche sie fand, nicht achtend des eigenen Hungers: Also hab' auch ich viel Nächte, ohne zu schlafen, Schon durchwacht und blutige Tage durchrungen im Kriege, Männer bekämpfend, allein um ihrer Gemahlinnen willen. Zwölf schon hab' ich zu Schiff bevölkerte Städte verwüstet, Ferner elf noch zu Fuß im troischen Schollengefilde; Und aus allen erkor ich genug des edelsten Kleinods Mir zur Beute; das brachte ich alles dem Herrn Agamemnon; Atreus' Sohn blieb hinten indes bei den hurtigen Schiffen, Nahm es an und verteilte ein weniges, vieles behielt er. Dennoch gab er den Helden und Königen Ehrengeschenke, Die noch jeder verwahrt; nur mir von allen Achaiern Raubt' er das reizende Weib und behielt es; mag er in Wollust Ihrer sich freun! Was trieb zum Krieg nur gegen die Troer Argos' Volk? Was führt' er hieher die versammelten Streiter, A treus' Sohn? War's nicht der lockigen Helena wegen? Liehen vielleicht sie allein von den sterblichen Menschen die Weiber, Atreus' Söhne? Ein jeglicher Mann, der edel und klug ist, Liebt sein eigenes Weib und pflegt es: also auch liebt' ich Jene von ganzem Herzen, obwohl mein Speer sie erbeutet. Nun er das Ehrengeschenk aus den Händen mit List mir entwunden, Mag er mich nimmer versuchen ; ich kenn' ihn und glaube kein Wort mehr! Doch, Odysseus, mit dir und den anderen Königen allen Mag er trachten, die lodernde Glut von den Schiffen zu wehren. Wahrlich, vieles bereits vollendet' er ohne mein Zutun: Schon die Mauer hat er gebaut und den mächtigen breiten Graben gezogen und eingerammt und die spitzigen Pfähle. Gleichwohl kann er die Kraft des mordenden Hektor nicht brechen! Aber solang ich selbst in den Reihen der Danaer kämpfte, Stellte sich Hektor nie zur Schlacht, entfernt von der Mauer; Höchstens kam er zum skaiischen Tor heran und der Eiche; Dort nur stand er mir einst, und kaum entging er dem Angriff. 3
Nun es mir nimmer gefällt, mit dem göttlichen Hektor zu kämpfen, Bring' ich morgen ein Opfer für Zeus und die anderen Götter, Und sobald ich die Schiffe voll Fracht in die Fluten gezogen, Alsdann siehst du, sofern du willst und solches dich kümmert, Ober den fischdurchwimmelten Hellespontos die Schiffe Gleiten im Morgenrot mit emsig rudernden Männern. Gibt mir der mächtige Erderschütterer glücklichen Fahrwind, Möcht' ich am dritten Tag zur scholligen Phthia gelangen. Vieles ließ ich daheim, bevor ich hierher gezogen; Auch von hier noch will ich an Gold und rötlichem Erze, Schöngegürteten Weibern und weißgrau schimmerndem Eisen, Nehmen, soviel ich erlost; das Geschenk nur, das er mir gegeben, Raubt' er mir wieder im Obermut, Agamemnon, der König, Atreus' Sohn! Das alles verkünd' ihm, was ich dir sage, Offen, damit auch die andern im Volk der Achaier ergrimmen, Wenn er vielleicht noch einen der Danaer hofft zu betrügen, Jener von Unverschämtheit Besessene! Schwerlich hinfort wohl Wagt er, so hündisch er ist, mir wieder zu schauen ins Antlitz! Niemals mehr vereinen wir uns zum Rat noch zum Werke! Einmal täuscht' er mich nun und frevelte; nimmer betrügt mich Wieder sein tückisches Wort; es genüg' ihm! Eil' er getrost nur Hin ins Verderben; ihm raubte der waltende Zeus die Besinnung. Seine Gaben sind mir verhaßt, und ich acht' ihn wie gar nichts. Nein, und böt' er mir zehnmal, zwanzigmal größere Güter, Als er selber besitzt, und würde mir andres zuteil noch, Böt' er sogar, was Orchomenos einbringt, oder was Thebe Hegt, Aigyptos' Stadt, wo die Häuser mit Schätzen gefüllt sind; Hundert Tore besitzt sie; durch jedes einzelne ziehen Zweimalhundert Männer mitsamt den Rossen und Wagen; Böt' er mir auch soviel, wie des Sandes Körner und Staubes, Dennoch könnt' Agamemnon mein Herz nicht eher bewegen, Als bis er abgebüßt die seelenkränkende Schmähung! Keine Tochter begehr' ich von Atreus' Sohn Agamemnon, Möchte sie auch sich messen an Reiz mit der goldenen Kypris Oder an Werken der Hand mit der strahlenden Göttin Athene; Dennoch begehr' ich sie nicht! Er wähle sich sonst von den Männern Einen, der ihm gemäß und der von höherem Range. Denn erhalten die Götter mich nur, und gelang' ich zur Heimat, Dann wird Peleus selbst gewiß die Gattin mir freien. Viel' achaiische Frauen bewohnen ja Hellas und Phthia, 32
Töchter der edelsten Fürsten, die blühende Städte beherrschen; Deren wähle ich, die mir gefällt, zur trauten Gemahlin. Oftmals trachtete dort mein mutiges Herz und verlangte, Einer Ehegenossin vermählt, der gebührenden Gattin, Mich der Güter zu freun, die Peleus, der greise, gesammelt. Nichts vergleich' ich an Wert dem Leben; weder die Schätze, Welche die reich bevölkerte Ilios barg, wie sie sagen, Einst im Frieden, bevor die Macht der Achaier sich nahte, Noch was die steinerne Schwelle des Bogenschützen beherbergt, Phoibos Apollons Schatz, in der Felsenstätte von Pytho. Wohl erbeutet man Rinder und fettgemästete Schafe, Dreifüße mag man gewinnen und Rosse mit gelblicher Mähne, Aber des Menschen Geist kehrt niemals wieder, sobald er Ober die Lippen geflohn, nie wird er gefaßt noch erbeutet. Meine göttliche Mutter, die silberfüßige Thetis, Sagt, mich führe zum Tod ein zwiefach strebendes Schicksal: Wenn ich hier noch bliebe und weiterkämpfte um Troja, Hin sei die Heimkehr dann, doch blühe mir ewiger Nachruhm. Aber kehr' ich zurück zum teuren Lande der Väter, Dann verwelke mein herrlicher Ruhm, doch lang sei des Lebens Dauer, und nicht so bald ereile das Los mich des Todes. Auch euch andere möchte ich nun beraten und mahnen, Heimzusegeln im Schiff; ihr findet ja nimmer der steilen llios Untergang, denn Zeus, der waltende Herrscher, Deckt sie mit schirmender Hand, und unverzagt sind die Völker. Ihr nun macht euch auf, den edlen Fürsten Achaias Botschaft anzusagen — die Würde der würdigsten Männer —: Daß sie anderen, besseren Rat im Herzen ersinnen, Welcher die Schiffe zugleich und das Volk der Danaer schütze Bei den geräumigen Schiffen; denn ungedeihlich ist jener, Welchen sie ausgesonnen, da ich im Zorne beharre. Phoinix indes mag hier bei uns zur Ruhe sich legen, Daß er im Schiffe mir folge zum teuren Lande der Väter Morgen, wenn's ihm gefällt; doch nicht aus Zwang soll er ziehen. Also sprach der Pelide, und alle verstummten und schwiegen, Ob der Worte betroffen, denn kraftvoll hatt' er geredet. Endlich begann vor ihnen der graue reisige Phoinix, Tränen vergießend; er fürchtete sehr für die Schiffe Achaias: Wenn du wirklich auf Heimkehr sinnst, gewalt'ger Achilleus, Und so gänzlich verschmähst, den verzehrenden Brand von den Seglern 33
Abzuwehren, dieweil sich der Zorn ins Herz dir gesenkt hat, Ach mein Kind, wie könnt' ich von dir verlassen, allein hier Bleiben? Mich sandte mit dir ja der graue reisige Peleus Damals als er aus Phthia zum stolzen Atriden dich sandte, Jung wie du warst, noch unerprobt im verheerenden Kriege, Auch in des Rates Verhandlung, darin sich Männer hervortun. Darum sandt er mich fort, um dich das alles zu lehren, Wohlberedt in Worten zu sein und rüstig in Taten. Also könnt' ich von dir, mein teures Kind, mich unmöglich Trennen, und gäbe mir auch ein ewiger Gott die Verheißung, Mich, des Alters entkleidend, zum Jüngling wieder zu wandeln, So wie ich Hellas verließ, das Land der rosigen Jungfraun, Wegen des Zwists mit dem Vater, dem Ormeniden Amyntor, Der um die schöngelockte Lagergenossin mir zürnte; Diese liebt' er allein, die eigene Gattin entehrend, Meine Mutter; sie flehte mich oft, die Knie' mir umschlingend, Doch das Weib zu beschlafen, damit es den Alten verachte. Ihr gehorcht' ich und tat's; doch gleich bemerkt' es der Vater, Fluchte mir heftig und rief die Erinyen an, die verhaßten: Niemals möchte auf seinen Knieen sitzen ein Söhnlein, Welches von mir gezeugt; und den Fluch erfüllten die Götter, Zeus in der Unterwelt und die schreckliche Persephoneia. Erst gedacht' ich den Vater mit scharfem Erze zu töten, Doch der Unsterblichen einer bezähmte mich, welcher den argen Ruf mir vorhielt unter dem Volk und die schimpflichen Reden, Daß die Achaier nicht künftig den Vatermörder mich nennten. Jetzt ertrug es mein Herz durchaus nicht länger, im Hause Dort vor dem Angesichte des zürnenden Vaters zu weilen. Zwar beschworen mich Vettern und Freunde, die mich umgaben, Heftig mit Bitten und suchten zurück mich im Hause zu halten. Viele gemästete Schafe und schleppend wandelnde Rinder Schlachteten sie, und manches vom Fette strotzende Mastschwein Spannten sie aus und sengten es über der Glut des Hephaistos; Reichlich ward auch der Wein gezecht aus den Krügen des Greises. Also ruhten sie dort bei mir neun Nächte und hielten Wechselweise die Wacht, und nie erloschen die Feuer: Eins am Tor in der Halle des festummauerten Hofes, Und auf dem Hausflur eins, vor den Türen des Ruhegemaches. Als nun aber die zehnte der finsteren Nächte gekommen, Da zerbrach ich die festverschlossene Pforte der Kammer, Eilte hinaus und schwang mich über die Mauer des Hofes, 34
Unbemerkt von den wachenden Männern und dienenden Weibern, Flüchtete dann in die Ferne durch Hellas' räumige Fluren, Bis ich zur scholligen Phthia, der Mutter der Lämmer, gelangt war, Dort, wo Peleus herrschte, der voller Güte mich aufnahm Und mich liebte, wie sonst ein Vater den einzigen teuren Spätgeborenen liebt im wohlbestellten Besitztum. Dieser machte mich reich und gab mir ein Volk zu beherrschen; Fern an der Grenze von Phthia gebot ich im Doloperlande. Dich auch macht' ich zum Manne, du göttergleicher Achilleus, Da ich von Herzen dich liebte; du wolltest ja nie mit den andern Weder zum Gastmahl gehn, noch essen daheim in der Halle, Eh' ich selber dich nicht auf meine Kniee genommen, Und die zerschnittene Speise dir bot und den Becher dir vorhielt. Oftmals hast du das Kleid an der Brust mit Wein mir begossen Welchen du ausgesprudelt in unbehilflicher Kindheit. Also hab' ich mich abgemüht und manches erduldet Deinethalb; ich bedachte, wie eigene Kinder die Götter Mir versagten, und wählte, du göttergleicher Achilleus, Dich zum Sohne, damit du mich einst beschützest vor Unheil. Zähme dein stolzes Herz! Dir ziemt es mitnichten, Achilleus, Unerbittlich zu sein; oft fügen sich selber die Götter, Die vollkommener doch und stärker und höher geehrt sind. Diese vermag durch Räucherwerk und fromme Gelübde, Opferduft und Spenden der Sterbliche umzustimmen, Unter Bitten, wenn einer gesündigt oder gefehlt hat. Denn die reuigen Bitten sind Töchter des großen Kronion; Hinkenden Fußes, runzlig, mit seitwärts schielenden Augen, Schreiten sie hinter der Schuld einher und suchen zu folgen. Aber die Schuld ist frisch und rüstig zu Fuß, denn allen Läuft sie voraus und bringt auf der ganzen Erde Verwirrung Unter die Menschen zuerst, und jene folgen mit Sühne. Wer den nahenden Töchtern des Zeus mit Ehrfurcht begegnet, Diesem helfen sie wohl und hören auf seine Gebete. Doch wenn einer sie von sich stößt und trotzig sich weigert, Alsdann kommen sie gleich zu Zeus Kronion und bitten, Daß ihm folge die Schuld, damit er büße durch Schaden. Drum, Achilleus, biet auch du den Töchtern Kronions Ehre, wie sie den Sinn auch andrer Helden verwandelt. Denn wofern er nicht Gaben dir böte und künftig verhieße, Atreus' Sohn, vielmehr in hitzigem Grolle beharrte, Nie wohl hieß' ich vom Zorne dich lassen, um den Argeiern 35
Schutz in der Not zu gewähren, wie sehr sie deiner bedürften. Jetzt aber gibt er dir vieles gleich, und andres verheißt er, Sandte dir auch, dich anzuflehen, die edelsten Männer Die er in Argos' Volk erwählte, weil sie die liebsten Aller Achaier dir sind. Vereitle du ihnen den Gang nicht, Noch die Rede. Gewiß, dein Zorn war nicht zu verargen. Also hörten wir auch von den früheren Helden erzählen, Wann sich einer vielleicht ereifert hatte zum Zorne; Doch sie ließen durch Gaben und Worte sich wieder versöhnen. Einer Tat gedenk' ich, vor alten Zeiten geschehen, Nicht von gestern; ich will sie vor euch, ihr Lieben, berichten: Mit den Kureten stritten die kühnen Aitolerhelden Einst um Kalydons Stadt, und sie raubten einander das Leben; Denn die Aitoler kämpften für Kalydons liebliche Feste, Weil das Volk der Kureten sie auszurotten verlangte. Jenen sandte die goldenthronende Artemis Unheil, Zürnend, daß Oineus ihr kein Ernteopfer im Saatland Hatte gebracht; es genossen die Himmlischen sonst Hekatomben, Ihr nur opfert' er nicht, der Tochter des großen Kronion, Achtlos oder vergeßlich, doch groß war seine Verschuldung. Heftig erzürnt nun sandte die göttliche Schützin des Bogens Einen grimmigen Eber daher mit weißlichen Hauern, Der gar übel hauste im Saatengefilde des Oineus: Viele ragende Bäume entwurzelte dieser und warf sie Samt den Wurzeln zu Boden und samt den Blüten der Früchte. Endlich erschlug ihn Oineus' Sohn, der Held Meleagros, Der aus vielen Städten die Jäger und Hunde herbeirief; Niemals hätt' er es doch mit weniger Männern bezwungen, Jenes Untier, das gar manchem zur Flamme verholfen. Aber die Göttin erhob viel Kampfeslärm und Getümmel Ober des Ebers Haupt und die Beute des borstigen Felles Zwischen den wilden Kureten und hochgemuten Aitolern. Zwar, solange der streitbare Held Meleagros noch kämpfte, Traf die Kureten Unheil stets, und sie konnten sich nicht mehr Außer der Mauer halten im Kampfe, so viele sie waren. Aber sobald Meleagros der Zorn ergriff, der auch andern Schwellen läßt im Busen das Herz, den Verständigsten selber, Siehe, da blieb er, im Groll auf die leibliche Mutter Althaia, Liegen zur Seite Kleopatras, der schönen Gemahlin, Einer Tochter Marpessas, der zierlichen Euenostochter, Und des gewaltigen Ideos, des tapfersten Erdebewohners 36
Jener Zeit; denn selbst auf den mächtigen Phoibos Apollon Hatt' er den Bogen gespannt um die zierlich wandelnde Jungfrau. Jene wurde darauf im Hause von Vater und Mutter Immer mit Namen genannt Alkyone, weil ihre Mutter Einst das Jammergeschick des Alkyonvogels erduldend, Klagte, da sie vom treffenden Phoibos Apollon geraubt ward. Neben ihr lagerte jener, das Herz voll nagenden Zornes, Heftig ergrimmt ob der Flüche der Mutter, welche die Götter Anrief unter Gestöhn um ihren gemordeten Bruder Und die nahrungspendende Erde zerschlug mit den Fäusten; Hades flehte sie an und die schreckliche Persephoneia, Hingesunken ins Knie, den Busen mit Tränen benetzend, Gleich zu töten den Sohn; und die grausam gesinnte Erinys Hörte ihr Flehen vom Erebos her, die Göttin des Dunkels. Jetzt erscholl um die Tore der feindliche Sturm, und die Türme Hallten getroffen vom Wurf. Da kamen Aitoliens Greise Flehend zu ihm, und sie sandten die heiligsten Priester der Götter, Daß er zu Hilfe doch käm', und verhießen ihm große Geschenke. Wo die üppigste Flur der lieblichen Kalydon prangte, Dort geboten sie ihm, ein stattliches Gut sich zu wählen, Fünfzig Hufen im Kreise, die Hälfte Rebengefilde Und die Hälfte unbeschattetes Land zum Bepflügen. Voller Inbrunst bat ihn der alte reisige Oineus, Der auf der Schwelle des hochgewölbten Gemachs an den festen Bohlen der Pforte rüttelnd, den Sohn mit Bitten bedrängte. Auch die Schwestern flehten ihn an und die würdige Mutter; Umsomehr nur trotzt' er; es baten ihn innig die Freunde, Welche die wertesten ihm und liebsten waren von allen. Dennoch konnten sie nicht sein Herz im Busen bewegen, Bis der Schwarm der Geschosse die Kammer traf, die Kureten Schon bestiegen den Wall und die Feste mit Feuer verheerten. Jetzt beschwor die schöngegürtete Gattin den Helden Unter Klagen, und nannte ihm all' das Leiden und Elend, Das die duldenden Menschen trifft in eroberter Feste: Wie man die Männer erschlägt und die Stadt in Asche verwandelt, Aber die Kinder entführt und die tiefgegürteten Weiber. Als er so Schlimmes vernahm, ward endlich das Herz ihm erschüttert; Eilend ging er und hüllte den Leib in die strahlende Rüstung. Also wehrt' er dem Unglückstag des Aitolervolkes, Angetrieben vom eigenen Mut; nicht brauchten sie viele 37
Köstliche Gaben zu zollen, umsonst schon wehrt' er dem Unheil. Du aber sei mir nicht also gesinnt, noch laß dich vom Dämon Dazu treiben, mein Freund; es wäre beschwerlicher, glaub' ich, Wenn du die brennenden Schiffe verteidigtest! Nein, für Geschenke Komm; dann ehren dich auch wie einen Gott die Achaier. Wenn du ohne Gaben jedoch in die mordende Schlacht gingst, Würden dir nimmer die gleichen Ehren, ob du auch siegtest. Ihm entgegnete drauf und sprach der schnelle Achilleus: Phoinix, göttlicher Greis, mein Vater, gar nicht bedarf ich Dieser Ehren; ich meine, mich ehrt die Bestimmung Kronions, Welche mich halten soll bei den Schiffen, solange der Atem Meine Brust noch schwellt und Kraft sich regt in den Knieen. Eines verkünd' ich dir noch, und du bewahr' es im Herzen: Störe mir nicht .das Gemüt mit jammernden Bitten und Klagen, Nur den Atriden begünstigend. Nein, du solltest ihn gar nicht Lieben, damit du mir nicht in Haß die Liebe verwandelst. Besser, daß du mit mir den kränkst, der mich selber gekränkt hat! Teile mit mir die Gewalt und empfange die Hälfte der Ehie; Diese verkünden es schon; du bleib' indessen und leg' dich Nieder auf sanftem Lager. Sobald der Morgen sich rötet, Halten wir Rat, ob wir heimwärts kehren oder noch bleiben. Sprach's und gebot dem Patroklos schweigend mit deutenden Brauen, Phoinix ein wärmendes Lager zu richten, daß sie der Heimkehr Bald aus dem Zelte gedächten. Doch unter den Helden erhob sich Ajas, der göttliche Telamonide, und redete also: Göttlicher Sohn des Laërtes, erfindungsreicher Odysseus, Laß uns gehn; auf diesem Wege versäumen wir doch nur Unser Ziel, wie mir scheint. Es gebührt uns aber, die Rede Rasch den Achaiern zu melden, so unerfreulich sie lautet; Denn sie sitzen gewiß und erwarten uns. Aber Achilleus Hat sein stolzes Herz in der Brust verhärtet, und grausam Läßt er sich nicht von der Freundschaft der eignen Genossen bewegen; Stets doch ehrten wir ihn bei den Schiffen vor allen besonders! Unbarmherziger Mann! Sogar von dem Mörder des Bruders Oder des eigenen Sohnes empfing schon mancher die Sühnung; Jener bezahlt die reichliche Buße und bleibt in der Heimat, Während dieser den Zorn des trotzigen Herzens besänftigt, Wann er die Sühnung empfing. Doch unversöhnlich und böse Machten die Götter dein Herz in der Brust nur wegen des einen 38
Mägdleins! Jetzt aber bieten wir sieben erlesene Jungfraun, Und noch vieles dazu! So laß dich endlich erweichen; Ehre den heiligen Herd! Wir sind ja zu Gaste gekommen Aus dem Danaervolk und achten es groß, vor den andern Dir die nächsten zu sein und die liebsten von allen Achaiern. Ihm erwiderte drauf und sprach der schnelle Achilleus: Ajas, göttlicher Sohn des Telamon, Völkergebieter, Alles hast du beinahe mir selbst aus der Seele geredet, Aber es schwillt das Herz von Galle mir, wenn ich des Mannes Denke, der mir so schnöde vor Argos' Volke begegnet, Atreus' Sohn, als wär' ich ein ungeachteter Fremdling. Aber geht nur hin, ihm anzusagen die Botschaft. Denn ich werde mich erst des blutigen Kampfes erinnern, Wenn des waltenden Priamos Sohn, der göttliche Hektor, Schon die Zelte und Schiffe der Myrmidonen erreicht hat, Argos' Männer erwürgt und niederbrennet die Schiffe. Aber bei meinem Zelt und dunklen Schiffe wird Hektor, Glaub' ich, so eifrig er ist, sich wohl enthalten des Kampfes. Als er gesprochen, erhoben sie alle die doppelten Becher, Sprengten und gingen zurück zu den Schiffen, als erster Odysseus. Patroklos aber befahl den Gefährten und dienenden Mägden, Unverzüglich für Phoinix ein wärmendes Lager zu richten. Gleich gehorchten die Mägde und richteten emsig das Lager, Wollige Vließe und Polster und zarte Gewebe von Linnen. Hier nun ruhte der Greis und harrte der heiligen Frühe. Aber Achilleus schlief im innern Gemache des Zeltes; Neben ihm lag ein blühendes Weib, Diomede, die Jungfrau, Die er aus Lesbos entführte, die rosige Tochter des Phorbas. Patroklos legte sich gegenüber, und neben ihm ruhte Iphis, die reizende, welche der edle Achilleus ihm schenkte, Als er Skyros bezwungen, die ragende Burg des Enyeus. Da nun jene zum Zelte des Atreussohnes gelangten, Grüßte die Schar der Achaier sie gleich mit goldenen Bechern, Alle standen sie auf, umringten die Helden und fragten. Aber als erster fragte der Völkerfürst Agamemnon: Sprich, gepriesener Held Odysseus, Ruhm der Achaier, Ist er bereit, die feindliche Glut von den Schiffen zu wehren. Oder schlug er's ab und trotzt im erhabenen Herzen? Ihm entgegnete drauf der herrliche Dulder Odysseus: Atreus' mächtiger Sohn, du Völkerfürst Agamemnon, Noch will jener den Groll nicht bändigen, sondern nur höher 39
Schwillt ihm der Mut; dein achtet er nicht, noch deiner Geschenke. Selber heißt er dich jetzt im Kreis der Argeier erwägen, Wie du die Schiffe zu retten vermagst und das Volk der Achaier. Er aber drohte, die wohlgedeckten, doppeltgeschweiften Schiffe zu ziehen ins Meer, sobald der Morgen sich rötet. Auch euch andere möchte er nun beraten und mahnen, Heimzusegeln im Schiff; ihr findet ja nimmer der steilen Ilios Untergang, denn Zeus, der waltende Herrscher Deckt sie mit schirmender Hand, und unverzagt sind die Völker. Also sprach er; auch diese bezeugen es, welche mir folgten, Ajas hier und die wohlerfahrenen Herolde beide. Phoinix, der Greis, blieb dort und legte sich; also gebot er, Daß er im Schiff ihm folge zum teuren Lande der Väter Morgen, wenn's ihm gefällt; doch nicht aus Zwang soll er ziehen. Also sprach Odysseus, und alle verstummten und schwiegen, Ob des Wortes betroffen, denn kraftvoll hatt' er geredet. Lange schwiegen die tiefbekümmerten Söhne Achaias. Endlich begann vor ihnen der Rufer im Streit Diomedes: Atreus' mächtiger Sohn, du Völkerfürst Agamemnon, Hättest du niemals doch den hehren Peliden gebeten, Reiche Gaben ihm bietend! Denn stolz ist jener ja so schon, Und nun hast du noch mehr im stolzen Sinn ihn bekräftigt. Doch fürwahr, ich denke, wir lassen ihn, ob er hinwegzieht Oder bleibt. Er wird schon kämpfen wieder, sobald ihn Erst im Busen das Herz bewegt und ein Gott ihn ermuntert. Aber wohlan, wie ich rede, so laßt uns alle gehorchen. Geht jetzt ruhen und labet mit Wein und Nahrung zuvor noch Eure Herzen, denn das gibt Kraft und rüstige Stärke. Doch wenn Eos, die holde mit Rosenfingern, heraufkommt, Ordne du gleich vor den Schiffen die Streiter zu Fuß und zu Wagen, Muntre sie auf und kämpfe du selbst im vordersten Treffen. Also sprach Diomedes, und Beifall riefen die Fürsten, Voller Bewundrung über die Sprache des reisigen Helden. Hierauf sprengten sie Wein und kehrten zurück in die Zelte, Legten sich dort und empfingen die Gabe des Schlafes, ein jeder.
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Hektors Freigabe Achilleus hat Hektor im Kampfe gefällt, aber er weigert sich nun, dessen Vater Priamos die Leiche zur Bestattung freizugeben — aus Schmerz und Trauer um seinen von Hektor getöteten Freund Patroklos. Aus war der Kampf ; da zerstreuten die Mannen sich wieder, und alle Gingen zurück zu den Schiffen, voll Freude, des Mahls zu genießen Und am erquickenden Schlaf sich zu laben. Indessen Achilleus Weinte, des Freundes gedenk, noch unberührt von des Schlummers Allbezwingender Macht; er wälzte sich hierhin und dorthin, Immer sich sehnend nach Patroklos' Kraft und adliger Mannheit, Und in Gedanken, wieviel sie gemeinsam erlebt und erduldet: Männerschlachten und kühnes Bezwingen gefährlicher Fluten, Immer nur dacht' er daran, und reichlicher flossen die Tränen; Hin und her, auf die Seiten bald und bald auf den Rücken Warf er sich, bald aufs Gesicht, und manchmal erhob er sich wieder, Schweifte trauernd umher am Gestade des Meeres; die Frühe Fand ihn, sobald sie erschien und Küste und Meer überglänzte. Wenn er die flinken Rosse sodann geschirrt an den Wagen, Band er den Hektor fest am Sessel hinten zum Schleifen; Dreimal zog er ihn dann um das Grab des Menoitiossohnes, Ruhete wieder im Zelt und ließ den anderen liegen, Draußen im Staube vornübergestreckt. Indessen Apollon Schützte vor jeder Mißhandlung den Leib, erfüllt von Erbarmen, Selbst um den Toten besorgt, und bedeckte ihn ganz mit der goldnen Aigis, auf daß der Pelide ihn nicht beim Schleifen zerfetzte. So mißhandelte dieser im Zorn den göttlichen Hektor. Mitleid erfaßte die seligen Götter, sooft sie's gewahrten, Und sie geboten, die Leiche zu stehlen, dem spähenden Hermes. Allen andern gefiel der Plan, doch nimmer der Here Noch dem Poseidon, noch auch des Zeus blauäugiger Tochter, Sondern sie haßten, wie stets schon zuvor, die heilige Troja, Priamos auch und sein Volk, nur wegen der Frevel des Paris, Weil er die Göttinnen kränkte, als diese im Hof ihn besuchten, Sie aber pries, die zu Willen ihm war in verderblicher Wollust. Als nun zum zwölften Male seitdem der Morgen sich nahte, Redete jetzt im Kreis der Unsterblichen Phoibos Apollon: Schrecklich seid ihr doch, Götter, und grausam! Hat euch denn niemals 41
Hektor Schenkel verbrannt von erlesenen Rindern und Ziegen? Jetzt aber traut ihr euch nicht einmal, den Toten zu retten, Daß seine Gattin ihn wiedersieht und sein Kind und die Mutter, Vater Priamos auch, und das Volk; denn sie möchten im Feuer Bald ihn verbrennen und feierlich dann in Ehren bestatten. Nein, ihr möchtet allein beschützen den argen Achilleus, Dessen Herz mißachtend nur ist und dessen Gesinnung Nie sich fügt in der Brust; er denkt wie der Löwe nur Wildes, Der, gereizt von gewaltiger Kraft und trotziger Kühnheit, Ein in die Herden der Sterblichen dringt, sich ein Mahl zu erbeuten. So hat Achill das Erbarmen verloren; es fehlt ihm die Achtung, Scham, die zum Schaden den Menschen gereicht und wieder zum Nutzen. Muß auch mancher vielleicht einen Nähergeliebten verlieren, Sei's der eigene Sohn oder sei es der leibliche Bruder, Dennoch stillt er die Tränen und läßt das Jammern und Klagen; Denn ein geduldiges Herz gewährten die Moiren den Menschen. Jener jedoch hat dem Hektor sein blühendes Leben entrissen, Band am Wagen ihn fest und schleift ihn rings um des Freundes Hügel; das heißt gewiß nicht schön und edel gehandelt! Daß nur nicht, wie edel er sei, wir Götter ihm zürnen! Selbst die gefühllose Erde mißhandelt er noch, voll Verblendung. Ihm erwiderte gleich voll Zorn die schimmernde Here: Geltung hätte dein Wort, du Gott mit dem silbernen Bogen, Hieltet der gleichen Ehren ihr wert Achilleus und Hektor. Sterblich war Hektor jedoch und lag an der Brust eines Weibes, Während Achilleus der Sohn einer Göttin ist, welche ich selber Nährte und auferzog; ich gab einem Mann sie zur Gattin, Peleus, der doch so sehr den Göttern ans Herz ist gewachsen. Alle nahmt ihr doch teil an der Hochzeit; unter den Göttern Schmaustest auch du mit der Leier, Genosse der Bösen, du Falscher! Ihr erwiderte Zeus, der Wolkenversammler, und sagte: Here, ereifre dich nicht zu sehr im Zorn auf die Götter! Nie wird die gleiche Ehre den beiden zuteil; aber Hektor War den Göttern der liebste von allen, die Troja bewohnen; So auch mir; nie ließ er es fehlen an freundlichen Gaben, Nie entbehrte mir je der Altar des gebührenden Teiles, Nie des Weins und des Rauchs, die uns zur Ehre bestimmt sind. Besser aber, wir lassen den Raub des mutigen Hektor — Ganz unmöglich geschieht es geheim vor Achilleus —; denn immer Steht ihm die Mutter zur Seite, sowohl bei Nacht wie bei Tage. 42
Doch wenn einer der Götter die Thetis heran zu mir riefe, Daß ich bedächtig ein Wort mit ihr spräche: vielleicht daß Achilleus Gaben von Priamos nimmt als Preis für Hektors Befreiung. Sprach's; da erhob sich die sturmesgeschwinde Iris zur Botschaft. Zwischen Samos und Imbros, der wildzerklüfteten Insel, Sprang sie ins finstere Meer, und es brausten die Wasser des Sundes. Gleich einer bleiernen Kugel, so tauchte sie schnell in die Tiefe, Die, am Horn eines Rinds von der Weide befestigt, hinunter Gleitet, um gierigen Fischen den Tod entgegenzubringen. Tief in räumiger Grotte entdeckte sie Thetis; die andern Meeresgöttinen saßen im Kreis, und sie selbst in der Mitte Weinte über das Los des adligen Sohns; denn er sollte Bald schon sterben in Trojas Flur, getrennt von der Heimat. Nah zu der Trauernden trat die hurtige Iris und sagte: Thetis, es rufet dich Zeus, voll unvergänglicher Pläne. Ihr erwiderte gleich die silberfüßige Thetis: Was verlangt nur der mächtige Gott? ich scheue mich wirklich, Unter die Götter zu treten in meinem verworrenen Jammer. Gehen wir denn; vergeblich soll nichts von den Lippen ihm kommen. Also sprach sie und nahm einen Schleier, die herrliche Göttin, Dunkelfarbig, so schwarz, wie kein andres Gewand noch gewesen, Machte sich auf, und Iris, die windesschnelle, geschwinde, Eilte voran; da wichen vor ihnen die Wogen des Meeres. Und sie erstiegen den Strand und flogen empor zum Himmel, Fanden den allbeherrschenden Zeus, und die anderen alle Saßen um ihn, die unvergänglichen seligen Götter. Und sie setzte sich neben Zeus auf den Platz der Athene. Here gab in die Hand ihr den goldenen prächtigen Becher, Redete freundlich ihr zu; sie trank und reichte ihn wieder. Unter ihnen begann der Vater der Menschen und Götter: Thetis, du bist zum Olympos gekommen in deiner Betrübnis. Unermeßlicher Gram bedrückt dich; wir wissen es selber. Dennoch sag' ich dir jetzt, weshalb ich hierher dich gerufen: Schon neun Tage nun dauert der Streit bei den ewigen Göttern Wegen des Städtezerstörers Achill und der Leiche des Hektor. Stehlen soll nach ihrem Gebot sie der spähende Hermes. Ich aber möchte die Ehre hier dem Peliden erteilen, Achtung und Liebe zu dir für künftige Zeit mir bewahrend. Eile nun rasch in das Lager hinab und melde dem Sohne, Sag, daß die Götter ihm zürnen, und ich von den Ewigen allen 43
Grollte zumal, weil er, trotzig im Wahn, beim gebogenen Schiffe Hektor immer zurück noch hält und nicht ihn erlöste. Ob er vielleicht nun aus Scheu vor mir den Hektor erlöset. Ich aber will zum würdigen Priamos Iris entsenden, Daß er, den Sohn zu erlösen, hinab zu den Danaerschiffen Gaben bringe für Peleus' Sohn und das Herz ihm erweiche. Sprach's, und es folgte gehorsam die silberfüßige Thetis; Stürmend fuhr sie hinab von dem Gipfel des hohen Olympos, Kam zu dem Zelte des Sohns und fand ihn selber darinnen, Bitterlich seufzend vor Gram, umgeben von treuen Genossen; Emsig bemühten sich diese und rüsteten eifrig das Frühmahl, Schlachteten eben im Zelt einen kräftigen wolligen Hammel. Dicht zu dem Sohne nun setzte die göttliche Mutter sich nieder, Streichelte sanft ihm die Hand und sprach ihm zu mit den Worten: Kind, wie lange wohl möchtest du noch in Kummer und Klagen Hier verzehren dein Herz und weder an Schlaf noch an Speise Denken? Es wäre dir gut, im Arm eines Weibes zu liegen. Nicht mehr lange doch wirst du am Leben mir bleiben; es wartet Deiner bereits in der Nähe der Tod und das mächtige Schicksal. Höre mich rasch; ich komme von Zeus zu dir mit der Botschaft: Zornig wären die Götter, und er von den Ewigen allen Grollte zumal, weil du, trotzig im Wahn, beim gebogenen Schiffe Hektor immer zurück noch hältst und nicht ihn erlöstest. Wohl, so gib ihn doch los und nimm den Preis für den Toten. Ihr erwiderte gleich der fußbeschwingte Achilleus: Gut, so sei's! Wer den Preis mir bringt, der empfange den Toten, Wenn es mit ernstem Beschluß der Olympier selbst mir gebietet. Also sprachen im Lager der Schiffe der Sohn und die Mutter Viele geflügelte Worte in ihrem Gespräch miteinander. Doch der Kronide entbot zur heiligen Ilios Iris: Eile dich, hurtige Iris, verlaß den Sitz des Olympos, Bring nach Ilios gleich dem würdigen Priamos Botschaft, Daß er, den Sohn zu erlösen, hinab zu den Danaerschiffen Gaben bringe für Peleus' Sohn und das Herz ihm erweiche, Er allein; kein Mann von den Troern soll sonst ihn begleiten; Folgen darf ihm ein älterer Herold nur, der die Esel Lenkt und das prächtige Rädergefährt, damit er den Toten Führe zurück in die Stadt, den der hehre Achilleus getötet. Weder soll ihn der Tod noch sonst ein Schrecken bekümmern; Solch einen Führer gesellen wir ihm, den Argosbezwinger, Der ihn geleite, bis daß er ihn hingebracht zu Achilleus. 44
Aber sobald er hinein ihn geführt in das Zelt des Peliden, Wird ihn dieser gewiß nicht morden und allen es wehren; Ist er doch wohl bei Verstand, nicht kopflos oder ein Frevler, Sondern er wird den flehenden Mann in Gnaden verschonen. Sprach's; da erhob sich die sturmesgeschwinde Iris zur Botschaft, Kam in Priamos' Burg und fand Geheul dort und Klage. Rings um den Vater da saßen im Innern des Hofes die Söhne, Netzten mit Tränen die Kleider; er selbst, der Greis, in der Mitte Fest in den hüllenden Mantel geschmiegt, und über dem Alten Lag in Menge der Kot und bedeckte den Kopf und den Nacken, Den er, am Boden sich wälzend, gehäuft mit den eigenen Händen. Töchter und Schwiegertöchter erfüllten das Haus mit Gejammer, All' der Männer gedenk, der tapferen, deren so viele Unter der mordenden Hand der Argeier das Leben gelassen. Nahe zu Priamos trat die Botin des Zeus mit der Kunde; Leise nur sprach sie zu ihm — doch dem Alten erbebten die Glieder: Faß dich, Priamos, Dardanos' Sohn, und fürchte dich nimmer; Denn mein Kommen soll dir gewiß nichts Böses bedeuten, Sondern ich bin dir geneigt und bringe von Zeus dir die Botschaft, Der in der Ferne sogar sich kümmert um dich, voll Erbarmen. Hektor los dir zu kaufen, gebietet dir Zeus vom Olympos, Gaben zu bringen dem Peleussohn, um sein Herz zu erweichen, Du allein; kein Mann von den Troem soll sonst dich begleiten; Folgen darf dir ein älterer Herold nur, der die Esel Lenkt und das prächtige Rädergefährt, damit er den Toten Führe zurück in die Stadt, den der hehre Achilleus getötet. Weder soll dich der Tod noch sonst ein Schrecken bekümmern; Solch einem Führer vertraut er dich an, dem Argosbesieger, Der dich geleite, bis daß er dich hingebracht zu Achilleus. Aber sobald er hinein dich geführt in das Zelt des Peliden, Wird dich dieser gewiß nicht morden und allen es wehren; Ist er doch wohl bei Verstand, nicht kopflos oder ein Frevler, Sondern er wird den flehenden Mann in Gnaden verschonen. Als sie dieses gesagt, entwich die hurtige Iris. Priamos hieß nun die Söhne den Wagen mit kräftigen Rädern Rüsten, ein Maultiergespann, und den Korb darüber ihm binden. Selbst aber stieg er hinab in den duftenden, hochgewölbten, Zedergetäfelten Raum, der viele Kleinodien faßte, Rief auch Hekabe her, sein Weib, und redete also: Unglücksweib, es kam von Zeus ein olympischer Bote, Daß ich, den Sohn zu erlösen, hinab zu den Danaerschiffen 45
Gaben bringe für Peleus' Sohn, um sein Herz zu erweichen. Doch nun sage mir gleich, was denkst du darüber im Herzen? Heftig drängt ja mich selber dazu der Wunsch und Gedanke, Hin zu den Schiffen zu gehn, ins räumige Lager Achaias. Also sprach er; da schluchzte das Weib und gab ihm die Antwort: Ach, wohin ist nur dein Verstand, der sonst so berühmte Unter den fremden Menschen und allen, die selbst du beherrschest? Wie nur willst du allein zu den Schiffen der Danaer gehen, Jenem Mann vor die Augen, der dir so wackere viele Söhne gemordet schon hat? Du hast ein Herz wohl aus Eisen. Denn sobald er dich einmal ergreift und gewahrt mit den Augen, Dieser treulose Unmensch — der! —, so kennt er kein Mitleid Noch die Achtung vor dir. Drum laß uns von fern ihn beweinen Hier im Palaste, den Sohn; so hat's ihm das mächtige Schicksal Zugesponnen bereits, als ich ihn gebar, mit dem Garne: Sättigen würde er gierige Hunde, getrennt von den Eltern, Dort bei dem schrecklichen Mann, dem ich gern in der Mitte die Leber, Tief mich verbeißend, zerfleischte! So würden gerächt seine Taten Gegen mein Kind; kein Feigling ward mit ihm doch getötet, Sondern stets für die Troer und tiefgegürteten Weiber Stand er und dachte sowenig an Furcht wie an feiges Entfliehen. Ihr erwiderte Priamos gleich, der göttliche, greise: Halte mich nicht, wenn ich gehen doch will, und werde du selber Nicht mir zum Unglücksvogel im Hause; du hinderst mich nimmer. Hätte mir sonst einer dies von den Menschen auf Erden geraten, Einer der Seher, sei's Opferbeschauer, sei es ein Priester, Lügner hießen wir den und kehrten ihm besser den Rücken. Jetzt aber — hört' ich die Göttin doch selbst und sah in ihr Antlitz — Geh' ich, und nicht umsonst sei das Wort! Und verheißt mir das Schicksal Baldigen Tod bei den Schiffen der schildbewehrten Achaier, Bin ich bereit, und es möge sofort mich töten Achilleus, Halt' ich im Arm nur den Sohn und habe gestillt meinen Jammer. Sprach's und öffnete schnell die Deckel der prächtigen Truhen, Nahm ein Dutzend heraus der köstlichsten Feiergewänder, Je ein Dutzend alsdann von einfachen Mänteln und Decken, Weiße Hemden soviel, desgleichen auch Untergewande, Wog das Gold und nahm sich davon zehn ganze Talente, Nahm vier Becken heraus, zwei funkelnde Kessel mit Füßen, Endlich den köstlichen Becher, den thrakische Männer ihm schenkten, 46
Ihm, als Gesandten, beträchtlich von Wert; indessen auch diesen Sparte sich nicht im Palaste der Greis; denn er wünschte von Herzen, Loszukaufen den Sohn. Er jagte die sämtlichen Troer Jetzt aus der Halle und herrschte sie an mit schmählichen Worten: Fort mit euch feigem Gesindel! ihr Memmen, erlebt ihr nicht selber Trauer zu Hause genug, daß ihr kommt, mich so zu beschweren? Achtet ihr's nicht, daß Zeus den Schmerz mir beschied, meinen besten Sohn zu verlieren? Ihr werdet es bald schon selbst noch erkennen! Leichter noch werden gewiß in Zukunft euch die Achaier Morden, wo jener sein Leben verlor; ich selbst aber möchte, Eh' meine Augen die Feste zertrümmert, in wilder Verwüstung Sehen müssen, hinab ins Haus des Hades entweichen. Rief's und scheuchte die Männer hinweg mit dem Stab, und sie liefen Fort vor dem eifernden Greis. Der schrie nun laut nach den Söhnen; Scheltend rief er den edlen Agathon, Helenos, Paris, Rief den Antiphonos her, den Pammon, den tapfren Polites, Rief Deïphobos auch, Hippothoos, Dios, den Fürsten. Diesen neun gebot der Greis mit scheltendem Zuruf: Sputet euch, Bengel, ihr weibischen Buben! O, lägt ihr zusammen Alle doch lieber getötet an Hektors Statt bei den Schiffen! Weh über mich, den Verfluchten! ich zeugte die edelsten Söhne Rings in Troja, von denen mir keiner ist übriggeblieben, Mestor, den göttlichen Helden, Troïlos, den Wagenkämpfer, Hektor — er war doch ein Gott inmitten der Sterblichen; niemals Schien er der Sohn eines Menschen zu sein, doch nur eines Gottes! Diese hat Ares entrafft; die Memmen sind alle geblieben, Lügner und Tänzer gesamt, im Stampfen des Reigens die ersten, Diebe von Lämmern und Ziegen im Volk, erbärmliche Räuber. Wollt ihr nicht endlich bald das Gefährt mir bespannen und alles Hier auf den Wagen mir laden, auf daß wir die Fahrt unternehmen? Sprach's, und die Söhne, geschreckt von dem scheltenden Rufe des Vaters, Zogen heraus das Maultiergefährt mit prächtigen Rädern, Neugefertigt und schön, und banden den Korb auf den Wagen, Hoben vom Pflocke herunter das Joch aus Buchs für die Esel, Oben mit Buckeln gehöht und mit festen Osen versehen, Brachten das Jochseil gleich mit dem Joch, neun Ellen gemessen, 47
Legten dieses geschickt auf die wohlgegläLtete Deichsel, Vorn am Spitzenbeschlag, und warfen den Ring um den Nagel; Dreimal umschlangen sie beiderseits den Buckel und banden Fest an der Deichsel das Seil und knüpften die Schlinge darunter, Holten für Hektors Kopf die unermeßlichen Preise Her aus dem Raum und beluden damit den geglätteten Wagen, Schirrten die Esel mit kräftigem Huf, gewohnt des Geschirres, Die zum Ehrengeschenk die Myser dem Priamos gaben, Spannten die Rosse dann ein für Priamos, welche der Alte Selber gepflegt und genährt an wohlgeglätteter Krippe. Also ließen der Herold und Priamos, beide, die Rosse Schirren im hohen Palast, mit vielen Gedanken im Herzen. Hekabe nahte sich nun mit schwer bekümmertem Geiste, Süßen belebenden Wein mit der Rechten aus goldenem Becher Ihnen kredenzend, damit sie noch spendeten, ehe sie gingen, Stand schon vorn bei den Pferden, ergriff das Wort nun und sagte: Nimm und sprenge dem Vater und flehe zu Zeus, daß du wieder Kehrest zurück von den feindlichen Männern, wenn eben dein Wille Doch zu den Schiffen dich treibt, so sehr ich selbst widerstrebe. Flehe darum nun gleich zum idäischen finsterumwölkten Herrscher Kronion, der nieder doch schaut auf Trojas Gelände, Bitt ihn, den schnellen Vogel als Boten dir fliegen zu lassen, Ihn, der, gewaltig an Kraft, der liebste ihm ist von den Vögeln, Rechts, auf daß du ihn selbst mit eigenen Augen erkennest Und getrost zu den Schiffen der reisigen Danaer gehest. Weigert sich aber der herrschende Zeus, dir den Boten zu geben, Nein, dann kann ich dir meinerseits nicht empfehlen und raten, Jetzt zu den Schiffen von Argos zu gehen, wie sehr du es wünschest. Priamos, aber, der göttliche, sprach und gab ihr die Antwort: O mein Weib, nicht will ich doch deinem Begehr widerstreben; Gut ist's, Zeus um Erbarmen zu (lehn mit erhobenen Händen. Also der Greis und befahl der geschäftigen Schaffnerin, schleunig Lauteres Wasser ihm über die Hände zu gießen, und jene Trat schon heran, in den Händen das Waschgefäß und die Kanne. Als er gewaschen sich hatte, da nahm er den Kelch von der Gattin, Trat in die Mitte des Hofs, vergoß den Wein im Gebete, Sah zum Himmel empor und sprach mit erhobener Stimme: Vater Zeus, du Herrscher vom Ida, erhabenster, größter! Laß mich doch bei Achilleus Erbarmen erfahren und Gnade; Sende den schnellen Vogel als Boten mir nun zum Geleite, Ihn, der, gewaltig an Kraft, der liebste dir ist von den Vögeln, 48
Rechts, auf daß ich ihn selbst mit eigenen Augen erkenne Und getrost zu den Schiffen der reisigen Danaer gehe. Also flehte der Greis; es erhörte ihn Zeus, der Berater. Gleich entsandt' er den Aar, den Vogel der höchsten Verheißung, Jäger des Sumpfs, auch Fleckenadler im Volke geheißen. Weit, wie die Tür sich öffnet des hochgewölbten Gemaches, Wohl mit Riegeln versehen, im Haus des begüterten Mannes, Waren auf beiden Seiten die Schwingen entfaltet; er schwebte Rechts von ihnen heran durch die Stadt. Mit Freude gewahrten Gleich ihn die Männer, und allen erheiterte Hoffnung die Herzen. Hurtig bestieg nun der Greis den wohlgeglätteten Sessel, Lenkte zum Hofe hinaus und dem hallenden Säulengewölbe. Vor ihm zogen die Esel den schweren vierrädrigen Wagen, Die der gewandte Idaios trieb, und ihnen im Rücken Folgten die Pferde; vom Geißelschlage des Alten beschleunigt, Jagten sie schnell durch die Stadt. Zugleich aber gaben ihm alle Freunde mit lautem Geheul das Geleit, als ging' er zum Tode. Aber sobald sie zur Feste hinaus in die Ebene kamen, Kehrten die anderen alle zurück nach Ilion wieder, Kinder und Schwiegerverwandte. — Doch Zeus mit beherrschendem Auge Sah die beiden erscheinen; gerührt vom Anblick des Alten, Sprach er gleich, zum geliebten Sohne Hermeias gewendet: Hermes, stets doch hast du am allerliebsten die Menschen Freundlich begleitet und jeden erhört nach deinem Gefallen, Bring den Priamos rasch zu den räumigen Schiffen Achaias, Bring ihn so, daß ihn keiner gewahre noch eben erkenne Unter den Danaern, eh' er hinab zum Peliden gekommen. Sprach's; da folgte gehorsam der Herold und Argosbesieger, Band sich unter die Füße sogleich die schönen Sandalen, Unvergängliche, goldne, die schnell ihn über die Fluten Und das unendliche Land entführten im Wehen des Windes, Nahm den Stab, womit er die Augen einschläfert der Menschen, Die er zu schließen begehrt, und Schlummernde wieder erwecket; Diesen in Händen entflog der mächtige Argosbezwinger. Schnell aber war er zum Hellespont und nach Troja gekommen, Schritt heran und erschien in Gestalt eines prinzlichen Jünglings, Mannbar eben mit keimendem Bart, in blühender Jugend. Als die Männer vorbei nun gelenkt am Hügel des Ilos, Machten sie halt mit den Eseln und Rossen und ließen sie trinken Unten am Fluß; schon senkte der Abend sich über die Erde. 49
Plötzlich entdeckte nun ganz in der Nähe der spähende Herold Hermes und sprach zu Priamos gleich mit erhobener Stimme: Vorsicht, Priamos du! mit Vorsicht gilt es zu handeln! Siehe den Mann! der wird uns gar bald, so furcht' ich, zerschmettern. Auf, wir fliehn mit den Rossen! noch besser, wir fassen in Eile Bittend die Kniee des Mannes, damit er vielleicht sich erbarme. Sprach's; da wurde dem Greis der Sinn verstört vor Entsetzen; Hochgerichtet war ihm das Haar an den biegsamen Gliedern. Starrend stand er; da nahte sich ihm der geschmeidige Hermes, Faßte den Greis bei der Hand und sprach ihn an mit der Frage: Vater, wohin wohl treibst du das Rossegespann und die Esel Hier durch die heilige Nacht, wo andere Sterbliche schlafen? Scheust du so wenig dich nur vor den wuterfüllten Achaiern, Die voll Haß und feindlich gesinnt in der Nähe dir lauern? Sähe dich einer von diesen durchs Dunkel der Nacht, der geschwinden, Solche Kleinodien führen, wie wäre dir dann wohl zumute? Selber doch bist du nicht jung genug und ein Greis dein Begleiter, Abzuwehren den Feind, wenn einer zuerst euch belästigt. Ich aber will dich gewiß nicht böse behandeln, und jeden Möcht' ich vertreiben von dir; ich ehre dich gleich einem Vater. Ihm entgegnete Priamos gleich, der göttliche Alte: Ja, so wird es wohl sein, mein lieber Sohn, wie du sagest. Also deckt auch mich noch ein Gott mit schützenden Händen, Daß mir solch ein Wanderer hier am Wege begegnet, Mir zum Heile, wie du, so schön von Gestalt und Erscheinung, Und so vernünftig; du mußt von glücklichen Eltern doch stammen! Gleich versetzte der göttliche Herold und Argosbezwinger: Wirklich, Alter, da hast du gebührend in allem gesprochen. Sage mir aber noch dies und berichte die lautere Wahrheit, Ob du zu Fremden vielleicht die vielen und kostbaren Güter Fortzuschaffen dich mühst, daß dort sie geborgen dir liegen, Oder ob alle ihr laßt bereits die heilige Troja, Schreckenerfüllt, weil euch der beste der Helden gefallen, Er, dein Sohn; nie stand er doch nach im Kampf den Achaiern! Ihm entgegnete Priamos gleich, der göttliche Alte: Wer nur bist du, mein Bester, und welchen Eltern entstammst du, Der du so schön vom traurigen Los des Sohns mir geredet? Gleich versetzte der göttliche Herold und Argosbezwinger: Prüfe mich nur, o Greis, und frag nach dem göttlichen Hektor. 50
Ja, ich hab' ihn so oft im männerehrenden Kampfe Selbst mit Augen geschaut, auch als er hinab zu den Schiffen Trieb und erschlug die Argeier, mit spitzigem Erz sie zerreißend. Wir aber standen und staunten ihn an; uns hatte Achilleus Nicht zu kämpfen erlaubt, denn er zürnte dem Sohne des Atreus. Dessen Gefährte bin ich, im nämlichen Schiffe gekommen, Myrmidonischen Stamms; mein Vater nennt sich Polyktor. Sehr begütert ist dieser, doch schon ein Greis wie du selber, Söhne besitzt er noch sechs, und ich bin der siebente Bruder. Losend mit ihnen, gewann ich das Los, hierher ihm zu folgen. Jetzt aber komm' ich ins Feld von den Schiffen; denn früh mit dem Morgen Wollen die kühnen Achaier die Schlacht um die Feste beginnen. Überdrüssig schon sind sie des Liegens; die Fürsten Achaias Können kaum noch vom Kampfe zurück die Eifrigen halten. Ihm entgegnete Priamos gleich, der göttliche, greise: Bist du wirklich ein Waffengenoss' des Peliden Achilleus, Wohl, so sage mir nun und berichte mir ganz nach der Wahrheit: Liegt noch dort bei den Schiffen mein Sohn, oder hat ihn Achilleus Schon in Stücke zerteilt und zum Fraß vor die Hunde geworfen? Gleich versetzte der göttliche Herold und Argosbesieger: Greis, noch haben ihn nicht die Hunde gefressen und Vögel, Sondern immer noch liegt dein Sohn beim Schiff des Achilleus So wie zuvor an dem Zelte; der zwölfte Morgen schon findet Liegend ihn dort; doch weder verwest sein Leib, noch die Würmer Fressen ihn, welche doch sonst die Kriegsgefallenen fressen. Stets zwar schleift er ihn rings um das Grab seines lieben Gefährten Mitleidslos, sobald sich erhebt die heilige Frühe, Doch entstellt er ihn nicht; du stauntest wohl selbst, wenn du nahtest Taufrisch liegt er, so frisch, und ganz vom Blute gereinigt, Nirgends besudelt am Leib, und die Wunden sind alle geschlossen, Die man ihm schlug; denn viele doch trieben ihr Erz in den Toten. So bemühen sich nun um den Sohn dir die seligen Götter Selbst, da er tot; sie hatten ihn innig lieb in der Seele. Sprach's, da freute der Greis sich und gab ihm dieses zur Antwort: Wohl ist's gut, o mein Kind, den Göttern geziemliche Gaben Darzubringen; so hat auch mein Sohn — ach, er war es! — im Hause Nie vergessen der Götter, die wohnen im hohen Olympos. Drum gedenken sie seiner auch jetzt, wo der Tod ihn getroffen. Doch empfange nun hier den schönen Pokal zum Geschenke, 5
Daß du mich rettest und sicher geleitest mit Hilfe der Götter. Bis ich endlich zum Zelte des Peleussohnes gelange. Gleich versetzte der göttliche Herold und Argosbesieger: Greis, was versuchst du mich Jüngling? Doch kannst du mich nicht überreden, Hinter dem Rücken des Peleussohns ein Geschenk zu empfangen. Denn ich fürchte den Mann und scheue mich tief in der Seele, Ihn zu bestehlen, damit mir daraus kein Schaden erwachse. Dich aber möcht' ich sogar nach der herrlichen Argos geleiten, Achtsam im eilenden Schiffe zur Seite dir oder zu Fuße. Keiner sollte zum Kampfe dir nahn, den Begleiter mißachtend. Sprach's und sprang auf das Rossegespann, der geschmeidige Bote, Faßte die Geißel geschwind und nahm in die Hände die Zügel, Hauchte dann eifrigen Mut ins Herz den Rossen und Eseln. Als sie nun aber zum Wall bei den Schiffen und Graben gekommen, Waren die Wächter bemüht, das Nachtmahl eben zu rüsten. Gleich aber schüttete allen der geleitende Argosbesieger Schlaf in die Augen und öffnete rasch das Tor und die Riegel, Führte den Priamos ein und die Prachtgeschenke im Wagen. Da nun gelangten die Männer in Kürze zum Zelt des Peliden. Dieses hatten die Myrmidonen dem Fürsten gezimmert. Hoch aus dem Holze der Tannen, und hatten es oben darüber Dicht gedeckt mit borstigem Rohre, von Wiesen gesammelt. Rings aber war ein geräumiger Hof dem Herrscher von festen Pfählen gebaut; ein einziger Pfosten vom Holze der Tanne Sperrte die Tür; es konnten nur drei Achaier ihn schieben; Drei auch pflegten zu öffnen den mächtigen Riegel des Tores, Nur Achilleus vermochte allein zurück ihn zu schieben. Jetzt aber öffnete nun der geschmeidige Hermes dem Alten, Trug auch die prächtigen Gaben hinein für den schnellen Peliden, Stieg vom Wagen zum Boden herab und redete also: Greis, erkenne den ewigen Gott in mir, denn ich heiße Hermes und bin dich zu führen gekommen, vom Vater gesendet. Gleich aber kehr' ich zurück, denn ich will es vermeiden, Achilleus Unter die Augen zu treten; es würde die Achtung verletzen, Wenn ein unsterblicher Gott so offen die Sterblichen ehrte. Geh nur selber hinein und umfasse die Knie des Peliden, Flehe bei seinem Vater ihn an und der lockigen Mutter, Fleh ihn beim eigenen Kinde, damit du das Herz ihm bewegest. Als er dieses gesagt, enteilte zum hohen Olympos 5'
Hermes wieder, doch Priamos sprang vom Wagen zur Erde, Ließ den Idaios im Hofe zurück; der ziigelte wartend Rosse und Esel; der Greis aber ging voran zu dem Zelte, Wo Achilleus verweilte; da fand er den Liebling der Götter Drinnen, und weit von ihm saßen die Freunde; nur zwei der Gefährten, Alkimos, Ares' Genoß, und der tapfre Automedon, waren Eifrig tätig um ihn. Er hatte mit Essen und Trinken Eben geendet, und vor ihm stand gedeckt noch die Tafel. Heimlich aber war Priamos eingetreten, und nahe Kam er, umschlang dem Peliden die Knie und küßte die schlimmen Mordgefährlichen Hände, die all seine Söhne getötet. So wie eben ein Mann, der daheim aus arger Verblendung Einen getötet, in fremdes Gebiet zum begüterten Manne Kommt und Staunen erregt bei allen, die dort ihn gewahren: So erstaunte Achill, als er Priamos sah, den erlauchten. Auch die übrigen staunten und tauschten den Blick miteinander. Flehend richtete Priamos nun das Wort an Achilleus: Denk an den eigenen Vater, du göttergleicher Pelide, Der, gleich mir, schon steht an der traurigen Schwelle des Alters. Und es könnte doch sein, daß auch ihn die umringenden Nachbarn Drängen, doch findet sich keiner, vor Fluch und Leid ihn zu schutzen. Dennoch aber, sobald er nur hört, du seiest am Leben, Freut er sich innig im Herzen und hofft von Tage zu Tage, Endlich den teuersten Sohn aus Troja kommen zu sehen. Mich aber schlug das Geschick; denn ich zeugte die edelsten Söhne Rings in Troja, und keiner davon ist übriggeblieben. Fünfzig besaß ich den Tag, da die Söhne der Danaer kamen; Neunzehn hatte der Schoß von einer Mutter geboren, Doch die anderen zeugt' ich mit Frauen in meinem Palaste. Vielen davon hat der wütende Ares die Glieder gelockert; Doch, der mein einziger.war, der allein die Stadt mir beschützte, Diesen erschlugst du mir jüngst, als er kämpfte fürs Land seiner Väter, Hektor; seinetwegen bin ich zu den Schiffen gekommen, Los ihn zu kaufen von dir mit unermeßlichen Gaben. Scheue dich doch vor den Göttern, Achilleus, erbarme dich meiner, Immer des Vaters gedenk; doch verdien' ich noch größeres Mitleid; Denn ich dulde, was nie noch ein Mensch auf Erden erduldet, Daß ich die Hände des Manns, der die Söhne mir mordete, küßte. 53
Sprach's und weckte in ihm der Sehnsucht Leid um den Vater. Sacht ergriff er den Greis bei der Hand und schob ihn beiseite. Beide voll schwerer Gedanken: um Hektor, den mordenden, weinte Kläglich der eine, der Greis, vor den Füßen gekrümmt des Achilleus; Aber Achilleus beweinte den eigenen Vater, beweinte Patroklos wieder; das Haus erscholl vom Stöhnen der Männer. Als aber endlich sein Klagen gestillt der edle Achilleus, Und geschwunden ihm war aus Brust und Gliedern die Sehnsucht, Sprang er vom Sessel empor und zog den Greis in die Höhe, Tief sich erbarmend des weißen Haupts und des weißen Kinnes, Sprach ihn an und redete gleich die geflügelten Worte: Ärmster, was hast du doch alles erdulden schon müssen im Herzen! Welch ein Wagnis, allein zu den Danaerschiffen zu gehen, Hier vor die Augen des Manns, der dir so wackere viele Söhne gemordet schon hat! Dein Herz ist wirklich aus Eisen. Komm und setze dich her auf den Sessel; wir wollen vor allem Ruhen lassen, so traurig wir sind, im Herzen die Sorgen. Gar nichts richten wir aus mit unserem schaurigen Jammer. So bestimmten die Götter das Los für die kläglichen Menschen, Immer in Sorgen zu leben; allein sie selber sind sorglos. Zwei Gefäße sind aufgestellt im Saale Kronions, Voll mit Gaben: mit bösen das eine, das andre mit guten. Wem sie zusammengemischt nun Zeus, der blitzende, sendet, Dem wird einmal das Böse zuteil und ein andermal Gutes. Wem er aber nur Schlimmes beschert, den stürzt er in Schande, Und es treibt ihn die bittere Not auf der heiligen Erde Hin und her; so irrt er, mißachtet bei Göttern und Menschen. Also beschenkten die Götter auch Peleus mit glänzenden Gaben, Seit er geboren; denn reicher als alle Menschen gesegnet Ward er mit Glück und Besitz, der Myrmidonen Beherrscher. Ja, dem Sterblichen gaben sie selbst eine Göttin zum Weibe. Aber auch Böses bescherte dazu ihm der Gott, denn er zeugte Niemals je im Palast ein Geschlecht von fürstlichen Söhnen, Nur einen einzigen Sohn, der unreif stirbt und im Alter Nicht einmal ihn versorgt; so weit vom heimischen Lande Sitz' ich in Ilios hier, zum Schrecken für dich und die Deinen. Auch von dir vernahm ich, o Greis, daß du glücklich gewesen; Weit zu den Grenzen von Lesbos hinauf, der Insel des Makar, Und über Phrygien hin zum unendlichen Hellespontos 54
Warst du, Alter, berühmt durch reichen Besitz und die Söhne. Aber seitdem dies Schwere die ewigen Götter dir sandten, Toben dir immer nur Kampf und mordende Schlacht um die Feste. Trag es geduldig und hör doch auf mit dem ewigen Jammer. Nichts erreichst du mit deiner Betrübnis noch kannst du zum Leben Wecken den Sohn, und eher noch möchtest du andres erdulden! Ihm entgegnete Priamos gleich, der göttliche Alte: Heiß mich, Göttlicher, sitzen doch nicht, solange noch Hektor Unbeerdigt im Zelte daliegt; ach, gib ihn mir baldigst Los, auf daß ich mit Augen ihn sehe, und nimm dir die vielen Preise, die her wir gebracht; du sollst sie genießen und heimwärts Kehren zum Lande der Väter, nachdem du zuvor mir gestattet, Weiter zu leben und wieder das Licht der Sonne zu schauen. Finster blickend entgegnete ihm der schnelle Achilleus: Reize mich länger nicht mehr, du Alter; gedenk' ich doch selber Hektor los dir zu geben. Es kam von Zeus mir als Botin Thetis, die mich gebar, die Tochter des Greises im Wasser. Auch erkenn' ich gewiß, mein Priamos, ohne zu zweifeln, Daß dich einer der Götter gebracht zu den Schiffen Achaias. Denn kein Sterblicher, selbst kein junger, doch würde sich trauen Her ins Lager zu kommen; ihn müßten die Wächter entdecken; Auch vermöcht' er nicht leicht den Riegel beiseite zu schieben. Drum hör auf, noch mehr mein bekümmertes Herz zu erregen; Denn ich könnte vielleicht auch dich nicht schonen im Zelte, Dich, den Bittenden selbst, und Zeus' Gebote verletzen. Also rief er; der Greis erschrak und folgte den Worten. Peleus' Sohn aber sprang wie ein Leu hervor aus dem Zelte, Nicht allein; ihm folgten zugleich die beiden Gefährten, Alkimos und der tapfre Automedon, welche Achilleus Schätzte am höchsten von allen Genossen nach Patroklos' Tode. Diese schirrten sogleich aus dem Joch die Rosse und Esel, Führten den kündenden Herold hinein des fürstlichen Greises, Setzten ihn dann auf den Sessel und nahmen vom festen Gefährte Alle die Gaben für Hektors Kopf, unendliche Preise. Nur zwei Tücher ließ man zurück und die Linnenbekleidung, Um den Toten verhüllt nach Hause geleiten zu lassen. Mägde rief nun Achill heraus und hieß sie den Toten Abseits waschen und salben, daß Priamos nicht ihn erblickte Und verleiten sich ließe zum Zorn im Jammer der Seele, Hektor gewahrend, und wieder das Herz des Achilleus empörte, Der ihn tötete dann und Zeus' Gebote verletzte. 55
Als nun die Mägde den Leib mit dem Oie gesalbt und gewaschen, Und mit dem schönen Tuch ihn hatten umhüllt und dem Hemde, Hob Achilleus ihn auf und legte ihn selbst auf das Lager, Hoben vereint die Genossen ihn dann empor auf den Wagen. Klagend rief der Pelide darauf den lieben Gefährten: Patroklos, zürne mir nicht, sobald du vielleicht auch im Hades Unten vernimmst, daß ich Hektor, den edlen, zurück nun gegeben Hier seinem Vater; doch kauft' er ihn los mit achtbarem Preise. Dir auch geb' ich davon einen Teil, soviel dir gebühret. Rief's und kehrte zurück in sein Zelt, der edle Achilleus, Setzte sich dann auf den kunstvollen Stuhl, den er eben verlassen, Gegen die andere Wand, und redete so zu dem Greise: Freigegeben ist, Priamos, nun dein Sohn, wie du wünschest, Dort auf das Lager gebettet. Sobald nur der Morgen sich rötet, Kannst du ihn sehn und entführen. Nun laß uns des Mahles gedenken! Niobe selbst im lockigen Haar auch gedachte der Speise. Die zwölf Kinder zugleich doch verlor in ihrem Palaste: Töchter sechs und Söhne sechs in blühender Jugend. Diese tötete Phoibos Apollon mit silbernem Bogen, Zornig auf Niobe, Artemis' Pfeile dagegen die Töchter, Weil sie vermessen sich gleich geachtet der rosigen Leto: Zwei nur habe die Göttin, sie selbst aber viele geboren, Prahlte sie; aber die beiden allein dann töteten alle. Diese lagen danach neun Tage im Blute, doch niemand Kam, sie bestatten; in Stein verwandelte Zeus die Genossen. Endlich am zehnten begruben sie dann die himmlischen Götter. Statt der vergossenen Tränen gedachte die Mutter der Speise. Jetzt aber wohl in die Felsen verbannt, im öden Gebirge Sipylos, wo, wie es heißt, die göttlichen Nymphen gelagert Ruhen, die rings um den Fluß Acheloïos tanzten den Reigen, Dort noch fühlt sie, verwandelt in Stein, das Leid von den Göttern. Also laß nun auch uns, du göttlicher Greis, für die Mahlzeit Sorgen; hernach aber magst du den Sohn dann wieder beweinen, Wann er in Ilios liegt; du wirst ihn genug noch beklagen. Rief's und schlachtete ab einen silbrigen Hammel, Achilleus, Stracks; den häuteten dann und richteten zu die Gefährten, Schnitten geschickt in Stücke das Fleisch und steckten's an Spieße, Brieten's mit großer Geduld und zogen es wieder herunter. Und Automedon reichte das Brot in zierlichen Körben Ober den Tisch, doch die Stücke des Fleisches verteilte Achilleus. 56
Alle langten sie dann nach dem köstlich bereiteten Mahle. Aber sobald die Begier nach Trank und Speise befriedigt, Sah mit Erstaunen der Dardaner Priamos erst, wie Achilleus Groß und gewaltig doch war und den Himmlischen glich an Erscheinung. Auch den Dardaner Priamos sah mit Erstaunen Achilleus, Weil er so gütig sein Antlitz fand und reden ihn hörte. Als sich nun jeder von Herzen gelabt an des anderen Anblick, Sprach als erster Priamos nun, der göttliche Alte: Gib mir bald nur ein Bett, du Zeuserwählter; wir müssen Endlich am lieblichen Schlaf uns erquicken, zum Ruhen gelagert. Unter den Wimpern hat sich noch nicht mein Auge geschlossen, Seit von deinen Händen mein Sohn ums Leben gekommen. Immer muß ich nur seufzen in unermeßlichem Jammer, Muß im Gehege des Hofs nur immer im Schmutze mich wälzen. Endlich hab' ich nun Speise gekostet und hab' in die Kehle Funkelnden Wein mir geschüttet; ich hatte ja nichts noch genossen. Also der Greis, und Achilleus befahl den Gefährten und Mägden, Betten unter die Halle zu stellen, mit purpurnen schönen Kissen das Lager zu polstern und Decken darüber zu breiten, Wollene Mäntel schließlich als Hülle darauf noch zu legen. Schnell verließen die Mägde den Raum mit Fackeln in Händen Und beeilten sich gleich, zwei Lagerstätten zu richten. Scherzend sagte darauf der fußgeschwinde Achilleus: Bette dich draußen, mein Alter; es könnte vielleicht ein Achaier Hierher kommen, ein Fürst vom Rate; sie pflegen gewöhnlich Rat zu halten bei mir im Zelte; so ist es gebräuchlich. Sähe dich einer davon im Dunkel der Nacht, der geschwinden, Sicher verriet' er dich gleich dem Hirten des Volks, Agamemnon, Und verzögert würde dann wohl die Entlassung des Toten. Sage mir aber noch dies und berichte getreu nach der Wahrheit: Wieviel Tage gedenkst du den göttlichen Hektor zu ehren, Daß ich warte so lang und die Mannen zurück mir noch halte? Ihm entgegnete Priamos gleich, der göttliche, greise: Willst du mir wirklich die Leichenfeier für Hektor gewähren, Kannst du durch folgende Tat, Achilleus, zu Dank mich verpflichten: Wir in der Stadt, wie du weißt, sind eingesperrt; vom Gebirge Müßten das Holz wir uns holen, doch sehr in Angst sind die Troer. Laß neun Tage uns doch in meinem Palast ihn beweinen, Dann am zehnten bestatten und rüsten das Mahl für die Mannen, 57
Weiter am elften den Hügel des Grabs für den Toten errichten Und am zwölften, wenn not, den Kampf von neuem beginnen. Gleich entgegnete wieder der göttliche schnelle Achilleus: Wohl, auch dieses geschehe, mein Priamos, so wie du forderst. Ruhen lass' ich den Kampf so lange, wie du es wünschtest. Also sprach der Pelide und faßte den Greis bei der rechten Hand am Gelenk, auf daß er die Angst ihm nähme vom Herzen. Also ruhten sie dort im vorderen Raume des Hauses, Priamos neben dem Herold, das Herz voll gewichtiger Pläne. Aber Achilleus schlief im Innern der prächtigen Hütte; Neben ihm ruhte gebettet Briseïs mit rosigen Wangen. Alle die anderen Götter und roßgerüsteten Männer Schliefen die ganze Nacht, von sanftem Schlummer gefesselt: Nur den geschmeidigen Hermes vermied der bezwingende Schlummer, Weil er im Herzen erwog, wie er Priamos wieder, den König, Brächte zurück von den Schiffen, geheim vor den Wächtern der Tore. Und er trat ihm zu Häupten und sprach ihn an mit den Worten: Greis, du scheinst nichts Böses zu fürchten; so ruhig im Schlafe Liegst du inmitten der Feinde, seitdem dich verschont der Pelide. Freilich hast du den Sohn dir erlöst und vieles gegeben. Dreimal soviel aber müßten für dich, den lebenden, zahlen Deine daheim gelassenen Kinder, sobald Agamemnon, Atreus' Sohn, dich bemerkte und alle die andern Achaier. Also sprach er; der Greis erschrak und weckte den Herold. Ihnen spannte nun Hermes ein die Rosse und Esel, Fuhr sie geschwind durchs Lager, und keiner bemerkte die Männer. Aber sobald sie zur Furt des wirbelnden herrlichen Stromes Xanthos waren gekommen, den Zeus, der unsterbliche, zeugte, Eilte Hermes wieder hinauf zum hohen Olympos. Eos im Safrangewand erleuchtete rings schon die Erde, Als die beiden die Rosse zur Stadt mit Jammer und Seufzen Trieben; es schleppten die Esel den Toten. Doch keiner gewahrte Früher sie unter den Männern und schöngegürteten Weibern, Als Kassandra, die, schön wie die goldene Aphrodite, Oben auf Pergamos stand und fern den Vater im Wagen Stehend neben dem stadtdurchrufenden Herold erblickte. Auch den Leichnam sah sie, gebettet im Eselsgefährte. Jammernd schluchzte sie auf; ihr Schreien erfüllte die Gassen: Kommt, ihr Troer und troischen Frauen, und sehet den Hektor, 58
So ihr je den lebend heim aus dem Kampfe Gekehrten Freudig begrüßtet; er war ja die Freude der Stadt und des Volkes! Also rief sie, und niemand blieb nun zurück in der Feste, Mann oder Weib; unsägliche Trauer belastete alle. Dicht beim Tore begegneten schon sie dem Totengeleite. Allen voran sein liebendes Weib und die würdige Mutter, Rauften ihr Haar und stürzten sich gleich auf den rollenden Wagen, Faßten beim Kopf ihn, und weinend stand im Kreise die Menge. Und den ganzen Tag bis spät zur sinkenden Sonne Hätten sie Hektor beweint und kläglich bejammert am Tore, Hätte nicht eben vom Wagen der Greis zum Volke gesprochen: Weichet den Eseln doch aus und lasset mich durch! Für die Klage Bleibt euch Zeit noch genug, sobald ich nach Haus ihn geleitet. Rief's; da wichen sie aus und machten Platz für den Wagen. Als sie hinein zum Palast ihn gebracht, da legten sie Hektor Gleich auf ein kunstvolles Bett und stellten zu seiten ihm Sänger, Trauerlieder zu singen; die stimmten mit jammernden Tönen Klagegesänge nun an, und es seufzten die Weiber daneben. J ammernd begann die zarte Andromache jetzt vor der Menge, Hektors, des männerverderbenden, Kopf mit den Armen umfangend : Gatte, so jung verlorst du dein Leben und läßt mich als Witwe Hier im Palaste zurück; so zart und jung ist das Söhnchen, Das wir Unseligen, ich und du, erzeugten, und schwerlich Kann es zur Blüte noch reifen; zuvor wird die Stadt hier vom Gipfel Niedergeschmettert; verlor sie in dir doch den Hort, der sie ständig Schützte, sie selbst und die ehrbaren Fraun und unmündigen Kinder. Bald wohl werden sie fort nun geschleppt in gebuchteten Schiffen, Und mit ihnen ich selbst. Auch du aber wirst mich begleiten, Du, mein Kind, um dort im Dienst eines grausamen Herren Sklavenwerk zu verrichten. Vielleicht aber wirft ein Achaier Oben vom Turm dich herab am Arm ins finstre Verderben, Einer, der zürnt, weil Hektor vielleicht ihm den Bruder getötet Oder den Vater oder den Sohn; gar viele Achaier Haben durch Hektors Faust in die ewige Erde gebissen. Nicht versöhnlich pflegte dein Vater zu sein im Gefechte; Drum bejammern ihn auch in der Stadt so schmerzlich die Völker. Unaussprechlichen Kummer und Gram erleben die Eltern, Hektor, mir aber bleibt der allerbitterste Jammer. Sterbend hast du mir nicht die Hände gereicht aus dem Bette, 59
Hast kein tröstliches Wort mir gesagt, daran ich beständig Denken könnte bei Tag und bei Nacht mit fließenden Tränen! Also klagte sie weinend, und mit ihr stöhnten die Weiber. Jetzt erhob vor dem Volk auch Hekabe jammernd die Stimme: Hektor, du warst mir im Herzen der liebste von all meinen Söhnen! Immer, solang du mir lebtest, auch warst du geliebt von den Göttern. Darum sorgten sie selbst für dich beim Todesverhängnis. All meine anderen Söhne verkaufte der schnelle Achilleus Ober das rastlose Meer, sooft er einen gefangen, Weit nach Samos, nach Imbros und Lemnos, der dampfenden Insel. Dich aber, als er das Leben mit ragendem Erz dir entrissen, Schleifte gar oft der Pelide ums Grab seines lieben Gefährten Patroklos, den du erschlugst — doch ohne ihn wieder zu wecken —. Taufrisch liegst du trotzdem, als öffne dein Mund sich zum Sprechen, Hier im Palast wie ein Mann, den Apollon mit silbernem Bogen Eben mit seinem gelinden Geschoß ereilt und getötet. Also klagte sie weinend und weckte unendlichen Jammer. Endlich erhob vor dem Volk auch Helena klagend die Stimme: Hektor, du warst mir im Herzen der liebste von all meinen Schwägern. Wohl ist jetzt mein Gemahl der göttliche Herr Alexandros, Der mich nach Troja gebracht — o, wär' ich zuvor doch gestorben! — Schon das zwanzigste Jahr ist jetzt heran mir gekommen, Seit ich von dort mich entfernte, das Land meiner Väter verlassend; Nie aber hört' ich von dir ein böses Wort noch ein schnödes, Sondern sooft mich ein andrer im Hause verwies und beschimpfte, Einer der Schwäger und schöngekleideten Weiber der Brüder, Oder die Hekabe — Priamos war mir so mild wie ein Vater —, Hieltest du stets ihn zurück und redetest immer zum Guten, Freundlich im Herzen gesinnt, so sanft mit freundlichen Worten. Drum bewein' ich mit dir zugleich mein eigenes Unglück, Denn kein anderer weit und breit im troischen Lande Will mir noch wohl und ist gut; sie meiden mich alle vor Abscheu. Also klagte sie weinend; es seufzte der Haufe des Volkes. Priamos, der Greis, ergriff das Wort vor der Menge: Troer, bringt nun Holz mir zur Stadt und fürchtet im Herzen Keinen verborgenen Überfall der Argeier; Achilleus
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Gab mir bei meiner Entlassung vom dunklen Schiff das Versprechen, Nicht uns zu schaden, bevor der zwölfte Morgen gekommen. Also sprach er; da schirrten die Männer sogleich an die Wagen Rinder und Esel und sammelten dann sich rasch vor der Feste. Ganze neun Tage schleppten sie Holz in unendlicher Menge. Als zum zehnten dann Eus das Licht den Sterblichen brachte, Trugen sie weinend endlich heraus den mutigen Hektor, Legten ihn hoch auf die Scheiter und warfen den Brand in den Haufen. Als nun die Göttin des Morgens erschien mit rosigen Fingern, Sammelte erst sich das Volk um den Brand des gepriesenen Hektor. Aber sobald sie sich alle vereint zu dichter Versammlung, Löschten sie erst den glimmenden Schutt mit funkelndem Weine, Weit wie des Feuers Gewalt gewütet; darauf aber lasen Sorglich zusammen das bleiche Gebein die Brüder und Freunde; Quellend flossen die Tränen der Trauer herab von den Wangen. Aber die Knochen bargen sie dann in goldener Urne, Zugedeckt und verhüllt von purpurnen weichen Gewändern, Senkten rasch sie darauf in die Höhle der Gruft, und darüber Türmten sie dichtgehäuft gewaltige Blöcke von Steinen, Warfen den Hügel dann auf, und überall saßen die Späher, Daß die festgeschienten Achaier sie nicht überraschten. Ais sie den Hügel errichtet und wieder von dannen gegangen, Hielten sie, festlich versammelt, dem Toten zu Ehren die Mahlzeit Jetzt in Priamos' Haus, des gottbegnadeten Herrschers. So begingen sie dort des reisigen Hektors Bestattung.
ODYSSEE Die Odyssee schildert zum ersten die Irrfahrt des Odysseus auf der Heimfahrt von Troja, dessen Eroberung, wie man weiß, erst durch die List des Odysseus mit dem hölzernen Pferd gelungen ist. Die Ankunft des »göttlichen Dulders« auf der Insel der märchenhaften Phaiaken bedeutet für ihn die letzte Station vor der Heimkehr. — Sc, erzählt die Odyssee zum andern, wie Odysseus zunächst noch unerkannt als »Bettler« sein Heimatland Ithaka betritt, wo inzwischen seine treue Gattin Penelope — nun schon im 20. Jahr der Verlassenheit — Mühe hat, ihre Gattentreue gegenüber den übermütigen Frei61
ern, die die vermeintliche Witwe zu ehelichen gedenken, zu bewahren. Nachdem es Odysseus gelungen ist, mit seinem berühmten Bogen die ahnungslosen Freier zu töten, kommt es schließlich zur Wiedervereinigung der so lange getrennten Gatten. So ist die Odyssee ebenso ein unterhaltendes Buch der Abenteuer — ähnlich »Sindbad der Seefahrer« — wie das Hohelied ehelicher Treue.
Blendung des Polyphem 62
Ankunft des Odysseus bei den Phaiaken Hier also schlief nun der große Dulder, der hehre Odysseus, Schwer überwältigt von Schlaf und von Müde, indessen Athene Volk und Stadt der Phaiaken besuchte, die frühen Bewohner Hypereias, wo breite Plätze zum Tanzen sich fanden, Nahe beim Land der Kyklopen, der übermenschlichen Männer. Diese schadeten ihnen und waren an Kraft überlegen. Aber der göttergleiche Nausithoos rief sie zum Wandern, Ließ sie in Scheria siedeln weitab von erwerbenden Männern, Ließ um die Stadt eine Mauer dann bauen, errichtete Häuser, Schuf auch Tempel der Götter und teilte die ländlichen Fluren. Der aber war vom Tod überwältigt lang schon im Hades. Jetzt war Alkinoos Herr, den die Götter beim Planen belehrten. Dessen Haus nun betrat Athene mit Augen der Eule, Plante sie doch für den hochbeherzten Odysseus die Heimkehr, Lenkte sodann ihren Schritt in die kunstvolle Kammer, worinnen Schlafend ein Mädchen lag, den Göttinnen gleich an Erscheinung Wie auch an Wuchs: des hochbeherzten Alkinoos Tochter War es, Nausikaa. Neben dem Türstock lagen zwei Mädchen, Schön wie die Mädchen der Charis. Die glänzende Tür war geschlossen. Sie aber drang zum Bett der Maid wie ein wehender Windhauch, Stellte sich über ihr Haupt und sprach sie dann an mit den Worten — Ähnlich sah sie der Tochter des Dymas, des ruhmvollen Schiffsherrn, Jung wie Nausikaa war sie und hold gesinnt im Gemüte — Dieser glich Athene mit Augen der Eule und sagte: »Ei, Nausikaa, hat dich die Mutter so lässig geschaffen? Schimmernde Kleider liegen herum und niemand besorgt sie; Du aber stehst vor der Hochzeit; du mußt selber dabei doch Schöne Kleider tragen und andere richten für jene Jünglinge, die dich dann führen; denn daher kommt doch der gute Ruf bei den Menschen zur Freude von Vater und waltender Mutter. Komm, wir gehen und waschen beim ersten Lichte des Morgens! Helferin will ich dir sein, damit du es schnellstens erledigst. Jungfrau bleibst du ja doch nicht mehr lang; da von allen Phaiaken Heut schon die Besten in unserem Volke um dich sich bewerben; Bist du doch selber Tochter des Volkes. Also, wohlan denn! Heut noch, in aller Frühe betreib es beim ruhmvollen Vater! Wagen und Maultier soll er dir rüsten, die müssen dann Gürtel, 63
Müssen die großen Gewänder und glänzenden Tücher befördern. Auch für dich ist es so viel schöner, als wenn du zu Fuß gehst. Sind doch die Gruben, in denen sie waschen, recht weit von der Stadt weg.« Also sprach sie und ging, Athene mit Augen der Eule, Fort zum Olympos; dort thronen die Götter immer und sicher, Sagen die Menschen; ihn rüttelt kein Wind, nie netzt ihn der Regen, Schnee fällt niemals darauf, so liegt er in himmlischer Klarheit Wolkenlos, umwallt von blendender Weiße. Dort oben Leben die seligen Götter in Freuden alle die Tage. Dorthin ging, als der Maid sie's gesagt, die mit Augen der Eule. Gleich aber kam jetzt Eos auf herrlichem Throne und weckte Eben das Mädchen mit schönen Kleidern, Nausikaa; diese Weilte nicht lang mehr verwundert beim Traum; sie durcheilte die Räume, Meldung zu bringen den Eltern, dem lieben Vater, der Mutter. Beide nun fand sie drinnen; die Mutter am Herd mit den Mägden Saß und spann ihre schillernden Fäden; den Vater doch traf sie Grad, wie er fort aus dem Haus zum versammelten Rat der berühmten Könige ging, wohin ihn die edlen Phaiaken beriefen. Nahe, ganz nahe trat sie zum lieben Vater und sagte: »Väterchen, liebes, könntest du nicht einen Wagen mir rüsten, Hoch und mit guten Rädern? Ich möchte berühmte Gewänder Waschen am Fluß; ich möchte dahin sie fahren; sie liegen Lang schon schmutzig herum; für dich auch ist es doch richtig, Hältst mit den ersten Männern du Rat, du tust es mit reinen Kleidern am Leibe. Fünf liebe Söhne hast du im Hause; Zwei sind vermählt, die anderen drei sind blühende Burschen! Gehn sie zum Tanzplatz, wollen sie frischgewaschne Gewänder, Immer wieder, und mir liegt am Herzen, an all dies zu denken.« Also sprach sie; Verschämtheit verbot ihr von blühender Hochzeit Wörtlich beim lieben Vater zu reden, der alles durchschaute. Darum gab er zur Antwort: »Tochter, ich geb dir die Tiere Gern und noch andres. So geh denn! Die Diener werden den hohen Wagen, den mit Bedachung und trefflichen Rädern dir rüsten.« Sprachs und gab den Dienern Befehle, und diese gehorchten, Brachten sodann instand den Maultierwagen mit guten Rädern, führten und schirrten die Tiere heran an das Fahrzeug. Aber die Tochter trug aus der Kammer die schimmernden Kleider, 64
Legte sie dann auf das trefflich gefegte Gefährt, und die Mutter Lud einen Korb mit erwünschten, vielerlei Speisen und fügte Leckeres auch noch dazu. In den Schlauch aus dem Fell einer Ziege Goß sie den Wein, und die Tochter bestieg dann den Wagen. Die Mutter Gab auch in goldenem Krug noch flüssiges 01; nach dem Baden Sollte sie sich mit den Mägden dann salben. Nun nahm sie die Geißel, Griff nach den funkelnden Zügeln, daß eilig es gehe, und peitschte. Und die Bastarden erregten schallendes Rasseln; sie legten Stark sich ins Zeug und beförderten beides, Wäsche und Herrin, Sie nicht allein, mit ihr ja gingen noch andere Mädchen. Alsbald kamen sie hin zu des Flusses lieblicher Strömung. Gruben für Jahre befanden sich dort und das herrlichste Wasser Strömte in Fülle, genug auch den gröbsten Schmutz zu entfernen. Hier nun schirrten die Mädchen die Tiere vom Wagen und trieben Hin sie zum Ufer des wirbelnden Flusses und ließen sie fressen Feldgras, süß wie Honig. Sie holten die Kleider vom Wagen, Armvoll, tauchten ins dunkle Wasser sie ein und begannen Eilig zu treten. Es gab an den Gruben hurtigen Wettstreit. Als sie dann aber gewaschen und alles Beschmutzte gereinigt, Breiteten Stück neben Stück sie aus am Strande der Salzflut, Dort, wo das Wasser den Kies am Gestade am gründlichsten säubert. Badeten dann und salbten mit glänzendem 01 ihre Körper, Nahmen die Mahlzeit ein am Rande des Flusses und ließen Ruhig die Sonnenstrahlen die Wäsche trocknen. Doch als dann Herrin und Mägde zusammen fröhlich die Speisen genossen, Nahmen die Tücher sie ab vom Kopf und begannen ein Ballspiel, Und Nausikaa führte mit weißen Armen den Reigen. Artemis schweift von Gebirg zu Gebirgen, die fröhliche Schützin, Seis durch den langen Taÿgetos, seis Erymanthos; sie freut sich, Eber und hurtige Hirsche zu treffen; mit ihr aber spielen Nymphen vom Felde, die Töchter des Zeus, des Schwingers der Aigis. Aber auch Leto ist freudiger Stimmung im Innern; denn stolzer Trägt ja die Tochter Stirne und Haupt als die andern; es kennt sie Leicht ein jeder heraus, doch freilich, schön sind sie alle: Grad so prangte im Kreis ihrer Mägde jungfräulich das Mädchen. Aber als sie dann endlich nach Hause wiederum wollte, Ließ die Tiere sie zäumen und falten die schönen Gewänder. 65
Doch da ersann Athene, die Göttin mit Augen der Eule, Wieder ein andres: Erwachen sollte Odysseus, er sollte Sehen das Mädchen mit schönem Gesicht, in die Stadt der Phaiaken Sollt es die Wege ihm weisen. Da warf denn die Königin eben Einer der Mägde den Ball zu und fehlte die Magd; in den tiefen Wirbel doch traf sie. Sie schrieen gewaltig. Der hehre Odysseus Wachte da auf und bewegte sitzend im Sinn und Gemüte: »Weh mir Armen! Ins Land welcher Sterblichen bin ich gekommen Wieder einmal? Sind's Frevler, Wilde? Kennen das Recht nicht? Sind es wohl gastliche Leute mit gottesfürchtigem Denken? Klangen doch eben um mich von Mädchen weibliche Stimmen — Sind es wohl Nymphen, die Gipfel der steilen Berge bewohnen, Quellen von Flüssen und grasige Auen? Doch eines ist sicher: Menschen mit menschlicher Stimme bin ich jetzt nahe. Wohlan denn: Mach ich mich auf, um es selber zu prüfen und selber zu sehen!« Also sagte der hehre Odysseus und stieg aus dem Laubwerk, Brach aus dem dichten Wald mit plumper Hand einen Ast ab, Stark belaubt, das Geschlecht am Körper des Mannes zu decken, Ging dann los wie der kraftbewußte Leu im Gebirge, Regen peitscht ihn und Wind, doch er schreitet, es funkeln die Augen; Rindern aber rückt er zu Leib oder Schafen, auch Hirschen, Wenn durch die Felder sie streifen; es treibt ihn der Magen; beim Kleinvieh Macht er Versuche und geht gar heran an ein festes Gebäude: Grad so mußte Odysseus den Mädchen mit reizenden Flechten, War er auch nackt, sich gesellen; denn Not hatte ihn überkommen. Fürchterlich schien er den Mädchen, beschmutzt von salziger Kruste; Zitternd stoben sie hierhin und dorthin auf hohes Gestade. Einzig Alkinoos' Tochter blieb; denn es hatte Athene Mut in den Sinn ihr gelegt und die Angst aus den Knieen genommen. Aug in Auge bewahrte sie Haltung. Da schwankte Odysseus, Sollte er bitten das Mädchen mit schönem Gesicht, seine Kniee Fassen? Sollte er gradhin mit schmeichelnden Worten von ferne Bitten, daß sie die Stadt ihm zeige und Kleider ihm gebe? Während er so es bedachte, erschien es ihm schließlich als Vorteil: Bitten wollt er von ferne mit schmeichelnden Worten, sonst könnte Böse im Sinne ihm werden die Maid, wenn am Knie er sie faßte. 66
Also begann er sogleich mit gewinnenden, schmeichelnden Worten: »Herrscherin! Kniend komm ich und frage dich: Bist eine Göttin, Bist du ein Weib? Und wohnst du als Göttin bei denen im breiten Himmel — der großen Tochter des Zeus, der Artemis, muß ich Dann dich an Ansehn, an Wuchs und an Größe am nächsten vergleichen. Bist du indessen ein sterbliches Weib, wie hier sie auf Erden Wohnen, dann dreimal Heil deinem Vater, der waltenden Mutter, Dreimal Heil deinen Brüdern; um deinetwillen ja wird sich Immer und stark ihr Gemüt erwärmen mit guten Gedanken, Wenn sie ein solches Geschöpf im Reigen schreitend erblicken. Aber im Herzen der Glücklichste wäre wohl jener vor andern, Der in sein Haus, überladen mit Brautgeschenken, dich heimführt. Nie noch sahn meine Augen so eine Sterbliche; keinen Mann und nie eine Frau; ich staune beim Schauen vor Ehrfurcht. Ja, ich sah beim Altar des Apollon einstens in Delos, Wie dort ein Stämmchen Ölbaum grad aus dem Boden emporwuchs; Kam ich dahin doch auch; es folgten mir Leute in Haufen, Jenen Weg, der in Zukunft Fülle des Leides mir brachte. Grad so stand ich und staunte gar lang im Gemüte beim Anblick. Niemals war noch ein solcher Trieb dem Boden entsprossen, Wie ich jetzt dich, o Weib, bewundernd bestaune; ich fürchte Schrecklich, dein Knie zu berühren und schwere Trauer befällt mich. Gestern, am zwanzigsten Tage, entrann ich dem weinroten Meere, All diese Tage trugen mich Wogen und reißende Winde Weg von der Insel Ogygia. Jetzt aber warf eine Gottheit Hier mich an Land, daß auch hier noch ich weitere Übel erleide. Ehe sie enden, meine ich, schicken die Götter noch viele. Darum, Herrin! Erbarmen! Denn du bist wirklich die Erste, Der ich mich nahe nach zahllosen Leiden; ich kenne ja keinen Einzigen Menschen von denen, die Stadt und Land hier bewohnen. Zeig mir den Weg in die Stadt, ein Tuch gib, daß ich mich decke! Hattest du etwa beim Kommen die Wäsche in Hüllen geschlagen? Dir doch verleihen die Götter, was alles im Sinn du dir ausdenkst: Mann und Heim und bei allem edles, versöhnliches Denken! Darin liegt ja die Kraft: In versöhnlichem Denken den Haushalt Klug überlegend zu führen für Mann und Weib. Es gibt nichts Besseres, ärgert die Obelgesinnten; die freundlich Gesinnten Freut es. Doch galt ja schon immer: am besten hören sie selber.« Aber das Mädchen mit weißen Armen, Nausikaa, sagte: 67
»Fremder Mann, du scheinst mir nicht böse und scheinst mir nicht töricht. Zeus verteilt ja den Menschen das Glück, der Olympier selber, Ganz wie er will, einem jeden, dem Schurken wie auch dem Edlen. Dir wohl auch gab er das Deine; da mußt du es eben ertragen. Jetzt aber kamst du in unsere Stadt und in unsere Heimat; Fehlen wird es da nicht an Kleidern und allem, was sonst noch Braucht so ein leiderprobter Schützling, der uns begegnet. Zeigen werd ich die Stadt und den Namen der Leute dir nennen. Diese Stadt hier und dieses Land bewohnen Phaiaken. Ich bin des hochbeherzten Alkinoos Tochter, in dessen Händen und Macht aber liegt der Phaiaken Kraft und Stärke.« Sprachs und gab nun Befehl den Mädchen mit herrlichen Flechten: »Bleibt mir stehen, ihr Mägde! Was flieht ihr, weil ihr den Mann seht? Meint ihr wohl gar, er sei aus den Scharen feindlicher Menschen? Jener Sterbliche wird nicht und lebt nicht und lebte er lange, Der in das Land der Phaiakischen Männer käme und Feindschaft Brächte; denn dafür sind sie zu lieb den unsterblichen Göttern. Einsam wohnen wir, mitten im wellenwogenden Meere, Ganz am Ende, kein anderer Sterblicher kann sich uns nähern. Der da, ein unglückselig Verschlagner, ist dennoch gekommen, Hierher zu uns; wir müssen ihn pflegen; von Zeus sind ja alle Bettler und Fremdlinge. Wenig und lieb doch ist unsere Spende. Also, Mägde, wohlan! Gebt Essen und Trinken dem Fremdling, Badet ihn auch im Fluß in windgeschützter Umgebung!« Also sprach sie. Sie blieben und gaben einander Befehle, Führten Odysseus weg in windgeschützte Umgebung, Wie es befohlen des hochbeherzten Alkinoos Tochter. Neben ihn legten sie dann einen Mantel, Kleider und Leibrock, Gaben ihm auch noch den goldenen Krug mit flüssigem Ole, Forderten alsdann ihn auf, in der Strömung des Flusses zu baden. Jetzt sprach endlich die Mägde an der hehre Odysseus: »Mägde, tretet so weit von mir weg, ich möchte doch selber Säubern die Schultern von salzigen Krusten und möchte mich selber Rundum salben mit 01; seit langem weiß ja mein Körper Nichts mehr von Fett. Vor euch aber bade ich nicht; denn ich scheue, Nackt vor euch mich zu zeigen, ihr Mädchen mit herrlichen Flechten.« 68
Also sprach er, da gingen sie weg und sagten's der Tochter. Aber der hehre Odysseus wusch nun im Fluß seinen Körper, Fegte die salzige Kruste von Rücken und breiten Schultern, Wischte vom Kopf auch den Schaum der rastlos wogenden Salzflut. Als dann wirklich alles gewaschen und glänzend gesalbt war, Zog er die Kleider an, die das Mädchen ihm brachte, die Jungfrau. Aber Athene, die Zeus Entsprungene, ließ ihn nun größer, Ließ ihn beleibter erscheinen, sie ließ auch vom Kopfe herunter Wollig die Haare ihm wallen wie blühende Hyazinthen. Wie ein Mann, der versteht ein silbernes Stück zu vergolden — Lehrer waren Hephaistos und Pallas Athene in mancher Kunst; er vollendet reizende Werke — nicht anders als dieser Gbergoß ihm das Haupt und die Schultern Athene mit Anmut. Abseits ging er zum Strande des Meeres und setzte sich nieder, Glänzend von Schönheit und Anmut. Lange staunte die Tochter. Endlich sagte sie dann zu den Mädchen mit herrlichen Flechten: »Hört mich, ihr Mägde mit weißen Armen! Ich will etwas sagen. Keinem der sämtlichen Götter, der Herrn im Olympos, zuwider Wird dieser Mann sich den göttergleichen Phaiaken gesellen, Vorher hatte er wirklich kein Ansehn, will es mir scheinen; Jetzt ist den Göttern er gleich, die den breiten Himmel bewohnen. Möchte ein Mann, so herrlich wie dieser, Gemahl mir doch heißen, Möcht er hier wohnen und hier Gefallen finden zu bleiben. Also, Mägde, wohlan! Gebt Essen und Trinken dem Fremdling!« Sprach's. Und jene hörten genau auf ihr Wort und gehorchten, Stellten dann neben Odysseus Speise und Trank. Und der große Dulder, der hehre Odysseus, aß und trank mit Gier. Er Hatte schon allzu lange kein Essen mehr zu sich genommen. Aber Nausikaa dachte an andres, das Mädchen mit weißen Armen; sie faltete Wäsche und barg sie im herrlichen Wagen, Schirrte die Tiere mit kräftigen Hufen, bestieg ihn dann selber, Hieß den Odysseus eilen und sprach und sagte bedeutsam: »Fremder Mann, jetzt auf! Wir gehn in die Stadt; ich geleite Selbst dich ins Haus meines klugen Vaters. Dort wirst du die besten Aller Phaiaken zusammen kennen lernen. Indessen Mach es genau jetzt so, denn du scheinst mir nicht ohne Verständnis: Während wir zwischen den Feldern und Äckern der Menschen noch gehen, Folge hurtig auch du mit den Mägden hinter den Tieren, Hinter dem Wagen einher. Ich selber führe den Zug an. Aber wenn wir die Stadt betreten, den Kranz ihrer hohen 69
Türme — der schöne Hafen umschließt die Stadt auf zwei Seiten, Schmal ist der Zugang; doppelt geschweifte Schiffe umsäumen Sichernd den Weg; denn für alle und jeden liegt dort ein Standplatz. Weiter den Marktplatz, rund um den schönen Tempel Poseidons, Festgefügt mit Steinen im Boden, die weither man holte — Dort besorgt man das Zeug und Gerät für die schwarzen Schiffe, Taue und Segel; dort werden die Ruder gesäubert. Es lieben Unsre Phaiaken ja gar nicht Bogen und Köcher; sie lieben Mastbaum, Ruder und richtig gehende Schiffe, auf denen Stolz sie die grauen Meere befahren. — Ihr schmähendes Reden Meid ich, daß keiner im Rücken mich schelte; denn haltlose Leute Gibt es so viele im Volk. Und träf uns ein Schlechterer, sagt er: »Ei, wer ist denn der Mann da, der schöne, der große, der Fremdling? Schau nur, er folgt der Nausikaa! wo wohl fand sie ihn? Der wird Wohl ihr Gemahl? Oder holte sie einen, den es verschlagen, Einen aus fernem Land, vom Schiffe herunter? Es gibt ja Niemand hier in der Nähe; vielleicht ist ein Gott gar vom Himmel Niedergestiegen, ein vielmals Erflehter, weil sie gebetet. Alle die Tage nun wird sie ihn haben. Immerhin besser, Ging sie auch selber daran, ihren Mann sich woanders zu holen. Uns Phaiaken im Volk hier mißehrt sie, und freien doch viele, Freien doch Edle um sie.« So werden sie reden. Ich denke, Vorwurf wär es für mich. Ich tue doch selbst so und zürne Jeder, die solcherlei täte, wenn Vater und Mutter noch leben, Männern sich widmet und dies ohne Willen und Gunst ihrer Lieben, Ohne zu warten, vor aller Augen die Ehe zu schließen. Fremdling! rasch jetzt höre mein Wort, du sollst ja doch baldigst Heimfahrt auch und Geleit von meinem Vater bekommen. Nahe dem Weg ist ein prangender Hain von Pappeln; Athene Ist dort daheim; den finden wir; drinnen ein Quell; es umgibt ihn Rings eine Wiese. Dies ist des Vaters eignes Besitztum, Blühendes Fruchtland. Nur einen Ruf weit ist es zur Stadt hin. Setz dich dort nieder und warte ein Weilchen, während wir selber Stadtwärts gehn und ins Haus unsres Vaters gelangen. Und wenn du Meinst, wir seien so weit und im Hause, dann mach dich auch du auf, Geh in die Stadt der Phaiaken und frage herum nach dem Hause Meines Vaters, des hochbeherzten Alkinoos. Leicht ist's Kenntlich, ein törichtes Kindchen kann dich da führen. Es gibt nicht Irgendein Haus im Volk der Phaiaken von ähnlicher Bauart, 70
Wie den Palast des Helden Alkinoos. Wenn das Gebäude, Wenn dann der Hof dich umgibt, dann durcheile den Saal, meiner Mutter Sollst du zuerst ja begegnen. Sie sitzt am Herd, an die Säule Lehnt sie sich an und im Glanze des Feuers dreht sie die Fäden, Schillernd gefärbt wie das Meer, ein Wunder zu schauen. Die Mägde Sitzen dahinter. Dort aber steht auch der Thron meines Vaters, Auch an die Säule gerückt. Dort sitzt er und schlürft seine Weine, Grade als wär er unsterblich. An ihm aber gehe vorüber, Schling um die Kniee der Mutter die Hände, unserer Mutter, Dann wirst den Tag deiner Heimkehr freudig und bald du erleben. Magst du auch kommen aus weitester Ferne. Wenn sie dir gewogen, Liebes dir sinnt im Gemüte, dann hast du jegliche Hoffnung, Wiederzusehn deine Freunde, dein festgegründetes Wohnhaus Wieder zu finden und endlich auch das Land deiner Heimat.« Also sprach sie und schlug auf die Tiere die glänzende Geißel. Die aber ließen die Strömung des Flusses bald hinter sich; liefen Immer trefflich und trefflich griffen sie aus mit den Beinen. Sie doch lenkte bedacht, daß Odysseus und mit ihm die Mägde Folgen konnten zu Fuß, und gebrauchte verständig die Peitsche. Sonne versank, und sie kamen zum ruhmvollen Hain der Athene; Heilig war er. Dort setzte sich nieder der hehre Odysseus, Flehte dann gleich zur Tochter des großen Zeus im Gebete: »Unbezwingliche Tochter des Zeus, des Schwingers der Aigis, Höre, vernimm mich jetzt endlich! Bisher hast du nicht mich vernommen, Als mich schlug und zerschlug der gerühmte Erschüttrer der Erde. Laß mich erbarmenswert und als Freund den Phaiaken begegnen!« Also sprach er betend; es hörte ihn Pallas Athene. Freilich vor ihm erschien sie noch nicht in Person; denn sie scheute Ihres Vaters Bruder, der grimmig weiterhin zürnte, Ehe sein Land erreichte der göttergleiche Odysseus.
Die Erkennung Jetzt aber stieg nun die Alte hinauf in die oberen Räume, Jubelnd der Herrin zu melden, ihr lieber Mann sei im Hause. Kniee und Füße versagten beinahe schlotternd und taumelnd; 7
Aber sie trat doch hin ihr zu Häupten und sagte ihr Kunde: »Komm! Wach auf! Du geliebte Tochter Penelopeia! Schau du mit eigenen Augen dein Sehnen alle die Tage!
Kommen ist dein Odysseus! Nach Hause! Wohl spät ist er kommen; Doch er erschlug auch die trutzigen Freier, die dauernd im Hause Plündernd die Habe verpraßten, Gewalt gar am Sohne verübten.« Ihr entgegnete da die gescheite Penelopeia: »Mütterchen, liebes! Die Götter wohl machen dich toll, denn sie können's: Unbesonnen machen sie manchen, der tüchtig besonnen, Brachten so manchen mit schwächerem Sinn auf die Bahn des gesunden; Dir aber taten sie Schaden; dein Sinn war bisher doch in Ordnung. Warum willst du mich höhnen? Ist nicht mein Gemüt voller Trauer? Sagst mir verrückteste Dinge und weckst mich aus süßestem Schlummer, Der mir die lieben Lider umhüllte und tief mich gefesselt. So fest hab ich noch niemals geschlafen, seitdem mein Odysseus Ging, um Bös-Ilion mitzuerleben -- verflucht sei sein Name! Steige denn jetzt hinunter und gehe zurück in die Kammer! Hätte ein anderes Weib von denen, die mir gehören, Solche Meldung gebracht und gestört mich im Schlafe, ich hätte Rasch und so, daß ihr graut, in die Kammer sie wieder befördert. Freilich in deinem Fall soll das Alter zugute dir kommen.« Ihr aber sagte die liebe Amme Eurykleia: »Nein, ich höhne dich nicht, meine Tochter, es ist schon ganz ehrlich! Kommen ist dein Odysseus! Nach Hause! Ganz wie ich sagte. Jener Fremdling ist es, den alle im Saale mißehrten. Lange ja wußte TeIemachos, daß er schon da ist; doch barg er Stets mit gesundem Sinn seines Vaters Gedanken so lange, Bis die Gewalt jener allzu männlichen Männer er strafte.« Also sagte sie, jene doch sprang aus dem Lager voll Freude, Schlang um die Greisin die Arme und ließ aus den Lidern es rinnen, Sprach sie dann an und sagte zu ihr geflügelte Worte: »Mütterchen, liebes, ja nun sag mir und sag es in Klarheit: Ist er denn wirklich und wahrhaft im Hause, so wie du mir meldest, Daß er den schamlosen Freiern die Fäuste nun zeigte, er Einer; Sie aber hausten da drinnen allzeit alle zusammen.« Ihr aber sagte die liebe Amme Eurykleia: »Nichts erfuhr, nichts sah ich; ich hörte nur deutlich das Stöhnen 72
Sterbender Männer; doch wir im Winkel der festen Gemächer Saßen verschüchtert; es hemmten die trefflich gezimmerten Türen, Bis mich endlich dein Sohn Telemachus rief, den der Vater Schickte, er solle mich rufen. Da fand ich Odysseus inmitten Totgeschlagener Menschen, aufrecht stehend, und um ihn Lagen sie übereinander am hartgestampften Boden. Hättest du so ihn gesehen, es wäre dir heiß im Gemüte, Mein ich, geworden; blutübergossen, als wär er ein Löwe. Jetzt aber liegen sie wirklich alle draußen am Hoftor, Sämtliche; er aber schwefelt das herrliche Haus; denn ein großes Feuer hat er entzündet und hat mich geschickt, dich zu rufen. Komm denn und folge und öffnet ihr beide die liebenden Herzen Weit für den Frohsinn; Leiden in Fülle ja habt ihr erduldet. Nun ist endlich dein langer Wunsch in Erfüllung gegangen; Er ist kommen, er selber! Er lebt! Hat den Herd, hat auch dich nun, Hat deinen Sohn im Palaste gefunden und hat diese Freier Alle gestraft und im eigenen Haus, die so bös es getrieben.. Ihr entgegnete dann die gescheite Penelopeia: »Mütterchen, liebes! Jauchze noch nicht so laut und so prahlend! Freilich weißt du, wie hoch willkommen im Haus er erschiene, Allen, am meisten wohl mir und dem Kind, das beide wir zeugten. Doch die Geschichte, wie du sie erzählst, ist sicher nicht richtig: Nein! ein Unsterblicher schlug die erlauchten Freier zu Tode. Sah er doch ihre Verbrechen, verwundert, wie sehr die Gemüter Kränkte ihr Hochmut. Keinem irdischen Menschen, der herkam, Gut oder schlecht, ward Ehre gezollt. So mußten sie leiden: Unheil kam für den törichten Frevel. Aber Odysseus — Fern der Achaiis ging selbst er verloren, verlor er die Heimkehr.. Antwort gab ihr die liebe Amme Eurvkleia: »Nein, mein Kind, welch ein Wort entschlüpfte dem Zaun deiner Zähne! Drinnen saß dein Gemahl am Herd und du sagtest, er komme Nie mehr nach Haus; dein Gemüt war immer dem Glauben verschlossen. Aber nun schau, ich sag dir ein anderes deutliches Zeichen: Jene Narbe! Ein Eber schlug sie mit weißem Hauer. Als ich ihn wusch, bemerkte ich sie und ich wollt es dir sagen. Er aber fuhr mit der Hand an den Mund mir und ließ mich nicht sprechen, Tat es bedacht und mit viel Überlegung. Folge mir also! Ich aber setze mich selbst dir zum Pfande. Führ ich dich irre, 73
Bring mich dann um und wähle die fürchterlichste Vernichtung!« Antwort gab ihr darauf die gescheite Penelopeia: »Mütterchen, liebes, daß du grad die Pläne ewiger Götter Richtig erkänntest, das ist wohl zu schwer bei all deinem Wissen. Aber nun denn, wir gehen zum Sohn; dort kann ich ja sehen Unsre ermordeten Männer, die Freier, und i h n auch, den Mörder. « Sprach's und stieg nun herab von den oberen Räumen. Sie spürte Schweres Drängen im Herzen: Sollte den lieben Gemahl sie Nur aus der Ferne befragen? Sollte sie nahe ihm kommen, Küssen ihm Haupt und Hand? Da betrat sie die steinerne Schwelle, Ging in den Raum an die andere Wand gegenüber Odysseus, Setzte sich hin, während er im Glanze des Feuers beim langen Pfeiler gesenkten Blickes nun hoffte, die kraftvolle Gattin Werde ein Wort für ihn finden: sie sah ihn ja leibhaft vor Augen. Sie aber saß und saß und schwieg, das Herz voll Verwirrung; Immer wieder doch drang mit dem Blick sie ihm tief in das Antlitz, Immer doch wieder mißkannte sie ihn durch die Lumpen am Leibe. Jetzt aber schalt sie Telemachos, sprach und sagte bedeutsam: »Mutter, du schreckliche Mutter, wie ist dein Gemüt so zuwider? Hältst dich so ferne vom Vater? bei ihm doch solltest du sitzen! Warum fragst du ihn nicht? Wo bleiben die forschenden Worte? Wahrlich, es könnte kein anderes Weib im Gemüt es ertragen, So einem Manne fern sich zu halten, der Leiden in Fülle Trug und im zwanzigsten Jahre im Land seiner Heimat erschiene. Immer doch hast du ein Herz wie ein Stein und noch härter als dieser.« Ihm doch entgegnete dann die gescheite Penelopeia: »Lieber Sohn, mein Gemüt in der Brust ist staunend benommen. Kräfte fehlen mir noch, nur ein Wörtchen zu sagen, zu fragen, Aber erst recht für den Blick von Auge zu Auge. Doch wenn es Wirklich Odysseus ist, wenn sein Haus er betrat, — dann glaub mir: Wir werden besser einander erkennen, wir beiden; wir haben Zeichen, die wirklich andre nicht kennen; die wissen wir beide.« Sprach's, und es lachte der große Dulder, der hehre Odysseus, Leise und sagte Telemachos eilig geflügelte Worte: »Komm, Telemachos! laß deine Mutter in unseren Räumen Richtig mich prüfen ; dort wird sie es besser und schneller verrichten. Lumpige Kleider trag ich am Leib und starre von Unrat. Muß sie mich so nicht mißehren und zweifeln, ich sei schon der Rechte? Wollen wir lieber bedenken, wie bestens sich alles gestalte! 74
Wer auch immer im Volk einen einzigen Mann nur erschlagen, Obendrein, wenn nicht viele er hat, die ihm hinterher helfen — Fliehen muß er und fort von Verwandten, vom Land seiner Heimat. Wir doch erschlugen von Ithakas Söhnen weitaus die Besten, Tragende Stützen der Stadt; ich heiße dich daran zu denken!« Ihm aber hielt der gewandte Telemachos wieder entgegen: »Darauf richte doch du deine Blicke, mein Vater; man hält doch Deinen planenden Sinn für den besten der Welt, und es könnte Sicher kein andrer der sterblichen Menschen im Streit dir begegnen. Wir aber werden geschlossen und stürmisch dir folgen; ich meine: Mut zur Abwehr wird uns nicht fehlen, soweit wir es können.« Antwort gab ihm und sagte der einfallreiche Odysseus: »Also sage ich denn, wie ich glaube, so sei es am besten: Badet vor allem, zieht euch dann an, ein jeder den Leibrock, Gebt auch den Mägden im Haus Befehl ihre Kleider zu holen! Weiter nehme der göttliche Sänger die klingende Leier, Gehe uns führend voran bei den lieben, lustigen Tänzen! Wer es draußen vernimmt, soll meinen, es gebe hier Hochzeit, Mags einer sein, der vorbei bloß geht, oder einer der Nachbarn. Nicht darf breites Geschrei in der Stadt entstehen, die Freier Seien ermordet, bevor uns nicht glückt, auf unsere Felder Draußen im Baumgelände zu kommen. Dort wird es dann Zeit sein, Was der Olvmpier bietet an Vorteil, gut zu bedenken.« Sprach's, und jene hörten genau auf sein Wort und gehorchten. Nahmen vor allem ihr Bad und ein jeder nahm seinen Leibrock. Aber die Weiber machten sich fertig, der göttliche Sänger Griff die gewölbte Leier und weckte in ihnen Verlangen, Süße Weisen und tadellosen Tanz zu genießen. Rundum dröhnte im großen Palast das Gestampf ihrer Füße: War's doch ein Spiel von Männern und schön gegürteten Weibern. Mancher, der draußen am Hause es hörte, sagte da öfter: »Wirklich! da macht ja die vielumworbene Königin Hochzeit! Schrecklich! sie brachte nicht fertig, den großen Palast ihres Gatten Ihm zu bewahren und durchzuhalten, bis er noch käme!« So sprach mancher, es wußte ja keiner das wahre Geschehen. Doch als Eurynome jetzt ihren hochbeherzten Odysseus Frisch gebadet und reichlich gesalbt im eigenen Hause, Tat sie als Schaffnerin schöne Tücher ihm um und den Leibrock. Schönheit in Fülle ließ dann am Kopf Athene erstrahlen, Ließ ihn beleibter und größer erscheinen, vom Haupte herunter Wollig die Haare ihm wallen wie blühende Hyazinthen. 75
Wie ein Mann, der versteht ein silbernes Stück zu vergolden — Lehrer war ihm Hephaistos und Pallas Athene in mancher Kunst; er vollendet reizende Werke -- nicht anders als dieser Übergoß nun sie ihn an Haupt und an Schultern mit Anmut. So entstieg er der Wanne, Unsterblichen ähnlich an Aussehn, Setzte dann wieder sich hin auf den Stuhl, den zuvor er verlassen, Grad gegenüber der Gattin und sprach sie an mit den Worten: »Bist du ein Unhold? Keiner der anderen fraulichen Weiber Gaben die Herrn des Olympos ein Herz so bar jeder Rührung! Wahrlich, es könnte kein anderes Weib im Gemüt es ertragen, So einem Manne fern sich zu halten, der Leiden in Fülle Trug und im zwanzigsten Jahre im Land seiner Heimat erschiene. Komm denn, Mütterchen, richte ein Lager, auch ich will mich legen. Wahrlich, sie hat ein Herz im Innern, als wär es von Eisen. Ihm doch entgegnete wieder die kluge Penelopeia: »Bist du ein Unhold? Weder mach ich mich groß noch geringer, Bin auch nicht allzu verwundert: Ich weiß noch, wie einst du gewesen, Weiß es noch gut, wie ins Schiff mit den langen Rudern du einstiegst Hier in Ithaka. Auf Eurvkleia! Rüste ein festes Lager, doch nicht in der trefflich errichteten Kammer, die selber Einst er erbaute. Und habt ihr das Lager nach außen getragen, Fü llt es mit Bettzeug, Vliesen und Decken und glänzenden Kissen.« Also sprach sie, den Ehegemahl auf die Probe zu stellen. Grollend doch sagte darauf seiner sorglichen Gattin Odysseus: »Weib, das ist wahrlich ein Wort, das schmerzt mich tief im Gemüte. Wer hat mein Bett woanders errichtet? So klug ist wohl keiner, Denk ich; es wäre zu schwierig; es müßte ein Gott sein, der käme; Freilich, der könnte es leicht, wenn er wollte, wo anders errichten; Aber es lebt kein Mensch, und ständ er im kräftigsten Alter, Der es so leicht mit Hebeln bewegte. Ein mächtiges Zeugnis Birgt ja dies Bett eines Meisters; das machte nur ich und kein andrer. Wuchs doch in unserem Hofe ein Olbaum mit länglichen Blättern, Blühte und wipfelte auf und dick war er wie eine Säule. Um diesen Olbaum baut' ich die Kammer; ich machte sie fertig, Fest ineinander schob ich die Steine und deckte sie trefflich; Setzte die Türe dann ein, die glatt und kräftig gefügt war. Schließlich köpfte ich noch den Baum mit den länglichen Blättern. Gut und verständig glättete ich mit dem Beil dann den Baumstumpf, Fing bei der Wurzel schon an und hieb ihn zurecht nach der Richtschnur. 76
Kunstvolle Mühe verlangte der Bettfuß; sämtliche Löcher Bohrte ich aus und begann dann bei ihm mit dem Glätten des Lagers, Zierte es reich mit Elfenbein, mit Gold und mit Silber, Um dann die purpurn glänzenden Lederriemen zu spannen. Damit verrate ich dir mein Zeichen; doch kann ich nicht wissen, Fußt mir das Bett, o Weib, noch im Erdreich? Oder verschob es Irgend ein Mann, der den Stamm der Olive am Grunde entzweite?« Sprach's, und sofort versagten ihr liebes Herz und die Kniee, Denn sie erkannte das Zeichen, das treffend Odysseus ihr sagte. Weinend ging sie jetzt grad auf ihn zu und schlang ihre Arme Fest um den Hals des Odysseus, küßte das Haupt ihm und sagte: »Grolle mir nicht, mein Odysseus! Du hast ja auch sonst für die Menschen Tiefstes Verständnis; es waren die Götter; sie schickten den Kummer, Gönnten uns nicht beisammen zu bleiben, die Freuden der Jugend Froh zu durchleben und so zur Schwelle des Alters zu kommen. Räche es jetzt nicht an mir und ergib dich nicht dauerndem Zürnen, Daß ich beim ersten Erblicken nicht gleich dich zärtlich liebkoste. Schauder empfand mein Gemüt in der lieben Brust ja doch immer, Wieder käme ein Sterblicher, der mit Geschwätz mich betörte. Viele ja treiben es so und sinnen auf üble Gewinne. Selbst die Tochter des Zeus, die Argeierin Helena, hätte Nicht sich dem fremden Manne gesellt auf dem Lager der Liebe, Hätte sie Ahnung gehabt, die Heldensöhne Achaias Brächten sie wieder nach Hause ins liebe Land ihrer Heimat. Doch eine Göttin trieb sie, ihr schändliches Werk zu begehen. Früher ergab sie sich nicht im Gemüt ihrer grausen Verblendung; Die aber wurde zuerst auch für uns eine Quelle der Trauer. Jetzt aber sagtest du mir das Zeugnis unseres Bettes Klar und deutlich, das niemals ein anderer jemals gesehen, Du nur und ich und als allereinzige Aktoris, die mir Damals mein Vater zur Dienerin gab, als einst ich hierher zog. Wächterin war sie für uns an der Türe des festen Gemaches. Richtig zuwider war mein Gemüt; du machtest es sicher.« Sprach's und erregte in ihm zu Klagen noch stärkere Sehnsucht. Weinend hielt er die sorgende Gattin, den Wunsch seines Herzens. So wie von Schwimmern ein sichtbares Ufer freudig begrüßt wird, Denen Poseidon auf See ihr festgezimmertes Fahrzeug Völlig zerriß, da Winde es trieben und prallende Wogen — Wenige kommen heraus aus den schäumenden Fluten ans Festland, 77
Salziges Wasser trieft dann den Schwimmern vom Körper, doch glücklich Treten sie endlich auf Grund, ihrem Unheil sind sie entronnen: So beglückend erschien der Gemahl ihr, sooft sie ihn ansah; Immer noch gab seinen Hals sie nicht frei aus den weißen Armen. Eos selbst mit rosigen Fingern sah noch den Jammer, Hätte nichts andres ersonnen die Göttin mit Augen der Eule: Lange ließ sie die Nacht noch säumen am Rand ihrer Laufbahn, Ließ auch Eos auf goldenem Thron im Okeanos warten, Ließ sie die hurtigen Rosse nicht schirren, den Menschen zu leuchten: Phaëthon war es und Lampos, die Fohlen am Wagen der Eos. Jetzt sprach endlich zur Gattin der einfallreiche Odysseus: »Liebes Weib, wir steten ja noch gar nicht am Ende der Plagen; Unermeßliche Mühen wird es noch kosten; ich muß sie Alle zu Ende noch bringen, so viel und so schwer sie auch seien; Denn meine Zukunft hat mir Teiresias' Seele geweissagt. Stieg ich doch wirklich hinab eines Tages und drang in des Hades Haus, als ich Heimkehr suchte für mich und für meine Gefährten. Aber nun komm, du mein Weib, wir gehen aufs Lager und wollen Endlich in süßestem Schlummer der Ruhe des Schlafes genießen.« Ihm doch erwiderte dann die gescheite Penelopeia: »Allzeit steht dir das Lager bereit, so oft du Verlangen Spürst in dem eignen Gemüt; denn die Götter ließen dich wieder Finden dein festgegründetes Haus und das Land deiner Heimat. Da du dies eben erfuhrst und ein Gott ins Gemüt es dir legte, Komm und berichte die Mühe! Ich meine, ich werde sie später Doch noch vernehmen; doch gleich sie zu wissen ist auch nicht von tYbel. «
Antwort gab ihr und sagte der einfallreiche Odysseus: »Bist du ein Unhold, daß du mich wieder so drängst und zu sprechen Nötigst? Nun denn, ich will dir erzählen und nichts dir verbergen. Freilich wird dein Gemüt keine Freude dran haben; ich selber Freue mich nicht; denn er hieß mich, zahllose Städte der Menschen Aufzusuchen, in Händen ein handliches Ruder zu tragen, Bis ich zu jenen dann käme, die nichts mehr wissen vom Meere, Menschen, die Salz auch nicht mit den Speisen genießen, die also Gar nichts wissen von Schiffen mit rotgestrichenen Seiten, Nichts von handlichen Rudern, die Schiffen Flügel verleihen. Folgendes klare Zeichen verriet er, du sollst es vernehmen: Träfe mich endlich ein anderer Wandrer und sagte, ich trüge 78
Wohl eine Schaufel zum Worfeln bei mir auf der glänzenden Schulter, Dann sei es Zeit, das Ruder im Boden fest zu verstauen. Schöne Opfer sollte ich bringen dem Herrscher Poseidon, Schaf und Stier und ein männliches Zuchtschwein. Sei dies geschehen, Sollte ich heimwärts ziehen und heilige Hekatomben Allen unsterblichen Göttern, den Herren im breiten Himmel, Opfern, ganz nach der Reihe. Der Tod aber werde mir nahen Sanft und nicht aus dem Meere; zermürbt vom behäbigen Alter Wird er mich töten, mein Volk aber wird mich umringen und glücklich Werden sie sein. Und so soll alles bei mir sich vollenden.. Ihm doch erwiderte da die gescheite Penelopeia: »Wenn denn wirklich die Götter ein besseres Alter dir schenken, Hoffnung haben wir dann, daß von Unheil endlich du frei wirst. Solches sprachen die beiden untereinander. Inzwischen Hatten Eurynome und auch die Amme beim Scheine der Fackeln Fertig das Bett aus weichsten Stoffen bereitet, und als sie Schließlich das tüchtige Lager geschäftig und eilig gerichtet, Ging die Greisin hinweg um selber im Hause zu schlafen, Während Eurynome, jetzt als Kämmerin, Fackeln in Händen Führerin war, als die beiden sich endlich zum Lager begaben. Nach dem Geleit verließ sie die Kammer. Doch jene gelangten Glückes voll an die Stätte des altehrwürdigen Bettes. Aber Telemachos wie auch die Hüter der Rinder und Schweine Ließen die Beine vom Tanzen jetzt ruhen und riefen die Weiber Auch zur Ruhe und legten sich nieder im schattigen Saale. So wie die beiden nun schwelgten in innigster Liebe, so schwelgten Dann sie im Wechselgespräch der Geschichten. Die eine erzählte, Was im Palast sie erduldet, die hehrste der Frauen, beim Anblick Jener dunklen Gesellschaft freiender Männer, die Mengen Kräftiger Schafe und Rinder um ihretwillen geschlachtet, Wie auch den Wein aus den mächtigen Krügen in Menge sie schopften. Aber der Sproß der Götter, Odysseus, erzählte von Leiden, Die er den Menschen getan, und von jenen, die selbst er erduldet; Sagte der schwelgenden Hörerin all seinen Jammer, und dieser Fiel kein Schlaf auf die Lider, bevor er nicht alles berichtet. Und so begann er, wie er zuerst die Kikonen vernichtet, 79
Wie er die fetten Gefilde der Lotophagen betreten, Was ihm der Kyklops getan und wie er die starken Gefährten Mitleidlos gefressen, doch er dann Rache vollzogen; Wie er zu Aiolos kam, der gütig im Haus ihn beherbergt, Wie er Geleit ihm gab, doch wie es ihm noch nicht bestimmt war, Damals die Heimat zu finden, wie vielmehr wieder ein Windstoß Fort ihn riß auf das fischreiche Meer, so sehr er auch stöhnte. Wie er Telépylos fand im Lande der Laistrygonen, Die ihm die Schiffe vernichtet und alle geschienten Gefährten. Er nur, Odysseus allein, entkam mit dem schwarzen Schiffe. Kirkes listige Art, ihre Machenschaften erzählt' er, Dann seinen Gang hinab in des Hades modrige Stätte, Wo bei der Seele des Thebers Teiresias Kunde er suchte — Viele Ruder hatte sein Schiff — und alle Gefährten Konnte er sehen, vor allen die Mutter, die ihn geboren, Die ihn von klein auf erzog. Er erzählte, wie der Sirenen Helle Stimmen er hörte, und wie er die schlagenden Felsen, Wie die Charybdis, wie er die schreckliche Skylla erreichte, Der noch keiner lebend entkam, und wie die Gefährten Helios' Rinder getötet, daß Zeus dann mit qualmenden Blitzen Donnernd von oben das eilende Schiff ihm getroffen, daß alle Edlen Gefährten mit einem Schlage verkamen und er nur blem Tode entrann, und wie er die Nymphe Kalypso Fand auf der Insel Ogygia, wie sie zurück ihn gehalten, Ihn zum Gemahl sich gewünscht in geräumiger Grotte und pflegte, Wie sie unsterblich ihn machen wollte und niemals alternd Alle die Tage; doch wurde er nie im Gemüte ihr hörig. Weiter erzählt' er die leidvolle Fahrt zum Land der Phaiaken, Die ihn im Herzen ehrten, als wär er ein Gott, und ihn endlich Sicher zu Schiff verbrachten ins liebe Land seiner Heimat, Erz und Gold und genügend Gewandung als Gaben ihm brachten. Damit schloß die Erzählung; denn süßer Schlummer befiel ihn Plötzlich und löste die Glieder und löste den Gram des Gemütes. Aber Athene mit Augen der Eule besann sich auf andres: Als sie hoffte, Odysseus habe in seinem Gemüte Freudig genossen das Lager der Gattin und kräftig geschlummert, Hieß sie Eos auf goldenem Throne sofort sich erheben, Licht vom Okeanos her zu den Menschen zu senden. Odysseus Aber erhob sich vom weichen Bett und beriet nun die Gattin: »Liebes Weib, wir beide sind satt von der Fülle der Plagen; Du warst daheim und weintest herbei meine leidvolle Rückkehr, 8o
Trauernde Athene 8i
Mir doch versperrten, so sehr ich mich mühte, das Land meiner Heimat Zeus und die anderen Götter. Doch jetzt, da wir beide uns fanden, Endlich am Ziel unsrer Wünsche, im Lager der Liebe, da sollst du All unsre Habe, soweit sie noch mein ist, im Hause besorgen. Aber die Schafe, die übermütige Freier verringert, Werde ich selber durch Raub mir reichlich ergänzen; die andern Geben mir dann die Achaier, bis alle Gehöfte gefüllt sind. Ich aber gehe hinaus auf das Feld, das mit Bäumen besetzt ist, Wiedersehen möcht ich den Vater, den edlen, der ewig Meinetwegen sich grämte. Doch dir, der verständigen Gattin, Rate ich dringend: Sogleich wenn die Sonne sich hebt, wird die Kunde überallhin sich verbreiten, daß ich im Palaste die Freier Tötete. Du aber geh mit den dienenden Frauen nach oben; Bleibe dort sitzen und stelle nicht Fragen und halte nicht Umschau!« Sprachs und legte die herrliche Rüstung sich fest um die Schultern, Weckte Telemachos auf und die Hirten der Rinder und Schweine; Allen befahl er, Waffen zum Kampf in die Hände zu nehmen. Diese gehorchten genau und nahmen die ehernen Waffen, Gingen hinaus zum geöffneten Tor und als erster Odysseus. Licht schon wurde es über der Erde; aber Athene Barg sie in nächtliches Dunkel und führte sie schnell aus dem Stadtkreis. • . Hermes von der Kvllene holte der freienden Männer Seelen, indem er sie rief; er trug in der Hand seinen schönen, Goldenen Stab, womit er die Augen von Menschen bezaubert, Wo er es will, und andere wieder erweckt, wenn sie schlafen; Setzte sie so in Bewegung: ein schwirrendes, ganzes Gefolge. Wie wenn Fledermäuse im Eck einer göttlichen Grotte Schwirren und flattern, so oft sich nur eine der Kette am Felsen Loslöst, daß sie herabfällt — hängen doch alle zusammen —, Grad so schwirrten sie drängend heran und folgten dem Führer Hermes, dem Retter; entlang den Pfaden im dämmrigen Düster; Gingen vorbei an Okeanos' Strömung, am Felsen Leukas, Gingen vorüber an Helios' Toren, am Ort, wo die Träume Wohnen, und kamen dann schnell an ihr Ziel, zur Asphodeloswiese. Diese ist Raum und Behausung der Seelen, der Masken der Müden.
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Hesiod Mit Hesiod meldet sich ein bis zwei Generationen nach Homer, also im 7. Jahrhundert, erstmals auch das mutterländische Griechenland zum Wort. Von diesem Dichter wissen wir mehr über seine Lebensumstände als von Homer, weil er in seinen Gedichten zum ersten Mal auch von sich selber spricht: Hesiod ist in Askra in Böotien geboren, offenbar seiner eigentlichen Väterheimat, aus der sein Vater Dios als Kaufmann in das äolische Kvme ausgewandert, in die er aber später, vermutlich nach dem Fehlschlag seiner überseeischen Unternehmungen, wieder zurückgekehrt war. — Hesiods zwei Hauptwerke sind die » Theogonie« , in der er die Götter und göttlichen Mächte Homers und des Volksglaubens in ein zeitliches und genealogisches System zu bringen versuchte, und die »Werke und Tage ,, . Veranlassung zu diesem zweiten Hauptwerk war der Rechtsstreit mit seinem Bruder Perses um das väterliche Erbe. Hesiod will mit dieser seiner Dichtung, — die noch äußerlich die Form des Epos trägt, — deren Gabe ihm die heimischen Musen vom Helikon verliehen haben, seine Hörer, Hirten und Bauern, belehren und ihnen zur Gerechtigkeit gegen die Willkür der Könige und Herrschenden verhelfen, die bei Homer noch unbekümmert über die Beherrschten verfügten. So verschafft Hesiod in diesem Werk nicht nur dem Tagewerk der Bauern das ihm gebührende Ansehen und seine Ehre, vielmehr versucht er auch, eine Antwort auf die ihn quälende Frage nach dem Ursprung der Ungerechtigkeit unter den Menschen zu finden, u. a. in dem Mythos von den Weltaltern.
Der Mythos von den Weltaltern Golden war das Geschlecht der redenden Menschen, das erstlich Die unsterblichen Götter, des Himmels Bewohner, erschufen. Jene lebten, als Kronos im Himmel herrschte als König, Und sie lebten dahin wie Götter ohne Betrübnis Fern von Mühen und Leid, und ihnen nahte kein schlimmes Alter, und immer regten sie gleich die Hände und Füße, Freuten sich an Gelagen, und ledig jeglichen Obels, Starben sie, übermannt vom Schlaf, und alles Gewünschte Hatten sie. Frucht bescherte die nahrungspendende Erde Immer von selber, unendlich und vielfach. Ganz nach Gefallen Schufen sie ruhig ihr Werk und waren in Fülle gesegnet, 83
Reich an Herden und Vieh, geliebt von den seligen Göttern. Aber nachdem nun dies Geschlecht in der Erde geborgen, Wurden sie zu Dämonen nach Zeus, des erhabenen, Willen, Herrliche, weilen auf Erden, sind Hüter der sterblichen Menschen, Und sie wahren das Recht und wehren frevelnden Werken. Luftig als Nebel durchschweifen sie alle Weiten der Erde Segenspendend. Und dies ist nun ihr königlich Anrecht. Wieder ein andres Geschlecht, ein weit geringeres, schufen Silbern die ewigen Götter, die hoch den Himmel bewohnen, Weder an Wuchs dem goldnen vergleichbar, noch an Gesinnung. Hundert Jahre wuchs das Kind bei der sorglichen Mutter Fröhlich, betreut empor, unmündig im eigenen Hause. Reifte es aber sodann und erlangte die Blüte der Jugend, Lebten sie nur noch wenig und kurz und leidenbeladen Durch ihren Unverstand; den frevlen Übermut konnten Untereinander sie nicht bezwingen und wollten die Götter Nicht verehren und nicht an Altären den Seligen opfern, Wie es örtlicher Brauch den Menschen; und darum verbarg nun Zeus auch diese voll Zorn, weil keinerlei Ehrenbezeugung Sie den seligen Göttern, den Himmelsbewohnern, erwiesen. Aber nachdem nun dies Geschlecht in der Erde geborgen, Werden sie unterirdisch und selige Wesen geheißen, Zweiten Ranges, doch stehen auch sie trotz allem in Ehren. Nun ein anderes, drittes Geschlecht der redenden Menschen Schuf Kronion aus Erz, in nichts dem silbernen ähnlich, Eschen-entsprossen und wild und fürchterlich. Diese betrieben Ares' Jammergeschäfte und Frevel. Früchte des Feldes Aßen sie nicht, ihr Herz war löwenmutig und steinern, Ungeschlachte; gewaltig war ihre Stärke, unnahbar Hingen aus ihren Schultern die Hände an riesigen Gliedern. All ihre Waffen waren aus Erz und ehern die Häuser, Erz ihr Ackergerät; noch gab es kein schwärzliches Eisen. Diese, gebändigt nun von ihren eigenen Händen, Stiegen hinab in die Moderbehausung des schaurigen Hades, Ruhmlos. Der schwarze Tod, so schlimm und entsetzlich sie waren, Packte sie, und sie schieden vom strahlenden Lichte der Sonne. Aber nachdem auch dies Geschlecht in der Erde geborgen, Schuf noch ein anderes viertes auf vielernährender Erde 84
Zeus, der Kronide, und dies Geschlecht war gerechter und besser, War ein göttlich Geschlecht von Helden, und man benannte Halbgötter sie, dies Vorgeschlecht auf unendlicher Erde; Aber der schlimme Krieg und das arge Gewimmel der Feldschlacht Im kadmeïschen Land beim siebentorigen Theben Tilgte die einen im Kampf um Oidipus' weidende Herden Oder lenkte die andern in Schiffen über die schwarzen Schlünde des Meeres nach Troja der lockigen Helena wegen. Wahrlich, dort umhüllte die einen das Ende des Todes. Andern, fern von den Menschen, gewährte Leben und Wohnsitz Zeus, der Kronide, und ließ sie hausen am Rande der Erde, Und dort wohnen sie nun mit kummerentlastetem Herzen Auf den seligen Inseln und bei des Okeanos Strudeln, Hochbeglückte Heroen; denn süße Früchte wie Honig Reift ihnen dreimal im Jahr die nahrungspendende Erde. Wäre ich doch nicht selbst ein Mitgenosse der fünften Männer und stürbe zuvor oder wäre später geboren! Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes; niemals bei Tage Ruhen sie von Mühsal und Leid, nicht einmal die Nächte, O die Verderbten! da senden die Götter drückende Sorgen. Zeus wird auch dies Geschlecht der redenden Menschen vertilgen, Wenn sie bei der Geburt schon graue Schläfen besitzen. Nicht ist der Vater dem Kind, das Kind dem Vater gewogen, Nicht dem Wirte der Gast, Gefährte nicht dem Gefährten, Nicht ist der Bruder lieb, wie er doch früher gewesen; Bald versagen sie selbst den greisen Eltern die Ehrfurcht, Schmähen sie noch und schwatzen mit ihnen häßliche Worte. Frevler! sie wissen nichts von Götteraufsicht, sie geben Nicht den greisen Eltern zurück die Pflege der Kindheit. Faustrecht gilt, der eine verheert des anderen Wohnsitz. Keiner wird mehr geschätzt, der wahr geschworen, und keiner, Der gerecht und gut. Den Übeltäter, den Frevler Ehrt man weit höher, es herrscht das Recht der Fäuste und keine Ehrfurcht und Scham. Der Schlimme verletzt mit betrüglichen Worten Einen edleren Mann und bekräftigt es noch mit dem Eide. Mißgunst folgt den Menschen, den unglückseligen, allen Zankend und schadenfroh mit scheelen, boshaften Augen. Nun zum Himmel hinauf von der pfadüberzogenen Erde Beide, die schöne Gestalt in lichte Gewänder verhüllend, 85
Eilen hinweg von den Menschen hinauf zur Sippe der Götter Scham und gerechte Vergeltung; was bleibt, ist trauriges Elend Bei den sterblichen Menschen. Da hilft nichts gegen das Unheil.
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Apollon
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FRÜHGRIECHISCHE LYRIK Bald nach Hesiod, gegen 65o v. Chr., vollendet sich, was bei Hesiod schon keimhaft vorhanden ist: das Erwachen der Persönlichkeit. Dieser Prozeß geht Hand in Hand mit dem Zusammenbruch der homerischen Welt: die »zeusentsprossenen Könige«, denen eine kaum differenzierte Masse der Dienenden gegenübersteht, verlieren ihre Machtstellung zu Gunsten einer Vielheit von Vereinigungen Gleichgestellter, in denen jetzt auch die Einzelperson ihre Rolle spielt, sei es in der mehr aristokratisch gefügten Ordnung, dem »Nomos«, Spartas, sei es in der eher bürgerlichen Gemeinschaft Athens, sei es schließlich als Angehöriger einer politischen Vereinigung, adeliger »Hetärien«, die sich oft gegenseitig bekämpfen, aus denen sich da und dort auch Alleinherrscher als »Tyrannen« zur
Macht emporschwingen. Zugleich zergliedert sich auch die poetische Aussage des Epos in eine Vielheit literarischer Gattungen, die den »heroischen« Hexameter ablösen: die Elegie (Hexameter + Pentameter = elegisches Distichon) vielfältigen Inhalts und unsicherer Herkunft, die »schnellen« Rhythmen (als deren »Erfinder« Archilochos von Paros um 65o gilt) des larnbos und des Trochaios, in denen sich der einzelne oft aggressiv zum Wort meldet, und endlich die strophisch gegliederten lyrischen (= zur Lyra gesungen) Einzellieder (Monodiai), die sich ihrerseits von der Chorlyrik abgespaltet haben, deren »Hymnen« und »Epinikien« (= Siegeslieder) bei festlichen Gelegenheiten zum Preise der Götter und hervorragender Einzelpersonen ertönen. Ihr Meister wird Pindar.
Die Elegie M1 MNER MOS stammt wahrscheinlich aus Kolophon in Ionien (zwischen Smyrna und Ephesos) und lebte in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts, als seine Heimat der wachsenden Macht der Lyderkönige unterlag. Verklärung der Vergangenheit mischt sich in seiner Dichtung mit weicher Resignation. Berühmt war er bei den Späteren durch seine Liebe zu der Lyderin Nanno.
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Vergänglichkeit Wie die Frühlingsblätter, die in der blumigen Jahrzeit Schnell entsprießen, sobald wärmer die Sonne sie lockt, So blühn wenige Zeit wir in der Blüte der Jugend Fröhlich, und kannten da Böses und Gutes noch nicht. Aber es stehen die Keren uns schwarz zur Seite; die eine Sendet das Alter uns bald, bald uns die andre den Tod. Einen Tag nur dauert der Jugend Blüte; die Sonne Steigt und sinket: mit ihr sank auch die Blüte dahin. Und ist diese vorbei, die Zeit der genießenden Jahre, Ach, da wünsche man sich lieber als Leben den Tod! Denn da treffen die Seele gar viele Beschwerden: den einen Häuslicher Kummer, es müht Armut den trauernden Geist; Jener wünschet sich Kinder, und wenn er am meisten sie wünschet, Muß er zur Erd' hinab in der Geschiedenen Reich; Diesen naget und frißt die mutauszehrende Krankheit: Jedem Sterblichen schickt Zeus der Übel genug!
TYRTAIOS ist anderer Art als der jüngere Mimnermos, obwohl er wie dieser wahrscheinlich aus Kleinasien (Milet?) stammt. Aber er kam — wie viele andere Dichter seiner Zeit — in der Not des 2. messenischen Kriegs (7. Jahrhundert) nach Sparta, wo er durch seine Kriegslieder die Spartaner zum tapferen Ausharren ermunterte. Seine kraftvolle Sprache atmet vielfach noch homerischen Geist.
Aufruf zum Kampf Heldengeschlecht ihr aus Herakles Blut, des niemals besiegten, Zaget nicht: denn Zeus beuget den Nacken noch nicht. Menge der Feinde, sie darf euch nicht schrecken noch feige verscheuchen; Stracks, mit dem Schilde gedeckt, rücket ins vordere Feld. Haßt euch, daß ihr noch lebt, und heißt willkommen des Todes Nächtig dunkles Gespenst freudig wie strahlenden Tag! Wisset ja wohl, wie verschlungen die Wege des blutigen Handwerks, Launen des Schlachtengotts, Jünglinge, kennt ihr genau, Waret dabei, wenn zu fliehen es hieß, wenn's galt, zu verfolgen, Sattsam habt ihr und oft beides zur Neige geschmeckt. 88
Nämlich welche es wagen und halten sich nebeneinander, Suchen stürmend den Feind handgemein vorn im Feld, Derer fallen nur wenig und decken noch rückwärts die Mannschaft, Wer aber weicht, dem ist Mühe und Ehre vertan: Unheil in jeder Gestalt, das keiner zählet zu Ende, Wartet des Manns im Gefecht, den nur ein Beben befiel; Ist ja ein leichtes Spiel, im Kampfgetümmel von rückwärts Einen Mann, der entweicht, schießen durch Hals und Genick. Und der Leichnam ist Schande und Schimpf, der liegt dann im Staube Von der Spitze des Speers rückwärts geschlagen ans Kreuz. Auf denn, und wanket mir nicht, und breit ausgreifend die Beine Fest auf die Erde gestemmt, Zähne verbissen und Mund, Schenkel und tief zum Schienbein hinab und Brustkorb und Schultern Mit des maichtigen Schilds breitem Gewölbe gedeckt, Wuchtig schwinge im rechten Arm ein jeder die Lanze, Dräuend über dem Haupt nicke der furchtbare Busch. Hebet denn an mit dem Handwerk und fechtet nach Regel und Schule, Bleibet nicht außer dem Schuß stehen, ihr habt ja den Schild. Nein, nur nahe heran, und handgemein mit dem Stoß der Lanze oder des Schwerts treibt und erjaget den Feind, Fuß hart neben Fuß ihm und Schild an den Schild ihm gestemmet, Busch an den Busch und dicht rühre der Helm an den Helm, Brust gegen Brust gedrängt: so ringe der Mann mit dem Manne, Nehme das Schwert am Heft, fasse die Lanze am Schaft. Ihr aber duckt euch, Leichtbewaffnete, unter den Schilden Beiderseits, und von da schleudert den mächtigen Stein, Schießt gezielt auf den Feind eure wohlgeglätteten Schäfte, Doch eurem Vollmann bleibt stets in der Reih und zur Hand.
SOLON ist um das Jahr 63o v. Chr. in Athen als Angehöriger athenischen Uradels geboren. Mit ihm meldet sich erstmals auch Athen zum Wort. Als der Stadt Bürgerkrieg drohte, hat er als verantwortlicher Politiker (Archon) im Jahre 594 mit seiner »solonischen Verfassung«, die auf einen Ausgleich zwischen den verfeindeten Gruppen der besitzenden Familien und der schwer verschuldeten Bauern bedacht war, ein Zeichen gesetzt, das im weiteren Verlauf -- nach dem Zwischenspiel der Tyrannis der Peisistratiden — zur athenischen 89
»Demokratie« führen sollte. In seinen Dichtungen, die im Dienste dieser seiner Politik des Ausgleichs und der Gerechtigkeit, der »Eunomia«, stehen, versucht er — wie vor ihm schon Hesiod —, seine Mitbürger zu ähnlicher Haltung zu erziehen. Da er bis in sein hohes Alter -- er starb um 5 5o wohl in seiner Heimatstadt— ständig auf Reisen um die Erweiterung seines Gesichtskreises bemüht war, hat ihn die Nachwelt als Erzieher seines Volkes unter die »Sieben Weisen« gezählt, zumal er von sich selbst bekannt hat: »Älter werd' ich, doch lern' ich noch viel Neues dazu.«
Gebet an die Musen
Ihr des olympischen Zeus und Mnemosynes strahlende Töchter, Ihr von Piëriens Flur, Musen, erhöret mein Flehn! Gebt von den seligen Göttern mir Segen und gebt mir von allen Menschen, in gutem Ruf immer bei ihnen zu stehn; Süß zu sein meinen Freunden und bitter zu sein meinen Feinden, Denen geliebt und verehrt, denen ein Schrecken zu schaun! Reichtum begehr' ich zu haben, doch unrecht ihn zu erwuchern Wünsche ich nicht; denn zuletzt stellt sich die Strafe doch ein. Reichtum, wenn ihn die Götter geben, der bleibet dem Manne, Fest von der Wurzel empor rankt er zum Wipfel sich auf. Den aber Menschen umbuhlen in frevler Gesinnung, der kommt nicht Richtiger Art, sondern folgt unrechtem, sündhaftem Tun Wider den eigenen Willen, schnell mischt sich hinein die Verblendung; Klein nur ist ihr Beginn wie bei den Funken des Brands, Unbedeutend am Anfang, doch unerträglich am Ende. Denn auf die Länge besteht niemals ein frevelndes Tun. Zeus aber sieht bei allem das Ende, dann zeigt er sich plötzlich Wie der Lenzwind, der rasch dunkelnde Wolken zerstreut, Der auf rastlos wogender See die unendliche Meerflut Aufwühlt bis in den Grund und auf dem trächtigen Land Blühende Saaten verheert; dann kehrt zu den Sitzen der Götter Er zum Himmel empor, wirkend sein leuchtendes Blau. Neu erstrahlt dann der Sonne Macht auf die fruchtbare Erde, Herrlich, von dunklem Gewölk ist keine Spur mehr zu sehn. So ist die Strafe des Zeus, nicht regt er bei jeglicher Sünde Jählings zornigen Muts sich wie ein sterblicher Mensch. 90
Doch auf die Dauer entgeht ihm nicht, wer heimlich im Herzen Freveltat sinnt, zuletzt kommt er doch sicher ans Licht. Nur daß der eine sofort verbüßt, der andere später; Manche entziehen sich selbst, fliehend das Göttergericht: Aber das kommt dann doch: Unschuldige müssen dann büßen, Sei es des Sünders Kind oder ein fernres Geschlecht. Hohe wie Niedrige, haben wir Sterbliche einen Gedanken: Jeden beseelt allein unheimlich eigener Wahn, Ehe er Unglück erfährt; dann klagt er, aber bis dahin Haschen wir freudigen Sinns trügender Hoffnungen Schein.
An das Volk von Athen Unserer Stadt droht nimmer in ewigen Zeiten Vernichtung Nach der Schickung des Zeus und der Unsterblichen Sinn. Breitet doch hochgemut des Allgewaltigen Tochter, Pallas Athene, als Hort schirmend die Hand über sie. Selbst jedoch treiben zum Sturze der Macht in verderblichem Wahnsinn Ihre Bürger, von Gier nach dem Gewinne verlockt, Und der unredliche Sinn der Führer des Volkes; doch denen Ist für den frevelnden Mut zahlloses Leiden verhängt. Nimmer wissen sie ja ihr Begehren zu zähmen, bescheiden Mit der gebotenen Lust eines geruhsamen Mahls. Reichtum ist einzig ihr Ziel, sei er mit Untat erkauft. Weder das heilige Gut noch auch des Volkes Besitz Achten sie, rauben und plündern, wo immer die Beute sich bietet, Und es kümmert sie nicht Dikes erhabnes Gebot, Die zwar schweigt, doch Geschehendes sieht und Vergangenes anmerkt, Aber mit reifender Zeit gnadlos Bezahlung verlangt. Schon schlug unentrinnbar der ganzen Stadt sie die Wunde, Daß sie in haltlosem Sturz elender Knechtschaft verfällt. Sie erweckt den schlummernden Krieg und der Bürger Entzweiung, Welche die liebliche Blüt' zahlloser Jugend geknickt. Übler Gesellen Ränke bedrängt die herrliche Stadt nun, Denen sich alle geschart, die der Gerechtigkeit bar. Solcherlei Übel geht um im Volke und von den Verarmten 9
Trifft gar viele das Los, fern in die Fremde zu ziehn, In die Knechtschaft verkauft und in Banden der Schande geschlagen. So dringt jedem ins Haus des Volkes gemeinsames Übel Und die Tore des Hofs halten es draußen nicht ab. Not überklettert die höchsten Zäune, sie fahndet nach jedem, Wenn er auch sicher sich dünkt tief in der Kammer Versteck. Dies euch lehrend zu künden, Athener, treibt mich mein Herze, Daß gesetzloses Tun Jammer auf Jammer nur zeugt. Ordnung jedoch und Wohlstand bewirkt die Zucht des Gesetzes, Die dem Verächter des Rechts fesselnd umschlinget den Fuß, Rauhes verglättet, Begehren bezähmt, den Übermut zügelt, Und des Verderbens Saat läßt schon verdorren im Keim, Einrenkt verbogenen Richtspruch, vermessenes Sinnen besänftigt, Dämmende Schranken gesetzt wider des Aufruhrs Gewalt, Und erstickt des wütenden Zwistes Hassen: so führt sie Zur gesunden Vernunft endlich die Menschheit zurück.
Der Iambos ARCHILOCHOS wurde um die Mitte des 7. Jahrhunderts auf der Insel Paros geboren. Er erlitt das typische Schicksal eines Bastards aus vornehmer, aber verarmter Familie: sein Urgroßvater hatte einst eine Kolonie auf Thasos begründet; seine Mutter Enipo war eine Sklavin. So führte er das ruhelose Leben des »fahrenden Ritters«, der in viele Kämpfe, auch um Thasos, verwickelt war. Als ihn der Vater der geliebten Neobule als Freier abgewiesen hatte, verfolgte er diese Familie mit tödlichem Haß. — Sein Wesen: draufgängerisch und empfindlich, aber auch zarter Regungen fähig, liegt in den wenigen erhaltenen Fragmenten, Elegien, vor allem aber Iamben und Trochaien, offen zutage. Er wurde im Altertum hoch geschätzt. Horaz, der ihm oft in seinen Epoden und Satiren verpflichtet ist, hat ihn in einem Vers der Ars Poetica (79) treffend charakterisiert: Archilochum proprio rabies armavit iambo — Sein Zorn schuf ihm seinen Iambos als Waffe.
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Krieger und Dichter Ich bin Gefolgsmann des Ares, des strengen Gebieters im Kriege, und der Musen Geschenk ist mir, das holde, vertraut. Hier der Speer gibt mir Brot, und den Wein von Ismaros gibt mir hier mein Speer, und ich trink', auf meinen Speer hier gelehnt. Nicht werden zahlreiche Bogen gespannt, nicht sausen die Schleudern, wenn dort Ares im Kampf feindliche Streiter vereint in der Ebene: nein, die Schwerter werden ihr Werk tun: dies ist der Kampf, den sie, durch ihre Lanzen berühmt, meistern, die Herren Euboias Gastgeschenke dem Feind, schmerzhafte, schenken wir gern.
Der Feldherr Nicht kann ich den großen Feldherrn leiden, dessen Gang gestelzt, den nicht, der auf Locken stolz ist, und nicht den, der glattrasiert. Lieber ist mir da ein kleiner, mögen krumm die Waden sein, wenn er sicher auf den Füßen dasteht und ist voller Mut.
Im Sturm Glaukos, schau: schon wird das tiefe Meer von Wellen aufgewühlt, bei den Felsspitzen von Gyrai ballt sich eine Wolke hoch, nahen Sturmes Zeichen! Plötzlich, unvermutet kommt die Angst.
Thasos wie ein Eselsrücken streckt sich unsre Insel, dicht von wüstem Wald bedeckt bestimmt kein schöner Platz ist das, kein lieblicher, und nicht so freundlich, wie am Siris-Strom das Land.
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Die Macht der Götter (Stell anheim) den Göttern alles: denn schon oftmals in der Not richten auf sie manchen Menschen, der auf schwarzer Erde lag, oft auch stürzen sie zu Boden den, der fest zu stehen schien, daß er rücklings hinfällt: viele Plagen suchen ihn dann heim, brotlos wird er, ruhlos irrt er, vom Begreifen weit entfernt.
Herz, mein Herz
Herz, mein Herz, von Fluten Leides fortgerissen rettungslos, richt dich auf! Dem Feind entgegen halt die Brust und wehre dich ! Gilts die Gegner zu empfangen, laß ganz nahe sie heran! Halte Stand! Und wenn du siegtest, rühm des Sieges dich nicht laut, lieg zu Hause nicht am Boden, klagend, wenn man dich besiegt, sondern freue dich des Frohen, trauere um Leidiges nie zu sehr! Erkenn des Lebens Auf und Ab, das uns beherrscht!
Das Mädchen von Euthydikos 94
Ein Mädchenbild Sie hielt ein Myrtenzweiglein, freute sich an ihm und einer Rosenblüte, auf den Rücken hing und auf die Schultern schattend lang herab ihr Haar. Brust und Haare hatte (sie) so stark gesalbt, daß selbst ein Greis noch Feuer fing.
Einst war er mein Freund...
(soll er,) von Wellen gepeitscht! In Salmvdessos, nackt, ergreifen mögen ihn Thraker mit wulstigem Schopf aufs freundlichste — wo er dann viele Not erlebt, Sklavenbrot wird er da kaun, — vor Kälte ganz erstarrt, und mit dem Salzschaum klebt Tang ihm in Mengen am Leib, und zähneklappern soll er, wenn er wie ein Hund daliegt, nicht rühren sich kann, ganz hart am Rand der Brandung, wo die Welle leckt: so möchte gern ich ihn sehn! —der Unrecht tat mir und den Eid mit Füßen trat, —einst aber war er mein Freund!
Elegie auf den Tod des Schwagers Leid und Trauer mißbilligt, mein Perikles, keiner der Bürger noch auch die Stadt, wenn sie freudige Feste begehn. Denn so wahrhafte Männer entriß des wütenden Meeres Woge: betäubt und schwer bleibt uns vor Jammer das Herz. Aber die Götter schufen für alle unheilbaren Leiden, Freund, ein Mittel: Geduld, das zu ertragen, und Kraft. Einmal wird dieser betroffen, dann jener: eben sind wir so heimgesucht; und wund, blutend stöhnen wir auf, aber es trifft auch bald wieder andere. Auf denn, schon heute tragt es mit Fassung und reißt los euch vom weibischen Schmerz!
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SEMONIDES von Amorgos gilt als Zeitgenosse des Archilochos. Seine eigentliche Heimat war Samos, von a o er als Führer eines Kolonistenzugs nach Minoa auf der Insel Amorgos auswanderte. Mag somit sein Schicksal dem des Archilochos in manchen Punkten ver-
wandt sein, so tritt doch bei ihm das Persönliche hinter dem moralisch Belehrenden sehr stark zurück. Nachwirkung Hesiods ist unverkennbar. Stobaios verdanken wir seinen (iambischen) » Katalog der Weiber«, der der Tierfabel recht nahe steht.
Katalog der Weiber
Getrennt vom Weibe schuf ein Gott den Verstand Zunächst einmal, und eines aus dem borstigen Schweine, Dem alles im Hause mit Schmutz besudelt Ohne Ordnung herumliegt und sich auf dem Boden tummelt. Selber ungewaschen, in ungesäuberten Gewändern, Wird es fett, im Dreck sitzend. Eine andre wirkte ein Gott aus dem verschlagenen Fuchse, Ein Weib aller Dinge kundig, und nichts vom Bösen Bleibt ihm verborgen, noch von den Dingen, die besser sind. Denn von dem, was es sagte, ist das eine oftmals bös, Das andere trefflich, einmal hat es diese, ein andermal jene Laune. Wieder eine aus dem Hunde, läufig, fruchtbar, Die alles hören, alles wissen will; Überall herumäugelnd und sich herumtreibend Schwatzt sie, sogar wenn sie keinen Menschen sieht. Zur Ruhe brächte sie weder mit Drohen der Mann Noch wenn er im Zorn mit einem Stein ihr Die Zähne ausschlüge, noch wohl mit liebreichen Reden, Nicht einmal wenn sie zufällig bei Besuch dabeisitzt. Sondern unentwegt ergießt sie unaufhaltsames Geschwätz. Wieder eine bildeten die Olympier aus Erde Und schenkten sie dem Manne, eine mißratene, denn weder ein Böses Noch irgend ein Gutes kennt ein so beschaffenes Weibsstück. Von Arbeit versteht es sich nur aufs Essen, Und nicht einmal, wenn ein Gott böses Wetter macht, Zieht es sich frierend den Stuhl näher ans Feuer. Wieder eine aus dem Meere, die zweierlei in den Sinnen empfindet: 96
Den einen Tag lacht sie und ist vergnügt,
Loben wird sie ein Fremdling, wenn er sie im Hause sieht: »Es gibt keine andere Frau besser als diese In der ganzen Welt noch eine schönere. « Anderntags unerträglich, auch nur mit Augen anzuschauen, Noch gar, näher heranzutreten, sondern dann tobt sie. Unnahbar wie um die Jungen eine Hündin, Und gegen jedermann lieblos und ungezogen, Gleichgültig ob Feind oder Freund, benimmt sie sich. Wie das Meer oft unbewegt Dasteht, keinem zu Leide, Schiffern eine große Freude Zur Sommerszeit, oftmals aber rast, Mit donnernden Wogen dahinfahrend: Diesem gleicht am meisten eine so beschaffene Frau Im Gemüte. Freilich ein Aussehen hat der Ozean von anderer Art. Wieder eine aus dem grauen und störrigen Esel, Die unter Zwang und unter Scheltworten mühsam Sich in alles immerhin fügte und es gefällig Zustande brachte. Inzwischen ißt sie im Winkel, Nachtsüber, tagsüber ißt sie beim Herde. Wahllos nahm sie auch den Freund, der zu Liebeswerk Kam, wer es nur sein mochte, an. Wieder eine aus dem Wiesel, eine unselige, beklagenswerte Sorte, Denn an ihr ist nichts Schönes, nichts Begehrenswertes, Nichts Anmutiges, nichts Herziges. Nach dem Liebeslager giert sie unersättlich, Doch den Mann, der dabei ist, bringt sie zum Kotzen. Mit Stehlen tut sie Nachbarn viel Leid, Abgelegte Opfergaben verspeist sie manchmal. Wieder eine gebar das noble, langmähnige Roß, Die Knechteswerk und Plage beiseiteschiebt, Und weder eine Handmühle mag sie anrühren, noch ein Sieb Aufheben, noch Unrat aus dem Hause fegen, Noch beim Backofen aus Angst vor dem Ruß Sitzen. Not ist's, durch die sie einen Mann zu eigen gewinnt. Sie wäscht sich Tag aus, Tag ein den Schmutz Zweimal, wohl auch dreimal ab und salbt sich mit Wohlgerüchen. Stets trägt sie das Haar tief gekämmt, Mit Blumengewinden beschattet. Ein schönes Schaustück ist gewißlich so eine Frau Für andere, dem aber, der sie besitzt, wird sie zum Unheil, 97
Wenn er nicht ein Tyrann oder ein König ist, Der an solcherlei im Herzen Gefallen trägt.
Wieder eine aus dem Affen. Das nun ist entschieden Das größte Übel, das Zeus den Männern zugesellt. Abscheulich ist das Gesicht; solch eine Frau Spaziert durch die Stadt, für jedermann ein Gelächter, Kurznackig, sie bewegt sich mit Mühe, Ohne Gesäß, mit dürren Beinen. Ah, unseliger Mann, Wer immer solch ein Übel umarmt. Alle Listen und Schliche versteht sie Gleichwie der Affe, und aus Gelächter macht sie sich nichts. Auch hat sie keine Lust, jemand wohlzutun, sondern lauert nur darauf Und sinnt nur darauf alle Tage, Wie sie einem möglichst großen Schabernack antun könnte. Wieder eine aus der Biene. Wer die kriegt, ist ein Glückspilz. Bei ihr allein findet Tadel keinen Platz. Unter ihrer Hand sproßt und mehrt sich der Wohlstand. Geliebt altert sie mit liebendem Gatten, Dem sie eine schöne und hochgelobte Nachkommenschaft gebar. Ansehnlich steht sie da unter den Frauen Allen, himmlische Anmut umfängt sie. Es freut sie nicht, bei Frauen zu sitzen, Wo sie Liebesgeschichten erzählen. Derartige Frauen vergönnt den Männern Zeus als die besten und berufensten. Diese anderen Sorten aber sind durch Tücke des Zeus Allesamt vorhanden und dauern bei den Männern. Zeus nämlich hat dieses Übel als größtes geschaffen, Die Weiber. Auch wenn sie scheinbar etwas taugen, Für den, der eins hat, wird es meist zum Übel. Denn keineswegs fröhlich verbringt der Jeglichen Tag, der mit einem Weibe gesegnet sich plagt, Noch wird er so bald den Hunger aus dem Hause treiben, Einen hassenswerten Mitbewohner, feindseligen Gott. Wenn ein Mann glaubt, die beste Gelegenheit zur Freude zu haben, Zu Hause, sei es nach eines Gottes Schickung oder eines Menschen Gunst, findet sie einen Tadel heraus und rüstet sich zur Schlacht. Denn wo ein Weib ist, mögen sie nicht einmal den Gastfreund, Wenn er ins Haus kommt, froh aufnehmen. 98
Die aber gar besonders züchtig zu sein scheint, Die ist es, die den größten Schaden stiftet. Trägt nämlich der Mann ein Verlangen — die Nachbarn
Freuen sich, auch diesen zu sehen, wie er hereinfällt. Die eigene Frau mag ja ein jeder im Gedenken loben, Die des anderen wird er tadeln: Wir erkennen nicht, daß wir das gleiche Los haben. Denn Zeus hat dieses Obel als das größte geschaffen Und ein unzerreißbares Band von Fesseln um uns gelegt, Seitdem Hades jene Männer aufnahm, Die um einer Frau willen in Krieg geraten waren.
Das lyrische Einzellied Sappho, die erste Frau in der Weltliteratur, und Alkaios, beide Zeitgenossen um die Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert v. Chr., beide aus Lesbos gebürtig, begründen im äolischen Dialekt ihrer Heimat die »lesbische Lyrik». Beiden weiß sich später Horaz in seinen Liedern (Oden) in besonderem Maße verpflichtet: Wenn dieser in einer seiner Oden (c. II 13) beide Dichter am Wohnsitz verklärter Geister im Reich der Toten zu sehen vermeint: » ... wo zum äolischen Saitenspiele / ob ihrer Heimat Freundinnen Sappho klagt / und vollern Klangs mit goldener Leier du, / Alkaios, singst des Meeres Schrekken, / Grauen der Flucht und des Krieges Greuel« — so hat er damit Schicksal und Art der beiden Menschen hinreichend gekennzeichnet: Sappho, die als Leiterin eines Kreises vornehmer Mädchen diese zu leidenschaftlichem und doch durch die Sitte und die Forderung des Schönen gebändigtem Frauentum erziehen will, und Alkaios, der im Kampf des Adels von Mytilene um die politische Macht kraftvoll Partei ergreift und so zweimal, zuerst unter der Herrschaft des Myrsilos und danach der des Pittakos, in die Verbannung gehen mußte, bis er schließlich doch von dem letzteren nach Mytilene zurückgerufen wurde. Auch Sappho blieb von diesen Parteikämpfen nicht verschont und mußte ihrerseits — nach 604 — aus ihrer Heimat nach Sizilien flüchten. Sie soll schließlich, wie es die Legende will, durch einen Sturz vom »Felsen der Liebenden« auf der Insel Leukas den Tod gefunden haben. 99
SAPPHO
An Aphrodite Bunt im Schimmer thronende Aphrodite, listenreiche Tochter des Zeus, dich bitt' ich: nicht mit Ängsten, nicht mit Verzweiflung beuge Herrin, den Mut mir! Sondern hierher komm, wie du wohl schon einmal, meinen Ruf im Ohre, von weiter Ferne mich erhörtest und aus des Vaters Hause kamest im goldnen angeschirrten Wagen; dich zogen schöne schnelle Finken über der schwarzen Erde mitten durch den Äther, vom Himmel nieder, schwirrenden Fluges. Gleich auch warst du, Selige hier; ein Lächeln lag auf deinem göttlichen Antlitz, fragend sprachst du, was ich wieder zu dulden habe, wieder denn rufe, was ich mir im rasenden Herzen sehnlich wünsche: »Wen soll Peitho in deine Liebe wieder führen, sag es mir doch, wer durfte, Sappho, dich kränken? Flieht sie auch, so wird sie dich bald verfolgen, nimmt sie keine Gaben, dir wird sie geben, liebt sie nicht, so wird sie dich bald schon lieben, wie sie sich wehre!« Komm zu mir auch jetzt; von der Qual der Sorgen mach mich los, und, was zu vollenden alles drängt mein Herz, das wolle vollenden; eile selbst mir zu Hilfe!
I00
An Kypris Sammelt euch und naht der geweihten Stätte, ebenwo der Hain in der Apfelblüte lieblich steht, darin die Altäre dampfen, duftend von Weihrauch. Innen plätschert Wasser durch Apfelzweige Kühl herab, von Rosen ist rings der Boden überwölkt, von zitternden Blättern rieselt nieder der Schlummer, und auf rossenährender Weide wachsen Lotosblumen, süß von des Anis Blüten steigt ein Hauch empor
Komm doch her, du Herrin des Haines, Kypris, füll' in goldne Becher den Trank voll Anmut, zartgemischt mit festlicher Freude, Nektar gieß in die Schalen.
Gefühl der Liebe Scheint er nicht den seligen Göttern ähnlich, jener Mann, der dort gegenüber, vor dir sitzen darf und nahe den Klang der süßen Stimme vernehmen, und des Lachens lieblichen Reiz! Das hat mir aufgejagt das Herz in der Brust vor Schrecken. Schon ein Blick auf dich, und es kommt kein Laut mehr mir aus der Kehle. Ach, die Zunge ist mir gelähmt, ein zartes Feuer rieselt unter der Haut mir jählings, nichts vermag mein Auge zu sehn, ein Rauschen braust in den Ohren, und der Schweiß rinnt nieder an mir, das Zittern IoI
packt mich ganz, noch fahler als Gras des Feldes bin ich; wenig fehlt, und in tiefer Ohnmacht schein' ich gestorben. Aber alles kann man ertragen, . .
Das Mädchen schmückt sich
Nun setz' dir ins Haar, Dike, den Kranz lieblicher Blumen, Zweige von knospendem Dill winde mit zart schmiegender Hand zusammen; der Göttin gefällt alles, was reich blüht, und die holden Chariten verlangen danach, wenden sich ab nur von den Unbekränzten.
Mondschein
Denn die Sterne rings um den Mond verschleiern wieder ihre flimmernden Bilder, da er rund und mit der Fülle des Lichtes auf die Erde herabglänzt. . .
Abschied
Ja, ich wünsche mir bloß den Tod! Heftig hat sie geschluchzt, als sie von mir ging,
und mir dieses gesagt dazu: »Ach, was haben wir auszustehn, Sappho, gar so ungern verlaß' ich dich!« Ich erwiderte ihr darauf: »Reise glücklich und denke mein, denn du weißt ja, wir haben dich sehr gehegt. Wenn aber nicht, so muß ich wohl dich erinnern; du hast vielleicht bald vergessen, wie schön unser Leben war, IO2
wie du Kränze von Veilchen oft und von Rosen gewunden hast und dir festlich die Locken bei mir geschmückt, manche duftende Kette auch dir geschmiegt um den schlanken Hals, die aus zärtlichen Blumen geflochten war. Und mit vielerlei Salben, 01, Narde hast du den schönen Leib eingesalbt und mit Balsam des Königshofs, und auf schwellende Polster dann hingebettet, verströmtest du deine Sehnsucht. . Keinen Reigen versäumten wir, keine Opferfeier und ward begangen, an der wir nicht teilgehabt, und kein Hag, wo zur Frühlingszeit nicht der Klappern Geräusch erscholl und die liebliche Weise der Mädchenschar.«
Willkommen Daß du kamest, war gut; mich verlangte so sehr nach dir, hast das Herz mir gekühlt, das im Brande der Sehnsucht stand. Sei so viel mir gegrüßt wie die Tage der Zeit an Zahl, seit von uns du dich trenntest
Allein
Der Mond ist untergegangen, versunken sind die Plejaden; schon Mitternacht ist's, die Stunde verrinnt — und alleine schlaf' ich.
103
Resignation
Nein, so lieb du mir bist, wähl' eine Jüng're zum Lager dir; nicht mehr such' ich Vereinigung, seit ich älter an Jahren bin.
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11
Alkaios und Sappho 1O4
Alkaios und Sappho A.: »So gerne möcht' ich reden, doch hindert mich
die Scham
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S.: »Verlangte dich nach Edlem und Schönem nur und lockte nie die Zunge das böse Wort, so senkte nicht die Scham dein Auge, sondern du redetest frei, wie's recht ist..
ALKAIOS
An Sappho Du veilchenlockige, reine, lieblichlächelnde Sappho!
Unser Schiff Nicht mehr begreifen kann ich der Winde Streit: denn eine Woge wälzt sich von hier heran, von dort die andre. Wir inmitten treiben im Sturme auf schwarzem Schiffe. Das Ungewitter bracht' uns in Todesnot. Schon schlagen Wellen hoch über Bord und Deck, durchlöchert ist das ganze Segel, Fetzen nur flattern von ihm im Winde, und bricht die Sturzsee über das Schiff, so schwand ihm jede Lust am Kampfe mit Sturm und Meer: man meint, die Klippe in der Tiefe schlägt es bald leck und zerbricht's in Trümmer. In solchem Seesturm treibt unser Schiff dahin. Vergiß die Unbill, Freund,
I05
Gebet an Zeus
Sorgen hielten mich fest, zwiespältig war mein Sinn, Was die kommende Zeit wohl uns noch bringen mag? Tragt, Freund, was es auch sei, was der Kronide selbst, der Allmächtige, schickt, wie er es wenden wird, das Los menschlicher Not. Nicht ist ja ferne ihm auch dies, daß er gesandt arger Verblendung Wahn und zum Werke des Kriegs trieb, das viel Tränen sah, auserlesene Schar unserer Edelen, deren herrlicher Ruhm weit in die Lande drang. Männer sind ja der Stadt trefflichster Schirm und Schutz. Trutzig hielten sie stand, wie es der Gott gewollt. Viele riß da hinweg dunkeles Todeslos und ein Trauergewand tragen wir Lebenden. Spät erst hat uns der Gott von der Gefahr erlöst. So wohl war es sein Rat. Wenn du das siehst, vergiß all dies Leid, und ich will sagen, was heilen mag: wenn das Volk seinen Ruf bittend zu Zeus erhebt und ein jeglicher Mann einstimmt in dies Gebet. Wohl mag gnädigen Sinn's dieses Gebet auch Zeus hören, denn durch den Blitz zeigt er Gewährung schon: »Daß der Himmlischen Joch leicht wieder werden mag unserem Volk, das zuvor qualvolle Last ertrug.« Und dies Eine noch, Zeus, ist mein Gebet zu Dir: laß nicht länger das Licht unserer Sonne schaun auch nur einen von der Kleanaktiden Schar, Archeanax' Geschlecht oder des Hyrras Sproß, daß dem rettenden Gott ich von dem süßen Wein spende, wenn seinen Tod Myrsilos endlich fand!
Die Rüstkammer
und es blitzet von Erz der große Saal, prangt doch das ganze Haus im Waffenglanz prächtig blinkender Helme, obenauf nicket der weißen Rossemähnen Schmuck am Helmbusch, für die Streiter köstlich Zier. i o6
Eherne Rüstung hängt an Nägeln dort an den Wänden ringsum, der Glieder Schutz gegen der Speere tückisch dräunden Wurf, Panzerhemden aus weißem Leintuch auch, auch die gewölbten Schilde lehnen dort, und nicht fehlen Chalkid'sche Schwerter, nicht mangelt's an Waffenrock und Wehrgehenk. All das braucht man noch einst, vergeßt es nicht, da wir auf uns genommen diese Tat.
Tot ist Myrsilos! Jetzt soll man zechen, trinken nach Herzenslust, ihr Freunde: tot ist endlich nun Myrsilos!
An die Dioskuren, Retter in Sturmesnot Von des Pelops Insel erscheint uns gnäd'gen Sinnes, starke Söhne des Zeus und Ledas, eilt zu uns, ihr Retter im Sturm, du, Kastor, und Polydeukes!
Obers weite Land und der Meere Wogen tragen rasch die Rosse euch hin. Ein Leichtes ist's für euch, vor bitterem Tod zu retten Menschen in Seenot. Fernher springt ihr dann wohl auf Mast und Rahen, überm Reff in bläulichen Flämmchen züngelnd, in der Schreckensnacht bringt ein rettend Licht ihr treibendem Schiffe.
Gebet des Verbannten Freund, Lesbos' Männer haben dies Heiligtum gemeinsam einst geschaffen am hohen Strand
weit sichtbar, haben hier errichtet Opferaltäre den selgen Göttern. 107
Sie riefen Zeus, der widrigen Winden wehrt, und Dich, die ruhmreich segnete unsern Stamm, Du Mutter alles Lebens, Hera, und den Dionysos als den dritten, den Ricken-reißenden, wilden. Schenkt auch heut
huldreichen Sinnes meinem Gebet Gehör und löst aus diesem Leid mich endlich! Nehmet von mir der Verbannung Elend! Den Sohn des Hyrras aber erreiche bald der Rachegeist der Toten, wie wir's dereinst gelobten am Altar beim Opfer: nie zu verlassen der Freunde einen,
zu sterben lieber, zu decken der Erde Sand mit unsren Leibern vor der Tyrannenbrut, noch besser: sie zum Hades schicken und unser Volk von der Schmach erlösen! Um all das schiert sich freilich der Dickwanst nicht: mit Füßen tritt er, was er einst selbst gelobt, ein Würger unsrer Stadt, uns aber droht er noch gar und schmäht uns höhnisch. . Trost des Verbannten
Karge Nahrung und Schutz suchend, so kam ich her, leb', wie Bauern es tun auf ihrem Ackerlos. Nur eins sehn ich herbei: zu hören wie Heroldes Ruf zu der Versammlung lädt, wo mein Vater ergraut und meines Vaters Ahn, wie sie pflogen des Rats mit diesen Bürgern, die stets nur Böses einander sinnen. — Mir ist das versagt. Fern an den fernsten Strand zog ich, einsam, verbannt. Hauste, wie der gehaust, den ein reißender Wolf ansprang: man meidet ihn. Dem Krieg bin ich entflohn: nicht hilft ja Kampf gegen die Macht, wider die Herrn der Streit. 1o8
Doch mich führte mein Weg hier zu dem Heiligtum der Glückseligen. Hier fand eine Heimstatt ich und nun freut mich der Festesreigen. Leid ließ ich dahint, als ich das Land betrat. Auserlesen von Wuchs, lesbische Mädchen drehn langgewandet im Tanz hier sich, es schallt ringsum jubelnd jauchzender Schrei der Fraun und zum heiligen Fest himmelan tönt ihr Ruf.
Weinlieder
I
Der Himmel regnet, Sturm schickt uns Zeus herab, zu Eis erstarrt vor Frost ist der Flüsse Lauf, von dort
Vertreib die Kälte, schüre das Feuer nach, und geiz nicht, wenn du heute den Trunk mir mischst von süßem Wein, und in den Nacken lege mir, Knabe, ein weiches Kissen.
II Nicht soll den Sinn man hängen an Not und Leid. Was fruchtet es, ob du dich auch sorgst und härmst? Das beste Mittel, Freund, bleibt immer, Wein sich zu holen und froh zu zechen.
III Netz die Kehle mit Wein! Weißt ja, der Stern zieht seines Kreises Bahn. Alles dürstet und lechzt matt in der Glut. Schwer ist die Zeit im Jahr. Von den Bäumen nur süß aus dem Gezweig tönt der Zikade Lied. Disteln blühen am Rain. Heiß wie noch nie sind jetzt die Fraun, doch schlaff Alle Männer, das Haupt schwer, und die Knie dörret des Hundsterns Glut. 109
Helena und Thetis So erzählt man: daß von den bösen Taten Priamos und all seine lieben Söhne bittren Todes starben durch dich und Troja aufging in Flammen. Nicht war so die Braut, die der Aiakide heimgeführt vom Hause des Nereus zu der Hochzeit frohem Feste, bei dem die Götter alle versammelt in des Chiron Haus. Und es löst' der keuschen Jungfrau Gürtel Liebe des Helden Peleus zu der allerschönsten der Nereustöchter. Und übers Jahr hat sie ein Kind geboren, der Göttersöhne trefflichsten, der feurigen Rosse Tummler. Doch es fiel um Helenas willen Troja mit seinen Mannen.
Spruch Sagst du stets, was du willst, hörst du gar bald das, was du nicht gewollt.
ANAKREON stammt aus Teos auf dem Festland nördlich von Samos. Von da kam er — auf der Flucht vor den Persern — nach Samos, wo er an den Hof des Polykrates (S38-522) berufen wurde. Nach dessen Ende wurde er von den Peisistratiden nach Athen geholt. Er starb im hohen Alter bei den Aleuaden in Thessalien. — Die hohe Kunst der lesbischen Dichter wandelt sich bei ihm ins Elegante und Verspielte. Als Dichter von Wein und Liebe hat er weit in die Folgezeit gewirkt; vor allem im 2. Jahrhundert n. Chr. entstanden Gedichte in seiner Manier (Anacreontea), und auch unsere deutschen »Anakreontiker« des 18. Jahrhunderts versuchten, ihn zu imitieren.
IIO
A nakreon
III
An Artemis
Flehend nah' ich dir, Jägerin, Zeus' blondlockige Artemis, O Wild-schirmende Göttin! Komm zum raschen Lethaios nun! Huldreich wende die Blicke du Auf hochherziger Männer Stadt: Denn roh schaltende Bürger nicht Sind es, welche du schützest.
An Dionysos
Herrscher! der du mit Eros' Macht, Mit schwarzaugigen Nymphen und Ihr, der purpurnen Kypris, Fröhlich spielest und gern umher Auf hochgipfligen Bergen schweifst: Auf den Knieen dich fleh' ich an, Sei mir hold, Dionysos, komm, Meinem Wunsche dich neigend. O sprich du Kleobulos selbst Zu mit göttlichem Rat, laß dir Meine Liebe gefallen!
Krieg und Wein Der sei nicht mein Genoß, der mir zum Weine beim vollen Becher von Fehden erzählt und von dem leidigen Krieg; Vielmehr der in geselligem Frohsinn gerne der Musen
Und Aphrodites holdseliger Gaben gedenkt.
Thrakisch Füllen
Thrakisch Füllen, warum wirfst du doch auf mich so schräge Blicke? Grausam fliehst du mich, du traust mir wohl des Klugen wenig zu? Aber wisse nur, ich wollte dich auf's allerbeste zäumen, Und dich fest im Zügel haltend lenken um das Ziel der Bahn. II2
Jetzt noch weidest du im Grünen, spielst umher in leichten Sprüngen, Denn es mangelt noch ein Reiter, der der Schule kundig ist.
Verlockung Auf mich werfend den Purpurball Winkt mir Eros im Goldgelock, Mit dem farbig beschuhten Kind Spielend mich zu ergötzen. Doch sie ist aus der herrlichen Lesbos, und es mißfällt ihr mein Graues Haar, denn ein andres gibt's, Dem sie brünstiglich nachschaut.
Trink mit Vernunft Den Pokal, mein Sohn! Ein Trunk soll Mir gedeihn, ein voller! doch nimm Nur den Becher Wassers zehnfach Und vom Lautern schöpfe fünfmal. Denn nicht überkühn und maßlos Mit dem Gott zu schwärmen denk' ich.
Das Alter Schon grau sind meine Schläfen Und altersschwach die Zähne, Es lichtet sich mein Haupt. Die holde Jugend schwindet, Des Lebens süße Freude Währt nur noch kurze Zeit. Oft bangt mir vor dem Tode, Dann stöhne schwer ich auf. Denn grausig sind die Tiefen Des Hades und entsetzlich Der Weg hinab; von drunten Kehrt niemand je zurück. iii
ANACREONTEA An die Leier Ich will des Atreus Söhne, Ich will den Kadmos singen: Doch meiner Laute Saiten, Sie tönen nur von Liebe. Jüngst nahm ich andre Saiten, Ich wechselte die Leier, Herakles' hohe Taten Zu singen: doch die Laute, Sie tönte nur von Liebe. Lebt wohl denn, ihr Heroen! Weil meiner Laute Saiten Von Liebe nur ertönen.
An die Zikade Selig bist du, liebe Kleine, Die du auf der Bäume Zweigen, Von geringem Trank begeistert, Singend, wie ein König lebest! Dir gehöret eigen alles, Was du auf den Feldern siehest, Alles, was die Stunden bringen; Lebest unter Ackersleuten, Ihre Freundin, unbeschädigt, Du den Sterblichen Verehrte, Süßen Frühlings süßer Bote! Ja, dich lieben alle Musen, Phöbus selber muß dich lieben, Gaben dir die Silberstimme, Dich ergreifet nie das Alter, Weise, Zarte, Dichterfreundin, Ohne Fleisch und Blut Geborne, Leidenlose Erdentochter, Fast den Göttern zu vergleichen.
I 1
SKOLIA sind Trinklieder, die von den Teilnehmern am Gelage im
Wechsel gesungen wurden, so wie ein Myrtenzweig von Hand zu Hand ging. Eines der berühmtesten (anonymen) Skolia ist jenes, das die Tat des Harmodios und Aristogeiton feierte, durch die die Tyrannis der Peisistratiden in Athen im Jahre 5 i i/ to v. Chr. beendet wurde.
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Schmöken will ich das Schwerdt! mit der Myrthe Ranken! Wie Harmodios einst und Aristogiton, Da sie den Tyrannen Schlugen, da der Athener Gleicher Rechte Genosse ward. Liebster Harmodios, du starbest nicht, Denn sie sagen, du seist auf der Seel'gen Inseln, Wo der Renner Achilles, Wo mit ihm Diomedes, Tydeus treflicher Sprosse, wohnt. Schmöken will ich das Schwerdt! mit der Myrthe Ranken! Wie Harmodios einst und Aristogiton, Da sie bei Athenes Opferfest den Tyrannen Hipparch, den Tyrannen ermordeten.
I16
Die Chorlyrik Das griechische Chorlied, das seit langem schon als kultische Feier einer Gemeinschaft überall in der griechischen Welt mit Gesang, Tanz und Instrumentalbegleitung zelebriert wurde, führt Pindar zu seinem letzten Höhepunkt. PI NDAR stammt aus Theben in Böotien, wo schon etwa zwei Jahrhunderte zuvor erstmals das Mutterland in Hesiod zum Wort gekommen war. Der Dichter wurde um das Jahr 518 v. Chr. dort geboren. Selber Angehöriger des Adels, vertritt er in seinen Gesängen noch durchaus die Werte dieser Gesellschaft, die in seiner Le-
Sich bekränzender Knabe I 17
benszeit freilich in zunehmendem Maße durch die Entwicklung zur Demokratie, besonders in der Nachbarstadt Athen, gefährdet waren. Er hat ein umfangreiches Werk hinterlassen: 17 Bücher verschiedenen Inhalts, von denen uns außer Fragmenten nur 4 Bücher ganz erhalten sind: »Epinikien«, Siegeslieder, auf die Sieger in den vier großen panhellenischen gymnastischen Wettkämpfen (Agonen) seiner Zeit: von Olympia (Buch I), von Delphi zu Ehren des pythischen Apollon (Pythia, Buch II), von Nemea (Buch III) und vom lsthmos bei Korinth zu Ehren des Poseidon (Buch IV). Diese Lieder wurden in der Rege! im Heimatort der Sieger aufgeführt. Das Technische des gymnastischen Kampfes tritt dabei ganz zurück hinter dem Ruhm, den nicht nur der Sieger, sondern mit ihm auch seine Familie und seine politische Gemeinschaft mit ihren göttlichen oder mythischen Schutzherren errungen haben. — Pindar hat mit seiner Kunst die ganze griechische Welt angesprochen, von Rhodos bis Sizilien, von Afrika bis zum Makedonenhof in Pella. Besonders eng war seine Verbindung zu dem damals von Athen bedrohten Aigina und vor allem zu den großen Herren Siziliens, Hieron von Syrakus und Theron von Akragas (Girgenti), die nach ihrem befreienden Sieg von Himera über Karthago (480) die Insel zu hoher— auch geistiger— Blüte gebracht haben. Pindar selbst lebte dort im Jahre 476/5. Er starb in Argos nach 446; seine Asche wurde nach Theben gebracht. Alexander d.Gr. hat später bei der Plünderung Thebens befohlen, das Haus des Dichters zu verschonen. — Horaz, Herder, Goethe und Hölderlin haben »in pindarischer Manier« gedichtet oder ihn zu übersetzen versucht; jedoch wurde der kunstvolle strophische und triadische Aufbau der Epinikien erst spät erkannt.
An die Chariten von Orchomenos (Für Asopichos aus Orchomenos, Sieger im Wettlauf der Knaben) Die, in kephisischer Flut Besitz, ihr wohnt auf Fluren, von schönen Rossen prangend, Sangesberühmte Königinnen ihr des Reichen Orchomenos, Huldinnen, der uralten Minyer Schutz und Schirm, Hört auf mein Beten! Wird doch durch euch alles Erfreuliche, Süße vollendet den Menschen, sofern Weise ein Mann ist und schön und edler Gesinnung. Ohne die hehren Huldinnen führen selbst 118
Götter nicht durch ihre Reigen und Mähler; ordnend, was not tut vielmehr Im Himmel, setzten sie nah dem goldbogenbewehrten, dem Pythischen Apollon ihren Thron, Huldigen ständig des olympischen Vaters ewger Hoheit. Herrin Aglaia voll Glanz, Und Euphrosyne, Freundin des Sangs, des stärksten Gottes Kinder, hört meinen Ruf nun; du auch, Thaleia, Sangesbegeisterte, wenn du siehst den Festzug bei holdgesinntem Glück Unbeschwert schreiten; Asopichos lydischen Tones voll Sorgfalt zu feiern ja, kam ich hierher. Wurde Olympiasiegerin Minyeia Doch durch dich. Zum schwarzwandigen Haus geh nun Persephoneias, Echo, dem Vater bringe die Botschaft des Ruhms; Tu, siehst du Kleodamos, ihm kund, daß seinem Sohne dort In Pisas hochberühmtem Tal Kränzte das junge Haar die Muse mit hehren Wettkampfs Fittich!
Ruhm und Bescheidung
(Für Phylakidas aus Aigina, Sieger im Allkampf) Mutter des Helios, vielnamige Theia, Dein Werk ist's, wenn als stark und mächtig einschätzen das Gold die Menschen, höher als andres; und so denn, Eifrig sich messend, sind auch Auf der See die Schiffe, vorm Wagen die Rosse, Kraft deiner Würde, Herrin, in schnell hinwirbelnden Wettkämpfen für staunens-, bewunderswert zu halten; Und in Wettspielfesten erwirkt sich ersehnten Ruhm, wem auch immer dichter Kranzschmuck sich auf das Haar Band, wenn mit der Faust er den Sieg oder durch der Füße Gewandtheit errang. Ober Menschenkraft wird durch Götter entschieden. Zweierlei hegt allein nur und hütet des Lebens lieblichste Höhe mit blühndem Segen, wenn mit
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Wohlergehen trefflicher Ruf sich verbindet. Heg den Wunsch nicht, Zeus zu werden! Alles hast Du, wird dir solch Edles zuteil. Es gebührt Sterbliches Sterblichen nur. Angeborener Wert
(Für Aristokleides aus Aigina, Sieger im Faust- und Ringkampf) Angeborener Wert ist's, der hohes Gewicht leiht. Wer nur Gelerntes kann, ein dunkeler Mann, denkt auf dieses, auf jenes er bald, geht nie Sichren Fußes, versucht sich an tausend Leistungen nur mit ziellosem Sinn. Für Hieron aus Syrakus, Sieger mit dem Rennpferd
Höchst wertvoll zwar ist Wasser; und Gold — wie leuchtendes Feuer Glänzt durch die Nacht, so hebt's weit sich aus männererhebendem Reichtum; Doch ist Wettkampfs Siegessang Dein Begehr, liebe Seele: Sieh die Sonne; mehr als sie, Stärker glüht am Tage kein andres scheinendes Gestirn durch des einsamen Äthers Raum. So Olympias Kampf ; nicht Edlers gibt's; laßt uns ihm Sprache leiten! Von dorther den Hymnos, den vielgepriesenen, umarmt Der Sänger Geist zum Lobpreis auf den Sohn Des Kronos, wenn sie am reichen sich vereint, Am hochbeglückten Herde Hierons, Der rechtgebendes Szepter führt in dem herdenviehreichen Sikulerland, sein Haupt schmückt mit den Kronen von jeglicher Tugend, Doch auch glanzvoll strahlt zugleich In der Tonkunst Erblühen, Wie im Spiel wir Männer sie Pflegen oft in gastlicher Runde. Nun, so lang' die dorische Leier denn her vom Pflock! Wenn, was Pisa bot und Pherenikos an Anmut und Kraft, Den Sinn dir auf holdeste Sangespläne eingestellt, Als am Alpheios er jagte entlang, I20
Den Leib, ungestachelt, darbietend im Lauf, Und so dem Sieg vermählte seinen Herrn, Von Syrakus den rossekampf -
freudigen König; hell glänzt der Ruhm, ihm in Der Stadt mannhaften Volks, Pflanzstadt Pelops', des Lydiers; Den begehrte, der gewaltig den Erdkreis umfaßt: Poseidon, seitdem ihn aus der reinen Wanne Klotho herausnahm, Dem in elfenbeinernem Glanz strahlt der Schulter Schmuck. Ja, Wunder gibt's viele, und manchmal sind auch der Menschen weit über die Wahrheit hinaus Mit Lügen, mit buntf arbgen, geschmückte Erzählungen nichts als Trugwerk. Es leiht Charis, die alles schafft, was genehm ist den Menschen, Ansehn und Ehre, bewirkt es dann auch, daß Unglaubliches glaub-
haft Wird und ist, wie's oft geschieht. Spätre Zeiten erst werden Zeugen, klug und einsichtsvoll. Es geziemt dem Manne, zu sprechen über Götter Gutes nur; kleiner ist dann die Schuld. Sohn des Tantalos, entgegen Früheren künd ich von dir: Als einst dein Vater geladen, ganz wie's Brauch ist, zum Gelag in Sipylos' freundliche Stadt, Erwidernd den Göttern ihr gastliches Mahl, Hat dich der Dreizackprangende geraubt — Es zwang Sehnsucht sein Herz —, auf goldnem Gefährt seiner Stuten Dich zu des weithin verehrten, des Zeus hohem Hause gefahren, Wo in nächster Zeit ja auch Ganymedes dann hinkam, Hin für Zeus zu gleichem Dienst. Als du nun unsichtbar warst, dich der Mutter Männer, ob sie schon viel suchten, nicht gebracht, Hat gleich heimlich einer der gehässigen Nachbarn gesagt, Sie hätten in Wassers durch Feuer siedendheißem Schwall Dich mit dem Messer gliedweise zerstückt, An Gasttischen rings als Nachspeise das Fleisch, • Dein Fleisch verteilt einander und verzehrt. I2I
Doch mir scheint's mißlich, nennt' ich freßgierig der Sel'gen einen; das laß ich sein. Ein Lohn bösester Art ward den Lästerern oft zuteil. Wenn ein Sterblicher je von des Olymps Wächtern hoch Geehrt ward, war dies Tantalos; doch das große Glück zu verdaun, war Er nicht fähig; und übersättigt, zog er sich zu Unmäßiges Unheil. Hängte der Vater doch Ober sein Haupt einen großmächtigen Stein, Den ständig vom Haupt fort er zu stoßen strebt, bar allen Glücks und freudlos. Dies Leben hat er, hilflos, voll Not stets, zu den drei Qualen Als seine vierte; gab er, was er stahl den Unsterblichen, doch den
Zechgenossen: Nektartrank Und Ambrosia, womit Sie unsterblich ihn gemacht. Doch wenn vor der Gottheit ein Mensch verborgen etwas hofft zu vollbringen, so geht er irr. Darum sandten ihm den Sohn die Himmlischen wieder hinab, Hin unter der Menschen schnellsterbendes Geschlecht zurück. Als dem — schön war erblüht seine Gestalt — Der Bartflaum bereits bedeckt dunkel das Kinn, Erwägt — sie bot sich — er Vermählung, will In Pisa von dem Vater die edle Hippodameia Haben. Und nah ans Meer geht, an das graue, allein er im Dunkel, Ruft den dumpf erdröhnenden Dreizackträger; und ihm vorm Fuß, ganz nah, erscheint der Gott. Dem nun sagt er: »Wenn je die holden Gaben Kyprias, irgend, Poseidon, dir gnädgen Sinn Wecken, halte Oinomaos' Lanze, die eherne, auf; Mich aber, auf hurtigstem Roßgespanne fahrend, bring Nach Elis; zum Sieg führe mich dort! Bereits dreizehn Männer ja brachte er um, Bewerber, und schiebt so die Heirat auf Der Tochter. Es ergreift Gefahr, große Gefahr, nur kraftlosen Mann nicht; ist Der Tod schicksalverhängt, soll sein ruhmloses Alter da I22
Einer, nur im Dunkel sitzend, vergebens vertun, All dessen, was schön, unteilhaft? Aber mir — mir ist dieser Wettkampf Als mein Ziel gegeben; gib du, daß die Tat mir glückt!« So sprach er; und nicht erfolglos rührt' an er die Worte. Um Glanz ihm zu leihn, gab der Gott Den goldenen Wagen und — beschwingt, nie mattwerdenden Laufs — die Stuten. So rafft' er Oinomaos hin, nahm die Jungfrau zum Weibe. Diese gebar ihm sechs fürstlich nach Tugenden strebende Söhne. Jetzt ist er bei prächtgen BlutSpendeopfern zugegen. Ruht an des Alpheios Furt In umhegtem Grab bei von Fremden dort gar oft besuchtem Altar. Und es glänzt sein Ruhm Leuchtend weithin von Olympias Festspiel, bei dem auf der Bahn Des Pelops sich streitet der Füße Schnelligkeit wie auch Der Kraft höchster Rang mutvollen Mühns. Wer dort siegt, im Leben hat künftig er stets Süßester Heiterkeit Beglückung, weil Den Kampfpreis er errang. Das stets Tag für Tag neue Glück — als Höchstes kommt's jedem Sterblichen; mir aber geziemt es, zu [krönen Jenen mit dem Reiterlied In aiolischer Weise Klang. Ich weiß, nie werde ich Einen Gastfreund, welcher des Schönen kundger ist, zugleich auch an Machtfülle stärker in Unsern Zeiten, mit dem stolzen zieren: des Sangs Faltenwurf. Ein schützender Gott hält die Hände über das, was du Erstrebst, Hieron; liegt ihm doch dies Am Herzen. Läßt er dich nicht plötzlich im Stich, Noch freudevoller hoffe ich den Sieg Des Renngespanns zu rühmen einst, findend der Worte hilfreichen Weg dort an Dem weit sichtbaren Hügel des Kronos. Wenn mir ja die Muse mächtigstes Geschoß voller Kraft nährt, so sind In anderm Bereich andere groß; doch höchste Höh hebt zum Gipfel 123
Sich den Kön'gen. Richte den Blick nicht noch mehr hinauf! Sei dir lang vergönnt, auf Höhen zu wandeln, und Mir, all die Zeit bei den Kampfsiegern zu
Verweilen, voranleuchtend an Dichtergeist rings im Hellenenvolke!
Der Wagenlenker von Delphi
Für Hieron aus S1irakus zum Trost in Krankheit
Daß doch — wünscht' ich — Chiron, der Philvra Sohn — Wenn es ziemt, mit unserer Zunge den Wunsch, den allgemeinen, kundzutun — Noch lebte, der längst schon verschied, Kronos', des Uranossohnes, weitwaltender Sproß Herr war als rauhes Halbtier in des Pelion Geklüft, Holdgesinnt den Menschen! Er zeigt' es, als einst er aufzog der Schmerzstillung freundlichen Meister, der gliederstärkenden: Asklepios, Heros und Helfer bei aller Art von Krankheit. 124
Eh des reisgen Phlegyas Tochter noch ihn Austrug mit Hilfe der die Mutter betreunden Eileithyia, stieg, erlegt Von Artemis' goldenem Pfeil In ihrem Brautgemach, sie in den Hades hinab; so wirkt' es Apollon. Nicht unwirksam ist der Groll Ja von Zeus' Kindern. Aber sie, ihn gering einschätzend in Sinnes Betörung, erkor, ihn dem Vater bergend, andern Bund, die doch Vorher gesellt war dem niegeschornen Phoibos
Und des Gottes Samen, den lauteren, trug. Nicht das hochzeitliche Mahl erharrte sie Noch des vollertönenden Brautlieds Gejauchz, wie Jungfraun ja, Altersgleiche Freundinnen, damit zu necken Pflegen im Scherze durch abendlichen Chorsang; nein, vielmehr Sehnte nach Fernem sie sich; wie es ja vielen schon erging. Rechnet man unter den Menschen doch zu der törichtsten Art, Wer da, häßlich handelnd am Heimischen, ausschaut nach dem Fremden, Nach Vergeblichem jagt mit unerfüllten Hoffnungen. Es befiel solch große Betörung das Herz Der mit schönem Kleide gezierten Koronis; denn des Fremdlings Bett bestieg Sie, der aus Arkadien kam.
Nicht blieb's verborgen dem Späher; im opf ertierreichen Pytho weilend, nahm es wahr des Heiligtums Fürst, Loxias, beim redlichsten Freund sich Gewißheit holend, bei Seinem allwissenden Geist. Denn der rührt Lügen nicht an; es täuscht ihn kein Gott und kein Sterblicher mit Taten noch Ratschlag. Da er weiß, daß Ischys, dem Eilatossohn, Sie, dem Fremdling, beilag, ihn ruchlos betrog, da sendet er die Schwester, die In unwiderstehlichem Zorn Tobende, nach Lakereia; dort wohnte am Hang des Boibiassees das Mädchen; ein Fluchgeist, der, ihr feind, Sie zu Bösem antrieb, bewältigte sie; und viele der Nachbarn traf's mit, und sie ginI25
gen zugrund; tilgt einem Berg doch viel an Wald Feuer, das ihm aus nur einem Keim hineinspringt. Doch als auf den Holzstoß das Mädchen hinauf Legten die Verwandten und wild sie umlief Des Hephaistos Lohe, da sagte Apollon: »Nicht mehr kann Dulden mir mein Herz, daß mein Blut mir vernichtet Wird durch den kläglichsten Tod, der Mutter schwerem Los vereint.« Sprach's; nur ein Schritt — er erreicht das Kind, und aus der Toten Leib Reißt er's; der flammende Holzstoß öffnete ihm seine Glut. Nach Magnesia bracht' er es, gab's dem Kentauren, daß er's lehre, Wie man Krankheiten, schmerzhaft, qualvoll Menschen, heilen kann. Wie viel nun auch kamen, am Leib ein Geschwür, Das von selbst wuchs, oder die Glieder verletzt durch graues Eisen oder durch Den weithin geschleuderten Stein, Oder durch Sommersglut oder den Winter versehrt am Körper: die macht' er von der, andere von Jener Qual frei, manche behandelnd durch sanften Zauberspruch, Andre mit heilendem Trank oder Salbverbänden um die Glieder rings. Andere bracht' er durch Schneiden auf die Beine. Doch Gewinnsucht fesselt auch Weisheit und Kunst. Trieb doch auch jenen mit zu reichlichem Lohn an Gold, in Händen blinkend, zu Befrein einen Mann von dem Tod, Der ihn erfaßt schon; da raubte Kronion, mit starker Hand durch beide treffend, der Brust Atem den zwein Raschen Wurfs; es streckte ein feuriger Blitz sie in den Tod. Wünschen von Göttern nur soll man, was ziemt, sterblichen Sinns erkennend, was Liegt auf der Hand: welch ein Schicksal uns zuteil ward. Kein unsterblich Leben erstrebe, mein Herz. Doch die durchführbare Arbeit schöpfe aus! Wohnte Chiron noch in der Höhle, der Weise, gössen ihm I26
Unsre honigtönenden Hymnen ins Herz Trank, Der ihn bezauberte; einen Arzt, beredet' ich ihn, auch Jetzt zu beschaffen für edler Männer hitzge Krankheit, sei's Daß nach dem Letosohn er sich oder dem Vater benennt. Und ich käm, auf Schiffen das Ionische Meer durchschneidend, zum Quell Arethusa bis hin zum Gastfreund, dem aitnaiischen, Der in Syrakus als der König gebeut, Mild den Bürgern, neidlos den Edlen gesinnt, Frem-
den ein Vater, hochgeehrt, Käm ich, als ein zweifach Geschenk Ihm die Gesundheit, die goldene, bringend sowie den Festzug für pythischen Kampf, Glanz Kränzen zu leihn, Die als Siegespreis Pherenikos gewann in Kirrha einst: Mehr als ein Himmelsgestirn strahlend, glaub ich, würd ich dort, jenem ein Licht, Anlangen, wenn ich das tiefe Meer durchfahren. Aber (lehn will ich zur Erhabenen, zur
Mutter, welche Mädchen im Vorhof bei mir oft mit Pan feiern im Sang, Die ehrwürdge Göttin, bei Nacht. Wenn du der Worte erhabenen Gipfel verstehn kannst, Hieron, weißt, lernend von den Vorfahren, du: Einem Glück teilen die Unsterblichen zweimal Leid zu für Sterbliche. Das nun fürwahr können nicht Toren mit Würde tragen, nur Edle, indem sie das Schöne auswärts kehren. Dir jedoch folgt herrlichen Glückes Geschick. Auf des Volkes Führer, den Herrscher, ja blickt, Wenn auf einen Menschen, gewaltiges Schicksal. Sicheres Leben ward nicht Peleus, dem Aiakossohn, nicht Kadmos, dem gottgleichen. Doch sagt man, der Menschen höchstes Glück Ward ihnen, die sie der Musen Sang, der goldreiftragenden, Hoch auf dem Berg und im siebentorigen Theben gehört, Als der großäugigen Harmonia jener, der des Nereus, Jenes ratklugen, Kind: Thetis, der hehren, sich vermählt.
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Und die Götter schmausten bei beiden; sie sahn Kronos' Söhne, Herrscher auf goldenen Stühlen, nahmen deren Brautschatz in Empfang. Und da Gnade des Zeus Sie gegen frühere Mühsale glücklich vertauscht, so richteten auf sie den Mut. Doch kam es, daß dem Einen bittre Leiden der Töchter, der drei, der Freude Teil Raubten; es ging freilich hin zu der weißarm'gen Thyone Vater Zeus, Teilte das Lager, wie er's ersehnte, mit ihr. Und des andern Sohn, den als einz'gen gebar Thetis, die Göttin, dort in Phthia, als ihm im Krieg sein Leben nahm ein Pfeil,
Erregte, vom Feuer verbrannt, Klage den Danaern. Wenn von den Sterblichen trägt einer im Sinn der Wahrheit Weg, der muß, was ihm kommt Von den Sel'gen, hinnehmen. Geht doch bald hier-, bald dorthin hoch Fliegender Sturmwinde Wehn. Glück kommt nicht für lange Menschen unversehrt Her, wenn in wuchtiger Fülle es sich einstellt. Klein im Kleinen, groß will im Großen ich sein Und um die stets meinen Geist umschwebende
Gottheit mich bemühen, ihr dienend nach meiner Fähigkeit. Wenn ein Gott Fülle zarter Kunst mir gewährte, Hoffe ich, Ruhm zu erwerben, hohen Ruhm in künftiger Zeit. Nestor, den Lykier Sarpedon auch, von Menschen oft genannt, Kennen aus klangreichen Liedern wir, wie sie Meister voll Kunst Fügend schufen; Tugend und Taten — sie dauern in Gesängen Voller Ruhm; doch nur wenige erreichen leicht dies Ziel. Wege des Schicksals
(Für Ergoteles aus Himera, Sieger im Langlauf) Tochter des Zeus, des Befreiers, ich flehe: Ober Himera, der weithin mächtigen Stadt, walte, Retterin Tyche! Du ja steuerst auf dem Meere schnelle Schiffe und zu Lande Kriegsgetümmel, Ratsversammlungen. Bei den Menschen freilich — Fluten leeren Trugs durchschneidend I28
schwanken vielfach auf und ab die Hoffnungen. Kein Irdischer noch fand ein verlässiges Zeichen für den Ausgang einer Tat von Gott her; blind fürs Künftige ist sein Sinn. Vieles widerfährt den Menschen wider ihren Plan, kehrt ihre Freude um; und wen Stürme des Unglücks trafen, tauscht Leid gegen hohes Glück in kurzer Zeit. Sohn des Philanor, wie bei einem Hahn, der nur zu Hause kämpft im eigenen Hofe, wäre wahrlich auch deiner Füße Ruhm unbesungen verwelkt, hätte Bürgerzwist dich nicht deiner Heimat zu Knossos beraubt. Aber nun, nachdem du zu Olympia dir den Kranz gewonnen und zweimal von Pvtho her und auf dem Isthmos, Ergoteles, hebst du hoch den Ruhm des warmen Nymphenbads, auf eigener Scholle hausend. Macht der Musik (Für Hieron von Aitna, Sieger mit dem Wagen)
Goldne Harfe, die Apolls, der veilchengelockten zugleich Eigentum, der Musen, du bist; dir gehorcht der Tanzschritt, des heiteren Fests Anfang; Deinen Zeichen folgt der Sänger Chor, Sobald du des Vorspiels, des reigenführenden, Anfangstöne bebenden Saiten entlockst. Selbst den Blitzstrahl löschest du, den Schleuderer Ewigen Feuers. Es schläft auf des Zeus Kronstab auch der Adler, den Flügel beiderseits nieder, den hurtigen, senkend, Er, der Vögel Herr; die dunkeläugige Wolke ums Haupt, Ums gebogne, hast du, des Lids süße Schließung, ihm ja gegossen; und er, schlummernd, liebt den feuchten Rücken, ganz durch dein Geschlagnes Ertönen gebannt. Auch der gewalttätge Ares -- weg läßt die rauhe, die Kraft Er der Lanzen und erwärmt sein Herz durch Ruh'n, Deine Geschosse bezaubern selbst Göttersinn durch des Letosohns Meisterschaft und der Musen, der vollbus'gen, Chorsang. 129
Doch alle Wesen, die Zeus nicht liebt, entsetzen sich, den Laut Der Pieriden vernehmend, die zu Land, im Meer die, dem wilden, und er, Der im grausgen Tartaros liegt, machtlos, der Götter Feind: Typhoeus, der Riese, der hundertköpfge, den Einst die berühmte Höhle Kilikiens genährt hat; jetzt jedoch Drücken, meerumzäumt die Gestade von Kyme Und Sizilien ihm die Brust, die zottige; es hält des Himmels Säule ihn nieder, die reich Ist an Schnee, des Ätna Höh, ganzjährig des Schnees, des scharfen, Amme. Dessen Schlünde speien von unnahbarem Feuer heraus Heiligste Quellen; und es gießen bei Tage Flüsse hervor einen Strom von Qualm, fahl leuchtend. Zur Nachtzeit aber trägt Felssteine die purpurne Lohe wälzend zum tiefen Meeresgrund mit Gekrach und Getös. Jenes »Kriechtier« schickt Hephaistos' Bäche, höchst Furchtbare, grausge, empor, ist ein Schreckbild, wunderbar dem, der es sieht; ein Wunder auch, hört man's von dem, der dabei war, Wie es an des Ätna dunkellaubiges Haupt ist gebannt Und den Grund, sein Bett ganz den Rücken, den fest anliegenden, stachelt und ihm wundreibt. Laß uns, Zeus, dir wohl gefallen, der Du dieses Gebirge betreust, fruchtbaren Erdreiches Stirn; nach ihm trägt den Namen die Stadt, Die geehrt hat ihr berühmter Gründer, die Nachbarin; denn in der pythischen Rennbahn nannt' ihren Namen der Herold, ausrufend Hierons glanzvollen Sieg mit Seinem Gespann. Auf der See fahrende Männer freut es als Erstes, wenn ihnen bei Fahrtbeginn ein günstger Wind kommt; so hofft man mit Recht, Auch am Schluß der Fahrt auf bess're Heimkehr. Der Sinn solchen Worts gibt auch diesem schönen Erfolg die Aussicht, es Werde künftighin wie durch Kränze und Rosse hochberühmt, 130
So die Stadt ob klangvoller Feste bekannt sein. Lykiens und Delos' Herrscher, Phoibos, der du des Parnassos Quelle Kastalia liebst, Leg ans Herz die Wünsche dir und schenke dem Lande tüchtge Männer!
Ehrsucht
Höchst gefährlich sind Zu sehr sich auf Ehrsucht einstellende Männer in den Staaten; Sie wirken Leid, das klar sich zeigt.
Menschen und Götter (Für Alkidamas aus Aigina, Sieger im Ringkampf der Knaben) Ein Stamm: Menschen und Götter; von einer ja atmen wir, von Einer Mutter wir beiden; doch Macht von ganz verschiedener Art Trennt uns, so daß hier ein Nichts ist, dort der
eherne Himmel ein sicherer Sitz Bleibt für ewig. Doch kommen in etwas, sei's an hohem Geiste, sei's
Durch Natur, wir den Unsterblichen nah. Wissen wir auch nicht, wohin wohl, ob es bei Tag ist oder Nacht, das Schicksal uns zu Laufen vorschrieb, bis zu was für einem Ziel.
frg. 119 Was ist Gott? Das All . . .
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Herrnes 1, _
DAS D1i1A
Die Tragödie Das ionische Griechentum in Kleinasien ging im Laufe des 6. Jahrhunderts schweren Zeiten im Abwehrkampf erst gegen die Lyder, dann gegen die wachsende persische Macht entgegen. In der gleichen Zeit aber war, wie Herodot sagt, »Athen stark geworden« — nicht zum wenigsten durch das »freie Wort«, das dort, besonders nach dem Sturz der Peisistratiden, jetzt etwas galt. Aber dennoch war die Grundlage für das überraschende Aufblühen auch der Künste im ionischen Attika und in Athen, in einem bis dahin literarisch nicht gerade bedeutenden Teil des Mutterlandes, bereits durch Peisistratos (561-528) gelegt worden, der nicht nur Künstler jeder Art nach Athen berief, sondern auch durch das Fest der »Großen Dionysien« zu Ehren des Gottes Dionysos im März/April eines jeden Jahres die Voraussetzung für die Tragödiendichtung schuf. Denn er hatte Thespis aus dem attischen Gau Ikaria, der schon dort, im ländlichen Bereich, »dramatische«, d. h. mit »Handlung« angereicherte Spiele zu Ehren des Dionysos, veranstaltet hatte, im Jahre 534 v. Chr. an seinen Hof geholt mit dem Auftrag, nun auch in der Stadt durch seine Aufführungen das neue große D ionysosf est zu verschönern. Diese Spiele nannte man »tragisch , , weil einstmals dabei ein Bock (tragos) als Preis und Opfer für den Gott ausgesetzt war. Die Schöpfung der Tragödie ist somit das große Verdienst Athens, mögen auch anderswo, z. B. in Sikyon, chorische Aufführungen zu Ehren eines Heros oder eben auch des Dionysos bezeugt sein. Denn dadurch, daß jetzt ein »szenisches« Spiel mythischen Inhalts zu den 'chorischen« (= tänzerischen) Aufführungen eines »Dithyrambos« für den Gott hinzutrat, daß an den kreisrunden Tanzplatz, die »Orchestra« des Chores mit dem Altar in der Mitte, sich jetzt ein Bühnengebäude (»Skene«) mit seinen Schauspielern anschloß, wurde etwas Neues und Einmaliges geschaffen, das kaum So Jahre später mit Aischylos bereits seine Vollendung erfuhr. Zum Verständnis der griechischen Tragödie ist festzuhalten: 1. Die Tragödie ist Teil des Gottesdienstes für Dionysos, dessen vor jeder Aufführung in einem Dithyrambos gedacht wurde, und genießt die Förderung des Staates. 133
2. Inhalt der tragischen Spiele ist der griechische Mythos, die Götter- und Heldensage; auch Homer kennt und gestaltet bereits »tragisches« Geschehen in epischer Form, z. B. in der Person des Achilleus. 3. Chor und Schauspieler gehören eng zusammen: entsprechend treten zu den lyrischen Maßen des Chors die Sprechverse (lamben) der Schauspieler. 4. Der Chor ist in zwei Halbchöre mit je einem Chorführer gegliedert; die Zahl der Schauspieler, die gleichzeitig agieren, ist begrenzt: Aischylos hat den 2., Sophokles den 3. Schauspieler eingeführt. Das bedeutet, daß ein Schauspieler u. U. mehrere Rollen spielen mußte, auch Frauenrollen ; denn Frauen durften nicht Schauspieler sein. 5. Das war möglich, weil die Schauspieler in Masken, langwallenden Gewändern und hohen Schuhen (» Kothurn«) auftraten. Für Mienenspiel war somit kein Platz ; es gab auch kaum Szenerie: das Wort und die Musik beherrschten die Szene. Die »Einheit des Ortes« wurde dabei meist gewahrt. 6. Der tragische Dichter war zugleich Verfasser, Tonsetzer, Schauspieler, Spiel- und Chorleiter. Neben ihn trat der »Chorege«, d. h. ein vom Staat ausgewählter Bürger der reichsten Klasse, der für den Aufwand aufzukommen hatte und als Veranstalter galt. 7. Gespielt wurde an drei Tagen der Großen Dionysien im Dionysostheater zu Füßen der Akropolis, u.zw. jeweils täglich eine »Trilogie«, d. h. eine aus drei Stücken bestehende Reihe des gleichen Dichters, an die sich noch ein Satyrspiel anschloß, so daß an jedem Spieltag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gespielt wurde. Das Spiel hatte Wettbewerbscharakter: die beste Trilogie der drei Tage erhielt von Staats wegen den Preis. B. Entscheidend war die — auch staatspolitisch — erzieherische Wir-
kung der Tragödien; der Theaterbesuch war Bürgerpflicht. 9. Das Stück selbst gliederte sich in mehrere, meist drei »Epeiso-
dia«, d. h. Akte, die von einander durch »Standlieder« (»Stasima«) des Chores getrennt waren, wie denn der Chor auch in der Regel -- nach dem gesprochenen »Prolog«, falls ein solcher vorgesehen war — das »Einzugslied« (»Parodos«) und das Schlußlied sang. So hat sich aus der griechischen Tragödie einerseits unser Schauspiel (in Akte geteilt), andererseits unsere Oper in ihrem Wechsel zwischen Arie und Rezitativ entwickelt. 134
Dionysos' Meerfahrt
AISCHYLOS wurde im Jahre 525 v. Chr. im attischen Gau Eleusis geboren. Im Alter von 3 S Jahren nahm er an der Schlacht von Marathon teil; auch bei Salamis (48o) und Plataiai (479) erfüllte er als Mitkämpfer seine Bürgerpflicht. Seit der Jahrhundertwende trat er als tragischer Dichter in Erscheinung; von seinen zahlreichen Dramen sind uns sieben erhalten, darunter die vollständige Trilogie der »Oresteia«, das Werk des reifsten Alters, mit dem er im Jahre 458 den ersten Preis errang. Bedeutsam war auch zuvor schon sein Sieg von 472, als er erstmalig ein zeitgeschichtliches Drama, die »Perser«, im Gedenken an Salamis auf die Bühne stellte. Der Erfolg dieses Stückes trug ihm außer dem Preis eine Einladung des Tyrannen 135
Hieron nach Syrakus ein, wo er nicht nur die »Perser« ein zweites Mal zur Aufführung brachte, sondern auch zur Einweihung der neugegründeten Stadt Aitna am Fuße des Ätna ein nicht mehr erhaltenes Festspiel verfaßte. Hier berühren sich die Lebenskreise der Dichter Aischylos und Pindar, die freilich in ihrer geistigen Haltung recht verschieden waren: Pindar, den Normen der ausgehenden Adelswelt zeitlebens verbunden; Aischylos, der Wegbereiter der neuen Zeit bürgerlicher Mündigkeit. Aischylos starb während seines zweiten Aufenthaltes in Sizilien 456; in Gela wurde er bestattet. Wir lassen das letzte Stück der Orestes-Trilogie folgen, die »Eumeniden«. Orestes hatte auf Apollons Geheiß seine Mutter Klytaimestra getötet, um so den von ihr verübten Mord an seinem Vater Agamemnon zu rächen. Dafür verfolgen ihn nun nach dem Recht der Blutrache die Rachegeister der Erinyen. Apollon verweist den Muttermörder zur Entsühnung nach Athen vor den dortigen Blutsgerichtshof, den Areopag. Durch den von Athene auf Grund neuer Satzung erwirkten Freispruch wird so die Automatik der Blutrache durch ein ordentliches Gerichtsverfahren mündiger Bürger abgelöst. Die Erinyen aber erhalten, versöhnt als Hüter des Rechts, nunmehr als die »Wohlgesinnten« (= Eumeniden) oder als die »Ehrwürdigen« (= Semnai) in den Klüften unterhalb des Areopags, des »Areshügels«, ihren Sitz und ihren Kult.
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DIE EUMENIDEN
Die Personen des Dramas DIE PYTHISCHE SEHERIN APOLLON
ORESTES KLYTAIMESTRAS SCHATTEN CHOR DER EUMENIDEN ATHENA DIE GELEITENDEN Das Stück spielt in seinem ersten Teil vor dem Apollontempel in Delphi, im zweiten Teil vor dem Tempel der Athena auf der Akropolis in Athen, im dritten Teil auf dem Areopag, einem Felshügel am Fuß der Akropolis. Vor dem Apollontempel SEHERIN
vor der verschlossenen Pforte, betend Zuerst durch Anruf von den Göttern ehr ich hoch Die Urwahrsagrin Gaia; nach ihr Themis dann, Die ja als zweite dies, der Mutter, Heiligtum In Hut nahm, wie es heißt; darauf als dritte nahm Der Reih, mit Willen jener und ohn allen Zwang, Auch ein Titanenkind der Erde, ein den Sitz, Phoibe. Die gibt ihn am Geburtstag als Geschenk Phoibos; und Phoibes Name wird Beiname ihm. Fortzog er von dem Teich und Delos' Klippenstrand, Landet' an Pallas' schiffumfahrnem Felsgestad Und kam ins Land hier und zu des Parnassos Sitz. Und ihn geleiten, ehren voller Scheu ihn hoch, Wegbahner ihm, die Söhne des Hephaistos, die Das Land, das unbebaute, zähmend ihm bebaun. Und als er einzog, huldigt machtvoll ihm das Volk Und Delphos, dieses Landes steuerführnder Fürst. Für seine Kunst macht Zeus begeistert ihm den Sinn Und setzt als vierten Seher ihn auf diesen Thron. Des Zeus Prophet ist, seines Vaters, Loxias nun. Den Göttern gilt mein erster Anruf beim Gebet.
Auch Pallas, die »vorm Tempel« wohnt, ehrt nun mein Spruch. Ich grüß die Nymphen drüben am korykischen Fels, Hohl, lieb den Vögeln, der Dämonen Unterschlupf. 137
Daß Bromios Herr des Orts, laß ich nicht unerwähnt, Seitdem die Bakchen führt' in mächtgem Heer der Gott Und hasengleich den Pentheus bracht ins Garn des Tods. Des Pleistos Quellen gilt jetzt und Poseidons Macht Mein Ruf und dem Vollender, Allerhöchsten: Zeus; Danach als Seherin nehm ich auf dem Throne Platz. Und möchten nun — wie (rühre — sie den Eingang mir Am meisten segnen! Und wenn hier Hellenen sind, Die treten ein in Loses Reih, wie's Recht und Brauch! Weissagung geb ich, wie den Weg mir weist der Gott. Sie geht ins Innere, kommt entsetzt wieder heraus
Ha, Greul zu sagen, Greuel, eignen Augs zu schaun, Warfen rückwärts mich aus des Loxias Heiligtum, Daß ich nicht Kraft hab, aufrecht nicht vermag zu stehn; Mit den Händen lauf ich, nicht schnellfüßger Beine Schwung. Faßt Angst die Greisin — nichts ja, kindgleich ist sie dann. Ich schreite zu dem kranzgeschmückten Innern vor, Seh am Erdnabel einen gottverhaßten Mann Den Sitz umklammern als Schutzflehnden, seh mit blutbetropften Händen ihn sein frischgezücktes Schwert Halten und eines Olbaums hochgewachsnen Zweig, Mit dichter Woll in schöner Ordnung eingehüllt Schneeweißen Vließes; so sag ich genau, wie's war. Und nah dem Mann dort — welch erstaunlich fremde Schar Schläft da von Weibern, auf den Sesseln hingehockt! Nicht wahrlich Weiber, nein, Gorgonen nenn ich sie; Und wiedrum nicht gorgonscher Art setz ich sie gleich. Ich sah einmal im Bild gemalt, die Phineus fort Die Speise trugen; so, doch flügellos zu schaun Sind diese, schwarz, alles in allem: ekelhaft. Sie schnarchen in unnahbarn Atemblasens Hauch; Aus ihren Augen träufeln sie grausges Getropf. Und ihre Tracht — nicht Götterbildern sich zu nahn Ist tauglich sie noch in der Menschen Haus zu gehn. Den Stamm sah ich noch nie, der solche Wesen zeugt, Noch auch ein Land, das sich berühmte, dies Geschlecht Zu nähren straflos, ohne Reu ob seiner Müh. Das Weitre nun sei dieses Heiligtumes Herrn Selber empfohlen, dem gewaltigen Loxias. Arzt ist und Seher er: er weiß zu prophezein Wie jedes Haus von Makel reingend zu befrein. 138
Die Seherin geht ab. Die Pforte öffnet sich; man sieht die Lrinyen auf den Sesseln schlafen, in der Nahe des Nabelrunds Orestes mit blutigem Schwert und dem Olivenzweig. Neben ihm steht Apollon, von Hermes begleitet APOLLON
Ich geb dich nie preis; bis zum Schluß als Schützer dir Zur Seite stehnd, werd ich, auch weit entfernt einmal, Doch deinen Feinden nie nachgiebgen Sinnes sein. Auch siehst du nun gefangen diese wütige Schar, Vom Schlaf bezwungen die scheußlichen Jungfern hier, Die greisen Urzeittöchter, denen nie gesellt Der Götter einer noch ein Mensch, ein Tier sich je. Des Bösen halber sind sie da; im Dunkel drum, Im bösen, hausen sie, drunten im Tartaros, Verhaßt den Menschen wie den Göttern im Olymp. Gleichwohl flieh weiter, werd nicht weich noch matt dabei! Denn jagen werden sie dich durch des Festlands Flur, Auf deiner Spur stets bleibend im durchirrten Land, Wie übers Meer und flutumspülte Städr' hindurch. Und werd nicht vorher müd, treibt auf die Weide man Dich solcher Not; nimm deinen Weg zu Pallas' Stadt, Setz dich, und mit dem Arm umfaß ihr altes Bild! Dort werden Richter für die Tat, mildernden Worts Zuspruch wir haben, Mittel, Wege finden dann, Dich ganz und gar von solchen Nöten zu befrein. Zu töten ja bewog ich dich der Mutter Leib. ORESTES Herrscher Apollon, du weiß wohl, was Rechttun ist; Und da du's weißt, schreib auch Fürsorge dir ins Herz! Und deine Macht sei gnädigen Beistands Bürgschaft mir! APOLLON
Denk dran; niemals laß Furcht besiegen deinen Sinn! zu Hermes
Du, brüderliches Blut vom gleichen Vater her, Hermes, beschütz ihn, sei, wie dein Beiname sagt, Geleiter nun, führ hütend ihn, der mir genaht Schutzflehnd! Ehrt Zeus doch solche Ehr rechtlosen Manns, Läßt sie mitziehn zu Menschen günstigen Geleits! Apollon verschwindet; Hermes mit Orestes ab Klytairnestras Schatten taucht auf 139
KLYTAIMESTRA
Ihr schlaft wohl? Auf denn! Schlafende -- was soll's damit? Doch ich, von euch so ganz mißachtet und entehrt, Unter den andern Toten — die ich umgebracht, Ihr Vorwurf bei den Abgeschiednen hört nicht auf — Irr schmachvoll um stets, und ganz offen sag ich's euch: Der schlimmsten Schuld werd ich von jenen stets geziehn. Der Leid, so furchtbares, geschah vom nächsten Blut, Keiner entbrennt der Götter meinethalb in Zorn, Die hingeschlachtet ward von Muttermörders Hand. Sieh an die Wunden hier mit deines Herzens Aug; Denn schläft der Geist, tun Augen sich ihm leuchtend auf, Indes am Tage klare Schau versagt uns bleibt. Gar viele schon habt meiner Gaben ihr geschlürft; Weinlose Weihegüsse, rauschfrei-sanften Trank Und nächtig-heilge Mahlzeit opfert ich am Feur Des Herds zur Stunde, die kein Gott sonst mit euch teilt. Und alles dies tritt, seh ich, euer Fuß in Staub. Der, euch entschlüpfend, eilt davon dem Hirschkalb gleich; Ja, leichten Fußes mitten aus dem Jägernetz Brach aus er und hohnlachte euch gewaltig noch! Hört mich; sprach ich um meiner Seele willen doch! Kommt zur Besinnung, Göttinnen des Erdengrunds! Ein Traumbild, ruf ich, Klytaimestra, euch jetzt auf! CHOR DER ERINYEN (Gestöhn) KLYTAIMESTRA
Wohl stöhnt ihr; doch der Mensch ist fort auf weiter Flucht. Dem Sohn stehn, der nicht mehr mein Sohn ist, Helfer bei. CHOR (Gestöhn) KLYTAIMESTRA
Zu tief schläfst du, und nicht erbarmst du dich des Leids: Orestes, mein, der Mutter, Mörder, ist davon! CHOR (Geächz) I40
KLYTAIMESTRA
Du ächzest, schläfst noch, raffst dich nicht empor in Eil? Was ist sonst deines Amts, als daß Unheil du schaffst?
CHOR (Geächz) KLYTAIMESTRA
Schlaf, Mühsal haben, zwei Gewaltherrn, schwurvereint, Der fruchtbarn Drachin gänzlich lahmgelegt die Kraft.
CHOR (Gestöhn, verdoppelt, heftig)
Faß an! Faß an! Faß an! Faß an! Paß auf! ILLYTAIMESTRA Im Traum verfolgst dein Wild du und gibst Laut gleichwie Ein Hund, den Sorg und Eifer nie losläßt auf Jagd. Was soll's? Steh auf! Nicht zwinge dich der Mühsal Not! Noch laß, was Leid bringt, liegen, ganz erschlafft vom Schlaf! Grab selbst ins Herz dir des gerechten Vorwurfs Qual; Besonnenen ja wirkt er einem Stachel gleich! Du, blutigheißen Hauch im Sturm nachschnaubend ihm, Im Brodem ihn ausdörrnd, in der Gedärme Glut: Verfolg, zur Strecke bring in zweiter Hetzjagd ihn!! verschwindet CHOR
durcheinander
Weck auf! Weck auf hier diese du, ich wecke dich! Schläfst du? Steh auf! Und fort von uns stoßend den Schlaf, Laßt sehn uns, ob vordem Erklungnes Täuschung war! im Wechselgesang Ioh, ioh, die Qual! Wir litten, Schwestern mein — So vieles schon erlitt ich — und vergeblich war's! Wir litten solch ein Leid, Ein jammervolles, oh, ein untragbar Weh! Aus Netzes Garn gebrochen ist davon das Wild! Vom Schlaf besiegt, ward ich los meinen Fang! Heiho, Sohn des Zeus! Ein schlauer Dieb bist du! 14
Hast, junger Gott, die greisen Götter überrannt! Den Schützling ehrtest du, Den gottlosen Mann, eigner Erzeugrin Feind! Den Mutterschläger stahlst du weg uns, du — ein Gott! Wer sagt hier noch, daß gerecht solches Tun? der ganze Chor
Ein tadelnd Schelten, das aus meinen Träumen scholl, Mir traf's einem Rosselenker gleich Scharfzielnden Geißelschwungs Ins Herz hinein, in die Leber! So ward, den auspeitschend weckt Furchtumgraust Henkers Faust: Der drückend, erdrückende Schauder mein Teil! Derartig führen sich die jüngern Götter auf, Gewalt übend, ganz dem Recht zum Hohn. Als mordbetrieften Thron Vom Haupt bis hin zu den Füßen, So kann den Erd-Nabel man Schauen, wie Ströme Bluts, Aus furchtbarer Todschuld die Ernte, er trägt. Mit seines Herds Besudlung hat der Seher selbst Sein Haus entheiligt höchsteigenen Triebs und Rufes, Der wider Götterbrauch Sterbliches ehrt und schützt, Doch uralt Götteranrecht zerbrach. Mir fügt er Leid zu und macht den hier niemals los! Sucht er im Erdschoß Schutz: nie kommt er je in Freiheit! Ein Flüchtling, trifft er, wo's auch sei, den andern bald Aus gleichem Blut, der sein Mörder wird! APOLLON
erscheint
Hinaus! befehl ich. Aus dem Tempelhaus entweicht In Eil, entfernt euch aus dem Seherheiligtum ! Eh, spürnd den Biß beschwingter, gleißendweißer Schlang, Die goldgeflochtner Sehne sich entstürzt im Flug, 142
Du brichst vor Qual des Menschenschweißes schwarzen Schaum, Ausspeind Blutklumpen, die du eingesaugt beim Mord! Nein, dies mein Haus hier anzurühren, ziemt euch nicht. Doch wo für Kopfabhaun, Augenausgraben die Gerichts- und Schlachtstatt, wo man durch der Zeugung Raub Der Knaben Kraft verwüstet, wo Verstümmlung herrscht Und Steingung und ausstoßen langen Jammerlaut Durch ihr Rückgrat Gepfählte: Hört ihr es nun wohl, Wie ihr verhaßt den Göttern seid, da Lust ihr habt An solchen Festen? Jeder Zug zeigt's der Gestalt: Des Löwen Höhle, des blutschlürfenden, ziemt als Behausung solchen, nicht sich hier im Seherhaus Herumzudrücken, jedem, der da naht, ein Greul! Entweicht, zieht ohne Hirten weiter eure Bahn; Ist solcher Herde keiner ja der Götter hold! Er treibt den Chor aus dem Heiligtum
CHORFÜHRERIN Herrscher Apollon, hör dagegen unser Wort! Du selber bist an alldem nicht mitschuldig nur; Nein, einzig alles tatest du, an allem schuld! APOLLON
Wieso? Soweit als not, setz deine Rede fort! CHORFÜHRERIN Dein Spruch befahl dem fremden Mann den Muttermord! APOLLON
Mein Spruch hieß rächen ihn den Vater; und mit Recht! CHORFÜHRERIN Und darauf nahmst die neue Blutschuld du in Schutz — APO LLON Und trug, Reingung zu suchen hier im Haus, ihm auf! CHORFÜHRERIN Und sein geleitendes Gefolg, uns schiltst du aus? APOLLON
Nicht ist ja diesem Haus hier euch erlaubt zu nahn! CHORFÜHRERIN Doch haben dies wir als uns aufgetragnes Amt. . APOLLON
Welch Ehrenamt denn? Rühme doch dein schönes Recht! CHORFÜHRERIN Die Muttermörder aus den Häusern treiben wir! 143
APOLLON
Wie, und die Frau, die ihren Mann beiseit geräumt? CHORFÜHRERIN Nicht wär das wahrhaft an verwandtem Blute Mord. APOLLON
Fürwahr, als wertlos und für nichts erachtest du Der hohen Hera und des Zeus Treubund der Eh! Kypris wird ohne Ehr verworfen durch dein Wort, Von der den Sterblichen zuteil das Liebste wird. Die Eh ist Mann ja so wie Weib schicksalbestimmt, Steht, heiliger als Eidschwur, in des Rechtes Schutz. Wenn also du den Gattenmördern Freiheit gibst, Sie weder strafen noch ausspähen läßt voll Groll, Bestreit ich, daß Orestes du mit Recht verfolgst. Das eine, weiß ich, ziehst du, glühnd vor Grimm und Zorn, Das andre, scheint's zur Strafe ruhigeren Bluts. Was Recht hier, Göttin Pallas wird's forschend erspähn. CHORFÜHRERIN Von jenem Manne laß ich nun und nimmer ab! APOLLON
Verfolg ihn also und mach dir der Mühe noch mehr! CHORFÜHRERIN Die Ehr nicht schmälre meines Amts du durch dein Wort! APOLLON
Nicht nähm ich an, böt man mir's gleich, dein Ehrenamt! CHORFÜHRERIN Als ganz gewaltig ja am Thron des Zeus giltst du; Doch ich — mich treibt vergossen Mutterblut — rächend Verfolg ich diesen Mann und spür ihn jagend auf! Chor ab APOLLON
Doch ich will beistehn, will dem Schützling Retter sein. Denn furchtbar wirkt bei Menschen sich und Göttern aus Des Schutzbefohlnen Groll, gibt man mit Fleiß ihn auf. Er geht in den Tempel Wandlung des Schauplatzes: Vor dem Tempel der Pallas Athena in Athen; davor Altar und Kultbild der Göttin 144
ORESTES
kommt
Herrin Athena, auf des Loxias Geheiß Kam ich; nimm auf geneigten Sinns den Frevler nun, Der nicht mehr Sühnung heischt, des Hand nicht unrein mehr; Nein, der schon stumpf macht', abgetragen seinen Fluch In fremden Häusern, auf der Menschen Weg und Steg, So über Land zugleich wie Meer auf weiter Fahrt. Treu folgend Loxias' Befehl und Seherwort, Nah deinem Haus ich, Göttin, deinem Keilgen Bild; Hüt hier den Platz und wart auf des Gerichtes Schluß. Er hat sich niedergelassen und das Bild umfaßt Chor kommt suchend CHORFÜHRERIN
Gut so; das ist des Mannes deutlich-klare Spur; Folg nur der Wegezeigrin wortlos-stummem Ruf! Denn wie dem wundgeschossnen jungen Hirsch der Hund, So, nach dem Schweißgeträufel, spüren wir ihn aus. Von all der Müh der Menschenjagd keucht schnaufend mir Die Brust; der Erde ganz Revier ist abgegrast, Und übers Meer in flügellosen Flügen hin Zog ich verfolgend, blieb nicht nach dem schnellen Schiff. Und jetzt ist hier er, irgendwo untergeduckt: Geruch sterblichen Menschenblutes lacht mich an! CHOR einzelne Gruppen, abwechselnd
Schau nach! Schau nach aufs neu! Blickt hin nach allem, daß Nicht straflos entfliehnd der Muttermörder sich birgt! Da schau ihn; Schutz suchend will, Ums Bild geflochten, der Unsterblichen Bild, Er stellen unters Recht der Göttin seinè Schuld! Das kann nicht sein; der Mutter Blut, geströmt zur Erd, Unwiederbringbar, weh, weh, Das flüssig auf den Grund gegoss'ne, ist's dahin! Nein, büßen mußt du's; vom Lebendgen schlürfen wir Rotfließend aus dem Leib den Opfertrank; von dir Hol ich mir Sättgung: Mißgetränks Trunk um Trunk! Zehrt lebend ich dich aus, entführ ich dich zur Höll, Daß du abbüßest des Muttermords Tat mit Qual! 145
Sehn wirst du, wenn ein andrer Mensch gefrevelt hat An einem Gott, am Gast ruchlosen Tuns, An lieber Eltern Haupt, Empfangen jeden seiner Schuld verdienten Lohn. Ist Hades mächtger Prüfer doch des Menschenvolks Tief unter der Erd; Auf alles schaut er, schreibt's des Geists Tafel ein. ORESTES
Ich, wohl belehrt durch Unheils Not, verstehe mich Auf manche Reingung, weiß zu reden, wo es recht, Zu schweigen gleichfalls. Und in dieser Lage jetzt Zu sprechen, das trug mir ein weiser Lehrer auf: Einschläft das Blut ja und vertrocknet an der Hand, Des Muttermords Befleckung ist hinweggespült. Noch frischvergossen war's, da ward am Herd des Gotts Phoibos durch Reingung es entfernt mit Ferkelblut. Lang würd es wohl, erzählte ich von Anfang an, . Wie viele ich — zu keines Schaden — aufgesucht. Und nun — aus reinem Mund, ohne Entweihung ruf Ich dieses Landes Herrin, Athenaia, mir Zu nahn als Helfrin; wird gewinnen ohne Kampf Sie mich doch und mein Land und das argeische Volk Zu wahrhaft treuen Bundesfreunden alle Zeit. Drum, ob auf ferner Flur des Landes Libya sie, An Tritons Fluten, ihres heimatlichen Stroms, Im Schreiten setzt, unterm Gewand läßt ruhn den Fuß, Freunden zu helfen, ob sie Phlegras flaches Feld Nach eines kühnen Feldherrn Art weit überschaut: Sie komme — hört doch auch von weitem, wer ein Gott, — Auf daß sie werd aus solcher Not Erlösrin mir! CHORFÜHRERIN
Nein, nicht Apollon kann dich, nicht Athenas Macht Schützen davor, daß du in Gottverlassenheit Verkommst, zur Freude nirgend findst im Herzen Raum, Von Blut ganz leer, Fraß der Dämonen, Schatte nur! Gibst du nicht Antwort? Speist wohl von dir gar mein Wort? Du, mir gemästet und als Opfertier geweiht, Wirst lebend Mahl mir, nicht geschlachtet am Altar! Den Sang hör nun, das Lied, das dich in Fesseln schlägt! 146
Nun herbei, und den Chortanz geschlungen, dieweil Furchtbaren Gesang Erschallen zu lassen uns gut deucht, Darzulegen die Lose des Menschenvolks, Wie sie zuteilt unsere Schar ihm! Gerechteste Richter, wir glauben's zu sein; Wer mit reinem Gemüt Rein und schuldlos die Hände uns vorweist: Kein Groll stürzt ihm nach von unserer Seit, Ungestört sein Leben durchläuft er. Wer aber, ein Frevler gleich diesem Mann, Hält die Hände, die blutgen, verborgen: Wir, als Zeugen des Rechts, den Gemordeten leihnd Unsern Beistand, werden als Rächer des Bluts Uns ihm endgültig erweisen! CHOR Mutter, du, die mich gebar, Mutter Nacht, als der dunklen Wie der lichten Welt Strafmacht, Hör, es macht Letos Sprößling mich ehrlos und rechtlos, Er, der raubt solchen Fang: Mutter-Sühnopfer mir, Das mir zukommt für den Mord! Aber dem Fluch-Opfer den Spruch Tönt unser Sang: Wahnsinnes Schlag, Wahnwitzes Plag, geistverstörend! Festchor aus Erinyenmund, Fesselnd Seel und Mut, der Leir Abhold, dörrt der Menschen Mark! Solches Los ja spann die zwanghafte Moira uns zu als Amt für ewge Zeit: wer von Menschen Mord eignen Bluts Auf sich ! iclt, furchtbar frevelnd: Auf der Spur dem zu sein, Bis die Erd ihn verbirgt; Tot selbst, kommt er nimmer frei! 147
Ober dem Fluch-Opfer den Spruch Tönt unser Sang: Wahnsinnes Schlag, Wahnwitzes Plag, geistverstörend! Festchor aus Erinyenmund, Fesselnd Seel und Mut, der Leir Abhold, dörrt der Menschen Mark! Bei der Geburt schon war dieses als Los uns beschieden; Und auch: Unsterblichen fern zu sein; keinen ja gibt es, Der das Mahl mit uns einnimmt. Und weißleuchtender Kleidung unteilhaft, schließt aus mich mein Wesen Von gesellger Freud und Lust. Denn der Häuser wählt ich ja Umsturz mir aus; wenn nämlich Mord, Heim'scher, am Blutsfreund sich vergreift: Hinter ihm, hoh!, jagend einher, Ist er auch stark: wir löschen ihn Aus ob des neu vergoßnen Bluts! Wir sind am Werk, dieser Sorge, wer's sei, zu entledgen, Götter von Pflichten durch unsere Mühn zu befreien Und von richtendem Urteil. Doch hielt Zeus unsre bluttriefend-haßwürdge Schar seine Halle Zu betreten nicht für wert. Denn der Häuser wählt ich ja Umsturz mir aus; wenn nämlich Mord, Heim'scher, am Blutsfreund sich vergreift: Hinter ihm, hoh!, jagend einher, ist er auch stark: wir löschen ihn Aus ob des neu vergoßnen Bluts! Menschenruhm, und steigt er zum Himmel voll Hoheit, Schmelzen muß tauend zur Erd er, erliegen in Schande Unserem Ansprung, dem dunkelgewandigen, unsres Fußes haßerfülltem Tanz. Mächtig im Sprung jagend herbei, Jäh aus der Höh, dumpfhin zum Fall 148
Führ ich den Fuß regende Kraft — Wanken doch, läuft weit man, des Leibs Glieder — furchtbar ins Unheil! Stürzend spürt den Sturz er nicht, sinnlos vor Schande; So — solch ein Dunkel — schwebt über dem Täter die Blutschuld; Und von umdüsternden Schatten im Hause hebt Rede
An vielstöhnend das Gerücht. Mächtig im Sprung jagend herbei, Jäh aus der Höh, dumpfhin zum Fall Führ ich den Fuß regende Kraft — Wanken doch, läuft weit man, des Leibs Glieder — furchtbar ins Unheil!
Er bleibt uns. Erfindungsreich, Bewußt des Ziels, bösen Tuns Gedenk, gehn wir Hohen, Hart jedem Flehn des Menschenvolks, Unwert-verunehrtem Amt immer nach, Den Göttern fern, in sonnelosen Dunsts Dämmern, Schwer zu erforschen — ein Felspfad — den Sehnden
Und dem nicht mehr Schaunden auch. Wer hegt nicht Scheu, hegt nicht Furcht Vom Menschenvolk, hört er, was Für Satzung mir, schicksalbedingt, von Göttern her bestimmt Zum Auftrag wurde? Mir steht zu Gebot Uralte Würde, nicht an Ehrung fehlt's mir, ob ich gleich
Düstere Hausung im Erdenschoß habe Und nur sonnenleere Nacht.
ATHENA erscheint bewaffnet
Aus weiter Ferne hört ich einer Stimme Ruf, Am Fluß Skamandros, wo ich Land zu eigen nahm, Das der Achaier Führer und Kriegsfürsten dort, 149
Von speererworbener Beute ein ansehnlich Teil,
Wiesen mit Wuchs und Wurzel ganz und gar mir zu Als auserwählte Gabe für des Theseus Stamm. Von dorther kam ich, spornend den niemüden Fuß, Der Flügel bar, herbrausend mit der Aigis Bausch. Seh solch neuartigen Besuch ich hier des Lands, Fühl ich kein Bangen, wunder nimmt's die Augen nur. Wer seid ihr denn? Allen gemeinsam gilt mein Wort, Ihm, der an meinem Bild sitzt, jenem Fremdling dort, Wie euch, die, keiner Art erzeugter Wesen gleich, Zu Göttinnen ihr, wie sie Götter sehn, nicht zählt Noch menschenähnlich seid an Aussehn und Gestalt. Doch, ist man ohne Makel, seine Nächsten schmähn, Weit von Gebühr und Recht entfernt ist solches Tun. CHORFOHRERIN Erfahre alles kurzen Worts denn, Tochter Zeus'! Wir nämlich sind der Nacht düstere Kinder, und Fluchgeister heißen wir im unterirdschen Haus. ATHENA
Geschlecht jetzt weiß ich und wie ihr mit Namen heißt. CHORFOHRERIN Mein Ehrenamt sollst du nunmehr erfahren gleich. ATHENA
Belehrt wohl wär ich, sagte man's mit klarem Wort. CHORFOHRERIN Die Menschenmörder aus den Häusern treiben wir. ATHENA
Und für den Mörder — wo ist End und Ziel der Flucht? CHORFOHRERIN Dort, wo die Freude nie und nirgends Geltung hat. ATHENA
Und gleicher Art treibst den du mit Gekreisch zur Flucht? CHORFÜHRERIN Mörder zu sein der Mutter, maßt' er ja sich an. ATHENA
Lag sonst ein Zwang vor oder Furcht vor jemands Groll? CHORFOHRERIN Wo ist solch scharfer Sporn, der zwäng zum Muttermord?! ATHENA Da zwei zur Stelle, ist die Hälfte erst gesagt. 1Sc
CHORFÜHRERIN Zum Schwur wohl schwerlich zwingt er uns, noch schwört er selbst. ATHENA
Gerecht zu heißen ziehst gerechtem Tun du vor. CHORFÜHRERIN Wieso? Belehr mich! Bist an Weisheit ja nicht arm. ATHENA
Durch Eide trägt, was unrecht, nie den Sieg davon. CHORFÜHRERIN Dann untersuch und richte nach dem richtigen Recht! ATHENA
So überlaßt ihr mir wohl der Entscheidung Spruch? CHORFÜHRERIN Was sonst? Wir ehren ja die Würdge würdig so. ATHENA
Was hierauf sagen, Fremdling, willst du deinerseits? Tu deine Heimat, dein Geschlecht, dein Ungemach Erst kund; dann wehre jenen Vorwurf von dir ab. Wenn voll Vertrauen auf dein Recht du, dies mein Bild Hier hütend, sitzest meinem Herdaltare nah, Ein heiliger Schützling, wie es einst Ixion war. Auf alledies gib Antwort, die mich klar belehrt! ORESTES Herrin Athena, erst will ich, was klang zuletzt Aus deinem Wort, die große Sorge nehmen dir. Nicht such ich mehr Entsühnung, noch hab, greulbefleckt An meiner Hand, ich an dein Bild mich hingesetzt. Ein Zeugnis hierfür tu ich dir, ein klares, kund: Kein Wort darf reden, wessen Hände blutbetrieft, Bis ihn, durch einen Blutschuldreinger dargebracht, Ein Opfer neumilchenden Tiers mit Blut besprengt; Schon längst in andern Häusern ward ich so entsühnt Und rein durch Blut der Tiere wie des Wassers Flut. Dieser Besorgnis überhebt dich so mein Wort. Doch wie's mit meiner Herkunft steht, hörst du sogleich. Argeier bin ich; meinen Vater kennst du gut, Agamemnon, jenes Flottenheervolks Ordner einst, Mit dem der Troer Stadt du von der Erd als Stadt Getilgt. Ein Tod ward ihm nicht edler Art, als heim 1SI
Er kehrte; nein, mit tückisch-schwarzer Seel erschlug Ihn meine Mutter, als in buntes Netzgewand Sie ihn gehüllt, das klar im Bad den Mord bezeugt. Ich, als ich heimkam, — denn verbannt war ich zuvor — Erschlug, die mich geboren hat, nicht leugn' ich's ab, Mit Mord vergeltend ihr des liebsten Vaters Mord. Und daran ist gemeinsam Loxias mit mir schuld, Der Leid mir drohte, stachelgleich für Herz und Sinn, Wenn nicht die Tat ich ausführt an den Schuldigen. Doch du, ob recht, nicht recht ich tat, entscheide nun! Ich stell's anheim dir, füge ganz mich deinem Spruch. ATHENA Der Fall liegt schwerer, als daß hier sich zutraun könnt Ein Mensch zu richten; und auch mir kommt es nicht zu, Um Mord den Streit zu schlichten, bittrem Groll entstammt, Zumal du auch, ordnungsgemäß gereinigt, ein
Schutzflehnder, herkamst ohne Schaden für mein Haus. So nehm ich makelfrei dich für die Stadt in Schutz. Doch denen bleibt ein Anspruch, nicht leicht abweisbar; Und geht für sie nicht diese Sache siegreich aus, Befällt das Land hier, als ein Gift aus ihrer Brust Zu Boden träufelnd, unerträglich grausge Pest. So steht es damit; beides: daß sie bleiben, ist Wie weg sie senden, leidig, ganz unmöglich mir. Doch da die Sache nun hierher an uns gelangt, Wähl über Mord ich Richter mir, geschworne, aus, Den Eid durchführend, unirrbar gerechten Sinns, Und setze diese Satzung fest für alle Zeit. Ihr aber ruft durch Zeugen und Beweise euch Herbei als Helfer eures Rechts der Eide Kraft. Ich, wenn ich meiner Bürger beste ausgewählt, Komm, zu entscheiden diesen Fall wahr und gerecht. ab Während des folgenden Chorliedes werden die Vorkehrungen für die Gerichtsverhandlung getroffen CHOR
Welch ein Umsturz nun durch Zwang Neuen Rechts, wenn zum Sieg Kommt das Schandrecht dessen, der
Muttermord auf sich lud! Alle bringt solches Handeln leichtlich jetzt Aneinander, Mensch an Mensch; Mannigfaltiges blutges Leid von Kinderhand harrt der Eltern nun späterhin dann immerfort! Nie mehr wird auf Menschenspur Wilden Chors Wüten nachschleichen solchem bösen Tun. Jeden Mord geb ich frei! Merken wird man bald hier, bald dort, wenn kund Wird der Nächsten Unglückslos, Wie's mit unserer Arbeit aus ist! Heilmittel ohne Wirkung rät bloß ein Tor vergebens an. Keiner rufe künftig mehr, Wenn ihn Unglück niederschlug, Solch ein Wort im Klageton: »Recht, o Recht! O du Thron des Rachechors!. So wird bald ein Vater, bald Eine Mutter, schmerzerfaßt, Jammernd klagen, da ja nun stürzt' und sank das Haus des Rechts. Oftmals wirkt, was Furcht weckt, Heil; Und, des Herzens Wächtrin, soll Sie dort wahren ihren Sitz. Segen bringt's, Klug zu werden durch die Not. Wer, der nicht im Glanz des Glücks Tief im Herzen Angst verspürt, Gleich, ob Stadt, ob Mensch es sei, hegte sonst noch Scheu vorm Recht? Weder drum ohne Herrn Noch der Herren Knecht zu sein, Sei dein Wunsch! Mittlerem Maß stets den Preis Leiht ein Gott, derweil andres Anders er ansieht. 153
Wohl zutreffend ist mein Wort: Gottlosigkeit trägt den Hochmut im Schoß ja fürwahr; Doch aus Gesundheit Des Sinnes wächst, allen lieb, Sehnlichst erwünscht: der Segen. Überall gilt mein Wort: Ehre den Altar des Rechts! Schänd ihn nicht, Vorteil erspähnd, durch den Tritt Mit dem gottlosen Fug! Vergeltung ja trifft dich. Vollen Rechts harrt Sühne dein. Hiernach ehr jeder die Eltern in heiligster Scheu; Und wenn ein Fremdling Als Gast im Haus Einkehr hält, Grüße man ihn mit Ehrfurcht! Drum wer, von Zwang unberührt, gerecht sich zeigt, Bleibt nicht ohne Segen; Vernichtung kann nimmermehr sein Los sein. Wer aber frech Übertretung sich anmaßt, Mitführend viel an reichem Raube widers Recht, Wird zwangsweis, kommt die Zeit, sein Segel Streichen, wenn Sturmes Not ihn packt, Brausend entzwei die Rah schlägt. Er schreit; es hört keiner ihn, der, rings umtost, Schwer in Wirbels Wut ringt. Es lacht der Dämon heißblütgen Mannes, Ihn, der nicht prahlt mehr, zu sehn, wie unrettbar Der Qual erliegend, nicht vorbei er kommt am Fels; Am Schluß geht, samt dem einstgen Reichtum Scheiternd am Riff des Rechts, zugrund Er, unbetrauert, spurlos.
Athena kommt mit dem Herold, den Richtern des Areopags und zahlreichem Volk. Die Richter nehmen ihre Plätze ein; Orestes und der Chor treten einander gegenüber
154
ATHENA
Ruf, Herold, Heroldsruf und halt das Volk zurück! Nun lasse grell, durchdringend die tyrrhenische Trompete, von menschlichem Atem angefüllt, Ihr überlaut Getön aufleuchten vor dem Volk! Denn da sich füllt schon diese Ratsversammlung hier, Ist Schweigen not, sowohl daß meine Satzung hört Das ganze Stadtvolk auch für alle künftge Zeit, Wie daß in deren Sache recht geurteilt wird. Apollon erscheint neben Orestes
Herrscher Apollon, was dein Amt, des walte selbst; Was mit dem Streit hier du zu tun hast, künd es uns! APOLLON
Sowohl als Zeuge kam ich — ist nach Recht und Brauch Mein Schützling dieser Mann doch, meines Hausaltars Genoß, und seines Mords ward ich Entsühner ihm — Wie auch zugleich als Anwalt; Ursach gab ich ja Zu dieses Muttermordes Tat. Du leite ein Und, wie du's kannst, führ zur Entscheidung dies Gericht! ATHENA Ihr habt das Wort nun; so leit ein ich das Gericht. Denn gibt der Kläger erst von Anfang an Bericht, Lehrt er zugleich gebührend uns den Tatbestand.
CHORFÜHRERIN Gar viele sind wir; doch wir sprechen kurzen Worts. Gib Wort auf Wort Erwidrung uns an deinem Teil! Die Mutter -- sag zuerst, ob du sie umgebracht! ORESTES Ich bracht sie um; und dieses leugn ich keineswegs. CHORFÜHRERIN Ein Gang schon war dies von den drei Gängen des Kampfs. ORESTES Noch lieg ich nicht; und schon prahlst du in solchem Ton. CHORFÜHRERIN Aussagen mußt du nun, wie du sie umgebracht! ORESTES Ich sag's: schwertzückender Hand schnitt ich den Hals ihr durch. ISS
CHORFÜHRERIN
Vom wem beredet tatst du's und auf wessen Rat? ORESTES Durch dieses Gottes Sprüche; er bezeugt es mir. CHORFÜHRERIN Der Seher führte dich den Weg zum Muttermord? ORESTES Und bis zur Stunde bin ich meinem Los nicht gram. CHORFÜHRERIN Doch packt dich erst das Urteil, sprichst du anders bald! ORESTES Ich trau: Beistand schickt aus dem Grab der Vater mir. CHORFÜHRERIN Den Toten trau nur, der du tot die Mutter schlugst! ORESTES Zweifacher Greueltat Befleckung wies sie auf. CHORFOHRERIN Wieso? Belehr hierüber des Gerichtes Herrn! ORESTES Den Mann erschlug sie und schlug mir den Vater tot! CHORFÜHRERIN Jedoch du lebst noch; sie ward frei durch deinen Mord! ORESTES Warum triebst du nicht jene lebend fort zur Flucht? CHORFÜHRERIN Nicht blutsverwandt war sie dem Mann, den sie erschlug. ORESTES Ich aber wär mit meiner Mutter eines Bluts? CHORFOHRERIN Wie nährte unterm Gürtel sie, Mordtriefender, Dich sonst? Verleugnest du der Mutter teures Blut? ORESTES Nunmehr sei du mir Zeuge, führ Beweis für mich, Apollon, ob ich sie mit Recht zu Tod gebracht! Die Tat ja, wie sie vorliegt, leugnen wir nicht ab; Doch ob gerecht nun oder nicht dünkt deinen Sinn Die Bluttat, das entscheide, diesen zum Beweis! APOLLON
Ich sprech zu euch, der Athenaia hohem Rat, Gerechter Weise, und als Seher lüg ich nicht. 156
Noch niemals sagt ich auf des Sehertumes Thron Nicht über Mann noch Weib noch über eine Stadt, Was nicht befohlen Zeus, der Vater im Olymp. Dieses mein Recht, wie stark's an Kraft, erfaßt das ganz, Vom Ratschluß, rat ich, leiten laßt des Vaters euch! Selbst Eides Heiligkeit steht höher nicht als Zeus. CHORFÜHRERIN Zeus gab, so sagst du, solchen Spruch dir an die Hand, Zu raten dem Orestes, daß, des Vaters Mord Rächend, der Mutter ganz er weigre Ehr und Scheu? APOLLON
Nicht ist's das gleiche, kommt ein edler Held zu Tod, Mit zeusverliehenen Szepters Ehr und Macht betreut, Und zwar von Weibeshänden, nicht durch stürmsche Kraft
Weitschießenden Bogens einer Amazon' etwa, Nein — daß du's hörest, Pallas, und die ihr dort sitzt, Durch Stimmstein zu entscheiden diesen Handel hier: Als nämlich von dem Feldzug er zurückgekehrt, Günstgen Erfolgs meist, nahm freundlichen Wortes sie (Ihn auf und richtet' in der Wanne ihm ein Bad.) Als er gebadet, wirft sie plangemäß ein Tuch Ihm zeltgleich über, und in der Verstrickung drauf Erschlägt sie ihn des endlos künstlichen Gewebs. Den Mann traf, wie ich's euch gesagt, solch Todeslos, Der, allverehrt, der Feldherr war des Flottenheers; Wie sie war, sagt ich, daß es spür als Biß der Rat, Der eingesetzt ward zur Entscheidung dieses Falls. CHORFÜHRERIN Des Vaters Los stellt höher Zeus nach deinem Wort; Und selbst band er den greisen Vater Kronos doch. Wie bleibt dein Wort zu dem hier ohne Widerspruch? Euch, daß ihr's hört, ruf hierfür ich als Zeugen auf. APOLLON
O allverhaßte Ungeheuer, der Götter Greul! Fesseln kann er wohl lösen, gibt's doch dafür Rat, Manch Mittel, manchen Weg, der zur Befreiung führt; Doch wenn des Mannes Blut erst aufgeschlürft der Staub, Des einmal toten, gibt's für ihn kein Auferstehn. Hierfür Beschwörungszauber bracht mein Vater nicht Zustand und setzt sonst alles andre, auf und ab 157
Es drehnd, in Schwung doch, ohne stärkern Atems Kraft. CHORFÜHRERIN Wie Freispruch du für den durchsetzen kannst, sieh zu! Der Mutter Blut, ihm blutsverwandt, goß er zur Erd Und soll in Argos wohnen dann im Vaterhaus? Was für Altären soll er, Volksaltären, nahn, Was für Weihwasser seines Stammes nimmt ihn auf? APOLLON
Auch hierzu sprech ich; hört, wie weit mit Recht ich's tu! Nicht ist die Mutter des Erzeugten, »Kind« genannt, Erzeugrin — Pflegrin nur des neugesäten Keims. Es zeugt der Gatte; sie, dem Gast Gastgeberin, Hütet den Sproß, falls ihm nicht Schaden wirkt ein Gott. Für die Behauptung führ ich also den Beweis: Vater kann werden ohne Mutter man; vor uns Als Zeugin steht die Tochter des Olympiers Zeus, In keines Mutterschoßes Dunkelheit genährt, Doch solch ein Kind, wie's keine Göttin je gebar. Ich aber, Pallas, will dereinst, so gut ich's kann, Dir deine Stadt groß machen und ihr Volk voll Macht. Und diesen sandt an deines Hauses Herd ich her, Daß er dir Treue wahre all die Folgezeit, Daß du gewännest, Göttin, ihn als Bundesfreund Und alle nach ihm, und dies bleibe ewge Pflicht, Den Bund zu halten, ihren Nachgebornen all! ATHENA
Heiß ich nun diese bringen nach gefaßtem Schluß Des Rechtes Stimmstein, da's der Reden jetzt genug?
CHORFOHRERIN Uns wahrlich ist bereits verschossen jeder Pfeil; Ich harr zu hören, wie des Streits Urteil ergeht. ATHENA zu Apollon und Orestes Und ihr? Wie füg ich's,
daß ihr mich nicht tadeln könnt?
APOLLON zu den Richtern
Ihr hörtet, was ihr hörtet; wahrt im Herzen nun, Gebt ihr die Stimme, Freunde, Scheu vor eurem Schwur! 758
ATHENA
Vernehmt nunmehr die Satzung, Männer Attikas, Des ersten Falles Richter von vergoßnem Blut! Bestehn soll auch in Zukunft für des Aigeus Volk Auf immer der Gerichtshof dieses hohen Rats. Den Areshügel hier, der Amazonen Sitz Und Lager, als sie kamen, Theseus voller Haß Mit Kampf zu überziehn, und ihre neue Burg, Die hochgetürmte hier, entgegentürmten einst Und Ares opferten, woher den Namen trägt Die Felsenhöh Areopag, es wird auf ihm Der Bürger Ehrfurcht und die ihr verwandte Furcht Dem Unrecht wehren so bei Tag wie auch des Nachts, Falls selbst die Bürger nicht vergällen das Gesetz Durch bösen Zuguß; machst mit Schlamm das Wasser du, Das klare, schmutzig, nie dann findst du reinen Trank. Nicht obrigkeitslos noch Tyrannenknecht zu sein, Rat Bürgern ich als ihres Strebens höchstes Ziel, Und — nicht die Furcht ganz fortzubannen aus der Stadt. Denn wer der Menschen, der nichts fürchtet, bleibt gerecht? Wenn solche Furcht ihr und, wie's recht ist, Ehrfurcht hegt, Als Landesbollwerk und des Staates Schutz und Heil Habt ihr zu eigen, was der Menschen keiner hat, Nicht bei den Skythen noch auch in des Pelops Land. Als unbestechlich setz ich diesen hohen Rat, Ehrwürdig, strengen Sinnes, über Schlafende Als ewig wache Hut des Landes stiftend ein. Lang dehnt ich meinen Bürgern diese Weisung aus Und gab sie für die Zukunft. Nun erhebet euch, Nehmt auf den Stimmstein und entscheidet diesen Streit, Fromm scheuend euren Eidschwur! Alles sagt ich so. Die Richter gehen an den Altar und werfen ihre Stimmsteine in die Urne CHORFÜHRERIN
Fürwahr, uns, dem gefährlichen Besuch des Lands, Tu man, so rat ich, keineswegs Unehre an! APOLLON
Und ich gebiete, daß ihr meine und des Zeus Wahrsprüche achtet und der Frucht sie nicht beraubt. 1S9
CHORFOHRERIN
In blutge Händel mengst du — ohne Amt — dich ein; Weissagung, heilge, kündest du hinfort nicht mehr! APOLLON
Geht auch mein Vater fehl denn in Entschluß und Rat, Da er vom ersten Mord entsühnt Ixion einst? CHORFOHRERIN Du redst; ich aber mach, erlang ich nicht mein Recht, Voll Groll mit diesem Land zu schaffen mir aufs neu. APOLLON
Doch in der jungen wie der ältern Götter Kreis Bist ohne Ehre du; und mir gehört der Sieg! CHORFÜHRERIN Wie nun, so tatst du auch in Pheres' Haus, bewogst Die Moiren, Todverfallne zu entziehn dem Tod. APOLLON
Nicht recht wär's also, wer mich ehrt, dem beizustehn, Und ganz besonders, wenn er dringend Beistand braucht? CHORFOHRERIN Du hast uralte Ordnungen zunichtgemacht, Mit Wein den Sinn betört ehrwürdger Götterf raun ! APOLLON
Und du wirst bald, verfehlst du im Gericht dein Ziel, Ausspein dein Gift, das keinem Feind mehr bringt Gefahr! CHORFOHRERIN Da du zu Boden rennst mich Greisin, Junger du, Wart, des Gerichtes Schluß zu hören, still ich ab, Behalt mir vor noch, meinem Groll zu weihn die Stadt. Die Abgabe der Stimmen ist erfolgt ATHENA
Mein ist das Amt, zuletzt zu stimmen beim Gericht; Den Stein hier, für Orestes leg ich ihn dazu. Denn keine Mutter hat mich auf die Welt gebracht. Fürs Männliche bin allwärts ich — nur nicht zur Eh — Aus vollem Herzen; ganz bin ich des Vaters ja. So schätz ich an der Frau den Mord nicht höher ein, Da sie den Mann, des Hauses Oberhaupt, erschlug. Es siegt Orestes, auch wenn stimmengleich der Spruch. Schüttet die Steine eiligst aus den Urnen aus, Wem von den Richtern anvertraut ist dieses Amt! 1
6o
Die Steine werden ausgeschüttet und gezählt ORESTES
Phoibos Apollon, wie entscheidet sich der Streit? CHORFÜHRERIN
O Nacht, du dunkle, Mutter, siehst du dies mit an? ORESTES
Nun kommt -- am Strang das Ende oder schaun das Licht! CHORFÜHRERIN
Und uns: ins Nichts gehn oder weiter Ehr und Amt! APOLLON
Zählt nach mit Sorgfalt, was an Steinen, Freunde, fiel; Vor Unrecht hütet fromm euch bei der Sonderung! Fehlt es an Einsicht, Leid erwächst dann, großes, oft; Der Wurf kann hoch erheben eines Steins das Haus! Die Zählung ist beendet ATHEN A
Der Mann ist freigesprochen von der Bluttat Schuld; Als gleichgroß stellt die Zahl der Steine sich heraus. Apollon verschwindet ORESTES
O Pallas, o du meines Hauses Retterin, Den seines Heimatlands beraubten, mich hast du Zurückverpflanzt nun; und in Hellas sagt man bald: •-Ãrgeier wieder, wohnt der Mann aufs neu im Erb Und Vaterhaus durch Pallas' und des Loxias Macht Und Beistand und des Allvollenders auch zu dritt, Des Retters«, der, voll Mitleid mit des Vaters Los, Mich rettet, als der Mutter Helfer dort er sieht. Ich aber diesem Lande hier und deinem Volk Für alle künftge noch so weit entfernte Zeit Schwör einen heilgen Eid nun, eh ich heimwärts zieh: Niemals soll hierher ein Heerführer unsres Lands Im Kriegszug tragen seinen sieggewohnten Speer! Denn selber werden, liegen wir im Grab auch dann, Wir die, die übertreten meinen Schwur von heut, Durch Nöte zwingen, die unzwingbar sind, indem ~ 6!
Den Marsch wir mutlos machen, schlimmer Zeichen voll Die Fahrt, daß ihnen selber leid wird all ihr Mühn! Doch wenn, getreu dem Eidschwur, sie der Pallas Stadt
Hoch ehren hier für immer, kampfverbundnen Speers, Sind ihnen selbst wir doppelt wohlgesinnt und hold. Leb wohl nun, Göttin du, und du, stadtschirmend Volk! Dein Kampf sei so, daß nie die Feinde dir entfliehn, Bring Rettung dir und deinem Speer des Sieges Ruhm! ab CHOR
Ioh, ihr Götter jüngren Stamms, mein uraltes Recht, Ihr ranntet's nieder, aus der Hand raubtet ihr mir's! Und ich, verunehrt, ich Unselge, grausigen Grolls, Auf dies Land hier, weh, Gift, leidvergeltend Gift, ström ich aus dem Herzen mir, Geträuf, das die Erd Unfruchtbar macht, daraus Flechte, die Blatt auffrißt und Frucht, — Mein Strafgericht! — die Flur wuchernd befällt Und Menschen-Tod: Pestflecken in dem Land verstreut! Ich stöhn auf; was tun jetzt? Verlacht von dem Stadtvolk, Kaum trag ich mein Leid! Ioh, über das Maß traf Unglück der Nacht Töchter, die schmachgequälten! ATHENA
Folgt meiner Bitte: tragt es ohne solch Gestöhn! Nicht besiegt ja seid ihr, sondern Stimmengleichheit kam Heraus, wahrhaftig ohne alle Schmach für euch! Fand sich von Zeus doch leuchtend klar ein Zeugnis ein; Und der's einst kundtat, selber war er Zeuge nun: Es sollt Orestes straflos sein bei solcher Tat! Und ihr speit aus auf dies mein Land so schweren Groll? Bedenkt euch! Zürnet nicht mehr, noch macht unfruchtbar Das Land durch Auswurf von Dämonen-Giftgeträuf, Das auffrißt scharfen Zahns die Saaten, schonungslos! Denn ich verspreche euch in allem Ernste dies, Daß Sitze ihr, verborgnen Wohnraum rechten Orts, Im Glanz der Sessel thronend an dem Herdaltar, Bekommt, von diesen Bürgern frommen Sinns verehrt! 162
CHOR
Ioh, ihr Götter jüngren Stamms, mein uraltes Recht, Ihr ranntet's nieder, aus der Hand raubtet ihr mir's! Und ich, verunehrt, ich Unselge, grausigen Grolls, Auf dies Land hier, weh, Gift, leidvergeltend Gift, ström ich aus dem Herzen mir, Geträuf, das die Erd Unfruchtbar macht, daraus Flechte, die Blatt auffrißt und Frucht, — Mein Strafgericht! — die Flur wuchernd befällt Und Menschen-Tod: Pestflecken in dem Land verstreut! Ich stöhn auf; was tun jetzt? Verlacht von dem Stadtvolk, Kaum trag ich mein Leid! Ioh, über das Maß traf Unglück der Nacht Töchter, die schmachgequälten! ATHENA
Nicht seid entehrt ihr, noch sollt zornig übers Maß Ihr, Göttinnen, verstören ganz der Menschen Land! Ich bin vertraut mit Zeus; was braucht's der Worte mehr? Den Schlüssel weiß von Göttern ich nur des Gemachs, In dem der Blitz sich findet unterm Siegel aufbewahrt; Doch braucht es seiner nicht; folgst du mir doch Und schüttst der frevlen Zunge Worte nicht aus, dem Land An Frucht zu bringen, was jedwedem schlimm ausschlägt. Heiß ruhen dunklen Wogensturzes bittren Grimm; Sollst, hoher Ehren wert, ja hausen hier mit mir. Wenn dieses weiten Landes Erstlingsopfer du Für seine Kinder und bei seiner Ehen Schluß Erhältst, auf immer wirst du preisen dies mein Wort! CHOR Ich — soll erdulden dies — weh! — Ich — alter Weisheit voll — soll hausen in der Erd Ohn alle Ehr -- weh! — ein Greul?! Ich schnaub meine Wut hervor, alle den Groll! Oh, oh! Ach! Weh! Was kriecht mich an, durchwühlt mir, was für Qual den Leib? Zorn ist's! Hör es, o Mutter Nacht! Weg ja meine Ehr, die angestammte, raubt' Unzwingbar, reißend mich ins Nichts, der Götter Trug! 163
ATHENA
Den Zorn verzeih ich dir; die ältre bist du ja Und bist in vielem weitaus weiser wohl als ich. Doch Einsicht gab auch mir ja Zeus nicht übler Art. Wenn ihr in andren Stammes Land euch hinbegebt, Nach dem Land sehnt ihr euch dann, das sag ich voraus. Herbei ja fließt, ein Strom stets höherer Ehr, die Zeit In Zukunft meinen Bürgern. Und hast du voll Ehr Den Wohnsitz inne nahe des Erechtheus Haus, Erlangst von Männern und der Frauen Feierzug Du, was von andern Menschen nie zuteil dir wird! Drum wirf in meines Lands Gebiete nicht hinein
Blutigen Streits Wetzsteine, schädgend das Gemüt Der Jugend, daß sie, weinlos trunken, rast in Wut, Noch mach, aufreizend ihnen, Hähnen gleich, das Herz, Bei meinen Bürgern heimisch hier den Gott des Streits, Der Brüder eines Stammes aufeinanderhetzt! Vorm Tore nur soll Krieg sein, der unschwer entbrennt; Dort such ihr Feld sich hehren Ruhms gewaltge Gier! Doch gleichen Hofs Geflügel sei der Kampf verwehrt! Solch Los zu wählen, ist durch mich dir freigestellt, Daß Gutes Lund, Gutes empfangend, hochgeehrt, Am Land du teilhast, diesem gottgeliebtesten! CHOR
Ich — soll erdulden dies — weh! — Ich — alter Weisheit voll — soll hausen in der Erd Ohn alle Ehr — weh! — ein Greul ! ? Ich schnaub meine Wut hervor, alle den Groll: Oh, oh! Ach! Weh! Was kriecht mich an, durchwühlt mir, was für Qual den Leib? Zorn ist's! Hör es, o Mutter Nacht! Weg ja meine Ehr, die angestammte, raubt' Unzwingbar, reißend mich ins Nichts, der Götter Trug! ATHENA
Nicht werd ich müde, dir zu sagen, was dir frommt, Daß nie du sagest, von der jüngern, mir, seist du, Die alte Göttin, und vom stadtschirmenden Volk Verunehrt fortgegangen als Verstoßne dieses Lands. Wenn aber heilig dir die Scheu vor Peitho ist, Dir meiner Zunge freundlich Wort besänftigend wirkt, 164
Wirst hier du bleiben; doch wenn du nicht bleiben willst, Dann wär es unrecht, wenn du zuwögst dieser Stadt Haß irgend oder Groll und Schädigung dem Volk; Steht's dir doch frei, hier dieses Lands Miteignerin Zu sein, dem Recht nach, stets in allem hochgeehrt! CHORFOHRERIN Herrin Athena, was bietst du für Wohnung mir? ATHEN A Von jedem Jammer unberührt; nimm du sie an! CHORFOHRERIN Nahm ich sie an nun, was für Ehre wartet mein? ATHENA
Daß nicht ein Haus in Glück gedeihn soll ohne dich! CHORFÜHRERIN Du willst's erwirken, daß so große Macht mir wird? ATHENA
Wer fromme Scheu hegt, dessen Glück erhöhen wir. CHORFOHRERIN Und gibst für alle künftge Zeit du Bürgschaft mir? ATHENA
Nichts zwingt zum Wort mich, das ich nicht auch halten will. CHORFÜHRERIN Besänftigt fühl ich mich von dir, geb auf den Groll. ATHEN A Gewiß gewinnst im Land du Freunde dir hinzu. CHORFÜHRERIN Was, rätst du, sing ich nun als Segen deinem Land? ATHENA
Was immer edlen Sieges Frucht zum Ziele hat; Und dies: daß, von der Erd und aus der Meerflut Tau, Vom Himmel her sich hebend, wehnder Winde Hauch, Atmend im Sonnenglanz, hinstreiche übers Land; Daß Frucht der Erde wie des Viehs, im Überfluß Die Stadt zu segnen, nie ermatte mit der Zeit Und Menschensamens Blüte wohl behütet sei. Gottlose aber jäte umso stärker aus! Wünsch ich doch nach des guten Pflanzenzüchters Art Der recht Gediehnen unverkümmert edlen Schlag. All dies liegt dir ob. Doch ich will, weckt Kriegsgotts Ruf Glanzvollen Wettstreit, ruhn und rasten nicht, bis man Ais Stadt des Siegs im Menschenvolk ehrt meine Stadt! 165
CHOR
Ich erwähl Pallas mir als Nachbarin Und verschmähe nicht die Stadt, Die auch Zeus voll Allgewalt wie Ares Sich als Burg der Götter wählt; Schützt den Altar sie doch, Hellas' Kleinod, jeden Gotts. Ihr bet' Segen ich herab, Ihr weissag ich gnadenvoll, Daß überfließend Lebensglück zu Nutz und Heil Aus der Erd laß aufblühn Strahlend heitrer Sonne Glanz! ATHENA
Das führt ich fürsorglich durch für mein Volk, Daß den mächtgen, nur schwer zu versöhnenden Gottheiten allhier ihre Wohnung ich gab. Denn in allem sind sie, was der Menschen Bereich, Zu walten befugt. Und wer nicht erfuhr Ihre furchtbare Last, der weiß nicht, woher Ihm Schlag kommt auf Schlag; führt der Vorfahren Schuld Und Frevel doch ihn unter ihre Gewalt! Stumm faßt ihn Zerstörung, so laut er auch prahlt, Die grausamen Grolls ihn zu Staub malmt! CHOR Bäumen Leid schaffe nie des Sturms Geschnauf! — Das sei mein Geschenk für euch — Brand auch, Pflanzen Augenknospen raubend, Such nicht heim des Landes Flur, Noch mit Mißwachs, jammerbringend, schleiche Krankheit her! Schafe, wohl gedeihend, nähr Mit der Zwillingslämmer Frucht Das Land zu der gesetzten Zeit! Ertrag mög stets Aus des Bodens Reichtum Lohnen gottgegebnen Fund! ATHEN k Habt ihr all dies gehört, ihr, des Stadtvolks Hut, Was ihr Wort euch gewährt? Ja, Gewaltges vermag Der Erinys Macht bei Unsterblichen wie In der Erde Schoß; und im Menschenbereich, Stets vor Augen ihr Amt, führen durch sie ihr Werk, Lassen dem freudgen Sang, dem tränen- und notverschleiertes Leben sein Los sein. i66
CHOR
Menschentod vor der Zeit, fort bann ich solch Schicksal euch; Jungfraun, anmutvollen, gebt Gatten zu glücklichem Ehbund, ihr, die ihr die Macht habt Dazu, ihr Moiren, mutterseits uns Schwestern, Gottheiten, waltend des Rechts, Jedwedem Heim euch als Gast nahnd, Jedwede Zeit eure Macht leitend Redlicher Gemeinschaft Wohl, Allehrwürdigste der Götter ihr! ATHENA Daß all dies meinem Land fürsorglicher Weis Sie gewähren voll Gunst, macht mich froh, und ich lob Mir der Peitho Blick, die mir Zunge und Mund Weitschauend gelenkt gegen sie, die so wild Sich in Weigrung versagt. Doch Herr ward hier Zeus, Der Redenden Hort; und es bleibt unserm Streit Für das Gute der Sieg alle Zeit nun! CHOR Den kein Leid sättgen kann, nie durchbrause Bürgerkrieg Diese Stadt, das ist mein Wunsch. Nie nehme, trunken vom dunkelen Blute der Bürger, Im Zorn der Rachgier wechselnden Mords Blutrausch Auf hier der Boden der Stadt! Freuden mög wechselnd man tauschen, Einmütig liebenden Herzens, Und auch hassen eines Sinns! Das ist's, was viel Leid den Menschen heult. ATHENA Kann Verständigen nicht eine treffliche Zung Weg weisen und Ziel? Aus den so grausgen Gesichtern — ich seh's — Kommt hoher Gewinn für die Bürger hier: Wenn den Freundlichen freundlich ihr allezeit Hohe Ehre erweist, werdet Land ihr und Stadt In Ordnung und Recht Voller Glanz in die Zukunft führen! CHOR Freuet euch, freut euch im Glück und im Glanz des Reichtums! 167
Freut euch, dieser Stadtburg Volk, Nachbarn ihr des höchsten Zeus,
Lieb der lieben Jungfrau hier, klugen Sinns zu rechter Zeit. Wen der Pallas Flügel deckt, dem zeigt hold der Vater sich. ATHENA an der Spitze des Festzuges, der sich inzwischen gebildet hat
Sei Freude auch euch! Als erste schreit ich, Die Gemächer euch zu zeigen, voran Mit dem heilgen Licht der geleitenden Schar. So kommt, und bei Opfern, bei frommen, steigt Zur Erde hinab, und, was unheilvoll, Laßt fern sein dem Land, und, was segensreich, Das sendet, der Stadt zum Siege!
zu den Geleitern Und ihr geleitet, stadtschirmendes Volk Aus des Kranaos Stamm, dieser Mitwohner Schar! Und es trag edle Frucht Ihre edle Gesinnung den Bürgern! CHOR Freuet euch, freut euch aufs neue, ruf ich noch einmal, Alle hier rings in der Stadt, Götter ihr und Menschenvolk, Die ihr Pallas' Stadt bewohnt! Daß mit euch ich wohne hier, Ehrt ihr drum mich, nie beklagt dann ihr eures Daseins Los! ATHENA
Froh stimm ich eurer Sprüche Segenswünschen zu, Geleit im Glanze flammenlohnder Fackeln euch Zu denen drunten in der Unterwelt Bereich Mit Priesterinnen, die in Hut halten mein Bild, Wie's Recht und Brauch ist. Aug und Licht des ganzen Lands Des Theseus, kommt wohl nun die unbescholtne Schar Der Mädchen, Frauen wie der greisen Mütter Zug, (Jünglinge, Greise, Knaben, Männer, alle nun) Mit purpurfarbner Festgewänder Pracht geschmückt: (Die Eumeniden wurden aus Erinyen, Aus Rachegeistern gnadenvolle Gottheit euch,) Ehrt hoch sie! Und der Glanz rück vor des Fackelzugs, Daß, wohlgesinnt dem Land, die gastlich hohe Schar Allzeit mit blühnder Menschen Segen euch beglückt! 168
Unter dem Chorgesang der Geleitenden erfolgt der feierliche Auszug CHOR DER GELEITENDEN
Schreitet zum Klang, ihr Gewaltgen, des Festchors, Urnachtkinder, kindlose, in freudgem Geleitzug! Schweig in Andacht, o Volk des Lands! Stehn doch dort drunten in Höhlen, hochheilgen, Überreichlich euch Ehren und Opfer in Aussicht! Schweigt in Andacht mit allem Volk! Huldreich, eingen Sinns mit dem Land hier, Wandelt, ihr Hehren, feurigerglühnder Fackeln euch freuend, die Straße entlang! Rufet jauchzend nun Heil bei dem Festchor! Heilrufe des Volkes
Ewger Bund den Mitwohnern nun mit Pallas' Stadtvolk! Zeus, der allschaunde, Hat so, Moira es mit ihm gefügt. Rufet jauchzend nun Heil bei dem Festchor! Heilrufe des Volkes
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Sophokles
SOPHOKLES, geboren 497 oder 496 v. Chr. in dem Demos Kolo-
nos im Norden Athens als Sohn eines begüterten Fabrikanten, hat als junger Mensch beim Siegesfest nach der siegreichen Abwehr der Perser bei Salamis (480) den Chor der Jünglinge angeführt, sodann das ganze glanzvolle Jahrhundert Athens und den politischen und kulturellen Aufschwung der Stadt unter Perikles miterlebt; erst im hohen Alter, aber noch kurz vor dem für Athen so katastrophalen Ausgang des Peloponnesischen Krieges beendete er im Jahre 406 oder 405 sein Leben. Er hat seine Vaterstadt nie verlassen und sich ihr, wenn er gerufen wurde, als Schatzmeister, als Feldherr, als Priester stets zur Verfügung gestellt: ein glückliches Leben. Noch nach seinem Tode erhielt er als Heros Dexion kultische Verehrung. Seine erhaltenen sieben Tragödien (von über Ioo) gestalten beispielhafte Schicksale von Menschen, die für das einstehen, was sie für recht erkannt haben, so Elektra, so Neoptolemos (im »Philoktet« vom Jahre 409), und die auch, wo sie äußerlich zugrundegehen, doch ihr Bestes, sich selbst, ihre tüchtige Art, ihre Frömmigkeit, ihre Wahrheit »retten«, so Aias, so Antigone (vom Jahre 442), so Odipus (wohl nach 429). Wir bringen hier den »König Odipus ,, , ein Drama, das schon für Aristoteles als musterhaft galt. Ödipus, Sohn des Königs Laios von Theben, wächst am Hof des Königs Polybos von Korinth auf, weil man ihn als kleines Kind auf Grund eines Orakelspruches, wonach er einst seinen Vater töten und seine Mutter freien werde, ausgesetzt hatte. Als er dann in Korinth selber von diesem verhängnisvollen Spruch erfährt, verläßt er seinen (vermeintlichen) Vater Polybos, tötet (unwissend) seinen wirklichen Vater Laios im Streit, löst das Rätsel der Sphinx und wird dafür König von Theben und (unwissend) Gatte seiner Mutter Iokaste. — Wie das Drama einsetzt, leidet Theben unter einer Pest, einer göttlichen Strafe, deren Ursache niemand weiß. — In dem nachgelassenen Werk des Sophokles, »Ödipus auf Kolonos., erhält der große Dulder zum versöhnenden Ende sein Grab und seine Verehrung in Kolonos, dem Heimatort des Dichters.
1 71
KONIG OIDIPUS
Die Personen der Handlung OIDIPUS PRIESTER KREON CHOR DER ÄLTESTEN VON THEBEN CHORFUHRER TEIRESIAS
IO KASTE DER BOTE AUS KORINTH DER HIRT
EIN DIENER
Stumme Personen: ANTIGONE ISMENE DIENER BOTEN
Schauplatz: Vor dem Königspalast zu Theben. Morgens. Ein Zug von Knaben, jungen Männern und bejahrten Priestern kommt von rechts, Zweige des Ölbaums in den Händen; sie lassen sich auf den Stufen des Altares vorm Palaste nieder. ,\'ur der wortführende Priester bleibt stehen OIDIPUS
aus dem Hause kommend
O Kinder, jung Geschlecht aus Kadmos' altem Stamm! Wie deut' ich's, daß ihr hier auf diesen Plätzen sitzt, mit hilfeflehenden Gezweigen reich geschmückt? Die Stadt indes ist angefüllt von Weihrauchduft, zugleich von Bittgesängen und von Wehgeschrei. Ich hielt es nicht für recht, von Boten, Kinder, dies von andren zu vernehmen, und so komm' ich selbst, von allen der berühmte Oidipus genannt. Jedoch, du Alter, sprich, da du berufen scheinst, für sie zu reden: welchen Sinnes nahet ihr? Ist es aus Furcht; aus Hoffnung? Da in allem ich euch beizustehn gewillt bin, müßt' ich fühllos sein, erweckte solch Gebaren Mitleid nicht in mir. PRIESTER Ja, Oidipus, der du mein Heimatland beherrschst, 172
du siehst, wes Alters wir uns niederließen hier um deinen Hausaltar: die da noch nicht bei Kraft zu weitem Fluge, die von Alters Bürde schwer, die Priester, ich des Zeus, die aus den Jünglingen erlesen; doch das andre Volk weilt auf dem Markt, es hockt geschmückt vor Pallas' Doppelheiligtum und bei des Ismenos weissagender Asche auch. Denn, wie du selber auch erkennst: es schwankt die Stadt so schwer schon, daß sie nicht imstand ist, noch ihr Haupt zu heben aus den Tiefen mörderischer Flut: sie schwindet hier im fruchtbarn Keim des Ackerlands; sie schwindet dort in Rinderherden und der Fraun fruchtloser Schwangerschaft; der feuersprüh'nde Gott stürmt her und trifft, wütender Pesthauch, unsre Stadt. Durch ihn verödet Kadmos' Haus; das schwarze Land des Hades wird an Klagelaut und Stöhnen reich. Nicht einen Göttergleichen ehren wir in dir, ich und die Knaben, wenn wir flehn an deinem Herd, jedoch der Männer ersten schätzen wir dich in des Lebens Drangsal, im Verkehr mit Göttern auch. Du schafftest, kaum vor Kadmos' Stadt gelangt, den Zoll, den wir der grausen Sängerin gewährten, ab, und das, wiewohl du gar nichts sonst von uns erfuhrst, auch nicht belehrt warst, nein: mit eines Gottes Hilf', so sagt und glaubt man, richtetst du unser Leben auf. Und jetzt, ob allen mächtig Haupt des Oidipus, jetzt wenden wir uns flehend alle hier an dich: Find' eine Hilfe uns, ob du nun einen Spruch von einem Gott uns weißt, ob Mannes Rat gehört. Ich sehe, daß von andren beigebrachter Rat für die Verständigen am meisten wirksam ist. Auf, Bester du der Menschen, richt' empor die Stadt! Auf, hilf und hüt' dich, da dich dieses Land noch jetzt als Retter preist für das, was du geleistet einst. Gedächten wir nur deiner Herrschaft niemals so: daß wir, erst aufgerichtet, schließlich untergehn. Nein, sichren Sinnes richte nochmals auf die Stadt! Denn damals brachtest unter günstigen Zeichen du Glück über uns: bewähr' als Gleicher dich auch jetzt! Denn lenkst du künftig dieses Land, wie du ja herrschst, ist es mit Menschen schöner als im leeren Raum, 173
und nichts mehr wert ist weder fester Wall noch Schiff, entblößt der Männer und von niemand mehr bewohnt. OIDIPUS
O arme Kinder, wohlbekannt, nicht unbekannt ist mir, was ihr zu fordern kommt; wohl weiß ich, daß ihr alle leidet; aber leidet ihr, so ist doch keiner, der so sehr wie ich zu leiden hat. Denn was ihr duldet, richtet sich auf einen nur, auf euch und keinen andren; meine Seele stöhnt vom Jammer um die Stadt und mich und dich zugleich. Drum weckt ihr keinen Schlafbefangnen auf in mir, nein, wißt, mir kamen schon die Tränen manches Mal, der Sorge Pfade hab' ich vielerlei durchirrt. Die einzige Rettung, die ich, wohl erwägend, fand, die unternahm ich: Kreon, des Menoikeus Sohn, entsandt' ich, meinen Schwager, hin zur pythischen Wohnstatt des Phoibos, daß er dort erkunde, was ich tun, was sagen soll, zu retten diese Stadt. Doch da schon heut der Reise Frist durchmessen ist, bekümmert sein Verbleib mich: unerwartet lang schon ist er unterwegs, mehr als erforderlich. Doch wenn er wiederkehrt, dann wär' ich wahrlich schlecht, tät' ich nicht alles, was der Gott uns offenbart. PRIESTER
Im rechten Augenblick sagst du's; denn diese hier bedeuten mir soeben, Kreon nahe schon. OIDIPUS
Du Herr Apollon! Käme doch mit ihm ein Glück,
ein rettendes: sein Auge blickt so strahlend drein. PRIESTER
Es scheint, er kommt mit Freuden; denn sonst wäre kaum sein Haupt mit beerenreichem Lorbeer rings umkränzt. OInIPUS
Bald sehn wir klar; er ist so nah, daß er uns hört. Kreon kommt von rechts
O Fürst, mein Anverwandter und Menoikeus' Sohn! Mit welcher Kunde kehrst du uns vom Gott zurück? KREON
Mit heilsamer, denn mein' ich, auch das Schwierige, wenn's nur zum rechten Ende kommt, ist völlig gut. 174
OIDIPUS
Wie lautet nun der Spruch? Denn weder mutig macht dein jetzig Wort mich, noch erfüllt's mit Sorge mich. KREON
Wenn du's in deren Gegenwart zu hören wünschst, bin ich bereit zu sprechen; sonst gehn wir hinein. OIDIPUS
Zu allen rede! Trag' ich doch um diese hier weit größres Leid als um mein eignes Leben selbst. KREON
So sag' ich denn, was von der Gottheit ich vernahm. Phoibos, der Herr, gebietet klar und deutlich uns, des Landes Schandfleck, der von dieser Erde sich nährt, zu vertreiben, nicht zu hegen ungesühnt. OIDIPUS
Durch welche Sühne, welche Wendung des Geschicks? KREON
Wir sollen ächten oder gar den Mord mit Mord vergeltend sühnen, da dies Blut die Stadt durchstürmt. OIDIPUS
Von welchem Mann hat er dies Schicksal kundgetan? KREON
Uns war, o Herr, vor Zeiten Laïos Oberhaupt des Landes, ehe du gebotest dieser Stadt. Oir)IPUS Vom Hören weiß ich es; gesehn hab' ich ihn nie. KREON
Da er verstarb, ergeht ein klarer Auftrag jetzt, die Mörder, wer es immer sei, zu züchtigen. OII)IPus
Doch wo im Land sind die? Wo wird zu finden sein die Spur, die schwer erkennbare, so alter Schuld? KREON
Im Land hier, sprach der Gott. Doch was man suche, sei zu greifen: es entkomme, läßt man's außer acht. OIDIPUS
War es im Haus hier oder war's im Freien, war's in fremdem Land, als Laïos dem Mord erlag? KREON
Als Gottbefrager, wie er sagte, zog er aus; doch kam er nicht so, wie er abfuhr, wieder heim. 175
OIUIPus
Und auch kein Bote, kein Genosse seiner Fahrt kam heim, von dem man hätte Brauchbares gehört? KREON Sie starben bis auf einen, der, aus Furcht geflohn, nichts, was er sah, zu sagen wußte, bis auf eins. QIDIPUS Was war das? Eines führt uns wohl zu vielem hin, wenn man ein kleines Ende Hoffnung fassen kann. KREON Er sagte: Räuber überfielen sie, ihn nicht mit einem Arm zu töten, nein, durch Obermacht. QIDIPUS Wie ging denn wohl der Räuber, wenn er nicht mit Geld von hier gedungen war, so weit im Frevelsinn? KREON So schien es damals. Dem erschlagnen Labs indessen stand kein Helfer in der Notzeit auf. QIDIPUS Was stand für Not im Weg, — wenn so das Königtum darniedersank — daß dies sich nicht ergründen ließ? KREON Die Rätselsängerin Sphinx zwang uns, zu schaun, was vor den Füßen, und zu lassen, was im Dunkel lag. DIDIPUS So will denn ich dies Dunkel klären vom Beginn! Denn Phoibos hat sehr würdig, würdig hast auch du dem Abgeschiednen soviel Sorge zugewandt: drum sollt ihr billig mich auch sehn mit euch im Bund dem Lande Sühne schaffen und dem Gott zugleich. Denn wahrlich für entfernte, Anverwandte nicht, nein, von mir selbst aus tilg' ich diesen Greuel selbst. Denn wer's auch war, der ihn erschlug, er will vielleicht sich bald an mir vergreifen mit derselben Hand. Drum, wenn ich jenem diene, helf' ich mir auch selbst. Ihr aber, Kinder, steht von diesen Stufen auf, und eiligst! Nehmt auch dieses Bittgezweige mit! Ein andrer lasse Kadmos' Volk sich sammeln hier; ich bin bereit zu allem; denn entweder sind wir mit dem Gott erfolgreich oder gehn zugrund. Er geht mit Kreon hinein 1/6
PRIESTER
So laßt uns aufstehn, Kinder! Sind wir doch um das
h ierher gezogen, was er jetzt versprochen hat. Und möge Phoibos, der den Seherspruch gesandt, als Retter kommen und Befreier von der Pest! Alle erheben sich und ziehen zur Stadt DER CHOR
zieht ein
Lieblich erklingende Stimme von Zeus, was ergeht nun durch dich von der goldnen Pytho an die Pracht Thebens? Gespannt auf die Folter der Furcht und des Schreckens erbeb' ich, du delischer Helfer und Heiland, bang und in Sorge vor dir, ob du Neues mir oder von früherer Zeit her Verpflichtendes wieder gebieten wirst. Sag' es mir, Kind du der goldnen Erwartung, unsterbliche Stimme! Erstlich sei, Tochter von Zeus, du gerufen, Athene, unsterblich, du, Schwester, auch, des Landes Schutz: Artemis, Ruhmreiche, sitzend am Markt auf gerundetem Throne. und Phoibos, o treffender, weh mir! Dreiheit, vom Tod mich zu retten, erscheine mir! Wenn ihr das frühere Unheil, das diese Stadt überwältigte, wendetet, bannend die Flamme des Leides, so nahet auch heute!
O Jammer, unzählige Leiden muß ich dulden: es krankt mir die ganze Schar, und dabei keine Waffe der Klugheit, daß man sich schützen kann: weder Erzeugnisse des herrlichen Landes gedeihn, noch erholen die Frauen sich von den quälenden Wehn der Geburten; doch siehst du sie eins auf das andre wie flatternde Vögel, jäher als fressendes Feuer geworfen 'zu des abenddunklen Gottes Strand. 177
So zahllos gemartert, erliegt die Stadt: am Boden erbarmungslos hingestreckt ihre Sprossen, den Tod noch verbreitend. Drinnen ergrauende Mütter und Gattinnen, am Strand der Altäre von hier und von dort her, bejammern sie die Drangsale, flehentlich schluchzend. Das Klaglied tönt laut mit dem brausenden Schrei sich vereinend. Gegen dies alles, o goldene Zeustochter, holdblickend schick' uns Beistand!
Den Ares, der gierigen Grimms ohne Wehr und Waffen jetzt mich brennt, vom Wehgeschrei umgellt im Nahkampf laß rückgewandten Laufs sich kehren aus dem Land, es sei zum weiträumigen Lager der Amphitrite, es sei zur unwirtlichen Sturmflut thrakisch wilder Meerbucht! Denn wenn zuletzt die Nacht etwas übrig läßt,verschlingt's der Tag. Ihn, der du flammenden Wetterschlägen Wucht verleihst, laß, Zeus, o Vater, vergehn vor deinem Blitzstrahl!
Herr, lykischer, von deiner goldgeflochtnen Bogensehne auch die Pfeile, die unentrinnbaren, möcht' ich schwirr'n sehn, zum Schutz vorausgesandt, und auch der Artemis brandtragende Leuchten, womit sie über lykisch Gebirg stürmt. Auch den mit dem goldenen Stirnband ruf' ich, dieses Lands Sohn, ja, Bakchos, jubelnd, Wein im Blick, vom Mänadenschwarm umringt! Sei flammend nah uns und kämpfe mit des lichten Kiens Geloder gegen den Gott, den auch kein Gott ehrt! 178
O IDIPUS ist herausgekommen
Du flehst. Doch was du flehst, magst meine Worte du vernehmend hören und der Seuche widmen dich, du fändest Hilfe und Erleichterung der Not. Dies sprech' ich aus, weil ich dem Spruch des Gottes fremd,
fremd dem Getanen bin: ich käme ja nicht weit, wenn selbst ich forschte, wo mir jedes Merkmal fehlt. Jetzt, da ich später Bürger erst bei Bürgern ward, so geb' ich euch Kadmeiern allen dies bekannt: Wer unter euch von Laïos, Sohn des Labdakos, Genaues weiß, durch welchen Mann den Tod er fand, den fordr' ich hiemit auf, mir alles kundzutun. Und bangt er, die Anklage selber aus sich selbst heraufzuholen: treffen wird ihn weiter nichts Unliebsames; das Land verläßt er unversehrt. Kennt jemand einen andren, sei's aus fremdem Land, als Täter, so verschweig' er mir's nur nicht; denn die Belohnung zahl' ich, und der Dank wird zugelegt. Wenn ihr hingegen schweigt und man, sei's für den Freund, sei's für sich selbst, aus Furcht dies Wort beiseite schiebt,— was ich daraufhin tun will, das vernehmt von mir! Dem Mann verwehr' ich, daß, wer es auch ist, im Land hier, wo ich Throne und Gewalten innehab', ihn jemand bei sich aufnimmt oder zu ihm spricht, Gebete zu den Göttern oder Opferung mit ihm gemeinsam hält und ihm das Wasser reicht. Nein, aus den Häusern sollt ihr all' ihn stoßen, weil er die Befleckung ist für uns, wie eben erst des Gottes pythischer Wahrspruch mir verkündet hat. Ich also werde dergestalt dem Gott zugleich und auch dem abgeschiednen Mann Mitkämpfer sein. Doch wünsch' ich dem, der es getan hat, sei's allein und im Verborgnen, sei's mit mehreren, daß er, der Schnöde, schnöd ein elend Leben schleppt dahin. Und weiter wünsch' ich selbst, wenn er so, daß ich's weiß. in meinen Häusern Herdgenoß geworden ist, zu dulden, was ich eben jetzt auf euch herabgefleht. Euch aber trag' ich all dies zu erfüllen auf, für mich sowohl wie für den Gott und dieses Land, das unfruchtbar und gottentfernt zugrunde geht. 179
Denn, wäre dies auch keine gottgewollte Pflicht, ihr dürftet es nicht unbereinigt lassen, daß der beste Mann und König hingemordet ward, und müßtet forschen. Da ich's nun dahin gebracht, die Macht zu haben, die er ehemals gehabt, sein Bett zu haben und gemeinsam Weib mit ihm, gemeinsam Kinder, wäre jenem Vaterschaft nicht fehlgeschlagen, wären aufgewachsen uns, — so aber brach das Schicksal auf sein Haupt herein — mach' ich nun wie für meinen eignen Vater dies zu meinem eignen Kampf und geh' dem allem nach: zu greifen such' ich den Urheber dieses Mords am Sohn des Labdakos, Polydoros und auch des Kadmos ehedem und des Agenor einst. Und denen, die nicht mittun, wünsch' ich: Götter, laßt nie mehr ein Saatfeld ihnen auf dem Land gedeihn noch Kinder ihrer Frauen, nein, im jetzigen Geschick sie untergehn und in noch schlimmerem! Euch andren Kadmos-Kindern, denen dies gefällt, soll Dike, Wahrerin des Rechts, verbündet sein, und alle Götter seien immerdar mit euch!
CHORFÜHRER Wie mich dein Fluch gebunden hat, so red' ich, Herr: Gemordet hab' ich weder, noch den Mörder kann ich zeigen. Doch bei Phoibos, der die Nachforschung uns aufträgt, lag's, zu sagen, wer es einst verübt. OIDIPUS Du sagst das Rechte. Aber Götter nötigen, wo sie nicht wollen, das vermöcht' auch nicht ein Mensch. CHORFÜHRER So möcht' ich sagen, was als zweites mir erscheint. OIDIPUS Und gibt's ein drittes, säume nicht, es kundzutun! CHORFUHRER Dem Herren Phoibos kommt, ich weiß, als Sehender der Herr Teiresias am nächsten: forschte man bei ihm, Herr, nach, erführe man wohl Sicherstes. OIDIPUS Nicht untätig, hab' ich dies schon ins Werk gesetzt. Ióo
Auf Kreons Rat hab' ich zwei Boten ausgesandt: es wundert mich, daß er nicht längst erschienen ist. CHORFUHRER Das übrige sind doch bloß Reden, taub und alt. OIDIPUS Von welcher Art? Denn ich beachte jedes Wort. CHORFUHRER Es hieß, daß er durch irgendwelche Wandrer fiel. OIDIPUS Ich hört' es auch. Doch niemand kennt den, der es tat. CHORFÜHRER Doch wenn er auch nur eine Spur von Scheu noch hegt, kann er vor Flüchen wie den deinen nicht bestehn. OIDIPUS Wem vor der Tat nicht graute, fürchtet auch kein Wort. CHORFÜHRER Doch der ihn überführt, ist da; denn diese dort geleiten schon den göttlichen, den Seher her, der Menschen einzigen, dem Wahrheit innewohnt. Teiresias von rechts, geführt von einem Knaben, begleitet von den Boten
OmiPUs O du, der alles schaut, Teiresias, Lehrbares, Unsagbares, das Himmlische, das Irdische! Die Stadt, erblickst du sie auch nicht, so weißt du doch, mit welcher Krankheit sie sich trägt. Vor ihr, o Herr, als Schützer, Retter finden wir dich einzig aus. Denn Phoibos, falls du von den Boten nichts gehört, entbot auf unsre Botschaft uns, die einzige Erlösung aus der Not der Seuche komme wohl, wenn wir die finden, die einst Labs töteten, sie töten oder sie verjagen aus dem Land. Mißgönne du mir nun der Vögel Stimme nicht, noch einen Ausweg sonst, den du als Seher weißt! Dich selbst errette und die Stadt! Errette mich! Errett' aus aller Blutschuld an dem Toten uns! In dir bestehn wir: helfen, wo er kann, mit dem, was er nur hat, ist Mannes edelstes Bemühn.
IóI
TEIRESIAS
Ach, ach, wie schlimm, zu wissen, wo's dem Wissenden nicht frommen kann! Dies hab' ich wohl gewußt und doch mißachtet: sonst hätt' ich mich nicht hierher verfügt. OIDIPUS Was ist geschehn, daß du so mutlos hier erscheinst? TEIRESIAS Entlass' nach Haus mich! denn du trägst am leichtesten Dein Teil und ich das meine, wenn du auf mich hörst. OIDIPUS Nicht nach Gesetz und Freundschaft redest du zur Stadt, Ihr, die dich aufzog, wenn du deinen Rat versagst. TEIRESIAS Ich sehe ja: auch deine Stimme geht dir nicht gebührlich. Daß nun mir dasselbe nicht geschieht... OIDIPUS Bei Göttern, wenn du weißt, so wende dich nicht ab, da wir hier alle hilfeflehend vor dir knien! TEIRESIAS Ihr alle wißt ja nicht; ich aber sage nun nichts weiter, daß ich nicht dein Leid enthüllen muß. OIDIPUS Was sagst du? Wissend sprichst du nicht, gedenkst indes uns preiszugeben, weihst die Stadt dem Untergang? TEIRESIAS Ich will mir selbst und dir nicht wehetun. Warum forschst du vergebens nach? Von mir erfährst du's nicht. OIDIPUS Wirst, Schlimmster aller Schlimmen, — denn auch eines Steins Natur wohl brächtest du in Zorn — nun reden du? Zeigst du so ungerührt und unerbittlich dich? TEIRESIAS Du tadelst meine Sinnesart; die deine, die dir innewohnt, erkennst du nicht, schiltst aber mich. OIDIPUS Wen sollt' es denn wohl nicht erzürnen, wenn er hört, wie du mit deinen Worten jetzt die Stadt entehrst? TEIRESIAS Es kommt von selbst, deckt' ich es gleich mit Schweigen zu. OIDIPUS Drum eben mußt du sagen mir, was kommen wird. Ió2
TEIRESIAS
Ich möchte nichts mehr sagen. Wüte, wenn du willst, in deinem Zorn darüber, sei er noch so wild! OIDIPvs Gut! Bin ich denn im Zorn, so unterdrück' ich nichts, was ich vermute. Wisse drum: mir scheint, du hast die Tat mit angestiftet, auch verübt, nur nicht mit Händen tötend: wär' es dir vergönnt, zu sehn, so sagt' ich, diese Tat gehöre dir allein. TEIRESIAS Wirklich? Ich fordre, daß du bei der Anordnung, die du verkündet, bleibst und weder diese hier, noch mich anredest, von dem heutigen Tage an, da du des Landes frevelnder Beflecker bist! OIDIPUS So schamlos schleuderst du ein solches Wort heraus? Und wie, hiernach, gedenkst davonzukommen du? TEIRESIAS Ich bin davon! Wahrheit, die starke nähr'' ich ja. OIDIPUS Von wem belehrt? Doch wohl von deinem Handwerk nicht? TEIRESIAS Von dir! Zu reden zwangst du wider Willen mich. OIDIPUS Welch Wort? Sag's nochmals, daß ich's besser fassen kann! TEIRESIAS Hast du's nicht gleich verstanden? Oder prüfst du mich? OIDIPUS Dein Reden war nicht faßbar: sprich es nochmals aus! TEIRESIAS Den Mörder des Mannes nenn' ich dich, nach dem du forschst. OIDIPUS Nicht dir zur Freude sagst du zweimal Schmähungen! TEIRESIAS Soll ich noch weitres sagen, daß du mehr noch zürnst? OIDPUS Soviel es dir beliebt! Vergebens sprichst du doch. TEIRESIAS Nichts ahnend, sag' ich, pflegst du mit den Teuersten in Schanden Umgang, tief im Argen unversehns.
183
OIDIPUS
Und so zu reden meinst du immer frohen Sinns? TEIRESIAS Solang es irgend noch die Macht der Wahrheit gibt. OIDIPUS Es gibt sie: außer dir! Für dich gibt's keine, weil du blind an Ohr und Geist — wie an den Augen bist! TEIRESIAS Bedauernswerter du, der das verhöhnt, was bald von diesen keiner an dir nicht verhöhnen wird! OIDIPUS Du zehrst von einer Nacht, so daß du weder mir noch andren, die das Licht erblicken, schaden kannst. TEIRESIAS Auch ist es nicht dein Los, durch mich zu fallen; da genügt Apollon: Er vollbringt, woran ihm liegt! OIDIPUS Sind das Erfindungen von Kreon oder dir? TEIRESIAS Nicht Kreon bringt dir Unheil, sondern du dir selbst. OIDIPUS O Reichtum, Königsmacht und Kunst, die alle Kunst weit übertrifft im eifervollen Lebenskampf, wie sehr wird doch die Mißgunst um euch hier gehegt, wenn dieser Herrschaft wegen, welche mir die Stadt als unbegehrte Gabe in die Hand gelegt, der treue Kreon, er, der Freund von Anfang an, mich heimlich hintergeht und auszustoßen wünscht, anstiftet diesen Zauberer und Ränkeschmied, den listigen Landstreicher, der für den Gewinn nur Augen hat, in seiner Kunst ein Blinder ist! Denn sag' mir doch, so du als Seher glaubhaft bist! Warum, als hier die Sängerin, die Hündin, war, sprachst du für diese Bürger kein erlösend Wort? Nun ja, das Rätsel lösen war nicht Sache des daher gelaufnen Manns, nein, Sehertum war not, wie du es offenbar von Vögeln nicht gelernt, noch von der Götter einem. Nein: ich kam daher, ich, Oidipus, nichts wissend, räumte mit ihr auf. Ich traf's mit dem Verstand, von Vögeln nicht belehrt, 184
ich, den du auszustoßen suchst, weil du dem Thron dann, dem kreontischen, recht nah zu stehen hoffst. Weinend wirst, denk' ich, du und er, der das ersann, vertreiben den »Verfluchten«! Schienst du nicht so alt zu sein, du solltest schmerzlich spüren, was du planst. CHORFOHRER Vergleichen wir, so scheint uns, seine Worte sind im Zorn gesprochen wie die deinen, Oidipus. Doch solches braucht's nicht, nein: wie wir den Seherspruch des Gottes bestens lösen, danach gilt's zu schaun. TEIRESIAS Wenn du auch herrschst, so weit muß Gleichheit gehn, daß ich entgegne Gleiches: hierin bin ich mächtig auch. Leb' ich doch in Apollons Dienst, in deinem nicht, werd' auch als Kreons Schützling nicht verzeichnet stehn. Ich sage, da du ja als Blinden mich verhöhnst: Du schaust, und siehst doch nicht, wie du im Argen steckst, nicht wo du wohnst und auch mit wem du hausest nicht. Weißt du, von wem du stammst? Nichts ahnend, bist du Feind den Deinigen da unten und auf Erden hier, und doppelt treffend jagt dich einst aus diesem Land mit Schreckensschritt der Mutter und des Vaters Fluch, dich, der jetzt richtig blickt, dann aber — Dunkles nur. Von deinen Schreien — welche Meeresbucht wird nicht, welcher Kithairon dann nicht widerhallen bald, wenn deines Ehebunds Leidhafen du gewahrst, den du im eignen Haus anliefst bei guter Fahrt?! Auch andrer Übel Menge wirst du nicht gewahr: sie machen dich dir selbst und deinen Kindern gleich! Hiernach bewirf nur Kreon, wirf auf meinen Mund mit Unrat: unter Sterblichen ist keiner, der je schlimmer als du selbst zerrieben werden soll. OIDIPUS Ist's auszuhalten, das zu hören von dem Mann? Gehst du zugrunde nicht? Und schleunig? Wendest du von diesem Hause dich nicht ab und gehst davon? TEIRESIAS Ich wäre nicht gekommen, wenn du mich nicht riefst. OrDIPus Ich dachte nicht, du werdest Narrheit schwatzen, sonst 14S
hätt' ich dich kaum vor meine Häuser herbestellt. TEIRESIAS So bin ich von Geburt: wie es dir scheint, ein Narr, den Eltern, welche dich gebaren, bei Verstand. OIDIPUS Und welchen? Bleibe! Welcher Mensch hat mich gezeugt? TEIRESIAS Der Tag heut wird dich zeugen und vernichten auch. OIDIPUS Wie sagst du alles rätselhaft und unbestimmt! TEIRESIAS Bist du, es zu erraten, nicht der Fähigste? OIDIPUS Verhöhne nur, worin du groß mich finden wirst! TEIRESIAS Doch eben dieses Glück ward zum Verderben dir. OIDIPUS Hab' ich nur diese Stadt errettet, gilt's mir gleich. TEIRESIAS So geh' ich denn, und du, Kind, führe mich hinweg! OIDIPUS Er führe dich! Anwesend bist du hinderlich, zur Last. Entfernt kannst du nicht weiter wehetun. TEIRESIAS Vorm Weggehn sag' ich's noch, weshalb ich kam. Mich schreckt dein Blick nicht; denn dir bleibt nicht Raum, zu töten mich. Ich aber sage dir: der Mann, er, dem du lang nachspürst, bedrohlich laut verkündigend den Mord an Laïos, der Mann ist hier, nach dem Gerücht ein Fremder, zugewandert, zeigt sich aber bald als eingeborener Thebaier, ohne sich zu freun der Wandlung: aus dem Sehenden wird dann ein Blinder, bettelarm der Reiche; mit dem Stab vortastend wandert er dahin in fremdes Land. Dann zeigt sich: mit den eignen Kindern lebt er als ihr Bruder und auch Vater, ist der Frau, von der er stammt, Sohn und Gemahl, Mitgatte und zugleich Mörder des Vaters! Und nun geh hinein ins Haus und sinne nach! Und findest du, ich irrte, soll man sagen, ich verstehe nichts von Weissagung! Oidipus ist hineingegangen. Teiresias und der Knabe gehen zur Stadt
186
CHOR
Wer ist's, von dem göttlichen Tons in Delphoi sprach der Felsen, der ganz Unsagbares vollbracht mit mörderischen Händen? 's ist Zeit, daß er heftiger als stürmischer Rosse Huf zur Flucht seinen Fuß regt. Denn auf ihn der Gewappnete bricht herein mit dem Feuer, den Wettern der Sohn von Zeus: Furchtbarstes Geleit sind Todesgeister, unfehlbar. Denn vom Parnaß her, dem beschneiten, eben erst verkündigt, erklang klar der Ruf; den verborgnen Mann soll jeder aufspür'n. Er schweift unter wilden Walds Gehölz, in den Höhlen, auf den Felsen, dem Stier gleich, doch unselig, unseligen Schritts, verwaist, will die Sprüche des Nabels der Erde von sich fernhalten, die allzeit lebend flattern umher ihm. Schreckliches wühlt, Schreckliches auf sehenden Manns wissender Spruch: Glaubhaft ist's kaum, zweifelhaft kaum: weiß keinen Rat, weiß nicht, was frommt. Ja, in Angst schweb' ich und sehe nicht, was ist, noch was da kommt. Denn ob je Labdakos' Haus und Polybos' Sohn lagen im Streit, weder bisher hört' ich es, noch fand ich bis heut schon einen Grund, der mich zwingt mit eines Prüfsteines Gewähr, daß ich, schmälernd den Ruhm, den vor dem Volk Oidipus hat, räche den Tod, den der Labdakos-Sohn fand insgeheim. 187
Freilich, es sind Zeus und Apoll Kenner der Welt, Menschengeschicks Wissende; daß aber ein Mann weiter als ich schauen gelernt, ist ein Urteil ohne Wahrheit; doch durch Klugheit übertrifft wohl ein Mann Klugheit sogar. Doch gäb' ich wohl nie schmähendem Spruch, eh' ich gesehn, daß er gerechtfertigt, mein Jawort. Denn das fliegende Weib, sichtlich dereinst ging es auf ihn, und man sah, daß er klug war und der Stadt hold in der Not: geht es nach mir, wird er nie einer Schandtat überführt.
KREON kommt rasch
Ihr Männer, Bürger, mit furchtbaren Reden klagt, wie ich vernahm, der König Oidipus mich an: Ich komme, weil ich's nicht ertrug; denn wenn er glaubt, daß er in diesen Nöten jetzt durch mich erlitt mit Worten oder Werken, was ihm Schaden bringt, vergeht fürwahr die Lust am langen Leben mir, erduld' ich solch Gerede. Denn die Schädigung aus diesen Worten zielt ja nicht auf Niedriges, nein, auf das Höchste, wenn als schlecht ich in der Stadt, als schlecht bei dir und Freunden soll verrufen sein. CHORFÜHRER Doch dieser Vorwurf ist vielleicht mehr aus dem Zwang des Zorns gekommen als aus vorbedachtem Sinn. KREON Ist nun das Wort gefallen, daß, durch meinen Rat bestimmt, der Seher Lügensprüche sagen soll? CHORFÜHRER So ward gesagt; doch wie's gemeint war, weiß ich nicht. KREON Mit festen Blicken und bei ruhigem Verstand ward die Beschuldigung geäußert gegen mich?
I 88
CHORFÜHRER
Weiß nicht; denn was die Herren tun, das seh' ich nicht. Doch eben tritt er selber aus dem Hause dort.
OIDIPUS heraustretend
Du bist es? Wie? Du kamst hierher? Du hast die Stirn zu solcher Frechheit, daß du meinen Häusern nahst, der du der Mörder jenes Mannes offenbar und der leibhaftige Räuber meiner Herrschaft bist? Sag', bei den Göttern, welche Feigheit du an mir erspäht hast oder Torheit, als du plantest dies, daß ich dein schleichend Tun nicht merken oder mich, wenn ich's gewahre, nicht dagegen wehren kann? Ist denn dein Unterfangen keine Narretei: ohn' Anhang, ohne Freunde nach der Königsmacht zu greifen, was mit Anhang man und Geld erzwingt? KREON Weißt du, was tun? Auf das, was du gesagt, vernimm zur Antwort Gleiches und entscheide selbst danach! OIDIPUS Du bist im Reden stark, ich aber höre schlecht auf dich: mir bösgesinnt und feindlich fand ich dich. KREON Gerade davon red' ich jetzt zuerst: hör' zu! OIDIPUS Gerade davon sprich mir nicht, du wärst nicht schlecht! KREON Doch wenn du meinst, es sei ein Wert der Eigensinn, der von Vernunft sich lossagt, dann denkst du nicht klar. OrDrPus Doch wenn du meinst, ein Mann, der an Verwandten schlecht tut, unterstehe nicht dem Recht, denkst du nicht wahr. KREON Ich stimme zu: hier hast du recht. Doch welches Leid du nun erlitten haben willst, das lehre mich! OIDIPUS Hast du geraten oder nicht, ich solle nach dem ehrenwerten Seher senden einen Mann?
189
KREON
Und stehe jetzt noch ebenso zu diesem Rat. OIDIPus
Wie lange Zeit schon ist es her, daß Labs... KREON
Welch eine Tat vollbracht hat? Ich verstehe nicht... OIDIPUS
durch tödliche Gewalttat unbemerkt entschwand? KREON
Da kämen alte, ferne Zeiten wohl heraus. OIDIPUS
Und übte dieser Seher damals schon die Kunst? KREON
Genau so weise, gleichermaßen auch geehrt. OIDIPUS
Gedacht' er irgend meiner auch in jener Zeit? KREON
Nein, niemals wenigstens, wenn ich zugegen war. OIDIPUS
Ihr stelltet keine Fahndung um den Toten an? KREON
Wir fahndeten — wie denn auch nicht? — doch hörten nichts. OIDIPUS
Und warum sprach's der weise Mann nicht damals aus? KREON
Ich weiß nicht. Wo ich nicht verstehe, schweig' ich gern. OIDIPUS
Doch was dich angeht, weißt du gut und sagst es wohl. KREON
Was ist's? Ich will es nicht verleugnen, wenn ich's weiß. OIDIPUS
Dies: wenn er nicht mit dir zusammenstimmte, hätt' er nie den Mord an Labs mein Werk genannt. KREON
Ob er das sagt, du mußt es wissen; doch mir scheint es billig, jetzt dich so zu fragen wie du mich. OIDIPUS
So frage! Nicht als Mörder überführt man mich. KREON
Wohlan denn! Meine Schwester hast du doch zur Frau? 190
OIDIPUS Bestreiten läßt sich nicht, wonach du mich da fragst. KREON Beherrschst das Land mit ihr zusammen, gleich zu gleich? OIDIPUS Was sie nur wünscht, wird alles ihr von mir zuteil. KREON Und steh' ich nun als Dritter nicht euch beiden gleich? DIDIPUS Und eben hierbei zeigst du dich als schlechten Freund. KREON Nicht, wenn du Rechenschaft dir geben magst wie ich. Betrachte dies als erstes: ob du meinst, daß wohl mit Ängsten jemand lieber herrschen will als bei geruhigem Schlaf, wenn er dieselbe Macht doch hat. Nun bin ich weder selbst von solcher Art, daß ich möcht' eher König sein als Königliches tun, noch irgend jemand sonst, wenn er vernünftig denkt. Denn jetzt empfang' ich alles ohne Furcht von dir; doch herrscht' ich selbst, so müßt' ich vieles ungern tun. Wie sollte da das Königtum mir köstlicher als sorgenfreie Macht, als Rang und Geltung sein? Soweit verstieg ich mich noch in der Torheit nicht, um mehr zu wünschen als die Würde, die auch nützt. Jetzt freu' ich mich an allen, jeder grüßt mich jetzt; jetzt rufen, die nach dir verlangen, mich heraus; Denn ob es ihnen glückt, das hängt ganz hiervon ab. Wie sollt' ich denn nach jenem greifen, dies verschmähn? Schlecht werden kann ein Sinn, der rechtlich denkt, wohl nicht. Doch weder bin ich ein Verehrer jenes Geists, noch wagt' ich es, mit andren solches je zu tun. Und der Beweis? Zunächst: nach Pytho geh' und frag', ob ich dir klar gemeldet das Verkündigte. Dann: findest du, daß mit dem Zeichendeuter ich gemeinsam etwas plante, töte mich nicht nur nach einem Spruch, dem deinen, nein, nach meinem auch! Doch nicht auf unerwiesenen Argwohn klag' mich an! Denn nicht gerecht ist dies: die Schlechten unbesehn für ehrlich halten, doch die Ehrlichen für schlecht. Wer einen guten Freund verwirft, vergreift sich ja am eignen Leben, das er doch am meisten liebt. 191
Doch mit der Zeit erkennst du das erst deutlich: zeigt allein die Zeit uns einen Mann doch als gerecht. Den schlechten aber kennst du schon nach einem Tag. CHORFOHRER Er sprach gar gut für jemand, der nicht fallen mag, Herr; denn nicht sicher geht, wer sich zu rasch entschließt. OIDIPUS Wenn jemand heimlich etwas Böses plant und rasch vorangeht, heißt es rasch beschließen auch für mich. Wenn ich in aller Ruhe warte, wird sein Werk zwar bald vollbracht sein, doch das meinige geht fehl. KREON Was wünschst du also? Treibst du mich zum Land hinaus? OIDIPUS Mitnichten! Sterben, nicht entfliehen sollst du mir! KREON Erst wenn du nachweist, welcher Art die Mißgunst ist .. . OIDIPUS Du sprichst, als trotztest du und nähmest es nicht ernst? KREON Ich seh's: du bist nicht wohl bedacht! OIDIPUS Aufs Meine schon! KREON Doch müßtest auch aufs Meine du... OIDIPUS Nein, du bist schlecht! KREON Doch wenn du völlig irrst? OIDIPUS Gleichviel: Gehorsam gilt's! KREON Doch nicht wo einer schlecht befiehlt! OIDIPUS O Stadt, o Stadt! KREON Auch ich hab' Anteil an der Stadt, nicht du allein! CHORFOHRER Laßt ab, ihr Herrn! Zur rechten Zeit für euch seh' ich, daß aus dem Haus dort Iokaste tritt, mit der ihr schlichten solltet den jetzt ausgebrochnen Zwist! 192
IoKASTE heraustretend
Was habt ihr, Unglückselige, den Zungenkampf erregt, den unberatnen? Schämt ihr euch nicht, da das Land so krank ist, aufzuwühlen eignen Zank? Gehst du ins Haus nicht? Du auch, Kreon, gehe heim! Bauscht doch ein Nichts nicht auf zu großem Ärgernis! KREON Ach, Schwester, Furchtbares hält Oidipus, dein Mann, für recht an mir zu tun, wählt von zwei Übeln eins: des Lands verweisen oder fangen und töten mich. OIDIPU s So ist es, — weil ich ihn bei üblem Tun betraf, Frau: bösen Anschlag gegen mich hat er geplant. KREON Nicht wohl ergehe mir's, verflucht zugrunde gehn will ich, wenn ich getan, was du zur Last mir legst! Io KAsTE O, bei den Göttern, glaub' ihm dieses, Oidipus, aus Achtung vor dem Göttereid zu allererst, dann auch vor mir und allen, die hier vor dir steten! CHOR Entschlossen gib nach, o Herr! Denk' es recht! Hör mich flehn! OIDIPUS Worin soll ich mich fügen dir? CHOR Der früher nicht töricht war, jetzt im Eid groß sich zeigt, den achte hoch! OIDIPUS Weißt du auch, was du forderst? CHOR J a! OIDIPUS Sag', wie du's meinst! CHOR Den, der sich band durch Eid, solltest du niemals zeihe ohne erwiesnen Grund so ehrloser Schuld. OIDIPUS Recht gut versteh' ich: wenn du das verlangst, so wünschst du mir Verderben oder Flucht aus diesem Land. 193
CHOR
Nein, nicht, bei aller Götter erstem Gott, Helios! Götterlos, freundelos will ich aufs elendste zugrundegehen, hegt' ich solch Denken je! Doch mir zehrt jammervoll dieses Lands Verderb am Herzen, wenn ans Leid das Leid sich anschließt, an das alte das von euch noch. OIDIPUS
So soll er gehn, müßt' ich auch ganz des Todes sein, vielleicht gewaltsam, ehrlos aus dem Land gejagt! Denn deine mitleidvollen Worte rühren mich, nicht seine: er, wo er auch sei, bleibt mir verhaßt. KREON
Im Haß zwar, sieht man, gibst du nach; doch schwer wird's dir, sobald der Zorn vergeht: Naturen solcher Art sind ja, mit Recht, sich selbst am schmerzlichsten zur Last. OIDrPus Läßt du mich nun und gehst hinweg? KREON
So will ich gehn, von dir verkannt zwar, doch für diese gleich wie je. Er geht nach rechts ab CHOR
Was säumst du, Frau? Bringst du ihn denn ins Haus nicht hinein? IOKASTE
Ja, wenn ich weiß, wie's dazu kam. CHOR
Verdacht kam auf, Worte nur, ungeklärt: nagt doch auch, was grundlos ist. IO KASTE
Von ihnen beiden? CHOR
Ja. IoKAsTE Und welchen Anlaß gab's? CHOR
Es scheint genug, genug — leidet das Land doch schwer daß es zu Ende ging und dort auch verbleibt. 194
oIDIPUS
Du siehst, wohin du kommst als mildgesinnter Mann, wenn du mich preisgibst und dein Herz erkalten läßt. CHOR
Herr, nicht ein einzigmal nur sprach ich's aus; wisse doch: wahnsinnig, unfähig alles besonnenen Tuns erschien' ich mir, ließ ich je dich im Stich, dich, der mein liebes Land, das in Not umhertrieb, lenkte vor den rechten Wind. Sei, kannst du, heut ein guter Steurer!
Io KASTE Bei Göttern, lehr' auch mich, aus welchem Grunde, Herr, du einen solchen Zorn aufkommen läßt in dir! oIDIPUS
Ich rede, Frau, — denn dich verehr' ich mehr als sie — von Kreon: welchen Plan er gegen mich erwog.
Io K ASTE Sprich, ob du klar die Schuld am Streit ihm geben kannst! oIDIPUS
Fest stehe, sagt er, daß ich Laïos' Mörder sei! Io xAsTE
Aus eigner Kenntnis oder weil's ein andrer meint? oIDIPUS
Den bösgewillten Seher hat er vorgeschickt: er selber hält den eignen Mund von allem frei. Io KAsTE So mach' dich jetzt von allem, was du sagtest, los und hör' auf mich! Erfahre, daß nichts Sterbliches an dir die Kunst des Sehertumes üben kann! Dafür lass' ich dich bündige Beweise sehn. Ein Spruch erging an Labs einst, ich sage nicht von Phoibos selber, doch von seinen Dienern wohl: ihm sei das Los verhängt, zu sterben durch den Sohn, der bald geboren werden sollt' aus mir und ihm. Und ihn erschlagen später fremde Räuber an der Scheide dreier Wagenstraßen, wie man sagt. Doch nicht drei Tage gingen hin nach der Geburt des Kinds, da schnürt' er ihm die Fußgelenke ein, warf es durch fremde Hand in wegloses Gebirg, und dort erfüllt' es ihm Apollon nicht, daß es 195
zum Mörder seines Vaters würde, Labs vom Sohn das Schlimme litte, das er fürchtete. Und solches hatten Sehersprüche festgesetzt! Drum kehre du dich nicht an sie! Denn was der Gott als seinen Zweck erstrebt, enthüllt er selber leicht. OIDIPUS Wie faßt nach dem, was ich soeben hörte, Frau, Verwirrung meinen Geist, Erschütterung mein Herz! Io' ASTE Und welche Sorge regt dich auf, daß du so sprichst? OIDIPU S Ich meinte, dies von dir zu hören: Labos ward an der Scheide dreier Straßen umgebracht. Io KAsTE Das sagte man, und heute noch ist's nicht verstummt. OIDIPUS Und wo ist dieser Ort, wo sich's ereignete? IOKASTE Das Land benennt sich Phokis: ein geteilter Weg von Delphoi und von Daulia führt bis dorthin. OIDIPUS Und welche Zeit ging über das Geschehnis hin? Io KASTE Ganz kurz bevor du im Besitz der Herrschaft dich des Landes zeigtest, gab man's in der Stadt bekannt. OIDIPUS Was hast du über mich zu tun beschlossen, Zeus? IoKAsTE Weshalb ist dies für dich bedenklich, Oidipus? OIDIPUS Noch frage nicht! Doch sprich von Laïos : wie war sein Wuchs? Und welches Alters Reife hatte er? IO KASTE Groß war er, nur den ersten weißen Flaum ums Haupt, und an Gestalt war er von dir nicht weit entfernt. OIDIPUS Weh mir! Es scheint, ich habe selbst soeben mich in grauenhaften Fluch verstrickt und weiß es nicht. Io KASTE Wie sagst du? Scheu' ich doch, dich anzuschauen, Herr!
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OEDIPUS Die Ahnung schreckt mich, daß der Seher sehend war. Doch wirst du's klarer zeigen, wenn du eins noch sagst. Io KASTE Wie bang auch, — weiß ich es, so sag' ich, was du fragst. OIDIPUS Zog er als schlichter Wandrer oder hatt' er viel Begleiter bei sich als ein Mann von Fürstenrang? Io KASTE Sie waren fünf im ganzen: unter ihnen war ein Herold; und ein Wagen nur, der Labs trug. OIDIPUs Weh mir, das wird schon durchsichtig! Wer war es denn, der diese Nachrichten euch überbrachte, Frau? Io KASTE Ein Diener, der allein gerettet wiederkam. OIDIPus Und ist er etwa jetzt im Haus zugegen noch? Io KASTE Nicht mehr. Denn als er wiederkam und sah, daß du die Macht besaßest, Labs umgekommen war, fleht' er mich an und griff nach meiner Hand dabei, zu schicken ihn aufs Feld, aufs Weideland des Viehs, wo möglichst er der Stadt nicht mehr ansichtig sei. Ich ließ ihn gehen, denn, für einen Sklaven, war er wert, noch größre Gunst als diese zu empfahn. OIDIPUs Wie käm' er uns nun wohl in Eile wieder her? Io KASTE Gleich ist er da. Wozu jedoch verlangst du das? OIIPUS Ach, Frau, ich fürcht', ich habe selbst schon allzu viel davon gesagt, weswegen ich ihn sehen will. Io KAsTE So soll er kommen! Doch wohl bin ich würdig, auch zu wissen, was an Schwerem auf dir lastet, Herr. OEDIPUS Nicht missen sollst du's, da ich schon in Ahnungen so weit gelangt bin: wem dürft' ich's mit größrem Recht als dir vertrauen auf dem Weg durch dies Geschick? Polybos war mein Vater, der Korinthier, 197
Merope Mutter mir, aus Doris. Und ich galt als mächtigster der Bürger dort, bis Zufall mir derart begegnete, daß es zwar wert war, sich zu wundern, aber doch nicht meines Eifers wert. Ein Mann, beim Essen, übervoll der Trunkenheit vom Wein, ruft, unterschoben sei dem Vater ich. Ich, schwer getroffen, hielt an diesem Tage mich mühsam zurück. Am nächsten drang ich voll Vertraun in Mutter und Vater; die verübelten den Schimpf dem Menschen schwer, der jene Worte fallen ließ. Ich freute zwar mich ihrer Auskunft, doch gleichviel: es nagte in mir weiter, sprach sich auch herum, und ohne Mutters oder Vaters Wissen zog nach Pytho ich; doch Phoibos schickte mich hinweg als unwert des, um was ich kam, doch Düsteres, Furchtbares, Schauderhaftes tat er kund und sprach, der Mutter müßt' ich mich vermischen, ein Geschlecht zutage bringen, schrecklich für der Menschen Blick; des Vaters Mörder würd' ich sein, der mich gepflanzt: Und ich, dies hörend, mied korinthisches Gebiet, ermaß hinfort es an den Sternen nur und floh in Lande, wo ich hoffte nie zu sehn, daß sich die Schmach des mir erteilten schlimmen Spruchs erfüllt. Doch wandernd komm' ich in die Gegend, wo, wie du gesagt hast, dieser Landesherr sein Ende fand. Dir, Frau, sag' ich die Wahrheit ganz: dem Dreiweg war ich, meines Weges ziehend, nah gekommen schon, da kam ein Herold mir entgegen und ein Mann auf roßbespanntem Wagen sitzend, wie du sagst, und aus dem Wege will der Wagenlenker mich, wie auch der Alte selbst, vertreiben mit Gewalt, und ich, im Zorne, schlage den, der mich verdrängt, den Lenker, und der Alte, der am Wagen mich vorbeigehn sieht, erspäht den Augenblick und fährt mir mit dem Doppelstachel mitten übers Haupt. Nun, nicht mit Gleichem büßt' er's, sondern kurzerhand von diesem Arme mit dem Stab getroffen, wankt er rücklings auf des Wagens Mitte augenblicks, und ich erschlug sie alle. Wenn dem Fremden nun, ihm, Blutverwandtschaft käme zu mit Laïos, wer wäre wohl unseliger heut als — hier der Mann, 198
und welcher Mann wohl könnte gottverhaßter sein, den unter Fremden nicht noch Bürgern irgendwer ins Haus aufnehmen oder je ansprechen darf, nein, aus dem Haus muß stoßen? Dies — kein andrer war's als ich, hab' über mich die Flüche selbst gebracht. Des Toten Bett — mit meinen Armen schänd' ich es, durch die er umgekommen ist! Bin ich nicht schlecht, nicht ganz und gar verworfen, wenn ich flüchten muß und darf, als Flüchtling, nicht die Meinen wiedersehn,
betreten nicht das Vaterland, sonst müßt' ich mich verbinden mit der Mutter, Vater Polybos ermorden, der gezeugt und auferzogen mich? Spräch' einer, der von einem grausen Daimon dies herleitet, nicht auf diesen Mann das rechte Wort? Nein, nie, niemals, o heilig reine Göttermacht, will diesen Tag ich sehen: lieber unvermerkt geh' ich von Sterblichen hinweg, bevor ich solch ein Unheilsschandmal über mich gekommen seh'!
CHORFÜHRER
Uns macht dies freilich bang, doch bis du den, der einst dabei war, ausgeforscht hast, habe Hoffnung, Herr! OIDIPus
Jawohl, den Mann, den Hirten abzuwarten, ist die ganze Hoffnung, die mir jetzt noch übrig bleibt. Io KASTE
Und was versprichst du dir davon, wenn er erscheint? OIDIPUS
Ich will's dir sagen: findet sich, daß er genau so spricht wie du, dürft' ich dem Leid entronnen sein. IO KASTE
Und welch besondres Wort hast du von mir gehört? OIDIPUS
Von räuberischen Menschen, sagtest du, hat er
erzählt, daß sie ihn töteten. Spricht er nun noch von dieser Anzahl, kann ich nicht der Mörder sein; denn nie erscheint ein einzelner den vielen gleich. Wenn er von einem Manne, der allein ging, spricht,
dann senkt sich deutlich diese Tat auf mich herab. 199
Io KAsTE
Nein, daß sein Wort so lautete, des sei gewiß! Es wieder umzustoßen, das steht ihm nicht zu. Denn auch die Stadt hat es gehört, nicht ich allein. Doch weicht er auch vom früheren Wort in etwa ab, wird er doch niemals, Herr, den Mord an Laïos, Herr, als recht erfüllt erweisen, dem Apollon ja beschied, er müsse sterben durch ein Kind von mir. Indes hat jener Unglückselige ihn nie getötet, vielmehr kam er selber vormals um. Drum möcht' ich nie mehr einem Seherspruch zulieb nach dieser Seite oder jener künftig schaun. OIDIPUS Du denkst verständig. Dennoch schicke jemand, der den Arbeitsmann hierher bringt: unterlass' es nicht! Io KAsTE Ich schicke schleunig. Aber gehen wir ins Haus! Denn niemals möcht' ich etwas tun, was dir nicht lieb. Ab CHOR O wär's vergönnt mir vom Schicksal, zu erringen fromme Lauterkeit in Wort und Werken allen, wie Gesetze kundtun hoch wandelnd im Himmelsgezelt, im Äther gezeugt: einzig ist Olympos ihr Vater; es hat sie nicht ein sterblicher Menschenleib erzeugt; sie läßt Vergessenheit nie, nie in den Schlaf eingehn. Denn in ihnen groß ist der Gott und altert nicht. Doch Frevelmut schafft Gewaltherrn, Frevelmut, mit vielem eitel überfüllt, was nicht ersprießlich ist und niemals Heil bringt: er steigt bis zum Gipfel empor und taumelt hinab steil in sein Verhängnis. Dort weiß er nicht festen Fuß zu fassen. Doch flehe ich den Gott an, daß er nie von dem Kampf lasse zum Heil der Stadt. Unablässig halt' ich am Gott als Schutzherrn fest. 200
Doch wenn einer des Frevels Pfad betritt in Worten oder Tat, ums Recht nicht besorgt und vor der Gottheit Wohnstatt ohne Scheu, den packe ein schlimmes Schicksal für verruchten Übermut! Wenn er gewinnt, wo doch Gewinn nicht recht ist, unlautrem Tun sich nicht verschließt, um dreist ans Unantastbare zu rühren, wer darf sich da noch wünschen, von des Zorns Geschoß frei zu halten seine Seele? Denn wenn solche Handlungen in Ehren stehn, was soll dann mein Weihtanz? Nie zum Nabel der Erde geh' ich mehr, zum heil'gen, flehend, auch zum Tempel von Abai nimmer oder nach Olympia, wenn dies nicht, mit Händen greifbar, allen Menschen gelten soll. Doch, o Gebieter, heißt du wahrhaft also, Zeus, Weltbeherrscher, nicht entgeh' es dir und deiner todlos ewigen Allmacht! Der Spruch, den einst Labs empfing, wird als entkräftigt abgetan, und nirgend ist Apoll in Ehren offenbar: das Göttliche schwindet.
Io KAsTE tritt heraus
Ihr Herrn des Landes, der Gedanke kam mich an, die Göttertempel aufzusuchen, diese Kränze hier in Händen haltend und dazu das Räucherwerk. Denn maßlos steigert Oidipus sein Herz hinein in Qualen aller Art, und nicht beurteilt er das Neue nach dem Früheren als kluger Mann, ist jedes Sprechers Beute, der von Schrecken spricht. Da ich mit Zuspruch nun nichts mehr erreichen kann, komm' ich zu dir, Apollon, Gott des Lichts, weil du der nächste bist, mit diesen Gaben, um zu flehn, 20I
daß du uns eine reinigende Lösung schaffst; denn jetzt verzagen alle wir, von Schreck betäubt, ihn sehn zu müssen als den Steuermann des Schiffs. Sie schmückt Apollons Standbild. Von rechts kommt ein Bote aus Korinth BOTE
Könnt' ich von euch, ihr Leute, wohl erfahren, wo die Häuser eures Herrschers sind, des Oidipus? Am besten sagt gleich, wo er selbst ist, wenn ihr's wißt! CHORFUHRER Dies seine Dächer, er ist drinnen, fremder Mann, und hier die Mutter seiner Kinder, seine Frau. BOTE
Dann lebe sie beglückt mit Glücklichen hinfort, wenn sie im vollen Sinne seine Gattin ist! IO KASTE Ganz ebenso du, Fremder, denn du bist es wert des guten Wunsches wegen. Aber sage: was bezweckt dein Kommen? Was willst du verkündigen? BOTE
Dem Hause Gutes und auch deinem Gatten, Frau. Io KASTE
Doch welcher Art? In wessen Auftrag kommst du her? BOTE
Der Stadt Korinth. Das Wort, das ich gleich sagen will, wird dich zwar freun — warum denn nicht? — doch schmerzen auch. Io KASTE Was ist's? Wieso hat es denn solche Doppelkraft? BOTE
Zum Herrscher wollen die Bewohner des Gebiets am Isthmos ihn bestellen: so rief man dort aus. IO KASTE Wie? Ist der alte Polybos nicht mehr an der Macht? BOTE
Nein, nicht, seitdem der Tod in seinem Grab ihn hält. IoxASTE Was sagtest du? So wäre Oidipus' Vater tot? BOTE
Wenn es nicht wahr ist, will ich selbst des Todes sein! lokaste zu einer Dienerin
202
IoKAsn Ah —! Mädchen, läufst du nicht zum Herrn, so schnell du kannst, und sagst es? O, ihr Götterweissagungen, nun, wo seid ihr? Diesen Mann hat zitternd Oidipus seit lang gemieden, um ihn nicht zu töten, und — nun kam er durch sein Schicksal um und nicht durch ihn! OIDIPUS kommt heraus
O lokaltes, meiner Frau geliebtes Haupt! Was riefest du mich aus dem Hause hier heraus?
Io KAsn Hör' diesen Mann hier, und vernahmst du, dann sieh zu, wohin es mit den hehren Göttersprüchen kam! OIDIPUS Wer aber ist nun dieser, und was bringt er mir? Io KASTE Kommt von Korinth und bringt die Botschaft, daß dein Vater Polybos nicht mehr ist, daß er verstarb! OIDIPUS Was sagst du, Fremdling? Werde selbst zum Deuter mir!
Bon Wenn ich als erstes dies eindeutig melden soll, so sei gewiß, daß sterblich er von hinnen ging. OIDIPUS Durch Mordtat etwa? Oder raffte Krankheit ihn? Bon Ein kleiner Anstoß bringt den alten Leibern Ruh'. OIDIPUS An Krankheit ging der Arme, wie es scheint, zugrund. Bon Und an der langen Zeit, die er durchmessen hat. OIDIPUS Nein, nein, wie sollte, Frau, noch einer auf den Herd, den pythoseherischen, schauen oder nach den schreienden Vögeln droben, deren Weisung mich zum Mörder am eigenen Vater zu machen droht, und der verstorben, ruht im Erdenschoß — ich aber hier — kein Schwert berührt — wenn nicht vor Sehnsucht er nach mir vielleicht verschied: dann freilich wär' er tot durch mich. Doch die erteilten Göttersprüche nahm er mit 203
und liegt im Hades, Polybos, und sie sind nichts wert! IO KASTE
Hab' ich dir das nun nicht schon längst vorausgesagt? OIDIPUS Du sagtest es; doch mich mißleitete die Furcht. Io KASTE Nun nimm von alledem dir nichts zu Herzen mehr! OIDIPUS Wie soll mir vor der Mutter Bett nicht bange sein? Io KASTE Was soll der Mensch wohl fürchten, dem des Zufalls Macht gebeut, der aber nichts Gewisses vorhersieht? Am besten ist's, dahinzuleben, wie man kann. Doch um die Ehe mit der Mutter sorg' dich nicht! Denn viele Menschen haben wohl in Träumen schon der Mutter beigelegen. Doch wem alles dies für nichts gilt, trägt des Lebens Last am leichtesten. OIDIPUS All dieses sprächest du mit Recht aus, wäre nicht, die mich gebar, am Leben; nun, da sie noch lebt, beherrscht mich, ob du noch so trefflich sprichst, die Angst. Io KASTE Da ist ein großer Lichtblick doch des Vaters Grab! OIDIPUS Ein großer, ja! Doch gilt der Lebenden die Furcht. BoTE Wer ist die Frau, um die ihr so in Sorge seid? OIDIPUS Merope, Alter, mit welcher Polybos gelebt... BOTE
Jedoch was ist an ihr, das euch in Furcht versetzt? OIDIPUS Ein gottgesandter Spruch, mein Freund, ein schrecklicher. BOTE
Mitteilbar? Oder darf kein andrer wissen drum? OIDIPUS Durchaus. Denn einst hat Loxias gesagt, daß ich mich mit der eignen Mutter mischen muß und nach dem väterlichen Blut ausstrecken meine Hand. Deswegen hab' ich von Korinth seit langer Zeit mich fern gehalten, zwar zu meinem Glück, — gleichwohl: 204
es ist sehr süß, den Eltern in die Augen schaun! BOTE
Und dies befürchtend, bliebst du fern und heimatlos? OIDMUs Ja, Alter, und um Vaters Mörder nicht zu sein. BOTE
Warum hab' ich nun nicht von dieser Angst dich, Herr, da ich ja wohlgesonnen kam, sogleich befreit? OIDIPUS Und wirklich würde dir von mir verdienter Dank! BOTE
Und wirklich kam ich ja vor allem deshalb, daß es mir, wenn du nach Haus kämst, einmal gut ergeht. OLDIPUS Nein, nie will ich mit denen, die mich zeugten, sein! BOTE
O Kind, da sieht man klar: du weißt nicht, was du tust! OIDIPUS Wieso denn, Alter? Bei den Göttern, lehre mich! Bom Wenn ihretwegen du nach Haus zu kommen scheust. OIDIPUS Aus Furcht, daß Phoibos sich als wahr an mir bewährt. Bon Daß dir Befleckung von den Eltern widerfährt? OIDI!'US Dies eben, Alter, dies erschreckt mich allezeit. BOTE
Weißt du's noch nicht? Du zitterst eigentlich um nichts! OIDIPUS Wieso das, wenn ich als ihr Sohn geboren bin? BOTE
Weil Polybos mit dir nicht eines Stammes war. OIDIPUS Wie sagst du? Hat denn Polybos mich nicht gezeugt? BOTE
Nicht mehr als dieser Mann hier, vielmehr ebenso! OIDIPUS Wie wäre der Erzeuger gleich dem, der's nicht ist? BOTE
Doch schenkte weder er noch ich das Leben dir. 205
OIDIPUS Doch warum hat er dann mich seinen Sohn genannt? BOTE
Bedenk': aus meiner Hand nahm er dich als Geschenk! OIDIPUS Und hat, wiewohl aus fremder Hand, mich sehr geliebt!? BOTE
Die frühere Kinderlosigkeit hat ihn bestimmt. OIDIPUS Du kauftest oder fandest mich und gabst mich ihm? BOTE
In des Kithairons Waldesschluchten fand ich dich. OIDIPUS Was streiftest du in jenen Gegenden umher? BOTE
Dem Herdenvieh dort im Gebirge stand ich vor. OIDIPus Du warst ein Hirt, ein wandernder, auf Tagelohn? BOTE
Für dich, mein Kind, der Retter doch zu jener Zeit! OIDIPUS Woran denn litt ich, als mich deine Hand ergriff? BOTE
Bezeugen könnten's deine Fußgelenke wohl. OIDIPUS Ach, geh! Was sprichst du von dem alten Übel mir? BOTE
Ich machte der durchbohrten Füße Spitzen frei. OIDIPUS Welch schönen Schandfleck bracht' ich aus den Windeln mit! BoTE Nach diesem Umstand hieß man dich den — der du bist. OIDIPUS Wer? Mutter oder Vater? Bei den Göttern, sprich! BOTE
Ich weiß nicht; der dich brachte, kennt sich besser aus. OIDIPUS Von einem andren nahmst du, fandest mich nicht selbst? BOTE
Nein, nicht, ein andrer Hirte übergab dich mir.
206
OIDIPUS
Wer ist's? Kannst du bezeichnen ihn mit einem Wort? BOTE
Von Laïos' Leuten einen nannt' er sich doch wohl. OIDIPUS Von dem, der einstmals König war in diesem Land? BOTE
Ganz recht: von diesem selben Mann war er ein Hirt. OIDIPUS Und ist er noch am Leben? Könnt' ich ihn wohl sehn? BOTE zum Chor
Das wißt doch ihr am besten wohl, die ihr hier wohnt. OIDIPUs Ist jemand unter euch, die ihr dabeisteht hier, der etwa diesen Hirten kennt, von dem er spricht, und auf dem Land ihn oder auch hier drinnen sah? Dann meldet's, da die Zeit, dies zu ergründen, kam! CHORFUHRER Ich mein's, es ist kein anderer als vom Lande der, den du zuvor schon hier zu sehen wünschtest; doch dies sagt wohl sie am ehesten, Iokaste, dir. OIDIPUS Frau, glaubst du, jener, dem wir eben noch hierher zu kommen aufgetragen, sei der, den er meint? Io KASTE Warum? Wen er auch meinte, kehre dich nicht dran und denk' auch dem Gesprochnen nicht vergebens nach! OIDIPUS Es kann wohl nicht geschehn, daß, Zeichen dieser Art empfangend, ich nicht meine Herkunft bring' ans Licht. Io KASTE Nein, bei den Göttern! Wenn dein Leben irgend lieb dir ist, geh dem nicht nach! Ich leide schon genug. OIDIPUS Getrost! Zeigt' ich mich von der dritten Mutter her dreifach als Sklave: du erscheinst drum nicht gering. Io KAsTE Und dennoch hör' auf mich, ich flehe: tu nicht dies! OIDIPUS Ich mag nicht hören, daß ich's nicht ergründen soll!
207
IOKASTE
Und doch, ich mein' es gut: das Beste rat' ich dir. OIDIPUS »Das Beste«! Das, wahrhaftig, peinigt mich schon längst! IoKAsTE Unseliger! Erführst du niemals, wer du bist! OIDIPUS Geht einer nun und schafft den Hirten mir herbei? Sie aber laßt sich ihrer reichen Herkunft freun! IoKAsTE Weh dir, du Unglückseliger! Dies allein noch hab' ich dir zu sagen, andres nimmermehr fortan. Geht hinein CHORFt7HRER
Warum ist sie gegangen, Oidipus — gejagt von wildem Herzeleid, die Frau? Ich fürchte, daß
aus diesem Schweigen Schlimmes noch aufbrechen wird. OIDIPUS Es breche auf, was immer mag! Ich aber will, und sei er auch gering, nun meinen Ursprung sehn. Sie mag vielleicht -- als Frau ist sie ja stolz gesinnt — sich schämen wegen meiner niedren Abstammung. Ich aber, der ich mich als der Glücksgöttin Sohn, der gabenreichen, schätze, werde nicht entehrt. Von dieser Mutter stamm' ich ab: die Monde, die mit mir geboren, ließen klein und groß mich sein. Bei solcher Herkunft könnt' ich mich wohl kaum noch je so ändern, daß ich meine Geburt nicht wissen darf. CHOR Eignet auch mir Sehergabe, Wissenschaft durch Urteilskraft, dann, beim Olympos, dann wird's dir, o Kithairon, morgen in der Vollmondnacht offenbar, daß man dich zu Oidipus' Landsmann wird erhöhn und zur Amme, ja zur Mutter, daß wir dich im Reigen feiern, weil du Beglückendes brachtest meinem Herrscherhause. Und, helfender Phoibos, möge dies genehm dir sein! zoé
Wer hat dich, Kind, wer geboren? Welche Nymphe, ewigjung, machte den Bergwandrer Pan zu deinem Vater? Oder war der Loxier ihr gesellt? Denn alle beweideten Fluren sind ihm lieb. Oder hat Kyllenes Herrscher, hat der Gott, der bakchische, der wohnt auf den Höhen der Berge, dich zum Sohn von einer der Nymphen des Helikon, mit denen meist er spielt? Zwei Diener führen den Hirten herbei, der ganz an der Seite stehn bleibt
OIDIPUS Ihr Alten, wenn auch ich, der nie mit ihm zu tun gehabt, vermuten darf, seh' ich den Hirten wohl, den wir so lange suchen. Mit dem Manne stimmt
der da nach seinem hohen Alter überein, und außerdem erkenn' ich, die ihn hergeführt, als meine Diener; doch du bist an Kenntnis mir vielleicht voraus, da du den Hirten sonst schon sahst. CHORFÜHRER Ich kenn' ihn, sei gewiß; wenn irgendeiner sonst,
so war er Laïos' getreuer Hirtenmann. OIDIPUS Dich frag' ich nun, den Fremden aus Korinth, zuerst: Ist's dieser, den du meinst? BOTE
Ihn, den du vor dir siehst. OIDIPUS Du, Alter, da, sieh hierher jetzt und sage mir, was ich dich frage! Labos' Eigen warst du einst? HIRTE War Sklave. Kein gekaufter: wuchs im Hause auf. OIDIPUS Verrichtend welche Arbeit oder welch Gewerb? HIRTE Den Herden folgt' ich meines Lebens längste Zeit. OIDIPUS Und welchen Plätzen warst du meistens zugeteilt? 209
HIRTE
Teils war's Kithairon, teils die Fluren um ihn her. OIUIPUS Den Mann da — weißt du, ob du irgendwo ihn sahst? HIRTE Womit beschäftigt? Und was ist das für ein Mann? OIDIPUS Der hier steht: hast du je mit ihm zu tun gehabt? HIRTE Nicht, daß ich's gleich aus dem Gedächtnis sagen kann. Bon
Das ist auch gar kein Wunder, Herr. Jedoch gewiß bring' ich den Ahnungslosen drauf. Ich weiß genau, daß er wohl weiß, wie in Kithairons Gegend er zwei Herden hütete, ich aber eine nur: da war ich diesem Mann von Frühling bis Arktur durch ganze drei Sechsmonatszeiten nah genug. Im Winter trieb alsbald in Hürden ich mein Vieh und er das seinige in Lasos' Stallungen. Sag' ich hiermit etwas Geschehenes oder nicht? HIRTE Du sagst die Wahrheit, ist es auch schon lange her. Bon
Komm, sag' nun: weißt du, daß du damals mir ein Kind gegeben, daß ich's mir als Ziehkind zöge groß? HIR'T'E Was soll das? Warum forschst du der Geschichte nach?
Bon Der da, mein Bester, war der Kleine dazumal! HIRTE Verrecken sollst du! Wirst du endlich stille sein? Er will den Boten schlagen OIDIPUS
Nein, Alter! Züchtige nicht ihn: dein Reden braucht den Züchtiger weit eher als das seinige. HIRTE Worin, du bester aller Herrn, vergeh' ich mich? OIDIPUS Weil du das Kind verleugnen willst, nach dem er fragt. HIRTE Er spricht und weiß nichts und ereifert sich umsonst. 210
OIDIPUS Und du sprichst nicht im Guten, aber weinend bald! HIRTE
Ihr Götter, nein! Mißhandle nicht mich alten Mann! OIDIPUS Schnürt man die Arme schleunigst nicht nach hinten ihm? HIRTE
Ich Elender! Wofür? Was willst du wissen noch? OIDIPUS Das Kind, nach welchem der dort fragt, — du gabst es ihm? HIRTE
Ich gab's. Umkommen hätt' ich sollen an dem Tag! OIDIPUS Du kommst so weit noch, sagst du nicht, was sich gebührt! HIRTE
Und wenn ich rede, ist's weit eher aus mit mir. OIDIPUS Nur Zeit gewinnen will der Mann, so scheint es mir. HIRTE
Nein, ich doch nicht! Ich sagte längst: ich gab es ihm. OIDIPUS Wo nahmst du's her? War es von andren? War es dein? HIRTE
Mein eignes? Nein, ich übernahm's von jemandem. OIDIPUS Von welchem unsrer Bürger und aus welchem Haus? HIRTE
Nein, bei den Göttern! Nein, nicht weiter forsche, Herr! OIDIPUS Du bist verloren, wenn ich nochmals fragen muß! HIRTE
Ein Sprößling also denn aus Laïos' Hause war's. OIDIPUS Ein Sklave? Oder irgend blutsverwandt mit ihm? HIRTE
Weh mir! Das Schreckliche zu sagen ist an mir! OIDIPUS An mir, es hören! Doch gleichviel: zu hören gilt's. HIRTE
Nun denn: sein Kind ward es genannt; doch drin dein Weib kann wohl am besten sagen, wie sich das verhält. 2II
OIDIPUS
Wie? Übergab denn sie es dir? HIRTE
Gewiß, Herr, ja! OIDIPUS Und das zu welchem Zweck? HIRTE
Vernichten sollt' ich es. OIDIPUS Die Mutter konnte... ? HIRTE
Böse Sprüche schreckten sie. OIDIPUS Welche? HIRTE
Den Vater werd' es töten, hieß das Wort. OIDIPUS Weshalb dann gabst du es an diesen Alten weg? HIRTE
Aus Mitleid, Herr; ich dachte doch, er brächt' es weg ins fremde Land, woher er selber war. Doch für die schlimmste Pein hat er's bewahrt; denn bist du der, von dem er sprach: so wisse dich zum Leid gezeugt. OIDIPUS O Schmach! O Schmach! So wär' es alles klar heraus. O Licht! Zum letzten Male will ich jetzt dich schaun, der ich entsproß, wem ich nicht durfte, lebte, mit wem ich nicht durfte, und, wen ich nicht sollt', erschlug! Er geht hinein, die Hirten gehen weg CHOR
Ihr Menschengeschlechter, ach, euer Leben, wie muß ich es gleich dem Nichts doch erachten! Denn wer, welcher Mann wohl trägt mehr Glückseligkeit je davon, als soviel er zu haben wähnt, eh' dem Wahn er entfallen? Beispiel ist mir der deinige, dein Daimon: denk' ich deinem nach, armer Oidipus, keinen preis' ich selig auf Erden. 2I2
Du, der über alles Maß zielend traf und bemächtigt' sich ganz des seligsten Glückes, bei Zeus! da du tilgtest die Jungfrau mit den gekrümmten Klaun, Sprüchesängerin, meinem Land halfst, ein Turm im Verderben: mein König heißest du seither, höchste Ehren empfingest du, in des mächtigen Thebens Stadt als Herrscher gebietend. Und nun — von wem hört man größren Elends Not? Wer ward mit Qual, mit grausem Frevelsinn in jähem Wechsel eng vertraut? O Leid! Rühmlich Haupt des Oidipus, dem derselbe Pon diente, Sohn zu sein und als Vater drin zu versinken ehelich! Wie denn nur, wie vermochten die Furchen des Vaters, Armer, dich schweigend so weit, weit dahinzutragen?
Dich, der's nicht sah, fand die alles schau'nde Zeit, verwirft die ehelose Ehe längst, wo der Gezeugte Zeuger ward. O Leid! Sohn des Laïos, o du, hätt' ich, hätt ich doch niemals dich gesehn! Jammernd ohne Maß sich ergießt der Klagelaut mir aus dem Mund; doch, zu sagen, was recht ist: ich atmet' auf dank dir, durfte zum Schlaf schließen meine Lider. EIN DIENER
ist herausgekommen
O allzeit höchst geehrte Männer dieses Lands, was werdet ihr an Taten hören, was ersehn, welch Leid empfinden, wenn in alter Treu' ihr noch 21 3
verharrt, dem Haus der Labdakiden zugetan! Denn, glaub' ich, nicht der Ister, nicht der Phasis wird zur Reinigung abwaschen dieses Haus, soviel verbirgt's, was nun alsbald ans Licht an Übeln kommt, gewollt, nicht ungewollt: jedoch von allem Leid am meisten schmerzt, was sich als selbstgewählt erweist. CHORFÜHRER Auch was wir vorher wußten, läßt nichts übrig, was man nicht bejammern muß: was bringst du nun hinzu? DIENER Am raschesten zu sagen und zu hören ist dies Wort: verblichen ist Iokastes göttlich Haupt! CHORFÜHRER O Unglückselige! Durch wessen Schuld geschah's? DIENER Durch ihre eigne! Doch das Schmerzlichste von dem Geschehnen bleibt euch fern: den Anblick habt ihr nicht. Gleichwohl, soviel mir etwa im Gedächtnis ist, sollst du vernehmen dieser Ärmsten Leidensgang. Denn bebend vor Erregung kaum ins Vorgemach getreten, lief zur ehelichen Kammer sie: mit beider Hände Spitzen raufte sie ihr Haar und schlug die Tür, sobald sie eingetreten, zu. Drin ruft sie nach dem lang schon toten L aïos, Gedächtnis haltend frühen Keims, durch den der Tod ihn treffen sollt' und dem er die Gebärerin dann hinterließ zu unheilschwangrer Kindersaat, bejammert auch das Bett, wo — doppelt elend — sie vom Mann den Mann, die Kinderschar vom Kind empfing. Wie sie dann umkam, davon weiß ich weiter nichts; denn schreiend stürzte Oidipus herein, so daß ihr Leid nicht bis zum Letzten wahrzunehmen blieb: nach ihm indes, wie er umherlief, spähten wir. Er rast, ein Schwert zu bringen heißt er uns und fragt, wo er die Frau, nicht Frau, das Saatfeld finde, das zwiefältig mütterlich ihn und die Kinder trug. Der Götter einer zeigt es ihm, dem Tobenden, der Männer keiner, die wir standen nah dabei. Doch grausig schreiend, wie geführt von irgendwem, sprang er die Doppeltür an, bog aus seinem Halt das hohle Schloß und stürzt' in das Gemach hinein; 214
wir blickten hin und sehn die Frau nun: aufgehängt, umschlungen von geflochtner Schnur. Doch er, wie er sie sieht, der Arme, brüllt entsetzlich auf und löst den aufgehängten Strick. Doch als die Unglücksfrau am Boden lag, war's furchtbar, was nun kam, zu sehn. Denn aus dem Kleide riß die goldgetriebenen, die Nadeln er, womit sie immer schmückte sich, holt' aus und stieß sie in die eignen Augen sich so etwa rufend: fürder würden nimmer sie das sehn, nicht Übel, die er litt, noch die er tat, vielmehr im Dunkel schaun, die nie sie hätten schaun gedurft, die er ersehnte, kennen nie hinfort. Und derart singend stieß er — oft, nicht einmal nur — die Nadeln in die Augen sich. Die blutenden, die Höhlen, netzten auch die Wangen, sandten nicht nur Tropfen rinnenden Blutes, nein, in einem hin verströmte schwarz sich blutrünstiger Hagelguß. Das brach auf beide nieder, traf kein einzles Haupt: das Unheil heftet sich an Mann und Weib zugleich. Das alte Glück von ehedem war vormals zwar in Wahrheit Glück; doch jetzt, an diesem Tag ist nur Gestöhn und Wirrnis, Tod und Schmach, — wieviel es auch an Namen gibt für all die Übel, keiner fehlt. CHORFÜHRER Hat nun der Arme etwas Ruhe nach der Qual? DIENER Er schreit, man soll die Riegel öffnen, allen den Kadmeiern kundzutun den Vatermörder und den Mutter... ruft Verruchtes, mir Unsagbares, als wollt' er aus dem Land sich selbst verstoßen, nicht im Haus mehr bleiben, weil verflucht durch eignen Fluch. Doch freilich jetzt bedarf er irgend jemands Kraft und Führung; denn das Leid ist unerträglich groß. Nun zeigt er es auch dir, des Tores Riegel, da, eröffnen sich, und einen Anblick wirst alsbald du sehn derart, daß es selbst den erbarmt, der Abscheu fijhlt. Der geblendete Oidipus wird von zwei Dienern herausgeführt
CHOR O Leid, für Menschen schrecklich zu sehn, o schrecklichstes Leid von allen, soviel 21 S
ich erlebte je! Welcher Wahnsinn kam, du Armer, dich an? Welcher Unheilsgeist sprang, weit hinaus übern weitesten Sprung, auf dein unseliges Schicksal? O Pein! Unseliger! Doch ich ertrag' es nicht, dich zu sehn, und möchte dich doch viel fragen, erfahren und wissen viel: solch Schaudern und Grauen erregst du.
OIDIPUS Aiai! Aiai! O Pein! Unseliger ich! Wohin auf Erden gelang' ich? Wohin entflieht mir die Stimme, hallend hinweg? Weh, Ungeist, wohin treibst du? CHORFÜHRER In Schrecken, nicht zu hören oder anzusehn! OIDIPUS O Dunkelheit, du, mein Gewölk, du entsetzlich unsagbar bedrängendes, ach, das unabwendbar ist, vom Sturm hergeweht! Weh mir! Weh mir, ja nochmals! Wie drang in mich ein zugleich der Stich der Stacheln und des Leids Erinnerung! CHORFÜHRER Kein Wunder ist es, daß in solchem Unheil du verdoppelt klagst und an den Übeln doppelt trägst. OIDIPUS Ach, lieber Freund, du, mein beständiger Helfer in Treue noch immer; denn stets harrst du noch aus und sorgst für mich blinden Mann. O Pein! Verbirgst dich nicht vor mir, nein, klar erkenn' ich doch, wiewohl verhüllt von Dunkel, deine Stimme noch. CHORFÜHRER O schrecklich tatest du! Wie konntest du dir so die Augen löschen? Welche Gottheit trieb dich an? 216
OIDIPUs
Apollon hat das, Apollon, o Freund, Schlimme, das Schlimme vollbracht, dieses, das meine, mein Leid. Doch schlug sie eigenhändig keiner als ich Unheilssohn. Denn warum mußt' ich sehn, für den es, sehend, Holdes nicht zu schauen gab? CHORFÜHRER Es war genau so, wie du sagst. OIDIPUS Was sollt' ich noch blicken, was lieben? Welcher Zuspruch bleibt mir, Freunde, freudig zu vernehmen noch? Jagt mich doch, jagt aus dem Land mich, so geschwind ihr könnt! Jagt mich, ihr Freunde, mich völlig Verworfenen, den allerverfluchtesten, Göttern verhaßtesten unter den Sterblichen! CHORFÜHRER Unselig du durch Denkart und Geschick zugleich! Wie wünscht' ich mir, ich hätte niemals dich gekannt! OIDIPUS Verderb dem, der einst das grausame Band streifte dem Findling vom Fuß: hat der Ermordung mich entrissen, mich gerettet, doch mir nichts zu Dank getan! Denn wenn ich damals starb, wär' ich den Meinen und auch mir nicht so zur Qual. CHORFÜHRER Das wäre auch nach meinem Wunsch. OIDIPUS Dann ward ich nie Mörder am Vater, hieß bei Menschen nie der Ehemann der Frau, der ich entsproß. Nun bin ich ruchlos, bin heilloser Eltern Kind, teilhaft des Ehebunds, welchem ich selbst entsprang: Wenn etwas Schlimmeres noch ist als das Schlimmste selbst, lost' es sich Oidipus. CHORFÜHRER Nicht sagen könnt' ich, daß du recht beraten warst; denn besser wär dir, nicht mehr sein als lebend blind. 217
OYDIPUS
Daß dies nun so nicht auf das Beste sei getan, das rede mir nicht ein! Berate mich nicht mehr! Ich weiß ja nicht, mit was für Augen ich dereinst den Vater anschaun soll, komm' ich zur Totenwelt, noch auch die arme Mutter, da an beiden ich verübte Taten, schlimmer als des Stranges wert. Indes der Kinder Anblick wäre lieblich doch, erblühend, wie sie blühten, anzuschaun für mich? Nein, wenigstens für meine Augen nimmermehr! Auch nicht die Stadt, die Burg nicht und die Bilder nicht, die heiligen, der Götter, deren ich ganz Elender, der wie nur einer hier in Theben groß gelebt, mich selbst beraubte, da ich allen selbst gebot, den Frevler auszustoßen, den die Götter als befleckt bezeichnen, als den Unhold unsres Stamms. Da ich solch Schandmal als das meine aufgedeckt, vermöcht' ich's, mit geraden Augen sie zu sehn? Unmöglich! Sondern gäb' es für die Quelle des Gehörs durchs Ohr ein Stauwehr, hielt' ich nicht zurück, ganz abzuschließen meinen jammervollen Leib, damit er blind und auch nichts hörend sei; denn süß ist's, wenn sich unser Denken frei vom Üblen hält. Weh dir, Kithairon! Was empfingst du mich? Was nahmst und tötetest du mich nicht gleich, damit ich nie mich Menschen zeigen konnte noch, woher ich bin? O Polybos und Korinth und du, vermeintliches uraltes Vaterhaus, welch eine Herrlichkeit, darunter Übel schwärten, zogt ihr auf an mir! Denn übel jetzt und übler Abkunft find' ich mich. O ihr drei Straßen und du abgelegne Schlucht, Gebüsch und Engpaß an der Wegekreuzung, ihr, die ihr mein Blut aus meinen eignen Händen trankt, des Vaters Blut, — erinnert ihr euch meiner noch, was ich euch angetan und, als ich hierher kam, was wieder ich verübt? O Ehen, Ehen, ihr erzeugtet uns, und als ihr uns erzeugt, da ließt ihr nochmals gleichen Samen aufgehn, stelltet dar in Vätern, Brüdern, Kindern stammverwandtes Blut, in Mädchen, Frauen, Müttern und soviel nur an verruchten Greueln unter Menschen je geschehn. 218
Doch ziemt's nicht zu bereden, was zu tun nicht schön. Drum, bei den Göttern, bergt mich schleunig irgendwo da draußen oder tötet oder werft hinaus ins Meer mich, wo ihr nie mich wiedersehen könnt! Kommt! Überwindet euch: ergreift den Unglücksmann! Gebt nach und fürchtet nichts! Denn meine Übel ist kein Sterblicher imstand zu tragen außer mir. CHORFCJHRER Doch um nun auszuführen, was du forderst, und zu raten, kommt hier Kreon eben recht, da er allein statt deiner als des Landes Hüter bleibt. Kreon ist von rechts gekommen OIDIPUS
Weh mir! Was für ein Wort nun sagen wir zu ihm? Was für Vertrauen steht mir rechtens zu? Bisher erwies ich gegen ihn in allem mich als schlecht. KREON Nicht als ein Spötter komm' ich, Oidipus, nicht um zu schelten über Böses, das zuvor geschah. zum Chor gewandt
Doch ihr, wenn ihr vor Menschenkindern euch nicht schämt, so sollt ihr wenigstens den alles nährenden Brand des Herrschers Helios scheun und solchen Greuel nicht so unverhüllt ihm zeigen, den die Erde nicht noch heiliger Regen oder Licht je dulden wird! Nein, führt so schnell wie möglich ihn ins Haus hinein! Das Schlimme sehn und hören, das den Stamm betrifft, ist für die Stammverwandten einzig fromme Pflicht. OIDIPUS Bei Göttern, da du mich der Angst entrissen hast, als bester zu mir schlimmstem Mann gekommen bist, gewähr mir eins! Ich sag's für dich, nicht mir zulieb. KREON Und welches Wunsches wegen flehst du mich so an? OIDIPUS Wirf schnellstens mich aus diesem Land, dahin, wo ich von keinem Menschen angesprochen werden kann! KREON Ich tät es wohl, das wisse, wenn ich nicht zuerst vom Gott erfahren möchte, was zu tun geziemt. 219
OIDIPUS Doch seine Weisung ist ja ganz schon offenbart: der Vatermörder — Frevler — ich — soll untergehn! KREON So wurde das gesagt. Gleichwohl, wo in der Not wir stehn, ist's besser, zu erkunden, was zu tun. OIDIPUS So wollt ihr fragen wegen des verlornen Manns? KREON Auch du wirst jetzt Vertrauen hegen zu dem Gott. OIDIPUS Auch wend' ich mich mit einem Auftrag noch an dich: ihr, dort im Haus, bestelle selbst ein Grab, wie du es willst. Den Deinen wirst du das schon recht vollziehn. Mich — das sei nie verlangt von unsrer Vaterstadt, daß sie als lebenden Bewohner dulde mich! Nein, laß mich wohnen im Gebirge, wo es mein Kithairon heißt, der, den die Mutter mir und auch der Vater lebend setzten fest als gültig Grab, daß ich dort stürbe: wünschten sie doch meinen Tod. Doch soviel weiß ich freilich: weder Krankheit wird vernichten mich noch andres sonst; nie wär' ich als schon Sterbender bewahrt, wenn nicht für schlimmstes Leid. Doch unser Schicksal gehe denn, wohin es geht! Um meine Kinder, um die Söhne, Kreon, mach' dir keine Sorge! Männer sind sie, daß sie nie an Lebensnotdurft Mangel trifft, wo sie auch sind. Doch meine beiden Mädchen, elend, mitleidswert, für die der Tisch noch nie getrennt von mir bestellt mit Speisen ward, dem Mann hier fern, nein, alles, was ich selbst berührte, daran hatten stets sie teil, um sie sei mir besorgt! Und lass' am liebsten sie mit Händen mich berühren, weinen um ihr Leid! Komm, Herr, komm, Hochgeborner: spür' ich mit den Händen sie, wird es mir sein, als hätt' ich sie, wie als ich sah. Kreon winkt einem Diener, der Antigone und Ismene herausführt.
Was sag' ich? Hör' ich nicht, Götter, meine beiden Lieben wo weinen und schluchzen? Hat sich Kreon mein erbarmt 2zo
und schickt die liebsten mir von meinen Kindern her? Ist's so? KREON So ist es. Denn ich bin es, der dafür gesorgt: ich weiß ja, daß es jetzt dich freut wie immer schon. OìDIPUS
So werde glücklich! Möge dich für diesen Schritt die Gottheit besser schützen, als sie mir getan! — O Kinder! Wo denn seid ihr? Geht doch her! O kommt zu diesen meinen brüderlichen Armen her, die dafür sorgten, daß des Vaters Augen, der euch pflanzte, früher strahlend, schauen so nach euch, der ich nicht sehend und nicht fragend, Kinder, euch zum Vater wurde, wo ich selber ward gesät. Auch euch bewein' ich, — anschaun kann ich euch ja nicht — bedenk' ich eures bittren Lebens weitren Gang, wie ihr es fürder unter Menschen leben müßt. Was für Versammlungen der Bürger werdet ihr besuchen, was für Feste, wo ihr weinend nicht nach Hause gehen werdet, statt dabei zu sein? Doch wenn ihr dann zur Reife für die Ehe kommt, wer wird es sein, wer geht das Wagnis, Kinder, ein, den Schaden solchen Schimpfs auf sich zu nehmen, der auf meine Eltern fällt, die auch die euren sind? Denn welches Übel fehlt noch? Euer Vater schlug den seinen tot und pflügte die, die ihn gebar, in die er selbst gesät ward, und gewann dann euch vom selben Schoß, daraus er selbst entsprossen war. So wird man euch beschimpfen, und wer freit euch dann? Nein, da ist keiner, Kinder, sondern ganz gewiß müßt ihr unfruchtbar, ehelos zugrunde gehn. O Sohn Menoikeus'! Da du nun allein für sie als Vater übrig bist, denn wir, die sie gepflanzt, wir beiden sind dahin, — sieh du es nicht mit an, daß bettelnd, unvermählt Verwandte ziehn umher, und achte ihre Übel nicht den meinen gleich, vielmehr erbarm' dich ihrer! Sieh sie an: so jung, entblößt von allem außer, was du ihnen gönnst. Gewähr' es, Edler, mir mit einem Händedruck! Euch Kindern wüßt' ich, hättet ihr Verständnis schon, noch viel zu raten. Betet mir nur jetzt um dies: 22I
zu leben, wo es Zeit und Stunde fügt, doch daß ihr's besser als der Vater, der euch pflanzte, habt! KREON Weit genug gerätst du weinend: gehe nun ins Haus hinein! OIDIPUS Folgen muß ich, wenn auch ungern. KREON Alles recht zur rechten Zeit! OIDIPUS Weißt du, was ich nun erstrebe? KREON Sag' es! Hör' ich's, weiß ich es. OIDIPUS Daß du aus dem Land mich gehn läßt. KREON Gottes Gabe forderst du! OIDIPUS Doch verhaßt den Göttern ward ich. KREON Dann wird's dir auch bald zuteil. OIDIPUS Sagst du zu? KREON Was ich nicht denke, sag' ich ungern nur zum Schein. OIDIPUS Führe denn mich jetzt von hinnen! KREON Geh denn! Laß die Kinder los! OIDIPUS Nimmermehr entreiße sie mir! KREON Nicht auf jedem Wunsch besteh'! Denn was dir nach Wunsch gegangen, blieb dir nicht fürs Leben treu. Alle gehen hinein bis auf den Chor
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CHOR Bürger ihr der Heimat Theben, sehet: dieser Oidipus, Löser der berühmten Rätsel, der ein Mann war reich an Macht, dessen Glück die Bürger alle sahen und beneideten, wie er in des schlimmsten Schicksals Woge nun geraten ist. Drum, ist einer sterblich, achtet drauf, nach jenem letzten Tag auszuschauen: keinen darf man glücklich preisen, eh er denn an des Lebens Ziel gelangt ist und kein Leid erduldet hat.
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Orest und Pylades
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EURIPIDES, der jüngste der drei großen Tragiker, soll am Tag der Schlacht von Salamis auf Salamis, wo sein Vater ein Landgut besaß, geboren sein. Doch dürfte sein wirklicher Geburtstag schon einige Jahre vor 48o liegen. Allen modernen Geistesströmungen gegenüber aufgeschlossen, zeigt der Dichter etwa von der Mitte des Jahrhunderts an in seinen über 90 Dramen, von denen uns i 8 vollständig erhalten sind, schon früh Einflüsse der griechischen »Aufklärung«, der Sophistik, in seiner Vorliebe für kunstvolle Intrige und in der Schilderung (und Umformung vorgegebener) menschlicher Charaktere. Aristoteles berichtet uns einen Ausspruch des Sophokles, wonach er, Sophokles, selber in seinen Dramen zeige, wie die Menschen sein sollten, Euripides aber, wie sie eben (leider) seien. Das eher konservative athenische Publikum hat ihn deshalb auch nur selten mit einem Preis bedacht, die Komödie des Aristophanes hat ihn als »Sophist« verdächtigt, und wenn er selber im Alter einem Ruf an den makedonischen Königshof nach Pella folgte, so mag auch diese Verdächtigung mit ein Grund dafür gewesen sein. Er starb im Jahre 406 bei Amphipolis und wurde in Pella bestattet. Sophokles hat den Tod des jüngeren Rivalen noch erlebt und ihn als großen Dichter geehrt. Auch die Nachwelt — das zeigt auch die größere Zahl seiner erhaltenen Stücke — hat gerade Euripides wegen der Bühnenwirksamkeit seiner Dramen besonders geschätzt. Sein wirksamstes Stück hat das Schicksal der »Barbarin« Medeia zum Thema, der zauberkundigen Königstochter aus dem fernen Kolcherland (am Schwarzen Meer), die ihrem Geliebten Jason auf dessen Argonautenfahrt mit ihrer Zauberkunst bei der Gewinnung des »Goldenen Vlieses« geholfen hatte und ihm nun, nachdem sie ihm Kinder geboren hatte, nach Korinth gefolgt war. Als aber dort Jason um die Hand der Königstochter von Korinth wirbt, nimmt sie schreckliche Rache: der Mord an den eigenen Kindern ist Erfindung des Euripides. »Die Zauberei gibt den dämonischen Hintergrund ab für ein Bild tiefer weiblicher Seelennot, wie man es bisher auf der griechischen Bühne nicht gesehen hatte« (Christ-Schmid). MEDEIA Personen des Dramas AMME
der Medeia
ZWEI KLEINE SOHNE des Jason und der Medeia, stumme Rollen WARTER der beiden Knaben MEDEIA
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CHOR DER KORINTHISCHEN FRAUEN
König von Korinth Gemahl der Medeia AIGEUS, König von Athen DIENER des Jason GEFOLGE des Jason, der Medeia, des Kreon, des Aigeus KREON,
JASON,
Der Schauplatz ist in Korinth vor dem Hause der Medeia. Die Tragödie wurde in Athen 431 v. Chr. aufgeführt. AMME
tritt beim Morgengrauen aus Medeias Haus
O unseliges Schiff, das durchs dunkle Tor Der Zwillingsfelsen nach Kolchis flog! Unselige Axt, die im Pelionwald Die Fichte traf und die Ruder schuf Für verwegene Jagd der erlesenen Schar Nach dem goldenen Vlies! O unseligste Fahrt Meiner Herrin Medeia zu Pelias' Burg, Unseliges Glühen für Jasons Herz, Unseliges Drängen zum Vatermord! Die Korinther zwar nahmen die Flüchtige auf, Hier hegt sie die Knaben und steht zum Gemahl Mit der Treue, die immer des Hauses Licht. Doch sank alles in Nacht und die Liebe erstarb, Als Jason das Weib und die Kinder verriet Um das Bett der Königstochter des Lands. Medeia, entehrt, ruft die Schwüre herauf Und des Handschlags Pfand, zeigt den Göttern, wie schnöd Ihr ein Jason entgalt, preßt, vom Schmerz durchtobt, Zum Boden ihr Haupt, stößt die Speisen hinweg, Netzt die Erde mit endlosen Tränen und hebt Nicht das Aug empor, das beschimpfte Gesicht, Stumm wie Wasser und Stein zu der Freundinnen Wort. Nur manchmal dreht sie den schimmernden Hals, Seufzt leise zum Vater, zur Heimat, zum Haus, Aus dem sie mit diesem Verräter entfloh — Ja, nun lehrt sie die Not, welchen Schatz sie verließ. Auch der Kinder Anblick, er tröstet sie nicht. Ihr hassender Sinn, o was brütet er aus? Ihre wilde Seele verträgt keinen Schimpf — 226
Ich kenne sie: schaudernd erbebt mir das Herz Vor der furchtbaren Frau. Wer mit ihr sich mißt, Wird keine Preise gewinnen. Da kommen die Knaben vom Reifenspiel. Der Schmerz ihrer Mutter bekümmert sie nicht — Kinderherzen schlagen so sorglos. WÄRTER kommt mit den Knaben Ehrwürdiges Hausstück, was stehst du am Tor Ganz allein und klagst deiner eigenen Brust? Ruft die Herrin heut deine Dienste nicht? AMME Alter Schützer der Knaben! Der Herren Geschick Fällt schwer auf der treuen Diener Gemüt. Medeias Los hat mich bitter bedrängt, So sag ichs der Erde, so klag ichs dem Licht. WÄRTER Ist der Strom ihrer Tränen noch nicht versiegt? AMME Versiegt? An der Quelle? Das Ziel ist noch weit! WÄRTER Und der Törin — verzeih! — steht noch Schlimmres bevor! AMME Was gibt es? Mein Graukopf, o weihe mich ein! WÄRTER Nichts gibt es. Schon reut mich mein voriges Wort. AMME Ich flehe, enthüll es der Magd deines Herrn Und erprobe, .daß sie auch schweigen kann! WÄRTER Am Brunnen der Stadt, wo die Ältesten sich Des Brettspiels freun, flog ein Wort zu mir, Ein Wort, das nicht für mein Ohr bestimmt: Die Kinder will Kreon, der Herrscher Korinths, Samt der Mutter verbannen. Ob wahr das Gerücht, Wer weiß es? O mög es erfunden sein! AMME Nie läßt Jason, trotz allem, die Knaben im Stich! WÄRTER Er schloß neuen Bund, kennt dies Haus nicht mehr! AMME O weh uns allen! 227
Wie erträgt sie den Schlag, eh der alte vernarbt? WÄRTER Sie darfs noch nicht wissen! O halt es geheim! AMME Seht, Kinder, was euch euer Vater beschert! Ich kann ihm nicht fluchen, ich esse sein Brot, Doch liegt es am Tag, wie er alle verrät. WÄRTER Ach, er ist nur ein Mensch, hat das Nächste im Sinn, So vergißt er die Kinder im neueren Bett. AMME Geht ins Haus, ihr Knaben, auch dies wird vergehn! Nur halte sie, Freund, von der Mutter zurück; Ich sah drohend ihr Aug auf die Kinder gezückt: Ihr Zorn sucht ein Opfer, ich weiß es genau! Mögens Feinde und nicht die Liebsten sein! MEDEIA
von innen
Weh mir! Ich Unglücksweib, vom Schmerz verzehrt! O war ich tot! Oh, oh! AMME Hört, Kinder, das ists! Ihr Herz steigt auf, Der Zorn steigt auf! Lauft schnell ins Haus, doch laßt euch nicht sehn! O kommt nicht nahe und fliehet, oh flieht Das wilde Herz, Das grimme Herz Der niemals Gezähmten! Wärter und Kinder ins Haus
Ja, schnell nun hinein, Eh Zornesgewölk, das schon sich erhob, Zum Sturme reift! Ihr wundes Herz, Hochfahrend Herz, Unbändig Herz, Was wird es beginnen? MEDEIA
von innen
Weh mir! 228
Mich traf ein Schlag, Unsäglicher Schlag! Elendeste Mutter Verflucht ihre Kinder, Verflucht der Vater, Verflucht das Haus! AMME Wehe, rasendes Weib! Die ganz unschuldig an Vaters Verstrickung, Verfolgst du, Verfluchst du! Kinder, ich zittre für euch. O diese Großen der Welt! Die nie gehorchen, Die nur befehlen, Schwer fügt sich ihr Sinn. Besser die mittlere Straße traben! Führt sie nicht hoch, Führt sie zum sicheren Hafen des Alters. Mäßigung, O Name der Namen, Bringst den Menschen Segen um Segen! Doch Unmaß dauert Nimmer und nimmer, Stürzt die Häuser am Tag des Unheils Tiefer und tiefer! CHOR Wir hörten die Stimme, Hörten den Schrei Der armen Fremden; wann wird er verstummen? Er kam aus der Halle, Er drang durch die Türen In unsere Häuser. Leid deines Hauses kann nie uns erfreuen, Wir wahren die Freundschaft. AMME Hier ist kein Haus mehr, Ist alles zu Ende. 229
Der Herr hat sein Bett im Palast, Die Frau verzehrt sich drinnen im Gram, Kein Freundwort kann trösten. MEDEIA
von innen
Oh, oh! Blitz des Himmels, Treffe dies Haupt, Ende nutzloses Leben, Furchtbares Leben! Komm, o Tod, Löse die Bande! CHOR O höret, Zeus und Erd und Licht, Hört die Klage Einsamer Frau! Nutzlos, ach, rufst du zurück Entschwundenes Lager, Rufst du dem Tode! O flehe nicht dieses! Laß den Gatten das neue Bett Nicht so bitter entgelten! Zeus steht im Rechte dir bei! Verzehre Dich nicht in Tränen um altes Lager! MEDEIA
von innen
Göttin des Rechts und uralte Artemis, Die ihr mit heiligen Schwüren Den Gatten mir bandet, Seht, was ich leide! Laßt mich schauen den Sturz des Mannes, Sturz der Braut und des ganzen Hauses! Sie haben begonnen! Haben die Frevel entfesselt! O Vater und Vaterland, Die ich verriet! Bruder, den ich so schmählich erschlug! AMME Hört ihr das Wort, ihren Ruf Zum Recht und zum Schwurgott? 230
Nicht in geringem Ding Wird dieser Zorn sich entladen. CHOR O träte sie vor unser Aug, Hörte selber Warnendes Wort! Ob sie nicht ließe den Zorn, Die schlimmen Gedanken? Treue der Freunde, Sie soll ihr nicht fehlen! Geh und hole sie aus dem Haus, Sag ihr liebende Worte! Eile, bevor sie im Haus ein Leid tut! Oh, diese Wolke schwebt nah und näher! AMME Ich will es tun, doch fürcht ich Mißlingen. Für euch seis gewagt. Ach, mit der Löwenmutter Blick Stiert sie uns an, wenn wir das Wort an sie wenden. im Abgehen Toren darf man sie nennen, nicht Weise, Die damals die herrlichen Lieder erfanden Zum Klange der Becher, zur Würze des Mahls Keiner erfand es, mit Lied und mit Leier Die stygischen Qualen des Todes zu bannen, Wenn strahlende Häuser versinken in Nacht. Heilen müßten die Lieder die Leiden! Warum zu Gelagen die Sänger bemühen, Wo Fülle des Mahls schon die Herzen erhebt? CHOR Wir hörten das Stöhnen der Klage, Das Wehe und Ach Des verlassenen Weibes. Göttin der heiligen Eide Ruft sie als Unrechts Zeugin, Göttin, die sie entführte Ober das nächtliche Meer Zum Riegel des salzigen Pontos, Zu unsern Gestaden. 231
MEDEIA
tritt heraus
Ich trete vor euch, ihr korinthischen Fraun, Um euch Rede zu stehn, denn des Menschen Rang Wird Auge in Aug, nicht im Winkel erkannt Und der Stille genießt nur Verachtung und Spott, Ja wird grundlos verdammt vom flüchtigen Schein, Der dem Menschen nie in das Innere blickt. So achte der Fremdling den Bürger, es soll Auch kein Bürger den anderen blindlings schmähn. Ein jäher Streich hat mein Leben zerstört, Seinen Glanz vernichtet — ich suche den Tod. Ihr wißt es wie ich: Der mir alles war, Mein Gemahl, erwies sich als elender Mensch! Ach, wir Frauen sind ja von allem Geschöpf, Das da atmet und fühlt, die unseligste Art: Wir kaufen mit schwerem Gold den Gemahl, Ja, schlimmer noch, kaufen den Herrn unsres Leibs Und er bleibt unser Schicksal, ob gut oder schlecht; Wir könnens nicht weigern, und Scheidung ist Schimpf. Was wir nirgends erlernten: In fremden Gebrauch Uns fügen, erraten die Wünsche des Manns — Wir müssen es üben. O glückliche Frau, Die den Mann ohne Zwang zum Gefährten gewann! Alles andre ist schlimmer als Tod: Was der Mann Im Hause entbehrt, sucht er außer dem Haus — Wir schauen auf ihn als den einzigen Trost. Man preist unsern Frieden, so fern von der Schlacht: Lieber dreimal am Feind als einmal Geburt! Ihr tragt es ja leichter, habt Heimat und Haus, Verwandte und Güter; ich stehe allein, Vom Verräter erbeutet im fernen Land, Ohne Mutter und Bruder, von niemand beschützt. So erbitt ich das eine: Zeigt sich je ein Weg Mir zur Rache, o schweigt! Voller Angst ist das Weib Vor Gewalt, vor dem Stahl — wird die Ehe versehrt, So lechzt sie nach Blut wie die Löwin. CHORFÜHRERIN Gerecht ist die Rache, gerecht dein Gram,
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So handle, wir schweigen! Da kommt unser Herr, Dir selber zu künden sein neues Gebot. KREON kommt mit Gefolge
Die mit finsterem Blick ihrem Gatten flucht, Medeia, du
bist aus dem Lande verbannt Mitsamt den Knaben! Und ohne Verzug! Ich sprach den Entscheid und ich ziehe nicht ab, Bevor du Korinthos verlassen.
MEDEIA
O verloren, verloren! Ich Unglücksfrau! Mit vollen Segeln jagt mich der Feind, Da schützt kein Hafen. Doch mitten im Sturm Gib Antwort, Kreon: wozu dieser Bann? KREON Ich fürchte — und sag es auch offen heraus: Daß Verderben du sinnst meinem einzigen Kind. Die Furcht hat Grund: dich verließ der Gemahl, Viel gefährliche Zauber beherrscht deine Kunst. Und man hörte dich drohen der neuen Braut, Dem Mann und dem Vater. Da sieht man sich vor, Wählt den Kampf, will die Nachsicht nicht später bereun. MEDEIA
Wehe! Wie oft hat mein Ruhm mir den Schaden gebracht! Kein Verständiger stopft seine Kinder voll Mit der Weisheit; sie lähmt nur den tätigen Sinn Und pflanzt in den Nachbarn den Haß, den Neid. Neues Wissen: dem Volk ist es müßiger Tand, Wer es bringt, ist ein Tor; und gebildeten Mann Mit Weisheit schlagen, macht rings verhaßt. So ergeht es auch mir: man beneidet, man schmäht Den Schatz meines Wissens — wie ist er so klein! Du witterst Gefahr: o so stark bin ich nicht, Einem König zu schaden; verbanne die Furcht! Was tatst du mir Leids? Du vermähltest dein Kind Dem Mann deiner Wahl und das war dein Recht. Wenn ich Jason auch hasse, dir gönn ich dein Glück. Macht Hochzeit, lebt glücklich, doch stoßt mich nicht fort! Ich will schweigen zu dem, was ein Stärkrer verhängt. 233
KREON
Sanft geht es ins Ohr, doch das Herz schüttelt Furcht Und ich traue dir minder als je zuvor, Seit den Zorn du mit listiger Ruhe vertauscht. Kein Wort, keine List mehr! Rasch fort mit dem Feind! Er darf nicht mehr bleiben: so ist es verfügt. MEDEIA
fällt ihm zu Füßen
Nein, ich rufe dein Knie! deines Kindes Glück! KREON O spar diese Reden, sie rühren mich nicht. MEDEIA
So treibst du mich aus, bleibst den Bitten taub? KREON Das Heil meines Hauses steht höher als du. MEDEIA
Liebste Heimat, wie innig gedenke ich dein! KREON Nach den Kindern ist Heimat das süßeste Glück. MEDEIA
Weh mir! Was fügt Liebeswahn ärmsten Sterblichen zu! KREON Wie die Würfel fallen, ist unser Geschick. MEDEIA
Doch du kennst ihn, Zeus, der dies Leid verbrach! KREON Fort, törichtes Weib! Mach ein Ende der Qual! MEDEIA
Mit eigener Qual ist mein Becher gefüllt! KREON Bald stößt dich die Faust meiner Diener hinaus! MEDEIA
faßt Kreons Hand
Nur dies nicht, o Kreon, ich flehe dich an! KREON Du glaubst mich zu zwingen zum Widerruf? MEDEIA
Den erfleh ich nicht mehr — wir verlassen das Land. KREON So dränge nicht weiter und schere dich fort! 234
MEDEIA
Laß im Land mich verweilen den einzigen Tag, Die Flucht mich bedenken, die Knaben versehn, Die ihr eigener Vater so ganz vergaß! Bist ja selber Vater, so siehst du ihr Los Und hast Mitleid. Mich kümmert nicht eigene Not, Doch der Knaben Schicksal ist jammernswert. KREON Mir fehlt zum Herrscher das Mark. Es hat Mir die Nachsicht schon vieles verdorben; auch jetzt Geh ich fehl, ich weiß es; doch sei es gewährt. während Medeia aufsteht
Aber wisse: sieht euch der morgige Tag Noch im Land, ist der Tod euch völlig gewiß. Dies Wort steht fest: nur der einzige Tag! Der wird uns das Unheil nicht bringen. ab
CHOR Unselige Frau! Weh über all deine Leiden! Wo liegt dein Ziel? Welches gastliche Haus, Gastliche Land Wird solche Leiden beenden? In unermeßliche Woge des Unheils Hat dich ein Gott gestürzt, Medeia. MEDEIA
Daß mich Unheil umbrandet, wer sähe es nicht? Aber wähnt nicht, die Sache sei schon am Ziel! Das Paar und der Vater sind tödlich bedroht! Hätt ich je mich erniedrigt ganz ohne Gewinn? Ohne Grund ihn umschmeichelt? mit Händen berührt? Fast hätte der Tor meine Pläne durchkreuzt Mit dem Bann, nun läßt er mir einen Tag, Der drei meiner Feinde zum Hades schickt, Den Vater, die Tochter und meinen Gemahl. Welchen tödlichen Weg beschreit ich zuerst? Leg ich Feuer ans Haus? Dring ich heimlich zum Bett Mit gezücktem Dolch? Beides darf nicht geschehn: Werd im Haus ich mit meinen Ränken ertappt, Muß ich sterben und bleibe den Feinden ein Spott. 23S
Am sichersten führt jener Weg zum Ziel, Der Weg meiner Künste: das tödliche Gift! So soll es geschehn -- und so sind sie tot! Doch wo winkt mir die Freistatt, ein Land, ein Haus, Das den Fremdling bewirtet, sein Leben beschirmt?
Ach nirgends! So späh ich noch einige Zeit, Ob ein Retter erscheint, geh dann heimlich ans Werk. In äußerster Not greif ich selber zum Schwert Und reiße sie tollkühn in meinen Tod. Bei der großen Herrin tief unter dem Herd, Meiner mächtigsten Schützerin Hekate: Kein Feind soll jauchzen ob meiner Qual, Vergällt wird die Hochzeit, vergällt dieser Bann! Nun, Medeia, ans Werk, an dein schwerstes Werk! Zeig all deine Künste! Heut gilt es den Mut! Sieh, wie Jason, wie Sisyphos' Brut dich verhöhnt, Dich, die Erbin des mächtigen Helios! Du weißt viele Künste! Auch bist du ein Weib, Und sind Frauen auch nicht zum Guten geschickt, Sind sie Meisterinnen des Bösen. CHOR
Die heiligen Ströme, Sie fließen bergauf, Recht und Gerechtigkeit Kehren sich um, Da Männer tückische Taten begehn, Brechen die göttlichen Eide. Ja, nun muß sich zum Guten wenden Der Ruf der Frauen, Ehre muß endlich uns widerfahren, Schlimme Schmähung Nicht mehr einzig die Frauen treffen. Die Lieder der Sänger Verstummen fortan, Sangen nur Tücke des Frauengeschlechts. Der Leier göttliche Kunst hat uns Phoibos, der Herr der Gesänge, Nicht in die Seele gelegt: wir würden 236
Im Lied erwidern, Männer belehren, daß schon vor Alters Gleiche Geschicke Männer trafen und Frauen trafen. Vaterhaus hast du verlassen Glühenden Herzens, Fuhrst durch felsige Enge des Meers, Wohnst in der bitteren Fremde. Gattenlos stehst du Vor dem verlassenen Lager, Ehrlos wirst du verjagt, Jäh aus dem Haus gestoßen. Eide, sie werden verachtet, Heilige Ehrfurcht Wohnt nicht länger im griechischen Land, Flatterte hoch in die Lüfte. Heimatlos stehst du, Ohne den Hafen der Stürme. Neuer Herrin Gewalt Hat sich dein Haus erobert. JASON
Daß verstockter Wut nicht zu helfen ist, Hat man öfters erlebt. Dir stand es ja frei, Land und Haus zu bewohnen, gefügig dem Sinn Deiner Herrn — nun vertreibt dich dein eitles Gekeif. Mich scherts nicht, nenn mich bei Tag und bei Nacht Einen Schurken! Doch wie du die Herrscher geschmäht, Ist mit dieser Verbannung nur glimpflich bezahlt. Ich wollte dich retten, der Könige Zorn Stets beschwichten; doch du, ohne Zügel und Zaum, Geiferst weiter: so treibt man dich aus dem Land. Dennoch lass ich euch nicht, und zu deinem Heil Bin ich hier: ihr sollt mir nicht mittellos, Von allem entblößt, in die Fremde ziehn, In Not und Entbehrung. Ja, hasse nur zu: Nie werd ich dir feindlich begegnen. MEDEIA
Halunke! — ich finde kein anderes Wort 237
Für erbärmlichen Mann, schlimmsten Feind, der es wagt, Uns vor Augen zu treten nach dem, was geschah. Ist das mutig und kühn? Es ist mehr als verrucht: Es ist schamlos! Doch kommst du gerade recht: Nach Herzenslust schleudr ich dir Worte ins Ohr, Die du ungern vernimmst. — Ich beginne von vorn: Mir verdankst du dein Leben, und jeder bezeugts, Der die Argo bestieg! Du warst ausgeschickt Zu den feurigen Stieren, zur blutigen Saat, Zum schlaflosen Drachen, der goldenes Vlies Umringelnd bewachte und den ich bezwang, Als Stern deiner Rettung! Und väterlich Haus Verließ ich und schiffte nach Jolkos mit dir, Mehr eifrig als klug, habe Pelias' Haß Von dir abgewendet durch bitteren Tod, Den die Töchter ihm schufen mit eigener Hand. All das tat ich für dich, doch du Schurke verrietst Mich an neueres Bett, trotz der Söhne; denn wärst Du noch kinderlos, bliebe die Tat dir verziehn. Gelten Eide noch? Glaubst du, die Götter von einst Sind vom Thron gestoßen durch neues Gesetz, Das den Meineid erlaubt, den du offen begingst? O Hände, o Knie, die du bittend berührt! All mein Hoffen, wie hast du es grausam getäuscht! Soll ich freundlich, als käme noch Gutes von dir, Dich befragen? Es sei! Es enthüllt deine Schmach: Wohin zieh ich? Zum Vater, den ich verriet? Werd ich Pelias' Töchtern willkommen sein, Die ich Vatermord lehrte? So steht es um mich: Meinen Lieben verhaßt, hab ich Schuldlose hier Nur um deinetwillen zu Feinden gemacht. Dafür hast du mich hoch in ganz Hellas erhöht: Wie preist man den stolzen, den treuen Gemahl, Wenn das Bettelweib einsam die Fremde durchzieht, Hilflos mit hilflosen Kindern, der Hohn Dieses Neuvermählten, der Söhne und Weib, Der den Lebensretter ins Elend stieß! O Zeus! Für das Gold steht der Prüfstein bereit, Der das falsche erweist; doch der menschliche Leib Trägt nicht Merkmal niederen Wertes.
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CHORFÜHRERIN O furchtbarer Zorn, o unheilbarer Haß, Wenn der Gatte sich gegen den Gatten empört! JASON
Nur ein findiger Redner und Steuermann Kann, mit sparsamstem Segel, dem Wogenschwall Deines Lästermaules sich heil entziehn. Du streichst deine Taten heraus: mein Heil Kam einzig allein aus der Kypris Hand, Und du weißt es genau, doch du hörst es nicht gern, Daß des Eros Pfeil dich zum Handeln bewog. Dem sei, wie ihm sei: dein Verdienst besteht, Und die Sache ging gut — doch vor allem für dich! Du tauschtest mit Hellas dein wildes Land, Das Reich der Gewalt mit dem Sitz des Rechts. Wie nie dort im Winkel erwarbst du den Ruhm Hoher Weisheit — und Ruhm glänzt heller als Gold, Orpheus' Liederkunst wöge mir Ruhm nicht auf. Soviel von der Fahrt, deinem ersten Geschoß, Und nun zum zweiten: der fürstlichen Braut! Diese Ehe war klug, war gerecht, war für dich Und die Kinder ein Segen — o brause nicht auf! Als beschwerlichstes Los mich von Jolkos gebracht, War die Fürstenehe der glücklichste Fund Für den Flüchtling; nicht weil ich verleidetes Bett, Wie du grollst, mit dem süßeren Lager getauscht Oder viele Kinder nach deinen begehrt: Unser Glück, unsre Wohlfahrt lag mir im Sinn, Das Elendslos, das die Freunde verjagt, Der Kinder Erziehung im vornehmen Stand Ihrer späteren Brüder. Ein blühend Geschlecht Sollte alles krönen! Die schon du gebarst, Sollten glücklich im Schatten der andern gedeihn! War die Rechnung falsch? Nur die Eifersucht Kann sie tadeln. Denn fesselt ihr Weiber den Mann, Ist er Alles! Doch kaum ist das Lager bedroht, Wird der Beste und Klügste zum schlimmsten Feind. Gäb es andre Geburt, ganz ohne die Frau! Wie glücklich wäre das Leben! CHORFÜHRERIN: Du hast mit Geschick deine Worte gesetzt, 239
König Jason, doch sag ich dir frei heraus: Der Verrat an der Gattin bleibt schlimmste Tat. MEDEIA
Wie ganz anders schlägt mir das Herz in der Brust Als den anderen Menschen! Wer Unrecht klug Beschönigt, hat härteste Strafe verdient. Mit der Zunge Prunk macht er Böses gut Und frevelt weiter und bleibt ein Tor. So kommst du und spielst hier den ehrbaren Mann Mit Reden — und fällst durch ein einziges Wort: Wärst du ehrlich, du hättest den neueren Bund Mit der Gattin beraten, nicht vor ihr versteckt. JASON
Wie hättest du damals die Pläne durchkreuzt, Die du heute noch völlig unbeugsam schmähst! MEDEIA
Was dich trieb, war die Angst, das barbarische Weib Sei dir ewige Bürde und ewige Schmach. JASON Keine Leidenschaft trieb mich ins fürstliche Bett, Ich sag es noch einmal: mich trieb euer Heil, Euer Rückhalt am Nachwuchs aus fürstlichem Stamm. MEDEIA
Nie wünsch ich ein Glück voller Bitternis! Nie Reichtum, der mir am Herzen nagt! JASON Bald wirst du belehrt und sehnst beides herbei, Die bittere Wohlfahrt, das nagende Glück. MEDEIA
Vom sicheren Hafen höhnt es sich leicht! Mich stößt man verlassen zum Tore hinaus. JASON
Du bist selbst schuld, hast es selber gewollt. MEDEIA
Hab ich Ehe gebrochen? Beging ich Verrat? JASON
Deine Herrscher hast du bedroht, verflucht. MEDEIA
Und dich dazu und dein ganzes Haus! JASON
Ich rechte nicht mehr. Was an Mitteln ihr braucht 240
Für die Reise, sei reichlich gewährt, ich schrieb Auch Briefe an manchen euch nützlichen Freund: Nur der Wahnsinn lehnt solche Hilfe ab! Nimm den Vorteil wahr und besiege den Groll! MEDEIA
Deine Freunde können nicht meine sein Und spare dein Gold: Nie empfängt meine Hand Die Gabe des Feinds, die der Fluch verfolgt. J ASON Die Götter sind Zeugen: Ich wollte dein Heil Und das Heil der Kinder! Doch was euch gefrommt, Verschmähst du, stößt blind alle Freunde von dir. Das wirst du noch bitter bezahlen. ab MEDEIA
So lauf in die Arme der neuen Braut! Du bliebst schon so lang, das Verlangen ist heiß Nach der Hochzeit, die — wenn kein Gott mich trügt — Du als bitterstes Fest noch verrufen wirst.
CHOR Liebe, wenn sie in Stürmen weht, Nimmer bringt sie dem Menschengeschlecht Segen und Ehre. Goldene Kypris, Rauscht sanft dein Flügel, Strahlst du hell über alle Götter. Sende vom goldenen Bogen, Herrin, nie den tödlichen Pfeil Rasender Stürme! Bleibe, o heilige Mäßigung, Herrlichste Botin aus Götterland, Treu mir zur Seite! Grausame Kypris, O schick mir niemals Zank und Hader und böse Zwietracht, Streit um verratenes Lager! Herrin, stifte das friedliche Glück! Schirme die Ehe! 241
Land meiner Väter! Heimischer Herd! Heimatlos Laßt mich nicht ziehen, Nicht erleiden, ach, Endlose Zeiten des Bittersten Leids! Lieber den Tod, ja den Tod, Als den Tag der Verstoßung! Kein anderes Leid ist so grog als Heimaterde verlassen. Augen, ihr habt es Selber gesehn! Nicht bedarfs Fremden Berichtes. Keine Stadt, kein Freund Hat dich getröstet in Bitterstem Leid! Gnadenlos fahr er dahin, Der die Lieben verrät und Das heilige Siegel zerbricht! Nie Soll man Freund ihn mir nennen!
AIGEUS Sei gegrüßt, Medeia, mit frohestem Gruß, Den ein Freund seinen Freunden entbieten kann! MEDEIA
Aigeus, Pandions Sohn! Mit dem gleichen Gruß Begrüß ich dich selber. Woher deines Wegs? AIGEUS Von des Phoibos altem Orakelsitz. MEDEIA
Und was hast du den Nabel der Erde gefragt? AIGEUS Wie mir neue Saat noch entsprossen kann. MEDEIA
So dehnst du die Tage noch ohne den Sohn? AIGEUS Eines Gottes Verhängnis hat es gewollt. 242
MEDEIA
Doch bist du vermählt? oder stehst du allein? AIGEUS Schon vor Jahren schloß ich den Ehebund. MEDEIA
Was hat Phoibos geweissagt? Erwächst dir ein Sohn? AIGEUS Der Spruch ging hoch über Menschenverstand. MEDEIA
Darf ich wissen, was dir der Gott befahl? AIGEUS Weisen Deuters bedarf ja das dunkle Wort. MEDEIA
So sprich, wenn du glaubst, daß ichs hören soll. AIGEUS Noch soll ich nicht lösen den Hals des Schlauchs. MEDEIA
Bis zu welchem Ereignis und welchem Ort? AIGEUS Bis ich kehre zur Stadt und zum heimischen Herd. MEDEIA
Und wie führt deine Straße dich über Korinth? AIGEUS König Pittheus such ich im Lande Trözen. MEDEIA
Des Pelops berühmten, ehrwürdigen Sohn. AIGEUS Ihm will ich eröffnen Apollons Wort. MEDEIA
Er ist weise, in Sehersprüchen geübt. AIGEUS Und aus alten Kämpfen mein bester Freund. MEDEIA
So ziehe mit Glück und gewinne dein Ziel! AIGEUS Doch was macht dich so düster, die Wange so bleich? MEDEIA
Mit dem übelsten Schurken bin ich vermählt. AIGEUS Ists möglich? Vertrau mir dein Leiden an!
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MEDEIA
Unschuldig bin ich vom Gatten verfolgt. AIGEUS
Mit welcher Tat? Sag es frei heraus! MEDEIA
Er nahm sich ein Weib, das mir befiehlt. AIGEUS
Solchen Schimpf hat Jason dir angetan? MEDEIA
Ja, die alte Gattin ist völlig entehrt. AIGEUS
War dein Bett ihm verleidet? Ist neu er entbrannt? MEDEIA
Tollwütig entflammt brach er früheren Bund. AIGEUS
Er fahre dahin, hat er solches getan. MEDEIA
Zur Königstochter verstieg sich sein Sinn. AIGEUS
Und wer ist ihr Vater? Vollende das Wort! MEDEIA
König Kreon, der mächtige Herrscher Korinths. AIGEUS
Da weiß jeder, daß du verzweifelt bist. MEDEIA
Verzweifelt, verloren — verstoßen, verbannt! AIGEUS
O neues Unheil! Wer hat es verhängt? MEDEIA
Kreon selber sprach die Verbannung aus. AIGEUS
Und Jason leidets? Das kann nicht sein! MEDEIA
Er sprach nicht ja, aber ließ es geschehn. sie fällt Aigeus zu Füßen
Ich flehe dich an und berühre dein Knie, Ich flehe dich an und ich streiche dein Kinn, Erbarm dich, erbarm dich der elenden Frau, Laß sie einsam nicht durch die Fremde ziehn, Nimm sie auf in dein Land, an den heimischen Herd! Deine Wünsche werden gesegnet sein, 244
Du wirst glücklich sterben, von Kindern umblüht. Du ahnst nicht den Fund, ich bewirke die Kraft, Meine Mittel setzen der Dürre ein Ziel. AIGEUS
Ich willfahre dir gern und mich treibt nicht nur Das fromme Gebot, auch der glühende Drang Nach den Kindern, die du mir prophezeist. Doch hör: von Korinth entführ ich dich nicht, Kommst du selbst, so steht dir mein Haus bereit Und verteidigt dich. Suche allein den Weg! Vor dem Gastfreund will ich in Ehren bestehn. MEDEIA
So sei es! Doch gib noch die feste Gewähr Und setze der Milde die Krone auf! AIGEUS
Mißtraust du mir? Siehst du ein Hindernis? MEDEIA
Ich würde vertrauen, doch Pelias' Haus Und Kreon verfolgen mich, fordern mich aus. Wenn ein Eid dich bindet, so lieferst du mich Nicht in ihre Hände. Ein schlichtes Wort Ohne Schwur bricht sich leicht, wenn der Herold droht Eines reichen Freunds, eines mächtigen Manns, Und niemand achtet verlassener Frau. AIGEUS
Mit Vorsicht gehst du ans Werk, doch schlag Ich die Bitte nicht ab, sie beschützt mich selbst, Macht uns beide stark gegen deinen Feind. So nenne die göttlichen Zeugen des Schwurs! MEDEIA
Schwör beim Erdengrund und bei Helios, Meinem Ahn! Alle Götter rufe herbei! AIGEUS
Sag, was ich dir halten, dir meiden soll! MEDEIA
Niemals mich zu stoßen aus deinem Land! Niemals mich zu liefern in Feindes Gewalt! AIGEUS
Bei der Erde, beim strahlenden Helios Und bei allen Göttern schwör ich es zu!
'4S
MEDEIA
Und brichst du den Eid, was soll dir geschehn? AIGEUS
Die gerechte Strafe der ruchlosen Tat! MEDEIA
So ziehe mit Glück, nun wird alles gut. Bald folg ich in deine gastliche Stadt, Wenn hier alles getan und das Ziel erreicht. CHOR
während Aigeus abgeht
Der Sohn der Maia, Gott des Geleits,
Bringe dich glücklich zurück! Was du erstrebst, Sei dir zuteil, Möge dir immer gelingen! Aigeus, du hast Als gerechtesten Mann Heute dich strahlend gezeigt! MEDEIA
O Zeus und das Recht, Licht des Helios! Jetzt triumphieren wir über den Feind, Die Straße ist frei und die Rache nah! In der äußersten Not erschien dieser Mann Als ein rettender Hafen, ein Haltetau; Athen wird mich schirmen, der Pallas Burg. — Nun hört meinen Plan, einen grausamen Plan! Eine Dienerin bringt mir den Gatten herbei, Ich will ihn betören mit schmeichelndem Wort, Als war ich nun ganz eines Bessern belehrt, Und ihn bitten, die Knaben zu lösen vom Bann. Nicht, daß ich sie ließe im feindlichen Land, Die List soll mir helfen zum Tode der Braut. Ich sende die Kinder mit Gaben ins Schloß, Und legt sie die an, stirbt sie kläglich dahin, Auch wer sie berührt; so stark ist mein Gift. Doch genug von dem allem! O furchtbares Werk, Das mir dann noch bleibt: meiner Kinder Mord! Nichts kann sie erretten! Und ist bis zum Grund Jasons Haus zerstört, so jagt mich vom Land 246
Meiner Liebsten Tod, die unseligste Tat. Nie ertrag ichs, daß mich ein Feind verlacht! Darum fort mit allem! Was hält mich noch fest, Da ich Heimat und Haus, jede Hilfe verlor? Ach, verblendet floh ich vom Vaterhaus Mit dem Fremdling, der schwer seine Frevel bezahlt: Denn die Kinder, die ich ihm selber gebar, Sieht er lebend nicht mehr, und die fürstliche Braut Gebiert ihm nicht neue, die Elende stirbt Durch mein sicheres Gift einen elenden Tod. Nie hab ich den niederen Sinn geteilt, Nie hat man mich feig oder schwach gesehn: Den Feinden furchtbar, den Freunden treu: So gedenke man meiner in aller Welt! CHORFÜHRERIN Du hast uns geheimste Gedanken vertraut; Als treuester Freund und im Namen des Rechts Der Menschen verbiet ich die furchtbare Tat! MEDEIA
Sie muß geschehen! Doch kann ich verzeihn, Was du sagtest; du hast nicht gelitten wie ich. CHORFÜHRERIN Medeia, bedenke: dein eigenes Blut! MEDEIA
So treff ich den Gatten ins innerste Herz. CHORFÜHRERIN Und selber wirst du unseligste Frau. MEDEIA
Genug der Worte, es geht seinen Lauf. zu einer Dienerin
Bring den Jason herbei, du Treuste der Treun, Und laß ihn nichts ahnen von meinem Plan, Steh als Frau getreu zu der Herrin! CHOR Erechtheusvolk, mir von Alters gepriesen, Ihr seligen Söhne der seligen Götter, Vom Baum des niemals verwüsteten Landes Pflückt ihr die goldenen Früchte der Weisheit, Schreitet so leicht durch die Bläue des Himmels: Hier, ja hier, so weiß es die Sage, 24 7
Hat uns die goldene Harmonia Die heiligen Musen geboren. Aphrodite, gelagert am sanften Kephisos, Sie schöpft aus den Wellen die Kühle der Lüfte, Läßt sanft sie über die Fluren rieseln. Immerzu flicht sie den goldenen Haaren Duftenden Kranz ihrer blühenden Rosen, Immer schickt sie geflügelte Söhne, Erosknaben, der Weisheit zu Hilfe, Allen Gelingens Bedinger.
Solchen heiligen Stromes Ufer, Freunden treue, Gastliche Stätte, Soll bewirten, Die eigene Kinder erschlug? Kann Mörderin wohnen bei frommen Menschen? Bedenke die Ärmsten, Bedenke die Bluttat! Wir knieen vor dir im Kreis, Wir flehen zu dir im Kreis: Schone der Kinder! Woher nimmst du des Geistes Kühnheit, Kraft der Hände, Kraft deines Herzens, Liebes Kind, wenn Du gehst an das grausige Werk? Wie könntest du tränenlos heften das Auge Auf eigene Söhne? Wie kannst du, wenn bittend Sie knieen vor dir, die Hand Erheben, die blutige Hand, Ruhigen Sinnes? JASON
Mich rief die Feindin, ich komme als Freund Und nie rufst du vergeblich; so sag dein Begehr! MEDEIA
Ach, Jason, verzeih, was die Wütende sprach, 248
Und denk an viel Liebes, das zwischen uns war! Ich hielt mit mir Rat und schalt mich dann selbst: Warum rast nur mein Haß gegen gütigen Freund, Macht zum Feind mich den Herrschern, zum Feind dem Gemahl, Der zu unserem Besten mit fürstlicher Braut Unsern Söhnen die Brüder erzeugen will? Soll der Groll nie enden? und kann mein Geschick Mit der Götter Hilfe nicht gnädig sein? Zwar hab ich die Kinder, doch sind wir verbannt Und stehen allein. Da erkannte mein Sinn Die Torheit seines vergeblichen Grolls Und pries deine Klugheit, mit der du die Braut Uns brachtest, bereute den Unverstand. O hätt ich von je deine Pläne geteilt, Frohen Sinns dir und willig die Fürstin vermählt! Ach, Frauen sind Frauen — ich will uns nicht schmähn. Doch sei klüger, vergelte mir nicht Die Torheit mit Torheit. Ich bitte sie ab,
Bereue, bin ganz eines Bessern belehrt. sie ruft die knaben heraus, die mit dem Wärter erscheinen
Heraus, ihr Kinder, heraus und begrüßt Und herzt euren Vater und bittet mit mir, Daß der Mutter Grollen er schleunigst vergißt! Der Bund ist besiegelt, der Zorn verraucht! Laßt die Hand nicht los! — O furchtbares Bild! Was reift euch in Schicksals verborgenem Schoß? Wie lang noch erhebt ihr den lieben Arm? Wie wehr ich den Tränen, verjag ich die Furcht? Kaum hab ich so glücklich den Vater versöhnt, Da stürzen schon Tränen die Wange herab! CHORFÜHRERIN Der gleiche Schleier verhängt unser Aug — O möge kein schlimmeres Unheil erstehn! JASON
Ich lobe die Umkehr und trage nichts nach. Jede Frau grollt dem Mann, der sie plötzlich verläßt, Doch dein Herz ward belehrt und es siegte zuletzt Der kluge Sinn der verständigen Frau. Für euch Knaben hab ich in allem gesorgt Mit der Götter Rat, und als Fürsten Korinths Wird die Stadt euch grüßen, die Brüder und euch. 249
Wachst glücklich heran! Alles andere führt Euer Vater und gnädige Gottheit zum Ziel. Schon seh ich euch kehren in männlicher Kraft Und siegreich bestehn jeden Feind unsrer Stadt. Doch, Medeia, du weinst? Du wendest dich ab? Meine Worte finden kein freudiges Ohr? MEDEIA
Nichts, nichts. Mir liegen die Kinder im Sinn. JASON
Für sie ist gesorgt, so sei ruhigen Muts! MEDEIA
Gern bin ichs und traue auf jedes Wort, Doch Frauen sind immer den Tränen so nah. JASON
Und wie haben die Kinder dir Tränen entlockt? MEDEIA
Ich gebar sie, und Wehmut faßte mich an, Als vom langen Leben so sicher du sprachst. Doch warum ich dich rief, ist nur halb erst gesagt. Vernimm denn: der Bann, den der König verhing, Will mein eigenes Bestes, ich seh es klar, Und gelt ich als Feindin des Hauses, so kann Ich den Fürsten und dir nicht im Wege stehn, Werde selber gern meine Straße ziehn. Doch die Kinder sah ich von deiner Hand Gern erzogen und frei von des Königs Bann. JASON
Das braucht Überredung, doch sei sie versucht. MEDEIA
Gewinnst du die Braut und dringt sie mit dir In den Vater, so gibt er die Kinder frei. JASON Er tuts und die Braut überred ich gewiß. MEDEIA
Wenn ein Frauenherz in der Brust ihr schlägt; Und ich kann dir noch helfen bei diesem Werk: Ich schicke ihr Gaben von seltenem Wert, Wie man nie sie, ich weiß es, auf Erden erblickt, Ein seidenes Kleid und goldenen Schmuck; Die werden die Kinder ihr bringen. Es trag Eine Dienerin schleunigst die Schätze heraus! 2So
Dienerin geht ins Haus
Unter Tausenden wird sie gepriesen sein, Die mit edelstem Gatten ihr Lager teilt Und den Schmuck besitzt, den einst Helios, Meines Vaters Vater, uns hinterließ. Dienerin bringt den Kasten
Nehmt die Gaben, ihr Kinder, und bringt sie der Braut, Legt der glücklichsten Fürstin sie in den Schoß, Sie braucht sich des Schmucks nicht zu schämen. JASON
O plündre nicht töricht dein Hab und Gut, Das Königshaus hat Gewändes genug Und Gold; behalte die Schätze! Mein Wort Steht höher bei ihr als Geldeswert! MEDEIA
Nein, auch Götter werden durch Gaben belehrt, Und der Mensch zieht Gold tausend Reden vor. Ihr lacht jetzt das Glück, früh herrscht sie, so häuf Sich ihr Gut! Und ich würde die Kinder vom Bann Mit dem Leben erkaufen statt nur mit Gold. So geht denn, ihr Knaben, zum stolzen Palast, Zu Vaters Braut, meiner Herrin, und fleht, Daß man gnädig euch eure Strafe erläßt! Übergebt diesen Schmuck und achtet genau, Daß mit eigenen Händen sie ihn empfängt! Geht schnell und bringt frohe Botschaft zurück, Daß alles gelang, was die Mutter ersehnt! Jason, Wärter und Knaben ab CHOR
Hoffnung ist nun ausgelöscht, Hoffnung auf der Kinder Leben, Sie ziehen die Straße des Todes. Hände der Braut Fassen den Schmuck, Fassen das tödliche Los. Hades' Schmuck Legt sie ums Haupt Mit der eigenen Hand. Zauberreichem Glanz des Kleids, 251
Zauberreichem Glanz der Krone, Die Fürstin; sie wird ihm erliegen. Bräutlichen Schmuck Wird sie fortan Tragen im unteren Reich. Todesnetz Fängt sie nun ein, Unentrinnbarer Fluch. Unglücksgatte, Unglückseidam Unsrer Fürsten!! Wie hast du, nichts ahnend, Das Leben der Knaben vernichtet, Das Leben der Braut zerstört! Ganz verblendet Irrtest du weit vom Ziel! Unheilsmutter! Dir auch gelten Meine Seufzer. Bald wirst du sie töten, Die Ärmsten, wegen des Lagers, Das frevelnd dein Gatte verließ, Ob des Betts, das Frevelnd er neu bestieg! WÄRTER
kommt mit den Knaben
Hohe Herrin, die Knaben sind ledig des Banns, Die Fürstin nahm freudig aus ihrer Hand Die Geschenke und Frieden empfingen sie selbst. Doch stehst du betroffen vor all diesem Glück! MEDEIA
Wehe, o weh! WÄRTER
Wie klirrt dieser Schrei in den frohen Bericht? MEDEIA
Wehe und nochmals wehe! WÄRTER
Hab ich wirklich so böse Kunde gebracht? 252
Und glaubte, der Bote des Glücks zu sein! MEDEIA
Dich trifft kein Vorwurf, du sprachst, was du sprachst. WARTER Was starrst du zu Boden und weinst und weinst? MEDEIA
Wie muß ich beklagen, was Götter verhängt, Was mein Wahn sich selber ins Werk gesetzt! WARTER Sei getrost, dich geleiten die Söhne zurück. MEDEIA
Erst geleite ich andre zu ihrer Ruh! WARTER Wie oft wurden Mütter und Kinder getrennt! Der Mensch muß sich fügen in jedes Geschick. MEDEIA
Ich will es tragen. Doch geh jetzt hinein Und besorge den Knaben des Tages Bedarf! Wärter a b
Ach, ihr Kinder habt immer noch gastliches Haus, Das ihr fern von der Mutter als Waisen bewohnt. Ich ziehe verstoßen in anderes Land, Darf mich euer nicht freun, euer Glück nicht sehn, Euch die Braut nicht führen in euer Haus, Euch die Fackel nicht halten am Hochzeitsbett. Welches Unglück schuf mir mein trotziger Sinn! Vergeblich zog ich euch beide auf, Vergeblich ertrug ich Sorgen und Müh, Vergeblich schon die Qual der Geburt, Was erhofft ich alles von eurer Hand, Des Alters Pflege, den Totenschmuck, Zum Neid aller andern! Nun schwand er dahin, Der süße Glaube. Wo ihr nicht seid, ist das Leben nur bitter und schmerzliche Last. Eure lieben Augen, sie werden nicht mehr Eure Mutter schauen, ihr seid schon bestimmt Für andere Seite des Lebens. Oh, oh!
Wie schaut ihr mich an, wie fliegt euch so süß Euer letztes Lachen übers Gesicht! 253
Was tun, ihr Frauen? Mir schwand aller Mut, Als ins strahlende Aug ich den Kindern sah. Wie könnt ichs vollenden — fahr wohl, mein Entschluß! Ich zieh mit den Söhnen ins fremde Land. Schwer träfe den Vater der Kinder Leid, Doch die Mutter trüge die doppelte Last. Das darf nicht sein, darum fort mit dem Plan! — Wohin trieb ich? So soll ich ihn schonen und soll Der Feind mich noch höhnen? Ich stehe zur Tat. Besiege die Schwachheit, mein elendes Herz! Geht ins Haus, ihr Kinder! Wen Scheu vertreibt Von dem Opfer, der ziehe den eigenen Weg Und lähme nicht länger des Opferers Hand! — Nein! Nein! Du wildes Herz, unseliges Herz, Verschone die Kinder, laß ab vom Werk,
Wo immer sie weilen, sie bleiben dein Stolz. — Doch wie? Bei den Geistern des unteren Reichs! Nie dürfen sie fallen in Feindes Hand, In Schande und Not! Ihr Tod ist gewiß, Und da er gewiß, wird mit eigener Hand Die Mutter zerstören, was einst sie gebar. Ganz unabwendbar ist dieses Los. Schon schmückt sich zum Tode die fürstliche Braut Mit dem Kleid und der Krone, zum sicheren Tod. So schreite ich selber unseligsten Weg Und schicke die Knaben noch schlimmeren Pfad. Noch einmal, ihr Kinder, zu euch! O reicht Eurer Mutter die Hände zu innigstem Gruß! Liebste Hand! Liebstes Haupt! O du liebste Gestalt! Schönstes Antlitz! Lebt wohl — dort im unteren Reich! Das obere nahm euch der Vater hinweg. O siißes Umfangen! Du zarteste Haut! O reinster Hauch eures Mundes! Geht, geht! Knaben gehen ins Haus
Nicht vermag ich euch länger ins Auge zu schaún, Die Not ist zu groß und sie lehrt mich zu spät,
Wie furchtbare Tat ich verrichten muß. Der klare Verstand weicht dem dunklen Trieb, Diesem Unheilstifter in aller Welt! 254
CHOR
Wie bin ich so oft Auf schmalerem Pfad der Gedanken gewandelt, Zu steilerem Gipfel des Fragens gestiegen, Als Frauen geziemt! Aber auch uns besuchen die Musen; Göttin des Wissens, Sie findet auch uns. Findet nicht alle, Von tausend nur eine, Doch die Erwählte, Sie folgt dem Ruf. So darf ich euch lehren: Die niemals Geburt oder Zeugung erfuhren, Sie stehen voran auf den Stufen des Glücks. Der Kinderlose Tappt nie im Dunkeln, Fragt nie, ob zum Glück, Ob zum Fluch ihm die neuen Geburten bestimmt sind, Ist tausend Qualen entrückt. Doch welche im Hause Lieblicher Haufe der Kinder umspielt, Ewig verzehrt sie die nagende Sorge Um tägliches Brot, Um ein kärgliches Erbe — Noch mehr: ob um schlechte, Um gute Art sie sich mühn, Bleibt lange Den Eltern verborgen. Eines bleibt immer das äußerste Leid, Das Zeugenden droht: Sind reich auch die Kinder bedacht Und wuchsen sie glücklich heran, Erwiesen sie tüchtigen Sinn — Plötzlich kann jener Dämon erscheinen, Nimmt sie der Tod hinweg, Trägt sie ins untere Reich. O sinnloses Leben, Wenn Götter den Menschen Zu allen den anderen Leiden 255
Häufen das äußerste Leid: Der Kinder Verscheiden! MEDEIA
Schon lang erwart ich mit Ungeduld, Ihr Lieben, was dort im Palast sich begibt. Da seh ich den Mann aus des Jason Gefolg Mit keuchendem Atem herbeigestürzt, Der nur neues Unheil verkünden kann. DIENER DES JASON O furchtbares Werk, verruchteste Tat! Flieh, flieh, Medeia, mit Schiffen des Meers, Mit Wagen der Straße! Nur fort und flieh! MEDEIA
Und was stürzt mich in diese eilige Flucht? DIENER Soeben raffte dein grausames Gift Unsre Fürstin und ihren Vater hinweg! MEDEIA
O freudigste Botschaft! O treuester Freund! Für ewig steh ich in deiner Schuld! DIENER Bist du ganz von Sinnen? Du hast den Herd Dieser Fürsten zertrümmert und schauderst nicht? MEDEIA
Viel könnt ich erwidern auf solches Wort, Mein hastiger Freund. Doch gib mir Bericht, Wie sie starben, und doppelt erquickst du mein Herz, Wenn sie beide erlitten den qualvollsten Tod. DIENER Der Knaben Paar trat ins Hochzeitshaus Mit dem Vater Jason und hocherfreut Sahens alle Diener, die mit dir geweint, Und es flog ein Raunen von Mund zu Mund, Daß der Gatten Zwist nun begraben sei. Wir küßten die Hände, das blonde Gelock Deiner Söhne; ich selber lief völlig entzückt Hinter ihnen hinein in der Frauen Gemach. Die Frau, die uns jetzt statt deiner befiehlt, Bemerkte erst später der Kinder Gespann, So war sie von Jasons Erscheinung gebannt. 25
Kaum sieht sie das Paar, deckt voll Abscheu sie Ihre Augen und wendet das zarte Gesicht. Doch dein Gatte verscheuchte des Mädchens Groll. »Warum bist du., so sagt er, »den Meinen so feind? Bezwinge dein Herz und wende dein Haupt Und laß meine Lieben die Deinigen sein! Sie bringen dir Gaben, so bitte für mich Deinen Vater, die Knaben zu lösen vom Bann!« Kaum sah sie den Schmuck, widerstand sie nicht mehr, Sagte alles zu, und eh noch der Mann Mit den Kindern sich weit vom Palast entfernt, Trug sie schon das Gewand, trug sie schon den Schmuck, Flocht neu vor dem Spiegel der Haare Gelock Und lächelte selig zum Ebenbild. Dann verließ sie den Sessel, durchschritt das Gemach Mit des schimmernden Fußes wiegendem Schritt, Trug stolz ihre Krone erhobenen Haupts, Sah stolz auf den Fall ihres neuen Gewands. Was weiter geschah, war ein grausiges Bild. Sie wechselt die Farbe und taumelt zurück, Schleppt mit zitternden Gliedern sich wieder zum Stuhl, Erreicht ihn mit Not und sinkt auf den Sitz. Eine alte Dienerin schreit laut auf, Wähnt, daß Pan sie mit göttlichem Schrecken schlug, Bis sie sieht, daß dem Mund weißer Schaum entquillt, Daß die Augen sich drehn, jede Farbe entflieht. Da schickt sie dem Schrei laute Klagen nach, Man stürzt zu dem Vater, zum neuen Gemahl, Das Unheil zu melden, der ganze Palast Erdröhnt von den Tritten, vom Hin und vom Her. Und sie lag so lang, als ein Läufer braucht, Um die Rennbahn ganz zu durchmessen, still Mit geschlossenem Aug. Dann erwachte sie jäh Mit lautem Wehschrei, von doppeltem Schmerz: Von der goldenen Krone auf ihrem Haupt Troff seltsam verzehrender Feuerstrom Und das Seidengewand, das die Kinder gebracht, Fraß sich tief in das zarte Gewebe der Haut. Sie springt auf, zu entrinnen der feurigen Glut, Schüttelt wild ihre Locken, die Krone vom Haupt Zu schleudern — die sitzt wie ein eiserner Ring 257
Und im Schwung flammt das Feuer nur mächtiger auf. Da stürzt sie vor Qualen zu Boden, es bleibt Keinem Vater mehr kenntlich die Form, die er schuf,
So war gänzlich zerstört ihrer Augen Bereich Und das schöne Antlitz, es troff das Blut Mit Feuer vermischt ihr vom Scheitel, das Fleisch Schmolz herab von den Knochen wie Fichtenharz: Unsichtbar fraßen die Zähne des Gifts. Ein furchtbares Bild! Von ihm schrecklich belehrt, Wagt sich keiner von uns an die Tote heran. Da stürzt plötzlich der Vater herein, und er wirft, Nichts ahnend vom Gift, sich über sein Kind, Klagt laut und umarmt es und küßt es und ruft:
»Welcher Dämon hat dich so grausam zerstört, Unglückliches Kind, und am Rande des Grabs Deinen Vater verwaist? O stürb ich mir dir!« Und als er sein Jammern und Klagen gestillt, Wollt er lösen vom Kind seine greise Gestalt; Doch blieb, wie der Efeu am Lorbeerstamm, Er am Seidenkleid haften. Ein furchtbarer Kampf Beginnt: Will er heben das Knie, so läßt Ihn die Leiche nicht los, und braucht er Gewalt, Reißt er selbst von den Knochen sein welkendes Fleisch. Spät endet das Spiel: der Unselige haucht, Von den Qualen besiegt, seinen letzten Hauch. So liegen sie beide, der Greis und sein Kind, Allen Tränenfluten ein würdiges Ziel. Von dir will ich schweigen und, wie du entrinnst Deiner Strafe, das muß deine Sorge sein; Doch, daß Menschending nur ein Schatten ist, Erwies sich aufs neue. Ich sags ohne Scheu: Die Weisen und Klugen auf dieser Welt Sind die größten Toren; kein Sterblicher kennt Das Glück, und erhebt ihn auch Gold oder Rang: Glückselig kann er nicht heißen. ab CHORFÜHRERIN
Viel Leid hat heut ein gerechter Gott Um Jason gehäuft. Wir beklagen dein Los, Tochter Kreons, unseliges Fürstenkind, Das um Jason hinab in den Hades ging. 2S8
MEDEIA
Nun ist es beschlossen, ihr Frauen, ich muß Meine Kinder töten und ohne Verzug Dieses Land verlassen. Schon droht die Gefahr, Daß sie fallen in mördrische Hände des Feinds. Mein Herz, werde stark! Was schreckst du zurück Vor dem harten, doch unabdingbaren Werk? Unseligste Hand, ergreife das Schwert, Entriegle die Pforten des Trauerlands! Sei nicht feig, vergiß jetzt das süße Glück, das du einst gebarst! Nur den kurzen Tag! Dann weine in Strömen! Sie sind ja dein Glück, Auch wenn du sie tötest, unseligstes Weib! ab
CHOR O schaue herauf, Mutter Erde! O schaue herab, Strahl der Sonne, Bevor die unselige Frau Blutige Hand an die Kinder legt! Deinem goldenen Samen Ist sie entsprungen — Göttlichem Blut Droht der Tod von Menschenhand. Rette, du göttliches Licht, Hemme den Arm, Scheuche vom Hause den Mord, Verjage die Blutgier Der Rachegeister! Umsonst verrann alle Mühe, Umsonst gebarst du die Lieben, Durchquertest unwirtlichen Paß Schwärzlich drohenden Felsentors! Feuer furchtbaren Grolles Hat dich befallen — Weh, diese Glut Wird doch nur vom Blut gelöscht! Mordlast eigenen Bluts Ruht auf dem Land, Fällt auf den Mörder zurück, 259
Ruft Rache der Götter Auf ganze Häuser! CHOR mit Rufen der Knaben
Hörst du die Rufe, o hörst du die Knaben? Weh dir, o weh, Unglückselige Mutter! Rufe von innen:
Wohin fliehn, wohin fliehn vor der Mutter Hand? — Ich weiß nicht, mein Bruder. Das ist schon der Tod ! CHOR Dringen wir ein, Wehren wir schnell Dem blutigen Werke! Rufe von innen:
Bei den Göttern, so helft uns in äußerster Not! Das Schwert rückt näher! Nun sind wir im Netz. CHOR Ist dein Herz ein Stein? Ist es hart wie Stahl? Deiner Knaben Saat, Die du liebend gebarst, Mähst du mit tödlicher Hand! Eine nur weiß ich, nur eine vor Alters Legte die Hand An die eigenen Kinder: Die rasende Ino, ein Opfer des Wahns, Von der Gattin des Zeus in die Irre verbannt, Sprang in die Flut, Löschte den Mord Der eigenen Söhne. Von steiler Klippe sprang sie hinab, Zu teilen erschlagener Kinder Los. Gibt es schlimmeres Ding Als der Frauen Bett? O du Quelle der Qual, Welche Ströme der Qual Hast du den Menschen gesandt!
260
JASON
Ihr Frauen, so nah vor Medeias Haus, Ist die Mörderin hier oder ist sie geflohn? Und wie will sie der Strafe entrinnen? Wohin? Wenn der Schoß der Erde sie nicht verbirgt, Wenn kein Flügel sie hoch in die Luft entführt, So büßt sie den Herrschern die grausige Tat. Doch gedenk ich der Kinder und nicht dieses Weibs, Das den Lohn empfängt aus des Rächers Hand; Ja, der Kinder, die schleunigst ich retten will, Bevor noch die Sippe des Königs die Tat Ihrer Mutter sie furchtbar entgelten läßt. CHORFÜHRERIN Armer Jason, du kennst nicht dein ganzes Leid, Sonst hättest du all diese Worte gespart. JASON
Wie? Hat sie mich selber dem Tod bestimmt? CHORFÜHRERIN Deine Söhne erschlug sie mit eigener Hand. JASON
O weh mir, was sagst du, du tötest mich! CHORFÜHRERIN Such sie nicht mehr unter den Lebenden! JASON
Wo geschah es? Im Freien? Hier drinnen im Haus? CHORFÜHRERIN Mach das Tor auf, da liegt das erschlagene Paar! JASON
Die Riegel zurück und auf mit dem Schloß! Ich will dieses doppelte Unheil sehn: Die Knaben schon tot und die Mörderin, Die mein Schwert auf der Stelle zum Hades schickt! das Gefolge öffnet:Medeia steht auf dem Drachenwagen neben den Leichen der Kinder MEDEIA
Du rüttelst am Schloß, hebst die Flügel aus, Suchst die Toten und suchst ihre Mörderin — Vergebliche Müh! Wenn du meiner bedarfst, So sag dein Begehr, doch berühre mich nicht! Diesen Wagen sandte mir Helios, Mein Ahnherr beschützt mich vor jedem Feind. 261
JASON
Du Greuel, in innerster Seele verhaßt Den Göttern und mir und dem Menschengeschlecht, Hast die Hand an die eigenen Kinder gelegt, Nahmst die Knaben und nahmst mir das Leben hinweg Und schaust nach der ekelerregenden Tat Noch die Erde an und das Sonnenlicht. Sei verflucht! Nun weiß ich, und weiß es zu spät, Welches Scheusal ich einst vom barbarischen Land
Nach Hellas brachte, Verräterin Am eigenen Vater und Vaterland. Solchen Teufel hat mir die Hölle gesandt: Erst schlugst du am Herd noch den Bruder tot, Dann stiegst du zu mir in das Griechenschiff. So begannst du. Dann wurdest du mir vermählt, Gebarst mir Kinder und brachtest sie um, Nur aus Bettneid. Das hätte kein griechisches Weib Je gewagt! Und dich hab ich vor allen erwählt, Ein Weib des Zanks und des Meuchelmords, Ja kein Weib: eine Löwin und wilderes Tier Als Skylla, des Westmeers Verwüsterin. Doch auch tausend Flüche erschütterten nicht Deine freche Seele; so fahre dahin, Kindermörderin, Hure, verrufenes Weib! Mir bleibt nur die Klage um finsteren Stern, Um verlorenes Glück meines neuen Betts, Um die Saat, die ich zeugte und glücklich erzog, Die mein Mund nicht mehr grüßt, die ich ewig verlor. MEDEIA
Vieles könnt ich erwidern, doch richtet Zeus, Er weiß, was du nahmst, und weiß, was du gabst. Ihr durftet, nachdem du mein Bett entehrt, Nicht lachend ins Land aller Freuden ziehn, Noch sollte der König, der Stifter des Bunds, Mich ungestraft stoßen aus seinem Land. Nenne ruhig mich Löwin und Skylla, ich traf Dich nach deinem Verdienst in dein innerstes Herz. JASON
Und trafst dich selber im gleichen Stoß! MEDEIA
Die Wunde heilt, wenn dein Lachen erstirbt. 262
JASON
Ach, euch Knaben gebar das verruchteste Weib! MEDEIA
Und ein rasender Vater gab euch den Tod. JASON
Führten diese Hände den tödlichen Streich? MEDEIA
Nicht die Hand, doch dein schändlicher Ehebruch. JASON
Zweite Ehe, erlaubt sie den Kindermord? MEDEIA
Du glaubst, eine Frau nimmt das leicht in den Kauf? JASON
Jede kluge; du kennst nur Verdorbenheit. MEDEIA
Sieh die ewige Strafe: die Söhne sind tot. JASON
Als Furien schwirren sie um dein Haupt. MEDEIA
Die Götter kennen den Stifter des Leids. JASON
Sie kennen dein grauenerregendes Herz! MEDEIA
Hasse weiter, doch ende das ekle Gekeif! JASON
Und du deines. Wie fällt uns der Abschied leicht! MEDEIA
Ich nähme ihn gern, doch du zauderst noch. JASON
Gib die Toten für Grab und für Klage heraus! MEDEIA
Niemals! Ich begrab sie mit eigener Hand Auf der Hera hochheiligem Berg, und es soll Keine Feindhand erbrechen und schänden das Grab! Und ich stifte Korinth hohen Festes Brauch Zur ewigen Sühne für blutige Tat. Ich selber zieh in Erechtheus' Land Zu Aigeus, dem Sohne des Pandion. Du stirbst einst gerechten und elenden Tod, Getroffen vom Balken des Ruderschiffs, Das die alte Brautfahrt bitter beschließt! 263
der Wagen erhebt sich in die Luft JASON
Fluchgeist der Kinder, Mordende Göttin des Rechts Soll dich vernichten! MEDEIA
Welcher Gott, welcher Geist Leiht dir sein Ohr, Der das Gastrecht bricht, Falsche Eide schwört? JASON
Sei verflucht, du verruchte
Mördrin der Söhne! MEDEIA
Kehre heim zum Palast, Begrabe die Braut! JASON
Soll ich ziehen, Soll ich lassen Meine Knaben? MEDEIA
Du wirst klagen, Du wirst stöhnen Bis zum Grabe! JASON
Ihr liebsten Kinder, o liebe Söhne! MEDEIA
Der Mutter waren sie lieb, nicht dir! JASON
Und du hast sie getötet! MEDEIA
Um dich zu töten. JASON
Weh, wie verlangt mich, Lieblichsten Mund Der Knaben zu küssen! MEDEIA
Jetzt willst du sie grüßen, Jetzt willst du sie küssen, Stießest sie damals hinweg! 264
JASON
Laß mich, ich flehe, Zarteste Wange Der Knaben berühren! MEDEIA
Genug aller Worte, Spare die Bitten, Es wird nicht geschehn! sie entschwindet
J ASON
Vernahmst du, Zeus, Wie sie mich fortstieß, Was ich erlitt Von reißender Löwin, Die eigene Brut verschlang? Doch bleibt mir das eine, Das eine vermag ich: Zu klagen, zu jammern Und ewige Geister Als Zeugen zu rufen: Sie erschlug die Kinder und läßt Nicht mich die Knaben berühren, Nicht diese Toten bestatten! O hätt ich nie diese Kinder gezeugt, Sie erschlagen zu sehen Von deiner Hand! ab CHOR
im Abziehen
Alles verwaltet Zeus im Olympos, Niemals Geahntes Bereiten die Götter. Was wir erhofften, Es ward nicht vollendet — Wo wir die Hoffnung begruben, Fanden die Götter den Weg. So geschah es Auch hier.
26
Das Theater von Epidauros 266
Die Komödie Die Komödie, deren Ursprünge weitgehend im Dunkeln liegen, gilt als jüngere Schwester der Tragödie — wenigstens insofern, als ihre Institutionalisierung durch den Staat (Auswahl der Stücke, Bestellung eines Choregen für die Inszenierung, Wettbewerb und Preiserteilung) später erst erfolgte. Auch sie steht im Dienste des Dionysos und hat ihren festen Platz an den Dionysosfesten, an einem Tag der »Großen« (vor den Tragödien), vor allem aber an den »Kleinen Dionysien«, den »Lenäen«, die zu Anfang des Jahres gefeiert wurden. Es wurden in der Regel fünf Komödien zum Wettbewerb zugelassen. Die äußere Form folgt weitgehend der Tragödie, doch werden Chor (und Publikum!) stärker in das Gesamtgeschehen mit einbezogen. »Verfremdungseffekte«, wie wir heute sagen würden, tragen zur Wirkung bei, vor allem in der »Parabase«, einem oft mit der Handlung kaum verbundenen Stück zwischen den Akten, in dem sich der Dichter in eigener Person über öffentliche Angelegenheiten ausläßt. Die Stoffe der Stücke sind nicht -- wie in der Tragödie — an den Mythos gebunden, sondern frei und frech erfunden mit einer überwältigenden Buntheit der Themen. Doch ist — neben burlesken Scherzen selbst unanständiger Art (ein uraltes Requisit, auch bei unseren »Hanswurstiaden« !) — die Kritik und der Spott an Einrichtungen, politischen Maßnahmen und selbst Personen der Öffentlichkeit wohl das Element, das die meisten Stücke der sogenannten »Alten Komödie« charakterisiert, die damit auch volkserziehend wirkte.
ARISTOPHANES gehört neben Kratylos und Eupolis zu einer Trias konkurrierender Komödiendichter; aber nur von ihm sind II Stücke (von über 40) ganz erhalten. Der Dichter ist gegen 445 geboren und stammt aus dem Demos Kydathen (der heutigen »Plaka«), doch scheint sein Vater Philippos auch Ländereien auf der Insel Aigina besessen zu haben. Sein ältestes erhaltenes Drama, das ihm zugleich einen ersten Preis einbrachte, sind die »Acharner« vom Jahre 425 v. Chr., sein letztes, »Plutos« (Der Reichtum), kam im Jahre 388 zur Aufführung. Gestorben ist er etwa 385. Seine drei Söhne pflegten das Erbe des Vaters. — Aristophanes hat wegen seiner ernsten pädagogischen Absichten einen Ehrenplatz in Platons »Gastmahl« (Symposion) erhalten und wird noch von Goethe, der ihn wegen seiner Kritik an Euripides und seiner Derbheiten nicht mochte, immerhin (im Anschluß an ein Epigramm Platons) der »ungezogene Liebling der Grazien« genannt. 267
Seine «Frösche« (Bátrachoi) wurden im Jahre 4o5 aufgeführt, kurz vor dem unseligen Ende des Peloponnesischen Kriegs und kurz nach dem Tod des Euripides und des Sophokles. Das Stück gliedert sich in einen burlesken ersten Teil, in dem sich der Theatergott Dionysos mit seinem Diener Xanthias — ein Paar ähnlich Don Quijote und Sancho Pansa — in das Totenreich begibt mit der Absicht, für die nunmehr verwaiste Bühne den »besten Dichter« aus dem Hades zurückzuholen, und einen ernsteren zweiten Teil, der durch die »Parabase« deutlich abgetrennt ist, in dem sich schließlich Aischvlos und nicht Euripides als »bester Dichter« erweist. Mit der Beurlaubung des Aischylos durch Pluton, den Herrn der Unterwelt, schließt das Stück, das somit nicht nur ein Abgesang auf die große tragische Kunst ist, sondern zugleich mit seiner ernsten Kritik an den politischen Mißständen der Zeit und an dem »Schwindelgeist« der Sophistik eine Mahnung zur Besinnung an das athenische Volk darstellt.
268
DIE FROSCH E
Die Personen des Stücks XANTHIAS, Sklave des Dionysos DIONYSOS, der Gott des Theaters und des Weins HERAKLES, der Heros ein Toter CHARON, der Totenfährmann AIAKOS, Torwächter der Unterwelt Magd der Unterweltskönigin Persephone Zwei Wirtinnen Sklave des Pluton EURIPIDES, AISCHILOS, die Tragödiendichter PLUTON, König der Unterwelt Sklaven, die »Muse« des Euripides CHOR : Die Frösche (unsichtbar), dann: Die Mysten
Schauplatz: Stationen auf dem Wege in die Unterwelt, dann die Unterwelt, vor dem Palaste des Pluton. Zeit der Aufführung: Am Lenäenfest (Januar/Februar) 405 v. Chr. Die »Frösche« gewannen den 1. Preis, den 2. Phrynichos mit den »Musen«, den 3. Platon (der Komiker) mit dem »Kleophon«.
Straße mit einem Haus. — Dionysos im safranfarbenen Prachtgewand, dazu, wie Herakles, mit Löwenfell und Keule; mit ihm, mit Gepäck beladen und auf einem Esel reitend, Xanthias. XANTHIAS
Herr, fang ich wohl mit Späßen, von der Sorte Der ordinären stets belachten, an? DIONYSOS Meinthaib, so viel du willst, nur kein: »Mich drückt's!« Das laß mir weg; ich hab's zum Ekel satt. XANTHIAS Doch sonst was Schnurriges? DIONYSOS Nur nicht: »Mich kneift's !« XANTHIAS 'nen Kapitalspaß also? 269
DIONYSOS
Ja, bei Zeus, Nur herzhaft los! — Doch hör, kein Wort — XANTH IAS XANT Wovon? DIONYSOS
Dich kackre, und du wollst dir's leichter machen! XANTHIAS Auch nicht: »Wenn ich mich länger mit dem Pack Noch schleppen muß und keiner hilft, so furz ich«? DIONYSOS
Um Himmels willen, nein, mir würde übel! XANTHIAS
Warum denn muß ich die Bagage tragen, Wenn mir verboten ist, was Phrynichos Und Lykis und Ameipsias sagen lassen, Sooft bepackt im Stück ein Träger kommt? DIONYSOS Nein, laß du das! Denn spielt man im Theater Mir solche Handwerkskniffe vor, da komm Ich älter um ein volles Jahr nach Haus. XANTHIAS
O du, mein armer, unglücksel'ger Hals, So schwer gedrückt, und sollst den Witz verschlucken! I)!ONYSOS
Und dann, wie hast du's? Üppig und bequem! Und ich Dionysos, Humpens Sohn, ich geh Zu Fuß und lauf mich müd und laß dich reiten, Nur daß du nicht so schwer zu tragen hast! ANTHIAS
(
So? Trag ich nicht? )IoNYsos Wie trägst du, wenn du reitest?
~ ANTHIAS
Ich trage, sieh! I )IONYSOS
Wieso? XANTHIAS
Entsetzlich schwer! DIONYSOS
Was du da trägst, das trägt der Esel ja. 2 7c
XANTHIAS Der Esel? Was ich selbst belastet trage? DIONYSOS Wie kannst du tragen, wenn dich einer trägt? XANTHIAS Das weiß ich nicht, doch drückt mir meine Schulter. DIONYSOS Nun gut, wenn dir der Esel doch nichts nützt, So pack ihn auf und trage ihn einmal! XANTHIAS Daß Gott erbarm! Hätt ich nur mitgefochten Zur See! Ich wollte dich schon Mores lehren! DIONYSOS Steig ab, du Schlingel! Denn da bin ich ja Schon an der Haustür, wo ich allererst Vorsprechen muß. Heftig pochend
He, Junge, Jüngelchen! Xanthias mit seinem Pack steigt vom Esel; Esel ab.
HERAKLES unter der Tür Wer hat geklopft, wer ist wie ein Kentaur
Ans Tor geprallt? Sag an, was soll das heißen? DIONYSOS leise zu Xanthias
He, Junge! XANTHIAS Ja? DIONYSOS Hast du bemerkt — XANTHIAS Bemerkt? DIONYSOS — wie der in Angst war? XANTHIAS Ja — daß du verrückt seist! HERAKLES laut auflachend
Bei Gott, das Lachen halt ich länger nicht; Wie ich die Lippen beiß, es platzt heraus! 271
DIONYSOS
Mein Bester, komm, ich muß dich etwas bitten. HERAKLES Ich halt's nicht aus, ich berste noch vor Lachen! Das Safrankleid, die Löwenhaut darüber, Kothurn und Keule — paßt zusammen, prächtig! Wo warst du? DIONYSOS Ich bestieg den Kleisthenes! HERAKLES So warst du bei der Seeschlacht? DIONYSOS Ja, wir bohrten Ein Dutzend Schiff und drüber in den Grund. HERAKLES Ihr zwei? DIONYSOS Beim Phoibos! XANTHIAS ironisch
— Und da wacht ich auf! DIONYSOS Und wie zu Schiff ich die Andromeda So für mich las, da klopfte plötzlich mir Das Herz in großer Sehnsucht, denk dir nur! HERAKLES Wie groß war sie? DIONYSOS So klein wie Molon wohl. HERAKLES War's nach 'nem Weib? DIONYSOS O nein! HERAKLES 'nem Knaben? DIONYSOS Nein! HERAKLES 'nem Mann? DIONYSOS Ja! Ach! 272
HERAKLES Du triebst's mit Kleisthenes? DIONYSOS Hör, Bruder, keinen Spott! — 's ist schlimm genug, Daß solche Sehnsucht mir am Herzen frißt. HERAKLES Wie denn, mein Brüderchen? DIONYSOS Ich kann's nicht sagen, Nur durch ein Gleichnis mach ich's klar: Bekamst Du nie auf einmal Lust nach Bohnenbrei? HERAKLES Potz! Bohnenbrei? Schon hunderttausendmal! DIONYSOS »Lehr ich ein deutlich Wort«, oder braucht's noch mehr? HERAKLES Nicht von dem Brei! Den kenn ich aus dem Grund! DIONYSOS Solch eine Sehnsucht nagt an mir jetzt nach Euripides. HERAKLES Nach dem? Der ist ja tot! DIONYSOS Ich muß zu ihm, das redet mir kein Mensch Auf Erden aus! HERAKLES Hinunter in den Hades? DIONYSOS Beim Zeus, und wenn es sein muß, auch noch tiefer! HERAKLES Was suchst du drunten? DIONYSOS Einen guten Dichter; »Tot sind die einen; die da leben, schlecht!« HERAKLES Wie, lebt nicht Iophon ? DIONYSOS Der ist allein Was Tücht'ges noch, wenn er's denn wirklich ist; Denn seiner auch bin ich noch nicht gewiß.
273
HERAKLES
So hole doch, wenn's sein muß, Sophokles, Der ist doch größer als Euripides! DIONYSOS
Nein, prüfen muß ich Iophons Metall, Wie er allein klingt, ohne Sophokles. Auch würd Euripides, der Erzschelm, schon Den Weg erspähn, mit mir davonzurennen. Doch Sophokles war hier, ist dort zufrieden. HERAKLES
Und wo ist Agathon? DIONYSOS
Der lief mir fort: Ein guter Dichter und den Freunden lieb! HERAKLES
Weh! — Und wohin? DIONYSOS
Zum Schmaus der Seligen. HERAKLES
Doch Xenokles? DIONYSOS
Den hol der Henker nur! HERAKLES
Pythangelos? XANTHIAS
halblaut für sich:
Von mir ist nicht die Rede, Mit meiner armen, wundgeriebnen Schulter! HERAKLES
Ihr habt ja dort noch andre Bürschchen, nicht? Die euch Tragödien machen, tausendweis, Und weit geschwätziger als Euripides! DIONYSOS
'ne saubre Stoppelernte! Schnatterenten!
»Ein Musenhain von Schwalben«, lauter Stümper, Die schon dahin sind, kaum daß beim Debüt Sie die Tragödie lediglich bepißten; Doch einen zeugungsfähigen Dichter suchst Du jetzt umsonst, der was Gescheites schaffte. HERAKLES
Wie, zeugungsfähig? 274
DIONYSOS
Einen, der noch kühn
Zu solch gewagter Sprache sich erhebt: »0 Äther, Zeus' Behausung!« — »Fuß der Zeit!« — »Das Herz, dem Schwur beim Heiligsten sich sträubend, Der Zunge Meineid, den das Herz nicht kennt!« HERAKLES Gefällt dir das? DIONYSOS Gefallen? Mich entzückt's! HERAKLES Schnurrpf eif erein, das mußt du doch gestehn! DIONYsos »Haus' nicht in meinem Geist« — du hast dein Haus! HERAKLES Nun: mir erscheint es einfach schändlich! DIONYSOS
Lehr du Mich fressen! XANTHIAS
beiseit
Und von mir ist nicht die Rede! DIONYSOS
Indes, warum ich also kostümiert, Dein Ebenbild, hierherkam: sag mir deine Bekannten, für den Notfall, bin ich, die
Dich aufgenommen, als den Kerberos Du einst geholt; auch Häfen, Bäckerläden, Lustgärten und Bordelle, Wege, Brunnen, Gasthäuser, Nachtquartiere, wo der Wanzen Nicht allzuviel! XANTHIAS
beiseit
Von mir ist nicht die Rede! HERAKLES Du armer Schelm, willst auch hinab dich wagen? DIONYSOS Nichts mehr dawider! Nenne mir den Weg,
Der uns am schnellsten in den Hades führt; Doch hätt ich's nicht gern heiß noch allzu kalt.
275
HERAKLES
Nun, welchen nenn ich dir zuerst? Laß sehn!
Der eine, über Strick und Schemel — wenn Du dich erhängst. DIONYSOS
Oh, der ist zum Ersticken! HERAKLES Ein Pfad sodann, nicht lang und wohlgestampft, Der durch den Mörser. DIONYSOS Schierling meinst du? HERAKLES Ja! DIONYSOS Der ist mir doch zu kalt und winterlich; Da werden einem starr wie Eis die Schenkel. HERAKLES Soll's einer sein, der rasch bergunter führt? DIONYSOS O ja, ich bin nicht eben gut zu Fuß. HERAKLES Zum Kerameikos schlendre hin! DIONYSOS Und dann? HERAKLES Steig auf den hohen Turm. DIONYSOS Was mach ich dort? HERAKLES Gib Achtung, wenn der Fackellauf beginnt; Und schreit das Publikum dann: Los! — sofort Auch los mit dir! DIONYSOS Wohin? HERAKLES Den Turm hinab! DIONYSOS Da bräch ich vom Gehirn mir wohl die Schalen! Den Weg probier ich nicht! HERAKLES Nun, welchen denn? 276
DIONYSOS
Den du gemacht. HERAKLES Das ist 'ne weite Fahrt! Da kommst du gleich zu einem großen See, Entsetzlich tief. DIONYSOS Wie komm ich da hinüber? HERAKLES mit den Fingern die Form einer :'\'uf3schale bildend
In solchem winz'gen Kahne setzt dich über Der alte Fährmann dort für zwei Obolen. DIONYSOS Pfui! Überall sind doch die zwei Obolen mächtig! Wie kamen sie denn dorthin? HERAKLES Nun, durch Theseus! Dann wirst du Schlangen, Ungeheuer sehn, Unzählig, scheußlich! DIONYSOS Mach mir keine Angst, Du schreckst mich doch nicht ab! HERAKLES Dann Moor und Sumpf, Und Seen von Menschenkot, darin sich wälzt, Wer je das Gastrecht frevlerisch verletzt, Wer einen Knaben braucht und nicht bezahlt, Die Mutter prügelt und ins Angesicht Den Vater schlägt, wer einen Meineid schwört, Und -- abschreibt einen Vers von Morsimos. DIONYSOS Bei Gott, da muß auch hin, wer je gelernt Ein Waffentanzlied von Kinesias! HERAKLES Dann wird dich süßer Flötenhauch umwehn Und schönstes Sonnenlicht, wie hier, und Haine Von Myrten, wo in sel'gen Scharen Frauen Und Männer ziehn mit Sang und Händeklatschen. DIONYSOS Wer sind denn die? 277
HERAKLES
Das sind die Eingeweihten — XANTHIAS beiseit
Und ich bin Esel beim Mysterium! Nein, länger trag ich die Bagage nicht! Wirft sein Bündel weg. HERAKLES
— die sagen haarklein alles Nöt'ge dir. Denn ganz zunächst am Wege wohnen sie, Der führt zu Plutons Pforte. — Nun, Herr Bruder, Glück auf die Reise! DIONYSOS Gehab auch du dich wohl! Herakles ab DIONYSOS
zu Xanthias
Du aber pack dein Bündel wieder auf! XANTHIAS Eh ich's recht weggelegt? DIONYSOS Und das geschwind! XANTHIAS Ich bitte, miet doch einen, den man just Zu Grabe trägt und der dazu bereit ist! DIONYsOS Und find ich keinen? XANTHIAS Trag ich weiter! DIONYSOS Gut! — Da kommt ein Leichenzug; gerade recht! Zu einem Toten, den man auf offener Bahre vorüberträgt
Du da, du da, dich mein ich, Toter, he! Mann, nimmst du mir den Pack zum Hades mit! TOTER sich aufrichtend
Wie groß? DIONYSOS Da sieh! 278
TOTER
Du zahlst zwei Drachmen Lohn? DIONYSOS Mach's billiger! TOTER sich abwendend
Geht eures Wegs, ihr Träger! DIONYSOS Halt, wunderlicher Kauz, laß mit dir reden! TOTER Zwei Drachmen, bar erlegt, sonst still davon! DIONYSOS Nimm neun Obolen! TOTER legt sich wieder zurück
Da möcht ich eher — leben! Wird weitergetragen. XANTH IAS
Wie vornehm, der verfluchte Kerl! Ihn soll... Jetzt trag ich selbst! DIONYSOS Du bist ein Ehrenmann! Komm, auf zum Kahn! CHARON erscheint rudernd auf dem Nachen
Hauruck! Stopp, angelegt! XANTHIAS Was ist denn das? DIONYSOS Der See, bei Gott, von dem Er sprach, und auch den Nachen seh ich dort! XANTHIAS Beim Wetter, ja, und Charon selbst, da sieh! DIONYSOS »0 Charon, Charon, Charon, sei gegrüßt!«
CH ARO N Wer will zur Ruhe nach des Lebens Mühn, Zur Lethe, ins Schlaraffenland, zum Geier, Zum Tainaron, ins Land der Kerberer! DIONYSOS Ich! 279
CHARON
Schnell herein! DIONYSOS zögert
Wo fahren wir denn hin? Zum Geier wirklich? CHARON Ja, weil du es bist! Steig ein! DIONYSOS Komm, Bursche! CHARON Sklaven fahr ich nicht, Sie hätten denn zur See mit um die Wurst Gekämpft. XANTHIAS Ich konnte nicht, vor Augenweh! CHARON Dann lauf, und lauf nur um den See herum! XANTHIAS Wo soll ich warten? CHARON Dort am Dürrenstein, Beim Ruheplatz! DIONYSOS Verstanden? XANTHIAS Ganz vollkommen! — Bei sich
Was ist mir heut bloß übern Weg gerannt? Ab.
CHARON Setz dich ans Ruder! Wer noch mit will, schnell! Was machst du? DIONYSOS auf dem Ruder sitzend
Was ich mache? Nun, ich sitz
Am Ruder, ganz wie du befohlen hast. CHARON setzt ihn an die Ruder
Da setz dich hin, du Fettwanst! 280
DIONYSOS Sitze schon! CHARON So zieh die Arme vor und streck sie! DIONYSOS So! CHARON Nur Flausen! Stemm dich an, mach's kurz, nur frisch Gerudert! DIONYSOS Guter Gott, wie soll denn ich Landraft, unsalaminisches Geschöpf, Wie soll ich rudern? CHARON Macht sich, schlag nur mal Hinein, dann hörst du Melodien — DiONYSOs
Woher? CHARON Von Fröschen — Schwänen, göttlich! DIONYSOS Kommandier! CHARON Hauruck, Hauruck! Sie rudern
CHOR DER FRÖSCHE unsichtbar
Brékekekéx koáx koáx! Brékekekéx koáx koáx! Ihr Kinder von Sumpf und Bach, Laßt uns der Hymnen Flötenton Anstimmen, wohltönenden Gesang nun, koáx koáx! Den wir von je dem Sohn des Zeus, Dem nysischen Dionysos In Limnai zugejauchzt, wenn am Heiligen Feste des Bechers Lustig schwärmend im Rausche Wallfahrtet zu unserm Gefilde alles Volk! Brékekekéx koáx koáx! 281
DIONYSOS
Mir aber fängt zu brennen an Schon das Gesäß! Koáx koáx! FRÖSCHE Brékekekéx koáx koáx! DIONYSOS Euch schiert das wenig, wie mich deucht! FRÖSCHE Brékekekéx, koáx koáx! DIONYSOS Daß ihr zerplatzt mit dem Koáx! Denn nichts seid ihr als bloß Koáx!
FRÖSCHE Allerdings, Herr Naseweis, du! Denn uns lieben ja die leierkundigen Musen, Liebt der bocksfüßige Pan, der Pfeifenbläser, Uns geneigt ist auch der Harfner Apollon, Denn er braucht das Rohr zum Zithersteg, Das wir ihm feucht in Sümpfen ziehn, Brékekekéx, koáx, koáx! DIONYSOS Doch ich bin voller Blasen schon, Mein Podex schwitzt entsetzlich, und Gleich zeigt er sich und quakt dann mit! FRÖSCHE Brékekekéx, koáx, koáx! DIONYSOS O sangesliebendes Geschlecht, Hör auf doch! FRÖSCHE ' Nein, lauter nur Laßt's schallen noch, als wenn Wir an hellen Sommertagen, Aufgehüpft aus Ried und Wollgras, In melod'sche Wellen tauchten, Sangesfrohe Musenjünger. Oder, uns vorm Regen duckend, Tief im Grund den Unkenreigen Orgelten, vergnüglich sprudelnd 282
Wasserblasenperlgequirl! DIONYSOS den Schenkel lüpfend
Brékekekéx, koáx, ko áx ! So hab ich's ja von euch gelernt! FROSCHE Oh, da wird's uns schlimm ergehen! DIONYSOS Schlimmer mir noch, wenn beim Rudern, Ich hier noch zerplatzen soll! FROSCHE Brékekekéx, koáx, koáx! DIONYSOS Krepiert ihr doch -- mir ist's egal! FROSCHE immer crescendo
-- Jetzt erst laßt uns mächtig schreien Was vom Morgen bis zum Abend Unsre Gurgel halten will — DIONYsos schreit
Brékekekéx, koáx, koáx! Ihr sollt damit nicht Sieger sein! FROSCHE Doch auch du besiegst uns niemals! DIONYSOS Aber ihr noch wen'ger mich! Schreien will ich, wenn es sein muß, Auch tagelang, bis ich gesiegt mit dem Koáx! Brékekekéx, koáx, koáx! Die Frösche verstummen.
DIONYSOS So hätt ich das Koax euch denn vertrieben! CHARON Halt an jetzt hier und leg die Ruder an! Steig aus! Zahl Fahrgeld! DIONYSOS Hier die zwei Obolen! Charon ab.
23
DIONYSOS
suchend
He, Xanthias, wo bist du, Xanthias? XANTH I AS
Juhu! DIONYSOS
Komm hierher! XANTHIAS
Sei gegrüßt mir, Herr! DIONYSOS
Was siehst du? XANTHIAS
Nichts als Schlamm und Finsternis! DIONYSOS
Hast du die Vatermörder und Meineid'gen Gesehn, von denen er uns sprach? XANTHIAS
Du nicht? DIONYSOS
zeigt ins Publikum
Wohl hab ich sie gesehn! — Ich seh sie noch! Doch sag, was tun wir jetzt? XANTHIAS
Wir gehen weiter; Dies ist der Ort, da leben, wie er sagte, Die wilden Tiere! DIONYSOS
Der verfluchte Kerl! Hat aufgeschnitten, um mir Angst zu machen, Aus purem Neid! Er weiß, wie keck ich bin! »So stolz ist nichts auf Erden« wie Herakles! Ich wünschte sehr, es käm etwas, ich fände Ein Abenteuer, das die Fahrt verlohnt. XANTHIAS
Bei Gott, ich höre was -- es schnaubt daher! DIONYSOS
ängstlich
Wo, wo? XANTHIAS
Dahinten! 284
DIONYSOS
Geh du hinter mir! XANTHIAS
Nein, vorne! DIONYSOS
Vorne? Geh du nur voraus! XANTHIAS
Zeus, steh uns bei, ich seh ein Ungeheuer! DIONYSOS
Wie sieht's denn aus? XANTHIAS
O Graus, bald so, bald so! Ein Ochse, jetzt ein Maultier, jetzt ein Weib: Wie reizend — DIONYSOS
Wo? Da geh ich gleich drauflos! XANTHI AS
Verschwunden ist das Weib, jetzt ist's ein Hund! DIONYSOS
Ha, die Empusa? XANTH IAS
Wirklich! — Ihr Gesicht Ist feuerrot! DIONYSOS
Und ehern auch ihr Bein? XANTHIAS
Beim Teufel, und das zweite Eselsmist, So wahr ich leb! DIONYSOS
Wo flieh ich hin ? XANTHIAS
Wo ich? DIONYSOS
zum Dionysospriester im Publikum
Mein Priester, hilf! Wir zechen dann zusammen! XANTHIAS
Wir sind verloren, Herakles! DIONYSOS
Sei still! Hör, Mensch, ich bitt dich, sag den Namen nicht!
285
XANTHIAS
Dionysos also! DIONYSOS Den noch weniger! XANTHIAS beschwörend zur, nicht sichtbaren, Empusa
Geh, wo du gehst! Zu Dionysos
Hierher, mein lieber Herr! DIONYSOS Was gibt's? XANTHIAS Sei ruhig; alles ist schon gut! Wir können sprechen, wie Hegelochos: »Nach Sturm und Wellen seh ich Sonnenschwein ! « Fort ist das Scheusal! DIONYSOS Schwöre drauf! XANTHIAS Beim Zeus! DIONYSOS Noch mal! XANTHIAS Bei Zeus! DIONYSOS Zum drittenmal! XANTHIAS Bei Zeus! DIONYSOS Das war ein Schreck! Ich wurde leichenblaß. XANTHIAS auf Dionysos' Hinterteil zeigend
Und der vor Angst ist rot und gelb geworden! DIONYSOS Weh, weh, wie flog dies Ungemach mir zu? Und wer der Götter sucht mich zu verderben? XANTHIAS »Des Zeus Behausung, Äther« — »Fuß der Zeit!« Flötenspiel hinter der Szene.
286
DIONYSOS He, du! XANTHIAS Was gibt's? DIONYSOS Hast du vernommen? XANTHI AS Was? DIONYSOS Den Flötenhauch? XANTHIAS Ja, und von Fackeln auch Umweht ein Lüftchen mich, gewaltig mystisch. DIONYSOS Komm, duck dich hier und laß uns heimlich lauschen! Sie verstecken sich. Der Chor der Eingeweihten zeigt sich
CHOR Iakchos, Iakchos, Iakchos, Iakchos! XANTHIAS leise
Das sind sie, Herr, das sind die Eingeweihten, Die er genannt, die scherzen lustig hier Und singen »I akchos ! «, wie man auf dem Markt singt. DTONYSOs ebenso
Ich glaub es selbst! Am besten ist's, wir halten Uns still, um alles recht mit anzusehn. CHOR Iakchos, Ehrenreicher, der du wohnst in diesem Haine, Iakchos, Iakchos! Komm hierher auf die Wiese, um zu tanzen, Zu dem Festschwarm der Geweihten, Laß den üppigen, beerenreichen Myrtenkranz, dein Haupt umschwellend, Lustig schwingen, stampf den Takt mit keckem Fuße Zu der ganz ausgelaßnen, Zu der neckischen Feier, Die erfüllt von den Chariten, zu dem hochheiligen Tanz Deiner frommen Eingeweihten! 287
XANTHIAS
leise
Persephone, du heil'ge, hochgeehrte. Wie mystisch duftet hier das Schweinefleisch! DIONYSOS
ebenso
Sei still, dann kriegst du auch vielleicht ein Würstchen! CHOR
Aufflammen laß die Fackeln, die du schwingst in deinen Händen, Iakchos, Iakchos, Du lichtbringender Stern nächtlicher Feier! Von dem Licht erstrahlt die Wiese; Greisen selbst regt sich das Knie noch, Und sie schütteln ab die Sorgen Und der alten Jahre Last und lange Dauer Durch die heilige Festlust! Aber du mit der Fackel Leucht voran und führ auf blumenübersäte feuchte Au'n, Sel'ger Gott, der Jugend Reigen! In Andacht schweig und halte sich fern von unsern geheiligten
Chören, Wer Laie in solchem Geheimnis ist und ungeläuterten Sinnes, Wer nie die Orgien der Musen gesehn noch mitgetanzt ihren Reigen, Wen noch zum Bakchanten Kratinos nicht, der Stierauffresser, geweiht hat, Wer je an niedrigen Possen sich labt, die zur Unzeit einer gerissen, Wer nie sich bemüht, den Hader im Volk zu dämpfen, ein Unhold den Bürgern, Sondern Zwietracht sät und das Feuer schürt, nur bedacht auf den eigenen Vorteil, Wer, ein Lenker des Staats, wenn er schwankt im Sturm, sich gewinnen läßt durch Bestechung, Wer ein Schiff, eine Festung den Feinden verrät und schmuggelt verbotene Waren Aus Ägina her, wie Thorykion, der schuftige Zehntenerheber, Und Lederwerk und Leinwand und Teer dem Feind schickt nach Epidauros, 288
Wer Geld an die feindliche Flotte will zu zahlen die andern bereden, Wer gottlos der Hekate Bild bekackt, ein Sänger erhabener Chöre, Wer als Redner abzuzwacken versucht dem Dichter den Sold, den verdienten, Weil ihn durchgenommen am bakchischen Fest mit üblichem Spott die Komödie. Diesen allen sag ich's zum erstenmal, zum zweiten- und drittenmal sag ich's: Hebt all euch hinweg vor dem mystischen Chor! Ihr aber beginnt die Gesänge, Beginnt die heilige Feier der Nacht, geziemend dem Fest der Geweihten! Nun schreite jeder mannhaft In blumenreiche Gründe Der Wiesen und stampfe Und scherz dazu Und neck und reiße Possen! Gefrühstückt habt ihr ja genug. -Wohlan, erhebt die Göttin, Die Retterin, erhaben Mit Gesang besingend, Die uns verheißt, Das Land stets zu bewahren, Und wollt Thorykion es auch nicht! Stimmt an jetzt Hymnen von anderem Klang! Die
früchtespendende Göttin, Demeter, die Hohe, verherrlichet laut in festlich begeisterten Liedern!
Demeter, heil'ger Orgien Obwalterin, o steh uns bei Und schirme deinen eignen Chor! Laß ungestört den ganzen Tag Uns spielen, singen, tanzen! Und Spaß und Ernst, wie's eben kommt, Laß walten in der Rede Fluß, 289
Und wenn ich würdig deines Fests Gescherzt, gelacht, gespottet, dann Laß mich den Siegskranz schmücken! Wohlauf denn, Ruft auch herbei den schönen Gott, ruft hierher zu uns ihn Mit Liedern, den Gefährten bei unsern Reigentänzen! Iakchos, Ehrengekrönter du, Erfinder Des frohen Festlieds, komm doch und begleit uns Zur Göttin hin Und zeig uns, wie du ohne Müh Den langen Weg zurücklegst! Iakchos, Freund der Chöre du, geleite mich! Zerrissen hast du mir ja um Gelächter Und Sparsamkeit hier dieses Chorsandälchen Und Bettelkleid! Und du verschaffst die Wonne, frei Zu scherzen und zu tanzen! Iakchos, Freund der Chöre du, geleite mich! Ja, und da hab ich eben doch, so schielend Nach einem Mägdelein mit hübschem Lärvchen, Mittänzerin, Gesehn, wie aus 'nem Mantelriß Hervor ihr Brüstchen lugte! Iakchos, Freund der Chöre du, geleite mich! DIONYSOS
Ich bin stets am Begleiten erfreut Und möcht wohl mit dem Dirnchen Ein Spiel und Tänzchen machen gern! XANTHIAS
Das möcht ich auch! CHOR
Wollt ihr mit uns zusammen Verspotten Archedemos, Der sich im siebten Jahr kein Bürgerrecht geschafft? Er ist der Mann des Volkes 29C
Jetzt bei den Toten droben, Der Hahn im Korbe dort bei all dem Lumpenpack! Von Kleisthenes' Sohn hör ich: Er sitzt am Grab und rupft dort Sich bloß den Bloßen und zerkratzt die Backen sich, Schlägt sich, zusammengekauert, Heult und beklagt Sebinos, Den, welcher ist vom Stamm der Manustuprier! Von Kallias dort vernahm ich, Dem Sohn des Hengst's, er liefre, Ins Löwenfell gehüllt, ein Seegefecht — den Weibern! DIONYSOS
Ihr könnt vielleicht uns sagen, Wo Pluton hier zu finden, Denn Fremde sind wir, die soeben angelangt! CHO R
Du brauchst nicht weit zu gehen Und weiter nicht zu fragen,
Denn grad vor seiner Tür, mein Bester, stehst du schon. DIONYSOS
zu Xanthias
So pack nur wieder auf, Bursch! XA NTH I AS
packt auf
Was war denn das nur eben? Gewiß » Korinthos, Sohn des Zeus», — im Bündel hier. CHORFÜHRER
der Frauengruppe
So ziehet Nun in der Göttin heil'ges Rund, in den Blumenhain hier, Und scherzet, ihr Gefährten des gottgefälligen Festes! Doch ich will mit den Mädchen hier und den Frauen gehen, Wo sie der Göttin nächtlich Fest feiern; ich trag die Fackel! D:e Frauen ziehen aus CHOR
So laßt uns auf die Rosenaun, Die Blumenwiesen wallen, Und scherzen nach altem Brauch In lieblichem Reigentanz, 2
9I
Zu dem uns die Parzen hier, Die seligen, einen! Denn uns allein bescheint der Tag Und heitre Sonnenhelle, Nur uns, die Geweihte sind Und immerdar frommen Brauch Geübt an den Fremden und Den eigenen Bürgern! Die Szene stellt jetzt einen Platz vor dem Haus des Pluton dar DIONYSOS
Hör, sag mir doch einmal, wie klopf ich hier? Was ist der Brauch wohl hierzuland beim Klopfen? XANIHIAS
Ei, mach's nur kurz, und geh der Tür zuleib, Ein Herakles an Gestalt und an Gewalt! DIONYSOS
klopft
He, holla! AIAKOS
im Innern
Wer da? DIONYSOS
Ich, Held Herakles! AIAKOS
herausfahrend
Halunk, Kanaille, freches Rabenaas, Du Hauptschuft, Erzschuft, o du Schuft der Schufte, Der unsern Kettenhund, den Kerberos, Mein treues Tier, mir weggelockt, gepackt, Gewürgt und aufgehuckt und wie der Blitz Davongerannt! Nun gut, wir haben dich! Dich »hüten soll der Styx schwarzherz'ger Fels«, Die »blutbetropfte« acheront'sche Klippe Und des Kokytos »schweifend wilde Meute«, Die hundertköpfige Echidna soll Zerfressen dein Gedärm, die Lunge sollen Tartessische Muränen packen, blutig Aus dem Gekrös die Nieren zerren die Tithrasischen Gorgonen, die ich gleich 292
Hierher zu holen »setz den hurt'gen Fuß« ! Ab. Dionysos ist während dieser Drohungen vor Schreck umgefallen
XANTHIAS Herr, was hast du gemacht? DIONYSOS Die Hosen voll! Helf Gott! XANTHIAS Mein spaß'ger Herr, so steh doch auf, Eh man dich sieht! DIONYSOS Ich werd ohnmächtig, schnell, Geh, leg mir einen feuchten Schwamm aufs Herz! XANTHIAS Da, nimm! Leg auf! Dionysos führt den Schwamm zum Hinterteil
Wo? Da? Ihr goldnen Götter! Hast du das Herz da hinten? DIONYSOS Ja, mir fiel Vor Schrecken in den Unterleib das Herz. XANTHIAS O Feigster du der Menschen und der Götter! DIONYSUS Ich feig? Hab ich denn nicht den Schwamm verlangt? Das hätt ein andrer Mann wohl nicht gewagt! XANTHIAS Was denn? DIONYSOS Er läge riechend da, die Memme! Doch ich stand auf und — wischte mich sogar! XANTHIAS Mein Seel, ein Heldenstück! DIONYSOS Das will ich meinen!— Hast du dich nicht gefürchtet vor dem Drohn Und Schelten? XANTHIAS Gott bewahr, nicht dran gedacht! DIONYSOS Wohlan: da du ein couragierter Bursch, 293
So sei mal ich und nimm die Löwenhaut Und Keule, wenn du Herz im Leibe hast; Ich meinerseits will nun der Träger sein! XANTHIAS
Schnell, her damit; am Ende müßt ich doch! Und sieh dir an den Herakleioxanthias, Ob ich wohl feig bin und von deiner Art! Nimmt Löwenhaut und Keule DIONYSOS
Oh, ganz der Galgenstrick aus Melite! Gib her, ich lade mir das Bündel auf! Tut es. Die Magd der Persephone kommt heraus MAGD
Bist du es, Herakles? Liebster, tritt doch ein! Die Göttin, wie sie hörte, du seist hier, Buk Kuchen, kochte Bohnenbrei für dich, Ein, zwei, drei Töpfe, briet 'nen ganzen Stier, Pasteten machte sie und Striezeln. Komm! XANTHIAS
artig
Sehr schön, ich danke! MAGD
Nun, du darfst durchaus Mir nicht davon! Sie hat auch junge Hühner Gebraten, Zuckerwerk und Eingemachtes Und honigsüße Weine stehn parat; Komm nur herein! XANTHIAS
wie oben
Sehr freundlich! MAGD
Nein, im Ernst, Du mußt herein! Ein Flötenmädchen auch Ist drinnen, wunderschön, und Tänzerinnen, Zwei oder drei — XANTHIAS
Was sagst du? Tänzerinnen? MAGD
Ganz glatt und frisch, oh, allerliebste Püppchen! Komm rein! Die Fische wollte schon der Koch Auftragen; komm, die Tafel ist gedeckt! 294
XANTHIAS
So geh, und tu den Tänzerinnen dort Vor allen Dingen kund: ich komme gleich! Magd ab Zu Dionysos
Und du, mein Junge, folg mir mit dem Pack! DIONYSOS
Du da, halt ein! Du machst doch wohl nicht Ernst, Weil ich im Scherz des Herakles Tracht dir gab?
Ich sag dir, keine Possen, Xanthias! Du nimmst den Pack und trägst ihn wie zuvor! XANTHIAS
Wo denkst du hin? Du willst mir nehmen, was Du mir gegeben? DIONYSOS
Nein, 's ist schon geschehn; Herunter mit der Haut! XANTHIAS
Ihr Götter seid Mir Zeugen, seht darauf! DIONYSOS
Was Götter da! Du hirnverbrannter Narr, du hältst, ein Sklav
Und Sterblicher, dich für Alkmenes Sohn? XANTHIAS
Meinthalb, auch gut! Da ist's! Ich denke wohl, Du wirst mich wieder brauchen, so Gott will! Sie wechseln das Kostüm CHOR
Das heißt wie ein Mann gehandelt, Der Verstand und Geist besitzt und Viel herumgefahren ist: Stets sich nach der sichren Seite Seines Schiffes hinzurollen Und nicht wie ein totes Bild Starr zu stehn auf einer Stelle! Sich herumzuwenden, wo man's Doch bequemer haben kann, Ziemt wohl einem klugen Manne Von Theramenes' Talent! 295
DIONYSOS Wäre das nicht gar zu närrisch, Wenn mein Sklave Xanthias hier Auf miles'schen Polstern sich Küßte mit der Tänzerin und Dann das Nachtgeschirr verlangte, Und ich hätte zuzusehn, Spielt' mein eignes Instrument dann, Und der Spitzbub, dies bemerkend, Schlüge dann mit derber Faust Meiner Zähne Vorderreigen Aus dem Kiefer mir heraus?
Zwei Wirtinnen kommen gelaufen ERSTE WIRTIN ~
Plathane, Plathane! Komm her, da ist er, der verfluchte Schuft, Der neulich bei uns eingekehrt und sechzehn Laib Brot uns aufgefressen! ZWEITE WIRTIN Meiner Treu, Das ist er! XANTHIAS schadenfroh
Einen weiß ich, dem geht's schlecht! ERSTE WIRTIN Und obendrein die zwanzig Kreuzerwürste, Zum halben Obolos! XANTHIAS wie eben
Einer wird das büßen! ERSTE WIRTIN Und all den Knoblauch! DIONYSOS Weibsbild, bist du toll? Was faselst du? ERSTE WIRTIN Haha, du glaubst, weil du Kothurne trägst, ich kenne dich nicht mehr? Ja, und vom Pökelfleisch sagt ich noch nichts! 296
ZWEITE WIRTIN
Bei Zeus, und auch nichts von dem frischen Käs, Den er mir samt den Körben hat verschluckt! ERSTE WIRTIN
Und als ich dann die Zeche machte, sah Er barsch mich an und brüllte wie ein Stier! XANTHIAS
Das sieht ihm gleich, so macht er's überall! ERSTE WIRTIN
Und zog das Schwert, gerade wie verrückt! ZWEITE WIRTIN
Du armes Ding! ERSTE WIRTIN
Wir beide sprangen, ganz Erschrocken, schnell die Bodentrepp hinauf, Da riß er aus und nahm das Tischtuch mit. XANTHIAS
Ganz seine Art! Doch jetzt müßt ihr euch rühren! ERSTE WIRTIN
zur zweiten
Geh, ruf mir doch zum Beistand Kleon her! ZWEITE WIRTIN
Und du Hyperbolos, wenn du ihn findest!— ERSTE WIRTIN
Dem geben wir's! Du Teufelsrachen, wart! Mit Steinen schlag ich das Gebiß dir ein, Womit du mir die Wirtschaft ausgefressen! ZWEITE WIRTIN
Ich schmeiße dich hinab ins Schinderloch! ERSTE WIRTIN
Ich schneide mit dem Küchenmesser dir Die Gurgel auf, die meine Würste fraß! ZWEITE WIRTIN
Zum Kleon geh ich jetzt, der haspelt dir Vor Amt das alles wieder aus dem Bauch! Beide ab DIONYSOS
zu Xanthias
Ich will verdammt sein, wenn ich dich nicht liebe! XANTHIAS
Versteh, verstehe! Gib dir keine Müh, 297
Ich werd nicht nochmals Herakles! DIONYSOS
Sei klug, Mein Xanthiaschen! XANTHIAS
Ich, »ein Sterblicher Und Sklave, sollt Alkmenes Sohn mich nennen«? DIONYSOS
Ich weiß, ich weiß ja! Du bist bös, mit Recht, Und schlägst du mich, ich sagte nichts dawider; Und nehm ich je die Haut dir wieder ab, Dann hol der Henker mich mit Kind und Kegel, Und Archedem, das Triefaug, obendrein! XANTHIAS
Das ist ein Schwur, den laß ich mir gefallen! Sie kleiden sich wieder um CHOR zu Xanthias
Jetzo ist es deine Sorge, Weil du wieder das Kostüm, Das du vorhin trugst, bekamst, Dich aufs neue zu verjüngen, Wieder grimmig dreinzuschauen, Jenes Gottes eingedenk, Den du vorstellst. Machst du aber Wieder dummes Zeug und handelst Etwa kleinlaut und verzagt, Dann natürlich kriegst du wieder Auf den Rücken deinen Pack! XANTHIAS
Euer Zuspruch ist vernünftig, Märner, ja, ich selber habe Eben just mir's auch bedacht. Freilich, zeigt sich dann was Beßres, Ja, dann weiß ich wohl, dann zieht er Wieder mir das Fell vom Leib! Immerhin, ich zeige meinen Angestammten Mut und sehe Grad wie Sauerampfer drein! 298
Und das ist vonnöten, glaub ich: Knarren hör ich schon das Tor! Aiakos mit ein paar Knechten kommt wieder heraus
AIAKOS Schnell bindet mir den Hundedieb, der soll Mir büßen! Hurtig! DIONYSOS schadenfroh Da geht's einem schlecht! XANTH I AS Wollt ihr zum Henker! Weg da! AIAKOS Ha, du wehrst dich? He, Ditylas, Skeblyas, Pardokas, Kommt her und haut einmal den Kerl mir nieder! Kurze Rauferei
DIONYSOS Ist das nicht ganz abscheulich, daß der prügelt, Der außerdem noch stahl? AIA KOS Ja, ganz abscheulich! DIONYSOS Abscheulich, ja, und schändlich! XANTHIAS Hol mich der Und jener, wenn ich jemals hiergewesen Und auch ein bißchen nur gestohlen hab! Sieh her, ich will ganz ehrlich mit dir handeln! Nimm meinen Burschen da und foltre ihn, Und findest du mich schuldig, schlag mich tot! AIA KOS Ihn foltern? Wie? XANTHIAS Wie du willst! Bind ihn auf Die Leiter, häng ihn, peitsch ihm mit dem Haarseil Die Haut vom Leibe, schraub ihn, gieß ihm Essig Ins Nasloch, pack ihm Ziegel auf — ganz gleich, Nur peitsch ihn nicht mit Lauch und Zwiebelröhrchen! AIA KOS Ein billig Wort! Und schlag ich dir den Kerl Zum Krüppel, geb ich Geld für deinen Schaden! 299
XANTHIAS
Nichts da! Schlepp ohne weitres ihn zur Folter! AIAKOS Nein, hier! Er soll dir zeugen ins Gesicht! Zu Dionysos
Leg ab den Pack, geschwind, und daß du mir Nicht Lügen sagst! DIONYSOS Verwarnt sei jedermann, Mich nicht zu foltern: denn ich bin ein Gott! Geschieht's, dann magst du sehen — AIAKOS Was? Du sagst — DIONYsos Ein Gott bin ich, Dionysos, Sohn des Zeus! Der ist mein Sklave! AIAKOS zu Xanthias
Hörst du? XANTHIAS Alles hör ich: Ich sag euch, peitscht ihn um so derber durch; Ist er ein Gott, so spürt er nichts davon! DIONYSOS zu Xanthias
Und du, der du ja auch zum Gott dich machst, Warum erhältst du Prügel nicht wie ich? XANTHIAS zu Aiakos
Ein billig Wort! Und wen von uns zuerst Du weinen hörst und winseln bei den Schlägen, Von diesem glaube fest: er ist kein Gott! AIAKOS Ich muß gestehn, du bist ein Ehrenmann: Du tust, was recht und billig! — Zieht euch aus! Sie tun es XANTHIAS
Wie machst du's, daß du richtig aufzählst? AIAKOS So: Dir einen Hieb, dann ihm, dann dir! 300
XANTHIAS
Nicht übel! Nun schau mal her, ob du mich zucken siehst! Aiakos schlägt zu. Xanthias tut, als hätte er nichts gespürt
Nun, schlugst du schon? AIAKOS verwundert
Noch nicht! XANTHIAS Das scheint mir auch nicht! AI KOS Jetzt muß der andre dran! Schlägt DIONYSOS
ungerührt
Wann krieg denn ich? AIA KOS
Du hast! DIONYSOS Gekitzel, nicht einmal zum Niesen! AIA KOS Meinetwegen; muß jetzt den da wieder prüfen! XANTHIAS Nur zu! Wird geschlagen
Ah, ah! Ah, ah! AIAKOS Was soll das Ah? Tut's weh? XANTHIAS O nein, ich dachte, wann das Fest Des Herakles in Diomeia ist. AIAKOS Ein frommer Mensch! — Zum andern jetzt hinüber! Schlägt DIONYSOS
Uh, uh! AIA KOS
Was ist dir? DIONYSOS Nichts; dort seh ich Ritter! 301
AIAKOS
Was weinst du denn? DIONYSOS Ich rieche Zwiebeln hier! AIAKOS Du machst dir nichts daraus? DIONYSOS Was tut mir das? AIAKOS So muß ich wieder zu dem andern hin! Schlägt XANTHIAS
Au, au! AIAKOS Was gibt's? XANTHIAS streckt den Fuß hin
Zieh doch den Dorn mir raus! AIAKOS Was soll das sein? — Zum andern wiederum! Schlägt DIONYSOS
Apoll! — »in Delos thronend und in Python!« XANTHIAS Hast du gehört? Er schrie vor Schmerz! DIONYSOS Wer, ich? Ein Verschen von Hipponax fiel mir ein! XANTHIAS So geht es nicht; zerbleu ihm jetzt den Wanst! AIAKOS Ja, meiner Seel, den Bauch her, streck ihn her! Schlägt ihm drauf DIONYSOS
Poseidon!— XANTHIAS Ha, das beißt! DIONYSOS — »der waltet am Ägäischen Gestad und in des blauen Meeres tiefem Schoß!. 302
AIAKOS Verdammt, ich bring es absolut nicht raus, Wer von euch zweien der Gott ist! Geht hinein! Mein Herr selbst wird euch gleich erkennen und Persephone: die sind ja beide Götter! DIONYSOS Da hast du recht; nur wünscht ich, daß du drauf Gekommen, eh du mir die Prügel gabst! Alle ab PARABASE
CHOR Schweb zu den heiligen Chören, o Muse, und komm, dich zu freuen An meinem Gesang, Komm und beschaue des Volks Gedränge, wo Kenner zuhauf, Klug und weise, sitzen, Eingebildeter als Kleophon, dem auf seinem Argen, geschwätzigen Mund fremdartig zwitschert und schnarrt Eine Thrakerschwalbe, Auf barbarischem Blatte sich niedergesetzt; So weinerlich girrt er die Nachtigallweise: nun sei er verloren, Selbst bei Stimmengleichheit! \Vohl geziemt's dem heil'gen Chore, was dem Staate frommen mag, Anzuraten und zu lehren. Und vor allem, meinen wir, Sollten gleich die Bürger werden und verbannt die Schreckenszeit. Wer gestrauchelt, weil ihm tückisch Phrynichos ein Bein gestellt, Frei stehn, mein ich, sollt es jedem, der sich damals hat verfehlt, Durch Rechtfertigung zu tilgen vor'ger Zeit Vergehungen. Ferner, denk ich, ehr- und rechtlos sollt im Staate keiner sein. Schande wär's, wenn jeder, der nur eine Seeschlacht mitgemacht, Gleich Platäer würd und, ehmals Sklave, nun ein freier Herr — Was an sich ich ganz und gar nicht ungehörig nennen will, Nein, ich lob euch drum, es ist das einz'ge, was ihr klug gemacht. Doch dann solltet ihr auch denen, die, wie ihre Väter schon, Oft mit euch zur See gefochten, die euch stamm- und blutsverwandt, 303
Obersehn den einen Unfall, wenn sie bittend euch sich nahn! Nun, wohlan, vergeßt des Zornes, klug und weise, wie ihr seid, Laßt als Brüder denn uns jeden ohne Rückhalt an uns ziehn Und als ehrlich und als Bürger, wer mit uns zur See nur kämpft! Wenn wir mit den Bürgerrechten vornehm tun und stolz uns blähn, Jetzo, wo »im Arm der Wogen« hin und her uns wiegt der Sturm, Dann wird von der Nachwelt unsrer Einsicht wenig Lob gezollt! »Hab ich Geschick, zu durchschauen des Mannes Leben und Sitten, Der bald heulen wird, Sicher nicht lange mehr wird der Affe, der jetzt uns zur Last, Kleigenes der Kleine, Der abscheulichste Bader von allen, so viele Walten des Aschegemengs und pfuschlaugigen Staubs Und Kimol'scher Seife, Wie bisher es noch treiben! Das weiß er und lebt Drum stets auf dem Kriegsfuß und geht, damit man ihn im Rausche nicht plündert, Nie aus ohne Knüttel! Oftmals hat es mir geschienen: Unsrer Stadt ergeht es ganz Ebenso mit ihren besten Bürgern, jedes Lobes wert, Wie es mit der alten Münze und dem neuen Golde geht: Denn,auch jene, die doch wahrlich weder falsch ist noch zu leicht, Ja, die unter allen Münzen, die ich weiß, die beste ist Und allein ein gut Gepräge trägt und Klang und Geltung hat Unter den Hellenen allen und im Ausland überall, Jene braucht ihr nicht mehr, sondern dieses schlechte Kupfergeld, Gestern oder ehegestern ausgeprägt, von schlechtem Klang! Bürger, die wir kennen, edel von Geburt und einsichtsvoll, Männer redlichen Charakters, makellos, gerecht und gut, Wohlgeübt im Kampf, in Chören und in jeder Musenkunst, Die verschmähn wir, und das Kupfer: Pyrrhiasse, Fremdlinge, Schurkensöhn und Schurken, brauchen wir zu allem, Burschen, die Kaum zur Stadt hereingekommen, die man hier zu andrer Zeit Nicht gebraucht als Sündenböcke hätte bei dem Sühnungsfest! Aber jetzo, ihr Betörten, ändert jetzt noch euren Sinn, Braucht die Guten euch zum Besten; bleibt ihr glücklich, nun dann habt 304
Ihr's verdient, und kommt ein Unfall, war es doch ein guter Strick. Was ihr tragt, ihr tragt es männlich, und euch lohnt der Weisen Lob! Ein Sklave des Pluton und Xanthias kommen heraus SKLAVE DES PLUTON
So wahr ich leb, ein wahrhaft edler Mann Ist doch dein Herr XANTHIAS
Ein Edler, das versteht sich: Im Zechen und im Schwächen ist er Meister! SKLAVE — daß er dich nicht gepeitscht, wie du ihm unter Die Nase logst, du, Sklave, seist der Herr! XANTHIAS Das wär ihm schlecht bekommen! SKLAVE Ehre machst Du unserm Stand; ich treib es ebenso! XANTHIAS Auch du? SKLAVE Mir ist's 'ne wahre Seligkeit, So in den Bart auf meinen Herrn zu fluchen. XAN7HIAS Und im Hinausgehn nach empfangnen Prügeln Noch brummen, gelt? SKLAVE Auch das ist süßer Trost! XANTHIAS Und naseweis SKLAVE
Das geht mir über alles! XANTHIAS O Sympathie! — zu horchen, was die Herrschaft Bespricht? SKLAVE Da bin ich außer mir vor Wonne! XANTHIAS Und auf der Gaß es auszuplaudern? 305
SKLAVE
Sieh, Nichts köstlicher! Das schmeckt mir wie 'ne Dirne! XANTHIAS Komm, Bruderherz, gib mir die Hand, schlag ein Und laß dich küssen, küsse mich und sprich, Bei Zeus, dem Gott der Prügelbrüderschaft, Was gibt's da drinnen für Geschrei und Lärm? Wer zankt? SKLAVE Euripides und Aischylos! XANTHIAS Aha! SKLAVE Geschichten, schreckliche Geschichten Sind los im Totenreich, gewalt'ger Aufruhr! XANTHIAS Weshalb? SKLAVE Es ist Gesetz bei uns hier unten, Daß, wer in einer schweren, edlen Kunst Der beste seiner Kunstgenossen ist, Der kriegt im Prytaneion freie Kost Und thront zunächst bei Pluton, -XANTHIAS Ich versteh! SKLAVE — bis dann ein andrer kommt, der Größres noch Geleistet; diesem tritt er ab den Thron. XANTHIAS Was lärmt denn nun der Aischylos da drinnen? SKLAVE Er hielt besetzt den Thron der Tragiker Als Meister seiner Kunst. XANTHIAS Wer hat ihn jetzt? SKLAVE Nun kam Euripides und trat sogleich Vor Beutelschneidern, Taschendieben, Gaunern Und Vatermördern deklamierend auf;
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Der Kerls ist hier die Meng: die riefen gleich, Von seinen Pros und Contras, Schlüssen, Kniffen Ganz hingerissen, ihn als Meister aus. Ihn, schwoll der Kamm, er forderte den Thron Des Aischylos — XANTHIAS Und wurde nicht gesteinigt? SKLAVE O nein, der Pöbel schrie: ein Schiedsgericht Soll sprechen, wer der größre Künstler sei! XANTHIAS Schrie das Gesindel so? SKLAVE Daß Erd und Himmel Erbebte! XANTHIAS Und wer stritt für Aischylos? SKLAVE Die Bessern sind auch hier gar dünn gesät. XANTHIAS Und was gedenkt denn Pluton jetzt zu tun? SKLAVE Schnell anzuordnen Wettkampf, Schiedsgericht Und Prüfung ihrer Kunst. XANTHIAS Wie kommt es denn, Daß nicht auch Sophokles den Thron gefordert? SKLAVE Wie? Sophokles? Der küßte Aischylos, Gleich wie er kam, und drückt' ihm warm die Hand Und überließ ihm gern den Ehrensitz; Doch wollt er, mit Kleidemides zu sprechen, »Im zweiten Gliede steten.: wenn Aischylos Gesiegt, zufrieden sein; im andern Fall Sich dem Euripides als Gegner stellen. XANTHIAS Wann soll's denn losgehn? SKLAVE Ei, der Tausend, gleich Hier auf der Stelle bricht das Wetter los! Nach Unzen wird die Dichtkunst hier gewogen. 307
XANTHIAS
Was? Will man die Tragödie kleinlich wiegen? SKLAVE Sie bringen Ell und Zollstab für die Verse Und V iereckf ormen — XANTHIAS Um Ziegel einzupassen? SKLAVE -- und Winkelmaß und Zirkel; messen wird Euripides das Drama Vers für Vers. XANTHIAS Das wird dem Aischylos verdrießlich sein! SKLAVE Wild, vorgeneigt, ein Kampfstier, sah er drein! XANTHIAS Wer soll denn richten? SKLAVE Schwierig war die Wahl. An kunstverständ'gen Männern mangelt's hier; Athener hat sich Aischylos verbeten — XAN RIAS Er hält die meisten wohl für Diebsgesindel! SKLAVE Ja, und den Rest für Narren, nicht befähigt, Talent und Kunst zu würd'gen. Also trugen Sie deinem Herrn es auf als großem Kenner. Doch komm herein; denn wenn die Herrn in Eifer Geraten, gibt's für unsereins nur Püffe. Beide ab CHOR
Wahrlich, der »donnernde Mann« wird schrecklich im Herzen ergrimmen, Sieht er den spitzigen Schwätzer, den Feind, zum entscheidenden Kampfe »Wetzen den Zahn.; in erhabenem Ingrimm die Augen Rollen wird er fürchterlich; Sausende Worte wird's setzen und »helmumflatternde Kämpfe«, Splitter und Hobelspäne und künstlich gedrechselte Schnitzel, Wenn des Gedankenerbauers »roßtrabende« Rede Jener Mann parieren wird! 308
Sträubend die zottige Mähne des »nackenumwallenden Haupthaars«, Runzelnd die borstigen Brauen, wird klobengenietete Worte Brüllend er schleudern, wie Bretter heruntergerissen, Schnaubend mit Titanenwut! Allzeit fertig wird dann und silbenstechend die glatte Zunge Geschwätz aufwirbeln und neidisch Mundwinkel verziehen, Worte zerspalten, wie Haar, und zersplittern des Riesen Heldenarbeit kurz und klein! Mittels Ekkvklerna erscheint, auf dem Unterweltsthrone sitzend, Pluton Dazu treten auf Dionysos, Euripides und Aischylos EURIPIDES
Der Ehrensitz ist mein, ich laß ihn nicht; Nicht er, ich bin der Meister der Tragödie! DIONYSOS
Was schweigst du, Aischylos? Du hörst ihn doch? EURIPIDES
Erst tut er feierlich, so wie er stets In seinen Stücken grandios sich spreizt! DIONYSOS
zu Euripides
Hör, seltsamer Mann, nimm nicht den Mund zu voll! EURIPIDES
Ich kenn ihn, ich durchschaut ihn längst, den Schöpfer Der Ungeheuer, den Posaunenmund,
Unbändig reißend ohne Zaum und Zügel, Aufsprudelnd, wortgebälkverklammerungskundig! AISCHYLOS
»Ha, Sohn der Göttin vom« -- Gemüsemarkt, Mir das von dir, du Bühnenlumpensammler, Du Bettelbrutaushecker, Fetzenstückler,
Dein Wort soll dich verderben! DIONYSOS
Aischylos, Hör auf, »erhitze dir die Galle nicht!« AISCHYLOS
Nein, nein, entlarven will ich erst den Vater Des Krüppelhelden, der so frech mir trotzt! 309
DIONYSOS
zum Gefolge
Ein Lamm, ihr Sklaven, bringt ein schwarzes Lamm, Es steigt ein gräßlich Ungewitter auf!
AISCHYLOS zu Euripides
Du, der du Hurenmonodien schmiedest Und in die Kunst die Blutschand eingeführt! DIONYSOS Halt ein, geehrter Meister Aischylos, Und du geschlagner Mann, Euripides, Weich aus dem Hagelwetter, sei gescheit, Eh er mit einem Kernwort dir die Schläfe Zerschlägt, daß dir der »Telephos« herausspritzt! Du aber prüfe ruhig, Aischylos, Und laß dich prüfen; Dichtern will's nicht ziemen, Sich auszuschimpfen wie die Hökerweiber; Doch du brüllst gleich wie Eichenholz im Feuer! EURIPIDES Ihr Herrn, ich bin bereit, zu packen oder Dem Packan preiszugeben Reden, Verse, Gespräch und Chöre, der Tragödien Nerv, Den »Peleus«, »Meleagros«, »Aiolos«, Ja, bei den Göttern, auch den »Telephos«. DIONYSOS Sprich, Aischylos, was denkst du zu beginnen? AISCHYLOS Hier unten wünscht ich freilich nicht zu kämpfen: Denn ungleich ist der Kampf für uns. DIONYSOS Wieso? AISCHYLOS Nicht tot mit mir ist meine Poesie; Die seine ist's mit ihm, er nahm sie mit! Jedoch, du willst es, und ich füge mich.
DIONYSOS zu den Sklaven
Nun denn, so bringt mir Weihrauch her und Feuer, Auf daß ich, opfernd vor dem Dichterkampf, Mir kritische Erleuchtung mag erflehn. 310
Zum Chor
Ihr aber stimmt ein Lied den Musen an! Er opfert das Lamm, das man gebracht
CHOR Musen, ihr neun jungfräuliche, reine Töchter des Zeus, die ihr schaut auf die witzigen, spitzigen Geister Sätzestechender Männer, sooft sie mit künstlichgeschraubten, Scharfeinschneidenden Worten im heißen Kampf sich begegnen: Naht euch und staunet der Zungengewalt Dieser befähigtsten Münder, zu bringen Reden und Verse aus Sägespan! Denn aufeinander im Kampf um die Dichtkunst Prallen jetzt die Dichter! DIONYSOS nachdem er geopfert
Ihr beiden, betet ihr auch, eh ihr kämpft! AISCHn.os opfernd
Demeter, die du meinen Geist befruchtest, Gib, daß ich deiner Weihen würdig sei! DIONYSOS zu Euripides
Nun opfre du auch Weihrauch! EURIPIDES Danke schön: Denn andre Götter sind's, die ich verehre! DIONYSOS Besondre, neu geprägt von dir? EURIPIDES So ist's. DIONYSOS So bete du zu deinen eignen Göttern! EURIPIDES betend
O Äther, meine Speise, Zungenspitze Und du, o Witz, du spürsam feine Nase, Laßt Wort für Wort mich gründlich widerlegen! 311
CHOR
Ja, auch wir verlangen sehnlich jetzt, Von den weisen Meistern zu hören, welchen Pfad Feindlicher Worte ihr begeht. Wilde Kampflust rührt die Zungen, Beiden schwillt die Brust von stolzem Heldenmut und kühnem Zorn; Nun, da läßt sich schon erwarten Von dem einen feine Rede, Wohlstudiert und ausgefeilt, Von dem andern Urwaldworte, Mit der Wurzel ausgerissen Und geschleudert in der Worte Tummelplatz! Beginnt einmal zu reden jetzt, doch witzig, möcht ich bitten; Laßt alle schalen Bilder weg und bringt nichts Ordinäres! EURIPIDES So mag von meiner Poesie und, was ich selbst geleistet, Zu allerletzt die Rede sein. Erst will ich dem beweisen, Daß er ein wind'ger Prahler war, und wie er übertölpelt Das Publikum, das Phrynichos zur Dummheit auferzogen. Gleich anfangs setzt' er tief vermummt Personen hin, Achilleus Und Niobe, bei denen nichts zu sehn ist vom Gesichte, Tragödienpuppen, weiter nichts, die auch nicht (Geste) so viel mucksten! DIONYSOS Beileibe, nein! EURIPIDES Der Chor jedoch reiht' Lieder, eins ans andre, Oft vier in einer Reihe gleich; allein sie schwieg noch immer! DIONYSOS Ei, mir gefiel das Schweigen sehr und freute mich nicht minder Als jetzt das Schwatzen! EURIPIDES Unter uns gesagt, da warst du albern! DIONYSOS Mag sein, ich glaub es selbst. Allein warum wohl tat er solches? EURIPIDES Effekt, Effekt! damit das Volk dasäß in voller Spannung: Wann Niobe wohl reden wird? Das Stück indes ging weiter. 312
DIONYSOS
Der schelmische Patron, wie hat er mich so oft betrogen! Zu Aischylos Was reckst du so ergrimmt den Hals? EURIPIDES Weil ich den Punkt getroffen! Und hat er dann genug geäfft, so in des Dramas Mitte, Wirft er ein Dutzend Wörter hin mit Hörnern und mit Klauen, Recht ochsenmäßig, fürchterlich gespenstig, ungeheuer Und völlig unverständlich. AISCHYLOS
Oh, mir dieses? DIONYSOS Still, mein Bester! EURIPIDES Kein Mensch begriff ein Wort! DIONYSOS zu Aischylos
So laß doch sein das Zähneknirschen! EURIPIDES Skamander gab's und Wälle nur und, eingraviert auf Schilden, Eherne Greifenadler und halsbrechend steile Worte, Höchst mühsam zu enträtseln. DIONYSOS Ja, bei Gott, mir ist's begegnet, Daß »eine lange, lange Nacht ich schlaflos nachgegrübelt«, Zu welcher Vogelspezies man zählt den »gelben Roßhahn« ! AISCHYLOS Ein Zeichen war's, du Ignorant, gemalt am Bug des Schiffes! DIONYSOS So, so? Ich hielt ihn für den Sohn Philoxenos', Eryxis! EURIPIDES Ist die Tragödie denn der Mist, um Hähne drauf zu setzen? AISCHYLOS Was hast denn du nicht alles frech ihr aufgehängt, Verfluchter? EURIPIDES »Roßhähne« nicht, »Bockhirsche« nicht, wie du getan, dergleichen Auf persischen Tapeten wohl und Teppichen zu finden! Wie ich aus deinen Händen einst die Poesie empfangen, Voll ungenießbaren Bombasts, pausbäckig aufgedunsen, 313
Gleich nahm ich sie und hielt sie kurz, die Taille ihr zu mindern, Durch Floskeln und Spazierengehn und weiße Mangoldsäftchen, Aus feinem Umgang destilliert und abgeseiht aus Büchern; Ich gab ihr Monodien und Kephisophon zu essen; Ich schwatzte nicht, wie's eben kam, noch platzt ich in die Szene; Wer in die Szene trat, den ließ ich Haus und Stammbaum nennen Fürs ganze Drama. DIONYSOS
Besser doch, als nannt er deinen eignen! EURIPIDES
Sodann vom ersten Vers an ließ ich niemand müßig stehen, Und reden mußte mir die Frau und reden selbst der Sklave, Es sprach der Mann, die Jungfrau sprach, das alte Weib — AISCHYLOS
Und hast du Nicht schon für das den Tod verdient? EURIPIDES
Bewahre, Gott Apollon! Nur demokratisch handelt ich. DIONYSOS
Mein Lieber, laß das ruhen; Denn die Materie führt dich gar zu häufig in die Sümpfe! EURIPIDES
Das Volk hier hat bei mir allein gelernt zu sprechen — AISCHYLOS
ironisch
Freilich, Und wie? O wärst du, eh du sie gelehrt, entzweigeborsten! EURIPIDES
— sich schulgerecht zu bilden, scharf die Reden auszuzirkeln, Verstehn, bemerken, denken, sehn, belisten, widerlegen, Argwöhnen, Achsel zucken und vorsichtig lauschen. AISCHYLOS
ironisch
Freilich! EURIPIDES
Ich gab die ganze Häuslichkeit, worin wir sind und leben, Und stellte der Kritik mich bloß; denn jeder ist befähigt, Hierin zu richten meine Kunst. Ich wollte nicht posaunen, Nicht das Verständnis hemmen und betäuben durch Geschöpfe Wie Kyknos oder Memnon »auf dem Prasselschellenrosse«! 314
Und leicht erkennen wird man seiner und meiner Schule Jünger: Phormisios, der Magnesier, Megainetos sind seine, Blitzhageldonnerwetterkerls, Steineichenstämmentwurzler; Doch meine Schüler: Kleitophon, Theramenes, der feine. DIONYSOS Theramenes? Ein kluger Mann, gewandt in allen Stücken, Der, fallen seine Würfel schlecht und sitzt er in der Patsche, Sich stets herauszuwinden und dem Glück weiß nachzuhelfen! EURIPIDES Auf solche Weisheit allerdings Hab ich die Bürger eingeschult, Indem ich Scharfsinn und Räson Der Kunst verlieh, daß regelrecht Jedweder denkt und rationell Nun Haus und Hof und Vieh bestellt, Wie er es früher nie getan, Und sorgsam forscht: »Wie steht's mit dem? Wo find ich dies? Wer nahm mir das?« DIONYSOS Kein Wunder, wenn nun jeglicher Athener, wie er tritt ins Haus, Scharf sein Gesind examiniert Und brüllt: »Wo ist der irdne Topf? Wer hat den Heringskopf verzehrt? Das Trinkgefäß vom vor'gen Jahr Ist auch nicht mehr am Leben, scheint's? Wo ist der Lauch von gestern hin? Wer hat mir die Oliv benagt?« — Sonst saß der Mann ganz albern da, Ein Muttersöhnchen, offnen Mauls, So dumm wie aus Melite! CHOR »Hast du es gesehn, glorreicher Achill?« Sprich, was willst du ihm erwidern? Daß dich nur Fort dein Ungestüm nicht reißt Aus den Schranken dieser Rennbahn, Da er dich so hart beschuldigt! Siehe zu, du stolzer Geist, Daß du ruhig ihm begegnest, Und mit eingerefften Segeln 315
Gib dem Wind kein Angriffsziel; Lasse dann allmählich locker, Und gib Obacht, bis du endlich Sanften und beständ'gen Wind gewonnen hast! Wohlauf nun, du erster hellenischen Stamms, der erhabene Worte getürmt hat Und aufgeputzt das tragische Spiel, eröffne die Schleusen dem Wortstrom! AISCHYLOS Es empört mich, dem gegenüber zu stehn, und es kocht mir das Blut in den Adern, Daß ich diesem ein Wort nur erwidern soll: doch er könnte mein Schweigen verleumden! Nun denn, so gib mir auf eines Bescheid: was erwirbt dem Poeten Bewundrung? EURIPIDES Talent und Geschick und moralischer Zweck, begeisterter Eifer, die Menschen Im Staate zu bessern! AISC HYLOS Doch wie, wenn du das Entgegengesetzte gewirkt hast Und Menschen, bieder und ehrenwert, in erbärmliche Wichte verwandelt, Was glaubst du dafür zu verdienen? DIONYSOS Den Tod! Wer wird erst noch lange da fragen? AISCHYLOS So betrachte die Menschen, in welcher Gestalt von mir er zuerst sie bekommen: Grundedler Natur, vierschrötig und stark, nicht Hasenpanierpatrioten, Nicht Pflastertreter und Gaukler, wie jetzt, Klatschweiber, durchtriebene Schelme, Nein: Speerwucht schnaubend und Lanzengewalt, weißbuschige Pickelhauben, Beinschienen und Helme und Waffengeklirr und siebenstierhäutigen Kriegsmut! EURIPIDES Da ist schon das Übel: er setzt mir zu schon wieder mit Helmen und Hauben! 3 16
Und was hast du denn getan, um solch grundedle Naturen zu schaffen? DIONYsos
Sprich, Aischylos, sprich und trotze nicht stumm in eigensinnigem Ingrimm! AISCHYLOS
Ein Drama schuf ich des Ares voll. DIONYsos
Das wäre? AISCHYLOS
Die »Sieben vor Theben«! Ein jeglicher Mann, der dieses geschaut, entbrannte, dem Feind zu begegnen. DIONYSOS
Ein sauberer Dienst, den du uns erwiest: denn rüstiger hast du zum Kriege Und tapfrer die Männer von Theben gemacht und verdientest für solches die Peitsche! AISCHYLOS
Ihr könntet euch üben so gut wie sie, doch kam euch daran kein Gedanke. Dann hab ich die »Perser« euch vorgeführt und, der Taten erhabenste feiernd, Die Bürger den Weg der Ehre geführt, zu trotzen jeglichem Gegner! DIONYSOS
Wie freut ich mich nicht, da der Jammer anhub zum Tode des großen Dareios, Und der Chor aneinander die Hände schlug, etwa so (Gebärde), und rief: »Iuauoi ! « AISCHYLOS
Denn Tatkraft wecken muß der Poet! Durchmustre sie alle von Anfang, Die edelsten Dichter, wie nützlich sie stets dem gemeinen Besten gewesen: Orpheus, der uns heilige Weihen gelehrt und die Scheu vor blutigen Taten; Musaios brachte die Heilkunst uns und Orakel; vom Pflügen und Säen Und Ernten berichtete uns Hesiod; der göttliche Sänger Homeros, 317
Was hat ihn zu höchsten Ehren gebracht, als daß er zur Lehr uns beschrieben Die Stellung der Heere, der Helden Kraft und die Waffen der Männer? DIONYSOS Doch hat er Den linkischen Pantakles nicht gelehrt, der neulich als Führer des Festzugs Den Helm auf den Kopf sich setzt' und den Busch dann drüber zu stecken sich quälte. AISCHYLOS Jedoch andere tüchtige Männer viel, den Lamachos drunter, den Heros! Von solchem Gepräge erschuf mein Geist der Heldengestalten die Menge: Wie Patroklos, Teukros, das Löwenherz, auf daß ich die Bürger erweckte, Nach solchem Maß sich zu strecken, sobald sie die Kriegsdrommete vernähmen. Doch nie, bei Zeus, hab ich Hurengezücht, Stheneboien und Phädren gedichtet, Ja, mag mir einer ein liebendes Weib in meinen Tragödien zeigen! EURIPIDES Aphrodite freilich, die war dir fremd! AISCHYLOS Und soll es auch ewig mir bleiben! Auf dich und die Deinen, o freilich, da ließ sie in aller Breite sich nieder; So hat sie dich selber heruntergebracht. DIONYSOS Ja, ja, so ist die Geschichte: Denn was du erdichtet von anderen Fraun, das hat dich ja selber betroffen! EURIPIDES Was haben dem Staat, du Verwegener, denn Stheneboia und Phädra geschadet? AISCHYLOS Daß ehrlicher Männer ehrliche Fraun den Schierlingsbecher getrunken, Betört durch dich und in Schande gestürzt durch deine Bellerophonten! 318
EURIPIDES
Und war denn nicht vor mir die Sage schon da von Phädra?
Hab ich sie ersonnen? AIS HYLOS • Sie war es, gewiß! Doch Schändliches soll sorgfältig verhüllen der
Dichter, Nicht ans Tageslicht ziehn und öffentlich gar aufführen ; denn was • für die Knaben Der Lehrer ist, der sie bildet und lenkt, das ist für Erwachsne der Dichter. Nur das Treffliche dürfen wir singen. EURIPIDES Und du, wenn du Riesengebirge von Worten Auftürmst und lauter Parnasse sprichst, heißt das wohl das Treffliche singen? Man muß doch menschlich wohl reden! AISCHYLOS O du Verblendeter, muß ich für große Gedanken, Entschlüsse nicht Worte zugleich mir erschaffen von gleichem Gewichte? Und es ziemt sich auch wohl, daß der Halbgott stets in gewaltigen Worten sich ausspricht, So wie er denn prächtiger auch als wir und reicher erscheint in Gewändern. Das alles, wofür ich das Rechte gezeigt, du hast es verdorben! EURIPIDES Wieso denn? AISCH YLOS Indem du erbämlich mit Lumpen behängt die Könige, nur um zu rühren Die Herzen des Volks. EURIPIDES Und mit solcherlei hätt ich Schaden gestiftet? Wieso denn? Aisa i YLOS Du verführtest die Reichen, daß keiner mehr gern dreirudrige Schiffe will führen Und, über und über in Lumpen gehüllt, lamentiert, daß er bettelhaft arm sei. DIONYSOS Bei Demeter, ja, und doch trägt er ein Kleid von der teuersten Wolle darunter 319
Und taucht, wenn er durch in den Lumpen sich log, dann wieder empor auf dem Fischmarkt! AISCHYLOS Dann ferner hast du die Bürger gelehrt, sich aufs Plaudern und Faseln zu legen, Das hat die Palästra entvölkert und wund die Hintern mit Sitzen gerieben Den zungenfertigen jungen Herrn, und aufgewiegelt das Schiffsvolk Zum Widerspruch gegen die Obern. Ja, zur Zeit, wo ich lebte, da wußten Sie weiter noch nichts, als um Zwieback zu schrein und »hoiho!« wacker zu rufen. DIONYSOS Weiß Gott! Und dem untersten Ruderknecht ins Angesicht Winde zu jagen, Bei Tisch zu beschmutzen den Nebenmann und am Lande zu rauben und plündern! Jetzt wird räsoniert und gefaulenzt an Bord, in die Kreuz und Quere gesegelt. AIscHYLos
Was hat er nicht alles verdorben zumal? Hat er denn nicht Kuppler uns vorgeführt, Gebärende Weiber im Tempelraum Und Schwestern, mit leiblichen Brüdern gepaart, Und Frauen, die sagen: das Leben sei Tod? Durch all das hat er die Stadt uns gefüllt Mit Rechtsagenten und Schreibergeschmeiß, Volksaffen, Schmarotzern mit wedelndem Schweif, Die das Volk betrogen zu aller Zeit! Doch niemand versteht sich auf Fackellauf mehr Vor Mangel an männlicher Obung. DIONYSOS Ja, wahrlich, so hab ich mich neulich erst Bei den Panathenäen zu Tode gelacht: Da keucht auf der Bahn so ein Faultier daher, Blaß, feist und gebückt, ganz weit hintendrein, Der pustet' erschrecklich! Den fingen am Tor Die Keramier auf und durchbleuten ihm derb Den Buckel, die Lenden, den Bauch und den Steiß, 3zo
Und wie sie mit klatschender Hand ihn gewalkt, Mit säuselndem Wind Ausbläst er die Fackel und flüchtet.
CHOR Grimmige Händel, hitzige Zwietracht, derbe Kämpfe gehn hier vor, Und es heißt was, hier zu richten, Wo mit Macht der eine dreinhaut, Und der andre sich zu drehn weiß und geschickte Finten schlägt! Aber bleibt nicht stets beim gleichen, Angriffskünste, Fechterkniffe gibt's noch andre vielerlei; Was ihr auch zu streiten findet, Lästert, keift und scheltet, rupft euch Alte Sünden auf und neue, Und in beißend feinen Witzen unterfangt euch mutig nun! Wenn ihr aber glaubt, an Bildung möcht es eurem Publikum Fehlen, zu kapieren eure Feinen Hieb und Redensarten — Macht euch deshalb keine Sorgen; es ist nicht mehr so wie sonst: Denn sie sind gediente Leute, Jeder treibt Lektür' und lernt aus Büchern Witz, Geschmack und Ton, Schon von Haus aus gute Köpfe, Sind durch Bildung sie geschliffen. Nein, da habt ihr nichts zu fürchten: Schlagt euch, wie ihr wollt: es richtet euch ein weises Publikum!
EURIPIDES So will ich gerade beim Prolog dich fassen, Um gleich an der Tragödie erstem Teil Von vornherein zu prüfen dein Talent: Denn unklar gibt er stets die Handlung an. DIONYSOS Und welchen nimmst du vor? EURIPIDES Nicht einen bloß! Zu Aisthylos Sag mir zuerst den aus der »Orestie K ! 321
DIONYSOS
Still, alles schweige! Aischylos, fang an! AlSCHYLOS
»0 chthon'scher Hermes, waltend väterlicher Gewalt! Gib Heil, ich fleh, und Beistand mir: Ins Vaterland rückkehrend zieh ich heim!« DIONYSOS zu Euripides
Mißfällt dir hier ein Wort? EURIPIDES Oh, mehr als zwölf! DIONYSOS Doch sind's in allem nur drei Verse erst. EURIPIDES Und zwanzig Fehler stecken doch in jedem! DIONYSOS Hör, Aischylos, ich rat dir, schweige, sonst Wirst du an mehr noch als drei Jamben schuldig. AISCHYLOS Ich soll ihm schweigen? DIONYSOS Ja, wenn du mir folgst! EURIPIDES Da hat er gleich sich himmelweit verfehlt! AISCHYLOS Was schwatzt du nur daher? EURIPIDES Was macht's mir aus? AISCHYLOS Wo siehst du Fehler? EURIPIDES Wiederhol die Worte! AISCHYLOS »0 chthon'scher Hermes, waltend väterlicher Gewalt —« EURIPIDES
Dies sagt Orestes auf dem Grab Des Vaters, des Verstorbnen, nicht? AISCHYLOS Gewiß! 322
EURIPIDES
Und meint wohl: als sein Vater mit Gewalt »Durch Weibeshand und Mörderlist. gefallen, Da sei es Hermes, der dabei »gewaltet«? AISCHYLOS Den l i s t' gen nicht, den Hermes der Verstorbnen, Den chthonischen, ruft er an und sagt es klar, Ein väterlich Geschenk sei dieses Amt. EURIPIDES Noch größer, als ich glaubt, ist dann der Fehler: Gab ihm das unterird'sche Amt sein Vater — DIONYSOS einfallend
Dann ist er Gräberdieb, bestellt vom Vater! AISCHYLOS zu Dionysos
Der Wein, den du genießt, ist ohne Blume! DIONYSOS Den nächsten Vers! Zu Euripides
Und du merk auf die Fehler! AIScHYLOS — »Gib Heil, ich fleh, und Beistand mir: Ins Vaterland rückkehrend, zieh ich heim.« EURIPIDES Zweimal das gleiche, großer Aischylos! AISCHYLOS Wie? EURIPIDES Sieh das Verb an; ich erkläre dir's: »Ins Vaterland rückkehrend, zieh ich heim.« Rückkehren — heimziehn — ist ja ganz dasselbe! DIONYSOS Ganz so, wie wenn zum Nachbarn einer sagt: »Leih deinen Backtrog, deine Mulde mir!« AISCHYLOS Nicht doch, du Schwätzer, das ist ganz und gar Nicht gleich: der Vers ist völlig tadellos. DIONYSOS Wieso? Laß hören, wie du da dir hilfst! 323
AISCH YLos
Heim zieht man, wenn man eine Heimat hat Und nie gefährdet ward; doch ein Verbannter Zieht heim und kehrt ins Vaterland zurück. DIONYSOS Beim Phoibos, gut! Euripides, wie steht's? EURIPIDES Dann kehrt Orestes nicht ins Vaterland; Denn heimlich kommt er, ohne Staatserlaubnis. DIONYSOS Beim Hermes, gut, — versteh ich's auch nicht ganz! EURIPIDES zu Aischylos
Und nun das nächste! DIONYSOS Hurtig, Aischylos, Die andern Verse! Zu Euripides
Und du beschau die Mängel! AISCHYLOS »Dich ruf ich, Vater, auf dem Grabeshügel, Vernimm mich, höre —« EURIPIDES Wieder ganz das gleiche! »Vernimm und höre!« Plumpe Wiederholung! DIONYSOS Er spricht ja mit Verstorbnen, armer Tor, Die man auch dreimal rufend nicht erreicht! Zu Euripides
Wie machst denn du nun die Prologe? EURIPIDES Höre! Und sag ich je was zweimal oder zeigst Du mir ein Flickwort, spei mir ins Gesicht! DIONYSOS Beginn, ich höre mit gespitztem Ohr Auf deiner Verse Reinheit im Prolog. EURIPIDES »Beglückt im Anfang war einst Odipus —« 324
AISCHYLOS
Nein, sag ich, unglückselig von Geburt! Von wem Apoll, eh er empfahn, geboren, Weissagt', er werde seinen Vater töten,
War der von Anfang ein beglückter Mann? EURIPIDES
»Danach der Sterblichen unseligster —« AIscHYLOS Danach? Er war's von Anbeginn und blieb's! Denn kaum geboren, ward er ausgesetzt, Zur Winterzeit, in einem irdnen Topf, Um nicht zum Vatermörder zu erwachsen; Geschwollnen Beins kam er zu Polybos; Dann nahm, ein Jüngling er, ein altes Weib, Und überdies die eigne Mutter noch; Dann blendet' er sich selbst — DIONYsos
Beglückt, als hält er Mit Erasinides zur See befehligt! EURIPID ES
Du faselst! In Prologen bin ich Meister! AISCHYLOS
Bewahr mich Gott, daß ich dich Wort für Wort Durchhechle; sämtliche Prologe mach Ich dir zuschanden mit dem Wörtchen »Schuh!« EURIPIDES Was? Mit dem Schuh? AISCHYLOS Mit einem einz'gen Schuh!
Du machst sie dergestalt, daß deinen Jamben Sich alles anpaßt: Jäckchen, Säckchen, Schuh! Die Probe geb ich dir im Augenblick. EURIPIDES Das willst du, wirklich? AISCHYLOS Ja! DIONYSOS zu Euripides
So deklamiere! EURIPIDES »Aigyptos, wie die Sage weit erscholl, 325
Mit fünfzig Söhnen durch der Ruder Schlag In Argos angelangt —« AISCHYLOS
Verlor den Schuh! DIONYSOS
Was soll der Schuh hier, du Vermaledeiter? Noch einen Prologus! Da soll er sehn! EURIPIDES
»Dionysos, der, mit Thyrsosstab und Rehfell Geschmückt, beim Fackellicht auf dem Parnaß Im Reigentanz sich schwingt —« AISCHYLOS
Verlor den Schuh! DIONYSOS
O weh, schon wieder ein verlorner Schuh! EURIPIDES
Hat nichts zu sagen! Doch dem folgenden Prologe paßt er keinen Schuh mehr an! »Beglückt in allem ist kein Sterblicher: Denn dieser, edlen Stamms, ist arm an Gut, Und jener, ahnenlos —« AISCH noS
Verlor den Schuh! DIONYsoS
Euripides! EURIPIDES
Was ist denn? DioNYSOS Geh nach Haus, Denn in der Tat, dich drückt der Schuh gewaltig! EURIPIDES
Nein, nein, das macht mir keine Sorgen, jetzt Bleibt er mit seinem Schuh mir sicher weg! DIONYSOS
Noch einen denn: doch sei auf deiner Hut! EURIPIDES
»Der Sohn Agenors, Kadmos, ausgezogen Aus Sidons Königsburg —« AISCHYLOS
Verlor den Schuh!
326
DIONYSOS
Du Ärmster, kauf ihm ab den bösen Schuh, Sonst tritt er die Prolog' uns ganz entzwei! EURIPIDES Abkaufen? Ich? DIONYSOS O ja, wenn du mir folgst! EURIPIDES Niemals! Prologe weiß ich viele noch, An die er keinen Schuh mir hängen soll! »Der Tantalide Pelops, der nach Pisa Mit schnellen Stuten kam —« AISCHYLOS Verlor den Schuh! DIONYSOS Da hast du's, wieder hängt der Schuh daran! Mein Bester, kauf um jeden Preis ihm einen; Für zwei Obolen kriegst du von den besten. EURIPIDES Nein, nein! Noch hab ich der Prologe gnug. »Oineus auf dem Gefild —« AISCHYLOS Verlor den Schuh! EURIPIDES So laß mich doch den Vers zu Ende sagen! »Oineus auf dem Gefild beim Erstlingsopfer Des reichen Ernt'ertrags —« AISCHYLOS Verlor den Schuh! DIONYSOS Wie, unterm Opfern? Ei, wie ging das zu? EURIPIDES Laß ihn, mein Freund; sieh zu, was sagt er jetzt? »Zeus, wie die Wahrheit selbst geoffenbart —« DIONYSOS Du bringst mich um! Er sagt: »Verlor den Schuh!. Denn wie die Feigenwarz am Auge sitzt, So hängt der Schuh an jeglichem Prolog. — Mach dich einmal an seine Chorgesänge! EURIPIDES Fürwahr, beweisen will ich ihm: ein Stümper 327
Ist er im Chor, der stets sich wiederholt! CHOR Was man da wieder vernehmen wird? Wahrlich, ich sinne vergeblich nach, Was er aufbringen mag wider Jenen Mann, der die meisten doch Und die schönsten Gesänge gemacht, Wie sonst keiner bis heute! Wundern soll es mich, was an ihm Er zu mäkeln wohl findet, An dem bacchantischen König; Wahrlich, mir bangt für den Tadler! EURIPIDES Erstaunenswerte Lieder! Hört nur gleich! Denn all in eins will ich zusammenziehn! DIONYsos Ich nehme Steinchen, so, und zähle nach. EURIPIDES singt unter Flötenbegleitung
»Achilleus aus Phthia, vernehmend das Männergemetzel, Ach, bringst du nicht wundenabwehrende Hilfe? Hermes verehren als Ahn wir, die seeumwohnenden Männer, Ach, bringst du nicht wundenabwehrende Hilfe?« DIONYSOS ebenfalls singend
Zwei Wunden, o Aischylos, hast du! EURIPIDES »Glorreichster Atride, gewalt'ger Achaierkönig, vernimm mich! Ach bringst du nicht wundenabwehrende Hilfe?« DIONYsos wie eben
Drei Wunden, o Aischylos, siehst du? EURIPIDES »Andachtsvoll! Die Melissen sind nah, um der Artemis Tempel zu öffnen! Ach, bringst du nicht wundenabwehrende Hilfe? Männlicher Helden gesegnete Fahrten vermag ich zu preisen, Ach, bringst du nicht wundenabwehrende Hilfe?« 328
DIONYSOS
Allmächt'ger Zeus, da sitzt ja Wund auf Wunde! Ich denk, ich geh nur schleunig in ein Bad: Wundfieber krieg ich sonst in allen Gliedern! EURIPIDES Nicht, eh du noch 'nen andren Liedersatz, Aus Zitherweisen hergestellt, gehört! DIONYSOS So fahre fort, doch laß die Wunden weg! EURIPIDES singt
»Wie der Achaier Doppelthroniges Fürstenpaar mit der Jugend von Hellas«, tophlattothrat tophlattothrat, »Hündische Sphinx als des Unglücks Führer gesendet«, tophlattothrat tophlattothrat, »Ward mit dem Spieß und dem rächenden Arme der stürmende Adler«
tophlattothrat tophlattothrat, »Zum Raub bestimmt luftdurchsegelnden, gierigen Hunden« tophlattothrat, tophlattothrat, »Das Volk, auflauernd dem Aias«, tophlattothrat, tophlattothrat! DIONYSOS Was soll das phlattothrat? Wo hast du's her, Das Brunnenseilerlied? Aus Marathon? AISCHYLOS Nein, Schönes hab ich schön mir angeeignet Und nicht auf gleicher heil'ger Musenwiese Mit Phrynichos zu pflücken mir erlaubt. Doch der da stiehlt aus allem: Hurenliedern, Aus Skolien von Meletos, kar'schen TanzUnd Trink- und Trauerliedern! — Hier ein Pröbchen! Bringt mir die Laute! Doch wozu die Laute Für ihn? Komm her, die du mit Klapperscherben Den Takt schlägst, Muse des Euripides, Nur du begleitest würdig seine Lieder! Ein häßlich ausstaffiertes Weib tritt auf mit Topfscherben als Kastagnetten DIONYSOS
Die spielt wohl nicht in lesbischer Manier? 329
AISCHYLOS
singt, begleitet von dem Klappern der »Muse.
»Halkyonen, die ihr an ewigrauschenden Meereswogen zwitschert und girrt, Die ihr mit tropfender Fittiche Schwung Feucht den gebadeten Leib bespritzt«; Ihr, die so heimlich im Eck unterm Dach »Mit ei- ei- ei- ei- ei- ei- eifrigen Fingern«, ihr Spinnen, »Webekundig die Fäden dreht, Zum Klang des melodischen Weberschiffs, Wo der flötentrunkene Delphin Um die stahlblaukielige Barke Tanzt«, weissagend der Fahrt Gelingen; Lichtglanzatmender Rebenblust, Kummerstillendes Traubengewind, »Nun umschling, o Kind, mit blühendem Arm!« — Zu Dionysos
Bemerkst du den Fehler im Rhythmus? DIONYSOS Gar wohl! AISCHYLOS Und bemerkst du auch diesen? DIONYSOS Ja! AISCHYLOS zu Euripides
Dergleichen Weisen dichtest du! Und du willst tadeln meinen Sang, Der du »in Zwölferleimanier« Kyrenes Lieder fertigst? So viel von deinen Chören. Jetzt will ich Anstimmen deiner Monodien Weise: Singt
O schwarzäugig Dunkel der Nacht, Was schickst du für gräßlichen Traum mir Aus der finstern Tiefe, den Boten der Styx, Mit seelenloser Seele, das Kind Pechschwarzer Nacht, mit schaurig scheußlichem Antlitz, Schwarzleichengewandet, blutigen, blutigen Mord im Aug, Mit gewaltigen Krallen mir dräuend? »Zündet ein Licht mir, ihr Mägde, geschwind«, 330
Schöpfet in Eimern aus Strömen den Tau und wärmt mir das Wasser, Daß ich den göttlichen Traum abspüle! Ha, König des Meeres! Das ist's, o ihr Freunde, das ist's, Schaut diesen Greuel im Haus! Seht, aus dem Hof hat gestohlen den Hahn mir und ist Verschwunden Glyke! Ihr bergentsprossenen Nymphen, Greift sie, und du auch, Sklavin Mania! Ach, ich Arme saß so emsig An meiner Arbeit, die Spindel voll Garn Ei- ei- ei- eifrig in Händen drehend, Einen Knäuel zu fertigen, um ihn Morgendlich früh auf dem Markt zu verkaufen. Aber entflogen, entflogen zum Äther auf Ist er mit allzu behenden Gefieders Schwung Und ließ mir nur Schmerzen, ach Schmerzen zurück, Und Tränen, ach Tränen herab von den Wangen Strömen mir, strömen der armen Maid! »Aber, ihr Kreter, Söhne des Ida«, Auf und ergreift die Geschosse der Rache, Rühret die Glieder, umzingelt das Haus! Und du zugleich, jungfräuliche, schöne Artemis Diktynna, Komm herbei mit deinen Hündchen und durchstöbre die Burg! Auch du, Zeus' Tochter, den Doppelbrand schwing In der rührigen Hand, o Hekate, Und leuchte mir in das Haus der Glyke, Daß ich scharf Haussuchung dort halte! DIONYsos Hört auf mit Singen! AISCHYLOS Ich hab auch genug! Zur Waage führ ich jetzt ihn noch, sie wird Allein entscheiden über unsre Kunst, Kundgebend, was ein Wort von jedem wiege. Eine große Waage wird gebracht DIONYSOS
So kommt, da ich zu guter Letzt wie Käs Auswägen soll so großer Dichter Kunst!
331
CHOR
Was ein Genie doch nur erdenkt! Welch eine Grille, wundersam, Unerhört, absonderlich! Käm einem andern solch ein Einfall? Hätte mir dieser oder jener Etwas dieser Art gesagt, nein, Niemals glaubte ich's und dächte, Er hätt's nur erlogen! DIONYSOS Da, stellt euch her zur Waag', ihr beiden! AISCHYLos und EURIPIDES Hier! DIONYSOS So, faßt sie! Jeder sagt dann seinen Spruch Und läßt nicht fahren, bis ich »Kuckuck!« rufe. BEIDE Wir halten! DIONYSOS Sprecht nun euren Vers hinein! EURIPIDES »0 hätte nie der Argo Kiel durchflogen —« AISCHYLos
»Spercheiosstrom, ihr herdenreichen Weiden —« DIONYSOS Kuckuck! BEIDE Geschehn! — DIONYSOS auf Aischylos deutend
Da seht, die seine sinkt Viel tiefer! EURIPIDES Und was ist der Grund davon? DIONYSOS Weil er den Strom hineingelegt, den Vers Wollhändlermäßig netzend wie die Wolle; Du legtest ein beflügelt Wort hinein. EURIPIDES Er soll sich stellen und noch einen sprechen! 332
DIONYSOS
Faßt beide wieder an! BEIDE Wir fassen. DIONYSOS Sprich! EURIPIDES »Der Peitho einz'ger Tempel ist das Wort.« AISCHYLOS »Kein Gott als nur der Tod verschmäht Geschenke.« DIONYSOS Laßt los ! BEIDE Geschehn! DIONYSOS Die seine senkt sich wieder; Den Tod, der Übel schwerstes, legt' er drein. EURIPIDES Und ich die Peitho — gibt's was Schöneres? DIONYSOS • Ein leicht Geschöpf mit wind'gem Hirn ist Peitho; Drum such ein andres vollgewicht'ges Wort, Das niederzieht, was Großes, Markiges! EURIPIDES Laß sehn, wo hab ich so was? DION YSOS Ich will helfen: »Achilleus hat geworfen zwei und vier.« Doch sprecht; die Waage schwankt zum letztenmal! EURIPIDES »Die Rechte faßt die eisenschwere Keule.. AISCHYLOS »Und Wagen stürzt' auf Wagen, Leich auf Leiche.« DIONYSOS Er hat dich wieder überlistet. EURIPIDES Wie? DIONYSOS Zwei Wagen und zwei Leichen legt er drein, Zwölf Dutzend Mohren heben die nicht auf!
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AISCHYLOS Weg mit den Versen jetzt! Er selber setze Mit Weib und Kindern und Kephisophon Sich in die Waag, und allen seinen Büchern; Von mir leg ich zwei Verse nur hinein — DIONYSOS Lieb sind mir beide: da entscheid ich nicht; Ich möchte gern mit keinem mich verfeinden. Als Meister acht ich den, den andern lieb ich. PLUTON
So kommst du nicht zum Ziel, wozu du herkamst! DIONYSOS Und wenn ich richte? PLUTON
Nimmst du einen mit, Den du dir wählst; sonst warst du hier umsonst. DIONYSOS Vergelt dir's Gott! zu Euripides und Aischylos
Nun denn, so hört mich an! EURIPIDES Wozu? DIONYSOS Daß bald, gerettet, Chöre feiern mag Die Stadt. Wer nun von euch ihr guten Rat Zu geben weiß, den denk ich mitzunehmen. Erst sagt mir, was von Alkibiades Ihr denkt; denn in Geburtswehn liegt die Stadt. EURIPIDES Wie denkt die Stadt von ihm? DIONYSOS Was soll ich sagen? »Sie liebt, sie haßt und hätt ihn doch so gern!« Doch sagt ihr selbst, was denkt ihr in der Sache? EURIPIDES Den Bürger haß ich, der dem Vaterland Zu nützen langsam, ihm zu schaden rasch, Der nie dem Staat, nur sich zu helfen weiß. DIONYSOS Vortrefflich! Aber du, was meinst denn du? 334
AISCHYLOS
Zieht keinen jungen Löwen auf im Staat! Erwächst euch einer, müßt ihr ihm euch fügen! DIONYSOS Oh, Retter Zeus, da hält es schwer zu richten: Der sprach verständig, jener sehr verständlich! Noch eine Meinung soll mir jeder sagen, Wie er das Heil des Staats zu fördern weiß. EURIPIDES Ich weiß es, und ich will es sagen. DIONYSOS Sprich! EURIPIDES Wenn hier das Mißtraun in Vertraun wir wandeln, Und dort Vertraun in Mißtraun. DIONYSOS Etwas dunkel; Wir sind hier Laien, sprich nicht so gelehrt! EURIPIDES Wenn wir den Bürgern, denen jetzt wir traun, Mißtraun und die, die jetzt wir nicht verwenden, Verwenden, dann vielleicht sind wir gerettet: Denn geht's uns schlecht mit diesen, muß ja wohl Bei solchem Umtausch Rettung uns erblühn! Kleokrit beflügelt mit Kinesias, Dann trägt der Wind ihn übers breite Meer! DTONYSOS Das klingt wohl spaßhaft; doch was wär der Sinn? EURIPIDES Käm es zur Seeschlacht, spritzten sie aus Krügen Den Feinden scharfen Essig in die Augen. DIONYSOS Fein, Palamedes, o du kluges Wesen! Hast du's ersonnen oder Kephisophon? EURIPIDES Ich selbst! Kephisophon die Essigkrüge! DIONYSOS zu Aischylos
Doch du, was meinst du? AISCHYLOS Sag mir erst, an wen 335
Die Stadt sich hält -- die Tücht'gen? DIONYSOS Wäre schön! Die haßt sie gründlich! AISCHYLOS Und die Schlechten liebt sie? DIONYSOS Das eben nicht! Sie braucht sie, weil sie muß. AISCHYLOS Wie ist denn aber solcher Stadt zu helfen, Der weder Rock noch Mantel passen will? DIONYSOS Ersinn etwas, wenn du nach oben willst! AISc:HYLOS Dort oben sagt ich's gern; hier mag ich nicht. DIONYSOS O nicht doch! Sende guten Rat hinauf! AISCHYLOS Wenn sie des Feindes Land für eignes achten Und eignes für des Feindes, für Gewinn Die Flotte, jeden andern für Verlust! DIONYSOS Gut, wenn die Richter nur nicht alles schluckten! PLUTON zu Dionysos
Entscheide jetzt! DIONYSOS Mein Urteil lautet so: »Ich nehme den, den meine Seel erkor.. EURIPIDES Der Götter denk, bei denen du geschworen, Mich heimzuführen; wähle deinen Freund! DIONYSOS »Die Zunge schwur's « — ich wähle Aischylos! EURIPIDES Du gottverfluchter Mensch, was tust du? DIONYSOS Ich? Für Aischylos entscheid ich! Warum nicht? EURIPIDES »Du wagst mich anzuschaun nach solcher Schandtat?« 336
DIONYsos
»Ist's Schandtat, wenn's dem Publikum nicht scheint?« EURIPIDES Grausamer, du verläßt mich hier im Tode? DIONYsos »Wer weiß, ob nicht das Leben Sterben ist« Und Schnaufen Saufen und der Schlaf ein Schafspelz? PLUTON
Nun kommt, Dionysos! Geht hinein! DIONYSOS Wozu? PLUTON
Damit ich vor der Abfahrt euch bewirte. DioNYsos
Schön, herrlich! Nein, ich habe nichts dagegen! Sie treten hinein
CHOR
Glücklich ist der Mann, der Geist, Kenntnis und Geschmack besitzt! Dafür zeugt, was wir gehört. Dieser Mann, erprobt als Weiser, Geht zurück in seine Heimat, Seiner V aterstadt zum Frommen Und zum Frommen seinen eignen Freunden und Verwandten allen, Weil ihn tiefe Einsicht schmückt. Schande, wer bei Sokrates Sitzen mag und schwatzen mag Und die schöne Kunst verliert Und vom Größten ab sich wendet, Was die trag'sche Muse fand! In gespreizten, leeren Phrasen, Tüfteleien, Quäckeleien, Faulgeschäftig `sich zu üben, ist für hohle Köpfe nur! Die übrigen außer Euripides kommen wieder heraus
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P LUTON im Rezitativ
Glück auf den Weg, mein Aischylos! Zieh hin und rett uns die teuerste Stadt Mit besonnenem Rat, und züchtige scharf Die Betörten: gar viel sind ihrer im Land! Und dies hier nimm für Kleophon mit! Gibt ihm ein Schwert
Und dies für die Schatzbeamten Und Myrmex auch und Nikom achos ! Gibt einen Strick
Dem Archenomos dies! Gibt einen Giftbecher
Und obendrein Sag ihnen, sie sollen sich schleunig hierher Verfügen zu mir, und ohne Verzug! Denn kommen sie nicht alsbald hierher, Will ich selbst sie gebrandmarkt und fest geschnürt Zusamt Adeimant, Leukolophos' Sohn, Geschwind in den Hades befördern! AI SCH YLOS ebenso
Das werd ich besorgen. Du aber indes Gib Sophokles einzunehmen den Thron Und mir zu bewahren, wenn einstmals hierher Ich kehre zurück. Denn diesen erklär Ich zum Zweiten laut in der tragischen Kunst! Doch sorge, daß nicht der verschlagene Schelm, Der Lügner, Schmarotzer und Harlekin, Sich je, und würd er gezwungen dazu, Meinen Thron zu besteigen erfreche! P LUTON zum Chor
So leuchtet ihm nun mit dem heiligen Licht Der Fackeln voran, und geleitet zugleich Ihn mit Liedern von ihm, mit Gesängen von ihm, Den gefeierten Sänger umtönend!
CHOR Schenket ihm Segen und Heil auf den Weg, dem scheidenden Dichter, Welcher zum Licht aufschwebt, o ihr Götter im Schoße der Erde! 338
Schenkt auch der Stadt zum erfreulichen Heil heilsame Gedanken! So nur mögen von Jammer und Not wir gründlich genesen, Ledig des leidigen Waffengeklirrs; und ein Kleophon fechte, Oder wer sonst es begehrt, auf den Fluren der eigenen Heimat! Alle ab
Satyr und Mänade
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PROSA
DIE GFSCHICHTSSCHREIBUNG
Herodot Der Dichter, sagte man bei den Griechen, fährt auf dem Wagen der Musen oder schwingt sich auf dem Dichterroß, dem Pegasos, in die Lüfte, der Prosaiker geht zu Fuß. So hat sich bei den Griechen die Prosa auch erst entwickelt, als der adelige Wagenkämpfer vom Krieger zu Fuß, dem Hopliten, abgelöst worden war. Das geschah im Laufe des 7./6. Jahrhunderts, und wiederum — wie die Lyrik — in Kleinasien, in Milet vor allem, jener reichen Großstadt und weltoffenen Handelsstadt, wo man ein besonderes Interesse für Geographie und Ethnographie voraussetzen darf, schon wegen der Unzahl blühender Kolonien in allen Teilen der Welt, besonders aber am Schwarzen Meer. So hat in Milet gegen Ende des 6. Jahrhunderts Hekataios sein geographisches Prosawerk in zwei Büchern verfaßt, die die Titel »Europa« und »Asien« trugen. Davon sind uns freilich nur wenige Bruchstücke erhalten. Auf ihm fußt weitgehend, jedoch die Beschreibungen historisch vertiefend, das Gesamtwerk des Herodotos aus Halikarnaß (h. Bodrum), den Cicero zu Recht den »Vater der Geschichte« genannt hat. Halikarnaß, wo Herodot wenige Jahre vor 480 v. Chr. geboren wurde, war eine dorische Gründung; die Stadt stand aber damals unter einer karischen Dynastenfamilie, der auch die Fürstin Artemisia angehörte, die um diese Zeit eine bedeutende Rolle auf persischer Seite spielte, — einer Familie, mit der Herodot vielleicht sogar verwandt war. In Halikarnaß wurde von Anfang an auch Ionisch gesprochen, weshalb Herodot sich auch bei der Abfassung seines Werks — überdies im Anschluß an Hekataios — dieses Dialekts bedient. Politische Vorgänge in seiner Heimat waren wohl mit ein Grund für ihn, seine großen Reisen — sicher nach Ägypten und nach Olbia am Schwarzen Meer — zu unternehmen, um durch »Schauen« (»theoria«) Kenntnisse (»historia«) zu gewinnen.. das eben bedeutet »Historia« ursprünglich. Aber erst ein mehrjähri340
ger Aufenthalt in Athen, wo Herodot mit Sophokles befreundet war, veranlaßte ihn wohl, sein Werk unter den großen Gesichtspunkt der Auseinandersetzung zwischen Hellenen und Barbaren, zwischen Athen und Persien, zu stellen. Dadurch hebt sich Herodot etwa von Hekataios ab, so wurde sein Geschichtswerk, das man später nach der Zahl der Musen in neun Bücher gliederte, zur ersten großen »Weltgeschichte«. Herodot hat sich im Jahre 444 von Athen aus an der Gründung der panhellenischen Kolonie Thurioi in Unteritalien beteiligt. Dort ist er vermutlich auch bald nach 425 v. Chr. gestorben; jedenfalls zeigte man sein Grab auf dem Marktplatz. Der Bau der Cheopspyramide Bis zu König Rhampsinitos, so erzählt man, herrschte in Ägypten vollkommene Ordnung und großer Reichtum. Aber Cheops, sein Nachfolger, stürzte das Land ins größte Unglück. Er schloß nämlich alle Tempel und hinderte die Leute zunächst am Opfern. Dann zwang er alle Ägypter dazu, für ihn zu arbeiten; die einen mußten Steinblöcke aus den Steinbrüchen im arabischen Gebirge bis an den Nil schleppen. Nachdem die Blöcke auf Schiffen über den Fluß geschafft waren, trug er anderen auf, sie zu übernehmen und bis zu den sogenannten libyschen Bergen weiterzuschleifen. Zu je ioo 000 Menschen arbeiteten sie gruppenweise daran, jede Gruppe drei Monate. Zehn Jahre gingen für das fronende Volk dahin allein durch den Bau der Straße, auf der sie die Steine beförderten; ein Werk, das mir fast ebenso gewaltig scheint wie der Bau der Pyramide selbst. Die Länge der Straße beträgt fünf Stadien, ihre Breite zehn Klafter, ihre Höhe an der höchsten Stelle acht Klafter; sie ist aus geglätteten Steinen gebaut, in die Tierbilder eingemeißelt sind. Zehn Jahre vergingen, bis diese Straße und die unterirdischen Kammern an dem Hügel, auf dem die Pyramiden stehen, fertig waren. Diese Kammern sollten als Grabkammern dienen, und er baute sie auf einer Insel, indem er einen Nilkanal hineinleitete. An der Pyramide selbst arbeitete man zwanzig Jahre. Bei viereckigem Grundriß ist jede Seite acht Plethren lang und ebenso hoch; sie besteht aus geglätteten, genauestens ineinandergefügten Steinen, von denen jeder mindestens 30 Fuß lang ist. Beim Bau der Pyramide ging man so zu Werke: Man baute sie wie eine Treppe, die manche Absätze, andere Stufen nennen. War zunächst eine solche Stufe gebaut, wand man die übrigen Steine mit Hilfe eines Gerüstes aus kurzen Holzstangen hinauf. So hob man die 341
Steine von der Erde auf den ersten Treppenabsatz. Jedesmal, wenn der Stein auf ihn gebracht war, legte man ihn auf ein anderes Gerüst, das auf der ersten Stufe stand ; von dort wurde er auf den zweiten Absatz gewunden, auf ein anderes Gerüst. Denn es gab so viele Maschinen wie Treppenstufen, falls man nicht die gleiche Hebevorrichtung, die ja leicht zu tragen war, mit auf jede neue Stufe versetzte, nachdem man den Stein heruntergenommen hatte. Mir ist nämlich beides erzählt worden, weshalb auch beides weitergegeben sein mag. So wurde zuerst ihre Spitze fertiggestellt, dann ging es abwärts bis zu den untersten Stufen, auf ebener Erde und tiefer. An der Pyramide ist in ägyptischer Schrift angegeben, wieviel Geld man auf Rettich, Zwiebeln und Knoblauch für die Arbeiter ausgegeben hat. Wenn ich mich recht an die Summe erinnere, die der Dolmetscher mitteilte, der mir die Inschriften vorlas, so waren es i 600 Silbertalente. Wenn das stimmt, welche Unsummen müssen da erst für Eisen aufgewendet worden sein, mit dem sie arbeiteten? Wieviel Mengen an Lebensmitteln und Kleidung für die Schaffenden? Wenn sie die angegebene Zeit an diesem Werke arbeiteten, dann war meines Erachtens ja auch die andere Zeit nicht kurz, in der sie die Steine brachen und heranschafften und den unterirdischen Kanal schufen. Cheops ging in seiner Schlechtigkeit so weit, daß er aus Geldmangel die eigene Tochter in ein Freudenhaus brachte und sie dort eine möglichst hohe Summe Geld verdienen ließ. Die Priester haben mir die Summe allerdings nicht genannt. Sie beschaffte aber das vom Vater befohlene Geld und faßte dazu noch den Gedanken, ein Denkmal für sich zu errichten. So bat sie jeden Mann, der zu ihr kam, ihr einen Stein für den Bau zu schenken. Aus diesen Steinen, so erzählt man, wurde die mittlere der drei Pyramiden gebaut, die vor der großen steht und deren jede Seite eineinhalb Plethren mißt. Aus der Geschichte der Lyder: Gyges und Kandaules
Dieser Kandaules liebte seine Frau sehr; in seiner Liebe glaubte er, sie sei die allerschönste Frau der Welt. Unter seinen Leibwächtern war Gyges, der Sohn des Daskylos. Der stand bei ihm in großer Gunst. Diesem Gyges vertraute Kandaules auch die wichtigsten Angelegenheiten an, vor ihm pries er auch die Schönheit seines Weibes. Es dauerte gar nicht lange — Kandaules mußte nun einmal dem Verderben verfallen —, so sagte er zu Gyges: »Gyges, du glaubst mir anscheinend nicht, was ich dir von der Schönheit meiner Frau erzähle; den Ohren glauben ja die Menschen weniger als den Augen. Sieh 342
doch zu, daß du sie einmal nackt sehen kannst!« Gyges aber schrie auf und sagte: »Herr, was sprichst du da für sinnlose Worte! Du sagst, ich soll meine Herrin nackt sehen? Mit dem Gewand, das sie ablegt, zieht eine Frau auch ihr Schamgefühl aus. Weise Menschen haben seit langem schon herausgefunden, was recht und gut ist. Von ihnen muß man lernen. Bei ihnen steht der eine Satz: ein jeder beschaue nur, was ihm gehört. Ich glaube gern, daß sie die schönste aller Frauen ist, und bitte dich, verlange nichts Unrechtes von mir!« Mit solchen Worten lehnte er das Ansinnen des Kandaules ab; er fürchtete, es könnte ihm daraus Unheil erwachsen. Kandaules aber antwortete: »Sei ruhig, Gyges, und fürchte nichts; ich sage dieses Wort nicht, um dich auf die Probe zu stellen, und auch meine Frau soll dir nichts zuleide tun. Ich will es von Anfang an so einrichten, daß sie es nicht einmal merkt, wenn du sie anschaust. Ich will dich in dem Zimmer, in dem wir schlafen, hinter die geöffnete Tür stellen. Nach mir wird dann auch meine Frau hereinkommen, um sich zur Ruhe zu legen. Bei der Tür steht ein Sessel. Sie wird sich auskleiden und ihre Gewänder nacheinander darauflegen. Da kannst du sie in aller Ruhe betrachten. Wenn sie aber vom Sessel zum Lager schreitet und dir den Rücken kehrt, ist es deine Sache, durch die Tür zu verschwinden, ohne daß sie dich sieht.« Gyges konnte sich dem Befehle des Königs nicht entziehen und war schließlich dazu bereit. Als die Schlafenszeit gekommen war, führte Kandaules den Gyges in das Schlafgemach, und gleich danach kam auch seine Frau. Gyges betrachtete sie, wie sie hereinkam und die Gewänder ablegte. Als sie zum Bett schritt und ihm den Rücken zuwandte, kam er hinter der Tür hervor und schlich hinaus. Die Frau aber sah ihn beim Weggehen und merkte, daß der Gatte ihr dies angetan hatte. Sie schrie trotz ihrer Schande nicht auf und ließ sich nichts anmerken; aber sie wollte sich an Kandaules rächen. Denn bei den Lydern und auch bei fast allen anderen Nichtgriechen ist es sogar schmachvoll für einen Mann, nackt gesehen zu werden. Die Königin verhielt sich ganz ruhig und ließ sich nichts anmerken. Als es aber Tag geworden war, ließ sie ihre treuesten Diener sich bereithalten und Gyges rufen. Er kam auf ihr Geheiß in dem Glauben, sie wisse nichts von dem Vorgefallenen. Er war ja auch früher, sooft die Königin rief, zu ihr gegangen. Als Gyges vor ihr stand, sagte die Frau: »Gyges, ich überlasse dir die Wahl zwischen zwei möglichen Wegen; du kannst wählen: entweder du tötest Kandaules, nimmst mich zur Frau und wirst König von Lydien, oder du mußt auf der Stelle sterben, damit du nicht als gehorsamer Freund 343
des Kandaules auch weiterhin siehst, was du nicht sehen darfst; entweder muß jener sterben, der den Plan erdacht hat, oder du, der
mich nackt gesehen und damit getan hat, was sich nicht gehört.. Gyges erschrak zunächst über die Worte; dann aber flehte er sie an, ihm doch nicht eine solche Entscheidung aufzudrängen. Sie ließ sich aber nicht erweichen. So sah er schließlich, daß ihm nur die Wahl blieb, seinen Herrn zu töten oder selbst von fremder Hand zu fallen. Da wählte er das Leben. Er fragte sie nun: »Da du mich zwingst, meinen Herrn gegen meinen Willen zu töten, möchte ich hören, wie wir ihn umbringen können.« Sie gab ihm zur Antwort: »Von der gleichen Stelle aus sollst du ihn überfallen, wo jener mich dir nackt gezeigt hat. Du sollst ihn im Schlaf überwältigen!. Als sie den Plan vorbereitet hatten, folgte er bei Einbruch der Nacht der Frau ins Schlafgemach. Er konnte nicht anders handeln; für ihn gab es keinen Ausweg: entweder er oder Kandaules mußte sterben. Sie gab ihm einen Dolch und versteckte ihn hinter derselben Tür. Als Kandaules sich dann zur Ruhe gelegt hatte, schlich Gyges heran und tötete ihn. So erhielt er die Frau und das Königreich. Seiner hat auch Archilochos von Paros, der zur gleichen Zeit lebte, in einem jambischen Trimeter gedacht. Kroisos und Solon
Nach einiger Zeit hatte (Kroisos) fast alle Volksstämme diesseits des Halys unterworfen. Alle außer den Kilikiern und Lykiern hatte sich Kroisos untertänig gemacht: Lyder, Phryger, Myser, Mariandyner, Chalyber, Paphlagonier, Thraker, Thyner und Bithyner, Karer, Ionier, Dorer, Aiolier und Pamphylier. Nachdem Kroisos sie alle unterworfen und dem lydischen Reiche angegliedert hatte, kamen alle Gelehrten aus Griechenland, welche damals lebten, aus den verschiedensten Gründen nach dem reichen und mächtigen Sardes, und bald dieser, bald jener besuchte die Stadt. So kam auch Solon aus Athen, der den Athenern auf ihren Wunsch Gesetze gegeben hatte und nun auf zehn Jahre außer Landes ging. Um die Welt zu sehen, hatte er sich angeblich auf eine Forschungsreise begeben. In Wirklichkeit sollte man ihn nicht zwingen können, auch nur eines von den Gesetzen zu ändern, die er erlassen hatte. Die Athener selbst durften keine Gesetzesänderung vornehmen. Durch schwere Eide waren sie gebunden, zehn Jahre lang die Gesetze zu beachten, die Solon ihnen gegeben. Gerade der Gesetze wegen und um die Welt zu sehen, war Solon 344
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Kleobis und Biton
außer Landes gegangen und zu Amasis nach Ägypten gekommen, und er gelangte auch nach Sardes zu Kroisos. Nach seiner Ankunft ließ ihn Kroisos im Palast gastlich aufnehmen. Am dritten oder vier345
ten Tage mußten ihn Diener auf Kroisos' Geheiß in die Schatzkammer führen und alle die großen und reichen Schätze des Königs zeigen. Als er alles gesehen und nach Wunsch betrachtet hatte. fragte ihn Kroisos: »Gastfreund aus Athen, verschiedene Kunde über dich ist zu uns gedrungen, über deine Weisheit und deine Reisen. Man hat uns erzählt, du habest als Freund der Weisheit und um die Welt kennenzulernen, viele Länder der Erde besucht. Nun möchte ich dich doch gern fragen, ob du schon einen Menschen gefunden hast, der am glücklichsten auf Erden ist.« Er erkundigte sich danach, weil er meinte, selbst der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Solon jedoch wollte ihm nicht schmeicheln, sondern die ganze Wahrheit sagen. Er sprach daher: »Ja, König, Tellos aus Athen!« Kroisos staunte über das Wort und fragte gespannt: »In welcher Hinsicht, meinst du, sei Tellos der glücklichste?« Solon antwortete: »Tellos lebte in einer blühenden Stadt, hatte treffliche, wackere Söhne und sah, wie ihnen allen Kinder geboren wurden und wie diese alle am Leben blieben. Er war nach unseren heimischen Begriffen glücklich, und ein herrlicher Tod krönte sein Leben. In einer Schlacht zwischen Athenern und ihren Nachbarn in Eleusis brachte er durch sein Eingreifen die Feinde zum Weichen und starb den Heldentod. Die Athener begruben ihn auf Staatskosten an der Stelle, wo er gefallen war, und ehrten ihn sehr.« Als Solon den Kroisos durch die Geschichte von Tellos, indem er so viel Gutes über ihn sagte, noch wißbegieriger gemacht hatte, fragte der König weiter, wen er denn für den Zweitglücklichsten halte. Er hoffte doch, wenigstens die zweite Stelle in der Glückseligkeit zu erhalten. Aber Solon sagte: »Kleobis und Biton. Diese beiden Brüder— sie stammten aus Argos — hatten ein gutes Auskommen und waren körperlich sehr stark. Beide wurden gleichzeitig Sieger in Wettkämpfen. Man erzählt folgende Geschichte von ihnen: Auf einem Herafest in Argos mußte ihre Mutter auf jeden Fall in einem Fahrzeug in den Tempel gefahren werden. Die Stiere aber waren nicht rechtzeitig vom Felde zur Stelle. Die Zeit drängte. Da traten die jungen Männer selbst unter das Joch und zogen den Wagen, in dem ihre Mutter saß. Sie liefen 4 S Stadien weit und kamen zum Tempel. Nach dieser Tat, die das ganze versammelte Volk gesehen hatte, wurde ihnen der schönste Tod zuteil. An ihnen offenbarte Gott, daß der Tod für den Menschen besser sei als das Leben. Die umstehende Menge der Argeier lobte die Kraft der jungen Männer. Die Frauen aus Argos aber priesen ihre Mutter, daß sie solche Kinder geboren habe. Hocherfreut über die Tat und den Ruhm ihrer 346
Söhne, trat die Mutter vor das Götterbild und betete, die Göttin möge ihren Kindern Kleobis und Biton, die ihre Mutter so hoch geehrt hätten, das Schönste verleihen, was ein Mensch erlangen kann. Als sie nach diesem Gebet geopfert und am Mahl teilgenommen hatten, schliefen die Jünglinge unmittelbar im Tempelbezirk ein und wachten nicht mehr auf. Sie fanden dieses Ende. Die Argeier ließen Standbilder von ihnen machen und stellten sie in Delphi auf als Bilder edler und wackerer Männer. « Ihnen also gab Solon die zweite Stelle in der Glückseligkeit. Kroisos aber rief aufgeregt: »Gastfreund aus Athen, und mein Glück erachtest du so tief, daß du mich gar unter diese einfachen Bürger stellst?« Solon erwiderte: «Lieber Kroisos, wo ich doch weiß, daß das ganze göttliche Walten neidisch und unbeständig ist, fragst du mich nach menschlichen Dingen. In der langen Zeit seines Lebens muß der Mensch vieles sehen und erleiden, was er nicht gern will. Auf siebzig Jahre setze ich die Dauer des Menschenlebens. Das sind 25 200 Tage ohne die Schaltmonate. Will man jedem zweiten Jahre noch einen Schaltmonat hinzufügen, damit die Jahreszeiten an die gehörige Stelle rücken, dann betragen die Schaltmonate im Verlauf der 7o Jahre 35 und die Tage dieser Monate ergeben ioso. Von allen Tagen dieser 7o Jahre— es sind 26 250- bringt keiner etwas, was dem anderen ganz gleicht. Darum, Kroisos, ist das Menschenleben ein Spiel des Zufalls. Mir erscheinst du gewiß sehr reich und ein König über viele Menschen. Aber das, wonach du mich fragst, kann ich dir nicht eher beantworten, als bis ich erfahren, daß du dein Leben auch glücklich beendet hast. Denn der Reiche ist nicht glücklicher als einer, der gerade nur für einen Tag genug zum Leben hat, wenn er seinen ganzen Reichtum nicht bis an sein glückliches Lebensende genießen darf. Viele sehr reiche Menschen sind unglücklich; viele, die nur mäßig viel zum Leben besitzen, sind glücklich. Der unglückliche Reiche hat nur in zwei Stücken etwas dem Glücklichen voraus, dieser aber vieles vor dem Reichen und Unglücklichen. Der Reiche kann seine Gelüste leichter befriedigen und schwere Schicksalsschläge einfacher tragen. Der andere aber hat folgendes mehr als jener: zwar wird er, eben weil er nicht reich ist, mit seinen Wünschen und Schicksalsschlägen nicht in gleicher Weise fertig wie jener. Aber sein guter Stern hält sie von ihm fern. Er ist unversehrt, gesund, ohne Leid, glücklich mit seinen Kindern und wohlgestaltet. Wenn er dann auch noch einen schönen Tod hat, dann ist er eben der, nach dem du suchst, ein Mensch, der wahrhaft glücklich zu nennen ist. Vor dem Tode aber muß man sich im Urteil zurückhalten und darf niemanden 347
glücklich nennen, sondern nur vom Schicksal begünstigt. Daß aber alles das, was zur Glückseligkeit gehört, bei einem Menschen zusammentrifft, ist unmöglich. Auch ein Land besitzt nicht alles, was es braucht; vielmehr hat es das eine und entbehrt das andere. Das beste Land ist das, das am meisten besitzt. So erfüllt auch der Mensch als Einzelwesen sich nicht selbst. Das eine hat er, etwas anderes entbehrt er. Der Mensch aber, der das meiste seines Bedarfes besitzt und in diesem Besitze lebt und glücklich sein Leben beendet, der, König, verdient nach meiner Meinung den Namen eines Glücklichen. Überall muß man auf das Ende und den Ausgang sehen. Vielen schon winkte die Gottheit mit Glück und stürzte sie dann ins tiefste Elend. « So sprach er und schmeichelte Kroisos nicht. Dieser ließ ihn, ohne ihn eines weiteren Wortes zu würdigen, von sich gehen. Kroisos hielt ihn sogar für einen großen Toren, weil er das Glück der Gegenwart nicht gelten ließ und immer nur auf das Ende hinwies. Nach Solons Abreise traf den Kroisos Gottes furchtbare Vergeltung, vermutlich weil er geglaubt hatte, er sei der glücklichste aller Menschen. Der Ring des Polykrates
Während Kambyses gegen Ägypten zu Felde zog, unternahmen auch die Lakedaimonier einen Heereszug gegen Samos und Polykrates, des Aiakes Sohn. Dieser hatte Samos während eines Aufstandes unterworfen. Zunächst teilte er die Stadt in drei Teile und gab seinen beiden Brüdern Pantagnotos und Syloson je einen. Danach tötete er einen von ihnen; den jüngeren aber, Syloson, vertrieb er. So beherrschte er nun ganz Samos allein. Im Besitz der ganzen Insel schloß er Freundschaft mit Amasis, dem König von Ägypten. Er sandte ihm Geschenke und empfing Gegengaben. Bald wuchs in kurzer Zeit des Polykrates Macht und ward berühmt in ganz Ionien und im übrigen Griechenland. Wohin er auch in den Kampf ziehen mochte, ihm gelang alles. Er besaß hundert Fünfzigruderer und tausend Bogenschützen. Er raubte und plünderte alle aus ohne Unterschied ; denn er sagte immer: man werde sich bei seinem Freunde beliebter machen, wenn man ihm Geraubtes wiedergibt, als wenn man ihm überhaupt nichts genommen hat. Er hatte auch zahlreiche Inseln und viele Städte des Festlandes besetzt. Darunter besiegte er auch die Lesbier, die mit ihrer ganzen Streitmacht den Milesiern zur Hilfe kamen, in einer Seeschlacht und machte sie zu Gefangenen. Sie 348
Kroisos auf dem Scheiterhaufen
mußten während ihrer Knechtschaft den ganzen Graben um die Mauer auf Samos ausschachten. Und irgendwie blieb auch dem Amasis das große Glück des Polykrates nicht verborgen, sondern es bereitete ihm Kummer und Sorge. Als Polykrates' Glück noch größer wurde, schrieb Amasis in ei 349
nem Brief folgendes nach Samos: »Amasis spricht zu Polykrates folgendes: Es ist zwar erfreulich zu erfahren, daß es einem lieben Gastfreund gut geht. Mir aber gefällt dein großes Glück gar nicht; denn ich weiß, daß die Gottheit neidisch ist. Ich sehe es lieber, daß ich selbst und meine Freunde einmal in ihrem Unternehmen Glück, ein andermal aber Mißerfolg haben, und daß es uns so in unserem Leben abwechselnd geht, als daß ich in allem erfolgreich bin. Noch kenne ich vom Hörensagen keinen, der nicht zuletzt ein ganz klägliches Ende nahm, wenn er in allem Glück hatte. Du also gehorche mir jetzt und tue gegen zuviel Glück folgendes: Überlege dir, was du unter allen deinen Gütern wohl für das wertvollste hältst und über dessen Verlust du am traurigsten wärest! Das wirf weg, damit es nicht mehr in Menschenhände kommen kann. Und wenn dir von nun an nicht abwechselnd Glück und Unglück zustößt, dann hilf auf die Weise nach, die ich dir eben vorgeschlagen habe.. Nachdem Polykrates dies gelesen und sich klargemacht hatte, daß Amasis ihm gut rate, suchte er nach dem wertvollsten Kleinod, dessen Verlust ihn am meisten schmerzen würde. Wie er so nachdachte, fand er folgendes: Er besaß einen Siegelring, in Gold gefaßt, den er immer trug. Er bestand aus einem Smaragdstein und war ein Werk des Samiers Theodoros, des Sohnes des Telekles. Nachdem er nun beschlossen hatte, diesen Ring wegzuwerfen, tat er es so: Er ließ einen Fünfzigruderer bemannen und ging an Bord. Dann gab er Befehl, aufs hohe Meer hinauszufahren. Als er von der Insel weit weg war, zog er den Siegelring vom Finger und warf ihn vor den Augen der gesamten Schiffsbesatzung ins Meer. Danach fuhr er heim, und zu Hause fühlte er sich todunglücklich. Am fünften oder sechsten Tag danach aber ereignete sich ihm folgendes : Ein Fischer fing einen großen, schönen Fisch und wollte ihn gern dem Polykrates zum Geschenk machen. Er trug ihn also zu seinem Palast und bat, zu Polykrates vorgelassen zu werden. Das erreichte er auch. Er gab dem Herrscher den Fisch und sagte: »König, als ich diesen Fisch fing, hielt ich es nicht für richtig, ihn auf den Markt zu bringen, obwohl ich von meiner Hände Arbeit lebe. Er schien mir vielmehr deiner und deiner Herrschaft würdig. So biete ich ihn dir zum Geschenk. « Der König freute sich über diese Worte und antwortete ihm: »Da hast du recht getan. Doppelter Dank gebührt dir für deine Worte und für dein Geschenk; wir laden dich zum Mahle.. Der Fischer war hierüber natürlich hochbeglückt und ging nach Hause. Als aber die Diener den Fisch aufschneiden, finden sie in seinem Bauche den Siegelring des Polykrates. Sie sahen ihn und 350
nahmen ihn schnell an sich; voller Freude brachten sie ihn zu Polykrates. Sie überreichten ihm den Ring und erzählten, wie sie ihn gefunden hätten. Da ihm aber der Gedanke kam, dies sei eine göttliche Fügung, beschreibt er in einem Brief seine Handlungsweise und ihren Ausgang. Diesen Brief schickte er nach Ägypten. Als Amasis die Nachricht des Polykrates gelesen hatte, erkannte er, daß es einem Menschen unmöglich sei, den anderen vor dem drohenden Schicksal zu retten, und daß Polykrates, der in allem Glück hatte, kein gutes Ende nehmen werde. Denn er finde ja gar das wieder, was er weggeworfen habe. Er sandte einen Herold nach Samos und ließ Polykrates sagen, er kündige ihm die Gastfreundschaft. Das tat er deshalb, damit er seine Seele nicht um den Gastfreund Polykrates betrüben müsse, wenn ihm ein großes, fürchterliches Unglück zustoße. Der große Perserkrieg 480 v. Chr. Beratung im persischen R eich sra t Als Xerxes nach der Niederwerfung Ägyptens daran war, den Zug gegen Athen in die Hand zu nehmen, berief er einen außerordentlichen Rat der persischen Großen, um ihre Meinung zu hören und dann seinen Willen vor allen kundzutun. Als sie sich versammelt hatten, sprach Xerxes: »Perser, ich will nichts Neues bei euch einführen, wohl aber will ich einen alten Brauch befolgen, wie ich ihn übernommen habe. Wie ich von den Älteren weiß, sind wir noch niemals zur Ruhe gekommen, seit wir diese unsere Herrschaft von den Medern durch Kyros übernahmen, der Astyages stürzte. Aber die Gottheit führt uns so und hilft uns selbst, daß unsere zahlreichen Unternehmungen zum Besten geraten. Was Kyros, Kambyses und mein Vater Dareios geleistet, welche Völker sie hinzuerworben haben, das wißt ihr; niemand braucht es euch zu erzählen. Seitdem ich diesen Thron bestieg, sann ich darüber nach, wie ich hinter meinen Vorgängern in dieser Würde nicht zurückbliebe und den Persern keine geringere Macht hinzueroberte. Beim Nachdenken finde ich, daß wir Ruhm und Ehre erwerben können und dazu noch ein Land, das nicht kleiner und schlechter ist als unser Gebiet, wohl noch an allem fruchtbarer, wobei wir obendrein Rache und Vergeltung üben können. So habe ich euch zusammengerufen, um euch meine Absicht vorzulegen. Ich will eine Brücke über den Hellespont schlagen und mein Heer durch Europa nach Griechenland führen, um die Athener zu strafen für alles Unrecht, das sie den Persern und mei351
nem Vater angetan haben. Ihr sahet, daß Dareios auf dem Sprung war, gegen diese Athener zu Felde zu ziehen. Leider starb er; so war ihm der Rachezug nicht vergönnt. Ich aber will für ihn und die übrigen Perser nicht eher ruhen, als bis ich Athen eingenommen und verbrannt habe; denn die Athener haben mit dem Unrecht gegen mich und meinen Vater begonnen. Erstens kamen sie mit unserem Sklaven Aristagoras aus Milet nach Sardes und brannten die heiligen Haine und Tempel nieder. Was sie uns ferner angetan haben, als wir unter Führung des Datis und Artaphrenes bei ihnen landeten, das wißt ihr alle. Aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen, gegen sie zu ziehen, wobei ich beim Nachdenken noch folgende Vorteile für uns finde: Wenn wir sie und ihre Nachbarn, die das Land des Phrygers Pelops bewohnen, bezwingen, dann machen wir den Himmel des Zeus zur Grenze des Perserlandes. Denn die Sonne wird kein Land bescheinen, das an das unsere grenzt; vielmehr werde ich sie alle im Bunde mit euch zu einem einzigen Lande vereinen, indem ich durch ganz Europa ziehe. Wie ich höre, steht es so: Es bleibt keine Stadt und kein Volk mehr auf der Welt, das sich uns widersetzen könnte, wenn erst einmal die beseitigt sind, die ich eben erwähnt habe. So werden die das Knechtjoch tragen, die es uns gegenüber verschuldet haben, die andern aber ohne Schuld. Ihr aber würdet mir durch folgendes Verhalten eine Freude bereiten: Zu de/von mir bezeichneten Zeit muß sich ein jeder von euch bei mir bereitwillig einfinden. Wer das am besten ausgerüstete Heer mitbringt, erhält von mir Geschenke, die man in unserem Lande für die kostbarsten hält. Dies also müßt ihr nun so tun! Damit ihr aber nicht glaubt, ich handle nur nach meinem Kopf, trage ich euch meinen Plan vor. Wer will, soll nach Belieben seine Meinung äußern!« Damit schloß er. Nach ihm sprach Mardonios: »Herr, du bist der beste aller Perser, nicht nur von denen, die jetzt leben, sondern auch von denen, die noch kommen werden. Du hast alles in deiner Rede aufs schönste und wahrste getroffen. Du willst es nicht dulden, daß die lonier in Europa uns verlachen; denn dazu haben sie gar kein Recht. Es wäre doch schrecklich, wenn wir die Saken, Inder, Aithiopier, Assyrer und viele andere große Völker, die den Persern nichts getan haben, nur deswegen unterworfen und als Sklaven hätten, um unsere Macht zu stärken, an den Griechen aber keine Rache nähmen, obwohl sie als erste mit dem Unrecht begannen. Was sollen wir denn fürchten? Wo gibt es eine zusammengeballte Heeresmacht, wo Geld und Mittel? Wir kennen ihre Kampfesart, wissen um die Schwäche ihrer 352
Streitmacht. Wir haben auch ihre Kinder unterworfen, die auf unserem Boden wohnen, die Zonier, die Aiolier und die Dorer. Ich selbst habe schon meine Erfahrung mit ihnen gemacht, als ich auf Befehl deines Vaters gegen diese Leute zog; obwohl ich bis nach Makedonien gelangte und Athen beinahe erreicht hätte, hat sich mir keiner zum Kampfe gestellt. Und doch pflegen die Griechen, wie ich gehört habe, ihre Kriege ganz unüberlegt zu beginnen, aus Unverstand und Ungeschick. Wenn sie einander den Kampf ansagen, machen sie die schönste Ebene ausfindig. Dort treffen sie sich zum Gefecht, so daß die Sieger mit größtem Verlust nach Hause ziehen; über die Unterlegenen will ich gar nicht erst reden; sie werden natürlich völlig vernichtet. Da sie die gleiche Sprache reden, müßten sie doch eigentlich ihren Streit durch Herolde und Boten beilegen, durch alles eher also als durch Schlachten. Wenn sie aber doch gegeneinander Kriege führen müßten, dann sollten beide Parteien herausfinden, wo sie am schwersten zu besiegen sind, und dort sich versuchen. Weil die Griechen aber so ungeschickt zu Werke gehen, konnten sie sich bei meinem Vorstoß nach Makedonien nicht zu einer Schlacht entschließen. Wer aber soll sich nun dir, König, feindlich entgegenstellen, wenn du deine gesamte Streitmacht aus Asien und alle Schiffe heranführst? Ich glaube, so viel Kühnheit bringen die Griechen nicht auf. Wenn ich mich aber in meiner Ansicht täuschen und jene in ihrer törichten Verblendung gegen uns zum Kampfe antreten sollten, dann dürften sie erfahren, daß wir die besten Krieger der Welt sind. Es soll aber nichts unversucht bleiben! Nichts geschieht von selbst. Nur das Wagnis pflegt für die Menschen der Erfolg zu krönen.« Nachdem Mardonios so die Meinung des Xerxes schmackhafter gemacht hatte, hielt er inne. Während die anderen Perser schwiegen und eine Gegenmeinung zu dem Vorschlag nicht zu äußern wagten, ergriff Artabanos, der Sohn des Hystaspes, ein Onkel des Xerxes, der auf seine Verwandtschaft vertraute, folgendermaßen das Wort: »König, wenn man nicht offen Meinung und Gegenmeinung äußert, kann man auch nicht die bessere auswählen, sondern muß der vorgetragenen Ansicht folgen. Stehen aber mehrere Meinungen zur Debatte, kann man wählen. Wir erkennen das lautere Gold nicht an sich selbst; wenn wir es aber an anderem Golde reiben, stellen wir das bessere fest. Ich habe schon deinem Vater, meinem Bruder Dareios, abgeraten, gegen die Skythen zu ziehen, die nirgends auf der Welt eine Stadt bewohnen. Er aber hoffte, die Wanderskythen zu unterwerfen, und folgte meinem Rat nicht, sondern zog in den Kampf und kehrte unter Verlust vieler tapferer Krieger aus seinem Heere 353
heim. Du aber, König, willst gegen Männer zu Felde ziehen, die noch viel tapferer sind als die Skythen, die, wie ich höre, zu Wasser und zu Lande in gleicher Weise die tüchtigsten sind. Was wir dabei befürchten müssen, darf ich dir wohl mitteilen. Du sagst, du willst eine Brücke über den Hellespont schlagen und dein Heer durch Europa nach Griechenland führen. Nun ist es schon vorgekommen, daß einer zu Wasser oder zu Lande geschlagen wurde oder auch gar auf beiden Kriegsschauplätzen zugleich; sie sollen nämlich tapfere Männer sein. Das kann man auch schon daraus schließen, daß ein so großes Heer, das unter Datis und Artaphrenes in Attika eindrang, von den Athenern allein vernichtet wurde. Zwar glückte es ihnen nicht auf beiden Elementen. Wenn sie sich auf die Schiffe werfen und nach einem Sieg zur See zum Hellespont segeln und die Brücke abbrechen, dann, König, gibt es ein Unglück. Ich urteile dabei nicht nach eigenem Gutdünken ; wie wenig hätte daran gefehlt, daß uns ein solches Unglück traf, als dein Vater den thrakischen Bosporos überbrückte, den Istros überschritt und ins Skythenland zog. Da versuchten die Skythen auf allerlei Weise, die Zonier, die mit der Brükkenwache am Istros beauftragt waren, zu überreden, die Brücke abzubrechen. Wenn damals Histiaios, der Tyrann von Milet, der Meinung der anderen gefolgt wäre und sich nicht widersetzt hätte, dann war es um die Sache der Perser geschehen. Und doch ist es schrecklich, nur im Wort zu vernehmen, daß damals das ganze Schicksal des Königs in der Hand eines Mannes lag. Du aber wolle dich nicht ohne Not in eine solche Gefahr begeben, sondern höre auf mich! Entlasse jetzt unsere Versammlung! Ein andermal, wenn es dir gut scheint, laß uns nach reiflicher Überlegung bei dir selbst deinen Plan wissen! Denn gut überlegter Rat, finde ich, ist der größte Gewinn. Wenn auch ein Hindernis sich in den Weg stellt, so ist der Rat trotzdem gut gewesen; er ist nur dem Schicksal unterlegen. Wenn aber auch dem Erfolg beschieden ist, der sich schlecht beraten hat, dann hat er eben Glück gehabt. Seine Überlegung war darum nicht weniger schlecht. Du siehst, wie Gottes Blitz die höchsten Geschöpfe trifft und nicht duldet, daß sie sich in ihrem Hochmut erheben, während ihm das Kleine nichts ausmacht. Du siehst, wie seine Geschosse immer in die größten Gebäude und derartige Bäume schlagen. Denn Gott pflegt alles zu stürzen, was sich überhebt. So wird auch ein großes Heer von einem kleinen geschlagen in folgender Art: wenn nämlich der neidische Gott Panik im Heer verbreitet oder einen Donner erdröhnen läßt, wodurch es in einer Weise umkommt, die seiner selbst unwürdig ist. Denn Gott duldet nicht, daß ein anderer außer ihm stolz 354
ist. Alles aber, was übereilt betrieben wird, erzeugt Fehlschläge, die gewöhnlich schweren Schaden zur Folge haben; Zurückhaltung aber bringt Gutes, wenn es auch im Augenblick nicht so aussieht, sondern man es erst im Verlauf der Zeit herausfindet. Das ist es, König, was ich dir rate; du aber, Sohn des Gobryas [Mardonios], rede nicht wieder so törichte Worte über die Griechen, die es nicht verdienen, in üblen Ruf zu kommen. Denn dadurch, daß du die Griechen herabsetzt, steigerst du den König selbst in einen Krieg hinein. Darauf scheinst du mir auch allen Eifer zu verwenden. Das darf aber nicht geschehen; denn die Verleumdung ist etwas Furchtbares, wobei es zwei Frevler gibt und einen, dem Unrecht geschieht. Der Verleumder tut Unrecht, indem er einen andern hinter seinem Rücken beschuldigt; und auch der tut Unrecht, der sich überreden läßt, ehe er sich genau ein Bild gemacht hat. Dem Abwesenden bei dem Gespräche aber fügen beide Unrecht zu, indem der eine ihn verleumdet und der andere schlecht von ihm denkt. Aber wenn es unbedingt nötig ist, gegen diese Leute in den Kampf zu ziehen, gut, dann soll der König selbst im Perserland bleiben! Wir beide aber wollen unsere Kinder zum Pfand geben ; und dann ziehe du in den Streit, nachdem du dir Leute ausgesucht hast, die du gern willst, und ein Heer genommen hast, wie groß du es magst. Geht die Sache für den König so aus, wie du sagst, so mögen meine Kinder umgebracht werden und ich dazu. Wenn aber der Ausgang so eintritt, wie ich es vorhersage, dann sollen deine Kinder das erleiden und du ebenfalls, falls du zurückkehrst. Willst du aber darauf nicht eingehen und doch mit aller Gewalt dein Heer nach Griechenland führen, so wird mancher, denke ich, von denen, die hier zurückbleiben, einst hören, daß Mardonios, der über die Perser großes Unglück gebracht hat, von Hunden und Vögeln zerrissen worden ist, entweder irgendwo im Land der Athener oder du im Land der Lakedaimonier, wenn nicht gar schon früher auf dem Weg dorthin. Dann wirst du endlich erkannt haben, gegen welch ein Volk zu ziehen du den König verleitest hast!« So sprach Artabanos. Xerxes aber antwortete zornig: »Artabanos, du bist meines Vaters Bruder. Das schützt dich davor, den gerechten Lohn zu empfangen für so eitles Geschwätz. Die Schmach aber tue ich dir an, weil du feige und mutlos bist: Du darfst mir nicht mit gegen Griechenland ziehen, sondern mußt bei den Weibern zu Hause bleiben! Ich werde auch ohne dich alles vollenden, was ich gesagt habe. Ich will nicht Nachkomme des Dareios heißen, des Sohnes des Hystaspes, des Sohnes des Arsames, des Sohnes des Ariaramnes, des 355
Sohnes des Teïspes, des Sohnes des Kyros, des Sohnes des Kambyses, des Sohnes des Teïspes, des Sohnes des Achaimenes, wenn ich die Athener nicht strafe! Denn das weiß ich genau: Wenn wir uns auch ruhig verhalten, jene werden es doch nicht tun, sondern unser Land erst recht angreifen, falls man daraus Schlüsse ziehen kann, was sie bereits getan: Sie haben Sardes niedergebrannt und sind gegen Asien gezogen. Zurück kann also keiner mehr von beiden. Hier gilt es zu handeln oder zu leiden, damit entweder dies alles unter die Herrschaft der Griechen oder jenes unter die der Perser kommt. Ein Mittelding gibt es bei dieser Feindschaft nicht. Es ist also in der Ordnung, wenn wir, denen zuerst Unrecht widerfahren ist, uns rächen, damit ich auch das Böse kennenlerne, das ich erleiden muß, wenn ich gegen Männer anrücke, die sogar der Phryger Pelops, ein Sklave unserer Väter, unterworfen hat, und zwar so, daß noch bis zum heutigen Tage die Menschen selbst und ihr Land nach dem Namen des Unterjochers benannt sind.« Soweit die Erörterungen im Kriegsrat. Dann aber wurde es Nacht, und die Ansicht des Artabanos quälte Xerxes sehr. Er überlegte die ganze Nacht gründlich hin und her und fand, daß es sich für ihn nicht lohne, gegen Griechenland in den Kampf zu ziehen. Als er es nun wieder so beschlossen hatte, schlief er ein. In der Nacht hatte er, wie die Perser erzählen, irgendwie folgenden Traum: Ein großer, schöner Mann trat zu ihm und sprach : »Anders besinnst du dich also, Perser, und willst dein Heer nicht gegen Griechenland führen, nachdem du den Persern befohlen hast, ein Heer zu sammeln. Du tust nicht gut daran, deinen Entschluß zu ändern! Auch findet sich keiner, der dir beistimmt; du sollst den Weg weitergehen, den du am Tage beschlossen hattest. « Nach diesen Worten, so schien dem Xerxes, flog er davon. Bei Tagesanbruch achtete er auf diesen Traum nicht mehr, sondern versammelte dieselben Perser, die er vorher berufen hatte, und sprach zu ihnen: »Perser, verzeiht mir, daß ich meinen Entschluß so schnell geändert habe; denn ich bin noch nicht bis zur Höhe meiner Weisheit vorgedrungen; und die, die mir jenes zu tun raten, lassen mich keinen Augenblick in Ruhe. Als ich den Rat des Artabanos hörte, brauste sogleich die Jugend in mir auf, daß ich gegen den älteren Mann häßlichere Worte sprach, als recht war. Jetzt aber habe ich die gleiche Meinung gewonnen wie er, und ich will seinem Rate folgen. Da ich mich nun anders besonnen habe und nicht gegen Griechenland in den Kampf ziehen will, bleibt ruhig!« Als die Perser dies hörten, fielen sie ihm voller Freuden zu Füßen. 356
Als es aber wieder Nacht wurde, trat die gleiche Erscheinung im Traum zu Xerxes, als er eingeschlafen war, und sprach: »Sohn des Dareios! Du hast also ganz offen vor den Persern den Feldzug abgesagt und meine Worte für nichts geachtet, als hättest du sie von niemand gehört. Nun wisse wohl: Wenn du nicht sofort in den Krieg ziehst, wirst du folgendes erleben: So groß und mächtig du in kurzer Zeit wurdest, so klein und gering wirst du auch bald wieder sein!« Xerxes erschrak furchtbar über den Traum, sprang von seinem Lager auf und schickte einen Boten, um Artabanos holen zu lassen. Als er sich einstellte, sprach Xerxes zu ihm: »Artabanos, soeben war ich nicht recht bei Besinnung, als ich törichte Reden wegen deines guten Planes gegen dich führte. Doch bald habe ich mich eines anderen besonnen und erkannt, daß ich deinen Rat befolgen müßte. Dennoch aber bin ich nicht fähig, ihm zu folgen, wenn ich es auch möchte. Nachdem ich nämlich meine Meinung geändert und den gegenteiligen Entschluß gefaßt habe, erscheint mir eine Traumgestalt; die ist gar nicht zufrieden mit meinem Entschluß; jetzt ist sie sogar mit Drohungen weggegangen. Wenn nun ein Gott sie schickt und es durchaus Gottes Wille ist, daß wir gegen Griechenland ziehen, so wird dieser gleiche Traum auch zu dir fliegen und dir den gleichen Auftrag erteilen wie mir. Ich finde nun, das könnte am besten geschehen, wenn du meinen ganzen Ornat nimmst und ihn anlegst, dann dich auf meinen Thron setzest und darauf auf meinem Lager einschläfst. « So sprach Xerxes. Artabanos wollte ihm auf den ersten Befehl nicht gehorchen; denn er hielt sich nicht für würdig, auf dem Königsthron zu sitzen. Schließlich aber fügte er sich gezwungen dem Befehl, indem er sprach: »König, bei mir gilt beides gleichviel, selbst weise zu sein und auf guten Rat zu hören. Bei dir trifft beides zu. Aber der Umgang mit schlechten Menschen macht dich irre, wie man ja sagt, daß auf das den Menschen sehr nützliche Meer einwehende Winde fallen und es seine eigene Natur nicht entfalten lassen. Mich hat in dem Augenblick, als ich deine harten Worte hören mußte, nicht die Kränkung so sehr geschmerzt als vielmehr die Tatsache, daß die Perser zwischen zwei Meinungen schwankten — wovon eine deinen Obermut nährte, die andere aber ihn dämpfte und sagte, es sei schlecht, den Geist zu lehren, immer noch mehr besitzen zu wollen, als er schon hat, — und daß du unter diesen beiden Meinungen gerade die wähltest, die für dich und für die Perser die gefährlichere war. Nachdem du dich nun eines Besseren besonnen und den Zug gegen Griechenland aufgegeben hast, erscheint dir, wie du sagst, ein 357
Traum auf irgendeines Gottes Weisung und verbietet dir, den Zug aufzugeben. Aber das ist, mein Sohn, nicht Gottes Art; denn die Träume, die zu den Menschen schweben, sind so, wie ich sie dir erklären werde, der ich doch so viele Jahre älter bin als du. Am häufigsten pflegt das, worüber der Mensch bei Tage nachdenkt, ihn nachts als Traum zu umschweben. Wir aber hatten während der letzten Tage immer nur ganz besonders unsern Feldzug im Kopf. Wenn es aber nicht so ist, wie ich es deute, sondern eine höhere Macht die Hand im Spiele hat, dann hast du schon alles mit kurzen Worten geschildert: Die Erscheinung mag sich dann auch bei mir einstellen genau wie bei dir mit ihrer Weisung. Erscheinen aber muß sie mir ebenso, ob ich deine Kleidung trage oder meine, ob ich auf deinem Lager ruhe oder auf meinem, wenn sie überhaupt kommen will. Denn dieses Wesen — mag es sein, was es will, das dir im Schlaf erschienen ist--wird doch so töricht nicht sein, daß es nur nach deinem Kleide schließen und mich für dich ansehen wird. Ob es mich aber nicht beachtet und nicht für wert hält, mir zu erscheinen, weder wenn ich meine, noch wenn ich deine Kleider trage, sondern nur dir allein erscheint, das müssen wir nunmehr erproben. Wenn es unausgesetzt käme, dann würde ich es selbst für etwas Göttliches halten. Geschieht es deiner Meinung nach aber zu Recht und kann es nun einmal gar nicht anders sein, soll ich mich also auf dein Bett zur Ruhe legen, nun gut, dann will ich es tun, und es soll erscheinen. Bis dahin aber bleibe ich bei meiner jetzigen Meinung.« So sprach Artabanos. Weil er hoffte, Xerxes seine falsche Meinung beweisen zu können, tat er, wie ihm befohlen. Er legte die Kleidung des Xerxes an und setzte sich auf den königlichen Thron. Als er sich dann zur Ruhe legte und eingeschlafen war, erschien ihm der gleiche Traum, der auch dem Xerxes gekommen war. Er stellte sich Artabanos zu Häupten und sprach : »Du also bist der Mann, der Xerxes mit allen Kräften davon abrät, gegen Griechenland zu ziehen, als ob du dich um ihn sorgtest. Aber das soll dir weder künftig noch jetzt ungestraft hingehen, abwenden zu wollen, was geschehen muß. Was Xerxes für seinen Ungehorsam treffen wird, ist ihm schon angekündigt. « So drohte der Traum, wie Artabanos glaubte, und es war ihm, als wolle er ihm mit heißen Eisen die Augen ausbrennen. Da schrie er laut, sprang auf und setzte sich neben Xerxes. Er erzählte ihm ausführlich das Traumgesicht und fügte dann folgendes hinzu: »König, ich habe in meinem Leben schon so viele große Mächte durch geringere stürzen sehen; darum wollte ich nicht zulassen, daß du dich in 358
allem von deiner Jugend leiten läßt. Ich weiß, wie schlimm es ist, vieles zu begehren. Ich dachte an den Ausgang des Zuges des Kyros gegen die Massageten, auch an den des Kambyses gegen Aithiopien; ich selbst habe ja an dem Zug des Dareios gegen die Skythen teilgenommen. Weil ich dies alles wußte, war ich der Meinung, alle Menschen würden dich glücklich preisen, wenn du dich ruhig hieltest. Weil dich aber ein göttlicher Wille treibt und den Griechen ihr Untergang anscheinend von Gott bestimmt ist, so lasse ich mich bekehren und ändere meine Meinung. Du aber verkünde den Persern, was Gott dir offenbart hat; befiehl ihnen, deinem früheren Befehl zu gehorchen und sich zu rüsten. Handle so, daß du es an nichts fehlen läßt, da Gott dir gnädig ist!« So sprach er. Beide waren froh gestimmt. Sobald es Tag wurde, trug nun Xerxes den Persern alles vor; und Artabanos der früher als einziger ehrlich widersprochen hatte, setzte sich jetzt in aller Offenheit dafür ein. Xerxes, der nun zum Feldzug drängte, erlebte darauf ein drittes Traumgesicht, das die Magier so auslegten, als sie es hörten: es ginge die ganze Erde an, und alle Menschen würden ihm untertan. Der Traum aber sah so aus: Xerxes träumte, mit einem Zweig des 01baums bekränzt zu sein; Zweige des Olbaums reichten über die ganze Erde hin. Dann aber verschwand der Kranz, den er um den Kopf trug. Als die Magier den Traum so auslegten, zog bald ein jeder der versammelten Perser heim in seinen Gau und suchte mit allem Eifer dem Befehl nachzukommen; jeder wollte die versprochene Belohnung erhalten; Xerxes betrieb also die Aushebung des Heeres; kein Winkel des Kontinents blieb verschont. Xerxes und Demaratos
Als (Xerxes) an allen vorbeigefahren war und sein Schiff verlassen hatte, ließ er Demaratos kommen, den Sohn des Ariston, der mit ihm gegen Griechenland zog, und fragte ihn: »Dernaratos, ich möchte dich gern etwas fragen. Du bist Grieche. Wie ich von dir und den anderen Griechen, mit denen ich sprach, höre, stammst du nicht aus der geringsten oder schwächsten Stadt. Nun sage mir: Werden die Griechen den Mut aufbringen, ihre Hand gegen mich zu erheben? Ich glaube, selbst wenn sich alle Griechen und alle Völker des Abendlandes zusammentäten, sie wären nicht stark genug, meinem Angriff standzuhalten, wenn sie nicht einig sind. Aber ich möchte gern von dir erfahren, was du darüber zu sagen hast.« So fragte der König; Demaratos aber entgegnete: »Herr, soll ich nach der Wahr359
heit oder dir nach dem Munde reden?« Xerxes hieß ihn die Wahrheit sagen; er fügte hinzu, er werde ihm seine alte Zuneigung deshalb nicht entziehen. Als Demaratos dies hörte, sagte er: »König, da du durchaus willst, daß ich dir die volle Wahrheit sage, so daß sich nachher nicht etwas als Lüge herausstellt, so höre: In Griechenland ist die Armut von jeher zu Hause; die mannhafte Haltung aber ist anerzogen, durch Weisheit und strenges Gesetz bewirkt. Durch sie schützt sich Griechenland gegen Armut und Knechtschaft. Ich muß alle Griechenstämme loben, die im dorischen Gebiet ringsum wohnen, will aber nicht von allen folgendes sagen, sondern nur von den Lakedaimoniern allein; sie werden fürs erste dein Anerbieten niemals annehmen, das über Griechenland Sklaverei bringt. Dann werden sie sich dir im Kampf stellen, selbst wenn alle übrigen Griechen auf deine Seite träten. Frage nicht, ob sie zahlenmäßig stark genug dazu sind! Sie werden kämpfen, mögen tausend Mann ausgezogen sein oder weniger oder mehr.« Als Xerxes das hörte, lachte er laut auf und sprach: »Demaratos, was sagst du da? Tausend Mann sollen gegen ein so großes Heer streiten? Sag doch: du warst ja, wie du sagst, selbst dieses Volkes König. Wolltest du zum Beispiel es mit zehn Mann aufnehmen? Und doch, wenn euer Staatsaufbau ganz so ist, wie du es beschreibst, dann müßtest du als ihr König nach eurer Sitte gegen doppelt so viele Männer bestehen. Denn wenn jeder von ihnen zehn Männern meines Heeres gewachsen wäre, dann verlange ich, daß du mit zwanzig fertig wirst. Nur so hat deine Behauptung ihre Richtigkeit. Wenn aber Leute von der Art und Größe wie du und die anderen Griechen, die mit mir ins Gespräch kommen, sich derart rühmen, so sieh zu, daß nicht solche Reden offenbar nur Prahlerei sind. Laß uns doch einmal dies mit aller Wahrscheinlichkeit betrachten: Wie könnten i oco, 10 000 oder so 000, die alle gleich frei sind und nicht dem Befehl eines einzigen gehorchen, einem so großen Heer widerstehen? Wenn sie 5000 Mann stark sind, kommen doch auf jeden von ihnen mehr als t000 Gegner. Hätten sie nach unserer Art einen einzigen Gebieter, würden sie sich vielleicht aus Furcht vor ihm über ihre Natur hinaus tapfer zeigen und unter Geißelhieben vielleicht trotz ihrer kleineren Zahl auch einen überlegenen Gegner angreifen. Aber ihrem eigenen Belieben überlassen, tun sie sicherlich nichts von alledem. Ich selbst glaube sogar, daß die Griechen schwerlich gegen die Perser allein kämpfen würden, selbst wenn sie ebenso stark an Zahl wären. Was du von den Griechen behauptest, das gilt nur für uns 360
Perser, und auch da nicht häufig, sondern ganz selten. Es gibt nämlich unter meinen Lanzenträgern ein paar, die es mit drei Griechen zugleich aufnehmen. Weil du sie nicht kennst, deswegen redest du soviel Unsinn.« Dem entgegnete Demaratos: »Herr, ich wußte es von vornherein, es würde dir nicht gefallen, wenn ich dir die Wahrheit sagte. Weil du mich aber dazu zwangst, aufrichtig und ehrlich zu sprechen, so sagte ich dir, was du von den Spartanern zu erwarten hast. Und doch weißt du am besten, wie lieb sie mir gerade jetzt sind, die mir Ehre und ererbte Würde genommen und mich zum heimatlosen Flüchtling gemacht haben. Dein Vater aber nahm mich auf und schenkte mir Lebensunterhalt und Behausung. Kein vernünftiger Mensch wird wahrscheinlich so offensichtliches Wohlwollen zurückstoßen, er wird vielmehr recht zufrieden damit sein. Ich aber maße mir nicht an, gegen zehn oder gegen zwei Männer zu kämpfen; ja, freiwillig würde ich nicht einmal gegen einen fechten. Wenn es aber sein muß und ein hoher Siegespreis lockt, würde ich am liebsten gegen einen der Männer kämpfen, die es -- wie du sagst — mit drei Griechen zugleich aufnehmen. So steht es mit den Lakedaimoniern. Wenn sie einzeln kämpfen, sind sie nicht schlechter als jedes andere Volk; zusammen aber zeigen sie sich als die Tapfersten von allen. Sie sind zwar frei, aber nicht in allem. Ober ihnen steht nämlich das Gesetz als Herr, das sie viel mehr fürchten als deine Untertanen dich. Sie handeln stets, wie ihnen das Gesetz befiehlt. Es gebietet aber stets das gleiche: vor keiner Zahl von Gegnern aus der Schlacht zu fliehen, sondern auf dem Platz zu bleiben in Reih und Glied und zu siegen oder zu sterben. Wenn du das aber für törichtes Gerede von mir hältst, will ich in Zukunft nicht mehr davon sprechen. Ich habe mich ja nur unter Zwang geäußert. Möge dir alles nach Wunsch gehen, König!« Also antwortete er. Xerxes aber nahm die Sache nicht ernst und zürnte ihm nicht, sondern entließ ihn in Gnaden. Nach dieser Unterredung setzte er Maskames, den Sohn des Megadostes, in Doris kos als Befehlshaber ein; den von Dareios berufenen Statthalter hatte er seines Amtes enthoben. Darauf führte er das Heer durch Thrakien gegen Griechenland. Die Orakel. Die »Hölzernen Mauern,, Doch das geschah viele Jahre nach dem Zug des Perserkönigs. Ich kehre jetzt zu meiner früheren Erzählung zurück. Der Feldzug des 361
Ausritt
Königs ging dem Namen nach zwar gegen Athen, in Wirklichkeit aber richtete er sich gegen ganz Griechenland. Obgleich die Griechen das längst wußten, handelten sie doch nicht gemeinsam. Denn die einen boten dem Perserkönig Erde und Wasser und lebten in der Zuversicht, sie würden vom Barbaren nichts Unfreundliches erleiden. Die andern aber schenkten nichts und gerieten jetzt in große Furcht; denn es gab in Griechenland gar nicht so viele Schiffe, daß sie den Anrückenden hätten aufhalten können. Auch waren die meisten durchaus nicht gewillt, an dem Krieg teilzunehmen, sondern blieben innerlich persisch gesinnt. Jetzt muß ich offen meine Meinung sagen, so unangenehm sie den meisten Menschen ist; dennoch will ich damit nicht hinter dem Berge halten, soweit es mir wahr zu sein scheint. Hätten die Athener die einbrechende Gefahr gefürchtet und ihre Heimat verlassen, oder hätten sie sie auch nicht verlassen, sondern wären daheimgeblieben und hätten sich Xerxes ergeben, dann hätte es niemand versucht, dem König zur See entgegenzutreten. Wenn sich nun zur See Xerxes niemand entgegengestellt hätte, wäre auf dem Festland folgendes eingetreten: Wenn auch die Peloponnesier noch so viele Brustwehren von Mauern über den Isthmos gezogen hätten, dann wären die 362
Ladedaimonier doch von ihren Bundesgenossen, zwar nicht gern, aber gezwungen im Stich gelassen worden, da die Flotte der Barbaren eine Stadt nach der anderen eingenommen hätte. Alleingelassen aber hätten sie selbst nach tapferen Taten ruhmvoll den Tod gefunden. Entweder wäre es ihnen so ergangen oder vielleicht hätten sie sich auch mit Xerxes verständigt, wenn sie vorher gesehen hätten, daß auch die andern Griechen persisch gesinnt waren. Und so wäre in beiden Fällen Griechenland unter die Gewalt der Perser gekommen; denn ich kann den Nutzen der über den Isthmos gezogenen Mauern nicht verstehen, wenn der König das Meer beherrschte. Wenn aber jetzt einer die Athener als die Retter Griechenlands bezeichnet, so gibt er der Wahrheit nur die Ehre. Der Verlauf der Dinge hing einzig und allein davon ab, auf welche Seite sie sich stellten. Da sie die Erhaltung der Freiheit Griechenlands wählten, so waren sie es, die das ganze übrige Griechenland zum Widerstand aufrüttelten, soweit es nicht persisch gesinnt war, und den König, natürlich erst nach den Göttern, zurückdrängten. Nicht einmal konnten sie schreckliche Orakelsprüche aus Delphi, die ihnen Furcht einjagten, dazu bestimmen, Griechenland zu verlassen. Sie harrten aus und nahmen getrost den Angriff der Feinde an, die gegen das Land anrückten. Die Athener hatten nämlich Boten nach Delphi geschickt und waren bereit, das Orakel zu befragen. Als sie im Heiligtum die vorgeschriebenen Bräuche erfüllt hatten, in den Saal gekommen waren und sich niedergelassen hatten, gab ihnen die Pythia — sie hieß Aristonike -- folgenden Spruch: »Arme! Was sitzt ihr noch hier? Wohlan, bis ans Ende der Erde Flieht aus dem Haus, aus der rundlichen Stadt hochragenden Felsen! Nicht entgeht der Leib, nicht das Haupt dem grausen Verderben, Nicht bleiben unten die Füße, die Hände nicht, nichts in der Mitte Unverletzt; denn alles gilt nichts. Niederstürzt es zur Erde Feuer und Ares' Wut, der auf syrischem Wagen einherfährt. Doch die eine nicht nur, viele andere Burgen zerstört er, Viele Tempel der Götter gibt er der verheerenden Flamme. Jetzt schon stehen triefend von Schweiß die unsterblichen Götter, Zitternd und bebend vor Furcht, von den obersten Zinnen der Tempel 363
Rinnt dunkles Blut, zum Zeichen des Zwanges des kommenden Unglücks. Fort aus dem Heiligtum hier! Und wappnet den Sinn gegen Unheil!« Als die Boten der Athener dies hörten, waren sie aufs tiefste erschüttert. Während sie sich schon infolge des geweissagten Unglücks aufgaben, riet ihnen Timon, der Sohn des Androbulos, einer der angesehensten Männer in Delphi, sie sollten Úlzweige nehmen, noch einmal kommen und als Schutzflehende das Orakel befragen. Das taten die Athener auch und baten: »Herr, gib uns einen besseren Spruch über unser Vaterland und achte diese Zweige hier, mit denen wir zu dir kommen; oder wir gehen nicht aus dem Heiligtum, sondern bleiben hier bis an unser Lebensende.. Auf diese Worte verkündete die Oberpriesterin beim zweiten Mal folgendes: »Pallas Athene vermag den Olympier nicht zu versöhnen, Mag sie auch flehend ihm nahn, wortreich mit verständigem Rate.
Doch dir sag ich ein anderes Wort, wie Stahl fest gegründet: Ist das übrige alles von Feinden genommen, was Kekrops' Grenze umschließt und die Schluchten des heiliger. Berges Kithairon, Dann gibt die Mauer aus Holz der Tritogebornen weitschauend Zeus unbezwungen allein, dir und deinen Kindern zu Nutze. Doch erwarte du nicht der Reiter Schar und das Fußvolk Ruhig auf festem Boden! Entweiche dem drohenden Angriff, Wende den Rücken ihm zu! Einst wirst du ja dennoch sie treffen. Salamis, göttliche Insel, die Kinder der Frauen vertilgst du, Sei es zu Demeters Saat oder sei es zum Zeitpunkt der Ernte.« Dieser Spruch schien ihnen milder zu sein als der erste; er war es auch wirklich. Sie schrieben ihn auf und zogen heim nach Athen. Als die Boten zu Hause eintrafen und der Gemeinde berichteten, gab es viele verschiedene Meinungen unter denen, die den Sinn des Orakels suchten. Besonders aber diese Meinungen standen gegeneinander: Einige von den Älteren sagten, für sie hätte es den Anschein, als hätte der Gott die Erhaltung der Burg geweissagt; denn die Burg in Athen war seit alten Zeiten mit einer Dornhecke umgeben. Diesen Zaun hielten sie für die hölzerne Mauer. Andere sagten wieder, der Gott meine die Schiffe, und gaben ihnen den Befehl, sie sollten die Flotte instandsetzen und alles andere lassen. Diejenigen aber, die meinten, 364
die Schiffe seien die hölzerne Mauer, wurden irre an den beiden letzten Versen der Pythia: »Salamis, göttliche Insel! Die Kinder der Frauen vertilgst du, Sei es zu Demeters •Saat oder sei es zum Zeitpunkt der Ernte.. An diesen Worten stießen sich die Meinungen derer, die behaupteten, die Schiffe seien die hölzernen Mauern. Denn die Orakeldeuter erklärten die Worte so, als sollte Athen bei Salamis unterliegen, wenn es zu einer Seeschlacht rüste. Unter den Athenern lebte ein Mann, der erst seit kurzem zu großem Ansehen gekommen war: Themistokles, er hieß Sohn des Neokles. Er behauptete, die Orakeldeuter legten nicht alles richtig aus, und fügte hinzu, wenn dieses Wort sich wirklich auf die Athener bezöge, wäre der Spruch, wie er glaube, nicht so milde ausgefallen, sondern etwa folgendermaßen: »Schreckliches Salamis!. statt »Göttliches Salamis«, wenn wirklich die Bewohner im Kampf darum sterben sollten. Der Spruch sei gegen die Feinde gerichtet, nicht auf die Athener, wenn man ihn richtig verstehe. So riet er ihnen denn, sich zum Kampf mit Schiffen zu rüsten; denn diese seien die hölzernen Mauern. Diese Erklärung des Themistokles hielten die Athener für viel annehmbarer als die Auslegung der Orakeldeuter, die von der Rüstung zum Seekrieg abrieten und sagten, man solle die Hand überhaupt nicht gegen den Feind erheben, sondern Attika verlassen und sich in einem andern Land ansiedeln. Schon früher hatte Themistokles einen anderen glücklichen Antrag eingebracht: Die Athener hatten viel Geld im Staatsschatz, das ihnen aus den Bergwerken von Laurion einging. Dieses Geld sollte unter die Bürger verteilt werden, zehn Drachmen auf den Mann. Damals überredete Themistokles die Athener, mit dieser Verteilung aufzuhören und von dem Geld 200 Schiffe für den Krieg zu bauen, und zwar, wie er sagte, gegen Aigina. Dieser Krieg, der damals ausbrach, rettete ganz Griechenland; denn er zwang die Athener, ein Seevolk zu werden. Die Schiffe wurden für den damaligen Zweck gebaut, aber nicht mehr gebraucht. Nun kamen sie in der Not ganz Griechenland zustatten; die Schiffe, die die Athener früher gebaut hatten, waren also bereits vorhanden, und man brauchte nur noch andere dazuzubauen. Als sie sich nach dem ergangenen Götterspruch berieten, beschlossen sie, dem Gott gehorsam, dem Angriff des Feindes auf Griechenland mit aller Macht zur See zu begegnen, zusammen mit allen Griechen, die dazu bereit seien.
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Apollontempel in Delphi
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Die Seeschlacht bei Artemision — Entscheidung bei Salamis Die Griechen, die für die Flotte ausersehen wurden, waren folgende: zuerst die Athener, die 127 Schiffe stellten; aus Tapferkeit und Bereitwilligkeit bemannten die Plataier, obwohl sie nichts vom Seewesen verstanden, mit den Athenern die Schiffe; die Korinther stellten vierzig Schiffe, die ihnen die Athener zur Verfügung stellten, die Aigineten achtzehn, die Sikyonier zwölf, die Lakedaimonier zehn, die Epidaurier acht, die Eretrier sieben, die Troizener fünf, die Styreer zwei, die Keïer zwei Kriegsschiffe und zwei Fünfzigruderer; die opuntischen Lokrer verstärkten die Flottenmacht mit sieben Fünf-
zigruderern. Diese Schiffe fuhren also nach Artemision. Ich habe auch bereits erzählt, wieviel Schiffe jedes Volk stellte. Die Zahl der bei Artemision versammelten Schiffe betrug ohne die Fünfzigruderer 271. Die Spartaner stellten als kommandierenden Feldherrn Eurybiades, den Sohn des Eurykleides. Denn die Bundesgenossen weigerten sich, wenn der Lakone die Leitung nicht erhielt, der Führung der Athener zu folgen. Sie wollten die Flotte ganz auflösen, die überhaupt erst aufgestellt worden war. Bereits am Anfang, noch ehe man daran dachte, auch nach Sizilien mit der Bitte um Beistand zu schicken, war die Rede davon, man müßte die Seemacht eigentlich den Athenern anvertrauen. Da die Bundesgenossen aber dagegen Einspruch erhoben, hatten die Athener nachgegeben, weil ihnen die Rettung Griechenlands am Herzen lag und sie wohl wußten, daß Griechenland im Streit um den Oberbefehl zugrunde gehen müsse. Das war ein richtiger Gedanke; denn Zwietracht im Innern ist um so viel schlimmer als ein einmütig geführter Krieg, wie Krieg schlimmer ist als Friede. Eben aus diesem Grund widersetzten sie sich nicht, sondern fügten sich, solange sie jene ganz nötig brauchten, wie sie später bewiesen. Denn als sie den Perser zurückgeschlagen hatten und nunmehr um deren Land kämpften, nahmen sie den Lakedaimoniern den Oberbefehl weg, indem sie die Überheblichkeit des Pausanias als Grund vorschützten. Das geschah aber erst später. Die Griechen, die wirklich nach Artemision gekommen waren, sahen nun die vielen Schiffe, die vor Aphetai vor Anker gingen, und erkannten, wie alles von Kriegsvolk wimmelte. Weil die Unternehmungen der Barbaren so ganz anders verliefen, als sie vermutet hatten, faßten sie aus Furcht den Entschluß, sich von Artemision hinweg in das innere Griechenland zurückzuziehen. Als die Euboier er367
fuhren, daß sie mit dem Gedanken spielten, baten sie Eurybiades, nur noch kurze Zeit zu warten, bis sie ihre Kinder und ihr Gesinde in Sicherheit gebracht hätten. Der ging auf ihre Bitten nicht ein; da schlugen sie einen anderen Weg ein und suchten Themistokles, den Feldherrn der Athener, zu überreden, um einen Lohn von 3o Talenten zu bleiben und die Seeschlacht vor Euboia zu liefern. Themistokles bewog die Griechen dadurch zum Bleiben, daß er dem Eurybiades fünf von den dreißig Talenten gab, als ob sie aus eigenem Besitz kämen. Als er Eurybiades umgestimmt hatte, sträubte sich allein von den Führern noch Adeimantos aus Korinth, der Sohn des Okytos, und erklärte, er werde von Artemision abfahren und nicht bleiben. Ihm aber sagte Themistokles und leistete dabei einen Eid: »Du wirst uns nicht im Stich lassen; denn ich werde dir größere Geschenke geben, als dir der Perserkönig für den Verrat an den Bündnern schicken könnte. « Er sandte dabei drei Talente Silbers auf das Schiff des Adeimantos. So waren diese gewonnen, durch Geschenke bestochen. Den Euboiern hatte man damit einen großen Gefallen getan. Themistokles selbst brachte dabei seine Schäfchen ins Trockne. Es wurde nicht bekannt, daß er das übrige Geld behielt; vielmehr glaubten die, die etwas von dem Geld erhalten hatten, es sei zu diesem Zweck aus Athen gekommen. So blieben sie in Euboia und lieferten die Seeschlacht. Sie verlief so: Als die Feinde, wie zu erwarten, am frühen Nachmittag in Aphetai eintrafen und die kleine Griechenflotte bei Artemision mit eigenen Augen erblickten — sie hatten schon früher erfahren, daß in der Gegend von Artemision einige wenige Griechenschiffe vor Anker lagen —, wollten sie sie angreifen, um die Schiffe gegebenenfalls zu kapern. Geradeaus auf sie loszufahren schien ihnen nicht ratsam, damit die Griechen nicht etwa bei ihrer Anfahrt die Flucht ergriffen und die Nacht die Fliehenden deckte. Natürlich würden sie ja von dort zu entkommen suchen. Es sollte ihnen nicht einmal ein Träger des heiligen Feuers von dort entwischen und sein Leben bewahren, — so sagten sie. Dazu ersannen sie folgenden Plan: Sie sonderten 200 Schiffe von der Gesamtmacht ab und schickten sie außen um die Insel Skiathos herum. Die Feinde sollten nicht merken, daß die Schiffe Euboia umsegelten und vorbei an Kaphereus und um Geraistos herum in den Euripos einfuhren, indem ihnen die einen dort nach ihrer Ankunft den Rückweg abschnitten, die Hauptmacht aber von vorn angriff. So stand es mit ihrem Plan. Dazu sandten sie die bestimmten Schiffe ab, ohne selbst die Absicht zu haben, die Griechen noch am selben 368
Tage anzugreifen. Sie wollten das auch nicht eher tun, als bis sie von den Umsegelnden das verabredete Zeichen sichteten, daß jene wirklich eingetroffen seien. Diese also schickten sie herum; die übrigen Schiffe aber musterten sie bei Aphetai. Während der Zeit, in der sie die Musterung der Schiffe vornahmen, faßte ein gewisser Skyllias aus Skione, — der beste Taucher seiner Zeit, der auch bei dem Schiffbruch am Pelion den Persern viele Schätze gerettet, sich selbst aber auch viele angeeignet hatte, er befand sich jetzt im Lager — den Entschluß, zu den Griechen überzugehen; schon früher hatte er diese Absicht gehegt, aber er hatte sie bisher nicht ausführen können. Wie Skyllias jetzt seine Flucht von dort zu den Griechen bewerkstelligte, kann ich nicht genau sagen; wenn das, was man darüber erzählt, wahr ist, wundere ich mich ein wenig. Man berichtet nämlich, er sei bei Aphetai ins Meer getaucht und nicht eher wieder aufgestiegen, als bis er sich in der Gegend von Artemision befand; dabei hätte er eine Strecke von ungefähr 8o Stadien durchs Meer zurücklegen müssen. Man erzählt auch noch andere Geschichten über diesen Mann, die wie Lügen aussehen; einiges aber ist auch wahr. Hierüber jedoch will ich meine Meinung dahin
äußern, daß er auf einem Boot nach Artemision gefahren ist. Als er dort eintraf, berichtete er den Feldherrn sofort von dem Verlauf und Ausmaß des Schiffbruchs und den Fahrzeugen, die man um Euboia herum entsandt hatte. Als die Griechen dies hörten, berieten sie miteinander. Nach langem Hin und Her drang der Vorschlag durch, diesen Tag dort noch abzuwarten und die Nacht zu verbringen, sogleich aber nach Mitternacht aufzubrechen und den Schiffen entgegenzufahren, die den Befehl hatten, herumzusegeln. Als aber kein Angriff auf sie erfolgte, warteten sie bis gegen Abend und fuhren dann selbst gegen den Feind, um eine Probe anzustellen über Kampf und Durchbruch durch die Reihen der Feinde. Als die anderen Mannschaften und Feldherrn des Xerxes die kleine Flotte auf sich zukommen sahen, warfen sie ihnen vor, die Griechen müßten wahnsinnig sein, und stachen in See. Dabei hofften sie, sie mit Leichtigkeit kapern zu können. Ihre Hoffnung war durchaus begründet. Denn sie sahen die geringe Zahl der griechischen Schiffe und ihre eigenen, die an Zahl um ein Vielfaches größer waren und auch besser segelten. Im Vertrauen darauf schlossen sie die Griechen ringsum ein. Alle Ionier nun, die den Griechen wohlgesinnt waren, fuhren ungern gegen sie und waren recht bekümmert, als sie ihre Umzingelung sahen. Sie wußten, keiner von ihnen 369
würde die Heimat wiedersehen. So schwach schienen ihnen offenbar die Aussichten der Griechen. Alle anderen, die sich obendrein über das Schicksal der Griechen freuten, wetteiferten miteinander, als erste ein attisches Schiff zu kapern und so eine Belohnung vom König zu erhalten. Denn die meiste Beachtung fanden im Flottenlager die Athener. Auf das Signal hin stellten sich die Griechen zunächst auf, die Schnäbel den Feinden zugekehrt, die Hecks in der Mitte gegeneinander. Auf das zweite Zeichen fuhren sie trotz des engen Raumes gerade von vorne los. Dabei nahmen sie dreißig Barbarenschiffe und fingen darauf Philaon, den Bruder des Salaminierkönigs Gorgos, den Sohn des Chersis, einen angesehenen Mann in der Flotte. Als erster von den Griechen kaperte der Athener Lykomedes, der Sohn des Aischraios, ein feindliches Schiff und erhielt dafür den Preis der Tapferkeit. Als sie aber in dieser Schlacht unentschieden kämpften, trennte der Einbruch der Nacht die Fronten. Die Griechen fuhren nach Artemision zurück, die Barbaren nach Aphetai. Der Kampf war ganz anders verlaufen, als sie erwartet hatten. In dieser Schlacht war Antidoros von Lemnos der einzige Grieche auf seiten des Königs, der zu den Griechen überging. Dafür schenkten ihm die Athener ein Stück Land auf Salamis. Kaum war es dunkel geworden, ging ein starker Wolkenbruch, obwohl es mitten im Sommer war, die ganze Nacht hindurch nieder, und gewaltig donnerte es vom Pelion her. Die Leichen aber und die Schiffstrümmer wurden nach Aphetai hinausgetrieben. Sie schlugen um die Schiffsschnäbel und brachten die Ruderblätter aus der Reihe. Als die Soldaten dort dies hörten, packte sie Grauen, und sie glaubten fest, sie müßten in ihrem Unglück, in das sie geraten waren, schließlich ganz umkommen. Denn noch ehe sie sich vom Schiffbruch und dem Sturm am Pelion erholt hatten, waren sie in eine gewaltige Seeschlacht geraten; und danach kam gleich der große Wolkenbruch. Wassermassen stürzten ins Meer, und dumpfer Donner grollte. Eine solche Nacht mußten sie erleben. Für die aber, die den Auftrag erhalten hatten, Euboia zu umfahren, zeigte sich die gleiche Nacht noch viel schlimmer, das um so mehr, weil sie sie auf offenem Meer überraschte. Sie fanden ein klägliches Ende; denn Sturm und Regen überfielen sie auf der Fahrt bei den euboischen Klippen. Der Wind jagte sie vor sich her. Da sie nicht wußten, wohin sie trieben, zerschellten sie an den Felsen. Das alles war das Werk der Gottheit, damit die persische Flotte der griechischen gleich würde und nicht mehr überlegen sei. 370
Diese Schiffe gingen also bei den Euboiischen Klippen zugrunde. Als es aber für die Barbaren in Aphetai zu ihrer Freude Tag wurde, hielten sie ihre Schiffe still und waren froh, wenn man sie jetzt in ihrem Unglück unbehelligt ließ. Die Griechen aber bekamen eine Verstärkung von 53 attischen Fahrzeugen. Ihr Mut wuchs durch die Ankunft der Schiffe und durch die Nachricht, daß alle Feinde auf ihrer Fahrt um Euboia im Sturm umgekommen seien. Sie liefen genau um die gleiche Stunde [wie am Vortag] aus und stießen auf die Schiffe der Kiliker. Sie zerstörten diese und fuhren bei Einbruch der Dunkelheit wieder nach Artemision zurück. Am dritten Tage waren die Führer der feindlichen Flotte ergrimmt darüber, daß so wenige Schiffe ihnen so übel mitgespielt hatten. Sie fürchteten auch den Zorn des Xerxes; deshalb warteten sie nicht wieder, bis die Griechen angriffen, sondern ermahnten sich gegenseitig und stachen um Mittag in See. Zufällig fielen diese Seegefechte und die Landschlacht bei den Thermopylen auf die gleichen Tage. Die Aufgabe für die Kämpfer zur See ging im ganzen um den Euripos, ebenso wie Leonidas mit seiner Schar den Engpaß sichern sollte. Eine Partei nun ermahnte sich, den Feind nicht nach Griechenland hineinzulassen, die andere, das Griechenheer zu vernichten und den Durchgang zu erzwingen. Als die Schiffe der Perser in Schlachtordnung heransegelten, blieben die Griechen ruhig bei Artemision liegen. Die Feinde aber ließen ihre Schiffe halbmondförmig auffahren und umfaßten die Griechen. Da stießen die Griechen gegen sie vor, und der Kampf begann. In diesem Gefecht waren die Streitkräfte einander gleich; denn die Flotte des Xerxes schadete sich selbst durch ihre Größe und Menge; die Schiffe gerieten in Unordnung, und eines stieß gegen das andere. Trotzdem hielt sie stand und wich nicht; denn es schien ihnen doch zu schandbar, vor so wenigen Schiffen die Flucht zu ergreifen. Die griechischen Verluste an Schiffen und Mannschaften waren erheblich, größer noch die der Feinde. So kämpften sie miteinander; dann trennten sie sich, beide Parteien für sich. In dieser Seeschlacht taten sich im Heer des Xerxes die Ägypter besonders hervor, die neben vielen anderen Großtaten auch fünf griechische Schiffe mit ihrer Besatzung kaperten. Bei den Griechen aber zeichneten sich die Athener an diesem Tage besonders aus, und unter ihnen wieder Kleinias, Alkibiades' Sohn, der auf eigene Kosten mit 200 Mann und einem eigenen Schiff in den Kampf gezogen war. Nach der Trennung fuhren beide Flotten zufrieden an ihren Ankerplatz zurück. Als die Griechen sich abgesetzt und vom Kampfe 371
gelöst hatten, nahmen sie zwar die Leichen und Schiffstrümmer mit; sie hatten aber stark gelitten, besonders die Athener, von deren Schiffen die Hälfte beschädigt war. Daher beschlossen die den Rückzug tiefer nach Griechenland hinein. Themistokles aber kam in den Sinn, daß die Griechen fähig wären, die übrigen Feindschiffe zu bezwingen, wenn man das ionische und karische Kontingent den Persern abspenstig machte. Während nun die Euboier ihre Herden ans Meer trieben, versammelte er dort die Feldherrn um sich und sagte, er glaube, ein Mittel zu wissen, wodurch er den König um seine besten Bundesgenossen bringen könne, wie er hoffe. Soviel verriet er ihnen. In der gegenwärtigen Lage sei seiner Meinung nach folgendes zu tun: Soviel er nur wolle, sollte ein jeder von dem Vieh der Euboier schlachten ; schließlich sei es besser, ihr eigenes Heer verzehre die Tiere als die Feinde. Auch riet er, jeder sollte seinen Leuten befehlen, Feuer anzuzünden. Um die Zeit des Rückzugs werde er selbst sich darum kümmern, daß sie ohne Verluste nach Griechenland gelangten. Der Rat gefiel ihnen; sogleich steckten sie Feuer an und fielen über das Vieh her. Die Euboier hatten nämlich, ohne sich im geringsten um das für sie bedeutungslose Orakel des Bakis als nichtssagend zu kümmern, weder etwas in Sicherheit gebracht noch auch Vorräte für einen kommenden Krieg angeschafft; so hatten sie sich selbst in eine böse Lage gebracht. Die Weissagung des Bakis hierüber lautete so: »Spannt der stammelnde Fremde das Byblosjoch übers Meer hin, Dann ist's Zeit, von Euboia die meckernden Ziegen zu treiben.« Da sie die Worte gar nicht beachtet hatten, weder für die gegenwärtige noch für die zukünftige Notlage, mußte sie jetzt das furchtbarste Unglück treffen. Währenddessen erschien der Kundschafter aus Trachis. Auf Artemision stand ein Späher, Polyas aus Antikyra, der den Auftrag hatte— ein leichtes Ruderboot lag für ihn immer ausgerüstet bereit—, dem Heer in Thermopylai über die Kämpfe der Flotte zu berichten. Ebenso hielt sich Abronichos aus Athen, der Sohn des Lysikles, bei Leonidas immer bereit, den Leuten bei Artemision auf einem Dreißigruderer die Kunde zu bringen, wenn dem Landheer ein Unglück zustieß. Dieser Abronichos traf nun ein und meldete das Schicksal des Leonidas und seines Heeres. Als die Griechen das hörten, schoben sie den Rückzug nicht länger auf, sondern fuhren in der Ordnung davon, in der sie gerade lagen: die Korinther an der Spitze, die Athener am Schluß. 372
Themistokles wählte aber die besten athenischen Segler, fuhr an die Stätte des Trinkwassers und ritzte eine Inschrift in die Steine, die die lonier am nächsten Tag bei ihrer Ankunft am Artemision lasen. Die Inschrift lautete: »Ionier, es ist nicht recht, daß ihr gegen eure Vorfahren in den Kampf zieht und Griechenland unterwerft. Stellt euch vielmehr auf unsere Seite! Wenn ihr es aber nicht könnt, dann beteiligt euch selbst jetzt wenigstens nicht mehr am Kampf gegen uns und bittet die Karer, daß sie das gleiche wie ihr tun! Ist euch aber keines von beidem möglich, und seid ihr durch allzu harten Zwang gebunden, als daß ihr euch lösen könnt, dann kämpft mit Absicht zurückhaltend, wenn es zur Schlacht kommt. Denkt daran, daß wir eure Ahnen sind und daß eigentlich ihr die Schuld tragt an unserer Feindschaft mit dem Barbaren.« Dies schrieb Themistokles, wie ich glaube, in doppelter Absicht: Die Ionier sollten abfallen und sich zu den Griechen schlagen, wenn der König von dem Brief nichts erfuhr; falls aber der König Kunde erhielt und der Brief ihm in verleumderischer Absicht mitgeteilt würde, sollte er die Ionier verdächtigen und sie von weiteren Seeschlachten fernhalten. Das war die Mitteilung des Themistokles. Bei den Feinden aber traf unmittelbar darauf auf einem Fahrzeug ein Mann aus Histiaia ein und meldete die Flucht der Griechen vom Artenvision. Sie aber wollten es nicht glauben und hielten den Mann in Gewahrsam, sandten aber Schnellsegler auf Kundschaft aus. Als diese die Wahrheit der Meldung bestätigten, stach die ganze Perserflotte in geschlossener Formation bei Sonnenaufgang in See mit Kurs auf Artemision. Dort blieb sie bis Mittag vor Anker und fuhr dann weiter nach Histiaia. Nach ihrer Ankunft besetzten die Perser die Stadt der Histiaier und Teile des Gebietes von Ellopia und griffen alle Dörfer an der Küste im Gebiet von Histiaia an. Während ihres dortigen Aufenthaltes schickte Xerxes nach Vorbereitungen für die Totenbestattung einen Herold an die Flotte. Vorher hatte er aber mit den Gefallenen folgendes getan: Von allen den Gefallenen aus seinem Heere bei Thermopylai — es waren an 20 000 - ließ er etwa nur I000 liegen, die übrigen begrub er in eigens dafür geschaufelten Gruben. Darauf wurde Laub und Erde geschüttet, damit die Mannschaften der Flotte sie nicht sahen. Als der Herold in Histiaia eintraf, rief er das ganze Heer zusammen und sprach folgendes: »Bundesgenossen, König Xerxes erlaubt jedem von euch, der es will, seinen Platz zu verlassen und herüberzukommen, um zu sehen, wie er gegen die unvernünftigen Menschen kämpft, die über des Königs Macht zu siegen hofften.« 373
Als der Herold das verkündet hatte, herrschte bald großer Mangel an Schiffen ; denn so viele drängten sich zur Besichtigung. Sie setzten über und schritten durch die Reihen der Toten und betrachteten sie. Sie alle glaubten, die da lagen, seien Lakedaimonier und Thespier, wobei sie auch die Heloten sahen. Es blieb jedoch keinem der Vorübergehenden verborgen, was Xerxes mit seinen eigenen Toten gemacht hatte. Es war auch wirklich lächerlich. Nur x000 Leichen der gefallenen Perser sah man daliegen; und jene waren alle auf einem Haufen zusammengetragen, etwa 4000 Mann. Dieser Tag verging mit der Totenschau. Am nächsten Tag kehrten die Flottenmannschaften nach Histiaia zu den Schiffen zurück; das Landheer aber unter Xerxes setzte den Vormarsch fort. Nun kamen zu den Persern Oberläufer, einige wenige Leute aus Arkadien; sie hatten nichts zu leben und verlangten Arbeit. Die Perser führten sie vor den König und fragten, was die Griechen jetzt täten. Ein Perser führte das Wort für alle und horchte sie aus. Jene erwiderten, die Griechen feierten das olympische Fest und schauten dem Kampfspiel zu Fuß und zu Wagen zu. Da fragte der Perser, was man dabei für einen Kampfpreis ausgesetzt habe. Sie erwiderten, der Sieger erhalte einen Kranz von Olbaumzweigen. Darauf sagte Tritantaichmes, der Sohn des Artabanos, ein sehr edles Wort, das ihm allerdings beim König den Vorwurf der Feigheit einbrachte. Als er nämlich hörte, der Kampfpreis sei ein Kranz, aber kein Geld, hielt er nicht länger an sich, sondern rief vor allen Leuten: »Weh, Mardonios! Gegen was für Leute führtest du uns in den Krieg, die nicht um Geld ihre Kampfspiele halten, sondern um den Preis der Tüchtigkeit!« Dies Wort sprach Tritantaichmes. Inzwischen schickten gleich nach der Niederlage bei Thermopylai die Thessaler einen Boten zu c:en Phokern, weil sie sich schon immer über sie ärgerten, am meisten aber seit der letzten Niederlage. Denn die Thessaler und ihre Bundesgenossen waren mit ihrer ganzen Heeresmacht ins Phokerland eingefallen — das geschah wenige Jahre vor diesem Kriegszug des Königs —, wurden aber von den Phokern geschlagen und böse zugerichtet. Als die Phoker auf dem Parnaß eingeschlossen waren, erdachte der Seher Tellias aus Elis, den sie bei sich hatten, für sie folgende Kriegslist: Er ließ 600 der tapfersten Phoker weiß anstreichen, sie selbst und ihre Waffen, und griff die Thessaler nachts an, nachdem er befohlen hatte, alles niederzumachen, was ihnen nicht weiß entgegenleuchtete. Als die Wachen der Thessaler sie zuerst erblickten, fürchteten sie 374
sich und glaubten, hier gehe es nicht mit rechten Dingen zu; und ebenso erging es nach ihnen demHeer selbst. So erschlugen die Phoker 4000 Mann und erbeuteten ihre Schilde, deren eine Hälfte sie nach Ab ai, die andere n ach Delphi weihten. Der Zehnte aber von der Beute aus dieser Schlacht sind die großen Statuen, die um den Dreifuß vor dem Tempel in Delphi stehen, und ebensolche andere stehen auch in Abai. So handelten die Phoker an dem Fußvolk der Thessaler, das sie belagerte. Aber der Reiterei, die in ihr Land einfiel, spielten sie heillos mit. In dem Engpaß bei Hyampolis gruben sie einen breiten Graben und stellten leere Krüge hinein. Dann schütteten sie den Graben wieder zu und machten die Stelle dem übrigen Boden wieder gleich. Jetzt erwarteten sie den Einfall der Thessaler. Diese ritten auf die Phoker eine Attacke, brachen aber in die Krüge ein. Dabei verletzten sich die Pferde die Beine. Wegen dieser beiden Schlappen grollten ihnen die Thessaler. Sie schickten jetzt einen Boten hin und ließen ihnen sagen: »Phoker, seht endlich, daß ihr uns nicht gewachsen seid! Schon früher, als wir auf der Seite der Griechen standen, behaupteten wir in Griechenland stets den Rang vor euch. Jetzt aber gelten wir beim Perserkönig so viel, daß es ganz in unserer Hand liegt, euch aus dem Lande zu treiben, ja euch sogar in die Sklaverei zu verkaufen. Wenn wir es auch in der Hand haben, jede Rache an euch zu nehmen, wollen wir das erlittene Unrecht vergessen. Aber es sollen uns dafür fünfzig Silbertalente gezahlt werden; dann versprechen wir euch, das dem Lande drohende Unheil abzuwehren.« Das war das Angebot der Thessaler. Die Phoker waren nämlich das einzige Volk der Gegend, das nicht medisch wurde, nach meiner Vermutung nur aus Haß gegen die Thessaler. Wären die Thessaler auf die Seite Griechenlands getreten, hätten sich, wie ich glaube, die Phoker den Persern angeschlossen. Als ihnen nun die Thessaler dieses Angebot machten, erwiderten die Phoker, sie dächten nicht daran, Geld zu zahlen; es stehe ihnen ja nichts im Wege, sich ebenso den Persern anzuschließen wie die Thessaler, falls sie wollten. Aber ohne Not würden sie an Griechenland nicht zu Verrätern werden. Als die Thessaler diese Antwort erhielten, zeigten sie aus Groll gegen die Phoker den Barbaren den Weg. Aus Trachis fielen sie zunächst in Doris ein. Vom dorischen Land erstreckt sich ein schmaler Strich, höchstens dreißig Stadien breit, zwischen dem Land Malis und Phokis ; diese Landschaft hieß in alten Zeiten Dryopis und ist die Heimat der Dorer in der Peloponnes. Dieses dorische Land plünder375
ten die Barbaren bei ihrem Einfall nicht; denn es war persisch gesinnt, und die Thessaler sahen es auch nicht gern. Als sie aber von Doris aus in Phokis einbrachen, erreichten sie die Phoker selbst nicht; denn ein Teil der Phoker war auf die Höhe des Parnaß gezogen. Der Gipfel des Parnaß ist aber so recht geschaffen für die Aufnahme einer Truppenschar; er liegt für sich nach der Stadt Neon zu und heißt Tithorea. Hierhin hatten sie sich mit all ihren Habseligkeiten geflüchtet. Die meisten aber waren zu den ozolischen Lokrern in die Stadt Amphissa ausgewandert, die jenseits der Ebene von Krisa liegt. Die Barbaren aber durchzogen das ganze Land Phokis; denn die Thessaler führten das Heer so. Sie verbrannten und zerstörten alles, was sie fanden, und legten Feuer an Städte und Tempel. Sie zogen dort immer am Kephisos entlang und verwüsteten alles. Sie äscherten die Städte Drymos, Charadra, Erochos, Tethronion, Amphikaia, Neon, Pediai, Tritai, Elateia, Hyampolis, Parapotamioi und Abai ein. Dort stand ein reiches Heiligtum des Apollon mit vielen Schatzkammern und Weihgeschenken. Darin gab es damals wie heute ein Orakel. Diesen Tempel plünderten und verbrannten sie. Sie fingen auf der Verfolgung auch einige Phoker in den Bergen und brachten einige Frauen um, indem viele Soldaten sie schändeten. Als die Barbaren Parapotamioi hinter sich gelassen hatten, gelangten sie nach Panopeai. Da teilte sich das Heer in zwei Teile. Der größte und schlagfertigste Teil des Heeres zog mit Xerxes gegen Athen und rückte in Boiotien ein, in das Land der Orchomenier. Das ganze Volk der Boioter stand auf seiten der Perser. Makedonen schützten ihre Städte, die mit diesem Auftrag verteilt waren; Alexandros hatte sie dorthin geschickt. Sie lagen dort, um Xerxes damit zu beweisen, daß die Boioter gut persisch gesinnt seien. Dieser Teil der Barbaren also wandte sich dorthin. Andere von ihnen ließen sich von Wegführern nach dem heiligen Bezirk von Delphi bringen, indem sie den Parnaß rechts liegen ließen. Auch dieseverheerten alles Land in Phokis, das sie durchzogen. So verbrannten sie die Stadt der Panopeer, der Daulier und der Aioliden. Sie hatten sich aber vom Gros des Heeres getrennt und nahmen deshalb diesen Weg, weil sie das Heiligtum in Delphi plündern und dem König die Schätze überbringen sollten. Xerxes aber kannte alle Kostbarkeiten des Heiligtums, soweit sie nennenswert waren,— wie man mir erzählt hat — besser als seine eigenen Schätze zu H ause. Jeder sprach von Delphi, besonders von den Weihgeschenken des Kroisos, des Sohnes des Alyattes. 376
Als die Delpher dies erfuhren, befiel sie große Angst, und in ihrer gewaltigen Furcht befragten sie den Gott wegen der heiligen Schätze, ob sie sie in die Erde vergraben oder in ein anderes Land verlagern sollten. Der Gott aber verbot, sie wegzubringen, und sagte, er sei selbst imstande, sein Eigentum zu schützen. Als die Delpher dies gehört hatten, fürchteten sie für sich selbst. Sie schickten ihre Frauen und Kinder hinüber in das Gebiet von Achaia. Sie selbst stiegen größtenteils auf die Gipfel des Parnaß ; ihre Habseligkeiten brachten sie in die Höhle von Korykia. Einige suchten Zuflucht in Amphissa in Lokris. Alle Delpher also verließen ihre Stadt mit Ausnahme von sechzig Männern und dem Propheten. Als nun die Perser auf ihrem Anmarsch schon nahe standen und aus der Ferne bereits den heiligen Bezirk sehen konnten, bemerkte der Prophet — er hieß Akeratos —, daß die heiligen Waffen, die kein Mensch anrühren durfte, von innen aus dem Tempelsaal herausgeschafft waren und vor dem Tempelgebäude lagen. Da ging er hin und meldete den nòch anwesenden Delphern das Wunderzeichen. Als aber die Feinde eilends näherkamen und bereits am Tempel der Athene Pronaia standen, da erlebten sie noch größere Wunder als das erste. Denn es bedeutet doch schon ein großes Wunder, wenn die Kriegswaffen ohne fremdes Zutun vor dem Tempel zu sehen waren. Danach aber trug sich nochmals etwas zu, was man von allen Erscheinungen am meisten bewundern muß. Als nämlich die Barbaren den Tempel der Athene Pronaia erreichten, zuckten in diesem Augenblick Blitze vom Himmel auf sie nieder, und zwei Bergspitzen des Parnaß rissen sich los, stürzten mit mächtigem Getöse auf sie und erschlugen viele von ihnen. Aus dem Tempel der Athene aber erschollen Stimmen und Kriegsgeschrei. Alle diese Erscheinungen trafen nun zusammen; daher ergriff Schrecken die Feinde. Als die Delpher sie auf der Flucht sahen, stiegen sie von den Bergen gegen sie herab und töteten eine große Anzahl von ihnen. Die mit dem Leben durchkamen, flohen geradewegs nach Boiotien. Bei ihrer Rückkehr aber berichteten diese Barbaren, wie man mir erzählt hat, daß sie außer diesen Zeichen noch anderes Übernatürliches erlebt hätten: Zwei übermenschlich große bewaffnete Männer hätten sie verfolgt und dabei Leute aus ihren Reihen erschlagen. Das, sagen die Delpher, seien zwei Heroen ihres Landes gewesen, Phylakos und Autonoos, deren heilige Stätten in der Gegend des Heiligtums stehen: die des Phylakos hart am Weg oberhalb des Tempels der Pronaia, die des Autonoos aber nahe der Kastalia unter 377
dem Hyampeiagipfel. Die Steine aber, die vom Parnaß teeruntergerollt waren, waren zu meiner Zeit noch vorhanden und lagen im heiligen Hain der Athene Pronaia, in den sie auf ihrem Weg durch die Barbaren hineingerollt waren. So also mußten diese Eindringlinge aus dem Tempelgebiet von Delphi abrücken. Die Flotte der Griechen nahm von Artemision aus auf Bitten der Athener Kurs nach Salamis. Die Athener hatten diesen Wunsch, auf Salamis hinzuhalten, geäußert, um erst unbemerkt ihre Frauen und Kinder aus Attika wegbringen und dann die weiteren Maßnahmen beraten zu können. Denn in der gegenwärtigen Lage mußten sie unbedingt Überlegungen anstellen, weil sie sich in ihren Erwartungen verrechnet hatten. Sie hatten nämlich geglaubt, die Peloponnesier mit der gesamten Heeresmacht in Boiotien gelagert zu finden, abwehrbereit gegen die Barbaren; aber davon fanden sie nichts vor, sondern erfuhren, jene verstärkten den Isthmos mit einer Mauer, und es läge ihnen nur etwas an der Rettung der Peloponnes. Nur diese wollten sie verteidigen; alles übrige hätten sie aufgegeben. Als sie dies erfuhren, baten sie, man möchte doch bei Salamis vor Anker gehen. Die anderen nun steuerten Salamis an, die Athener aber landeten an ihrer eigenen Küste. Gleich nach ihrer Ankunft ließen sie durch Herolde verkünden, jeder Athener solle, so gut er könne, Kinder und Haushalt in Sicherheit bringen. Da schickten die meisten ihre Angehörigen nach Troizen, andere nach Aigina oder nach Salamis. Sie schafften in Eile heimlich alles fort, um dem Götterspruch gehorsam zu sein, besonders aber aus folgendem Grund: Die Athener erzählen, als Wächter der Burg halte sich eine große Schlange im Heiligtum auf ; sie erzählen weiter, ihr legten sie wie einem lebenden Wesen einen Honigkuchen als monatliches Opfer hin. Dieser Honigkuchen, der bisher jedesmal aufgezehrt war, blieb diesmal unberührt. Als die Priesterin das verkündete, verließen die Athener noch viel bereitwilliger und entschlossener ihre Stadt, weil ja auch die Göttin die Burg verlassen habe. Als sie alles in Sicherheit gebracht hatten, segelten sie zur Flotte zurück. Als nun die, die vom Artemision kamen, bei Salamis vor Anker gegangen waren, stieß auch die übrige Flotte der Griechen auf diese Nachricht hin von Troizen aus zu ihnen. Denn der Hafen von Troizen, Pogon, war vorher zum Sammelplatz bestimmt worden. So trafen nun weit mehr Schiffe zusammen, als bei Artemision am Kampfe teilgenommen hatten, auch Schiffe von weit mehr Städten. Derselbe Mann wie bei Artemision war Admiral: Eurybiades, der 378
Sohn des Eurykleides, ein Spartaner nicht aus königlichem Geschlecht. Aber die Athener stellten bei weitem die seetüchtigsten und meisten Schiffe. In den Kampf aber zogen folgende Stämme: aus der Peloponnes die Lakedaimonier mit sechzehn Schiffen; die Korinther bemannten die gleiche Zahl wie bei Artemision; die Sikyonier stellten fünfzehn Schiffe, die Epidaurier zehn, die Troizener fünf, die Hermionen drei. Alle diese Völker außer den Hermionen waren dorischer und makedonischer Herkunft und sind vom Erineos, vom Pindos und zuletzt von Dryopis her ausgewandert. Die Hermionen aber sind Dryoper und waren von Herakles und den Malfern aus der jetzigen Landschaft Doris verjagt warden. Diese Schiffe kamen aus der Peloponnes, folgende aber aus dem außerhalb davon liegenden Festland: Die Athener stellten allein gegenüber allen anderen 18o Schiffe; denn bei Salamis kämpften die Plataier aus folgendem Grunde nicht im Gefolge der Athener: Als die Griechen auf ihrem Rückzug vom Artemision nach Chalkis kamen, gingen die Plataier auf dem Gebiet jenseits der boiotischen Küste an Land und machten sich daran, ihre Angehörigen in Sicherheit zu bringen. So blieben sie, um ihre Leute zu retten. Die Athener aber waren damals, als die Pelasger das jetzige Griechenland in Besitz hielten, Pelasger und führten den Namen Kranaer. Unter dem König Kekrops hießen sie Kekropiden; als Erechtheus die Herrschaft antrat, erhielten sie den Namen Athener. Als Ion, der Sohn des Xuthos, Athens Führer geworden war, hießen sie nach ihm Ionier. Die Megarer stellten die gleichstarke Mannschaft wie bei Artemision. Die Amprakioten aber kamen zur Verstärkung mit sieben Schiffen, die Leukadier mit drei; das war ein dorisches Volk von Korinth. Von den Inselbewohnern stellten die Aigineten 3o Schiffe. Sie hatten zwar noch mehr Schiffe ausgerüstet, aber die behielten sie zur Verteidigung ihres Landes; mit den 3o besten Seglern jedoch kämpften sie bei Salamis. Die Aigineten sind Dorer von Epidauros ; ihre Insel aber hieß zuerst Oinone. Nach den Aigineten stellten die Chalkidier ihre zwanzig Schiffe vom Artemision, und die Eretrier ihre sieben. Das sind Ionier. Dann kamen die von Keos auch mit der gleichen Schiffszahl; das sind Ionier von Athen. Die Naxier stellten vier Schiffe. Ihre Mitbürger hatten diese zu den Persern gesandt wie auch alles übrige Inselvolk. Aber trotz dieses Befehls stießen sie auf Betreiben des Demokritos, eines angesehenen Bürgers in Naxos, der damals eine Triere führte, zu den Griechen. Die Naxier aber sind Io379
nier und stammen aus Athen. Die Styreer stellten ebenso viele Schiffe wie bei Artemision, die Kythnier ein Kriegsschiff und einen Fünfzigruderer. Das sind beides Dryoper. Auch die Seriphier und Siphnier und die Melier zogen mit in den Kampf; denn sie waren die einzigen von allen Inselbewohnern, die dem Barbaren nicht Wasser und Erde gegeben hatten. Diese alle nun, die da in den Krieg zogen, wohnten diesseits der Thesproter und des Acheron; denn die Thesproter grenzen an die Amprakioten und Leukadier, die von den äußersten Grenzen mit in den Kampf zogen. Von denen aber, die außerhalb von ihnen wohnen, waren die Krotoniaten die einzigen, die Griechenland in der Stunde der Gefahr beistanden, und zwar mit einem einzigen Schiff, das Phaÿllos befehligte, der dreimalige Sieger in den pythischen Spielen. Die Krotoniaten aber sind ihrer Herkunft nach Achaier. Alle übrigen nun erschienen mit Dreiruderern ; die Melier, Siphnier und Seriphier hatten Fünfzigruderer. Die Melier, die von Lakedaimon abstammen, stellten zwei Schiffe, die Siphnier und die Seriphier, die Zonier aus Athen sind, stellten je einen Fünfzigruderer. Die Gesamtzahl der Schiffe aber betrug ohne die Fünfzigruderer 378 Einheiten. Als sich nun die Feldherrn der genannten Städte bei Salamis versammelt hatten, berieten sie miteinander. Eurybiades stellte jedem frei, seine Meinung zu äußern, welche Stelle er für eine Schlacht am geeignetsten halte in den Gebieten, deren die Griechen noch Herren waren. Denn Attika war schon aufgegeben, und nur von den übrigen konnte noch die Rede sein. Die meisten Stimmen ergaben sich für den Plan, nach dem Isthmos zu segeln und die Schlacht vor der Peloponnes zu liefern. Dafür führte man folgenden Grund an: Wenn sie bei Salamis blieben und die Schlacht verlören, würden sie auf der Insel belagert werden, wo man keinen Entsatz erwarten dürfte. Vom Isthmos aus aber könnte sich jeder in seine Heimatstadt retten. Während die Feldherrn aus der Peloponnes dies noch besprachen, war ein Mann aus Athen eingetroffen mit der Nachricht, der Barbar sei in Attika eingefallen und verwüste das ganze Land mit Feuer und Schwert. Das Heer, das mit Xerxes durch Boiotien gezogen war, verbrannte zuerst die Stadt der Thespier, während die Bewohner die Stadt verlassen hatten und nach der Peloponnes ausgewandert waren, desgleichen die Stadt der Plataier, kam nun nach Athen und zerstörte auch hier alles. Sie verbrannten Thespiai und Plataiai, weil sie von den Thebanern gehört hatten, daß die Einwohner nicht gut persisch gesinnt seien. 38o
Seit dem Übergang über den Hellespont, von wo aus die Barbaren ihren Marsch begonnen hatten, hatten sie dort einen Monat zum Übergang nach Europa gebraucht. Nach weiteren drei Monaten hatten sie Attika erreicht, als Kalliades Archon der Athener war. Sie nahmen die leere Unterstadt und fanden nur einige wenige Athener vor, die sich im heiligen Bezirk aufhielten; es waren die Verwalter des Tempelschatzes und einige arme Leute. Diese hatten den Zugang zur Burg verrammelt und Gatter und Verhaue errichtet, um den Feinden den Eintritt zu wehren. Sie waren aus Armut nicht nach Salamis gegangen; außerdem glaubten sie auch, sie allein hätten den Sinn des Spruches erfaßt, den die Pythia ihnen gegeben hatte, die hölzerne Mauer sei unbezwinglich; hier im Heiligtum sei der Zufluchtsort nach dem Götterspruch, nicht aber die Schiffe. Die Perser lagerten sich auf der Anhöhe, die der Burg gerade gegenüberliegt, von den Athenern Areshügel genannt; sie taten es auf folgende Weise: Sie wickelten Werg um die Pfeile und zündeten es an; dann schossen sie damit auf den Verhau. Die belagerten Athener gerieten in arge Bedrängnis, da die Verschanzungen sie nicht schützen konnten; sie hielten aber trotzdem stand. Sie nahmen auch den Vertragsvorschlag, den die Peisistratiden machten, nicht an und sannen auf neue Verteidigungsmittel. Sie rollten den gegen das Tor andrängenden Barbaren große Steinwalzen entgegen, so daß sich Xerxes eine Zeitlang in großer Verlegenheit befand, weil er sie nicht fassen konnte. Nach und nach aber zeigte sich für die Barbaren ein Ausweg aus den Schwierigkeiten ; denn nach dem Götterspruch sollte ja ganz Attika, soweit es auf dem Festland lag, in die Gewalt der Perser gelangen. Einige Perser stiegen an der Vorderseite der Akropolis, aber hinter den Toren und dem hinaufführenden Weg aufwärts. Dort gab es keine Wachtposten, weil man glaubte, kein Mensch könnte dort hinaufklettern. Es war in der Nähe des Heiligtums der Aglauros, der Tochter des Kekrops, wo der Hang sehr steil und abschüssig war. Als die Athener merkten, daß die Burg erklommen sei, stürzten sich einige von der Mauer und suchten so den Tod, einige aber flüchteten in den Tempelsaal. Die Perser aber, die hinaufgestiegen waren, wandten sich zuerst zum Tor und öffneten es; danach erschlugen sie die Schützlinge im Tempel. Nachdem sie alle getötet hatten, plünderten sie das Heiligtum und zerstörten die ganze Akropolis durch Feuer. Als Xerxes Athen ganz eingenommen hatte, schickte er einen berittenen Boten nach Susa, der Artabanos seinen Erfolg melden sollte. 381
Am zweiten Tag aber nach dem Abgang des Boten rief er die Flüchtlinge aus Athen zusammen, die mit ihm gezogen waren, und forderte sie auf, die Burg zu ersteigen und nach ihrer heimischen Weise Opfer darzubringen. Entweder hatte ein Traumbild ihn zu diesem Gebot bewogen, oder aber es ging ihm nahe, das Heiligtum niedergebrannt zu haben. Die Flüchtlinge aus Athen führten seinen Befehl aus. Weshalb ich diese Vorgänge erwähnt habe, will ich gleich erzählen. Auf der Akropolis steht auch ein Tempel des Erechtheus, der aus der Erde geboren sein soll. Darin befindet sich ein Olbaum und ein Brunnen mit Meerwasser. Davon erzählen die Athener, Poseidon und Athene hätten sie beim Streit um dieses Land als Zeugnis aufgestellt. Den Olbaum nun hatte das Schicksal des übrigen Heiligtums getroffen; er wurde von den Barbaren verbrannt. Am zweiten Tag nach dem Brand aber, als die Athener auf das Gebot des Königs zum Opfer in die heilige Stätte hinanschritten, sahen sie, daß der Stumpf schon wieder einen etwa ellenlangen Schoß getrieben hatte. So erzählten die Athener. Als die Einnahme der Burg von Athen den Griechen bei Salamis gemeldet wurde, überfiel sie solche Aufregung, daß einige Feldherrn gar nicht warteten, bis über die Lage ein Beschluß gefaßt war, sondern zu ihren Schiffen eilten und die Segel aufziehen ließen, um auf der Stelle davonzufahren. Die aber zurückblieben, beschlossen, die Schlacht vor dem Isthmos zu liefern. Als es Nacht wurde, lösten sie die Versammlung auf und gingen an Bord. Als nun Themistokles auf sein Schiff zurückkehrte, fragte ihn der Athener Mnesiphilos, was man beschlossen habe. Wie er von ihm hörte, es stehe fest, nach dem Isthmos abzusegeln und die Schlacht vor der Peloponnes zu wagen, sagte er: »Wenn sie die Schiffe wirklich von Salamis wegführen, dann kämpfst du nicht mehr zur See für ein einziges Vaterland. Denn sie werden stadtweise nach Hause eilen, und weder Eurybiades noch ein anderer sonst werden verhindern können, daß sich die Flotte zerstreut. So wird Griechenland durch Unvernunft zugrundegehen. Aber wenn es noch ein Mittel gibt, dann geh und versuche, den Beschluß zu hintertreiben! Vielleicht kannst du Eurybiades zu einer Änderung überreden und zum Bleiben bestimmen.« Dieser Rat gefiel dem Themistokles sehr. Ohne Mnesiphilos darauf zu antworten, begab er sich zum Schiffe des Eurybiades. Dort sagte er, er wolle mit ihm etwas besprechen, was alle angehe. Eurybiades forderte ihn auf, an Bord zu kommen und seinen Wunsch zu 382
äußern. Da setzte sich Themistokles mit ihm zusammen und zählte ihm alles auf, was er von Mnesiphilos gehört hatte; dabei tat er so, als stammten die Gedanken von ihm selbst. Er fügte noch vieles andere hinzu und brachte ihn schließlich durch Bitten soweit, daß er an Land ging und die Feldherrn zu einer Beratung berief. Vor den Versammelten hielt nun Themistokles, noch ehe Eurybiades überhaupt den Grund bekanntgeben konnte, warum er die Feldherrn zu sich entboten hatte, eine lange Rede, weil es ihm sehr am Herzen lag. Während seiner Ansprache sagte der korinthische Feldherr Adeimantos, der Sohn des Okytos: »Themistokles, bei den Kampfspielen werden die mit Ruten gestrichen, die vor dem Startzeichen loslaufen. « Themistokles aber rechtfertigte sich: »Wer aber beim Start zurückbleibt, erhält keinen Kranz.. So antwortete er dem Korinther freundlich. Eurybiades gegenüber aber erwähnte er nichts von dem, was er vorher gesagt hatte, daß die Flotte auseinanderlaufen würde, wenn man von Salamis abziehe. Denn es ziemte sich nicht, vor den Bundesgenossen mit solchen Anwürfen zu kommen. Er stützte sich auf andere Gründe und führte aus: »In deiner Hand liegt jetzt die Rettung Griechenlands, Eurybiades, wenn du auf mich hörst, hier bleibst und eine Seeschlacht lieferst, nicht aber auf die Ratschläge dieser Männer hin die Schiffe zum Isthmos absegeln läßt. Höre zu und halte beides gegeneinander: Wenn du am Isthmos kämpfst, mußt du die Schlacht auf offener See führen, was für uns nicht gerade günstig ist, weil unsere Schiffe schwerfälliger und zahlenmäßig geringer sind. Dann verlierst du Salamis, Megara und Aigina, selbst wenn wir auch im übrigen Erfolg haben; denn das Landheer wird der Seemacht auf dem Fuße folgen. So wirst du es selbst nach der Peloponnes führen und ganz Griechenland in Gefahr bringen. Wenn du aber meinen Rat befolgst, dann winken dir diese großen Vorteile: Kämpfen wir in der Enge mit wenigen Schiffen gegen viele, so werden wir, wenn es mit rechten Dingen zugeht, einen vollständigen Sieg erringen; denn der Kampf auf engem Raum ist unser Vorteil, der Kampf auf offener See spricht für die anderen. Weiter aber retten wir damit Salamis, wohin wir unsere Frauen und Kinder in Sicherheit gebracht haben. Dabei habt ihr auch noch den Vorteil, der euch sehr am Herzen liegt: Wenn du hierbleibst, verteidigst du auch die Peloponnes ebensogut wie am Isthmos, und du wirst, wenn du klug bist, die Feinde nicht nach der Peloponnes locken. Geschieht aber, was ich hoffe, und siegen wir mit der Flotte, so werden auch die Barbaren weder am Isthmos erscheinen noch weiter über Attika hinaus vorrücken, sondern Hals 383
über Kopf abziehen. Und wir erreichen dadurch, daß Megara, Aigina und Salamis gerettet sind. Hier hat uns ja auch ein Götterspruch den Sieg über die Feinde verheißen. Wenn man einen vernünftigen Plan faßt, dann geht es fast immer gut aus. Wählt man aber einen unsinnigen, dann entzieht auch die Gottheit dem Denken der Menschen ihre Hilfe.« Auf diese Rede des Themistokles erhob sich der Korinther Adeimantos wieder gegen ihn und sagte, er solle lieber schweigen, weil er kein Vaterland mehr habe; und er warnte Eurybiades davor, über den Antrag eines Heimatlosen abstimmen zu lassen. Wenn Themistokles mitreden wolle, müsse er erst nachweisen, für welche Stadt er spreche. Das warf er Themistokles vor, weil Athen genommen und vom Feind besetzt war. Nun sagte Themistokles dem Adeimantos und den Korinthern viele harte Worte und bewies ihnen, daß Athen und Attika viel größer seien als Korinth, solange Athen 200 Schiffe bemannt habe. Kein Volk der Griechen könne ihren Angriff abschlagen. Nachdem er in seiner Rede darauf hingewiesen hatte, wandte er sich noch viel eindringlicher an Eurybiades: »Wenn du aber hier bleibst und dich als tapferer Mann erweist, dann ist es gut; wenn nicht, dann wirst du Griechenland in den Abgrund stürzen. Denn die Entscheidung des Krieges liegt bei unseren Schiffen. Darum folge meinem Rat! Tust du es nicht, dann werden wir unsere Hausgenossen ohne Zögern an Bord nehmen und nach Siris in Italien fahren. Die Stadt gehört uns seit alter Zeit und muß, wie Orakelsprüche verkünden, von uns besiedelt werden. Wenn ihr aber solche Bundesgenossen verliert, dann werdet ihr noch an mein Wort denken!« Nach diesen Worten des Themistokles ließ sich Eurybiades eines besseren belehren, besonders deshalb, glaube ich, weil er den Abzug der Athener fürchtete, wenn er mit der Flotte zum Isthmos fuhr. Wenn die Athener fortsegelten, waren die übrigen dem Feinde nicht mehr gewachsen. Kurzum, Eurybiades schloß sich der Meinung an, dort zu bleiben und die Seeschlacht zu wagen. Nach solchen Wortgefechten bei Salamis rüstete man nach der Entscheidung des Eurybiades zur Seeschlacht an diesem Platze. Es wurde Tag, und bei Sonnenaufgang entstand ein Erd- und Seebeben. So beschloß man, zu den Göttern zu beten und die Aiakiden als Helfer herbeizurufen. Sie führten ihren Beschluß aus. Nachdem sie zu allen Göttern gefleht hatten, riefen sie an Ort und Stelle von Salamis Aias und Telamon herbei. Um Aiakos aber und die anderen Aiakiden herbeizuholen, sandten sie ein Schiff nach Aigina ab. 384
Dikaios, der Sohn des Theokydes, ein Verbannter aus Athen, der bei den Persern zu der Zeit, als Attika vom Landheer des Xerxes verwüstet und von den Athenern aufgegeben worden war, in hohem Ansehen stand, hat erzählt, daß er damals — er hielt sich gerade mit dem Lakedaimonier Demaratos in der Thriasischen Ebene auf — von Eleusis her eine Staubwolke habe sich erheben sehen wie von einer Heeresmacht von etwa 30 00o Soldaten. Sie hätten sich verwundert gefragt, von wem die Staubwolke verursacht würde. Sogleich hätten sie ein Geschrei gehört; das habe geklungen wie der feierliche Gesang des Iakchos. Demaratos, der von den heiligen Mysterien in Eleusis nichts wußte, habe ihn gefragt, was das für ein Gesang sei. Darauf habe er erwidert: »Demaratos, dem Heer des Königs droht ein furchtbarer Schlag. Da Attika ganz menschenleer ist, muß das offenbar die Stimme einer Gottheit sein, die von Eleusis her den Athenern und ihren Bundesgenossen zu Hilfe kommt. Wenn sie sich nach der Peloponnes wendet, dann ist der König mit seinem Landheer in großer Gefahr; richtet sich die Gottheit aber zu den Schiffen nach Salamis hin, dann wird der König Gefahr laufen, seine Flotte zu verlieren. Die Athener feiern dieses Fest jedes Jahr zu Ehren der Mutter und Tochter, und jeder von ihnen und den anderen Griechen kann sich nach Wunsch in die heiligen Geheimnisse einweihen lassen. Den Gesang, den du hier hörst, lassen sie bei diesem Fest erschallen.« Darauf soll Demaratos gesagt haben: »Schweig und erzähle diese Geschichte niemandem! Denn gelangen deine Worte zu den Ohren des Königs, ist dein Kopf verloren, und kein Mensch auf der Welt, auch ich nicht, kann dich retten. Sei still! Dieses Heeres aber werden die Götter sich annehmen.« Als Demaratos ihn so gewarnt hatte, habe sich der Staub und der Lärm in eine Wolke verwandelt, die aufwärts stieg und nach Salamis zum Lager der Griechen zog. Daraus hätten sie ersehen, daß die Flotte des Xerxes dem Untergang geweiht sei. So erzählte Dikaios, der Sohn des Theokydes, und berief sich auf Demaratos und andere Zeugen. Als die Flottenmannschaft des Xerxes die Verluste der Lakonier betrachtet hatte und von Trachis nach Histiaia hinübergegangen war, wartete sie dort drei Tage. Dann fuhr man durch den Euripos und gelangte in weiteren drei Tagen nach Phaleron. Ich glaube, die persische Kriegsmacht war bei ihrem Einfall in Attika zu Wasser und zu Lande ebenso stark wie damals, als sie nach Sepias und Thermopylai kam. Denn für die, welche durch den Sturm und in den Schlachten bei Thermopylai und Artemision ihr Leben verloren hatten, rechne ich die, welche damals noch nicht mit dem König zogen: 385
die Malier, Dorer, Lokrer und Boioter, die mit ihrer ganzen Heeresmacht mitzogen, außer den Thespiern und Plataiern, dann noch die Karystier, Andrier, Tenier und alles übrige Volk der Inseln ohne die fünf Städte, die ich vorher erwähnt habe. Denn je weiter der Perser ins Landesinnere Griechenlands vordrang, desto mehr Völker schlossen sich ihm an. Als nun diese alle ohne die Parier bei Athen ankamen — die Parier waren in Kythnos geblieben und warteten ab, welchen Ausgang der Krieg nehmen würde—, die übrigen sich aber im Phaleron eingefunden hatten, ging Xerxes selbst hinab zu den Schiffen, um mit ihnen zusammenzutreffen und die Meinungen der Seeleute einzuholen. Als er dort eingetroffen war und den Vorsitz übernommen hatte, erschienen bald die berufenen Fürsten der verschiedenen Völker und die Admirale von den Schiffen und setzten sich in der Reihenfolge, wie ihnen der König die Ehrensitze angewiesen hatte. Als erster saß der König von Sidon, dann der König von Tyros und darauf die übrigen. Als sie so der Reihe nach Platz genommen hatten, schickte der König Mardonios herum und ließ alle der Reihe nach fragen, ob er eine Seeschlacht liefern solle; er wollte sie damit auf die Probe stellen. Als Mardonios, beim König der Sidonier angefangen, die Reihe durchging, waren die übrigen alle einstimmig der Meinung, man solle sich zur Schlacht stellen. Artemisia aber sprach: »Mardonios, teile dem König meine Meinung mit! Ich habe mich in den Gefechten bei Euboia nicht am schlechtesten gehalten und gewiß nicht am wenigsten geleistet. Deshalb darf ich wohl mit Recht, Herr, meine Meinung freimütig über das äußern, was meiner Ansicht nach deiner Macht am nützlichsten ist. So sage ich dir: Schone deine Flotte und vermeide eine Seeschlacht! Diese Kämpfer sind deinen Völkern zur See so überlegen wie Männer den Frauen. Warum willst du dich denn durchaus durch Seeschlachten gefährden? Hältst du nicht Athen in deiner Hand, dessentwegen du den Feldzug unternommen hast? Besitzest du nicht auch das übrige Griechenland? Kein Mensch wagt dir entgegenzutreten. Die es getan haben, sind so davongekommen, wie sie es verdient haben. Ich will dir nach meiner Ansicht den Verlauf des feindlichen Unternehmens sagen. Bestehst du nicht auf einer Seeschlacht, sondern hältst die Schiffe hier vor Anker und bleibst auf dem Lande oder rückst nach der Peloponnes vor, so wird sich dir, Herr, alles leicht nach der Absicht gestalten, mit der du gekommen bist; denn lange Zeit können die Griechen nicht Widerstand leisten. Du wirst sie zerstreuen. Jeder wird dann in seine Hei386
mat flüchten; denn sie haben dort auf der Insel keine Lebensmittel bei sich, wie ich bestimmt weiß. Es ist auch nicht anzunehmen, daß die Leute, die von dort hierhergekommen sind, ruhig bleiben, wenn du mit deiner Landmacht gegen die Peloponnes ziehst. Es wird ihnen dann wenig daran liegen, für die Athener in einer Seeschlacht zu kämpfen. Wenn du aber sofort auf einen Kampf zur See drängst, fürchte ich, daß der Verlust deiner Seemacht das Landheer mit ins
Verderben zieht. Dazu, König, bedenke auch noch folgendes: tüchtige Menschen haben gewöhnlich schlechte Diener, umgekehrt schlechte Menschen brauchbare Knechte. Du bist zwar der beste aller Menschen, hast aber schlechte Diener, die zwar dem Worte nach deine Bundesgenossen heißen, Ägypter, Kyprer, Kiliker und Pamphylier, die aber überhaupt keinerlei Nutzen bedeuten.« Als Artemisia so zu Mardonios sprach, waren alle, die es mit ihr gut meinten, sehr bekümmert über diese Worte, als ob ihr der König etwas Böses antun könnte, weil sie von einer Seeschlacht abriet. Ihre Feinde aber, die ihr übel wollten und sie beneideten, weil der König sie vor allen Bundesgenossen unter den ersten hoch ehrte, hatten ihre Freude an dieser Antwort, als wäre sie ihr Verderben. Als aber die Meinungen Xerxes überbracht wurden, freute er sich über die Ansicht der Artemisia sehr. Schon von ihrer früheren tapferen Haltung überzeugt, lobte er sie jetzt noch viel mehr. Dennoch befahl er, dem Rat der Mehrheit zu folgen; er überlegte dabei folgendes: Die Flotte habe sich bei Euboia feige gezeigt, weil er nicht teilgenommen hatte; jetzt aber hatte er sich entschlossen, persönlich der Seeschlacht zuzusehen. Als der Befehl zur Ausfahrt gegeben war, stachen sie in Richtung Salamis in See und stellten sich in aller Ruhe nebeneinander zum Gefecht auf. Nun reichte ihnen der Tag aber nicht mehr für eine Schlacht; denn über den Zurüstungen war die Nacht hereingebrochen; so bereiteten sie sich denn auf den folgenden Tag vor. Die Griechen aber waren in Furcht und Angst, besonders die Soldaten aus der Peloponnes. Sie fürchteten, sie müßten hier bei Salamis festsitzen und sich für attisches Land zur See schlagen. Wenn sie aber die Schlacht verlören, würden sie abgeschnitten und auf der Insel belagert werden, und ihre Heimat sei dann ohne Schutz. Die Landmacht der Barbaren brach in der gleichen Nacht nach der Peloponnes auf, obgleich alle nur möglichen Anstalten getroffen waren, daß die Barbaren auf dem Landweg nicht eindringen konnten. Denn sobald die Peloponnesier erfahren hatten, daß Leonidas mit seinen Leuten bei Thermopylai gefallen sei, liefen sie aus den Städten 387
zusammen und lagerten sich auf dem Isthmos. Ihr Oberbefehlshaber war Kleombrotos, der Sohn des Anaxandridas und Bruder des Leonidas. Als sie sich auf dem Isthmos festgesetzt und den skironischen Weg durch eine Schutthalde gesperrt hatten, bauten sie danach eine Mauer quer über den Isthmos, weil es ihnen nach gemeinsamer Beratung so richtig schien. Da viele Zehntausende zur Stelle waren und jeder Hand an die Arbeit legte, ging es mit der Befestigung sehr schnell. Steine, Ziegel, Holz und Körbe mit Sand wurden herbeigeschleppt; die zur Hilfe herangeeilt waren, rasteten keinen Augenblick in ihrer Arbeit, weder bei Tag noch bei Nacht. Unter den Griechen aber, die mit der gesamten Heeresmacht zur Verteidigung des Isthmos zu Hilfe ausgerückt waren, befanden sich folgende Stämme: Die Lakedaimonier und alles Volk der Arkader, Eleier, Korinther, Sikyonier, Epidaurier, Phliasier, Troizener und die Hermionen. Das waren die Städte, die in großer Sorge um das bedrängte Griechenland zur Waffenhilfe geeilt waren. Die übrigen Peloponnesier kümmerte es nicht. Olympien und Karneien waren bereits vorüber. In der Peloponnes wohnen sieben Stämme; davon sind zwei eingeborene. Sie sitzen noch an der gleichen Stelle im Lande, wo sie vor Zeiten wohnten, die Arkader und die Kynurier. Ein Stamm, die Achaier, ist zwar nicht von der Peloponnes ausgewandert, jedoch aus seiner ursprünglichen Heimat, und bewohnt jetzt fremdes Land. Die übrigen vier von den sieben Stämmen sind zugewandert: die Dorer, die Aitoler, die Dryoper und die Lemnier. Die Dorer besitzen viele bedeutende Städte, die Aitoler nur eine einzige, nämlich Elis; den Dryopern gehören Hermion und Asine nahe der lakonischen Stadt Kardamyle; alle Paroreaten sind Lemnier. Die eingeborenen Kynurier scheinen die einzigen Ionier zu sein, sind aber mit der Zeit ganz Dorer geworden, weil sie unter der Herrschaft der Argeier standen. Sie sind Orneaten wie ihre Nachbarn. Von diesen sieben Stämmen nun hielten sich alle übrigen Städte ohne die genannten von der gemeinsamen Sache fern. Wenn ich es frei heraussagen darf, sie hielten sich abseits, weil sie persisch gesinnt waren. Das Heer am Isthmos war so eifrig bei der Arbeit, weil das Ganze allein davon abhing; denn auf einen glücklichen Ausgang zur See hegten sie wenig Hoffnung. Zwar hörten die Mannschaften bei Salamis davon, aber sie gerieten dennoch in große Angst, nicht so sehr für sich als für die Peloponnes. Eine Zeitlang besprach sich der eine im geheimen mit dem anderen neben ihm. Man wunderte sich über die Verblendung des Eurybiades. Endlich aber kam der Unwille of388
fen zum Ausbruch. Eine Versammlung wurde einberufen und viele Reden über dasselbe Anliegen gehalten. Die einen sagten, man müsse nach der Peloponnes absegeln und den Kampf um sie wagen, nicht aber bleiben und zum Schutze eines bereits unterworfenen Landes kämpfen. Die Athener, die Aigineten und die Megarer meinten dagegen, man solle hier bleiben und den Feind abwehren. Als Themistokles von den Peloponnesiern überstimmt wurde, ging er heimlich aus der Versammlung und schickte einen Mann in einem Boot mit einem bestimmten Auftrag ins persische Lager. Dieser Mann hieß Sikinnos, gehörte zum Gesinde des Themistokles und
war Erzieher seiner Kinder. Themistokles machte ihn später zu einem Thespier, als die Thespier ihre Bürgerschaft vergrößerten, und zu einem reichen Mann. Er erschien damals mit seinem Boot bei den Führern der Barbaren und richtete folgenden Auftrag aus: »Mich sendet der Feldherr der Athener ohne Wissen der anderen Griechen zu euch; denn er steht auf des Königs Seite und wünscht eher euch den Sieg als den Griechen. Er läßt euch sagen, daß die Griechen voll Angst an Flucht denken. Ihr könntet jetzt den größten Erfolg erringen, wenn ihr sie nicht auseinanderlaufen laßt. Untereinander sind sie uneins und werden euch keinen Widerstand mehr leisten. Ihr werdet vielmehr sehen, daß eure Freunde und Feinde zur See miteinander im Kampf liegen. « Danach entfernte er sich sofort wieder. Die Feinde glaubten die Botschaft; sie landeten zuerst mit einer starken persischen Truppe auf der kleinen Insel Psyttaleia zwischen Salamis und dem Festland. Um Mitternacht stachen die Schiffe des westlichen Flügels gegen Salamis in See, um die Griechen einzuschließen; auch die Schiffe um Keos und Kynosura fuhren los und erfüllten die ganze Meerenge bis Munichia mit ihren Einheiten. Der Grund für ihre Ausfahrt war, die Flucht der Griechen zu verhindern ; vielmehr wollten sie diese auf Salamis abschneiden und für die Kämpfe bei Artemision büßen lassen. Sie ließen deswegen eine Gruppe Perser auf der kleinen Insel Psyttaleia landen, damit diese, wenn während der Schlacht vor allem Menschen und Schiffsteile dort antrieben, den einen Teil retteten, den andern aber vernichteten. Die Insel liegt nämlich in der Seestraße, in der die Schlacht geschlagen werden sollte. Diese Vorkehrungen trafen sie in aller Stille, damit die Feinde nichts merkten. Sie trafen diese Vorbereitungen nachts, ohne sich durch Schlaf hinreichend gestärkt zu haben. Den Göttersprüchen kann ich den Wahrheitsgehalt nicht absprechen. Ich will nicht erst versuchen, sie umzustoßen, da sie ganz unzweideutig sind. Dabei denke ich z. B. an folgenden Spruch: 389
»Haben sie erst der goldgewappneten Artemis Küste Mit den Schiffen bebrückt und mitten im Meer Kynosura, Rasender Hoffnung voll, weil Athen, das reiche, zerstört ist: Dann trifft göttliche Strafe den Sprossen des Hochmuts, den Jüngling, Der da gewaltig dahinstürmt, voll Hoffnung, das All zu gewinnen! Erz nämlich schlägt dann auf Erz, und purpurn rötet die Meerf lut Ares mit Blut. Dann bringt den Tag der Freiheit für Hellas Zeus, der weitschauende, her und die Herrin, die Göttin des Sieges. « Auf solches hin und wenn Bakis so deutliche Worte verkündet, wage ich nicht, über den Widerspruch mancher Weissagung zu reden, und kann es auch von anderen nicht ertragen. Die Feldherrn aber auf Salamis führten heftige Wortwechsel. Sie wußten noch nicht, daß sie ringsum mit Schiffen von den Barbaren eingeschlossen waren, sondern glaubten, der Feind stehe noch an der Stelle, wo sie ihn bei Tage hatten liegen sehen. Während die Feldherrn noch zusammen weilten, kam Aristeides aus Aigina herüber, der Sohn des Lysimachos, ein Athener, abervom Volk durch das Scherbengericht verbannt. Da ich seinen Charakter genau kenne, halte ich ihn für den besten und gerechtesten Mann in Athen. Der trat draußen vor den Versammlungsraum und ließ Themistokles herausrufen, obwohl er nicht sein Freund, sondern sogar sein ärgster Gegner war.Aber wegen der Größe des jetzigen Unglücks vergaß er das alles und ließ ihn holen, weil er ihm etwas mitteilen wollte. Er hatte nämlich schon vorher gehört, daß die Verbündeten aus der Peloponnes mit aller Gewalt die Schiffe nach dem Isthmos leiten wollten. Als Themistokles zu ihm heraustrat, sprach Aristeides: »Wir wollen gegeneinander zu jeder anderen Zeit und besonders jetzt darüber streiten, wer von uns beiden dem Vaterland größere Dienste erweist. Ich sage dir nur, es ist gleichgültig, ob man im Interesse der Peloponnesier über ihre Abfahrt von hier viel oder wenig rede. Denn ich sage dir und habe es mit eigenen Augen gesehen: Sie können nicht mehr fort, auch wenn es die Korinther und selbst Eurybiades noch so gern wollten. Wir sind rings von Feinden eingeschlossen. Geh hinein und sage das der Versammlung!« Themistokles aber antwortete mit folgenden Worten: »Dein Rat ist vortrefflich und deine Nachricht gut. Was ich als geschehen 390
wünschte, dafür kommst du als Augenzeuge. Wisse: Auf meine Veranlassung haben die Perser das getan. Weil die Griechen sich nicht gutwillig zur Schlacht stellen wollten, mußten sie mit Gewalt zu unserer Meinung gebracht werden. Du aber sollst ihnen die gute Botschaft, weil du sie bringst, selbst berichten. Denn wenn ich es ihnen mitteile, dann werde ich den Anschein erwecken, als rede ich aus eigener Erfindung; ich werde sie nicht überzeugen, da ja die Barbaren ihrer Meinung nach solche Pläne nicht haben. Gehe du also hinein und melde ihnen, wie es steht. Und wenn du es getan hast und sie dir glauben, dann ist alles gut. Halten sie es aber für unwahr, dann soll es uns gleich sein; denn wenn wir wirklich von allen Seiten, wie du sagst, eingeschlossen sind, werden sie nicht mehr auseinanderlaufen können.« Aristeides ging also hinein und teilte ihnen mit, er komme von Aigina und habe nur zur Not unbemerkt durch die Wachtschiffe durchdringen können; denn das ganze griechische Heer sei von den Schiffen des Xerxes eingeschlossen. Er riet ihnen, sie sollten sich zur Gegenwehr bereithalten. Darauf war er wieder hinausgegangen. Drinnen aber begann der Streit von neuem; denn die meisten Feldherrn glaubten der Meldung des Aristeides nicht. Während sie noch zweifelten, traf ein Dreiruderer mit Männern aus Tenos ein, der zu ihnen überging. Kommandant des Schiffes war Panaitios, der Sohn des Sosimenes. Dieses Schiff brachte die Bestätigung. Wegen dieser Tat steht der Name der Tenier auch auf dem Dreifuß zu Delphi eingemeißelt unter denen, die den Feind geschlagen haben. Mit diesem Schiff nun, das bei Salamis überging, und mit dem aus Lemnos, das vorher bei Artemision dazustieß, erreichte die Flotte bei den Griechen die Zahl von 38o Schiffen. Damals fehlten zwei zu dieser Zahl. Den Teniern glaubten die Griechen nun und rüsteten zum Kampf zur See. Als es Tag wurde, riefen sie die Schiffsmannschaften zusammen. Da verkündete vor ihnen Themistokles vor allem das, was gut stand; seine Worte aber waren so, daß sie das Bessere dem Schlechteren gegenüberstellten in allem, was bei der jeweiligen Natur und Lage des Menschen geschieht; er ermahnte dazu, das Bessere zu wählen. Am Ende seiner Rede befahl er, an Bord zu gehen, und sie taten es. In diesem Augenblick erschien gerade das Schiff von Aigina, das nach den Aiakiden ausgeschickt war. Da lichteten die Griechen auf allen Schiffen die Anker. Als sie in See stachen, stürzten sich die Feinde sogleich auf sie. Die übrigen Schiffe der Griechen wollten schon rückwärts rudern und an 391
Land gehen. Der Athener Ameinias von Pallene aber ist zu weit vorausgefahren und stößt mit einem Feindschiff zusammen. Da die beiden Fahrzeuge fest ineinander saßen und sich nicht mehr lösen konnten, eilten die übrigen dem Ameinias zu Hilfe, und der Kampf begann. So nahm nach athenischer Darstellung die Schlacht ihren Anfang; die Aigineten aber berichten, das Schiff, das man nach den Aiakiden geschickt, habe den Anfang gemacht. Es wird aber auch erzählt, man habe die Erscheinung einer Frau gesehen, die sie mit lauter Stimme ermahnt habe, so daß das ganze Griechenheer es hören konnte; vorher aber habe sie sie gescholten: »Ihr Toren, wie weit wollt ihr denn noch rückwärts fahren?« Die Phoiniker standen den Athenern gegenüber; denn sie hielten den westlichen Flügel nach Eleusis hin. Den Lakedaimoniern gegenüber standen die Zonier auf dem östlichen Flügel in Richtung des Piräus. Nur wenige von ihnen kämpften nach den Anweisungen des Themistokles vorsätzlich ohne Eifer, die meisten aber nicht. Ich könnte die Namen vieler Schiffskommandanten erwähnen, die griechische Schiffe kaperten, will es aber nicht. Nur Theomestor, den Sohn des Androdamas, und Phylakos, den Sohn des Histiaios, beide aus Samos, muß ich allein hervorheben aus folgenden Gründen: Theomestor wurde dieser Heldentat wegen zum Tyrannen von Samos ernannt, wozu ihn die Perser einsetzten. Phylakos aber stand unter den königlichen Wohltätern verzeichnet und wurde mit vielen Ländereien beschenkt. Diese königlichen Wohltäter heißen auf persisch Orosangen, Soviel von ihnen! Die meisten feindlichen Schiffe wurden bei Salamis versenkt, teils von den Athenern, teils von den Aigineten. Weil die Griechen in guter Ordnung und in geschlossener Front kämpften, die Feinde aber ihre Ordnung nicht mehr fanden und alles verkehrt anfingen, mußte es eben so kommen, wie es geschah. Dabei wuchsen die Barbaren an diesem Tage über sich hinaus und zeigten sich viel tapferer als bei Euboia. Jeder tat schon aus Furcht vor Xerxes sein Bestes; denn jeder glaubte, der König schaue gerade auf ihn. Von den übrigen kann ich nicht mit Sicherheit angeben, wie sie sich einzeln in der Schlacht gehalten haben. Ich weiß es weder von den Barbaren noch von den Griechen. Mit Artemisia aber trug sich folgendes zu, wodurch sie noch größeres Ansehen beim König gewann. Als die Lage auf seiten des Königs in arge Verwirrung zu geraten begann, wurde das Schiff der Artemisia gerade in diesem Zeitpunkt von einem attischen verfolgt. Es konnte nicht entweichen; denn vor ihm waren andere befreundete Schiffe, und ihr eigenes 392
Fahrzeug stand den Feinden am nächsten. Da entschloß sie sich zu einer Tat, die ihr auch glückte. Vom attischen Schiff verfolgt, fuhr sie mitten in ein barbarisches hinein. Es war ein Schiff aus Kalynda, auf dem sich Damasithymos, der König der Kalynder, befand. Mochte sie auch mit diesem König noch am Hellespont einen Streit gehabt haben, ich kann nicht entscheiden, ob sie diesen Zusammenprall mit Absicht herbeigeführt hat oder ob das kalyndische Schiff nur zufällig ihren Kurs kreuzte. Jedenfalls fuhr sie auf das Schiff auf und brachte es zum Sinken. Durch diesen Glücksfall errang sie einen doppelten Vorteil. Als nämlich der Hauptmann des attischen Schiffes sah, daß sie ein Barbarenschiff angriff, glaubte er, das Schiff der Artemisia sei ein griechisches, oder es gehe von den Feinden zu den Griechen über und helfe ihnen; darum wendete er ab und fuhr gegen andere Schiffe. So gelang es Artemisia, zu entfliehen und ihr Leben zu retten; dazu hatte sie das Glück, daß sie bei Xerxes trotz des angerichteten Schadens große Anerkennung erntete. Man erzählt sich: Xerxes schaute zu und beobachtete den Angriff des Schiffes, und einer der Anwesenden habe gesagt: »Herr, siehst du, wie tapfer Artemisia kämpft und ein feindliches Schiff versenkt hat?« Xerxes fragte, ob das wirklich Artemisias Werk sei; und man antwortete ihm, ohne Zweifel sei sie es gewesen; man habe nämlich genau ihr Schiffszeichen erkannt. Das zerstörte Schiff aber hatten sie für ein feindliches gehalten. Dazu erfuhr Artemisia noch das besondere Glück, daß keiner von dem kalyndischen Schiff mit dem Leben davonkam, um sie zu verklagen. Xerxes aber soll. auf die Beobachtung hin geäußert haben: »Die Männer sind mir zu Weibern geworden, die Weiber aber zu Männern.« Das sagte Xerxes, wie man erzählt. In diesem Kampf fiel der Feldherr Ariabignes, der Sohn des Dareios und ein Bruder des Xerxes. Mit ihm aber fanden noch viele andere bekannte Männer der Perser, der Meder und der anderen Bundesgenossen den Tod; auch von den Griechen kamen einige wenige ums Leben. Weil sie schwimmen konnten, retteten sie sich hinüber nach Salamis, wenn ihr Schiff unterging, soweit sie nicht im Handgemenge umkamen. Sehr viel Feinde aber fanden im Wasser den Tod, weil sie nicht schwimmen konnten. Als sich aber die ersten Schiffe zur Flucht wandten, wurden die meisten zerstört; denn die, welche dahinter standen, gerieten bei dem Versuch, mit ihren Schiffen nach vorn vorbeizufahren, um vor den Augen des Königs gleichfalls eine Heldentat zu vollbringen, mit ihren eigenen flüchtenden Schiffen zusammen. 393
In diesem Durcheinander geschah auch noch folgendes: Einige Phoiniker, die ihre Schiffe verloren hatten, traten vor den König und verleumdeten die Ionier, sie seien Verräter, und durch ihre Schuld hätten sie ihre Schiffe eingebüßt. Nun wurden die ionischen Feldherrn zwar nicht mit dem Tode bestraft; die Angeber der Phoiniker aber erhielten ihren Lohn auf folgende Weise: Noch während sie sprachen, stieß ein Schiff aus Samothrake auf ein attisches. Das attische Schiff sank. Da ruderte ein Schiff aus Aigina heran und versenkte das Schiff der Samothraker. Da diese aber gute Speerschützen sind, zielten sie auf die Besatzung des Schiffes, das ihr Schiff versenkt hatte, schossen sie ab, enterten selbst und besetzten es. Das rettete die Ionier. Als Xerxes die Heldentat sah, wandte er sich zu den Phoinikern; denn er war sehr traurig und maß ihnen allen die Schuld zu. Deshalb ließ er ihnen die Köpfe abschneiden, damit sie, selbst Feiglinge, nicht die Tapferen verleumdeten. Immer nämlich, wenn Xerxes beobachtete, wie einer seiner Leute eine Heldentat in der Seeschlacht vollbrachte — er saß am Fuße des Berges Aigaleos, Salamis gegenüber—, erkundigte er sich nach dem wackeren Manne, und seine Schreiber notierten den Kommandanten der Triere mit dem Namen seines Vaters und seiner Heimat. Zu dem Mißgeschick der Phoiniker trug auch die Anwesenheit des Persers Ariaramnes bei, der ein Freund der Ionier war und das Unglück miterlebte. Sie also wandten sich gegen die Phoiniker. Als die Feinde zu fliehen begannen und nach dem Phaleron zu entkommen suchten, verrichteten die Aigineten, die sich in der Meerenge auf die Lauer gelegt hatten, bedeutsame Taten. Die Athener zerstörten in dem Durcheinander alle Schiffe, die sich zur Wehr setzten und fliehen wollten: die Aigineten aber fingen die ab, die davonsegelten. Was den Athenern entwischte, fiel auf der Fahrt den Aigineten in die Hände. Hier stieß das Schiff des Themistokles bei der Verfolgung auf das des Aigineten Polykritos, des Sohnes des Krios. Letzteres griff gerade ein sidonisches Schiff an, das bei Skiathos das Wachtschiff der Aigineten gekapert hatte, auf dem Pytheas, der Sohn des Ischenoos, an Bord war. Die Perser hatten ihn trotz seiner schweren Verwundung aus Bewunderung für seine Tapferkeit auf dem Schiff am Leben erhalten. Dieses sidonische Schiff, auf dem sich Pytheas befand, wurde samt den Persern genommen, so daß Pytheas glücklich nach Aigina zurückkehren konnte. Als aber Polykritos das attische Schiff erblickte, erkannte er sofort an den Zeichen, daß es sich um das Feldherrnschiff handelte. Er rief also Themistokles laut an und verspottete ihn, indem er mit ironischen Worten auf den Vorwurf der 394
persischen Gesinnung der Aigineten hinwies. Das schleuderte Polykritos dem Themistokles beim Angriff auf das Schiff entgegen. Die Barbaren aber, die ihre Schiffe hatten retten können, gelangten auf ihrer Flucht nach Phaleron unter den Schutz des Landheeres. In dieser Seeschlacht erwarben die Aigineten den größten Ruhm unter den Griechen, nach ihnen die Athener. Von der Besatzung aber waren es Polykritos aus Aigina und zwei Athener, Eumenes aus dem Demos Anagyrus und Ameinias aus Pallene, eben der gleiche, der auch Artemisia verfolgt hatte. Hätte er gewußt, daß sich Artemisia auf jenem Schiff befand, hätte er nicht eher geruht, als bis er das Schiff erbeutet hätte oder selbst gefangen worden wäre. Denn die Führer der athenischen Flotte hatten diesen Auftrag erhalten; dazu war ihnen noch eine Belohnung für ihre Gefangennahme in Aussicht gestellt: io 000 Drachmen. Denn die Athener waren empört, daß eine Frau gegen Athen in den Kampf zog. Aber sie entkam, wie ich früher erzählt habe, und auch die anderen, die ihre Schiffe gerettet hatten, fanden sich im Phaleron ein. Adeimantos, der Feldherr der Korinther, so erzählen die Athener, hißte gleich zu Beginn der Schlacht in allzu großer Furcht und vor Entsetzen die Segel und fuhr ab. Als die Korinther das Schiff ihres Admirals fliehen sahen, folgten sie ihm. Am Tempel der Athene Skiras auf Salamis begegneten sie auf ihrer Flucht einem gottgesandten Schnellsegler. Niemand sei zu sehen gewesen, der ihn geschickt hatte; er fuhr auf die Korinther zu, die nichts vom Schicksal des Heeres wußten. Deshalb meinen die Athener, die Götter hätten dabei die Hand im Spiel. Als sie den Schiffen nahe gekommen war, rief die Besatzung des Schnellseglers: »Adeimantos, du wendetest deine Schiffe zur Flucht und wurdest damit zum Verräter an den Griechen. Und doch bleiben diese Sieger über die Feinde, wie sie es erfleht haben.« Adeimantos wollte diesen Worten keinen Glauben schenken. Da sagten sie weiter, sie seien bereit, als Geiseln mit ihm zu gehen und sogar den Tod zu erleiden, wenn die Griechen nicht einen klaren Sieg gewännen. Da machte er kehrt. Er selbst und die übrigen gesellten sich zum Heer, als die Schlacht schon vorüber war. So erzählen die Athener von ihnen, die Korinther aber widersprechen und glauben, sie hätten in der Seeschlacht an erster Stelle mitgekämpft; auch die übrigen Griechen bestätigten es. Der Athener Aristeides aber, der Sohn des Lysimachos, den ich kurz vorher als einen sehr tapferen Mann erwähnt habe, hat während des Getümmels bei Salamis folgendes getan: Er sammelte eine Schar von Schwerbewaffneten um sich, die entlang am Strand von Salamis 395
standen. Es waren Athener; mit ihnen setzte er auf die Insel Psyttaleia über und ließ sie aussteigen. Dort erschlugen sie alle Perser, die sich auf der kleinen Insel aufhielten. Nach dem Ende der Seeschlacht bargen die Griechen alles nach Salamis, was sie dort an Trümmern fanden, und machten sich zu einer zweiten Seeschlacht bereit; denn sie meinten, der König würde es mit den restlichen Schiffen noch einmal versuchen. Der Westwind aber faßte einen großen Teil der Trümmer und trieb sie an den Teil der Küste von Attika, der Kolias heißt, so daß sich nicht nur die ganze übrige Weissagung des Bakis und Musaios über die Seeschlacht erfüllten, sondern auch die über die dort angetriebenen Schiffstrümmer, die der athenische Wahrsager Lysistratos viele Jahre vorher gab und die alle Griechen bisher nicht verstanden hatten; sie lautet: »Frauen von Kolias werden die Gerste mit Rudern sich rösten.« Dazu aber sollte es erst nach dem Abzug des Königs kommen. Als aber Xerxes das ganze Unglück erkannte, fürchtete er, ein Ionier könnte den Griechen den Rat geben oder sie könnten selbst auf den Gedanken kommen, nach dem Hellespont zu segeln, um die Brücken abzubrechen; er könnte dann Gefahr laufen, in Europa abgeschnitten, den Tod zu finden. Daher sann er auf Rückzug. Um es aber weder die Griechen noch seine eigenen Leute merken zu lassen, versuchte er, einen Damm nach Salamis hinüber aufzuschütten. Er ließ zunächst phoinikische Handelsschiffe aneinanderbinden, die als Notbrücke und Mauer dienen sollten, und rüstete zum Kampf, als wollte er eine zweite Seeschlacht liefern. Als alle übrigen sein Tun bemerkten, waren sie davon überzeugt, daß er sich ernsthaft zum Bleiben und zu einem neuen Kampf rüste. Nur dem Mardonios entging sein Plan nicht; er kannte seine Art zu genau. Währenddessen schickte Xerxes auch einen Boten mit der Nachricht der Niederlage nach Persien. Es gibt nichts Schnelleres auf der Welt als diese persischen Boten. Sie sind eine Erfindung der Perser. Sie sagen, soviele Tagereisen der ganze Weg beträgt, soviele Pferde und Männer sind verteilt bereitgestellt; auf jede Tagesstrecke rechnet man immer einen Reiter und ein Pferd. Weder Schnee noch Regen noch Hitze noch Nacht hält sie ab, die vorgeschriebene Entfernung so schnell wie möglich zurückzulegen. Der erste Eilbote übergibt den Auftrag dem zweiten, der dem dritten. So geht es weiter, immer von einem zum andern, wie bei den Griechen der Fackellauf am Fest des Hephaistos. Diese Reiterpost nennen die Perser Angareion. 396
Die erste in Sus a eintreffende Nachricht, Xerxes habe Athen genommen, versetzte die daheimgebliebenen Perser in solche Freude, daß sie alle Wege mit Myrthen bestreuten, Räucherwerk anzündeten und selbst herrlich und in Freuden lebten. Die zweite Nachricht aber, die sie erhielten, bewegte sie so sehr, daß sie alle ihre Kleider zerrissen und ein entsetzliches Heulen und Wehklagen erhoben, indem sie die ganze Schuld auf Mardonios schoben. Die Perser taten es weniger aus Kummer um die Schiffe als vielmehr aus Sorge um Xerxes' eigene Person.
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Die Schlangensäule in Istambul
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Thukydides Thukydides wurde bald nach 46o v.Chr. in Athen geboren. Durch seinen Vater Oloros stammte er von dem gleichen thrakischen Königsgeschlecht ab, dem auch die Frau des Miltiades angehört hatte. Auch durch seine eigene Frau hatte Thukydides in Skapte Hyle in Thrakien Besitzungen. — Als junger Mann faßte er gleich nach dem Ausbruch des fast 3ojährigen Peloponnesischen Kriegs (431-404) den Entschluß, diesen Krieg zwischen Athen und Sparta zu beschreiben, dessen unheilvolle Bedeutung für ganz Griechenland er bald klar erkannte. — Da er im Jahre 424, als Stratege nach Amphipolis entsandt, diese wichtige Stadt für Athen nicht retten konnte, ging er für 20 Jahre in die Verbannung. Erst nach 404 kehrte er nach Athen zurück, wo er vermutlich bald starb. Obwohl Thukydides den ganzen Krieg erlebt hatte, blieb sein Werk, das erst nach seinem Tod ediert und in acht Bücher gegliedert wurde, doch unvollendet (bis 411). Er ist der erste Grieche, der auch nach modernen Gesichtspunkten den Namen eines Historikers verdient, da er die Ereignisse nicht nur schilderte, sondern auch nach ihren Gründen und Ursachen forschte und dabei Urkunden, selbst solche archäologischer Art, heranzog. In die Darstellung sind Reden eingelegt, die von Thukydides in der Regel frei konzipiert wurden und zwar so, wie sie nach der Meinung des Historikers im gegebenen Augenblick von den betreffenden Personen hätten gehalten werden können oder müssen. Die Sprache ist attisch; der knappe oft abstrahierende Stil wurde später von Sallust und Tacitus nachgeahmt. Wir bringen hier die Athen verklärende Leichenrede des Perikles auf die Gefallenen und stellen ihr die harte Wirklichkeit des Meliergespräches gegenüber; der Schilderung der physischen Erkrankung der Athener durch die Pest entspricht die sogenannte »Pathologie des Krieges«, die den moralischen Niedergang der Menschen im Laufe des Krieges erklärt. Die Vorrede Thukydides aus Athen hat den Krieg zwischen den Peloponnesiern und Athenern beschrieben, wie sie ihn gegeneinander geführt haben ; er hat damit gleich bei seinem Ausbruch begonnen in der Erwartung, er werde bedeutend sein und denkwürdiger als alle vorangegangenen. Er schloß dies daraus, daß beide in jeder Hinsicht auf dem Hö399
hepunkt ihrer Macht in den Krieg traten, und weil er sah, daß sich das übrige Hellas jeweils einem der beiden Gegner anschloß, teils sofort, teils nach einigem Überlegen. Denn dies war die gewaltigste Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja sozusagen für den größten Teil der Menschheit. Was sich nämlich davor und noch früher ereignet hatte, war wegen der Länge der Zeit zwar unmöglich zu erforschen, auf Grund von Anzeichen aber, von deren Richtigkeit ich mich bei der Prüfung eines langen Zeitraumes überzeugen konnte, bin ich der Meinung, daß es nicht bedeutend war, weder in Kriegen noch sonst. Die Leichenrede des Perikles auf die Gefallenen 431/ 30
Im selben Winter begingen die Athener nach Brauch der Vorfahren die öffentliche Leichenfeier für die ersten Gefallenen dieses Krieges auf folgende Weise: Die Gebeine der Verstorbenen stellen sie drei Tage vorher in einem Holzbau aus, und jeder bringt seinem Angehörigen Ehrengaben nach eigenem Ermessen. Dann beim Leichenbegängnis führen sie auf Wagen Zypressenholzsärge hinaus, für jeden Stamm einen; darin liegen die Gebeine der einzelnen Stammesangehörigen. Eine Bahre wird leer mitgetragen, ausgestattet für die Vermißten, die man bei der Bergung der Toten nicht gefunden hatte. Am Zug nimmt jeder, der will, teil, Bürger und Fremde, auch die angehörigen Frauen sind am Grabe anwesend und wehklagen. Dann setzen sie die Toten im öffentlichen Grabmal bei, das in der schönsten Vorstadt liegt — immer begraben sie die Kriegsgefallenen dort, außer denen von Marathon : ihre Tapferkeit zeichneten sie besonders aus und gaben ihnen an Ort und Stelle ein Grab. Wenn sie das Grab mit Erde bedeckt haben, hält ein von der Stadt gewählter, als klug bekannter und hochangesehener Mann die ihnen gebührende Lobrede. Dann gehen sie weg. So begraben sie also ihre Toten ; und während des ganzen Krieges, sooft es vorkam, hielten sie sich an diesen Brauch. Bei dieser ersten Feier wurde nun Perikles, der Sohn des Xanthippos, gewählt zu reden. Zur gegebenen Zeit trat er vom Grab weg auf eine hohe Rednerbühne, errichtet, damit er möglichst weithin von der Menge gehört werden könne, und sprach so: »Die meisten, die vor mir von hier aus gesprochen haben, preisen den, der dem Bestattungsbrauch diese Art der Rede hinzufügte, weil es rühmlich sei, beim Begräbnis der Gefallenen sie zu halten. Mir freilich würde es ausreichend erscheinen, Männern, die durch die Tat ihren Ruhm begründet haben, auch durch die Tat ihre Ehre zu 400
bezeugen, wie ihr es jetzt bei der öffentlichen Totenfeier geschehen seht, und nicht durch eines Mannes gute oder schlechte Rede den Glauben an die Tapferkeit so vieler zu gefährden. Denn schwer ist es, den rechten Ton der Rede zu treffen, wo man kaum für die (vom Redner erkannte) Wahrheit (beim Hörer) festen Glauben erwecken kann. Der wohlwollende Hörer, der die Zusammenhänge kennt, wird sicher die Darstellung als mangelhaft empfinden im Vergleich zu dem, was er will und weiß ; und der unkundige (wird meinen), es sei manches übertrieben — aus Neid, wenn er hört, was über sein Leistungsvermögen geht. Denn nur so weit erträgt man Lob, das andern zuteil wird, wie jeder einzelne sich fähig hält, selbst zu tun, was er gehört hat; was darüber hinausgeht, glaubt man aus Neid schon nicht mehr. Da es aber von den Alten so als richtig gebilligt wurde, muß auch ich dem Brauche folgen und versuchen, euer aller Wunsch und Ansicht zu treffen, soweit ich kann. Ich will zunächst mit den Vorfahren beginnen: recht und geziemend ist es, ihnen bei solchem Anlaß diese Ehre des Gedenkens zu erweisen. Denn unser Land haben sie, immer die gleichen Bewohner in der Aufeinanderfolge der Geschlechter, durch ihre Tüchtigkeit bis auf den heutigen Tag in Freiheit vererbt. So sind sie des Ruhmes wert, noch mehr aber unsere Väter: sie erwarben zu dem Ererbten unser jetziges Reich — nicht ohne Mühe! — und haben es uns Heutigen hinterlassen. Am meisten jedoch haben es wir hier, die jetzt Lebenden, in unserem reifen Mannesalter gemehrt und die Stadt in allem so gerüstet, daß sie im Krieg und im Frieden völlig auf sich selbst stellen kann. Ober die Kriegstaten, durch die unser Besitz Stück um Stück wuchs, wenn etwa wir selbst oder unsere Väter einen Angriff von Barbaren oder Hellenen entschlossen abwehrten, darüber will ich keine großen Worte machen — ihr kennt sie, und ich lasse das beiseite. Von welcher Grundhaltung aus wir dazu kamen, dank welcher Verfassung und durch welche Sinnesart unsere Macht erstand, das will ich zunächst klarlegen, ehe ich zum Preis dieser Toten komme; denn in der gegenwärtigen Stunde, glaube ich, ist es doch sicher nicht unpassend, darüber zu sprechen, und für die ganze Versammlung, Bürger und Fremde, nützlich, davon zu hören. Die Staatsverfassung, die wir haben, richtet sich nicht nach den Gesetzen anderer, viel eher sind wir selbst für manchen ein Vorbild, als daß wir andere nachahmten. Mit Namen heißt sie, weil die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit ausgerich tet ist, Demokratie. Es haben aber nach den Gesetzen in den persönlichen Angelegenheiten alle das gleiche Recht, nach der Würdig401
keit aber genießt jeder— wie er eben auf irgendeinem Gebiet in Ansehen steht — in den Angelegenheiten des Staates weniger auf Grund eines regelmäßigen Wechsels (in der Bekleidung der Ämter), sondern auf Grund seiner Tüchtigkeit den Vorzug. Ebensowenig wird jemand aus Armut, wenn er trotzdem für die Stadt etwas leisten könnte, durch seine unscheinbare Stellung daran gehindert. Frei leben wir als Bürger im Staat und frei vom gegenseitigen Mißtrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen, wenn er sich einmal ein Vergnügen macht, und ohne unseren Unmut zu zeigen, der zwar keine Strafe ist, aber doch durch die Miene kränkt. Wie ungezwungen wir aber auch unsere persönlichen Dinge regeln, so hüten wir uns doch im öffentlichen Leben, allein aus Furcht, vor Rechtsbruch — in Gehorsam gegen Beamte und Gesetze, hier vor allem gegen solche, die zum Nutzen der Unterdrückten erlassen sind, und die ungeschriebenen, deren Übertretung nach allgemeinem Urteil Schande bringt. Außerdem haben wir reichlich für geistige Entspannung nach der Last der Arbeit gesorgt, durch Wettkämpfe und feierliche Opfer, die wir jährlich feiern, durch eine geschmackvolle Ausstattung unserer Häuser, die uns Tag für Tag erfreut und die Sorgen verscheucht. Dank der Größe unserer Stadt strömen aus aller Welt alle Güter bei uns ein — und so haben wir das Glück, ebenso bequem die Erzeugnisse des eigenen Landes zu genießen wie die fremder Völker. Wir unterscheiden uns auch in der Sorge um das Kriegswesen von unseren Feinden: wir gewähren jedem Zutritt zu unserer Stadt, und niemals verwehren wir durch Fremdenaustreibungen jemandem etwas Wissens- oder Sehenswertes, dessen unverhüllte Schau etwa dem Feinde nützen könnte; denn wir bauen weniger auf Rüstung und Überraschung als auf unseren eigenen tatentschlossenen Mut. In der Erziehung streben jene in rastlosem Mühen schon von klein auf nach Mannesmut, wir aber leben gelöst, doch gehen wir nicht minder entschlossen an die gleichen Gefahren heran. Der Beweis: die Spartaner ziehen nicht allein, sondern mit all ihren Verbündeten gegen unser Land, wenn wir aber ins Nachbarland einfallen, so erringen wir ohne Mühe in der Fremde, kämpfend gegen die Verteidiger ihrer Heimat, meist den Sieg. Mit unserer Gesamtmacht ist noch nie ein Feind zusammengestoßen, weil wir gleichzeitig die Flotte versorgen und unsere Leute bei vielen Unternehmungen zu Lande aussenden. Treffen unsere Feinde dann irgendwo auf einen Trupp und besiegen einige wenige von uns, so brüsten sie sich, sie hätten uns alle zurückgeworfen, unterliegen sie, sie seien von unserer Ge402
samtmacht geschlagen worden. Alles in allem: wenn wir eher mit unbeschwertem Sinn als sorgenvoller Mühe und nicht so sehr in gesetzgebotener als wesensentsprungener Tapferkeit bereit zum Wagnis sind, so haben wir davon nur Vorteil: künftige Not macht uns nicht vorher schon Sorge, und ist sie da, zeigen wir uns nicht weniger wagemutig als solche, die sich immer abmühen. Hierin verdient unsere Stadt Bewunderung und noch in anderem. Wir lieben die Kunst mit maßvoller Zucht, wir lieben den Geist ohne schlaffe Trägheit; Reichtum dient uns der rechten Tat, nicht dem prunkenden Wort, und seine Armut einzugestehen ist für niemanden schmählich, ihr nicht zu entrinnen durch eigene Arbeit (gilt als) schmählicher. Mit derselben Sorgfalt widmen wir uns dem Haus- wie dem Staatswesen, und ist auch jeder von uns seinen eigenen Arbeiten zugewandt, so zeigt er doch im staatlichen Leben ein gesundes Urteil. Einzig und allein bei uns heißt doch jemand, der nicht daran teilnimmt, nicht untätig, sondern unnütz; und nur wir entscheiden in Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch, denn nicht schaden nach unserer Meinung Worte den Taten, sondern vielmehr, sich nicht durch das Wort vorher belehren zu lassen, ehe man an die nötige Tat herangeht. Aber auch dadurch zeichnen wir uns aus, daß wir kühnen Mut und kluge Überlegung bei allem, was wir anfassen, in uns vereinen, während die anderen Unkenntnis verwegen, Überlegung bedenklich macht. Die größte Seelenstärke sprechen wir mit Recht denen zu, die das Furchtbare und das Angenehme am klarsten erkennen und gerade deshalb keiner Gefahr ausweichen. Auch in den Fragen des edlen Betragens unterscheiden wir uns von den meisten: nicht indem wir Wohltaten empfangen, sondern leisten, gewinnen wir Freunde; zuverlässiger ist ja der Wohltäter, da er sich den schuldigen Dank des Beschenkten durch Freundschaft erhält, der Schuldner aber ist gleichgültiger, da er weiß, daß er seine Leistung nicht als Dank, sondern als Schuld abstattet. Wir allein sind gewohnt, nicht aus Berechnung des Vorteils, sondern im sicheren Vertrauen auf unsere Freiheit jemandem zu helfen. Zusammenfassend sage ich, daß unsere Stadt im ganzen die Schule von Hellas sei und daß jeder einzelne Bürger, wie ich glaube, bei uns in vielseitigster Weise und in spielerischer Anmut seine eigenpersönliche Art entfalte. Daß dies nicht Prunk mit Worten für den Augenblick ist, sondern Wahrheit der Tatsachen, beweist die Macht der Stadt, die wir dank unserer Eigenschaften errungen haben. Unsere Stadt ist die einzige, die stärker als ihr Ruf in den Entscheidungs403
kampf eintritt, die einzige, die im Feind nicht Unwillen erregt, welche Art von Leuten ihm Leid zufüge, und im Untertan nicht Ärger, er werde von Unwürdigen beherrscht. Mit sichtbaren Zeichen, wahrlich nicht ohne Zeugen, entfalten wir unsere Macht, in Gegenwart und Zukunft uns zum Ruhme: wir brauchen keinen Homer als Künder unserer Taten noch sonst jemanden, der mit schönen Worten für den Augenblick ergötzt— die Wirklichkeit wird ja doch seiner dichterischen Gestaltung den Glanz nehmen —; nein, zu jedem Meer und Land haben wir uns durch unseren Wagemut Zutritt verschafft, überall haben wir mit unseren Siedlungen unvergängliche Denkmäler unseres Glückes oder Unglückes hinterlassen. Für eine solche Stadt, die sie nicht verlieren wollten, sind diese hier in edlem Kampf gefallen, und von den Überlebenden ist wohl keiner, der nicht für sie Mühen ertragen will. Deshalb habe ich so lange über die Stadt gesprochen, um zu beweisen, daß für uns der Kampf etwas ganz anderem gilt als für die, die nichts Ähnliches besitzen, und um zugleich den Ruhm der Männer, denen zu Ehren ich jetzt spreche, durch Beweise deutlich darzustellen. Das Wichtigste davon ist schon gesprochen; denn was ich an der Stadt pries, damit haben diese und solche Helden sie durch ihre hervorragenden Taten geschmückt, und nicht bei vielen Hellenen wird man so wie bei ihnen Wort und Tat im Einklang finden. Ich glaube, den Wert eines Mannes offenbart als erster Hinweis oder letzte Bestätigung ein Ende wie ihres. Denn auch bei denen, die sonst weniger tüchtig waren, muß gerechterweise ihr im Krieg dem Vaterland erwiesener Heldenmut höher gewertet werden; durch Gutes tilgten sie Böses und nützten so dem Gemeinwesen mehr, als sie im Privatleben geschadet haben. Von ihnen hat keiner den weiteren Genuß seines Reichtums vor alles andere gestellt und sich etwa feige benommen, keiner hat in der Hoffnung der Armut, er könnte ihr vielleicht doch einmal entrinnen und zu Reichtum kommen, Aufschub des Furchtbaren gesucht. Die Rache an den Feinden war ihnen begehrenswerter als all dies, und weil sie von allen Gefahren diese als die schönste erachteten, waren sie entschlossen, unter Gefahr sich an ihnen zu rächen, das andere aufzugeben. Der Hoffnung stellten sie das Ungewisse des Erfolgs anheim, für die Tat, bei dem, was bereits klar vor ihnen lag, wollten sie auf sich selbst bauen. Da sie in Kampf und Tod ein rühmlicheres Los sahen als in der Rettung durch Flucht, entflohen sie dem schimpflichen Gerede, standen aber mit ihrem Leibe den Kampf durch und fielen in einem kurzen Augenblick auf dem Höhepunkt mehr des schicksalbestimmten Ruhmes als der Furcht. 404
So wurden sie, wie es sich für diese Stadt gebührt, zu Helden. Die Überlebenden mögen zwar um ein gefahrloseres Geschick beten, müssen aber bereit sein, nicht minder kühnen Sinn gegenüber den Feinden zu beweisen, und dabei nicht nur in Gedanken den Nutzen betrachten — darüber könnte euch, die ihr es ebenso gut wißt, jemand eine wortreiche Rede halten, wie viel Gutes in der Abwehr des Feindes liegt; nein, sie müssen die Macht der Stadt Tag für Tag in der Wirklichkeit betrachten und sie mit heißer Liebe umfassen und, wenn sie euch groß dünkt, daran denken, daß kühne Männer mit Einsicht in das Nötige und voll Ehrgefühl in ihrem Tun das alles errungen haben, Männer, die, sooft sie auch bei einem Unternehmen einen Fehlschlag erlitten, es doch für unwürdig hielten, die Stadt ihres Heldenmutes zu berauben, und das schönste Opfer darbrachten. Für das Gemeinwesen gaben sie ihr Leben hin — jeder für sich gewann unsterbliches Lob und ein weithin berühmtes Grab, nicht das, in dem sie ruhen, sondern daß ihr Ruhm für jede Gelegenheit zu Wort und Tat ewig gewahrt bleibt. Hervorragenden Männern ist die ganze Erde Grab; und nicht nur eine Inschrift auf dem Ehrenmal in der Heimat kündet von ihnen, sondern auch in der Fremde wohnt in jedermann ungeschriebenes Gedenken — mehr ihres Wesens als ihrer Taten. Ihnen eifert jetzt nach, erkennt das wahre Glück in der Freiheit, die Freiheit aber in kühnem Mut und schaut nicht ängstlich auf die Gefahren des Krieges. Nicht wer im Elend lebt und keinen Wandel zum Guten erwarten darf, hat rechten Grund, sein Leben einzusetzen, wohl aber, wem der gegenteilige Umschwung im Leben noch droht und für wen der Unterschied gewaltig ist, falls er einmal stürzt. Denn schmerzlicher ist für einen Mann von Ehrgefühl die Schmach der Feigheit als der im Bewußtsein der Kraft und der gemeinsamen Hoffnung eintretende empfindungslose Tod. Deshalb will ich auch ihre Eltern, so viele von ihnen anwesend sind, nicht beklagen, sondern trösten. In wechselvollen Zeitläuften aufgewachsen, wissen sie, daß Glück nur bedeutet, des ruhmvollsten Todes, wie diese jetzt, oder Leides, wie ihr, teilhaft zu werden, oder daß des Lebens Dauer so zugemessen wurde, darinnen glücklich zu sein und zu sterben. Schwer ist es, ich weiß, euch davon zu überzeugen; noch oft werdet ihr euch an sie erinnern müssen bei anderer Leute Glück, in dem ihr einst selbst erstrahltet; schmerzlich ist es ja nicht, eines Gutes beraubt zu werden, das man nie gekannt hat, wohl aber, eines zu verlieren, woran man gewöhnt war. Standhaft im Leid muß also sein, in der Hoffnung auf neue Kinder, wer noch jung genug ist, Kinder zu zeugen. In manchen Häusern werden die 405
nachwachsenden die nicht mehr lebenden in Vergessenheit sinken lassen, und der Stadt bringt es zweifachen Vorteil: sie wird nicht entvölkert und bleibt gesichert. Es kann nämlich niemand mit gleichem und gerechtem Sinn im Rat sprechen, wer nicht unter Einsatz seiner Kinder wie alle anderen an der Gefahr mitträgt. Und ihr, die ihr über das Mannesalter hinaus seid, haltet für (um so) größeren Gewinn das Leben, das ihr im Glück verbrachtet, im Bewußtsein, daß der Rest kurz sein wird, und richtet euch auf am Ruhm eurer Kinder. Denn das Ehrgefühl allein altert nicht, und im nutzlosen Greisenalter erfreut nicht so sehr der Gewinn, wie manche sagen, sondern die Ehre. Euch Söhnen, die ihr anwesend seid, und Brüdern sehe ich einen harten Wettkampf voraus — denn die Toten pflegt jedermann zu loben —, und nur schwer, bei übermäßiger Leistung, werdet ihr ihnen nicht etwa gleich, aber doch nur wenig geringer geachtet werden. Neid erwächst den Lebenden im gegenseitigen Wetteifer, nur was uns nicht mehr im Wege steht, wird mit unumstrittener Gunst verehrt. Wenn ich noch der weiblichen Tugenden all derer, die jetzt als Witwen leben werden, gedenken soll, so will ich mit einem kurzen Zuspruch alles aufzeigen: hinter der euch angeborenen Natur nicht zurückzubleiben wird euer großer Ruhm sein, und wenn von einer im Guten wie im Schlechten am wenigsten unter Männern geredet wird. So habe auch ich in einer Rede nach dem Brauche gesagt, was ich für angemessen hielt. Durch die Tat wurden die Bestatteten schon jetzt geehrt, andererseits wird die Stadt ihre Söhne auf öffentliche Kosten bis zum Mannesalter aufziehen und so den Toten und den Hinterbliebenen einen wertvollen Kranz für solche Kämpfe aussetzen; denn wo die edelsten Preise den mannhaften Sinn lohnen, in der Stadt leben auch die besten Bürger. Nun beklagt eure Angehörigen und dann geht.. So verlief die Leichenfeier in diesem Winter, und mit seinem Ablauf endete das erste Jahr des Krieges. Die Pest in Athen 430/29
Gleich zu Sommersbeginn fielen die Peloponnesier und ihre Verbündeten mit zwei Dritteln ihres Aufgebotes wie das erste Mal in Attika ein; den Befehl führte Archidamos, Sohn des Zeuxidamos, König von Sparta. Sie bezogen ein Lager und verwüsteten das Land. Als sie erst wenige Tage in Attika standen, brach zum erstenmal in 406
Athen die Seuche aus; sie soll früher schon an vielen Orten, bei Lemnos und in anderen Gegenden, aufgetreten sein, aber nie wurde eine solche Pest, ein solches Massensterben berichtet. Denn auch die Ärzte konnten zunächst nicht helfen, da sie in Unkenntnis (der Krankheitsursachen) behandeln mußten, ja sie selbst starben am meisten, da sie am meisten mit ihr in Berührung kamen; und jede andere menschliche Kunst versagte. Wieviel sie auch in den Tempeln beteten, Orakelsprüche und dergleichen mehr anwendeten — alles war nutzlos; schließlich gaben sie es auf und fügten sich in ihr Unglück. Sie soll ihren Ausgang in Äthiopien oberhalb Ägyptens genommen haben, dann stieg sie nach Ägypten und Libyen hinab und in weite Gebiete des Großkönigs. In Athen fiel sie plötzlich ein, zuerst ergriff sie die Menschen im Piräus, weshalb es auch hieß, die Peloponnesier hätten Gift in die Brunnen geworfen — Quellwasser gab es nämlich dort noch nicht. Später kam sie dann in die obere Stadt, und nun starben noch viel mehr Menschen dahin. Es möge nun jeder, Arzt oder Laie, über sie seine Meinung sagen, woher sie wahrscheinlich ihren Ursprung genommen hat und welche Krankheitskeime die Kraft zu so tiefgreifenden Veränderungen bergen; ich will nur beschreiben, wie sie verlief ; die Merkmale, bei deren Beachtung man die Krankheit bei einem neuerlichen Auftreten sicher erkennen könnte, wenn man schon etwas von ihr weiß, die will ich darstellen, der ich selbst krank war und selbst andere leiden sah. Dieses Jahr war, wie allgemein festgestellt wurde, von anderen Krankheiten ganz besonders verschont. Hatte aber jemand schon vorher eine Krankheit, so ging sie in dieses Leiden über. Die anderen aber befiel ohne irgendeinen Grund, ganz plötzlich bei voller Gesundheit, zuerst starke Hitze im Kopf, Röte und Entzündung der Augen; und innen, Schlund und Zunge, war alles gleich blutigrot, der ausströmende Atem war sonderbar und übelriechend. Dann entwickelte sich daraus Niesen und Heiserkeit, und in kurzer Zeit stieg das Leiden unter starkem Husten in die Brust nieder. Wenn es sich auf den Magen warf, drehte es ihn um, und es kam zu allen möglichen Gallenentleerungen, für die die Ärzte Namen haben, und all das unter großen Schmerzen. Die meisten befiel leeres Würgen, das wiederum einen heftigen Krampf bewirkte, bei den einen nach dem Aufhören dieser Symptome, bei andern auch noch viel später. Wenn man von außen anfaßte, war die Haut gar nicht besonders heiß, auch nicht bleich, sondern etwas gerötet, blutunterlaufen, mit kleinen Pusteln und Geschwüren übersät. Innen aber war die Fieberhitze so 407
stark, daß man nicht einmal die Berührung ganz zarter Gewebe oder des feinsten Musselins ertrug und es überhaupt nur nackt aushielt; am liebsten hätte man sich in kaltes Wasser gestürzt — und viele Kranke, die unbeaufsichtigt waren, taten dies auch und stürzten sich in die Brunnen—, von unaufhörlichem Durst gepeinigt. Es war völlig gleichgültig, ob man viel oder wenig trank. Man quälte sich in beständiger Unruhe und Schlaflosigkeit. Der Körper erschlaffte nicht, wie lange auch die Krankheit auf ihrem Höhepunkt stand, sondern widersetzte sich über Erwarten dem Verfall, so daß die meisten am siebenten oder neunten Tag, noch etwas bei Kräften, an der inneren Hitze starben; kamen sie aber davon, dann stieg das Leiden tiefer hinab in den Unterleib, starke Geschwüre traten dort auf, dazu kam noch heftiger Durchfall — und dann starben die meisten daran wegen Entkräftung. Denn das Übel durchlief den ganzen Körper, beginnend vom Kopf, wo es sich zuerst festsetzte, und hatte einer das Ärgste überstanden, so ließ doch der Anfall der Krankheit an den Gliedmaßen dauernde Spuren zurück. Sie warf sich nämlich auch auf die Schamteile, Finger und Zehen; viele kamen mit deren Verlust davon, manche mit dem der Augen. Andere konnten sich gleich beim ersten Aufstehen an nichts mehr erinnern und kannten sich und ihre Verwandten nicht mehr. Diese Krankheitsart war furchtbarer, als Worte es beschreiben können: sie befiel jeden mit einer Gewalt, die über Menschennatur ging. Auch in Folgendem zeigte es sich deutlich, daß sie etwas anderes als die herkömmlichen Krankheiten war: die Vögel und Tiere, die sonst von Leichen fressen, gingen entweder an die vielen Unbeerdigten überhaupt nicht heran oder verendeten, wenn sie davon fraßen. Der Beweis: ein deutliches Verschwinden solcher Vögel, das nun eintrat -- man sah sie überhaupt nicht mehr, auch nicht in der Nähe einer Leiche; die Hunde zeigten (noch) deutlicher diese Wirkung, weil sie mit dem Menschen zusammenlebten. So verlief die Krankheit in ihrer Gesamtform, wenn man von den vielen Sonderfällen absieht, wie sie der eine vielleicht im Unterschied zum andern im einzelnen erlitt. Andere Krankheiten gab es daneben in jener Zeit nicht, und wenn, gingen sie schließlich in jene über. Die einen starben infolge mangelnder Pflege, andere trotz aufopfernder Fürsorge. Man fand auch erwiesenermaßen kein einziges Heilmittel, dessen Anwendung sichere Hilfe versprochen hätte; was dem einen genützt hatte, schadete dem anderen. Was die körperliche Beschaffenheit an sich betrifft: der Starke unterschied sich bei dieser Krankheit in nichts vom Schwachen, alle raffte sie hinweg, auch die sich 408
mit aller Sorgfalt pflegen ließen. Das Furchtbarste an dem ganzen Übel aber war die Mutlosigkeit, sobald sich einer krank fühlte denn sie überließen sich gleich der Verzweiflung, gaben sich vollends auf und leisteten keinen Widerstand -, und daß sich einer bei der Pflege des anderen ansteckte und alle wie das Vieh dahinstarben; und gerade das führte zu dem Massensterben. Denn entweder vermied man aus Angst, einander zu besuchen - dann kamen sie verlassen um, und viele Häuser starben ganz aus, weil kein Pfleger da war-, besuchten sie aber einander, holten sie sich den Tod, besonders die, die noch etwas auf Hilfsbereitschaft hielten. Aus Schamgefühl schonten sie sich nicht und kamen zu ihren Freunden, stumpften ja selbst die Verwandten gegen das Gewinsel der Sterbenden ab, überwältigt von der Größe des Leides. Mehr Mitleid hatten doch noch die Geretteten mit den Sterbenden und Leidenden, weil sie alles bereits kannten und selbst nun in Sicherheit waren; denn zweimal befiel sie denselben nicht, zumindest nicht mit tödlichem Ausgang. Sie wurden glücklich gepriesen von den anderen und hegten auch selbst in der übergroßen Freude des Augenblicks für alle Zukunft die unbeschwerte Hoffnung, es könnte ihnen nie mehr eine andere Krankheit den Tod bringen. Zu all ihrer Not brachte sie das Zusammenströmen der Leute vom Land in die Stadt in noch größere Bedrängnis, vor allem die Neuankömmlinge. Denn da nicht genug Häuser vorhanden waren und sie den Sommer in stickig-heißen Hütten zubringen mußten, starben sie in wüstem Durcheinander dahin: Tote und Sterbende lagen übereinander, halbtot wälzten sie sich auf den Straßen und bei allen Brunnen, in wildem Verlangen nach Wasser. Die Tempel, in denen sie hausten, lagen voller Leichen der dort Verstorbenen. Völlig überwältigt vom Leid und ratlos, was aus ihnen werden solle, kehrten sie sich nicht mehr an göttliches und menschliches Gebot. Alle Bräuche, an die sie sich früher bei Begräbnissen gehalten hatten, wurden in der allgemeinen Verwirrung erschüttert; jeder begrub, wie er konnte. Viele kamen auf eine ganz schamlose Art der Bestattung aus Mangel an dem Nötigsten, da ihnen schon so viele vorher gestorben waren: auf einen fremden Scheiterhaufen legten sie ihren Toten, bevor noch die, die ihn aufgeschichtet, dazukamen, und zündeten ihn an ; andere warfen die Leiche, die sie trugen, auf eine schon brennende obendrauf und gingen fort. Auch sonst war die Pest für Athen der Anfang der Sittenlosigkeit. Leichter erfrechte sich jetzt mancher zu Taten, an die er vorher nur im geheimen gedacht hatte, da man den raschen Wandel sah zwi409
schen den Reichen, die plötzlich starben, und den früher Besitzlosen, die nun mit einem Mal deren Hab und Gut besaßen. So hielten sie es für recht, das Angenehme möglichst rasch und lustvoll zu genießen, da ihnen ja Leben und Geld gleicherweise nur für den einen Tag gegeben seien. Sich im voraus um ein edles Ziel abzumühen, war niemand bereit, erschien es ihm doch unsicher, ob er nicht, ehe er es erreicht, schon ums Leben gekommen sei. Genuß für den Augenblick und alles, was dem diente, das galt als schön und nützlich. Weder Götterfurcht noch Menschensatzung hielt sie in Schranken; denn einerseits hielt man es für gleichgültig, ob man fromm sei oder nicht, da man alle ohne Unterschied dahinsterben sah, und andererseits glaubte niemand für seine Vergehen noch Gerichtsverhandlung und Strafe zu erleben, viel drohender schwebe das schon verhängte Schicksal über ihren Häuptern, und bevor es ganz über sie hereinbreche, sei es doch billig, sein Leben noch ein wenig zu genießen. So litten die Athener ringsum bittere Not: drinnen starben ihnen die Menschen, und draußen wurde ihr Land verwüstet. In dieser Bedrängnis erinnerten sie sich naturgemäß auch jenes Verses, der, wie die Älteren sagten, schon immer so gesungen wurde: »Kommen wird einst der dorische Krieg und mit ihm die Seuche.« Die Menschen waren zwar geteilter Meinung: nicht »Seuche« sei in dem Vers von den Alten gesagt worden, sondern »Hunger« ; es siegte aber unter diesen Umständen, wie nicht anders zu erwarten, die Ansicht, es habe »Seuche« geheißen, denn die Menschen lenken ihre Erinnerung immer nach dem Erlebten. Ich glaube jedoch, falls ein anderer dorischer Krieg nach diesem ausbricht und dann etwa eine Hungersnot eintritt, so wird man es wahrscheinlich so singen. Auch an das Orakel der Spartaner erinnerten sich die, die es kannten, als auf ihre Frage, ob sie Krieg führen sollten, der Gott verkündete, den machtvoll Kämpfenden falle der Sieg anheim, er selbst werde mit eingreifen. Verglichen sie es, so entsprachen die Ereignisse ziemlich genau dem Orakel: gleich nach dem Einfall der Peloponnesier brach die Seuche aus, drang aber nicht in die Peloponnes ein — ein bemerkenswerter Umstand —, sondern verheerte vor allem Athen, dann auch von anderen Gegenden die volkreichsten. Das also war der Verlauf der Krankheit. Die Würdigung des Perikles
Solange Perikles die Stadt in Friedenszeiten leitete, führte er sie mit Besonnenheit und lenkte sie sicher durch alle Fährnisse, und unter 410
ihm wurde sie mächtig. Als dann der Krieg ausbrach, zeigte es sich, wie richtig er auch hierin die Machtmittel (des Staates) im voraus eingeschätzt hatte. Er lebte dann noch zwei Jahre und sechs Monate; nach seinem Tod erkannte man noch deutlicher seine klare Voraussicht für den Krieg. Wenn sie Ruhe bewahrten, die Flotte instand hielten, ihre Herrschaft während des Krieges nicht erweiterten und die Stadt nicht aufs Spiel setzten, dann, so sagte er, würden sie siegen. Sie verkehrten all das ins Gegenteil: sie betrieben von Staats wegen alles mögliche, was mit dem Krieg augenscheinlich nichts zu tun hatte, aus persönlichem Ehrgeiz und persönlicher Gewinnsucht, doch zum Nachteil Athens und der Verbündeten; solche Unternehmen brachten bei Erfolg dem einzelnen Ehre und Vorteil, schadeten beim Scheitern aber der Stadt im Krieg. Der Grund hierfür war, daß jener, mächtig durch sein Ansehen und seine Einsicht, in Geldangelegenheiten rein und unbestechlich, die Masse in Freiheit niederhalten konnte und sich nicht von ihr führen ließ, sondern selber führte, weil er nicht, um die Macht mit unlauteren Mitteln zu erlangen, ihr zu Gefallen redete, vielmehr gestützt auf sein Ansehen ihr auch im Zorn widersprach. Sooft er jedenfalls merkte, daß sie sich in frecher Überheblichkeit erkühnte, jagte er ihnen mit seinen Worten Angst und Schrecken ein, aus grundloser Furcht aber richtete er sie auf und flößte ihnen wieder Mut ein. So war es dem Namen nach Demokratie, in Wirklichkeit aber Herrschaft des ersten Mannes. Die Späteren, einer ziemlich wie der andere und jeder nur bemüht, der erste zu werden, sanken so tief, den Launen des Volkes sogar in der Staatsführung nachzugeben. Daher wurden wegen der Größe der Stadt und ihrer Herrschaft immer wieder Fehler begangen, so vor allem die Fahrt nach Sizilien, wo der Fehler nicht so sehr in der Beurteilung der Angegriffenen lag, sondern darin, daß die treibenden Kräfte daheim nicht die für das ausgesandte Heer zweckdienlichen Beschlüsse faßten, sondern über ihren Zänkereien um die Führerrolle im Volk die Wirkung des Unternehmens abstumpfen ließen ; und zum erstenmal litt (damals) das Staatsinteresse unter den inneren Wirren. Aber selbst als sie in Sizilien mit ihrer gesamten Kriegsmacht und einem Großteil der Flotte gescheitert waren und in der Stadt schon Bürgerkrieg herrschte, behaupteten sie sich trotzdem noch zehn Jahre gegen ihre alten Feinde, gegen die neuen aus Sizilien und die meisten Verbündeten, die von ihnen abgefallen waren, und zuletzt noch gegen Kyros, den Sohn des Großkönigs, der den Peloponnesiern Geld gab für den Flottenbau; und nicht eher ergaben sie sich, als bis sie in ihren persönlichen Zänkereien aneinan411
Perikles
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der geraten und zugrunde gegangen waren. Ein so gewaltiger Oberschuß an Mitteln stand Perikles damals zur Verfügung, auf Grund deren er als sicher voraussah: Athen werde ganz leicht gegen die Peloponnesier allein den Krieg gewinnen.
Die »Pathologie des Krieges. Zu so wilder Grausamkeit trieb der Bürgerkrieg (in Kerkyra). Man empfand das noch deutlicher, weil er der erste Krieg dieser Art war. Später geriet sozusagen ganz Hellas in Bewegung. Überall entstand Zwiespalt, wobei die Führer des Volkes die Athener zu gewinnen suchten, die Adligen die Spartaner. Im Frieden hatten sie freilich keine Gelegenheit, auch nicht den Willen, sie zu rufen; während aber Krieg herrschte, war es für beide Parteien leicht, zum Schaden des Gegners und zum eigenen Nutzen für einen geplanten Umsturz fremde Hilfe heranzuziehen. Und bei solcher Zwietracht brach viel Schweres über die Städte herein, wie es nun einmal ist und immer sein wird, solange das Wesen der Menschen gleichbleibt, manchmal heftiger, manchmal ruhiger (erschien es) und immer verschieden in den Erscheinungsformen, wie es eben die Wechselfälle der Ereignisse mit sich bringen; denn in Frieden und Wohlstand leben Städte und Menschen nach besseren Grundsätzen, weil sie nicht in ausweglose Not geraten. Der Krieg aber, der die Annehmlichkeit des täglichen Lebens raubt, ist ein harter Lehrmeister und gleicht die Leidenschaften der Menge den Gegebenheiten des Augenblicks an. So wütete also Zwietracht in allen Städten, und die, die vielleicht erst später davon ergriffen wurden, überboten jene auf die Kunde von dem bereits Geschehenen noch bei weitem durch ihren bisher ungeahnten Scharfsinn im Ausklügeln von Anschlägen und maßloser Rache. Auch änderten sie die gewohnten Bezeichnungen für die Dinge nach ihrem Belieben. Unüberlegte Tollkühnheit galt für aufopfernde Tapferkeit, vorausdenkendes Zaudern für aufgeputzte Feigheit, Besonnenheit für den Deckmantel der Ängstlichkeit, alles bedenkende Klugheit für alles lähmende Trägheit; wildes Draufgängertum hielt man für Mannesart, vorsichtig wägendes Weiterberaten wurde als schönklingender Vorwand der Ablehnung angesehen. Wer schalt und zürnte, war immer zuverlässig, wer widersprach, eben dadurch verdächtig. Gelang jemandem ein Anschlag, so galt er für verständig, durchschaute er einen rechtzeitig, für noch tüchtiger; wer aber seine Maßnahmen schon im voraus bedachte, daß er weder das eine noch das andere brauchte, von dem hieß es, er zersetze den 413
Bund und zittere vor den Feinden. Kurzum, wer mit bösem Tun einem andern, der erst plante, zuvorkam, erntete Lob, und erst recht, wer einen andern, der gar nicht daran dachte, dazu anhielt. Ja sogar Blutsverwandtschaft galt weniger als die Bünde, die viel rascher und bedingungslos zu verwegener Tat bereit waren; denn derartige Vereine traten nicht unter den gültigen Gesetzen zu allgemeinem Nutzen zusammen, sondern gegen die bestehenden aus persönlicher Gewinnsucht, und gegenseitiges Vertrauen beruhte bei ihnen weniger auf dem göttlichen Recht als auf gemeinsam verübtem Unrecht. Einen edlen Vorschlag von seiten der Gegner nahmen sie, wenn diese im Vorteil waren, an unter Berücksichtigung ihrer Lage, aber nicht aus aufrechter Gesinnung. An jemandem Vergeltung zu üben galt mehr, als selber kein Unrecht zu erfahren. Eide, falls sie überhaupt noch bei Verträgen geleistet wurden, galten für beide Seiten nur für den Augenblick der Not, solange sie nicht anderswo Hilfe fanden. Sogleich aber, wenn nur einer wieder Mut gefaßt hatte und den Gegner ungedeckt sah, rächte er sich lieber durch Mißbrauch des Vertrauens als in offenem Kampf; denn er dachte dabei an seine Sicherheit und auch, daß der durch Betrug gewonnene Vorteil ihm den Siegespreis der Schlauheit eintrage. Denn lieber lassen sich die meisten Menschen gewitzte Bösewichter nennen als einfältige Ehrenmänner; des einen schämen sie sich, mit dem andern brüsten sie sich. An all dem ist die Herrschsucht schuld, die sich in Habgier und Ehrgeiz äußert, und daraus erwächst dann, wenn erst der Hader hinzutritt, wilde Leidenschaft. Denn die Führer in den Städten -- bei beiden Parteien mit schönklingenden Worten: sie verträten die Gleichberechtigung des Volkes oder die gemäßigte Herrschaft der Besten — machten das Staatsgut, dem sie ihren Worten nach dienten, zu ihrem persönlichen Kampfpreis; in ihrem Ringen, auf jede Art den anderen zu überbieten, erkühnten sie sich zu den verwegensten Taten und übersteigerten dann noch ihre Rache. Dabei aber hielten sie sich nicht im Rahmen des Rechtes und des Staatswohls, nein, jede Partei fand jeweils ihre Richtschnur nur in ihrer Leidenschaft; und ob sie durch betrügerische Abstimmung oder mit Gewalt zur Herrschaft gelangt sind, sie waren entschlossen, die Kampfwut des Augenblicks zu sättigen. Hier und dort galt Frömmigkeit nichts; wem es glückte, mit schönklingenden Worten ein Werk des Hasses zu vollbringen, der stand in besserem Ruf. Die parteilosen Bürger wurden von beiden Gegnern umgebracht, entweder weil sie nicht mitkämpften oder aus Neid, daß sie etwa mit dem Leben davonkämen. So kam durch die Bürgerkriege im Hellenenvolk jede Art von Sit44
Der Parthenon in Athen
tenlosigkeit auf, und die Einfalt, der edle Gesinnung so nahe verwandt ist, wurde verhöhnt und verschwand; einander gegenüberzustehen mit Mißtrauen im Herzen war weithin die Regel. Denn zu schlichten hatte weder das Wort die Kraft noch der Eid bannende Macht; nein, wenn sich einer stärker (als sein Gegner) fühlte, achtete er auf Grund der Überlegung, daß Sicherheit nicht zu erhoffen sei, mehr darauf, keinen Schaden zu nehmen, als daß er irgend jemandem vertraute. Auch Leute mit weniger Verstand konnten sich meist behaupten. Da sie in Furcht waren wegen ihres eigenen Mangels und des Scharfsinns der Gegner, sie könnten im Wortgeplänkel den kürzeren ziehen und unvermutet ein Opfer ihrer vielfältigen Arglist werden, schritten sie wagemutig zur Tat. Jene aber, die diese Haltung verachteten und glaubten, sie würden schon vorher alles merken und hätten nicht nötig, mit Gewalt an sich zu reißen, was auch mit Verstand möglich sei, waren viel wehrloser und kamen dadurch um. 415
Der Überfall auf Melos — Das Meliergespräch 416
Auch gegen die Insel Melos unternahmen die Athener einen Feldzug mit einer Flotte von 3o eigenen Schiffen, 6 aus Chios und 2 aus Lesbos, mit einem Heer von 1200 eigenen Schwerbewaffneten, 300 Bogenschützen, 20 Reiterschützen und von den Verbündeten und Inseln ungefähr 1 500 Schwerbewaffneten. Die Melier sind ein Pflanzvolk der Spartaner und wollten den Athenern nicht untertan sein wie die anderen Inselvölker, sondern schlossen sich zunächst keinem der beiden Gegner an und verhielten sich ruhig; später dann, als die Athener sie durch Verwüstung des Landes zwingen wollten, traten sie offen in den Krieg ein. Mit der aufgezählten Heeresmacht bezogen nun die Feldherren Kleomedes, Sohn des Lykomedes, und Teisias, Sohn des Teisimachos, ein Lager; ehe sie aber dem Land irgendwie Schaden zufügten, schickten sie vorerst Gesandte zu Verhandlungen in die Stadt. Die Melier führten sie aber nicht vor das Volk, sondern forderten sie auf, vor den Behörden und dem Rat der Adligen über den Zweck ihres Kommens zu sprechen. Da sprachen die athenischen Gesandten ungefähr so: Da wir unsere Worte nicht an das Volk richten können, offenbar damit nicht die Menge in zusammenhängender Rede von uns manche verlockenden und unwiderleglichen Dinge höre und sich dadurch täuschen lasse— denn das bedeutet doch, wir wissen es genau, unsere Ladung vor den Rat —, so verfahrt nun, ihr hier Versammelten, noch vorsichtiger: antwortet auch ihr auf jeden einzelnen Punkt und nicht in zusammenhängender Rede, sondern unterbrecht uns sofort, wenn euch etwas in unserer Rede unannehmbar scheint. Zunächst sagt also, ob euch unser Vorschlag gefällt. Die Ratsherren der Melier antworteten: Gegen euren gerechten Vorschlag, einander in aller Ruhe zu überzeugen, haben wir nichts einzuwenden, doch scheinen die kriegerischen Rüstungen, die schon abgeschlossen sind und nicht erst drohen, damit nicht übereinzustimmen. Sehen wir euch doch gekommen, selbst Richter zu sein über alles, was gesprochen werden wird; und das Ende davon wird schließlich sein: siegen wir in dem Rechtsstreit und geben daher nicht nach, so droht uns Krieg, lassen wir uns aber von euch bereden, Knechtschaft. Die Athener: Wenn ihr freilich hier zusammengekommen seid, um Vermutungen über die Zukunft anzustellen oder sonst etwas, statt gemäß der gegenwärtigen Lage, wie ihr sie jetzt vor Augen habt, über die Rettung der Stadt zu beraten, so können wir ja gleich 416
wieder aufhören; wenn aber das, so wollen wir weiter reden. Die Melier: Es ist natürlich und verzeihlich, wenn man in solcher Not zu mancherlei Worten und Gedanken Zuflucht nimmt; diese Versammlung hier gilt allerdings unserer Rettung, und daher entwickle sich die Verhandlung, wenn es euch recht ist, in der Art, wie ihr sie fordert. Die Athener: Nun gut, wir selbst wollen jetzt nicht mit schönklingenden Worten — wie etwa: zu Recht bestehe unsere Herrschaft nach unserem Sieg über die Perser, oder: wir wollten erlittenes Unrecht jetzt rächen — eine langatmige und deshalb unglaubwürdige Rede vortragen. Aber auch ihr, das fordern wir, dürft nicht glauben, uns durch solche Ausführungen zu überzeugen: als Pflanzvolk der Spartaner hättet ihr euch nicht am Krieg (auf unserer Seite) beteiligen können, oder: ihr hättet uns kein Unrecht zugefügt. Nein, im Rahmen des von uns als wahr Erkannten sucht das Mögliche zu erreichen, da ihr ebenso gut wie wir wißt, daß Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen. Die Melier: Wir glauben aber doch, es wäre nützlich — so müssen wir ja sprechen, da ihr statt des Rechtes den Vorteil unserem Gespräch zugrunde gelegt habt —, wenn ihr nicht etwas aufhöbt, woraus alle gemeinsam Gewinn ziehen, sondern wenn jedem, der in Gefahr gerät, Gründe der Billigkeit zu Gebote stünden und er daraus, auch ohne alles bis ins letzte genau zu erweisen, Nutzen ziehen könne. Das gilt in hohem Grade mit für euch, insoweit ihr, einmal gestürzt, durch die Härte der Strafe (die an euch dann vollzogen werden wird) anderen ein warnendes Beispiel werden könntet. Die Athener: Wegen des Endes unserer Herrschaft, sollte sie auch untergehen, machen wir uns keine Sorgen; denn ein Volk, das über andere herrscht, wie ja auch die Spartaner, bedeutet deshalb für die Besiegten nicht gleich eine schreckliche Gefahr — im übrigen gilt unser Kampf ja gar nicht den Spartanern —, wohl aber die Untertanen, wenn sie einmal zum Kampf rüsten und ihre früheren Herren besiegen. Doch dieser Gefahr zu begegnen sei uns überlassen. Daß wir hierher gekommen sind zum Nutzen unserer Herrschaft und diese Verhandlungen führen wollen zur Rettung eurer Stadt, das werden wir noch aufzeigen; denn dies ist unser Wunsch: wir werden ohne Mühe eure Herren, und ihr bleibt zum Vorteil für beide ungeschoren. Die Melier: Wie könnte für uns Unterwerfung ebenso vorteilhaft sein wie für euch Ausweitung der Herrschaft? 417
Die Athener: Weil ihr, statt Ärgstes zu erleiden, euch fügen dürftet und wir, wenn wir euch nicht vernichten müßten, dabei gewinnen würden. Die Melier: Daß wir uns ruhig verhalten und statt eure Feinde Freunde sind, jedoch verbündet mit keinem der beiden Gegner, damit könnt ihr euch nicht zufriedengeben? Die Athener: Nein, denn eure Feindschaft schadet uns nicht so sehr, wie Freundschaft als Beweis (unserer) Schwäche, Haß dagegen als (Zeichen unserer) Stärke bei unseren Untertanen gilt. Die Melier: Erschließen denn eure Untertanen derart Recht und Unrecht, daß sie Völker, die euch gar nicht zugehören, mit den Städten, die zum Großteil von euch gegründet sind, teils nach einem Abfall wieder überwältigt wurden, völlig gleichsetzen? Die Athener: An Rechtsgründen, meinen sie, mag es weder den einen noch den anderen fehlen, aber (sie werden auch denken), daß jene sich dank ihrer Macht behaupten, wir jedoch aus Furcht nicht angreifen. Abgesehen von der Vergrößerung unserer Herrschaft würdet ihr uns daher auch Sicherheit durch eure Unterwerfung bieten, wenn ihr als Insel, noch dazu eine der schwächsten, euch uns Seebeherrschern gegenüber nicht behaupten könnt. Die Melier: Und in unserem früheren Vorschlag seht ihr keine Sicherheit? Denn ebenso, wie ihr uns von der Erörterung der Rechtslage abgebracht und gezwungen habt, nur auf euren Nutzen zu hören, müssen nun andererseits wir unseren Vorteil darlegen und euch zu beweisen versuchen, ob vielleicht dasselbe auch euch zuträglich sei. Alle, die jetzt noch mit niemandem verbündet sind, werdet ihr euch die nicht zu Feinden machen, wenn sie angesichts dieser Vorgänge glauben müssen, einmal werdet ihr auch gegen sie losziehen? Damit stärkt ihr doch nur eure bisherigen Feinde, und die, die es nie werden wollten, treibt ihr dazu, es gegen ihren Willen zu werden. Die Athener: Das sind, meinen wir, keine so fürchterlichen Gegner, die Städte irgendwo auf dem Festland, die eben, weil sie frei sind, lange zaudern werden, bis sie etwas zu ihrem Schutz gegen uns unternehmen, wohl aber sind es die Inseln, die noch unabhängig sind, so wie ihr, oder die bereits durch den Zwang der Herrschaft gereizt sind. Diese könnten am ehesten in blinder Unüberlegtheit sich selbst und uns in offensichtliche Gefahr stürzen. Die Melier: Wenn ihr solche Gefahren auf euch nehmt, um eure Herrschaft zu erhalten, die Untertanen aber, um endlich davon freizukommen: uns noch Freien würde es die Schande der Feigheit eintragen, wenn wir nicht alles unternähmen, ehe wir Sklaven werden. 418
Die Athener: Nein, wenn ihr nur vernünftig überlegt; nicht gilt eurem Mannesruhm der Kampf, von gleich zu gleich, daß ihr nicht Schande auf euch ladet, sondern eher eurem Heil die Beratung, daß ihr euch nicht den weitaus Mächtigeren widersetzt. Die Melier: Aber wir wissen, daß im Krieg sich das Glück oft gleichmäßiger verteilt, als es dem Kräfteunterschied der beiden Gegner entspräche. Für uns bedeutet Zurückweichen sofortige Hoffnungslosigkeit, handeln wir aber zuerst, besteht noch Hoffnung, uns aufrechtzuerhalten. Die Athener: Hoffnung, ein Trostmittel in der Gefahr, wird den Starken, wenn er sich an sie klammert, vielleicht schädigen, aber nicht vernichten. Wer aber alles, was er besitzt, aufs Spiel setzt — denn ihrem Wesen nach ist sie verschwenderisch —, erkennt sie erst nach seinem Sturz; da aber läßt sie ihm nichts mehr übrig, womit er sich nach seiner Erkenntnis gegen sie schützen könnte. Trachtet doch, daß es euch nicht so ergeht, da ihr schwach seid und für euren Untergang ein einziger Ausschlag des Waagebalkens genügt, und handelt nicht wie die vielen, die zwar (zuerst) die Möglichkeit hatten, sich noch mit Menschenkraft zu retten, aber dann, wenn in Not und Bedrängnis alle sichtbare Hoffnung geschwunden ist, auf die unsichtbare vertrauen: Weissagung, Göttersprüche und dergleichen mehr, was im Gefolge der Hoffnungen ins Verderben führt. Die Melier: Schwer freilich scheint es auch uns, wißt es wohl, gegen eure Übermacht und das Schicksal, wenn es nicht gleich zu gleich steht, den Kampf aufzunehmen. Dennoch vertrauen wir, daß wir vom Schicksal um der Gottheit willen nicht verlassen werden, weil wir gottesfürchtig ungerechten Angreifern entgegentreten und unserem Mangel an Macht das Bündnis mit den Spartanern abhelfen wird, die, wenn schon aus keinem anderen Grund, uns wegen der Stammesverwandschaft und um ihrer Ehre willen zu Hilfe kommen müssen; und nicht ganz unvernünftig ist somit unser Selbstvertrauen. Die Athener: Nun, was die Gottheit betrifft, so hoffen auch wir, ihrer Gnade nicht verlustig zu gehen. Denn nichts von dem, was wir fordern oder tun, widerspricht der Vorstellung der Menschen von der Gottheit und ihrem Betragen untereinander. Wir glauben nämlich, daß der Gott wahrscheinlich, der Mensch ganz sicher allezeit nach dem Zwang der Natur überall dort, wo er die Macht hat, herrscht. Wir haben dieses Gesetz weder aufgestellt noch als bestehendes zuerst befolgt, als gegeben haben wir es übernommen und werden es als ewig gültiges hinterlassen; wir befolgen es in dem Be419
wußtsein, daß auch ihr oder andere, die dieselbe Macht wie wir errungen haben, nach demselben Grundsatz verfahren würden. Von der Gottheit verlassen zu werden, brauchen wir also nach der Wahrscheinlichkeit nicht zu befürchten. Nun zu eurer Erwartung, die ihr in die Spartaner setzt, da ihr glaubt, sie werden euch um ihrer Ehre willen zu Hilfe kommen: wir preisen euch glücklich wegen eurer naiven Unkenntnis alles Bösen, beneiden euch aber nicht um eure Torheit. Die Spartaner nämlich betragen sich untereinander und nach ihren Landesgesetzen höchst untadelig, aber wie sie sich anderen gegenüber benehmen, darüber könnte man viel erzählen; kurz und bündig aber darf man behaupten: sie sind es, die unseres Wissens am augenfälligsten das Angenehme für schön erklären und das Nützliche für gerecht. Und eine solche Gesinnung spricht doch kaum für eure so unvernünftig erhoffte Rettung. Die Melier: Wir aber vertrauen gerade deshalb fest darauf, daß sie zu ihrem eigenen Nutzen die Melier, ihr Pflanzvolk, nicht preisgeben wollen, um nicht den Freunden unter den Hellenen treulos, den Feinden hilfreich zu erscheinen. Die Athener: Glaubt ihr also nicht, daß das Vorteilhafte mit Sicherheit verbunden ist, das Gerechte und Edle aber nur unter Gefahren vollbracht wird? Ein Wagnis, zu dem die Spartaner im allgemeinen nur sehr wenig bereit sind. Die Melier: Wir sind wirklich der Meinung, daß sie unseretwegen eher die Gefahr auf sich nehmen und sie für weniger bedenklich halten als anderer wegen, insofern wir für künftige Taten nahe an der Peloponnes liegen und als Blutsverwandte treuer gesinnt sind als andere. Die Athener: Sichere Stütze findet der Mitstreiter aber nicht im guten Willen des Hilfesuchenden, sondern dann, wenn einer an tatsächlicher Macht weit überlegen ist; und darauf sehen die Spartaner mehr als auf alles andere. Weil sie ja ihrer eigenen Rüstung so sehr mißtrauen, rücken sie nur mit vielen Verbündeten in das Land ihrer Nachbarn ein; es ist daher unwahrscheinlich, daß sie auf eine Insel übersetzen, wo wir doch die See beherrschen. Die Melier: Sie könnten ja andere schicken; groß ist das Kretische Meer, in seinen Weiten fällt es den Seebeherrschern schwerer, Schiffe aufzubringen, als solchen, die unbemerkt bleiben wollen, heil durchzukommen. Sollte ihnen aber auch das mißlingen, könnten sie sich gegen euer Land wenden und gegen die restlichen Verbündeten, zu denen Brasidas noch nicht gekommen ist, und statt um Land, das euch nichts angeht, werdet ihr euch mehr um euer eigenes Land und Bundesgebiet abmühen müssen. 420
Die Athener: Geschieht dies, so haben wir ja darin schon einige Erfahrung, und ihr wißt doch ziemlich genau, daß die Athener noch niemals auch nur eine einzige Belagerung aus Furcht vor anderen Feinden abgebrochen haben. Wir müssen uns aber sagen, daß ihr trotz eurer Ankündigung, ihr wolltet nur über eure Rettung beraten, überhaupt nichts in der bisherigen Unterredung vorgebracht habt, worauf Menschen ihre Hoffnung auf Rettung gründen können; eure stärksten Stützen sind die Hoffnungen auf die Zukunft, eure derzeitigen Anstalten aber sind zu schwach, um gegen den bereits geordneten Gegner zum Erfolg zu führen. Arge Verblendung in eurem Denken zeigt ihr daher, wenn ihr uns nicht jetzt noch durch andere, vernünftigere Entschlüsse umstimmt. Ihr werdet doch hoffentlich nichts von der in schmählichen und selbstverschuldeten Gefahren schon so oft den Menschen verderbliches »Ehre« halten! Denn schon viele, die noch genau voraussahen, wohin sie trieben, verführte die sogenannte Scham mit der Kraft eines Zauberwortes, daß sie sich, geblendet von einem Wort, in der Wirklichkeit mit freiem Willen in heilloses Unglück verstrickten und ärgere Schande infolge ihres Unverstandes als infolge eines Schicksalsschlages davontrugen. Davor werdet ihr euch, wenn ihr nur verständig zu Rate geht, sicher zu hüten wissen und es nicht unbillig finden, der mächtigsten Stadt in ihren maßvollen Forderungen zu willfahren: Bundesgenossen zu werden, tributpflichtig, aber weiterhin im Genusse eures Besitzes, und nicht bei gewährter Wahl zwischen Krieg und Sicherheit verstockt auf eurem Verderben zu bestehen. Denn wer vor dem gleich Starken nicht zurückweicht, sich dem Mächtigeren gegenüber angemessen verhält und sich im Verkehr mit dem Schwächeren mäßigt, der fährt meistens am besten. Überlegt also und bedenkt auch nach unserem Abgang oft und oft: ihr beratet über euer Vaterland, dieses eine Vaterland steht auf dem Spiel, ob nun die eine Beratung glückt oder fehlschlägt.
Damit verließen die Athener den Verhandlungsraum. Die Melier untereinander blieben bei dem gleichen Beschluß, den sie schon früher vorgetragen hatten, und antworteten: Unser Entschluß hat sich seit dem ersten Mal nicht geändert, Athener, auch wollen wir nicht in kurzer Zeit eine Stadt, die schon siebenhundert Jahre besteht, der Freiheit berauben, sondern voll Vertrauen auf die göttliche Fügung, die sie bisher beschützt hat, und auf die Hilfe aller Menschen, vor allem der Spartaner, wollen wir versuchen, uns zu retten. Wir schlagen euch noch einmal vor, eure Freunde, niemandes Feinde zu sein, 421
Das Erechtheion
und daß ihr aus unserem Land abzieht nach Abschluß eines Vertrages, der uns beiden annehmbar scheint. So antworteten die Melier. Die Athener, die nunmehr die Verhandlungen abbrachen, erklärten: Ihr seid also wirklich die einzigen, so scheint uns nach diesen Entschlüssen, die in der Zukunft mehr Sicherheit erkennen als in dem, was vor Augen liegt, und die das Verhüllte, allein weil sie es wünschen, als wirklich betrachten; und da ihr in blindem Vertrauen auf Spartaner, Schicksal und Hoffnung alles auf eine K arte gesetzt habt, werdet ihr auch alles verlieren. Danach kehrten die athenischen Gesandten zum Heer zurück. Da sich die Melier nicht fügen wollten, eröffneten die Feldherren sofort die Feindseligkeiten; sie verteilten die Mauerabschnitte an die einzelnen Städte und begannen Melos zu umschließen. Später ließen sie nur Wachtposten aus eigenen Leuten und Bundesgenossen zurück, zu Wasser und zu Lande. Mit der Hauptmacht zogen sie ab ; die anderen blieben an Ort und Stelle und belagerten die Stadt... ...Diese töteten alle erwachsenen Männer, die sie ergreifen konnten, die Kinder und Frauen verkauften sie in die Sklaverei. Sie selbst gründeten den Ort neu und schickten etwas später 500 Siedler dorthin. 422
DIE REDEKUNST Demosthenes Gleichfalls in Athen erlebte die Rhetorik, die Kunst der Rede, die Gorgias von Leontinoi in Sizilien (h. Lentini) begründet hatte, die dann von ihm auf weiten Vortragsreisen, vor allem auch in Athen, propagiert wurde, schnell ihre höchste Blüte — in großen Rednern wieLysias und Isokrates, Aischines und Demosthenes, dessen ebenso leidenschaftliche wie zuchtvolle Diktion für alle Zeiten, besonders für Cicero, als musterhaft galt. Das demokratische Klima Athens, das »Redefreiheit« (parrhesia) gewährte, die Freude der Athener am geschliffenen Wort und am Prozessieren boten für die Entfaltung der Redekunst — vor Gericht und vor der Volksversammlung, die oft mit dem Gericht identisch war — äußerst günstige Voraussetzungen. Demosthenes aus Athen, 384 — 322 v.Chr., von dem wir etwa 3o echte und unter seinem Namen ebensoviele unechte Reden besitzen, war zunächst auch als Gerichtsredner tätig, errang aber in seinen 18 »Staatsreden« seinen eigentlichen Ruhm, in denen er kraftvoll, wenngleich letzten Endes vergeblich, die demokratische Freiheit seiner Vaterstadt gegen den Andrang des makedonischen Imperialismus unter Philipp II. und Alexander dem Großen zu verteidigen suchte. Demosthenes wurde deshalb nach Alexanders Ende (323) und der endgültigen Unterwerfung Athens unter Makedonien zum Tode verurteilt. Um seinen Häschern zu entgehen, nahm er auf der kleinen Insel Kalauria im Jahre 322 Gift. Seine berühmteste Kampfrede, die dritte Rede gegen Philippos, hat der Redner im Jahre 341 gehalten, als Philipp nach dem Bosporos vordrang und dort nicht nur die athenischen Siedler, sondern auch die Getreidezufuhr Athens bedrohte. Wer will, wird in dieser Rede auch Parallelen zu unserer eigenen Zeit finden. Die dritte Rede gegen Philipp Obgleich, Männer von Athen, fast in jeder Versammlung die Unbilden, welche sich Philippos seit dem Friedensschlusse nicht nur gegen euch, sondern auch gegen die übrigen Hellenen zu Schulden kommen läßt, mehrfach zur Sprache kommen und gewiß alle, wenn sie auch nichts dazu tun, doch darin einverstanden sind, daß man durch Wort und Tat dahin wirken müsse, seinem Übermut ein Ende zu machen und ihn zu züchtigen, so finde ich doch alle unsere Angele423
genheiten in einem dermaßen verwahrlosten Zustande, daß -- so schmählich der Gedanke ist, so wahr ist er, fürchte ich —, wenn auch alle unsere Redner Vorschläge über die Mittel machen wollten, wodurch unsere Lage möglichst verschlimmert werden könnte, und ihr diese genehmigtet, die Lage dennoch unmöglich schlimmer werden könnte, als sie bereits ist. Verschiedene Umstände haben wohl dabei mitgewirkt, und nicht aus einem oder zwei Gründen allein ist die Sache so weit gekommen: bei unparteiischer Prüfung werdet ihr aber erkennen, daß insbesondere diejenigen daran schuld sind, welche euch lieber schöne Dinge s alten als zum Besten raten wollen. Ein Teil von ihnen, Männer von Athen, sucht, um die Zukunft völlig unbekümmert, den gegenwärtigen Stand der Dinge aufrecht zu erhalten, da er ihm sein Ansehen und seinen Einfluß zu verdanken hat; ein anderer beschuldigt und verleumdet die, welche an der Spitze der öffentlichen Angelegenheiten stehen, und bezweckt damit nichts anderes, als daß der Staat in ihnen sich selbst den Prozeß mache, und während er damit beschäftigt ist, Philippos sagen und tun könne, was ihm beliebt. Dergleichen Kunstgriffe sind bei euch an der Tagesordnung, in ihnen aber liegt die Wurzel alles lbels. Ich erwarte nun, Männer von Athen, daß ihr es mir nicht übel nehmt, wenn ich offen die Wahrheit sage. Denn sehet, sonst überall glaubt ihr die Freiheit der Rede so weit über alle Angehörigen des Staates ausdehnen zu müssen, daß ihr sie selbst Fremden und Sklaven nicht vorenthaltet, und in der Tat hört man bei uns das Gesinde seine Meinung offener aussprechen, als es in manchem anderen Staat die Bürger tun: und doch habt ihr aus euren Beratungen diese Freiheit gänzlich verbannt. Die Folge davon ist, daß ihr in den Versammlungen die Herren spielt und euch durch schöne Redensarten den Hof machen laßt, während ihr nach innen wie nach außen bereits in der höchsten Gefahr schwebt. Seid ihr daher auch jetzt in der Stimmung, so habe ich nichts zu sagen: wollt ihr aber einen guten und aufrichtigen Rat annehmen, so bin ich bereit zu sprechen. Denn wenn auch unsere Angelegenheiten noch so verzweifelt stehen und vieles verloren gegangen ist, so ist es doch noch möglich, sofern ihr nur eure Schuldigkeit tun wollt, alles wieder in Ordnung zu bringen. Mag das, was ich euch zu sagen habe, auch sonderbar erscheinen, aber wahr ist es: eben das, was bisher das Schlimmste war, läßt von der Zukunft auch das Beste hoffen. Und was wäre dies? Daß durch eure Pflichtvergessenheit in kleinen wie in großen Dingen die Sache schlecht steht; denn hätte sie diese Wendung genommen, während ihr in allem eure Schuldigkeit tatet, so wäre ja nicht einmal Hoffnung 424
auf Besserung vorhanden. Nun aber ist es nicht der Staat, den Philippos besiegt hat, sondern euer Leichtsinn und eure Sorglosigkeit, und weit entfernt überwunden zu sein, habt ihr euch noch gar nicht einmal vom Flecke gerührt. Wenn es nun, um davon anzufangen, dem Staate frei und in unserer Macht steht, Frieden zu halten, so erkläre ich, daß wir dies tun müssen, und verlange, daß, wer dazu rät, zugleich auch offen und ehrlich die deshalb nötigen Anträge stelle und betreibe. Wenn aber ein anderer mit den Waffen in der Hand und an der Spitze einer großen Heeresmacht euch gegenüber zwar den Friedfertigen spielt, in Wahrheit aber Krieg führt, was bleibt dann noch übrig, als sich in Verteidigungsstand zu setzen? Wollt ihr nach seiner Weise vorgeben, ihr haltet Frieden, so habe ich nichts dawider. Aber wenn jemand wirklich den Zustand für einen friedlichen ansieht, der endlich ihn selbst, nachdem er alles an sich gerissen hat, uns auf den Hals bringen wird, so ist der erstlich nicht bei Sinnen, und dann wäre das ein Friede, den ihr gegen ihn, nicht er gegen euch beobachtete. Und das eben ist es, was Philippos mit allen seinen reichen Spenden erkauft: euch will er bekriegen und ihr sollt euch nicht widersetzen. Wollen wir etwa warten, bis er selbst es eingesteht, daß er uns bekriege, dann sind wir über die Maßen einfältig. Denn griffe er selbst Attika und den Piräus an, so würde er das nicht zugeben, so weit wenigstens sein Verfahren gegen andere einen Schluß gestattet. So ließ er den Olynthiern, als er noch 4o Stadien von ihrer Stadt entfernt stand, sagen, sie hätten die Wahl: entweder müßten sie Olynthos, oder er Makedonien räumen, wiewohl er bis dahin Beschuldigungen der Art stets mit Unwillen zurückgewiesen und selbst zu seiner Rechtfertigung Gesandte abgeschickt hatte. Ebenso rückte er in Phokis wie in einen verbündeten Staat ein, und die phokischen Gesandten selbst waren es, welche ihn auf seinem Zuge geleiteten, und selbst bei uns behaupteten viele steif und fest, daß sein Einmarsch den Thebanern übel bekommen würde. Auch in Thessalien rückte er vor kurzem als Freund und Verbündeter ein und nahm Pherä weg, und zuletzt noch schickte er den unglücklichen Oriten einen Haufen Kriegsvolk zum Besuch, wie er sagte, aus purer Gefälligkeit; denn er habe gehört, daß sie unpaß wären und sich in den Haaren lägen, die Pflicht wahrer Freunde und Bundesgenossen aber wäre es, unter solchen Umständen sich hilfreich zu erweisen. Glaubt ihr nun, daß er Leute, die, außer Stande ihm Übles zuzufügen, höchstens der ihnen drohenden Gefahr sich hätten erwehren können, lieber in die Falle locken als mit offener Gewalt habe unterdrücken wollen, euch hin425
gegen erst nach vorausgeschickter Kriegserklärung angreifen werde, zumal so lange ihr noch gutwillig in die Falle geht? Unmöglich. Er müßte ja der größte Tor von der Welt sein, wenn er euch, die ihr aller erlittenen Kränkungen ungeachtet keine Beschwerde gegen ihn führt, sondern die Schuld auf einige aus eurer Mitte schiebt, untereinander versöhnen, euren Streit und Hader gegen sich selbst kehren und so seinen Mietlingen die Möglichkeit benehmen wollte, auch ferner noch durch die Versicherung, daß er ja gar nicht die Stadt bekriege, eure Tätigkeit zu lähmen. Gibt es aber beim Zeus wohl einen vernünftigen Menschen, der Freund und Feind nach ihren Worten anstatt nach ihrenHandlungen beurteilte? Gewiß nicht. Nun hat aber Philippos gleich nach dem Friedensschlusse, bevor noch Diopeithes den Oberbefehl übernommen hatte und die jetzt im Chersonesos befindlichen Truppen dorthin abgegangen waren, Serrhion und Doriskos in Besitz genommen und aus Serrhion-Teichos und Hieron-Oros die Besatzungen vertrieben, welche euer Feldherr dort hineingelegt. Und welchen Namen verdient dieses Benehmen? Denn den Frieden hatte er doch beschworen. Niemand sage: was hat das zu bedeuten oder was kümmert das unsere Stadt? Denn ob das Kleinigkeiten sind oder ob es euch damals keinen Kummer machte, ist eine Frage, die nicht hierher gehört: ganz gleich aber ist es, ob einer in großen oder in kleinen Dingen seinen Eid und seine Pflicht verletzt. Und wie, indem er jetzt in den Chersonesos, welchen der Perserkönig und die gesamten Hellenen als euer Eigentum anerkannt haben, Kriegsvölker einrücken läßt und seine Absicht Hilfe zu leisten offen erklärt und dies euch schriftlich meldet, was tut er somit? Wohl heißt es, er führe ja nicht Krieg; allein ich bin so weit entfernt, in diesem Benehmen ein Aufrechthalten des mit euch geschlossenen Friedens zu erkennen, daß ich vielmehr das Unternehmen gegen Megara und die Einsetzung der Tyrannen in Euböa und den gegenwärtigen Marsch nach Thrakien und die Intrigen in der Peloponnes, kurz alles was er mit gewaffneter Hand unternimmt, für einen Friedensbruch und eine Kriegserklärung halte, ihr müßtet denn auch diejenigen für friedliche Leute ansehen, welche Belagerungsgeschütz auffahren, so lange sie nur die Mauern noch nicht berennen. Aber das werdet ihr nicht. Denn wer Maßregeln und Anstalten trifft, die meine Sicherheit gefährden, der führt Krieg mit mir, auch wenn er noch nicht losschlägt oder schießt. Wodurch nun würdet ihr in Verlegenheit kommen, wenn es zum offenen Bruche käme? Dadurch, daß der Hellespont für euch verloren sein wird, daß Megara und Euböa in 426
Feindes Hand sind und die Peloponnesier auf seine Seite treten. Und gleichwohl soll ich von ihm, der solch einen Sturm gegen die Stadt heraufführt, noch sagen, daß er Frieden halte? Sicherlich nicht! Vielmehr rechne ich den Beginn der Feindseligkeiten gleich von dem Tage an, wo er die Phoker vernichtete. Euch kann ich erst dann für vernünftige Leute halten, wenn ihr Verteidigungsmaßregeln trefft; schiebt ihr dies aber noch länger auf, so werdet ihr es später auch beim besten Willen nicht mehr können. Ja ich sehe die Sache so ganz von einer anderen Seite an als eure übrigen Ratgeber, Männer von Athen, daß es mir jetzt gar nicht einmal an der Zeit zu sein scheint, über den Chersonesos und Byzanz zu beraten, wiewohl man diese Punkte schützen und gegen Unfälle sichern muß: vielmehr ist es die höchst gefährliche Lage der gesamten Hellenen, welche unsere Beratung in Anspruch nimmt. Ich will euch meine Gründe sagen, warum ich diese Lage für so verzweifelt halte, damit, beurteile ich sie richtig, ihr meiner Ansicht beipflichten und wenigstens auf euer eigenes Heil, wenn nicht auch zugleich auf das der übrigen, bedacht sein, findet ihr aber, daß ich fasele und träume, mir bei meinem Unverstand für jetzt und alle Zukunft euer Vertrauen entziehen mögt. Daß nun Philippos aus einem anfänglich unmächtigen und ärmlichen Zustande zu seiner gegenwärtigen Größe sich erhoben hat und daß die Hellenen voll Mißtrauen und Zwietracht untereinander sind, und daß es weit befremdlicher ist, wie Philippos aus seiner früheren Niedrigkeit zu seiner jetzigen Höhe gelangen konnte, als daß er jetzt, nachdem er so vieles an sich gerissen, auch nach dem übrigen die Hand ausstreckt, und was sich ähnliches mehr noch sagen ließe, alles das will ich übergehen. Allein ich sehe, daß alle Menschen, ihr an der Spitze, Philippos das eben zugestehen, was jederzeit der Gegenstand aller Kriege in Hellas gewesen ist. Und was wäre dies ? Die Freiheit, nach Beliebenzu schalten und zu walten und ohne weiteres ein hellenisches Volk nach dem anderen zu überfallen und auszuplündern und ihre Städte mit Gewalt in Fesseln zu schlagen. Nun habt ihr doch dreiundsiebzig Jahre hindurch an der Spitze der Hellenen gestanden und neunundzwanzig Jahre die Lakedämonier; auch die Thebaner standen in den letzten Zeiten seit der Schlacht bei Leuktra in Ansehn: allein weder euch noch den Thebanern und Lakedämoniern wurde jemals von den Hellenen die Freiheit, nach Belieben zu schalten und zu walten, zugestanden, bewahre, im Gegenteil, da ihr oder vielmehr die damals lebenden Athener mit einigen nicht der Billigkeit gemäß zu verfahren schienen, so glaubten dem alle, selbst die sich über nichts zu beschweren hatten, in Gemeinschaft mit den Ge427
kränkten sich widersetzen zu müssen, und wiederum, da die Lakedämonier, welche an eurer Stelle die Oberhand bekommen hatten, ihre Macht zu mißbrauchen und über die Gebühr an der bestehenden Ordnung zu rütteln begannen, so griffen alle zu den Waffen, auch die Unbeteiligten. Doch warum von anderen reden? Wir selbst und die Lakedämonier, obgleich wir uns einander von Haus aus keine Beleidigung vorzuwerfen hatten, haben gleichwohl um der Kränkungen willen, welche anderen vor unseren Augen zugefügt wurden, die Waffen gegen einander ergreifen zu müssen geglaubt. Und doch ist all das Unrecht, dessen sich die Lakedämonier in den dreißig und unsere Vorfahren in den siebzig Jahren schuldig machten, geringer, Männer von Athen, als der Frevel, den Philippos in nicht ganz dreizehn Jahren, seitdem er emporgekommen ist, an den Hellenen verübt hat, ja kaum der fünfte Teil davon. Ich übergehe Olynthos und Methone und Apollonia und die zweiunddreißig Städte in Thrakien, die er insgesamt mit solcher Grausamkeit zerstörte, daß, wer dorthin kommt, kaum im Stande ist zu sagen, ob die Stellen, wo sie standen, je bewohnt gewesen. Auch die Vertilgung eines so ansehnlichen Volkes, wie die Phoker waren, will ich nicht erwähnen. Aber wie steht es mit den Thessalern? Hat er ihnen nicht ihre Verfassungen und ihre Städte genommen und Tetrarchien eingerichtet, um sie nicht bloß einzeln Stadt für Stadt, sondern auch im Ganzen und Großen unter das Joch zu beugen? Werden ferner nicht die Städte auf Euböa bereits von Tyrannen regiert, und das auf einer Insel so nahe bei Theben und Athen ? Sagt er nicht ausdrücklich in seinen Sendschreiben: »Ich habe Frieden mit denen, die mir gehorchen wollen?« Und nicht bei bloßen Worten läßt er es bewenden, sondern er rückt gegen den Hellespont vor, schon vorher marschierte er auf Ambrakia; Elis, eine so wichtige Stadt in der Peleponnes, hält er besetzt, vor kurzem noch suchte er Megara zu nehmen: kurz weder Hellas noch Barbarenland ist für die Habgier dieses Menschen groß genug. Und wir Hellenen insgesamt sehen und hören dies mit an, ohne zu einer gemeinsamen Beratung darüber zu•sammenzutreten und unseren Unwillen laut werden zu lassen; vielmehr stehen wir Stadt für Stadt so unmächtig und vereinzelt da, daß wir bis auf den heutigen Tag nichts von dem, was unser Vorteil und unsere Pflicht gebietet zu tun, keine Vereinigung, kein Schutz- und Trutzbündnis zustande zu bringen vermögen, sondern es ruhig geschehen lassen, daß der Mensch immer weiter um sich greift, wobei ein jeder, wie es mir scheint, statt auf die Rettung der Hellenen bedacht zu sein, die Zeit, in der ein anderer zu Grunde geht, für baren 428
Gewinn erachtet. Denn darüber täuscht sich niemand, daß Philippos eben so sicher, wie der Anfall eines epidemischen Fiebers oder eines andern ansteckenden Übels, mit der Zeit auch den ergreifen wird, der im Augenblick auch noch so fern davon zu stehen scheint. Ferner wißt ihr ja auch, daß die Kränkungen, welche die Hellenen durch die Lakedämonier oder durch uns erfuhren, wenigstens von Hellas' echten Söhnen ausgingen, und man möchte dies ungefähr so ansehen, wie wenn ein rechtmäßiger Sohn sein ererbtes großes Vermögen nicht zum besten verwaltete, wofür er allerdings Tadel und Zurechtweisung verdiente, ohne daß man jedoch sagen könnte, er handele so als Eindringling und nicht als rechtmäßiger Erbe. Gesetzt aber es wäre ein Sklav oder ein Bastard, der die Verlassenschaft, woran er gar kein Recht hat, verwüstete und vergeudete, um wie viel ärger und empörender würde man solch ein Beginnen finden! Nicht ebenso jedoch beurteilt man Philippos und sein gegenwärtiges Tun, obgleich er weder ein Hellene ist noch irgend etwas mit den Hellenen gemein hat, ja nicht einmal als Barbar aus einem Lande kommt, das man mit Ehren nennen könnte, sondern aus Makedonien, dem Vaterlande aller Schurken, woher man sonst nicht einmal einen tauglichen Sklaven beziehen konnte. Was fehlt nun noch, um die Schmach vollständig zu machen? Nicht genug, daß er hellenische Städte zerstört, führt er nicht auch den Vorsitz bei den Pythien, dem Nationalfest der Hellenen, und schickt, wenn er nicht selbst kommen kann, als Kampfrichter seine Knechte? Schreibt er nicht den Thessalern die Form ihrer Verfassung vor? Schickt er nicht Truppen nach Porthmos, um das Volk von Eretria zu Paaren zu treiben, und wieder andere nach Oreos, um dort den Tyrannen Philistides einzusetzen? Und das alles lassen die Hellenen mit großen Augen über sich ergehen und sehen ruhig zu, gerade wie wenn ein Hagelwetter heraufzieht, wo auch ein jeder verschont zu bleiben wünscht, und doch es keinem einfällt, das Unglück abwenden zu wollen. Allein nicht nur den an ganz Hellas von ihm verübten Frevel, sondern — und das ist das Schmachvollste — auch selbst erlittenes Unrecht läßt man ungeahndet. Überfiel er nicht Ambrakia und Leukas, die Pflanzstädte der Korinther? Schwor er nicht, Naupaktos, das Eigentum der Achäer, den Atolern zu überliefern? Nahm er nicht den Thebanern Echinos? Und zieht er nicht gegenwärtig gegen die Byzantier, unsere Verbündeten, zu Felde? Hat er nicht von unseren Besitzungen, um anderes nicht zu erwähnen, die wichtigste Stadt im Chersonesos, Kardia, inne? Und aller dieser Beleidigungen ungeachtet zaudern wir alle und sind ver429
Demosthenes
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zagt und blicken auf unsere Nachbarn, voll des Mißtrauens gegeneinander, nicht gegen ihn, der unser aller Rechte mit Füßen tritt. Und doch, da er uns alle zusammen schon so frech behandelt, was glaubt ihr, wird er erst tun, wenn er jeden einzeln in seine Gewalt bekommt? Was ist nun Schuld hieran? Denn die Freiheitsliebe der alten Hellenen muß ebensowohl ihren guten Grund gehabt haben als die gegenwärtige knechtische Gesinnung. Vor Zeiten, Männer von Athen, lag in dem Herzen des Volkes ein Etwas, das jetzt freilich verschwunden ist, ein Etwas, das mächtiger war als Persiens Schätze und Hellas den Weg zur Freiheit führte und aus allen Kämpfen zur See und zu Lande siegreich hervorging, mit dessen Verluste aber alles zu Schanden geworden und die gesamten Angelegenheiten der Hellenen in Verfall geraten sind. Und was war dieses Etwas? Daß diejenigen, welche in den Sold herrschsüchtiger oder hinterlistiger Feinde des Vaterlands traten, von allen verabscheut wurden, daß es für die tiefste Schmach galt, der Bestechung überwiesen zu werden, und man über einen solchen die höchste Strafe verhängte. Den rechten Zeitpunkt zum Handeln also, den so oft das Glück dem Sorglosen gegenüber dem Umsichtigen in die Hände spielt, diesen konnte man damals von den Rednern und Feldherren ebensowenig erkaufen als die einträchtige Gesinnung oder das Mißtrauen gegen Tyrannen und Barbaren oder sonst etwas dem ähnliches. Jetzt aber ist alles dies wie eine käufliche Ware vergriffen und das dagegen eingetauscht, was Hellas in unheilbares Verderben gestürzt hat. Und was ist dies? Mißgunst, wenn einer etwas weggeschnappt, Gelächter, wenn er damit prahlt, Haß, wenn einer darüber sich tadelnd äußert, kurz alles was im Gefolge feiler Bestechlichkeit zu sein pflegt. Denn an Schiffen, Mannschaften, Geldern, Vorräten, und an allem, wonach man die Stärke eines Staates schätzen mag, herrscht allerdings jetzt überall ein weit größerer Überfluß als früher, doch wird das alles unbrauchbar und nutzlos und unwirksam durch den schnöden Wucher, der damit getrieben wird. Daß dem so sei, lehrt der Augenschein auch ohne meine Versicherung; daß es aber vor Zeiten damit ganz anders gewesen, das mag nicht nur mein Wort, sondern auch die Urkunde euch beweisen, welche eure Vorfahren auf eine eherne Säule auf der Burg setzen ließen. »Arthmios,« so heißt es da, »des Pythonax Sohn aus Zeleia, soll geächtet sein und ein Feind des Volks der Athener und ihrer Bundesgenossen, er selbst und sein Geschlecht.« Dann folgt der Grund des Urteils: »weil er das Gold, das er von den Medern empfangen, nach 431
der Peloponnes gebracht.« So lautet die Urkunde. Erwägt nun, ich bitte euch, was wohl die Gesinnung und die Meinung der damaligen Athener bei dieser Maßregel gewesen. Einen Mann aus Zeleia, mit Namen Arthmios, einen Knecht des Königs — denn Zeleia ist in Asien gelegen —, den haben sie, weil er im Dienste seines Herrn Gold nach der Peleponnes, nicht einmal nach Athen, gebracht, als ihren
und ihrer Verbündeten Feind erklärt, ihn und sein Geschlecht geächtet. Das ist aber nicht, was man im gewöhnlichen Sinne geächtet nennt — denn was kümmert sich ein Bewohner von Zeleia darum, ob er zu Athen von der Staatsgemeinschaft ausgeschlossen war? —, sondern in dem Falle, wo Klagen auf Mord anzustellen nicht gestattet ist, da sagt das Blutgesetz: »und geächtet soll er sterben.« Es ist also damit gemeint, daß, wer einen von diesen tötet, rein von Blutschuld sei. Sonach glaubten jene für das Wohl der gesamten Hellenen Sorge tragen zu müssen; denn wären sie nicht der Meinung gewesen, so hätte es ihnen gleichgültig sein können, ob jemand diesen oder jenen in der Peloponnes erkaufte und bestach: und so streng züchtigen sie im Betretungsfalle diejenigen, welche Bestechung übten, daß sie ihre Namen auf eine Schandsäule setzen ließen. So konnte es nicht fehlen, daß der Name der Hellenen den Barbaren furchtbar wurde, nicht umgekehrt. Wie ganz anders dagegen ist es jetzt; denn eure Gesinnungen in diesen und anderen Dingen sind nicht mehr dieselben. Von welcher Art aber sind sie? Soll ich es sagen? Erlaubt ihr es und werdet ihr nicht unwillig werden? Der Redner verliest Es ist nun eine abgeschmackte Behauptung, womit man die Stadt zu beruhigen gedenkt, daß Philippos ja noch nicht so mächtig sei, als es einst die Lakedämonier waren, die über alles Land und Meer geboten, mit dem Perserkönige sich verbanden und alles vor sich niederwarfen: gleichwohl h abe die Stadt auch ihnen die Spitze geboten und sei verschont geblieben. Allein wie beinahe alles seitdem so mächtig vorwärts geschritten ist, daß die gegenwärtigen Zustände den vergangenen nicht mehr ähnlich sind, so hat meines Erachtens nichts in so hohem Grade sich verändert und solche Fortschritte gemacht wie das Kriegswesen. Erstlich pflegten damals, wie ich höre, die Lakedämonier wie alle Hellenen nur während der vier oder fünf Monate der schönen Jahreszeit mit einem Haufen schwerbewaffneter Bürger in Feindes Land einzufallen und dann wieder heimzukehren, und dabei verfuhren sie so streng, und ich möchte fast sagen ritterlich, daß ihnen um Geld nichts feil, sondern der Kampf ein ehrlicher und offener war. Jetzt aber ist, wie ihr wohl selbst seht, fast alles dies 432
durch Verrat zu Schanden worden und in offener Feldschlacht wird nichts mehr entschieden. Auch hört ihr, es ist nicht ein Heer schweren Fußvolks, an dessen Spitze Philippos jede beliebige Bewegung ausführt, sondern ein aus Leichtbewaffneten, Reitern, Bogenschützen, Söldnern und anderem Volke zusammengesetztes Heer, das sein Gefolge bildet. Fällt er dann eine Stadt an, deren Bewohner unter sich zerfallen sind und aus Mißtrauen nicht zur Verteidigung ihres Gebietes ausrücken, so läßt er Geschütz auffahren und beginnt die Belagerung — nicht zu gedenken, daß ihm Sommer und Winter gleich ist und er keine Jahreszeit unbenützt verstreichen läßt. Wenn ihr dies alles nun wißt und in Erwägung zieht, so dürft ihr euch nicht den Krieg ins Land spielen lassen, noch auch mit Rücksicht auf die altväterische Weise, auf welche ihr damals gegen die Lakedämonier Krieg führtet, blindlings ins Verderben rennen, sondern ihr müßt bei Zeiten auf eurer Hut sein und solche Maßregeln treffen, daß er sich vom Hause nicht entfernen kann, nicht aber irn offenen Felde mit ihm anbinden. Denn wollen wir nur unsere Schuldigkeit tun, Männer von Athen, so bieten sich uns viele natürliche Vorteile zur Kriegführung dar, wie die Lage seines Reichs, das an vielen Punkten Angriffen und Einfällen offen steht, und vieles andere. Im offenen Kampfe dagegen ist er uns überlegen. Allein mit dieser Einsicht und diesen kriegerischen Maßregeln gegen ihn ist es nicht abgetan, ihr müßt auch aus voller Überzeugung diejenigen eurer Mitbürger hassen lernen, welche zu seinen Gunsten reden, und wohl bedenken, daß es unmöglich ist, die auswärtigen Feinde des Staates zu bewältigen, wenn ihr nicht vorher diejenigen züchtigt, welche hier in unserer eigenen Mitte ihnen dienstbar sind. Doch, mögen mir die Götter helfen, ihr werdet das nicht über euch vermögen, ja ihr geht so weit in eurer Verkehrtheit oder Tollheit oder wie ich es sonst nennen soll — denn häufig beschleicht mich der ängstende Gedanke, daß irgend ein böser Geist euch ins Verderben treibe—, daß ihr aus Übermut, aus Neid, zu eurer Unterhaltung oder aus sonst einem Grunde Menschen, die sich an ihn verkauft (wie denn auch einige von ihnen gar kein Geheimnis daraus machen), zum Reden auffordert und dann eure Freude daran habt, wenn sie gegen andere ehrliche Leute losziehen. Und das wäre, so schlimm es ist, doch wohl noch zu ertragen: allein ihr gestattet ihnen sogar mit größerer Sicherheit aufzutreten als denen, welche es redlich mit euch meinen. Seht nur, welche Gefahren die Bereitwilligkeit, solchen Menschen Gehör zu geben, nach sich zieht. Ich will nur Tatsachen anführen, die euch allen bekannt sind. 433
Zu Olynthos war ein Teil der Regierung Philippos zugetan und ihm in allen Stücken die Hände zu bieten bereit, ein anderer hingegen für die gute Sache und eifrig bemüht, die drohende Knechtschaft von seinen Mitbürgern abzuwenden. Welcher von beiden nun brachte das Vaterland ins Verderben oder welcher war es, der die Reiterei verriet, durch deren Verlust Olynthos zu Grunde ging? Der Anhang des Philippos war es, der ja auch, als die Stadt noch auf eigenen Füßen stand, die Patrioten dermaßen verleumdete und verdächtigte, daß das Volk von Olynthos sogar den Apollonides auszuweisen sich bereden ließ. Und das ist nicht der einzige Ort, wo dieser Unfug jegliches Unheil stiftete, auch in Eretria, wo nach Vertreibung des Plutarchos und seiner Söldner das Volk die Stadt und Porthmos in Besitz genommen hatte, hielt es die eine Partei mit euch, die andere mit Philippos. Da nun die armen unglücklichen Eretrier mehr und mehr der letzteren Gehör gaben, so ließen sie sich zuletzt bewegen, ihre Verteidiger zu verjagen. Da schickte denn ihr Verbündeter Philippos ihnen den Hipponikos mit tausend Lanzen, ließ die Mauern von Porthmos niederreißen und setzte drei Vögte ein, Hipparchos, Automedon und Kleitarchos, und endlich nach zweimaligen Rettungsversuchen vertrieb er sie gar aus dem Lande. Nur ein Beispiel noch von vielen. In Oreos hielt es Philistides mit Philippos, desgleichen Merippos und Sokrates und Thoas und Agapaios, die gegenwärtig die Stadt in ihrer Gewalt haben, und jedermann wußte das; ein gewisser Euphraios aber, der einstmals hier in unserer Mitte weilte, suchte die Unabhängigkeit seiner Mitbürger zu wahren und die drohende Knechtschaft von ihnen abzuwenden. Es würde zu weit führen, wenn ich erzählen wollte, was für Schimpf und Hohn dieser Mann deshalb von dem Volke von Oreos zu erdulden hatte: kurz ein Jahr vor der Einnahme der Stadt klagt er auf Hochverrat gegen Philippos und seine Spießgesellen, da er hinter ihre Schliche gekommen war. Sogleich rottet sich ein Haufen von Leuten zusammen, die von Philippos gedungen waren und unterhalten wurden, und schleppt den Euphraios als einen Aufrührer ins Gefängnis. Das Volk aber, anstatt ihm beizuspringen und jene zu schlagen, zeigte nicht nur keinen Unwillen gegen sie, sondern war auch schadenfroh genug zu sagen, ihm geschehe schon ganz recht daran. Hierauf verfolgte man ganz ungestört den Plan, die Stadt in Philippos Hände zu spielen, und traf dann die nötigen Maßregeln, und wenn auch der eine oder andere aus dem Volke Verdacht schöpfte, so schwiegen sie doch durch die Erinnerung an das Schicksal des Eu 434
phraios eingeschüchtert still. Ja so trostlos war ihre Lage, daß der Größe der über ihnen schwebenden Gefahr ungeachtet niemand eher den Mund zu öffnen wagte, als bis der Feind in Schlachtordnung gegen die Mauern anrückte: da erst stellten sich einige zur Wehr, während andere die Tore öffneten. Auf so schmähliche und schändliche Weise fiel die Stadt. Jetzt aber herrschen die Verräter dort und tyrannisieren die Bürger und lohnen ihnen für ihre damalige Rettung und für ihre Bereitwilligkeit, womit sie zu jeglicher Schändlichkeit gegen Euphraios die Hand geboten hatten, mit Verbannung und Tod. Euphraios aber nahm sich selbst das Leben und bewies so durch die Tat, daß er aus redlichen und uneigennützigen Absichten zum Wohle seiner Mitbürger sich gegen Philippos aufgelehnt hatte. Was war denn nun der Grund, werdet ihr vielleicht verwundert fragen, warum sowohl Olynthier als auch die Eretrier und die Griten es lieber mit den Fürsprechern des Philippos als mit ihren eigenen halten wollten? Dasselbe, wie bei uns, daß nämlich diejenigen, welche zum Besten raten, häufig selbst beim besten Willen euch keine angenehmen Dinge sagen können, indem es hier nur gilt, auf die Rettung des Staates bedacht zu sein, die anderen aber eben durch ihre Liebedienerei dem Philippos in die Hände arbeiten. Verlangten jene das Ausschreiben einer Kriegssteuer, so erklärten diese das für überflüssig; forderten jene Krieg und warnten, ihm zu trauen, so wollten diese Frieden, bis sie sich in seinen Schlingen gefangen hatten; und eben so in allen übrigen Stücken, um nicht jedes einzeln aufzuzählen. Die einen sagten das, womit sie sich angenehm zu machen dachten, die anderen das, wovon sie sich Rettung versprachen. Zuletzt aber ließ man so manches geschehen, nicht sowohl aus Gefälligkeit oder aus Mangel an Einsicht, als vielmehr, da man den Staat verloren gab, um mit dem Strome zu schwimmen. Und dies, beim Zeus und beim Apollon, ich fürchte es, wird euer Schicksal sein, sobald ihr ausfindig gemacht haben werdet, daß euere Zeit vorbei ist. Doch möge es nie dahin mit unserem Staate kommen, Männer von Athen; besser wäre es dann, zehntausendmal zu sterben, als aus Schmeichelei dem Philippos sich gefällig zu erweisen. Einen schönen Lohn fürwahr hat jetzt das Volk von Oreos dafür, daß es sich in die Gewalt der Freunde Philippos' gab und den Euphraios von sich stieß, einen schönen Lohn das Volk von Eretria, daß es eure Gesandten zurückwies und sich in des Kleitarchos Schutz begab: unter Geißelhieben und Folterqualen dienen sie als Knechte. Und wie edelmütig schonte er die OIynthier dafür, daß sie den Lasthenes zum Reiterhauptmann 435
gemacht und den Apollonides vertrieben hatten! Blödsinn ist es und Feigheit, sich mit solchen Hoffnungen zu schmeicheln und, während man bei aller Ratlosigkeit und Pflichtvergessenheit auch noch den Einflüsterungen derer Gehör gibt, die mit dem Feinde einverstanden sind, die Macht des Staates so hoch anzuschlagen, daß man selbst im äußersten Falle sich ungefährdet glaubt. Ebenso unwürdig ist es aber auch, hinterher zu sagen: »Wer hätte auch gedacht, daß es so kommen würde? Sonst hätte man ja nur dies und jenes tun, dies und jenes unterlassen müssen.« Viel würden freilich die Olynthier jetzt von Mitteln zu erzählen wissen, durch deren Anwendung, hätten sie damals sie gekannt, sie ihren Untergang verhütet haben würden, und ebenso die Oriten und die Phoker und die Unterdrückten alle. Allein was hilft ihnen das? So lange ein Fahrzeug, es sei groß oder klein, noch über Wasser ist, so lange müssen auch der Kapitän und der Steuermann und das gesamte Schiffsvolk guten Mutes sein und dafür Sorge tragen, daß niemand es mutwillig oder aus Versehen umstürze: schlägt aber die Flut dariiber weg, so ist alle Mühe vergebens. Auch wir nun, Männer von Athen, so lange wir noch unversehrt und im Besitze einer so ansehnlichen Stadt mit reichen Hilfsquellen und einem glorreichen Namen sind -- was müssen wir tun? Das ist die Frage, die manchem unter euch wohl schon längst auf der Zunge schwebt. Ich will sie euch beantworten und werde auch einen Antrag deshalb stellen, damit ihr, wenn es euch beliebt, darüber abstimmen könnt. Vor allem müssen wir uns selbst zur Wehr und in Verteidigungsstand setzen, indem wir Schiffe und Gelder und Mannschaften aufbringen; denn wenn auch alle anderen sich unter das Joch beugen, so müssen wir wenigstens für die Freiheit kämpfen. Erst wenn wir so vollständig gerüstet dastehen, müssen wir die anderen Staaten aufrufen und Boten aussenden, welche von dieser unserer Rüstung Meldung tun, damit ihr, wenn ihr sie zum Beitritt bewegt, einen Beistand habt, der die Gefahren und nötigenfalls auch die Kosten gemeinschaftlich mit euch trage, wo nicht, doch wenigstens Zeit gewinnen mögt. Denn da wir es nur mit einem einzelnen Manne, nicht mit den vereinten Kräften eines ganzen Staates zu tun haben, so wird auch dies seinen Zweck ebensowenig verfehlen, als es der Fall bei den Gesandtschaften war, welche ich in Gemeinschaft mit dem wackeren Polyeuktos und mit Hegesippos und anderen im vorigen Jahre nach der Peloponnes und Akarnanien unternahm, wodurch wir ihn zum Stehen brachten und ihm den Weg nach Ambrakia sowohl als nach der Peloponnes verlegten. Auf keinen Fall jedoch rate ich, diesen Aufruf zu erlassen, wenn ihr nicht selbst ent436
Das Hephaisteion (»Theseion «) in Athen
schlossen seid, im eigenen Interesse das Nötige zu tun; denn es würde töricht sein, für fremde Interessen sich besorgt zu zeigen, während man sein eigenes preisgibt, und anderen vor den kommenden Gefahren bange zu machen, während man die gegenwärtigen unbeachtet läßt. Im Gegenteil, ich fordere euch auf, dem Heere im Chersonesos Geld zu senden und seine anderweitigen Forderungen zu befriedigen, ferner euch selbst zu rüsten und die übrigen Hellenen aufzubieten, zusammenzutreiben, zu unterweisen und zu ermahnen: so geziemt es einem Staate von dem Range wie der eurige. Erwartet ihr aber, die Bewohner von Chalkis oder die von Eretria würden Hellas retten, ohne daß ihr Hand mit anlegt,so seid ihr im Irrtum; denn sie sind schon zufrieden, wenn sie selbst sich retten können. Nein, das ist eure Sache, eureVorfahren haben dieses Ehrenamt unter zahllosen und schweren Kämpfen errungen und euch als Erbteil hinterlassen. Wenn aber ein jeder die Hände in den Schoß legt, indem er der Erfüllung seiner Wünsche entgegensieht und jegliche eigene Anstrengung von sich abzuwenden sucht, so denke ich erstlich, es wird sich schwerlich ein Stellvertreter für ihn finden, dann aber fürchte ich, daß wir gezwungen sein werden, alles mögliche zu tun, was gegen unsere Wünsche ist. Das ist es, was ich euch mündlich, was ich euch schriftlich rate, und ich glaube, daß, wenn dies geschieht, auch jetzt noch unseren Angelegenheiten aufzuhelfen ist. Hat jemand aber etwas Besseres vorzuschlagen als dies, so lege er es zur Beratung vor, und was ihr auch beschließen werdet, die Götter mögen es zum Heile wenden. 437
DIE PHILOSOPHIE Mit der gleichen offenen und unvoreingenommenen Entdeckerfreude, mit der Herodot die Welt um sich betrachtete, haben die Griechen — wiederum zuerst in Kleinasien und in Unteritalien vor dem Mutterland — auch die »philosophischen« Fragen gestellt: die Frage nach dem Ursprung und dem Werden aller Dinge (Physik und «Metaphysik«), davon abgeleitet die Frage nach dem rechten Verhalten der Menschen zueinander und nach dem »glücklichen Leben« (Ethik) und schließlich die nach der rechten »rationalen« Methode der Forschung (Logik und Dialektik). Denn unzufrieden mit einer bis dahin herrschenden mythologischen »Erklärung«, suchten sie kraft der den Menschen angeborenen oder verliehenen Vernunft (logos) nach einer rationalen Deutung aller Erscheinungen. Diese »Freude an der Erkenntnis« (sophia) nannten sie »Philosophie«. 1. Seit etwa 600 v. Chr. suchten vor allem jonische Philosophen den letzten Ursprung, den Urstoff aller Dinge, entweder in einem der vier »Elemente« (Thales) oder in der Mischung aller zugleich (Empedokles), in den letzten »unteilbaren« Bausteinen der Materie, den »Atomen« (Demokrit), oder in den Zahlenverhältnissen (Pythagoras) oder im »Denkstoff«, dem »nous» (Anaxagoras), der die »Samen der Dinge« zur rechten Ordnung bringt. Sie fragten nach dem einen unwandelbaren »Sein« und betrachteten die Bewegung als bloßen Sinnentrug (Parmenides) oder sie sahen gerade im steten Wechsel der Dinge das ursächliche Prinzip (Heraklit). Aus solchem Boden sind dann auch die griechischen Einzelwissenschaften hervorgegangen : Physik und Mathematik, Biologie und — insbesondere — die Medizin. Diese erreicht auf der Grundlage der »Empirie« (Erfahrung) bald ihren Höhepunkt in Hippokrates von Kos (460-370). 2. Sokrates aus Athen aber »holte«, wie Cicero sagt, «zuerst die Philosophie vom Himmel herab, siedelte sie in den Städten an, führte sie auch in die Häuser ein und zwang sie, über das Leben und die Sitten, über Gut und Böse Nachforschungen anzustellen«, d. h. er begründete die Ethik. Er war bei diesen «Nachforschungen« ein erbitterter Feind aller Scheinweisheit, wie er sie vor allem bei den sogenannten »Sophisten«, den damals »modernen« Aufklärern, vorfand, und war unermüdlich bis zu seinem Ende auf der Suche nach wahrer Erkenntnis. So vorurteilsloses Streben war seinen Zeitgenos438
sen unbequem: darum brachten sie ihn »wegen Gottlosigkeit« vor Gericht und verurteilten ihn zum Tode (399). Platon (427-347 v. Chr.), im Gegensatz zu Sokrates aus altattischem Adel gebürtig, hat den von ihm bewunderten Sokrates (der nichts Schriftliches hinterlassen hatte) erst unsterblich gemacht: als Unterredner in seinen »Dialogen«, vor allem aber in der »Apologie«, der Verteidigungsrede, die Sokrates vor seinen Richtern hielt. Platon vertiefte zugleich die Lehre des Sokrates, indem er um eine letzte Begründung vor allem der Ethik bemüht war, die er in seiner Lehre von den »Ideen« findet, den nur mit dem Auge des Geistes »sichtbaren« Urbildern (»idea« heißt »Schau«) allen Seins. In der »Idee des Guten« sieht er das »Urbild« sittlicher Haltung. Die Methode seines Forschens -ist die »Dialektik«, durch die wir schrittweise in Frage und Antwort bis zu diesen Ideen geführt werden; insoferne diese über die Erfahrung hinausgehen, gehören sie in den Bereich der »Metaphysik«, d. h. zu den Dingen, die »hinter der Physik« stehen (mag dieser Terminus auch nicht von Platon geprägt sein und einen fast zufälligen Ursprung haben). Platon begründet die Philosophenschule der »Akademie«. 3. Aristoteles aus Stageira an der Chalkidike in Mazedonien (384-3 22 y. Chr.) wurde Schüler Platons und danach Begründer einer eigenen Schule, des »Peripatos« . Er hat die jenseits der Erscheinungen stehende Ideenwelt Platons in die Dinge integriert als deren »Entelechie«, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt« (Goethe), durch die die Materie erst Wirklichkeit wird. Er ist auch in seiner Ethik andere, wirklichkeitsnähere Wege gegangen: für ihn ist der Mensch von Hause aus ein »gesellschaftliches Wesen« (zoon politikon) ; sittliche Vollkommenheit erreicht der Mensch deshalb erst im gemeinsamen Leben und seinen Normen, letzten Endes im Staat.
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Aus der Gedankenwelt der Sophistik PR ODI KOS VON KEOS, Herakles am Scheideweg Der weise Prodikos spricht sich in seiner Schrift über Herakles, die er bekanntlich sehr vielen vorträgt, über die Tugend aus und sagt etwa folgendes, soweit ich mich erinnern kann. Er erzählt nämlich: Als Herakles vom Kind zum jungen Mann heranwuchs, in welchem Alter die Jünglinge bereits selbständig werden und offenbaren, ob sie sich für ihr Leben dem Weg der Tugend zuwenden werden oder dem des Lasters, da sei er in die Einsamkeit gegangen und habe sich niedergesetzt und unschlüssig überlegt, welchen von beiden Wegen er einschlagen solle. Und es seien ihm zwei Frauen von großer Gestalt erschienen und auf ihn zugekommen, die eine schön anzusehen und edel in ihrem Wesen, deren Schmuck Reinheit der Haut, Schamhaftigkeit der Augen und Sittsamkeit der Haltung waren, und in weißem Gewande; die andere dagegen wohlgenährt bis zur Fülle und Üppigkeit, die Haut geschminkt, so daß sie sich weißer und rosiger darzustellen schien, als sie war, die Haltung so, daß sie aufrechter zu sein schien als von Natur, die Augen weit geöffnet, und in einem Kleid, in dem ihre jugendlichen Reize besonders vorteilhaft in Erscheinung treten sollten; und sie habe wiederholt sich selbst betrachtet und auch darauf geachtet, ob ein anderer sie anschaue, und oft habe sie nach ihrem Schatten geblickt. Als sie nun näher zu Herakles gekommen waren, da sei die zuerst Genannte in derselben Weise weiter gegangen, die andere dagegen sei vorausgeeilt, um ihr bei Herakles zuvorzukommen, und habe gesprochen: Ich sehe dich, Herakles, unentschlossen, welchen Lebensweg du einschlagen sollst. Wenn du nun mich zur Freundin wählst, dann werde ich dich auf dem angenehmsten und bequemsten Wege geleiten, und keine Lust soll dir unbekannt sein, und von Beschwerden sollst du dagegen dein Leben lang nichts erfahren. Denn vor allem sollst du dich nicht um Kriege und Geschäfte kümmern, sondern du sollst fortwährend überlegen, was du Angenehmes zum Essen oder zum Trinken findest, was dir Freude macht zu sehen oder zu hören, was zu riechen oder zu betasten dir gefällt, mit welchen Jünglingen zu verkehren dir am meisten Genuß bereitet, und wie du am weichsten schlafen und am mühelosesten zu all dem gelangen kannst. Wenn dich aber jemals irgendwie die Sorge beschleichen sollte, es könnte Mangel daran eintreten, so brauchst du nicht zu befürchten, ich würde dich veranlassen, dies durch Anstrengungen und Mühen für Leib und Seele zu beschaffen, sondern was die 440
anderen erarbeiten, das sollst du genießen, indem du nichts zurückweist, woraus man irgendwie Gewinn ziehen kann; denn ich gebe meinen Freunden die Möglichkeit, aus allem Nutzen zu ziehen. Als Herakles dies hörte, fragte er: Wie ist dein Name, Weib? Sie erwiderte: meine Freunde nennen mich Glückseligkeit, die aber, welche mich hassen, geben mir, um mich schlecht zu machen, den Namen Lasterhaftigkeit. Währenddessen war die andere Frau hinzugetreten und sprach: Auch ich komme zu dir, Herakles, ich kenne bereits deine Eltern und dein eigenes Wesen habe ich bei der Erziehung kennengelernt, und daher hoffe ich, wenn du den Weg zu mir wählen solltest, du wirst dich eifrig um das Gute und Heilige bemühen, und ich werde noch viel geehrter und reicher an Gütern in Erscheinung treten. Ich will dich aber nicht durch das Vorgaukeln von Genüssen täuschen, sondern dir wahrheitsgemäß erklären, wie die Götter alles, was es gibt, eingerichtet haben. Denn von dem wirklich Guten und Schönen geben die Götter den Menschen nichts ohne Mühe und Anstrengung, sondern wenn du willst, daß dir die Götter gnädig seien, so mußt du die Götter verehren; wenn du von deinen Freunden geliebt werden willst, so mußt du deinen Freunden Gutes tun; wenn du vorn Staat irgendwie geehrt zu werden wünschest, dann mußt du dem Staat nützen; wenn du von ganz Griechenland wegen deiner Tugend bewundert zu werden verlangst, dann mußt du versuchen, dich um Griechenland verdient zu machen; und willst du, daß die Erde dir reichliche Früchte trage, so mußt du um die Erde dienen; glaubst du, du müssest durch Viehherden reich werden, so mußt du dich um die Viehherden kümmern; reizt es dich, im Kriege groß zu werden, und wünschest du die Macht zu besitzen, deine Freunde zu befreien und deine Feinde zu überwinden, so mußt du auch die Kriegskunst selbst von den Kundigen erlernen wie auch dich in ihrem Gebrauch üben; willst du aber auch körperlich kräftig sein, so mußt du den Körper daran gewöhnen, dem Verstand dienstbar zu sein, und ihn üben unter Mühen und Schweiß. Da schaltete sich, wie Prodikos erzählt, die Lasterhaftigkeit ein und sprach: Merkst du wohl, Herakles, welch schwierigen und langen Weg zur Lebensfreude dir dieses Weib vorschlägt? Ich dagegen werde dich den leichten und kurzen Weg zur Glückseligkeit führen. Und die Tugend sprach : Du Elende, was hast du denn Gutes? Oder was weißt du Angenehmes, wenn du nichts dafür tun willst? Die du auch nicht das Verlangen nach dem Angenehmen abwartest, sondern dich mit allem füllst, ehe du danach Verlangen hast; die du 441
issest, ehe du Hunger hast, und trinkst, ehe du Durst hast; und die du dich, damit du mit Appetit issest, der feinen Kochkunst bedienst; und damit du mit Appetit trinkst, schaffst du kostbare Weine herbei, und im Sommer läufst du herum und suchst Schnee; und damit du angenehm schläfst, schaffst du nicht nur weiche Decken, sondern auch Bettstellen und Schaukelgestelle dafür an; denn nicht nach getaner Arbeit, sondern weil du nichts zu tun hast, verlangst du nach Schlaf ; und die Liebesfreuden erzwingst du, ehe du wirklich danach begehrst, indem du alle Mittel anwendest und Männer wie Frauen gebrauchst; denn so leitest du deine Freunde an, indem du sie des Nachts mißbrauchst, den besten Teil des Tages aber verschlafen läßt. Obwohl auch eine Unsterbliche, bist du aus dem Kreise der Götter verstoßen, und von den guten Menschen wirst du verachtet. Was von allem am angenehmsten zu hören ist, das Lob über sich selbst, das hörst du nicht, und was von allem am angenehmsten anzuschauen ist, das siehst du nicht; denn du hast noch niemals eine von dir selbst vollbrachte gute Tat gesehen. Wer sollte dir irgendwie vertrauen, wenn du etwas sagst? Wer möchte, wenn du etwas benötigst, dir helfen? Oder wer, der noch bei gutem Verstande ist, würde den Mut haben, zur Schar deiner Anhänger zu gehören? In der Jugend sind sie körperlich kraftlos, und im Alter werden sie geistig schwachsinnig, sie, die mühelos, von Salben glänzend, in der Jugend sich ernähren lassen, aber mit Mühe, vor Schmutz starrend, sich durch das Alter schleppen, voll Scham über das, was sie getan haben, und voll Kummer über das, was sie tun müssen, nachdem sie die Annehmlichkeiten der Jugend rasch hinter sich gebracht und sich das Unangenehme für das Alter aufgespart haben. Ich dagegen bin befreundet mit den Göttern, und ich bin befreundet mit den guten Menschen. Kein gutes Werk, sei es ein göttliches oder ein menschliches, kommt ohne mich zur Ausführung. Man ehrt mich über alles bei den Göttern und bei den Menschen, denen dies zukommt; ich bin eine gern gesehene Helferin der Künstler, den Besitzern der Häuser eine getreue Wächterin, den Dienern eine wohlwollende Beschützerin, eine gute Helferin bei der friedlichen Arbeit, eine zuverlässige Bundesgenossin im Kriege, die beste Gefährtin in der Freundschaft. Meine Freunde haben an Speise und Trank ohne besondere Umstände einen angenehmen Genuß; denn sie warten solange, bis sie danach wirklich verlangen. Der Schlaf ist angenehmer für sie als für die Trägen, und sie ärgern sich auch nicht, wenn sie aufstehen müssen, und sie vernachlässigen um deswillen auch nicht die notwendigen Geschäfte. Und die jungen Leute freuen sich über das 442
Lob der Älteren, die Älteren aber freuen sich über die Ehrerbietung der jungen Leute; gern erinnern sie sich auch ihrer früheren Taten, und sie freuen sich ebenso, die gegenwärtigen recht vollbringen zu können, zumal sie durch mich den Göttern freund sind, von ihren Freunden geliebt und in ihrem Vaterlande geehrt werden. Wenn aber das vorausbestimmte Lebensende kommt, dann liegen sie nicht in Vergessenheit ungeehrt da, sondern durch Loblieder gepriesen leben sie in der Erinnerung fort für alle Zeit. Wenn du, Herakles, Sohn rechtschaffener Eltern, dich solchen Mühen unterzogen hast, dann ist es dir möglich, die vollkommene Glückseligkeit zu gewinnen. So etwa schildert Prodikos die Belehrung des Herakles durch die Tugend; allerdings schmückte er seine Gedanken mit noch prächtigeren Worten aus als ich jetzt. Für dich aber, Aristippos, ist es nun wünschenswert, dies zu beherzigen und zu versuchen, auch für die Zukunft deines Lebens zu sorgen.
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Hippokrates von Kos, Medizinische Schriften Der Eid des Arztes Ich schwöre, Apollon, den Arzt, und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen anrufend, daß ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen werde: den, der mich diese Kunst lehrte, meinen Eltern gleich zu achten, mit ihm den Lebensunterhalt zu teilen und ihn, wenn er Not leidet, mitzuversorgen; seine Nachkommen meinen Brüdern gleichzustellen und, wenn sie es wünschen, sie diese Kunst zu lehren ohne Entgelt und ohne Vertrag; Ratschlag und Vorlesung und alle übrige Belehrung meinen und meines Lehrers Söhnen mitzuteilen wie auch den Schülern, die nach ärztlichem Brauch durch den Vertrag gebunden und durch den Eid verpflichtet sind, sonst aber niemandem. Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht. Ich werde niemandem, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten. Auch werde ich nie einer Frau ein Abtreibungsmittel geben. Heilig und rein werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren. Auch werde ich den Blasenstein nicht operieren, sondern es denen überlassen, deren Gewerbe dies ist. Welche Häuser ich betreten werde, ich will zu Nutz und Frommen der Kranken eintreten, mich enthalten jedes willkürlichen Unrechts und jeder anderen Schädigung, auch aller Werke der Wollust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven. Was ich bei der Behandlung sehe oder höre oder auch außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen, werde ich, soweit man es nicht ausplaudern darf, verschweigen und solches als ein Geheimnis betrachten. Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht verletze, möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg zuteil werden und Ruhm bei allen Menschen bis in ewige Zeiten; wenn ich ihn übertrete und meineidig werde, das Gegenteil.
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Aphorismus
Das Leben ist kurz, die Kunst weit, der günstige Augenblick flüchtig, der Versuch trügerisch, die Entscheidung schwierig. Der Arzt muß nicht nur bereit sein, selber seine Pflicht zu tun, er muß sich auch die Mitwirkung des Kranken, der Gehilfen und der Umstände sichern. *
Aufgabe des Arztes ist es:
Was vorausgegangen ist, zu erklären, das Gegenwärtige zu erkennen, das Kommende vorauszusagen. Darin sich üben. Für die Behandlung der Krankheiten gilt zweierlei: nützen, oder doch nicht schaden. Die Heilkunst umfaßt dreierlei: die Erkrankung, den Kranken, den Arzt. Der Arzt ist der Diener der Heilkunst. Der Kranke muß zusammen mit dem Arzte sich gegen die Krankheit wehren. *
Über die sogenannte Heilige Krankheit«, die Epilepsie
Diese Krankheit aber scheint mir um nichts »göttlicher« zu sein als die übrigen, sondern sie hat die gleiche Natur wie die andern Krankheiten, woraus die einzelnen entstehen (im Hinblick auf die natürli-
che Ursache aber sei das Göttliche desselben Ursprungs wie alles andere) ; auch scheint sie mir heilbar zu sein, und zwar nicht weniger als andere, sofern sie sich nicht durch lange Zeit hindurch so eingewachsen hat, daß sie stärker ist als die Heilmittel, die man verschreibt. Ihren Anfang hat sie wie die übrigen Krankheiten in der Vererbung. Denn wenn von einem Phlegmatyp ein Phlegmatyp und von einem Galletyp ein Galletyp abstammt und von einem Phthisiker ein Phthisiker und von einem Milzsüchtigen ein Milzsüchtiger, was hindert da, daß, wo Vater und Mutter von der Krankheit befallen waren, auch eines der Kinder davon befallen werde? Denn der Same kommt von jedem Teil des Körpers, gesund von gesunden, krank von kranken Teilen. Ein weiterer gewichtiger Beweis dafür, daß sie nicht göttlicher ist als die übrigen Krankheiten: die Phlegmatypen bekommen sie infolge ihrer Konstitution, die Galletypen aber befällt sie nicht. Und doch: wäre diese Krankheit göttlicher als die andern, müßte sie alle in gleicher Weise treffen und keinen Unterschied machen zwischen Galle- und Phlegmatyp. Sondern das Gehirn ist die Ursache dieses Leidens wie auch der wichtigsten andern Erkrankungen. Auf welche Weise und bei welcher Veranlassung es auftrete, will ich deutlich machen... 445
Sokrates
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Platon Des Sokrates Verteidigung (Apologie) Was wohl euch, ihr Athener, meine Ankläger angetan haben, weiß ich nicht: ich meinesteils aber hätte ja selbst beinahe über sie meiner selbst vergessen; so überredend haben sie gesprochen. Wiewohl — Wahres, daß ich das Wort heraussage, haben sie gar nichts gesagt. Am meisten aber habe ich eins von ihnen bewundert unter dem Vielen, was sie gelogen, dieses, wo sie sagten, ihr müßtet euch wohl hüten, daß ihr nicht von mir getäuscht würdet, als der ich gar gewaltig wäre im Reden. Denn daß sie sich nicht schämen, sogleich von mir widerlegt zu werden durch die Tat, wenn ich mich nun auch im geringsten nicht gewaltig zeige im Reden, dieses dünkte mich ihr Unverschämtestes zu sein; wofern diese nicht etwa den gewaltig im Reden nennen, der die Wahrheit redet. Denn wenn sie dies meinen, möchte ich mich wohl dazu bekennen, ein Redner zu sein, der sich nicht mit ihnen vergleicht. Diese nämlich, wie ich behaupte, haben gar nichts Wahres geredet; ihr aber sollt von mir die ganze Wahrheit hören. Jedoch, ihr Athener, beim Zeus, keineswegs Reden aus zierlich erlesenen Worten gefällig zusammengeschmückt und aufgeputzt, wie dieser ihre waren, sondern ganz schlicht werdet ihr mich reden hören in ungewählten Worten. Denn ich glaube, was ich sage, ist gerecht, und niemand unter euch erwarte noch sonst etwas! Auch würde es sich ja schlecht ziemen, ihr Männer, in solchem Alter gleich einem Knaben, der Reden ausarbeitet, vor euch hinzutreten. Indes bitte ich euch darum auch noch recht sehr, ihr Athener, und bedinge es mir aus, wenn ihr mich hört mit ähnlichen Reden meine Verteidigung führen, wie ich gewohnt bin, auch auf dem Markt zu reden bei den Wechslertischen, wo die meisten unter euch mich gehört haben, und anderwärts — daß ihr euch nicht verwundert noch mir Getümmel [Lärm] erregt deshalb! Denn so verhält sich die Sache: Jetzt zum erstenmal trete ich vor Gericht, da ich über siebzig Jahre alt bin; ganz ordentlich also bin ich ein Fremdling in der hier üblichen Art zu reden. So wie ihr nun, wenn ich wirklich ein Fremder wäre, mir es nachsehen würdet, daß ich in jener Mundart und Weise redete, worin ich erzogen worden, ebenso erbitte ich mir auch nun dieses Billige, wie mich dünkt, von euch, daß ihr nämlich die Art zu reden übersehet — vielleicht ist sie schlechter, vielleicht auch wohl gar besser — und nur dies erwägt und Acht darauf habt, ob das recht ist oder nicht, was ich sage. Denn dies ist des Richters Tüchtigkeit — des Redners aber, die Wahrheit zu reden. 447
Zuerst nun, ihr Athener, muß ich mich wohl verteidigen gegen das, dessen ich zuerst fälschlich angeklagt bin, und gegen meine ersten Ankläger, und hernach gegen der späteren Späteres. Denn viele Ankläger habe ich längst bei euch gehabt und schon vor vielen Jahren, und die nichts Wahres sagten, welche ich mehr fürchte als den Anytos, obgleich auch der furchtbar ist. Allein jene sind furchtbarer, ihr Männer, welche viele von euch schon als Kinder an sich gelockt und überredet, mich aber ohne Grund beschuldigt haben, als gäbe es einen Sokrates, einen weisen Mann, der den Dingen am Himmel nachgrüble und auch das Unterirdische alles erforscht habe und Unrecht zu Recht mache. Diese, ihr Athener, welche solche Gerüchte verbreitet haben, sind meine furchtbaren Ankläger. Denn die Hörer meinen gar leicht, wer solche Dinge untersuche, glaube auch nicht einmal Götter. Ferner sind auch dieser Ankläger viele, und viele Zeit hindurch haben sie mich verklagt und in dem Alter zu euch geredet, wo ihr wohl sehr leicht glauben mußtet, weil ihr Kinder waget, einige von euch wohl auch Knaben, und offenbar an leerer Stätte klagten sie, wo sich keiner verteidigte. Das Übelste aber ist, daß man nicht einmal ihre Namen wissen und angeben kann, außer etwa, wenn ein Komödienschreiber darunter ist. Die übrigen aber, welche euch gehässig und verleumderisch aufgeredet, und auch die selbst nur überredet andre Oberredenden — diesen allen stehe ich ganz ratlos gegenüber: Denn weder hierher zur Stelle bringen noch ausfragen kann ich irgend einen von ihnen: sondern muß ordentlich wie mit Schatten kämpfen in meiner Verteidigung und ausfragen, ohne daß einer antwortet. Nehmet also auch ihr an, wie ich sage, daß ich zweierlei Ankläger gehabt habe: die einen, die mich eben erst verklagt haben, die andern, die von ehedem, die ich meine; und glaubet, daß ich mich gegen diese zuerst verteidigen muß ! Denn auch ihr habt jenen, als sie klagten, zuerst Gehör gegeben, und weit mehr als diesen späteren. Wohl! Verteidigen muß ich mich also, ihr Athener, und den Versuch machen, eine angeschuldigte Meinung, die ihr seit langer Zeit hegt, each in so sehr kurzer Zeit zu benehmen. Ich wünschte nun zwar wohl, daß dieses so erfolgte, wenn es so besser ist für euch sowohl als für mich, und daß ich etwas gewönne durch meine Verteidigung. Ich glaube aber, dieses ist schwer, und keineswegs entgeht mir, wie es damit steht. Doch dieses gehe nun, wie es Gott genehm ist: mir gebührt, dem Gesetz zu gehorchen und mich zu verteidigen. Rufen wir uns also zurück von Anfang her, was für eine Anschuldigung es doch ist, aus welcher mein übler Ruf entstanden ist, wor448
auf auch Meletos bauend diese Klage gegen mich eingegeben hat. Wohl! Mit was für Reden also verleumdeten mich meine Verleumder? Als wären sie ordentliche Kläger, so muß ich ihre beschworene Klage ablesen: »Sokrates frevelt und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht und Unrecht zu Recht macht und dies auch andere lehrt. « Solcherlei ist sie etwa: denn solcherlei habt ihr selbst gesehen in des Aristophanes Komödie, wo ein Sokrates vorgestellt wird, der sich rühmt, in der Luft zu gehen, und viel andere Albernheiten vorbringt, wovon ich weder viel noch wenig verstehe. Und nicht sage ich dies, um eine solche Wissenschaft zu schmähen, dafern jemand in diesen Dingen weise ist — möchte ich mich doch nicht solcher Anklagen von Meletos zu erwehren haben! —, sondern nur, ihr Athener, weil ich eben an diesen Dingen keinen Teil habe. Und zu Zeugen rufe ich einen großen Teil von euch selbst und fordere euch auf, einander zu berichten und zu erzählen, so viele eurer jemals mich reden gehört haben. Deren aber gibt es viele unter euch. So erzählt euch nun, ob jemals einer unter euch mich viel oder wenig über dergleichen Dinge hat reden gehört! Und hieraus könnt ihr ersehen, daß es ebenso auch mit allem übrigen steht, was die Leute von mir sagen. Aber es ist eben weder hieran etwas, noch auch, wenn ihr etwa von einem gehört habt, ich gäbe mich dafür aus, Menschen zu erziehen, und verdiente Geld damit; auch das ist nicht wahr. Denn auch das scheint mir meinesteils wohl etwas Schönes zu sein, wenn jemand imstande wäre, Menschen zu erziehen, wie Gorgias aus Leontinoi und Prodikos aus Keos und auch Hippias von Elis. Denn diese alle, ihr Männer, verstehen das: in allen Städten umherziehend, überreden sie die Jünglinge, die dort unter ihren Mitbürgern, zu wem sie wollten, sich unentgeltlich halten könnten, mit Hintansetzung jenes Umganges sich, Geld bezahlend, zu ihnen zu halten und ihnen noch Dank dazu zu wissen. Ja, es gibt auch hier noch einen andern Mann, einen Parier, von dessen Aufenthalt ich erfuhr. Ich traf nämlich auf einen Mann, der den Sophisten mehr Geld gezahlt hat als alle übrigen zusammen, Kallias, den Sohn des Hipponikos. Diesen fragte ich also, denn er hat zwei Söhne: »Wenn deine Söhne, Kallias,« sprach ich, »Füllen oder Kälber wären, wußten wir wohl einen Aufseher für sie zu finden oder zu dingen, der sie gut und tüchtig machen würde in der ihnen angemessenen Tugend: es würde nämlich ein Bereiter sein oder ein Landmann; nun sie aber Menschen sind, was für einen Aufseher bist du gesonnen ihnen zu geben? Wer ist wohl in dieser menschlichen und bürgerlichen Tugend ein Sach449
verständiger? Denn ich glaube doch, du hast darüber nachgedacht, da du Söhne hast. Gibt es einen, « sprach ich, »oder nicht?« — »0 freilich,« sagte er. — »Wer doch,« sprach ich, »und von wannen? Und um welchen Preis lehrt er?« — »Euenos, der Parier,« antwortete er, »für fünf Minen«. Da pries ich den Euenos glücklich, wenn er wirklich diese Kunst besäße und so vortrefflich lehrte. Ich also würde gewiß mich recht damit rühmen und großtun, wenn ich dies verstände: aber ich verstehe es eben nicht, ihr Athener. Vielleicht nun möchte jemand von euch einwenden: »Aber, Sokrates, was ist denn also dein Geschäft? Woher sind diese Verleumdungen dir entstanden? Denn gewiß, wenn du nichts Besonderes betriebest vor andern, es würde nicht solcher Ruf und Gerede entstanden sein, wenn du nicht ganz etwas anderes tätest als andere Leute. So sage uns doch, was es ist, damit wir uns nicht aufs Geratewohl unsere eignen Gedanken machen über dich!« Dies dünkt mich mit Recht zu sagen, wer es sagt, und ich will versuchen, euch zu zeigen, was dasjenige ist, was mir den Namen und den üblen Ruf gemacht hat. Höret also, und vielleicht wird manchen von euch bedünken, ich scherzte: glaubet indes sicher, daß ich die reine Wahrheit rede! Ich habe nämlich, ihr Athener, durch nichts anderes als durch eine gewisse Weisheit diesen Namen erlangt. Durch was für eine Weisheit aber? Die eben vielleicht die menschliche Weisheit ist. Denn ich mag in der Tat wohl in dieser weise sein; jene aber, deren ich eben erwähnt, sind vielleicht weise in einer Weisheit, die nicht dem Menschen angemessen ist; oder ich weiß nicht, was ich sagen soll, denn ich verstehe sie nicht, sondern wer das sagt, der lügt es und sagt es mir zur Verleumdung. Und ich bitte euch, ihr Athener, erregt mir kein Getümmel, selbst wenn ich euch etwas vorlaut zu reden dünken sollte! Denn nicht meine Rede ist es, die ich vorbringe; sondern auf einen ganz glaubwürdigen Urheber will ich sie euch zurückführen. Ober meine Weisheit nämlich, ob sie wohl eine ist und was für eine, will ich euch zum Zeugen stellen den Gott in Delphoi. Den Chairephon kennt ihr doch. Dieser war mein Freund von Jugend auf, und auch euer, des Volkes, Freund war er und ist bei dieser letzten Flucht mitgeflohen und mit euch auch zurückgekehrt. Und ihr wißt doch, wie Chairephon war, wie heftig in allem, was er auch beginnen mochte. So auch, als er einst nach Delphoi gegangen war, erkühnte er sich, hierüber ein Orakel zu begehren; nur, wie ich sage, kein Getümmel, ihr Männer! Er fragte also, ob wohl jemand weiser wäre als ich. Da leugnete nun die Pythia, daß jemand weiser wäre. Und hier-
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über kann euch dieser sein Bruder hier Zeugnis ablegen, da jener bereits verstorben ist. Bedenkt nun, weshalb ich dieses sage: Ich will euch nämlich erklären, woher doch die Verleumdung gegen mich entstanden ist. Denn nachdem ich dieses gehört, gedachte ich bei mir also: Was meint doch wohl der Gott? Und was will er etwa andeuten? Denn das bin ich mir doch bewußt, daß ich weder viel noch wenig weise bin. Was meint er also mit der Behauptung, ich sei der Weiseste? Denn lügen wird er doch wohl nicht; das ist ihm ja nicht verstattet. Und lange Zeit konnte ich nicht begreifen, was er meinte; endlich wendete ich mich gar ungern zur Untersuchung der Sache auf folgende Art: Ich ging zu einem von den für weise Gehaltenen, um dort, wenn irgendwo, das Orakel zu überführen und dem Spruch zu zeigen: »Dieser ist doch wohl weiser als ich, du aber hast auf mich ausgesagt. « Indem ich nun diesen beschaute -- denn ihn mit Namen zu nennen ist nicht nötig; es war aber einer von den Staatsmännern, auf welchen schauend es mir folgendergestalt erging, ihr Athener: Im Gespräch mit ihm schien mir dieser Mann zwar vielen andern Menschen auch, am meisten aber sich selbst sehr weise vorzukommen, es zu sein aber gar nicht. Darauf nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar weise zu sein, wäre es aber nicht; wodurch ich dann ihm selbst verhaßt ward und vielen der Anwesenden. Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst: weiser als dieser Mann bin ich nun freilich. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen. Hierauf ging ich dann zu einem andern von den für noch weiser als jener Geltenden, und es dünkte mich eben dasselbe, und ich wurde dadurch ihm selbst sowohl als vielen andern verhaßt. Nach diesem nun ging ich schon nach der Reihe, bemerkend freilich und bedauernd und auch in Furcht darüber, daß ich mich verhaßt machte; doch aber dünkte es mich notwendig, des Gottes Sache über alles andere zu setzen; und so mußte ich denn gehen, immer dem Orakel nachdenkend, was es wohl meine, zu allen, welche dafür galten, etwas zu wissen. Und beim Hunde, ihr Athener, denn ich muß die Wahrheit zu euch reden, wahrlich, es erging mir so: Die Berühmtesten dünkten mich beinahe die Armseligsten zu sein, wenn ich es dem Gott zufolge untersuchte, andere minder Geachtete aber noch eher für vernünftig gelten zu können. Ich muß euch wohl mein ganzes Aben451
teuer berichten, mit was für Arbeiten gleichsam ich mich gequält habe, damit das Orakel mir ja ungetadelt bliebe. Nach den Staatsmännern nämlich ging ich zu den Dichtern, den tragischen sowohl als den dithyrambischen und den übrigen, um dort mich selbst auf der Tat zu ergreifen als unwissender denn sie. Von ihren Gedichten also diejenigen vornehmend, welche sie mir am vorzüglichsten schienen ausgearbeitet zu haben, fragte ich sie aus, was sie wohl damit meinten, auf daß ich auch zugleich etwas lernte von ihnen. Schämen muß ich mich nun freilich, ihr Männer, euch die Wahrheit zu sagen: dennoch soll sie gesagt werden. Um es nämlich geradeheraus zu sagen, fast sprachen alle Anwesenden besser als sie selbst über das, was sie gedichtet hatten. Ich erfuhr also auch von den Dichtern in kurzem dieses, daß sie nicht durch Weisheit dichteten, was sie dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen: ebenso nun schien es mir auch den Dichtern zu ergehen. Und zugleich merkte ich, daß sie glaubten, um ihrer Dichtung willen auch in allem übrigen sehr weise Männer zu sein, worin sie es nicht waren. Fort ging ich also auch von ihnen mit dem Glauben, sie um das nämliche zu übertreffen wie auch die Staatsmänner. Zum Schluß nun ging ich auch zu den Handarbeitern. Denn von mir selbst wußte ich, daß ich gar nichts weiß, um es geradeheraus zu sagen; von diesen aber wußte ich doch, daß ich sie vielerlei Schönes wissend finden würde. Und darin betrog ich mich nun auch nicht; sondern sie wußten wirklich, was ich nicht wußte, und waren insofern weiser. Aber, ihr Athener, denselben Fehler wie die Dichter, dünkte mich, hatten auch diese trefflichen Meister: Weil er seine Kunst gründlich erlernt hatte, wollte jeder auch in den andern wichtigsten Dingen sehr weise sein; und diese ihre Torheit verdeckte jene ihre Weisheit. So daß ich mich selbst auch befragte im Namen des Orakels, welches ich wohl lieber möchte: so sein, wie ich war, gar nichts verstehend von ihrer Weisheit, aber auch nicht behaftet mit ihrem Unverstande— oder aber in beiden Stücken so sein wie sie. Da antwortete ich denn mir selbst und dem Orakel, es wäre mir besser, so zu sein, wie ich war. Aus dieser Nachforschung also, ihr Athener, sind mir viele Feindschaften entstanden, und zwar die beschwerlichsten und lästigsten, so daß viel Verleumdung daraus entstand und auch der Name, daß es hieß, ich wäre ein Weiser. Es glauben nämlich jedesmal die Anwesenden, ich verstände mich selbst darauf, worin ich einen andern zu 452
schanden mache. Es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein und mit diesem Orakel dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts, und offenbar nicht dies vom Sokrates zu sagen, sondern nur, mich zum Beispiel erwählend, sich meines Namens zu bedienen, wie wenn er sagte: »Unter euch, ihr Menschen, ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt«. Dieses nun, nach des Gottes Anweisung zu untersuchen und zu erforschen, gehe ich auch jetzt noch umher, wo ich nur einen für weise halte von Bürgern und Fremden; und wenn er es mir nicht zu sein scheint, so helfe ich dem Gotte und zeige ihm, daß er nicht weise ist. Und über diesem Geschäft habe ich nicht Muße gehabt, weder in den Angelegenheiten der Stadt etwas der Rede Wertes zu leisten, noch auch in meinen häuslichen; sondern in tausendfältiger Armut lebe ich wegen dieses dem Gott geleisteten Dienstes. Überdies aber folgen mir die Jünglinge, welche die meiste Muße haben, der reichsten Bürger Söhne also, freiwillig und freuen sich zu hören, wie die Menschen untersucht werden; oft auch tun sie es mir nach und versuchen selbst, andere zu untersuchen, und finden dann, glaube ich, eine große Menge solcher Menschen, welche zwar glauben, etwas zu wissen, wirklich aber wenig wissen oder nichts. Deshalb nun zürnen die von ihnen Untersuchten mir und nicht ihnen und sagen: »Sokrates ist doch ein ganz ruchloser Mensch und verdirbt die Jünglinge». Und wenn sie jemand fragt: »Was doch treibt er und was lehrt er sie?» — so haben sie freilich nichts zu sagen, weil sie nichts wissen; um aber nicht verlegen zu erscheinen, sagen sie dies, was gegen alle Freunde der Wissenschaft bei der Hand ist: die Dinge am Himmel und unter der Erde, und keine Götter glauben, und Unrecht zu Recht machen. Denn die Wahrheit, denke ich, möchten sie nicht sagen wollen, daß sie nämlich offenbar werden als solche, die zwar vorgeben, etwas zu wissen, in Wirklichkeit aber nichts wissen. Weil sie nun, denke ich, ehrgeizig sind und heftig und ihrer viele, welche einverstanden miteinander und sehr scheinbar von mir reden, so haben sie schon lange und gewaltig mit Verleumdungen euch die Ohren angefüllt. Aus diesen sind Meletos gegen mich aufgestanden und Anytos und Lykon; Meletos mir der Dichter wegen aufsässig, Anytos wegen der Handarbeiter und Staatsmänner, Lykon aber wegen der Redner. So daß, wie ich auch gleich anfangs sagte, ich mich wundern müßte, wenn ich imstande wäre, in so kurzer Zeit diese so sehr oft wiederholte Verleumdung euch auszureden. Dieses, ihr Athener, ist euch die Wahrheit: ohne weder Klei4S3
nes noch Großes verhehlt oder entrückt zu haben, sage ich sie euch — wiewohl ich fast weiß, daß ich eben deshalb verhaßt bin. Was eben ein Beweis ist, daß ich die Wahrheit rede, und daß dieses mein übler Ruf ist und dies die Ursachen davon sind. Und wenn ihr, sei es nun jetzt oder in der Folge, die Sache untersucht, werdet ihr es so finden. Gegen das nun, was meine ersten Ankläger geklagt haben, sei diese Verteidigung hinlänglich vor euch. Gegen Meletos aber, den guten und vaterlandsliebenden, wie er ja sagt, und gegen die späteren will ich hiernächst versuchen, mich zu verteidigen. Wiederum also laßt uns, wie sie denn andere Ankläger sind, nun auch ihre beschworene Klage vornehmen. Sie lautet aber etwa so: Sokrates, sagt er, frevle, indem er die Jugend verderbe und die Götter, welche der Staat annimmt, nicht annehme, sondern Anderes, Neues, Daimonisches. Das ist die Beschuldigung, und von dieser Beschuldigung wollen wir nun jedes einzelne untersuchen. Er sagt also, ich frevle durch Verderb der Jugend. Ich aber, ihr Athener, sage, Meletos frevelt, in-
dem er mit ernsthaften Dingen Scherz treibt und leichtsinnig Menschen aufs Leben anklagt und sich eifrig und besorgt anstellt für Gegenstände, um die doch dieser Mann sich nie im geringsten bekümmert hat. Daß sich aber dies so verhalte, will ich versuchen, auch euch zu zeigen. Her also zu mir, Meletos, und sprich! Nicht wahr, dir ist das sehr wichtig, daß die Jugend aufs beste gedeihe? — Mir freilich. — So komm also und sage diesen, wer sie denn besser macht? Denn offenbar weißt du es doch, da es dir so angelegen ist. Denn den Verderber hast du wohl aufgefunden, mich, wie du behauptest, und vor diese hergeführt und verklagt: so komm denn und nenne ihnen auch den Besserer und zeige an, wer es ist! Siehst du, o Meletos, wie du schweigst und nichts zu sagen weißt? Dünkt dich denn das nicht schändlich zu sein und Beweis genug für das, was ich sage, daß du dich hierum nie gekümmert hast? So sage doch, du Guter, wer macht sie besser? — Die Gesetze. — Aber danach frage ich nicht, Bester, sondern welcher Mensch, der freilich diese zuvor auch kennt, die Gesetze. — Diese hier, o Sokrates, die Richter. — Was sagst du, o Meletos ? Diese hier sind imstande, die Jugend zu bilden und besser zu machen? — Ganz gewiß. — Etwa alle? Oder einige nur von ihnen, andere aber nicht? — Alle. — Herrlich, bei der Hera gesprochen, und ein großer Reichtum von solchen, die uns im Guten fördern! Wie aber, machen auch diese Zuhörer sie besser oder nicht? — Auch diese. — Und wie die Ratsherren? — Auch die Ratsherren. — Aber, o Meletos, verderben nicht etwa die in der Volksgemeinde, die Mitglieder der 454
Volksgemeinde, die Jugend? Oder machen auch diese alle sie besser? — Auch diese. — Alle Athener also machen sie, wie es scheint, gut und edel, mich ausgenommen; ich aber allein verderbe sie. Meinst du es so? — Allerdings, gar sehr meine ich es so. — in eine große Unseligkeit verdammst du mich also! Antworte mir aber: Dünkt es dich mit den Pferden auch so zu stehen, daß alle Menschen sie bessern und nur einer sie verdirbt? Oder ist nicht ganz im Gegenteil nur einer geschickt, sie zu bessern, oder wenige, die Bereiter — die meisten aber, wenn sie mit Pferden umgehen und sie gebrauchen, verderben sie? Verhält es sich nicht so, Meletos, bei Pferden und allen andern Tieren? Allerdings so, du und Anytos mögen es nun leugnen oder zugeben. Gar glückselig stände es freilich um die Jugend, wenn einer allein sie verdürbe, die andern aber alle sie zum Guten förderten. Aber, Meletos, du zeigst eben hinlänglich, daß du niemals an die Jugend gedacht hast, und offenbarst deutlich deine Gleichgültigkeit, daß du dich nie um das bekümmert hast, weshalb du mich hierher forderst. Weiter, sage uns doch beim Zeus, Meletos, ob es besser ist, unter guten Bürgern wohnen oder unter schlechten? Lieber Freund, antworte doch! Ich frage dich ja nichts Schweres. Tun die Schlechten nicht allemal denen etwas Übles, die ihnen jedesmal am nächsten sind, die Guten aber etwas Gutes? — Allerdings. — Ist also wohl jemand, der von denen, mit welchen er umgeht, lieber will geschädigt sein als gefördert? Antworte mir, du Guter! Denn das Gesetz befiehlt dir zu antworten. Will wohl jemand geschädigt werden? — Wohl nicht. — Wohlan denn, forderst du mich hierher als Verderber und Verschlimmerer der Jugend, so daß ich es vorsätzlich sein soll oder unvorsätzlich? — Vorsätzlich, meine ich. — Wie doch, o Meletos, so viel bist du weiser in deinem Alter als ich in dem meinigen, daß du zwar einsiehst, wie die Schlechten allemal denen Übles zufügen, die ihnen am nächsten sind, die Guten aber Gutes, ich aber es so weit gebracht habe im Unverstande, daß ich auch das nicht einmal weiß, wie ich, wenn ich einen von meinen Nächsten schlecht mache, selbst Gefahr laufe, Übles von ihm zu erdulden, so daß ich mir dieses große Übel vorsätzlich anrichte, wie du sagst? Das glaube ich dir nicht, Meletos, ich meine aber auch, kein anderer Mensch glaubt es dir; sondern entweder ich verderbe sie gar nicht, oder ich verderbe sie unvorsätzlich, so daß du doch in beiden Fällen lügst. Verderbe ich sie aber unvorsätzlich, so ist es nicht gesetzlich, jemand unvorsätzlicher Vergehungen wegen hierher zu fordern, sondern ihn für sich allein zu nehmen und so zu belehren und zu ermahnen. Denn 455
offenbar ist, daß, wenn ich belehrt bin, ich aufhören werde mit dem, was ich unvorsätzlich tue. Dich aber mit mir einzulassen und mich zu belehren, das hast du vermieden und nicht gewollt: sondern hierher forderst du mich, wohin gesetzlich ist, nur die zu fordern, welche der Züchtigung bedürfen und nicht der Belehrung. Doch, ihr Athener, das ist wohl schon offenbar, was ich sagte, daß sich Meletos um diese Sache nie weder viel noch wenig bekümmert hat! Indes aber sage uns, Meletos, auf welche Art du denn behauptest, daß ich die Jugend verderbe? Oder offenbar nach deiner Klage, die du eingegeben, indem ich lehre, die Götter nicht zu glauben, welche der Staat glaubt, sondern allerlei Neues, Daimonisches. Ist das nicht deine Meinung, daß ich sie durch solche Lehre verderbe? — Freilich, gar sehr ist das meine Meinung. — Nun dann, bei eben diesen Göttern, o Meletos, von denen jetzt die Rede ist, sprich noch deutlicher mit mir und mit diesen Männern hier! Denn ich kann nicht verstehen, ob du meinst, ich lehre zu glauben, daß es gewisse Götter gäbe, so daß ich also doch selbst Götter glaube — und nicht ganz und gar gottlos bin noch also hierdurch frevle, — nur jedoch die nicht, die der Staat glaubt, und ob du mich deshalb verklagst, daß ich andere glaube: oder ob du meinst, ich selbst glaube überall gar keine Götter und lehre dies auch andere? — Dieses meine ich, daß du überall gar keine Götter glaubst. —O wunderlicher Meletos! Wie kommst du doch darauf, dies zu meinen? Halte ich also auch weder Sonne noch Mond für Götter, wie die übrigen Menschen? — Nein, beim Zeus, ihr Richter! Denn die Sonne, behauptet er, sei ein Stein, und der Mond sei Erde. — Du glaubst wohl, den Anaxagoras anzuklagen, lieber Meletos? und denkst so gering von diesen und hältst sie für so unerfahren in Schriften, daß sie nicht wüßten, wie des Anaxagoras aus Klazomenai Schriften voll sind von dergleichen Sätzen? Und also auch die jungen Leute lernen wohl das von mir, was sie sich manchmal für höchstens eine Drachme in der Orchestra kaufen, um dann den Sokrates auslachen zu können, wenn er für sein ausgibt, was überdies noch so sehr ungereimt ist? Also, beim Zeus, so ganz dünke ich dich, gar keinen Gott zu glauben? — Nein, eben beim Zeus, auch nicht im mindesten. -- Du glaubst wenig genug, o Meletos, jedoch, wie mich dünkt, auch dir selbst. Denn mich dünkt dieser Mann, ihr Athener, ungemein übermütig und ausgelassen, und ordentlich aus Übermut und Ausgelassenheit diese Klage wie einen Jugendstreich angestellt zu haben. Denn es sieht aus, als habe er ein Rätsel ausgesonnen und wollte nun versuchen: »Ob wohl der weise Sokrates merken wird, wie ich Scherz treibe und mir selbst widerspreche in 4s6
meinen Reden, oder ob ich ihn und die andern, welche zuhören, hintergehen werde?« Denn dieser scheint mir ganz offenbar sich selbst zu widersprechen in seiner Anklage, als ob er sagte: »Sokrates frevelt, indem er keine Götter glaubt, sondern Götter glaubt«, wiewohl einer das doch nur im Scherz sagen kann! Erwägt aber mit mir, ihr Männer, warum ich finde, daß er dies sagt! Du aber antworte uns, o Meletos! Ihr aber, was ich euch von Anfang an gebeten habe, denkt wohl daran, mir kein Getümmel zu erregen, wenn ich auf meine gewohnte Weise die Sache führe! Gibt es wohl einen Menschen, o Meletos, welcher, daß es menschliche Dinge gebe, zwar glaubt, Menschen aber nicht glaubt? Er soll antworten, ihr Männer, und nicht anderes und anderes Getümmel treiben! Gibt es einen, der zwar keine Pferde glaubt, aber doch Dinge von Pferden? Oder zwar keine Flötenspieler glaubt, aber doch Dinge von Flötenspielern? Nein, es gibt keinen, bester Mann; wenn du doch nicht antworten willst, will ich es dir und den übrigen hier sagen. Aber das nächste beantworte: Gibt es einen, welcher zwar, daß es daimonische Dinge gebe, glaubt, Daimonen aber nicht glaubt? — Es gibt keinen. — Wie bin ich dir verbunden, daß du endlich, von diesen gezwungen, geantwortet hast! Daimonisches nun behauptest du, daß ich glaube und lehre, sei es nun neues oder altes, also Daimonisches glaube ich doch immer nach deiner Rede? Und das hast du ja selbst beschworen in der Anklageschrift. Wenn ich aber Daimonisches glaube, so muß ich doch ganz notwendig auch Daimonen glauben. Ist es nicht so? Wohl ist es so! Denn ich nehme an, daß du einstimmst, da du ja nicht antwortest. Und die Daimonen, halten wir die nicht für Götter entweder, oder doch für Söhne von Göttern? Sagst du ja oder nein? — Ja, freilich. — Wenn ich also Daimonen glaube, wie du sagst, und die Daimonen sind selbst Götter, das wäre ja ganz das, was ich sage, daß du Rätsel vorbringst und scherzest, wenn du mich, der ich keine Götter glauben soll, hernach doch wieder Götter glauben läßt, da ich ja Daimonen glaube. Wenn aber wiederum die Daimonen Kinder der Götter sind, unechte von Nymphen oder andern, denen sie ja auch zugeschrieben werden: welcher Mensch könnte dann wohl glauben, daß es Kinder der Götter gäbe, Götter aber nicht? Ebenso ungereimt wäre das ja, als wenn jemand glauben wollte, Kinder gebe es wohl von Pferden und Eseln, Maulesel nämlich, daß es aber Esel und Pferde gäbe, wollte er nicht glauben. Also, Meletos, es kann nicht anders sein, als daß du entweder, um uns zu versuchen, diese Klage angestellt hast, oder in gänzlicher Verlegenheit, was für ein wahres Verbrechen du mir wohl vor457
werfen könntest. Wie du aber irgend einen Menschen, der auch nur ganz wenig Verstand hat, überreden willst, daß ein und derselbe Mensch Daimonisches und Göttliches glaubt, und wiederum derselbe doch auch weder Daimonen, noch Götter, noch Heroen glaubt — das ist doch auf keine Weise zu ersinnen. Jedoch, ihr Athener, daß ich nicht strafbar bin in Beziehung auf die Anklage des Meletos, darüber scheint mir keine große Verteidigung nötig zu sein, sondern schon dieses ist genug. Was ich aber bereits im vorigen sagte, daß ich bei vielen gar viel verhaßt bin — wißt nur, das ist wahr! Und das ist es auch, dem ich unterliegen werde, wenn ich unterliege, nicht dem Meletos, nicht dem Anytos, sondern dem üblen Ruf und dem Haß der Menge, dem auch schon viele andere treffliche Männer unterliegen mußten und, glaube ich, noch ferner unterliegen werden, und es ist wohl nicht zu besorgen, daß er bei mir sollte stehenbleiben. Vielleicht aber möchte einer sagen: »Aber schämst du dich denn nicht, Sokrates, daß du dich mit solchen Dingen befaßt hast, die dich nun in Gefahr bringen zu sterben?« Ich nun würde diesem die gerechte Rede entgegnen: Nicht gut sprichst du, lieber Mensch, wenn du glaubst, Gefahr um Leben und Tod müsse in Anschlag bringen, wer auch nur ein weniges nutz ist, und müsse nicht vielmehr allein darauf sehen, wenn er etwas tut, ob es recht getan ist oder unrecht, ob eines rechtschaffenen Mannes Tat oder eines schlechten. Denn Elende wären ja nach deiner Rede die Halbgötter gewesen, welche vor Troia geendet haben, und vorzüglich vor andern der Sohn der Thetis, welcher, ehe er etwas Schändliches ertragen wollte, die Gefahr so sehr verachtete, daß -- obgleich seine Mutter, die Göttin, als er sich aufmachte, den Hektor zu töten, ihm so ungefähr, wie ich glaube, zuredete: »Wenn du, Sohn, den Tod deines Freundes Patroklos rächest und den Hektor tötest, so mußt du selbst sterben; — denn«, sagt sie, »alsbald nach Hektor ist dir dein Ende geordnet«, er dennoch, dieses hörend, den Tod und die Gefahr gering achtete und weit mehr das fürchtend, als ein schlechter Mann zu leben und die Freunde nicht zu rächen, ihr antwortete: »Möcht' ich sogleich hinsterben, nachdem ich den Beleidiger gestraft, und nicht verlacht hier sitzen an den Schiffen, umsonst die Erde belastend!« Meinst du etwa, der habe sich um Tod und Gefahr bekümmert? Denn so, ihr Athener, verhält es sich in der Tat: Wohin jemand sich selbst stellt, in der Meinung, es sei da am besten, oder wohin einer von seinen Obern gestellt wird, da muß er, wie mich dünkt, jede Gefahr aushalten und 458
weder den Tod noch sonst irgend etwas in Anschlag bringen gegen die Schande. Ich also hätte Arges getan, ihr Athener, wenn ich — als die Befehlshaber mir einen Platz anwiesen, die ihr gewählt hattet, um über mich zu befehlen bei Potidaia, bei Amphipolis und Delion — damals also, wo jene mich hinstellten, gestanden hätte wie irgend ein anderer und es auf den Tod gewagt; wo aber der Gott mich hinstellte, wie ich es doch glaubte und annahm, damit ich in Aufsuchung der Weisheit mein Leben hinbrächte und in Prüfung meiner selbst und anderer, wenn ich da, den Tod oder irgend etwas fürchtend, aus der Ordnung gewichen wäre! Arg wäre das, und dann in Wahrheit könnte mich einer mit Recht hierher führen vor Gericht, weil ich nicht an die Götter glaubte, wenn ich dem Orakel unfolgsam wäre und den Tod fürchtete und mich weise dünkte, ohne es zu sein. Denn den Tod fürchten, ihr Männer, das ist nichts anderes, als sich dünken, man wäre weise, und es doch nicht sein. Denn es ist ein Dünkel, etwas zu wissen, was man nicht weiß. Denn niemand weiß, was der Tod ist, nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern. Sie fürchten ihn aber, als wüßten sie gewiß, daß er das größte Übel ist. Und wie wäre dies nicht eben derselbe verrufene Unverstand, die Einbildung, etwas zu wissen, was man nicht weiß! Ich nun, ihr Athener, übertreffe vielleicht um dasselbe auch hierin die meisten Menschen. Und wollte ich behaupten, daß ich um irgend etwas weiser wäre, so wäre es um dieses, daß, da ich nichts ordentlich weiß von den Dingen in der Unterwelt, ich es auch nicht glaube zu wissen ; gesetzwidrig handeln aber und dem Besseren, Gott oder Mensch, ungehorsam sein — davon weiß ich, daß es übel und schändlich ist. Im Vergleich also mit den Übeln, die ich als Übel kenne, werde ich niemals das, wovon ich nicht weiß, ob es nicht ein Gut ist, fürchten oder fliehen. So daß, wenn ihr mich jetzt lossprecht, ohne dem Anytos zu folgen, welcher sagt, entweder sollte ich gar nicht hierher gekommen sein, oder, nachdem ich einmal hier wäre, sei es ganz unmöglich, mich nicht hinzurichten, indem er euch vorstellt, wenn ich nun durchkäme, dann erst würden eure Söhne sich dessen recht befleißigen, was Sokrates lehrt, und alle ganz und gar verderbt werden; wenn ihr mir hierauf sagtet: »Jetzt, Sokrates, wollen wir zwar dem Anytos nicht folgen, sondern wir lassen dich los unter der Bedingung jedoch, daß du diese Nachforschung nicht mehr betreibst und nicht mehr nach Weisheit suchst; wirst du aber noch einmal betroffen, daß du dies tust, so mußt du sterben« — wenn ihr mich also wie gesagt auf diese Bedingung losgeben wolltet, so würde 459
ich zu euch sprechen: Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zurechtzuweisen, wen von euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden: »Wie, bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre — für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken?« Und wenn jemand unter euch dies leugnet und behauptet, er denke wohl darauf, werde ich ihn nicht gleich loslassen und fortgehen, sondern ihn fragen und prüfen und ausforschen. Und wenn mich dünkt, er besitze keine Tugend, behaupte es aber, so werde ich es ihm verweisen, daß er das Wichtigste geringer achtet und das Schlechtere höher. So werde ich mit Jungen und Alten, wie ich sie eben treffe, verfahren und mit Fremden und Bürgern, um so viel mehr aber mit euch Bürgern, als ihr mir näher verwandt seid. Denn so, wißt nur, befiehlt es der Gott. Und ich meinesteils glaube, daß noch nie größeres Gut dem Staate widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem Gott leiste. Denn nichts anderes tue ich, als daß ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele, daß diese aufs beste gedeihe, zeigend, wie nicht aus dem Reichtum die Tugend entsteht, sondern aus der Tugend der Reichtum und alle andern menschlichen Güter insgesamt, eigentümliche und gemeinschaftliche. Wenn ich nun durch solche Reden die Jugend verderbe, so müßten sie ja schädlich sein; wenn aber jemand sagt, ich rede etwas anderes als dies, der sagt nichts. Demgemäß nun, würde ich sagen, ihr athenischen Männer — gehorcht nun dem Anytos oder nicht, sprecht mich los oder nicht —, daß ich auf keinen Fall anders handeln werde, und müßte ich noch so oft sterben! Kein Getümmel, ihr Athener, sondern harret mir aus bei dem, was ich euch gebeten: mir nicht zu toben über das, was ich sage, sondern zu hören! Auch wird es euch, glaube ich, heilsam sein, wenn ihres hört. Denn ich bin im Begriff, euch noch manches andere zu sagen, worüber ihr vielleicht schreien möchtet; aber keineswegs tut das! Denn wißt nur: Wenn ihr mich tötet, einen solchen Mann, wie ich sage, so werdet ihr mir nicht größer Leid zufügen als euch selbst. Denn Leid zufügen wird mir weder Meletos noch Anytos im minde460
sten. Sie könnten es auch nicht; denn es ist, glaube ich, nicht in der Ordnung, daß dem besseren Manne von dem schlechteren Leides geschehe. Töten freilich kann mich einer, oder vertreiben oder des Bürgerrechts berauben. Allein dies hält dieser vielleicht und sonst mancher für große Übel, ich aber gar nicht; sondern weit mehr, dergleichen tun, wie dieser jetzt tut: einen andern widerrechtlich suchen hinzurichten. Daher bin ich auch jetzt, ihr Athener, weit entfernt, um meiner selbst willen mich zu verteidigen, wie einer wohl denken könnte, sondern um euretwillen, damit ihr nicht gegen des Gottes Gabe an euch etwas sündiget durch meine Verurteilung. Denn wenn ihr mich hinrichtet, werdet ihr nicht leicht einen andern solchen finden, der ordentlich, sollte es auch lächerlich gesagt scheinen, von dem Gotte der Stadt beigegeben ist, wie einem großen und edlen Rosse, das aber eben seiner Größe wegen sich zur Trägheit neigt und der Anreizung durch den Sporn bedarf, wie mich der Gott dem Staate als einen solchen zugelegt zu haben scheint, der ich auch euch einzeln anzuregen, zu überreden und zu verweisen den ganzen Tag nicht aufhöre, überall euch anliegend. } in .anderer solcher nun wird euch nicht leicht wieder werden, ihr Manner. Wenn ihr also mir folgen wollt, werdet ihr meiner schonen. Ihr aber werdet vielleicht verdrießlich, wie die Schlummernden, wenn man sie aufweckt, um euch stoßen und mich, dem Anytos folgend, leichtsinnig hinrichten, dann aber das übrige Leben weiter fort schlafen, wenn euch nicht der Gott wieder einen andern zuschickt aus Erbarmen. Daß ich aber ein solcher bin, der wohl von dem Gotte der Stadt mag geschenkt sein, das könnt ihr hieraus abnehmen: Denn nicht wie etwas Menschliches sieht es aus, daß ich das Meinige samt und sonders versäumt habe und so viele Jahre schon ertrage, daß meine Angelegenheiten zurückstehen, daß ich aber immer die eurigen betreibe, an jeden einzeln mich wendend und wie ein Vater oder älterer Bruder ihm zuredend, sich doch die Tugend angelegen sein zu lassen. Und wenn ich hiervon noch einen Genuß hätte und um Lohn andere so ermahnte, so hätte ich noch einen Grund. Nun aber seht ihr ja selbst, daß meine Ankläger, so schamlos sie mich auch alles andern beschuldigen, dieses doch nicht erreichen konnten mit ihrer Schamlosigkeit, einen Zeugen aufzustellen, daß ich jemals einen Lohn mir ausgemacht oder gefordert hätte. Ich aber stelle, meine ich, einen hinreichenden Zeugen für die Wahrheit meiner Aussage: meine Armut. Vielleicht könnte auch dies jemanden ungereimt dünken, daß ich, um Einzelnen zu raten, umhergehe und mir viel zu schaffen mache, 461
öffentlich aber mich nicht erdreiste, in eurer Versammlung auftretend dem Staate zu raten. Hiervon ist nun die Ursache, was ihr mich oft und vielfältig sagen gehört habt, daß mir etwas Göttliches und Daimonisches widerfährt, was auch Meletos in seiner Anklage auf Spott gezogen hat. Mir aber ist dieses von meiner Kindheit an geschehen: eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will — zugeredet aber hat sie mir nie. Das ist es, was sich mir widersetzt, daß ich nicht soll Staatsgeschäfte betreiben. Und sehr mit Recht scheint es mir sich dem zu widersetzen: Denn wißt nur, ihr Athener, wenn ich schon vor langer Zeit unternommen hätte, Staatsgeschäfte zu betreiben, so wäre ich auch schon längst umgekommen und hätte weder euch etwas genutzt noch auch mir selbst. Werdet mir nur nicht böse, wenn ich die Wahrheit rede! Denn kein Mensch kann sich erhalten, der sich — sei es nun euch oder einer andern Volksmenge — tapfer widersetzt und viel Ungerechtes und Gesetzwidriges im Staate zu verhindern sucht; sondern notwendig muß, wer in der Tat für die Gerechtigkeit streiten will, auch wenn er sich nur kurze Zeit erhalten soll, ein zurückgezogenes Leben führen, nicht ein öffentliches. Tüchtige Beweise will ich euch hiervon anführen, nicht in Worten, sondern, was ihr höher achtet, Tatsachen. Höret also von mir, was mir selbst begegnet ist, damit ihr seht, daß ich auch nicht einem nachgeben würde gegen das Recht aus Todesfurcht, und zugleich daß, wenn ich das nicht täte, ich umkommen müßte. Ich werde euch freilich unangenehme und langweilige Geschichten erzählen, aber doch wahre. Ich nämlich, ihr Athener, habe niemals irgend ein anderes Amt im Staate bekleidet, als nur im Rate bin ich gesessen. Und eben hatte unser Stamm, der Antiochische, den Vorsitz, als ihr den Anschlag faßtet, die zehn Heerführer, welche die in der Seeschlacht Gebliebenen nicht begraben hatten, sämtlich zu verurteilen, ganz gesetzwidrig, wie es späterhin euch allen dünkte. Da war ich unter allen Prytanen der einzige, der sich euch widersetzte, damit ihr nichts gegen die Gesetze tun möchtet, und euch entgegenstimmte. Und obgleich die Redner bereit waren, mich anzugeben und gefangen zu setzen, und ihr es fordertet und schrieet, so glaubte ich doch, ich müßte lieber mit dem Recht und dem Gesetz die Gefahr bestehen, als mich zu euch gesellen in einem so ungerechten Vorhaben aus Furcht des Gefängnisses oder des Todes. Und dies geschah, als im Staat noch das Volk herrschte. Nachdem aber die Regierung an einige wenige gekommen, so lie462
ßen einst die Dreißig mich mit noch vier anderen auf die Tholos holen, und trugen uns auf, den Salaminier Leon aus Salamis herzubringen, um ihn hinzurichten, wie sie denn dergleichen vieles vielen andern auch auftrugen, um so viele als irgend möglich in Verschuldungen zu verstricken. Auch da nun zeigte ich wiederum nicht durch Worte, sondern durch die Tat, daß der Tod, wenn euch das nicht zu bäurisch klingt, mich auch nicht das mindeste kümmerte, nichts Ruchloses aber und nichts Ungerechtes zu begehen mich mehr als alles kümmert. Denn mich konnte jene Regierung, so gewaltig sie auch war, nicht so einschrecken, daß ich etwas Unrechtes getan hätte. Sondern als wir von der Tholos herunterkamen, gingen die viere nach Salamis und brachten den Leon; ich aber ging meines Weges nach Hause. Und vielleicht hätte ich deshalb sterben gemußt, wenn nicht jene Regierung kurz darauf wäre aufgelöst worden. Dies werden euch sehr viele bezeugen können. Glaubt ihr nun wohl, daß ich so viele Jahre würde durchgekommen sein, wenn ich die öffentlichen Angelegenheiten verwaltet und, als ein redlicher Mann sie verwaltend, überall dem Recht geholfen und dies, wie es sich gebührt, über alles gesetzt hätte? Weit gefehlt, ihr Athener; und ebensowenig irgend ein anderer Mensch. Ich also werde mein ganzes Leben hindurch öffentlich, wo ich etwas verrichte, und ebenso auch für mich, als ein solcher erscheinen, daß ich nie einem jemals irgend etwas eingeräumt habe wider das Recht, weder sonst jemand noch auch von diesen einem, die meine Verleumder meine Schüler nennen. Eigentlich aber bin ich nie irgend jemandes Lehrer gewesen; wenn aber jemand, wie ich rede und mein Geschäft verrichte, Lust hat zu hören, jung oder alt, das habe ich nie jemandem mißgönnt. Auch nicht etwa nur, wenn ich Geld bekomme, unterrede ich mich, wenn aber keines, dann nicht; sondern auf gleiche Weise stehe ich dem Armen wie dem Reichen bereit zu fragen, und wer da will, kann antworten und hören, was ich sage. Und ob nun jemand von diesen besser wird oder nicht, davon bin ich nicht schuldig die Verantwortung zu tragen, da ich Unterweisung hierin weder jemals jemandem versprochen noch auch erteilt habe. Wenn aber einer behauptet, jemals von mir etwas gelernt oder gehört zu haben insbesondere, was nicht auch alle anderen gelernt oder gehört haben, so wißt, daß er nicht die Wahrheit redet. Aber weshalb halten sich wohl einige so gern seit langer Zeit zu mir? Das habt ihr gehört, Athener, ich habe euch die ganze Wahrheit gesagt, daß sie nämlich diejenigen gern mögen ausforschen hören, 463
welche sich dünken, weise zu sein, und es nicht sind. Denn es ist nicht unerfreulich. Mir aber ist dieses, wie ich behaupte, von dem Gotte auferlegt zu tun durch Orakel und Träume und auf jede Weise, wie nur je göttliche Schickung einem Menschen etwas auferlegt hat zu tun. Dies, ihr Athener, ist ebenso wahr als leicht zu erweisen. Denn wenn ich von unsern Jünglingen einige verderbe, andere verderbt habe, so würden doch, wenn einige unter ihnen bei reiferem Alter eingesehen hätten, daß ich ihnen je in ihrer Jugend zum Bösen geraten, diese selbst jetzt aufstehen, um mich zu verklagen und zur Strafe zu ziehen; wollten sie aber selbst nicht, so würden irgendwelche von ihren Verwandten, Eltern, Brüder oder andere Angehörige, wenn ich ihren Verwandten irgend Böses zugefügt, es mir jetzt gedenken. Auf jeden Fall sind ja viele von ihnen hier zugegen, die ich sehe, zuerst hier Kriton, mein Alters- und Gemeindegenosse, der Vater dieses Kritobulos; dann Lysanias aus Sphettos, dieses Aischines Vater; auch Antiphon aus Kephisia, des Epigenes Vater. Und andere sind diese, deren Brüder meines Umganges gepflogen, Nikostratos, des Theosdotides Sohn, der Bruder des Theodotos, und zwar ist Theodotos tot, der ihn also nicht kann beschwichtigt haben; und Paralos, des Demodokos Sohn, dessen Bruder Theages war; und Adeimantos, des Ariston Sohn, der Bruder dieses Platon; und Aiantodoros, dessen Bruder dieser Apollodoros ist. Und noch viele andere kann ich euch nennen, von denen doch vor allen Dingen Meletos in seiner Rede irgend einen zum Zeugen sollte aufgerufen haben. Hat er es aber damals vergessen, so rufe er noch einen auf — ich lasse ihm freie Bahn —, und er sage es, wenn er so etwas hat! Allein hiervon werdet ihr ganz das Gegenteil finden, ihr Männer, alle willig mir beizustehen, mir dem Verderber, dem Unheilstifter ihrer Verwandten, wie Meletos und Anytos sagen. Denn die Verführten selbst könnten vielleicht Grund haben, mir beizustehen ; aber die unverderbten, schon reiferen Männer, die ihnen verwandt sind, welchen andern Grund hätten diese, mir beizustehen, als den gerechten und billigen, daß sie wissen, Meletos lügt, ich aber rede die Wahrheit? Wohl, ihr Männer! Was ich zu meiner Verteidigung zu sagen wüßte, das ist etwa dieses, und vielleicht mehr dergleichen. Vielleicht aber wird mancher unter euch unwillig gegen mich, wenn er an sich selbst denkt, wenn er etwa bei Durchfechtung eines vielleicht weit leichteren Kampfes als dieser die Richter gebeten und gefleht hat unter vielen Tränen und seine Kinder mit sich heraufgebracht, 464
um nur möglichst viel Erbarmen zu erregen, und viele andere von seinen Verwandten und Freunden, ich aber von dem allen nichts tun will — und das, da ich, wie es scheinen kann, in der äußersten Gefahr schwebe. Vielleicht wird mancher, dies bedenkend, seine Eitelkeit von mir gekränkt fühlen und, eben hierüber erzürnt, im Zorn seine Stimme abgeben. Wenn jemand unter euch so gesinnt ist, ich glaube es zwar nicht, aber wenn doch — so denke ich, meine Rede wird zu billigen sein, wenn ich ihm sage: Auch ich, o Bester, habe so einige Verwandte. Denn auch ich, wie Homeros sagt, nicht der Eiche entstamme ich oder dem Felsen, sondern Menschen. Daher ich denn Verwandte habe, und auch Söhne, ihr Athener: drei, einer schon herangewachsen, zwei noch kinder. Dennoch aber werde ich keinen hierher bringen, um euch zu erbitten, daß ihr günstig abstimmen möget. Warum doch werde ich nichts dergleichen tun? Nicht aus Eigendünkel, ihr Athener, noch daß ich euch geringschätzte; sondern: Ob ich etwa besonders furchtlos bin gegen den Tod oder nicht, das ist eine andere Sache; aber in Beziehung auf das, was rühmlich ist für mich und euch und für die ganze Stadt, dünkt es mich anständig, daß ich nichts dergleichen tue, zumal in solchem Alter und im Besitz dieses Rufes, sei er nun gegründet oder nicht, angenommen ist doch einmal, daß Sokrates sich in etwas auszeichnet vor andern Menschen. Wenn nun, die unter euch dafür gelten, sich auszuzeichnen durch Weisheit oder Tapferkeit oder welche andere Tugend es sei, sich so betragen wollten, das wäre schändlich, wie ich doch öfters gesehen habe, daß manche, die sich etwas dünken, doch, wenn sie Vol- Gericht standen, ganz wunderliche Dinge anstellten, meinend, was ihnen Arges begegnete, wenn sie etwa sterben müßten, gleich als würden sie unsterblich sein, wenn ihr sie nur nicht hinrichtetet. Solche, dünkt mich, machen der Stadt Schande; so daß wohl mancher Fremde denken mag, diese ausgezeichneten Männer unter den Athenern, denen sie selbst unter sich bei der Wahl der Obrigkeiten und allem, was sonst ehrenvoll ist, den Vorzug einräumen, betragen sich ja nichts besser als die Weiber. Dergleichen also, ihr Athener, dürfen weder wir tun, die wir dafür gelten, auch nur irgend etwas zu sein, noch auch, wenn wir es täten, dürft ihr es dulden; sondern eben dies müßt ihr zeigen, daß ihr weit eher den verurteilt, der euch solche Trauerspiele vorführt und die Stadt lächerlich macht, als den, der sich ruhig verhält. Abgesehen aber von den Rühmlichkeiten dünkt es mich auch nicht einmal recht, den Richter zu bitten und sich durch Bitten loszuhelf en : sondern belehren muß man ihn und überzeugen. Denn 465
nicht dazu ist der Richter gesetzt, das Recht zu verschenken, sondern es zu beurteilen; und er hat geschworen, nicht sich gefällig zu erweisen gegen wen es ihm beliebt, sondern Recht zu sprechen nach den Gesetzen. Also dürfen weder wir euch gewöhnen an den Meineid, noch ihr euch gewöhnen lassen, sonst würden wir von keiner Seite fromm handeln. Mutet mir also nicht zu, ihr Athener, dergleichen etwas gegen euch zu tun, was ich weder für anständig halte noch für recht, noch für fromm, zumal ich ja, beim Zeus, eben auch der Gottlosigkeit angeklagt bin von diesem Meletos! Denn offenbar, wenn ich euch durch Bitten zu etwas überredetete oder nötigte gegen euren Schwur, dann lehrte ich euch, nicht zu glauben, daß es Götter gebe, und recht durch die Verteidigung klagte ich mich selbst an, daß ich keine Götter glaubte. Aber weit gefehlt, daß es so wäre! Wohl glaube ich an sie, ihr Athener, wie keiner von meinen Anklägern, und ich überlasse euch und dem Gotte, über mich zu entscheiden, wie es für mich das Beste sein wird und für euch. Nach der Verurteilung Daß ich nicht unwillig bin, ihr Athener, über dieses Ereignis, daß ihr mich verurteilt habt, dazu trägt noch sonst vieles bei; aber auch nicht unverhofft ist mir das Geschehene geschehen; sondern vielmehr wunderte ich mich über die sich ergebende Zahl der beiderseitigen Stimmen. Denn ich glaubte nicht, daß es nur auf so weniges ankommen würde, sondern auf sehr viel. Nun aber, wie man sieht, wenn nur drei Stimmen anders gefallen wären, so wäre ich entkommen. Dem Meletos zwar bin ich auch jetzt entkommen, wie mich dünkt; und nicht nur entkommen, sondern es liegt auch jedem vor Augen, daß, wenn nicht Anytos und Lykon aufgetreten wären, mich anzuklagen, er tausend Drachmen erlegen müßte, weil er den fünften Teil der Stimmen nicht erlangt hätte. Zuerkennen also will mir der Mann den Tod. Wohl! Was soll ich mir nun dagegen zuerkennen, ihr Athener? Doch gewiß, was ich verdiene! Wie also? Was verdiene ich zu erleiden oder zu erlegen dafür, daß ich in meinem Leben nie Ruhe gehalten, sondern unbekümmert um das, was den meisten wichtig ist, um das Reichwerden und den Hausstand, um Kriegswesen und Volksrednerei und sonst um Ämter, um Verschwörungen und Parteien, die sich in der Stadt hervorgetan, weil ich mich in der Tat für zu gut hielt, um mich durch Teilnahme an solchen Dingen zu erhalten -- daß ich mich also mit nichts eingelassen, wo ich weder euch noch mir etwas nutz gewesen wäre; vielmehr nur darauf bedacht war, wie ich jedem einzeln die 466
meines Dafürhaltens größte Wohltat erweisen könnte, und mich dessen allein, wie ich behaupte, befleißigte und mich bemühte, jeden von euch zu bewegen, daß er weder für irgend etwas von dem Seinigen eher sorge, bis er für sich selbst gesorgt habe, wie er immer besser und vernünftiger womöglich werden könnte, noch auch für die Angelegenheiten des Staates eher als für den Staat selbst, und nach derselben Weise auch nur für alles andere sorgen möchte? Was also verdiene ich dafür zu leiden, daß ich ein solcher bin? Etwas Gutes, ihr Athener, wenn ich der Wahrheit gemäß nach Verdienst mir etwas zuerkennen soll, und zwar etwas Gutes von der Art, wie es mir angemessen ist. Was ist also einem unvermögenden Wohltäter angemessen, welcher der freien Muße bedarf, um euch zu ermahnen? Es gibt nichts, was so angemessen ist, ihr Athener, als daß ein solcher Mann im Prytaneion gespeist werde, weit mehr, als wenn einer von euch mit dem Rosse oder dem Zwiegespann oder dem Viergespann in den Olympischen Spielen gesiegt hat. Denn ein solcher bewirkt nur, daß ihr glückselig scheint, ich aber, daß ihr es seid; und jener bedarf der Speisung nicht, ich aber bedarf ihrer. Soll ich mir also, was ich mit Recht verdiene, zuerkennen, so erkenne ich mir dieses zu: Speisung im Prytaneion. Vielleicht wird euch nun, daß ich dieses sage, ebenso bedünken, als was ich von dem Flehen und der Mitleidserregung sagte: als hartnäckiger Eigendünkel. Das ist aber nicht so, ihr Athener, sondern so vielmehr: Ich bin überzeugt, daß ich nie jemanden vorsätzlich beleidige. Euch freilich überzeuge ich davon nicht, weil wir gar zu kurze Zeit miteinander geredet haben. Denn ich glaube wohl, wenn ihr ein Gesetz hättet, wie man es anderwärts hat, über Leben und Tod nicht an einem Tage zu entscheiden, sondern nach mehreren, so wäret ihr wohl überzeugt worden; nun aber ist es nicht leicht, in kurzer Zeit sich von so schweren Verleumdungen zu reinigen. Überzeugt also wie ich bin, daß ich niemand Unrecht zufüge, werde ich doch wahrlich nicht mir selbst Unrecht tun und selbst gegen mich reden, als ob ich etwas Übles verdiente, und mir dergleichen etwas zuerkennen. Was sollte ich befürchten? Doch daß ich das erleiden müßte, was Meletos mir zuerkennt, und wovon ich nicht zu wissen gestehe, ob es ein Gut oder ein Übel ist? Anstatt dessen also sollte ich von denjenigen Dingen eines wählen und mir zuerkennen, von welchen ich gar wohl weiß, daß sie Übel sind? Etwa Gefängnisstrafe? Und wozu sollte ich doch leben im Kerker, unter dem Befehl der jedesmaligen Obrigkeit? Oder Geldstrafe? Und gefangen zu sein, bis ich sie entrichtet habe? Das wäre aber für mich ganz dasselbe wie das vorige. 467
Denn ich habe kein Geld, wovon ich sie entrichten könnte. Aber die Verweisung soll ich mir wohl zuerkennen? Die möchtet ihr mir vielleicht wohl zugestehen. Aber von großer Lebenslust müßte ich wohl besessen sein, ihr Athener, wenn ich so unvernünftig wäre, daß ich nicht berechnen könnte, da ihr, meine Mitbürger, nicht imstande gewesen seid, meine Lebensweise und meine Reden zu ertragen, sondern sie euch zu beschwerlich und verhaßt geworden sind, so daß ihr euch nun davon loszumachen sucht, ob also wohl andere sie leichter ertragen werden? Weit gefehlt, ihr Athener! Ein schönes Leben wäre mir das also, in solchem Alter auszuwandern und immer umhergetrieben eine Stadt mit der andern vertauschen! Denn das weiß ich wohl: wohin ich auch komme, werden die Jünglinge meinen Reden zuhören, eben wie hier. Und wenn ich diese von mir weise, so werden sie selbst bei den Alten meine Verweisung bewirken; weise ich sie nicht von mir, so werden dasselbe doch ihre Väter und Verwandten um jener willen tun. Vielleicht aber wird einer sagen: »Also still und ruhig, Sokrates, wirst du nicht imstande sein, nach deiner Verweisung zu leben?« Das ist nun wohl am allerschwersten manchem von euch begreiflich zu machen. Denn wenn ich sage, das hieße, dem Gotte ungehorsam sein, und deshalb wäre es mir unmöglich, mich ruhig zu verhalten, so werdet ihr mir nicht glauben, als meinte ich etwas anderes, als ich sage. Und wenn ich wiederum sage, daß ja eben dies das größte Gut für den Menschen ist, täglich über die Tugend sich zu unterhalten und über die andern Gegenstände, über welche ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört, ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient, gelebt zu werden, das werdet ihr mir noch weniger glauben, wenn ich es sage. Aber gewiß verhält sich dies so, wie ich es vortrage, ihr Männer; nur euch davon zu überzeugen ist nicht leicht. Auch bin ich nicht gewohnt, mich selbst etwas Übles wert zu achten. Hätte ich nun Geld, so würde ich mir so viel Geldstrafe zuerkennen, als ich entrichten könnte: denn davon hätte ich weiter keinen Schaden. Nun aber, ich habe eben keins; wenn ihr nicht etwa so viel, als ich zu entrichten vermag, mir zuerkennen wollt. Ich vermöchte euch aber vielleicht etwa eine Mine zu entrichten. Die will ich mir also zuerkennen. Platon aber hier und Kriton und Kritobulos und Apollodoros reden mir zu, mir dreißig Minen zuzuerkennen, und sie wollten Bürgschaft leisten. So viel also erkenne ich mir zu, und diese werden euch für dies Geld zuverlässige Bürgen sein.
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Nach Verkündung des Todesurteils Nur um einer gar kurzen Zeit willen, ihr Athener, werdet ihr nun den Namen behalten und den Vorwurf von denen, welche die Stadt gern lästern mögen, daß ihr den Sokrates hingerichtet habt, diesen weisen Mann. Denn behaupten werden die nun freilich, daß ich weise bin, wenn ich es auch nicht bin, die euch lästern wollen. Hättet ihr nun eine kleine Weile gewartet, so wäre euch ja dies von selbst erfolgt. Denn ihr seht ja mein Alter, daß es schon weit fortgerückt ist im Leben und nahe am Tode. Ich sage dies aber nicht zu euch allen, sondern nur zu denen, die für meinen Tod gestimmt haben. Und zu eben diesen sage ich auch noch dies: Vielleicht glaubt ihr Athener, ich unterläge jetzt aus Unvermögen in solchen Reden, durch welche ich euch wohl möchte überredet haben, wenn ich geglaubt hätte, alles reden und tun zu dürfen, um nur dieser Klage zu entkommen. Weit gefehlt! Sondern aus Unvermögen unterliege ich freilich, aber nicht an Worten; sondern an Frechheit und Schamlosigkeit und an dem Willen, dergleichen zu euch zu reden, als ihr freilich am liebsten gehört hättet, wenn ich gejammert hätte und gewehklagt, und viel anderes getan und geredet meiner Unwürdiges, wie ich behaupte, dergleichen ihr freilich gewohnt seid, von den andern zu hören. Allein weder vorher glaubte ich der Gefahr wegen etwas Unedles tun zu dürfen, noch auch gereut es mich jetzt, mich so verteidigt zu haben; sondern weit lieber will ich auf diese Art mich verteidigt haben und sterben, als auf jene und leben. Denn weder vor Gericht noch im Kriege ziemt es weder mir noch irgend jemandem, darauf zu sinnen, wie man nur auf jede Art dem Tode entgehen möge. Auch ist ja das bei Gefechten oft sehr offenbar, daß dem Tode einer wohl entfliehen könnte, würfe er nur die Waffen weg und wendete sich flehend an die Verfolgenden; und viele andere Rettungsmittel gibt es in jeglicher Gefahr, um dem Tode zu entgehen, wenn einer nicht scheut, alles zu tun und zu reden. Allein, nicht dies möchte schwer sein, ihr Athener, dem Tode zu entgehen, aber weit schwerer, der Schlechtigkeit: denn sie läuft schneller als der Tod. Auch jetzt daher bin ich als ein langsamer Greis von dem Langsameren gefangen worden; meine Ankläger aber, gewaltig und heftig wie sie sind, von dem Schnelleren der Bosheit. Jetzt also gehe ich hin und bin von euch der Strafe des Todes schuldig erklärt; diese aber sind von der Wahrheit schuldig erklärt der Unwürdigkeit und Ungerechtigkeit. Und sowohl ich beruhige mich bei dem Erkenntnis, als auch diese. Dieses nun mußte vielleicht so kommen, und ich glaube, daß es ganz gut so ist. Was aber nun hierauf folgen wird, gelüstet mich euch 469
zu weissagen, ihr meine Verurteiler! Denn ich stehe ja auch schon da, wo vorzüglich die Menschen weissagen, wenn sie nämlich im Begriff sind zu sterben. Ich behaupte also, ihr Männer, die ihr mich hinrichtet, es wird sogleich nach meinem Tode eine weit schwerere Strafe über euch kommen als die, mit welcher ihr mich getötet habt. Denn jetzt habt ihr dies getan in der Meinung, nun entledigt zu sein von der Rechenschaft über euer Leben. Es wird aber ganz entgegengesetzt für euch ablaufen, wie ich behaupte. Mehrere werden sein, die euch zur Untersuchung ziehen, welche ich nur bisher zurückgehalten, ihr aber gar nicht bemerkt habt. Und um desto beschwerlicher werden sie euch werden, je jünger sie sind, und ihr um desto unwilliger. Denn wenn ihr meint, durch Hinrichtungen dem Einhalt zu tun, daß euch niemand schelten soll, wenn ihr nicht recht lebt, so bedenkt ihr das sehr schlecht. Denn diese Entledigung ist weder recht ausführbar, noch ist sie edel. Sondern jene ist die edelste und leichteste: nicht anderen wehren, sondern sich selbst so einrichten, daß man möglichst gut sei. Dieses will ich euch, die ihr gegen mich gestimmt habt, geweissagt haben und nun von euch scheiden. Mit denen aber, welche für mich gestimmt, möchte ich gern noch reden über dies Ereignis, welches sich zugetragen, solange die Gewalthaber noch Abhaltung haben und ich noch nicht dahin gehen muß, wo ich sterben soll. Also, ihr Männer, so lange haltet mir noch aus! Nichts hindert ja, uns vertraulich zu unterhalten miteinander, solange es noch vergönnt ist. Denn euch als meinen Freunden will ich gern das erklären, was mir soeben begegnet ist, was es eigentlich bedeutet. Mir ist nämlich, ihr Richter— denn euch benenne ich recht, wenn ich euch Richter nenne—, etwas Wunderbares vorgekommen: Meine gewohnte Vorbedeutung nämlich war in der vorigen Zeit wohl gar sehr häufig, und oft in großen Kleinigkeiten widerstand sie mir, wenn ich im Begriff war, etwas nicht auf die rechte Art zu tun. Jetzt aber ist mir doch, wie ihr ja selbst seht, dieses begegnet, was wohl mancher für das größte Übel halten könnte, und was auch dafür angesehen wird; dennoch aber hat mir weder, als ich des Morgens von zu Hause ging, das Zeichen des Gottes widerstanden, noch auch als ich hier die Gerichtsstätte betrat, noch auch irgendwo in der Rede, wenn ich etwas sagen wollte — wiewohl bei andern Reden es mich oft mitten im Reden aufhielt. Jetzt aber hat es mir nirgends bei dieser Verhandlung, wenn ich etwas tat oder sprach, im mindesten widerstanden. Was für eine Ursache nun soll ich mir hiervon denken? Das will ich euch sagen: Es mag wohl, was mir begegnet ist, et470
was Gutes sein, und unmöglich können wir recht haben, die wir annehmen, der Tod sei ein Übel. Davon ist mir dies ein großer Beweis. Denn unmöglich würde mir das gewohnte Zeichen nicht widerstanden haben, wenn ich nicht im Begriff gewesen wäre, etwas Gutes auszurichten. Laßt uns aber auch so erwägen, wieviel Ursache wir haben zu hoffen, es sei etwas Gutes. Denn eins von beiden ist das Totsein: entweder so viel als nichts sein noch irgend eine Empfindung von irgend etwas haben, wenn man tot ist; oder, wie auch gesagt wird, es ist eine Versetzung und Umzug der Seele von hinnen an einen andern Ort. Und ist es nun gar keine Empfindung, sondern wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat, so wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn. Denn ich glaube, wenn jemand einer solchen Nacht, in welcher er so fest geschlafen, daß er nicht einmal einen Traum gehabt, alle übrigen Tage und Nächte seines Lebens gegenüberstellen und nach reiflicher Überlegung sagen sollte, wieviel er wohl angenehmere und bessere Tage und Nächte als jene Nacht in seinem Leben gelebt hat, so glaube ich, würde nicht nur ein gewöhnlicher Mensch, sondern der Großkönig selbst finden, daß diese sehr leicht zu zählen sind gegen die übrigen Tage und Nächte. Wenn also der Tod etwas solches ist, so nenne ich ihn einen Gewinn, denn die ganze Zeit scheint ja auch nicht länger?uf diese Art als eine Nacht. Ist aber der Tod wiederum wie eine Auswanderung von hinnen an einen andern Ort, und ist das wahr, was gesagt wird, daß dort alle Verstorbenen sind — was für ein größeres Gut könnte es wohl geben als dieses, ihr Richter? Denn wenn einer, in der Unterwelt angelangt, nun dieser sich so nennenden Richter entledigt dort die wahren Richter antrifft, von denen auch gesagt wird, daß sie dort Recht sprechen, den Minos und Rhadamanthys und Aiakos und Triptolemos, und welche Halbgötter sonst gerecht gewesen sind in ihrem Leben — wäre das wohl eine schlechte Umwanderung? Oder auch mit dem Orpheus umzugehen und mit Musaios und Hesiodos und Homeros — wie teuer möchtet ihr das wohl erkaufen? Ich wenigstens will gern oftmals sterben, wenn dies wahr ist. Ja, mir zumal wäre es ein herrliches Leben, wenn ich dort den Palamedes und Aias, des Telamon Sohn, anträfe, und wer sonst noch unter den Alten eines ungerechten Gerichts wegen gestorben ist: mit dessen Geschick das meinige zu vergleichen, das müßte, glaube ich, gar nicht unerfreulich sein. Ja, was das Größte ist, die dort eben so ausfragend und ausforschend zu leben, wer unter ihnen weise ist, und wer es zwar glaubt, es aber nicht ist. Für wieviel, ihr Richter, möchte das einer 471
wohl annehmen, den, welcher das große Heer nach Troia führte, auszufragen, oder den Odysseus oder Sisyphos, und viele andere könnte einer nennen, Männer und Frauen, mit welchen dort zu sprechen und umzugehen und sie auszuforschen auf alle Weise eine unbeschreibliche Glückseligkeit wäre! Gewiß werden sie einen dort um deswillen doch wohl nicht hinrichten: Denn nicht nur sonst ist man dort glückseliger als hier, sondern auch die übrige Zeit unsterblich, wenn das wahr ist, was gesagt wird. Also müßt auch ihr, Richter, gute Hoffnung haben in Absicht des Todes und dies eine Richtige im Gemüt halten, daß es für den guten Mann kein Obel gibt weder im Leben noch im Tode, noch daß je von den Göttern seine Angelegenheiten vernachlässigt werden. Auch die meinigen haben jetzt nicht von ohngefähr diesen Ausgang genommen: sondern mir ist deutlich, daß sterben und aller Mühen entledigt werden schon das Beste für mich war. Daher auch hat weder mich irgendwo das Zeichen gewarnt, noch auch bin ich gegen meine Venirteiler und gegen meine Ankläger irgend aufgebracht obgleich nicht in dieser Absicht sie mich verurteilt und angeklagt haben, sondern in der Meinung, mir Obles zuzufügen. Das verdient an ihnen getadelt zu werden. So viel jedoch bitte ich von ihnen: An meinen Söhnen, wenn sie erwachsen sind, nehmt eure Rache, ihr Männer, und quält sie ebenso, wie ich euch gequält habe, wenn euch dünkt, daß sie sich um Reichtum oder um sonst irgend etwas eher bemühen als um die Tugend; und wenn sie sich dünken, etwas zu sein, aber nichts sind, so verweist es ihnen wie ich euch, daß sie nicht sorgen, wofür sie sollten, und sich einbilden, etwas zu sein, da sie doch nichts wert sind. Und wenn ihr das tut, werde ich Gerechtes von euch erfahren haben, ich selbst und meine Söhne. Jedoch — es ist Zeit, daß wir gehen: ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott. Diotimas Preisrede auf den Eros
Bei dem Gastmahl, das zu Ehren des Gastgebers, des Dichters Agathon, veranstaltet wurde, wird von den Teilnehmern der Eros, die Liebe, im Anschluß an einen Vortrag des Phaidros von den verschiedensten Standpunkten aus beleuchtet: dem des Arztes Eryximachos, dem des Komikers Aristophanes, dem des Dichters Agathon, bis schließlich Sokrates seine eigenen Gedanken zum Thema darlegt, indem er Belehrungen wiedergibt, die er selber von der Seherin Diotima von Mantineia empfangen haben will. 472
... Wenn also Eros des Schönen ermangelt, das Gute aber schön ist, so dürfte er auch des Guten ermangeln? Ich kann dir, lieber Sokrates, nicht widersprechen, habe Agathon erwidert; sondern möge es sich so verhalten, wie du sagst! Nicht doch, warf ihm Sokrates ein, sondern der Wahrheit vermagst du nicht zu widersprechen, mein teurer Agathon; mit dem Sokrates würde dir dies dagegen ein Leichtes sein. Und so will ich denn auch dich von nun ab unangefochten lassen und will vielmehr die Ansichten über den Eros, welche ich von einer Mantineierin, der Diotima, hörte, die in diesen sowie in vielen anderen Dingen weise war und den Athenern einst bei Gelegenheit eines Opfers vor dem Ausbruche der Pest einen zehnjährigen Aufschub dieser Krankheit erwirkte und die auch mich in betreif der Liebe belehrte — also ihre Äußerungen will ich jetzt meinesteils, so gut ich vermag, mit Anknüpfung an das, worüber ich mit Agathon übereingekommen bin, euch wiederzugeben versuchen. Man muß nämlich in der Tat, wie du auseinandersetztest, mein Agathon, zuerst was Eros an sich und wie er beschaffen ist, und sodann seine Wirkungen erörtern. Es scheint mir nun am leichtesten, dies so zu tun, wie es einst die Fremde durch vorgelegte Fragen mit mir durchging. Denn auch ich äußerte mich gegen sie ungefähr auf ähnliche Weise, wie eben Agathon gegen mich, daß Eros ein großer Gott wäre und zu den Schönen gehöre, und sie widerlegte mich wiederum mit eben denselben Gründen, wie ich ihn, dahin, daß er meinen eigenen Worten zufolge weder schön noch gut sei. Ich aber hielt ihr entgegen: Was soll das heißen, Diotima? Ist also Eros häßlich und schlecht? Sie aber sprach : Frevle nicht! Oder glaubst du, was nicht schön ist, das sei deshalb auch notwendigerweise schon häßlich? Freilich glaube ich das. Auch was nicht weise ist, sei deshalb schon unwissend? Oder weißt du nicht, daß es ein Mittleres zwischen Weisheit und Unverstand gibt? Und was wäre dies? Wenn man sich das Richtige vorstellt, ohne daß man Gründe für seine Richtigkeit anzugeben vermag, weißt du nicht, daß dies einerseits noch kein Wissen ist — denn wie könnte etwas der Gründe Entbehrendes ein Wissen sein? —, andererseits aber auch keine Unwissenheit — denn wie sollte es wohl Unwissenheit sein, wenn man doch im Besitze des Richtigen ist? So ist also doch wohl die richtige Vorstellung ein solches Mittelding zwischen Einsicht und Unwissenheit. 473
Du hast recht, erwiderte ich. Halte es also nicht für notwendig, daß das Nichtschöne häßlich und das Nichtgute schlecht und böse sein müsse! So nimm denn auch vom Eros, wenn du selber zugestehst, daß er nicht gut und nicht schön sei, deshalb um nichts mehr an, daß er häßlich und schlecht sein müsse, sondern nur, daß er ein Mittleres zwischen beiden sei, sprach sie. Und doch, warf ich ein, stimmen alle darin überein, daß er ein großer Gott sei. Meinst du alle Unwissenden, fragte sie, oder auch alle Wissenden? Alle ohne Ausnahme. Aber wie sollte doch, erwiderte sie lachend, Freund Sokrates, von denen geurteilt werden können, daß er ein großer Gott sei, die ihn nicht einmal für einen Gott halten! Wer sind die? fragte ich. Einer bist du, war ihre Antwort, und eine andere ich. Wie meinst du das? erwiderte ich. Und sie sprach: Ganz einfach. Sage mir nämlich nur: Hältst du nicht alle Götter für glückselig und schön? Oder würdest du wagen zu behaupten, daß irgend einer von ihnen dies nicht sei? Beim Zeus, nein, entgegnete ich. Nennst du aber nicht glückselig diejenigen, welche das Gute und Schöne besitzen? Allerdings. Nun hast du aber doch zugestanden, daß Eros aus Mangel am Guten und Schönen nach eben diesem strebt, dessen er ermangelt. Das habe ich. Wie sollte er also wohl ein Gott sein, da er des Guten und Schönen unteilhaftig ist? Freilich kann er dies dann nicht sein, wie es scheint. Siehst du nun, sagte sie, daß auch du den Eros nicht für einen Gott hältst? Was wäre denn also Eros? wandte ich ein: etwa ein Sterblicher? Keineswegs. Aber was denn? Ganz nach dem Vorigen, ein Mittelwesen zwischen Sterblichem und Unsterblichem. Was heißt das, Diotima? Ein großer Dämon, lieber Sokrates; denn alles Dämonische ist eben das Mittelglied zwischen Gott und Mensch. Welche Aufgabe hat es denn? 474
Dolmetsch und Bote zu sein von den Menschen bei den Göttern und von den Göttern bei den Menschen, von den einen für ihre Gebete und Opfer, von den andern für ihre Befehle und ihre Vergeltungen der Opfer, und so die Kluft zwischen beiden auszufüllen, so daß durch seine Vermittlung das All sich mit sich selber zusammenbindet. Und dadurch hat auch die gesamte Weissagekunst ihren Fortgang und die Kunst der Priester in bezug auf Opfer und Weihungen und Besprechungen und die gesamte Wahrsagerei und Zauberei. Nämlich nicht unmittelbar tritt die Gottheit mit dem Menschen in Berührung, sondern durch seine Vermittlung geht aller Verkehr und alle Zwiesprache der Götter mit den Menschen im Wachen wie im Schlafe. Und wer dieser Dinge kundig ist, das ist ein dämonenbeseelter (und daher dem Höheren zustrebender), wer aber irgend eines anderen in Künsten oder Gewerben kundig ist, der ist bloß ein handwerksmäßiger Mann. Solcher Dämonen gibt es nun viele und von mannigfacher Art; einer von ihnen ist aber auch Eros. Von welchem Vater und welcher Mutter stammt er denn her? fuhr ich fort. Das ist weitläufiger auseinanderzusetzen; indessen will ich es dir trotzdem mitteilen. Als nämlich Aphrodite geboren war, hielten die Götter einen Schmaus und mit den anderen auch Poros (Erwerb, Betrieb), der Sohn der Metis (Weisheit). Als sie aber gespeist hatten, da kamPenia (Armut), um sich etwas zu erbetteln, da es ja festlich herging, und stand an der Türe. Poros nun begab sich, trunken vom Nektar — denn Wein gab es damals noch nicht —, in den Garten des Zeus und schlief in schwerem Rausche ein. Da macht Penia ihrer Bedürftigkeit wegen den Anschlag, ein Kind vom Poros zu bekommen: sie legt sich also zu ihm hin und empfing den Eros. Deshalb ist Eros der Begleiter und Diener der Aphrodite, weil er an ihrem Geburtsf este erzeugt ward und zugleich von Natur ein Liebhaber des Schönen ist, da ja auch Aphrodite schön ist. Als Sohn des Poros und der Penia nun ist dem Eros folgendes Los zuteil geworden: Erstens ist er beständig arm, und viel fehlt daran, daß er zart und schön wäre, wie die meisten glauben, sondern er ist rauh und nachlässig im Äußern, barfuß und obdachlos, und ohne Decken schläft er auf der bloßen Erde, indem er vor den Türen und auf den Straßen unter freiem Himmel übernachtet, gemäß der Natur seiner Mutter stets der Dürftigkeit Genosse. Von seinem Vater her aber stellt er wiederum dem Schönen und Guten nach, ist mannhaft, verwegen und beharrlich, ein gewaltiger Jäger und unaufhörlicher Ränkeschmied, der stets nach der Wahrheit trachtet und sie sich auch zu erwerben 47S
versteht, ein Philosoph sein ganzes Leben hindurch, ein gewaltiger Zauberer, Giftmischer und Sophist; und weder wie ein Unsterblicher ist er geartet noch wie ein Sterblicher, sondern an demselben Tage bald blüht er und gedeiht, wenn er die Fülle des Erstrebten erlangt hat, bald stirbt er dahin; immer aber erwacht er wieder zum Leben vermöge der Natur seines Vaters; das Gewonnene jedoch rinnt ihm immer wieder von dannen, so daß Eros weder Mangel leidet noch auch Reichtum besitzt und also vielmehr zwischen Weisheit und Unwissenheit in der Mitte steht. Es verhält sich nämlich damit folgendermaßen: Keiner der Götter philosophiert oder begehrt weise zu werden, denn sie sind es bereits; auch wenn sonst jemand weise ist, philosophiert er nicht. Ebensowenig philosophieren wiederum die Unverständigen, noch begehren sie weise zu werden. Denn das eben ist das Verderbliche am Unverstand, daß man, ohne schön, gut und verständig zu sein, dennoch sich selber genug dünkt. Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch dessen nicht, wessen er nicht zu bedürfen glaubt. Wer sind denn also, Diotima, fragte ich, die Philosophierenden, wenn es doch weder die Weisen noch die Unwissenden sind? Das ist doch nun wohl auch einem Kinde klar, erwiderte sie, daß es die zwischen beiden in der Mitte Stehenden sind, und zu ihrer Zahl gehört nun wiederum auch Eros. Denn gewiß zählt doch die Weisheit zu dem Allerschönsten; die Liebe aber ist auf alles Schöne gerichtet: folglich ist Eros ein Philosoph; als Philosoph aber steht er in der Mitte zwischen einem Weisen und einem Unwissenden. Ursache auch hiervon ist ihm seine Geburt: denn er stammt von einem weisen und erfindungsreichen Vater, aber von einer unweisen und ungeschickten Mutter. So ist die Natur dieses Dämons beschaffen, mein lieber Sokrates ; daß du dir aber den Eros ganz anders vorstellst, ist gar nicht zu verwundern. Du meintest nämlich, wie ich aus deinen Äußerungen schließen zu können glaube, daß Eros das Geliebte und nicht das Liebende sei. Deswegen, denke ich, erschien dir Eros so überaus schön. Denn das Liebenswürdige ist in der Tat das wahrhaft Schöne, Zarte, Vollendete und Seligzupreisende; das Liebende aber trägt eine ganz andere Gestalt an sich, und zwar die, welche ich soeben mit dir betrachtet habe. Und ich versetzte: Sei es denn, Freundin, gewiß hast du recht. Aber welchen Nutzen gewährt denn Eros in dieser seiner Beschaffenheit den Menschen? Darüber will ich nun zunächst, sagte sie, lieber Sokrates, dich zu belehren versuchen. Es ist nun also Eros von solcher Beschaffenheit 476
und Herkunft, und die Liebe ist, wie du sagst, auf das Schöne gerichtet. Wenn nun aber jemand uns fragte: »Inwiefern ist denn die Liebe auf das Schöne gerichtet, o Sokrates und Diotima?« — was würden wir ihm antworten? Doch ich will es noch deutlicher ausdrücken: Wer des Schönen begehrt, was ist dem dabei der eigentliche Zweck seines Begehrens? Daß es ihm zuteil werde, war meine Antwort. Diese Erwiderung, wandte sie ein, bedarf einer neuen Frage: Was wird denn dem damit zuteil, welchem das Schöne zuteil wird? Auf diese Frage, gestand ich, habe ich durchaus nicht mehr sogleich eine rechte Antwort zur Hand. Nun, erwiderte sie, wie, wenn jemand statt des Schönen das Gute setzte und dich dann fragte: Wohlan, Sokrates, wer das Gute liebt, was begehrt der eigentlich damit? Daß es ihm zuteil werde, war meine Entgegnung. Und was wird jenem zuteil, dem das Gute zuteil wird? Das, erwiderte ich, kann ich leichter beantworten: er wird glückselig. Denn durch den Besitz des Guten, fügte sie hinzu, sind die Glückseligen glückselig. Und nun bedarf es nicht mehr der weiteren Frage: Was erstrebt derjenige eigentlich damit, welcher glückselig zu sein wünscht? Sondern hier scheint die Antwort am Ziele angelangt zu sein. Sehr wahr, bemerkte ich. Diesen Wunsch und diese Liebe aber—hältst du sie nicht für etwas allen Menschen Gemeinsames, und glaubst du nicht, daß jedermann das Gute für immer zu besitzen wünscht? Oder wie meinst du? So wie du sagst, war meine Erwiderung: ich halte sie allen für gemeinsam. Warum sagen wir, fuhr sie fort, lieber Sokrates, denn nicht von allen, daß sie lieben, wenn sie doch alle dasselbe und stets begehren, sondern nur von einigen, von andern aber nicht? Das nimmt mich selber-wunder, sprach ich. Laß es dich nicht wundern, berichtigte sie: wir nehmen nämlich von der Liebe nur eine besondere Art ab und benennen sie mit dem Namen des Ganzen, Liebe; für die übrigen Arten aber bedienen wir uns anderer Benennungen. Wie zum Beispiel? fragte ich. Zum Beispiel im folgenden Falle: Du weißt doch, daß Dichten eigentlich alles Schaffen bezeichnet, und daß das Schaffen etwas gar Vielfältiges ist. Denn allem demjenigen, was die Ursache dafür ist, 477
daß irgend etwas aus dem Nichtsein in das Sein übergeht, legen wir eine schaffende Tätigkeit bei, so daß eigentlich auch die Werke sämtlicher Künste Dichtungen und ihre Meister Dichter heißen müßten. Du hast recht. Nichtsdestoweniger, fuhr sie fort, weißt du aber doch auch, daß sie nicht Dichter genannt werden, sondern andere Bezeichnungen empfangen, daß vielmehr von der ganzen Gattung ein kleiner Teil, nämlich der, der auf Tonkunst und Silbenmaß sich bezieht, ausgeschieden und mit dem Namen belegt wird, der vielmehr dem Ganzen zukommen sollte. Denn nur dieser heißt Dichtkunst, und die ihn innehaben, heißen Dichter. Du hast recht, sprach ich. So ist es demnach nun auch mit der Liebe. Im weiteren Sinne umfaßt sie alles, was Streben nach dem Guten und der Glückseligkeit heißt, diese Liebe, die so stark und listenersinnend ist in einem jeden; aber die, welche sich in vielfacher Art auf anderen Wegen ihr zuwenden, sei es nämlich der Liebe zum Gelderwerb oder zu Leibesübungen oder zur Philosophie, von denen gebraucht man weder den Ausdruck >lieben< noch >Liebhaber