Lesarten der Philosophie Nietzsches: Ihre Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt 1960-2000 [Reprint 2012 ed.] 9783110204735, 3110174510, 9783110174526

Examining works by Deleuze, Foucault, Derrida, Danto, de Man, Eagleton, Rorty, Colli, Montinari, Vattimo, and others, th

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Lesarten der Philosophie Nietzsches: Ihre Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt 1960-2000 [Reprint 2012 ed.]
 9783110204735, 3110174510, 9783110174526

Table of contents :
Vorwort
I Nietzsche in Frankreich
Einleitung
A Nietzsche als Philosoph der Differenz
1. Nietzsche als Gründungsfigur einer anti-hegelianischen Philosophie der „difference et repetition“
2. Nietzsche als Philosoph dionysischer Theophanie
3. Nietzsche als Theoretiker und Praktiker des Kriegs oder des Spiels der Zeichen
B Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe
1. Nietzsche als Ontologe der Differenz
2. Nietzsche als Psychologe und als Erzieher zur Freiheit
3. Nietzsche auf dem Weg zu einer neuen Ontologie
C Schlussbemerkung zur französischen Nietzsche-Diskussion
II Nietzsche in italienischer Perspektive
Einleitung
A Nietzsche und die Wiedergeburt der Weisheit
B Nietzsche als Philosoph radikaler Aufklärung
C Nietzsche als Begründer einer radikal hermeneutischen Philosophie
D Nietzsches dionysische Optik der Extreme
E Schlussbemerkung zur italienischen Nietzsche-Diskussion
III Nietzsche in der angelsächsischen Welt
Einleitung
A Der Beginn der philosophischen Nietzsche-Rezeption in den Vereinigten Staaten von Amerika
B Nietzsches Philosophie als systematisch diskussionsfähige Epistemologie
1. Nietzsches Alternative zur Korrespondenztheorie der Wahrheit
2. Nietzsches „Empirismus ohne Dogma“
3. Nietzsches rhetorischer Wissensbegriff und das Problem einer nicht-nihilistischen Kultur
C Nietzsche als Philosoph der „conceptual permissiveness“ und als Theoretiker der ästhetisch-ironischen Existenz
1. Nietzsche und die Frage des „In-der-Welt-Seins“
2. Nietzsche im Spiel der Dekonstruktion
3. Nietzsche und das Modell philosophischer Lebenskunst
D Nietzsches Philosophie als theoretische Lehre
1. Nietzsches Philosophie als anthropologisch reformierte Metaphysik und Kosmologie
2. Wiederaufnahmen der epistemologischen Nietzsche-Deutung: Der systematisch-gegenwartsbezogene Ansatz von Maudemarie Clark und der historisch-systematische
3. Nietzsches Philosophie als Alternative zu einem epistemologischen Begriff von Wahrheit und Wissen
4. Die Entdeckung der systematischen Gestalt der nietzscheschen Philosophie
E Nietzsches Philosophie als Wille zu praktischer Wirkung
1. Nietzsche im Kontext der gegenwärtigen Ethik-Diskussion
2. Nietzsche als „Arzt der Cultur“
3. Nietzsche und das Problem der Politik
F Schlussbemerkung zu Nietzsches Präsenz in der angelsächsischen Welt
Bibliographie
Register
Personen
Sachen

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de G r u y t e r S t u d i e n b u c h Alfons Reckermann Lesarten der Philosophie Nietzsches

Alfons Reckermann

Lesarten der Philosophie Nietzsches Ihre Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt 1960-2000

w G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über H a l t b a r k e i t erfüllt.

ISBN 3-11-017451-0 Bibliografische

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Vorwort Die vorliegende Studie zur Rezeption und Diskussion der nietzscheschen Philosophie in den dafür wichtigsten Zentren außerhalb Deutschlands will dem philosophisch interessierten Leser die Orientierung in einem in vielfacher Hinsicht beachtenswerten Diskussionsfeld erleichtern, das aufgrund seiner Dynamik und seiner internen Komplexität nur schwer zu übersehen ist. Der oft beklagte Trend zur Unübersichtlichkeit prägt natürlich auch die deutschsprachige Nietzsche-Interpretation, so dass deren Einbeziehung in eine umfassende Darstellung zur Wirkungsgeschichte seiner Philosophie in den letzten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sicherlich wünschenswert wäre. Ihre Ausklammerung aus der vorliegenden Darstellung hat ausschließlich pragmatisch-arbeitsökonomische Gründe. Den meisten Lesern dürfte es leichter fallen, die einschlägigen Diskussionen im eigenen Sprachraum zu verfolgen als das wahrzunehmen, was auf dem wesentlich weiter ausgedehnten Feld der internationalen Nietzsche-Rezeption geschieht. Mit der Konzentration auf wesentliche Aspekte der Wirkungsgeschichte der nietzscheschen Philosophie in Frankreich, Italien und in der angelsächsischen Welt, hier vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika, soll nicht die leicht widerlegbare These verbunden sein, die Nietzsche-Rezeption der Gegenwart folge primär den Grenzmarkierungen von Sprachen oder gar von Nationalstaaten. Es ist jedoch ein unübersehbares historisches Faktum, dass sich auch in der Nietzsche-Diskussion nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die Gegenwart nachwirkend bestimmte gleichsam regionale Rezeptionsmuster ausgebildet haben, die auf heterogene kulturelle und politische Gegebenheiten so reagieren, dass es, die notwendige Umsicht vorausgesetzt, durchaus sinnvoll ist, von besonderen Bedingungen etwa der französischen, italienischen oder der angelsächsischen Nietzsche-Rezeption zu sprechen. Diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen werden in den Einleitungstexten zu den drei Kapiteln des vorliegenden Buches charakterisiert. Dass Nietzsche auf verschiedene kulturelle Kontexte in unterschiedlicher Weise hat wirken können, hängt insofern mit dem Charakter der nietzscheschen Philosophie zusammen, als sie von sich selbst her nicht nur als theoretisch-allgemeine, sondern zusätzlich als eine mit verschiedenen kulturellen und politischen Kontexten verbindbare kulturpolitische Größe auftritt. Zwar ist der internationale Austausch über Nietzsche heute längst eine, wenn auch keineswegs problemlos funktionierende Selbstverständlichkeit. Dennoch folgt dieser Austausch nicht nur gleichsam transnationalen Regeln rationaler Akzeptanz, sondern, ohne dass dies ein Mangel wäre, zusätzlich regional begrenzten Regeln binnengesteuerter Diskurse, die zwangsläu-

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Vorwort

fig so angelegt sind, dass sie das Fremde in den eigenen Verstehenshorizont ü b e r setzen' und so dem Übersetzten und sich selbst eine unverwechselbare Wirkungsmacht aufprägen. Genau an diesem Problem setzt die vorliegende Darstellung an. Sie möchte dem Leser die wichtigsten Kontexte vor Augen stellen, in denen etwa seit 1960 in Frankreich, Italien und in den angelsächsischen Ländern über und mit Nietzsche diskutiert und gestritten wird. Diese Auseinandersetzungen beziehen sich ihrerseits auf die wirkungsmächtigsten deutschsprachigen Nietzsche-Diskussionen 1 und formen zunehmend untereinander Verbindungslinien aus 2 , ohne damit ihre eigenständigen Binnenprägungen vollständig aufzugeben. Wer diese Diskussionen nicht nur einfach zur Kenntnis nehmen, sondern für das philosophische NietzscheVerständnis fruchtbar machen will, darf sich nicht nur an ihren äußeren Resultaten orientieren, die man im Sinne von Thesen oder Ergebnissen aufnehmen, kritisieren, modifizieren oder zurückweisen könnte. Es bedarf vielmehr eines verstehenden Blicks auf die besonderen philosophischen Motive, die zur Ausbildung heterogener Diskussionsfelder und zu den für sie jeweils charakteristischen Aneignungen' der nietzscheschen Philosophie geführt haben. Die vorliegende Darstellung setzt ihren methodischen Schwerpunkt so an, dass sie die philosophischen Voraussetzungen der wichtigsten nicht-deutschsprachigen Nietzsche-Rezeptionen historiographisch nachzeichnet, um dann in weiteren, teilweise parallel geführten, in die historiographische Darstellung integrierten, teilweise besonders herausgehobenen Überlegungen (Einführungen, Überleitungen, Zusammenfassungen) anzudeuten, in welcher Weise die vorgestellten Interpretationen einerseits zur Profilierung eines philosophisch befriedigenden Nietzsche-Verständnisses beitragen und andererseits in nicht gerade wenigen Fällen in der Orientierung an Nietzsche in Debatten über philosophische Sachfragen eingreifen können. Da viele der besonders prononcierten Bezugnahmen auf Nietzsche aufs engste mit der Situation der Philosophie in Frankreich und Italien, zum Teil auch mit derjenigen in den angelsächsischen Ländern zu tun haben, lassen sich manche Abschnitte zu Voraussetzungen der jeweiligen Nietzsche-Rezeption auch als perspektivisch gebrochene Einführungen in einige grundsätzliche Figuren des gegenwärtigen philosophischen Denkens le-

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In der ersten Phase nach dem Zweiten Weltkrieg bis weit in die siebziger Jahre hinein sind dies vor allem die Nietzsche-Interpretationen von Martin Heidegger (Nietzsche, Pfullingen 1961 = Freiburger Nietzsche-Vorlesungen von 1936-1940 sowie Abhandlungen von 1940-1946), Karl Jaspers (Nietzsche. E i n f ü h r u n g in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1936), Eugen Fink (Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960) u n d Karl Löwith (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956, Erstausgabe Berlin 1935). Später k o m m t vor allem den Nietzsche-Interpretationen von Wolfgang Müller-Lauter (Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze u n d die Gegensätze seiner Philosophie, B e r l i n / N e w York 1971) eine besondere internationale Resonanz zu. Als besonders signifikantes Beispiel sei hier auf die amerikanische u n d italienische Rezeption der von Nietzsche mitbestimmten Philosophie Jacques Derridas hingewiesen.

Vorwort

VII

sen. Insbesondere gilt dies für die Abschnitte zu Foucault und Derrida sowie zur politikwissenschaftlichen Nietzsche-Diskussion im angelsächsischen Sprachraum. Ein Unternehmen, das sich verschiedenen regional differenzierbaren Feldern der Nietzsche-Rezeption und -Diskussion in der gekennzeichneten Absicht zuwendet, ist zuallererst durch die Bedeutung legitimiert, die dem Denken dieses Philosophen gegenwärtig zukommt. Es ist kaum eine Übertreibung, wenn man behauptet, dass sich weder das, was Philosophie im Kern ist, noch das, was sie als Theorie ihrer eigenen Zeit, etwa als Reflexion auf Grundformen des Politischen oder des Wissens, zu leisten vermag, für die Gegenwart kaum ohne intensive Auseinandersetzung mit Nietzsche wird klären lassen. Diese Annahme stützt sich auf ein bestimmtes, in sich strittiges Verständnis von Philosophie, das hier als solches nicht begründet, aber dennoch ausgesprochen werden soll: die Einschätzung der Philosophie als der Fähigkeit, die qualifizierte Wahrnehmung eines Ganzen von Wirklichkeit zu sein und sie in artikulierte Rede oder Schrift umzusetzen. Mit diesem Begriff des Ganzen ist keine gegenständliche Größe gemeint, sondern eine solche, die aus der Perspektive bestimmter Reflexionsprinzipien so erschlossen wird, dass sie der Wahrnehmung oder der begrifflichen Bestimmung von Wirklichkeit und Gegenständlichkeit als Grund oder, transzendentalphilosophisch gesprochen, als Bedingung der Möglichkeit vorausliegt. Nietzsches Philosophie hat selber einen derartigen Denkraum von Ganzheit mit besonderer Intensität betreten und ihn dabei als einen Ausnahmeraum par excellence charakterisiert 3 . N u r aus der Perspektive eines derartigen Denk- und Erfahrungsraumes konnte er sein Konzept dionysischer Philosophie gewinnen, das er der von ihm mit dem Gattungsnamen ,Piatonismus' bezeichneten Metaphysik entgegengestellt hat. Und nur aus der Perspektive seiner dionysischen Rechtfertigung des Daseins konnte er jedes regelgeleitete Verhalten, sowohl im Bereich des Wissens (Wissenschaft) als auch im Bereich des Handelns (Moral), als die unvermeidbare und dennoch revidierbare Einschränkung einer ihm gegenüber vorgängigen, wenn auch in der Regel vergessenen Erfahrung dynamischer Überkomplexität charakterisieren und kritisieren. Genealogie, Typologisierung, Bewertung, Diagnose, Umwertung und Therapie von Einschränkungen einer als dionysisch bezeichneten Erfahrungsperspektive stehen im Zentrum der nietzscheschen Philosophie. Von dieser Beobachtung aus hat Martin Heidegger bekanntlich bestritten, dass Nietzsche das Denken der

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Ich verweise dafür nur auf „das Bild des Philosophen", das Nietzsche in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen entwirft. Es zeigt eine exemplarische „Art zu leben u n d die menschlichen Dinge anzusehn" (KSA I, 801), nämlich die Fähigkeit zu einem „Urtheil ... über das Leben u n d das Dasein" (KSA I, 809), das von einem Blick auf „die Einheit des Seienden" getragen ist oder von der Fähigkeit, „den Gesammtklang der Welt in sich nachtönen zu lassen u n d ihn aus sich herauszustellen in Begriffen" (KSA I, 817). Nietzsches Philosophie ist in ihrem Kern eine hoch komplexe F o r m der Wiederaneignung dieses auf die tragische Kultur der Griechen zurückprojizierten Bildes von Philosophie.

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Vorwort

Metaphysik, insofern es primär ein Denken der Ganzheit des Seienden ist, wirklich überwunden hat. Aber nur dadurch, dass er Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Vollendungsgestalt des metaphysischen Denkens auslegt, findet er selber seinen eigenen Denkweg, der eine originäre, von den Gewohnheiten des metaphysischen Denkens nicht mehr verstellte Erfahrung authentischen Seyns erschließen soll. In Frankreich hat Jacques Derrida mit Heidegger und zugleich mit einem gegen Heidegger verteidigten Nietzsche zu einem Denken der nicht mehr phonetisch restringierten „écriture" gefunden, das sich von jedem authentischen Bezug auf eine Stimme der Wahrheit, einschließlich derjenigen des von Heidegger beschworenen „Seyns" verabschiedet hat. Wir bewegen uns nach Derrida nur mehr in jeweils verschiedenen Regularitäten der Schrift, die als solche mit analytischer Notwendigkeit nicht nur auf gleichberechtigte und gleichartige Alternativen verweisen, sondern ebenso auf einen ungleichartigen Bereich jenseits der Schrift, der ihr eigener Ermöglichungsgrund nur dadurch sein kann, dass er sich jeder Vergegenwärtigung, einschließlich derjenigen durch Schrift, widersetzt. Im Blick auf Heidegger, Derrida und, wenn man die italienische Perspektive mitberücksichtigt, auf Gianni Vattimo kann deutlich werden: Eine Uberwindung der Metaphysik oder des vermeintlich mit ihr verbundenen Logozentrismus, die sich nicht damit zufriedengibt, den Diskurs der Philosophie ausschließlich auf szientifische Formen der Regularität festzulegen, findet aus historischen und systematischen Gründen in Nietzsches Philosophie ein Muster, das intensiver wohl als jedes andere zum gründlichen Durchdenken einlädt. Mit seiner Hilfe finden im angelsächsischen Sprachraum Richard Rorty und Alexander Nehamas ebenfalls zu einem Begriff nichtszientifischer Philosophie. Nietzsches Denken scheint eine Gestalt philosophischer Reflexion zu enthalten, die in systematischer Hinsicht auf eine Möglichkeit von Philosophie unter den Bedingungen der Gegenwart verweist. Ohne die davon ausgehende Faszination und ohne die für die gegenwärtige Diskussion charakteristische Verlegenheit in Bezug auf die Möglichkeiten von Philosophie im Kontext einer szientifisch geprägten Kultur gäbe es keine philosophisch ambitionierte Nietzsche-Diskussion. Ähnliches gilt für andere Fragestellungen der Gegenwartsphilosophie, die vor allem im angelsächsischen Sprachraum diskutiert werden, etwa für die Suche nach einem Begriff des Wissens, der unter nach-transzendentalphilosophischen Bedingungen die Position des Skeptizismus vermeiden will, ohne sich dafür auf einen natürlichen' Garanten von Wahrheit berufen zu können, oder für die Suche nach einem angemessenen Verständnis der Dimension des Politischen, das darauf verzichtet, die in ihm realisierte oder zu realisierende Normativität von einer Instanz jenseits ihrer selbst abzuleiten. Mit dieser Überlegung zur systematischen Relevanz der nietzscheschen Philosophie ist zugleich das entscheidende Kriterium für die Auswahl der verschiedenen Positionen der Nietzsche-Forschung und -Diskussion genannt. Berücksichtigt werden Beiträge, die sich entweder um ein Verständnis der originär philosophi-

Vorwort

IX

sehen oder prinzipientheoretischen Dimension des nietzscheschen Denkens bemühen oder auf Komponenten seines Denkens verweisen, die in einer Gesamtdeutung der Philosophie Nietzsches eine entscheidende Rolle spielen. Anders formuliert: Es wird vor allem die Literatur berücksichtigt, die sich bewusst an die Grenze zwischen einer eher historisch orientierten Nietzsche-Forschung im engeren Sinn und einer eher philosophisch-systematischen Nietzsch^.-Diskussion begibt 4 . Literatur, die sich von ihrer eigenen Intention her nicht in Richtung auf diese Grenze bewegt, wird im vorliegenden Band, weil er etwas anderes ist als ein historischer Bericht über möglichst sämtliche Aspekte der gegenwärtigen Nietzsche-Forschung, außer Betracht gelassen. Ich habe mich allerdings bemüht, in Bezug auf das angedeutete Auswahlkriterium eine strikte Entweder-Oder-Unterscheidung ebenso zu vermeiden wie die Festlegung auf eine bestimmte Position innerhalb des erwähnten Diskussionsfeldes, obwohl auch so weder die vorgenommene Auswahl noch die Gewichtung der Einzeldarstellungen von subjektiven Einfärbungen freigehalten werden konnten. Der Leser findet im vorliegenden Band jedenfalls nicht nur bekannte Größen, sondern auch weniger beachtete Alternativen, wenn diese ebenfalls ein systematisches Interesse beanspruchen dürfen. In anderer Beleuchtung ließe sich auch sagen: Es wurde die Literatur berücksichtigt, die sich bemüht, die innere Einheit bzw. den besonderen Status der nietzscheschen Philosophie so zu klären, dass dabei auch, zumindest indirekt, deren systematische Bedeutung für gegenwärtige Diskussionen erkennbar wird. Die Art der Darstellung folgt der Überzeugung, dass die Interpretations- und Diskussionsarbeit, die Nietzsche gegenwärtig gewidmet wird, für jeden, der sich ernsthaft mit seiner Philosophie auseinandersetzen will, unendliche Reichtümer bereit hält, die allzu oft selbst den Spezialisten der Forschung entweder unbekannt sind oder von ihnen nicht mit der gebotenen Sorgfalt aufgenommen werden. U m diesen Reichtum zugänglich zu machen, ist die Darstellung weder auf Kritik noch auf Synthese abgestellt. Insgesamt wird auch in der Nietzsche-Forschung der Gegenwart mit den Einsichten anderer viel zu wenig diskutiert, so dass ein Ziel der vorliegenden Darstellung darin besteht, den für die Bezugnahme auf Nietzsche relevanten Diskussionshorizont so umfassend wie möglich abzuschreiten. W e r Nietzsche wirklich verstehen will, darf sich heute nicht mehr allein mit der Lektüre seiner Texte begnügen, obwohl selbst damit nicht wenig gefordert ist. M a n muss darüber hinaus die wichtigsten Diskussionsstränge der Nietzsche-Interpretation kennen und ein Gespür dafür entwickeln, in welcher Weise, in welcher Absicht

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Damit dürfte angedeutet sein, was in der vorliegenden Darstellung unter den Begriffen „Diskussion", „Interpretation", „Forschung" und „Rezeption" verstanden werden soll. „Rezeption" ist der allgemeinste der in diesem Wortfeld verwendeten Begriffe, der seinen Bedeutungshorizont über die Begriffe „Diskussion", „Interpretation" (oder „Deutung") und „Forschung" kontinuierlich verengt, ohne dass es möglich wäre, die Bedeutungshorizonte der einzelnen Begriffe exakt gegeneinander abzugrenzen.

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Vorwort

und unter welchen Voraussetzungen man sich dort dem Zentrum der nietzscheschen Philosophie nähern will. Dazu ist mehr erforderlich als die Kenntnis exemplarischer Monographien und der in ihnen vorgetragenen Thesen. Es bedarf vielmehr zusätzlich eines Uberblicks über die besonderen philosophischen Motive, die zur Ausbildung einzelner Diskussionsfelder geführt haben, besonders dann, wenn sie Dimensionen des nietzscheschen Denkens erschließen, die ansonsten unbeachtet bleiben würden. Aufschlussreich ist im Fall Nietzsches manchmal sogar eine vollständig unorthodoxe Literatur, die sein Denken zu vergewaltigen scheint, indem sie es auf Probleme bezieht, die ihm fremd gewesen sind, aber gerade dadurch den exzeptionellen Duktus und die ungewöhnliche Riskiertheit seiner Philosophie verdeutlichen — Eigenschaften, die in lege artis korrekten Interpretationen oft heruntergespielt werden. Es liegt außerhalb der Reichweite der vorliegenden Darstellung, die in den vielfältigen Formen der Bezugnahme auf Nietzsche angesprochenen philosophischen Sachfragen zu klären. Es geht allein um die Bereitstellung von Informationen, die dem Leser helfen sollen, sich im weiten Feld der internationalen NietzscheDiskussion zurechtzufinden und die in ihm sich artikulierenden systematischen Probleme angemessen wahrzunehmen. Weil auch darauf verzichtet werden muss, die in den jeweiligen Interpretationen angesprochenen Probleme von Nietzsche selber her zu klären, werden beim Leser gewisse Grundkenntnisse der nietzscheschen Philosophie oder die Fähigkeit, sie sich anzueignen, vorausgesetzt. Die Darstellung ist also nicht selber Nietzsche-Interpretation, sondern sie hat sie nur zu ihrem Thema. Im Zentrum der Überlegungen stehen monographische Darstellungen, während Aufsätze in der Regel nur dann herangezogen werden, wenn sie eine monographische Darstellung ergänzen oder zusammenfassen. Eine Ausnahme betrifft einige wenige Autoren wie etwa Michel Foucault, Jacques Derrida, Leo Strauss oder Richard Rorty, die keine Bücher über Nietzsche geschrieben und dennoch für die Profilierung der systematischen Perspektive der gegenwärtigen Nietzsche-Diskussion Wesentliches geleistet haben. Die einzelnen Kapitel zu den verschiedenen internationalen Zentren der Nietzsche-Rezeption können weitgehend unabhängig voneinander gelesen werden. Ihnen sind gesonderte Einleitungen vorangestellt, in denen die wichtigsten inhaltlichen Schwerpunkte der jeweiligen Bezugnahmen auf Nietzsche vorgestellt werden. Zugleich wird dort die Gliederung der Darstellung im Einzelnen erläutert. Jedes dieser Kapitel wird mit einer Betrachtung abgeschlossen, die auf die philosophischen Dimensionen der zuvor dargestellten Positionen und Diskussionen verweist. Die Gliederung folgt — mit Ausnahme des der italienischen Diskussion gewidmeten Teils — primär systematisch-sachlichen Gesichtspunkten, so dass es möglich wird, die besprochenen Beiträge sofort den thematisch unterschiedlich konturierten Diskussionsfeldern zuzuordnen, denen sie im Sinne einer Initialzündung, Fortsetzung, Variation oder der Eröffnung einer Alternative zugehören. Innerhalb dieser Felder ist die Darstel-

Vorwort

XI

lung chronologisch geordnet, so dass nicht nur das Gegeneinander verschiedener Felder, sondern auch deren interne Differenzierung nachvollzogen werden kann. Das Literaturverzeichnis am Schluss des vorliegenden Buches ist keine auf Vollständigkeit angelegte Bibliographie, wie sie etwa Gernot Uwe Gabel für einen anderen Bereich der Nietzsche-Forschung verfasst hat 3 . Es werden die repräsentativen Sammelbände zur französischen, italienischen und angelsächsischen Nietzsche-Rezeption angeführt, aber auch andere Hilfsmittel, die für eine weiter reichende Literatur-Recherche nützlich sein können. Selbstverständlich findet man in der Bibliographie die in der Darstellung herangezogene Literatur und die wichtigsten Nietzsche-Beiträge der im vorliegenden Buch berücksichtigten Autoren. Welche Erwartungen dabei im Einzelnen erfüllt werden können, ist dem Inhaltsverzeichnis zu entnehmen. In der Kombination von Textdarstellung und Bibliographie erhält der Leser jedenfalls alle wichtigen Informationen, die zur Gattung des traditionellen Forschungsberichts gehören, so dass er mit ihnen auch selbständig andere als die in der Darstellung angesprochenen Themen der NietzscheRezeption erschließen kann. In den Anmerkungen finden sich zudem Querverweise auf parallele Fragestellungen, die in anderen Kapiteln der vorliegenden Darstellung unter ähnlichen oder verschiedenen Prämissen thematisiert sind, sowie Hinweise auf weiterführende Literatur aus dem Bereich der deutschsprachigen Nietzsche-Diskussion. Nietzsches Texte selber werden, wie heute üblich, zitiert nach Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (abgekürzt KSA), herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980. Herzlich danken möchte ich dem Kollegen Prof. Dr. Volker Gerhardt, der mich bei der Suche nach einer Publikationsmöglichkeit für den vorliegenden Band tatkräftig unterstützt hat.

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Gernot Uwe Gabel, Friedrieb Nietzsche. Ein Verzeichnis westeuropäischer und nordamerikanischer Hochschulschriften 1900-1980, Köln 1985.

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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Nietzsche in Frankreich Einleitung

A Nietzsche als Philosoph der Differenz 1. Nietzsche als Gründungsfigur einer anti-hegelianischen Philosophie der „différence et répétition" Gilles Deleuze 2. Nietzsche als Philosoph dionysischer Theophanie Pierre Klossowski 3. Nietzsche als Theoretiker und Praktiker des Kriegs oder des Spiels der Zeichen a) Nietzsches Blick auf die Geschichte als Theater der Gewalt Michel Foucault b) Nietzsches Blick auf das Spiel der „différance" Jacques Derrida c) Nietzsche als Systematiker des Spiels der Zeichen. Bernard Pautrat, Jean-Michel Rey, Sarah Kofman, Thierry Lenain

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Β Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe 1. Nietzsche als Ontologe der Differenz Pierre Boudot, Simone Goyard-Fabre, Michel Guérin, François Lamelle 2. Nietzsche als Psychologe und als Erzieher zur Freiheit Christophe Baroni, Daniel Laurent, Charles Murin, Tarmo Kunnas, Michel Henry, Paul-Laurent Assoun, Louis Corman 3. Nietzsche auf dem Weg zu einer neuen Ontologie a) Die Lehre vom Willen zur Macht als Ontologie einer „fluidité multiforme du devenir" Jean Granier b) Nietzsches Philosophie als Ontologie der Physis, der materialistischen Praxis oder der unerschöpflichen Erzeugung von Schein Alain Juranville, Yvon Quiniou, Michel Haar c) Nietzsche als Metaphysiker dionysischer Kultur Éric Blondel, Patrick Wotling

60

83

C Schlussbemerkung zur französischen Nietzsche-Diskussion

89

60

66 70

70

76

XIV

Inhaltsverzeichnis

II Nietzsche in italienischer Perspektive Einleitung

99 99

A Nietzsche und die Wiedergeburt der Weisheit Giorgio Colli

102

Β Nietzsche als Philosoph radikaler Aufklärung Mazzino Montinari

108

C Nietzsche als Begründer einer radikal hermeneutischen Philosophie Gianni Vattimo

112

D Nietzsches dionysische Optik der Extreme Ferruccio Masini

121

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Schlussbemerkung zur italienischen Nietzsche-Diskussion

III Nietzsche in der angelsächsischen Welt Einleitung

129 129

A Der Beginn der philosophischen Nietzsche-Rezeption in den Vereinigten Staaten von Amerika Walter Kaufmann und Arthur Coleman Danto

136

Β Nietzsches Philosophie als systematisch diskussionsfähige Epistemologie . 147 1. Nietzsches Alternative zur Korrespondenztheorie der Wahrheit John T. Wilcox 147 2. Nietzsches „Empirismus ohne Dogma" Ruediger Hermann Grimm 151 3. Nietzsches rhetorischer Wissensbegriff und das Problem einer nicht-nihilistischen Kultur Daniel Breazeale 156 C Nietzsche als Philosoph der „conceptual permissiveness" und als Theoretiker der ästhetisch-ironischen Existenz 1. Nietzsche und die Frage des „In-der-Welt-Seins" Bernd Magnus 2. Nietzsche im Spiel der Dekonstruktion Von Paul de Man zu John Sallis 3. Nietzsche und das Modell philosophischer Lebenskunst a) Peter Hellers philologische Rekonstruktion: Nietzsches Neubewertung der Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt . . . . b) Terry Eagletons ideologiekritischer Einwand: Nietzsches Philosophie als ästhetisch fundierte und dadurch politisch entmachtete Gesellschaftsutopie

160 161 169 176 176

177

Inhaltsverzeichnis c) Die definitive Entlastung der philosophischen Theorie. Nietzsche und das Modell postmoderner Lebenskunst. Alexander Nehamas und Richard Rorty d) Nietzsches Philosophie als hermeneutische Ontologie Alan D. Schrift D Nietzsches Philosophie als theoretische Lehre 1. Nietzsches Philosophie als anthropologisch reformierte Metaphysik und Kosmologie Richard Schacht und Alistair Moles 2. Wiederaufnahmen der epistemologischen Nietzsche-Deutung: Der systematisch-gegenwartsbezogene Ansatz von Maudemarie Clark und der historisch-systematische von George J. Stack 3. Nietzsches Philosophie als Alternative zu einem epistemologischen Begriff von Wahrheit und Wissen Randall Havas und Ted Sadler 4. Die Entdeckung der systematischen Gestalt der nietzscheschen Philosophie John Richardson E

Nietzsches Philosophie als Wille zu praktischer Wirkung 1. Nietzsche im Kontext der gegenwärtigen Ethik-Diskussion 2. Nietzsche als „Arzt der Cultur" a) Nietzsches Philosophie als Theorie der Erziehung und Bildung . b) Psychologisch-psychoanalytische Annäherungen 3. Nietzsche und das Problem der Politik a) Leo Strauss und Nietzsche Zur Genese eines nietzscheanischen Begriffs klassischer Politik . b) Nietzsche und die liberale Theorie der Demokratie α) Nietzsche als Theoretiker liberaler Politik Henry S. Kariel ß) Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Uberwindung des individualistischen Liberalismus durch eine politische Theorie der kommunikativen Handlung Mark Warren y) Nietzsches Stellung im Diskurs der Moderne und das Konzept agonaler Demokratie David Owen, William Connolly, Daniel Conway und Lawrence J. Hatab c) Nietzsches Philosophie als Alternative zu einer Theorie liberaler Politik α) Nietzsches Philosophie als Theorie einer Politik individueller Transfiguration Tracy Β. Strong

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192

199

202 209 210 215 . 217 223 233 . 236 242 244

245

248 255

255

XVI

Inhaltsverzeichnis β) Nietzsche und die Moralität der äußersten Anstrengung Joseph P. Stern y) Nietzsches Wille zur Entfesselung dämonischer Individualität Robert Eden δ) Nietzsches Politik des aristokratischen Radikalismus Bruce Detwiler ε) Die dienende Rolle der Politik für eine dionysische Kultur der Zukunft Keith Ansell-Pearson ζ) Nietzsche und das Problem des politischen Piatonismus in der Epoche des epistemologischen Nihilismus Stanley Rosen η) Nietzsches antidemokratische und antisozialistische Wirkungsabsicht Geoff Waite

F

260 261 265

271

274

282

Schlussbemerkung zu Nietzsches Präsenz in der angelsächsischen Welt . . 285

Bibliographie

297

Register Personen Sachen

323 323 327

I

Nietzsche in Frankreich Einleitung

Im ersten Kapitel des vorliegenden Buches geht es um die französische Nietzsche-Diskussion seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Sie ist deswegen von einer kaum zu überschätzenden Bedeutung, weil in ihr nicht nur über den besonderen Status der nietzscheschen Philosophie, sondern auch über den Anspruch und den Charakter philosophischer Reflexion überhaupt eine Entscheidung gesucht wird, die sich von den bis dahin weitgehend akzeptierten Antworten des Existenzialismus, des Marxismus oder der Phänomenologie unterscheidet. Nietzsche ist für diese Diskussion keine in sich abgeklärte Gestalt der Philosophiegeschichte. Sein Denken wirkt vielmehr als explosiver Impuls für ein angemessenes Verständnis dessen, was philosophische Reflexion nach dem Ende des Glaubens an die Verlässlichkeit überlieferter Antworten überhaupt noch bedeuten kann. Im Zeichen Nietzsches hat vielleicht der beste Teil der französischen Gegenwartsphilosophie ein Experiment mit sich selbst unternommen, in dem die philosophische Reflexion sich vom methodischen Ideal des potenziell erfolgreichen Zugangs auf einen Wahrheitsgaranten des menschlichen Denkens, auf ein Gerechtigkeitsprinzip des Handelns oder auf ein ihr selber vorausliegendes Prinzip von Wirklichkeit definitiv verabschiedet. Wenn sich Positionen der französischen Gegenwartsphilosophie dabei dem Strukturalismus de Saussures oder der Psychoanalyse Freuds annähern, so bedeutet dies weniger die Suche nach unverbrauchten Orthodoxien als vielmehr den Versuch, die philosophische Tätigkeit von einem Grund her zu verstehen, der sich in seinem variablen, synthetischen und undurchschaubaren Charakter jeder wie auch immer qualifizierten Annäherung definitiv entzieht. Nietzsche und mit ihm Heidegger initiieren für wichtige Teile der französischen Gegenwartsphilosophie ein Denken vor aller Gegenständlichkeit und Regularität, und zwar so, dass darin gleichsam die mehr oder weniger bewusste Wiederholung des schon von Piaton im Theaitetos diskutierten und dort zurückgewiesenen Experiments erkennbar wird, reines Werden, also ein Werden, das niemals ist, als den nicht zu vergegenständlichenden Grund aller Wirklichkeitsbeziehung zu denken. So entsteht in Frankreich ein Muster der Kritik an einer Form allgemein verbindlicher Rationalität, das in anderen Ländern, vor allem in Deutschland, weitgehend unbekannt ist und deshalb dort vorschnell als irrational oder als bloß ästhetisch deklariert wird 6 . In diesem Vorwurf hat gleichsam 6

Charakteristisch dafür ist die Kritik an Nietzsche und an den Autoren der sogenannten Postmoderne, die sich namentlich auf Nietzsche berufen, wie sie Jürgen Habermas (Der philosophische

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I Nietzsche in Frankreich

der gegenteilige Versuch Gestalt gewonnen, der nur ein solches Sein als Prinzip von Wirklichkeit gelten lassen will, das sich nicht in die ihm entgegengesetzte Form kontingenten Werdens oder Gewordenseins auflösen lässt. Die sich gegenwärtig an Nietzsche orientierende Variante einer Kritik der in sich befestigten Rationalität geht einerseits auf frühere Anstöße der französischen Nietzsche-Diskussion im Kontext des Surrealismus, vor allem bei Georges Bataille zurück. Andererseits verbindet sich das für sie charakteristische Denken der Ambivalenz von Anwesenheit und Abwesenheit, von Unbestimmtheit und Bestimmtheit, von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen oder von Spontaneität und Konstruktion mit einer älteren Tradition der Rationalitätskritik, für die hier Namen wie Montaigne, Pascal, Diderot und Rousseau stehen mögen. Zugleich wird Nietzsches Rationalitätskritik auf das Konzept autonomer künstlerischer Produktion im Sinne authentischer Darstellung des Nicht-Darstellbaren bezogen, das seit dem neunzehnten Jahrhundert besonders in Frankreich Produktionsform und Reflexionsgestalt der Kunst immer stärker bestimmt hat. In der lebendigen Erinnerung an solche Vorgaben wird mit Nietzsche ein Weg gesucht, der das Denken an die prekäre Grenze des Vernünftigen und des Allgemeinen so heranführt, dass deren Überschreitung nicht einfach Regression, Irrationalismus oder das Ende der Moderne, sondern eher das Gegenteil davon bedeutet. Die von Gilles Deleuze und Pierre Klossowski angestoßene, dann hauptsächlich von Jacques Derrida und seinem Schülerkreis weitergeführte Nietzsche-Deutung hat aufgrund ihrer faszinierenden und zugleich befremdenden Einseitigkeit auch in Frankreich Widerspruch gefunden. Dabei wird gefragt: Wollte Nietzsche in seinen Lehren vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, mit seinem Konzept der Umwertung aller Werte und einer dionysischen Lebensbejahung nur eine Form essenziell moderner Schrift inszenieren, die nichts anderes realisiert als ein intentionsloses Spiel willkürlich produzierter Zeichen mit sich selbst? Oder intendiert er nicht doch so etwas wie eine gehaltreiche Form der Weltdeutung, auch wenn sie sich von der Tradition der Metaphysik absetzt? Erhebt sich in Nietzsches Schrift nicht auch die Stimme einer „Lehre", wie immer man sie in ihrem methodischen Status einschätzen mag? Spricht diese Stimme nicht primär im Namen einer praktischen Wahrheit, die wie diejenige eines Arztes diagnostisch und therapeutisch in den als Krankheitsprozess erkannten Nihilismus der Gegenwart eingreifen und dabei der eigenen Zeit die Kraft zuführen will, die zum Aufbau einer für den Nihilismus nicht mehr anfälligen Kultur der Zukunft benötigt wird? Wer solche oder vergleichbare Fragen dem Trend der dekonstruktionistischen Nietzsche-Deutung entgegenhält, ist ebenfalls zu einem radikalen Experiment des Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, insbes. Kap. IV: Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe, 104—129) formuliert hat.

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philosophischen Denkens mit sich selbst gezwungen. Die ontologischen Intentionen, die theoretischen Wahrheitsansprüche oder die praktischen W i r k u n g s absichten, die in Nietzsches Philosophie Gestalt gewinnen, lassen sich, wenn man deren Selbstverständnis beachtet, nicht einfach als Fortsetzung der Metaphysik mit anderen Mitteln verstehen. W e n n mit Nietzsche gegenüber dieser Tradition wirklich etwas Neues beginnen soll, dann muss geklärt werden, was so etwas wie Ontologie nach dem Ende der Metaphysik überhaupt noch bedeuten kann. Jean Granier hat in der Reaktion auf Heideggers Nietzsche-Deutung und in Konkurrenz mit Deleuze als Erster versucht, den ontologischen Status der nietzscheschen Philosophie so zu bestimmen, dass er sowohl über die von Heidegger kritisierte Dimension der Metaphysik als auch über diejenige der „écriture" im Sinne Derridas hinausweist. Andere Autoren sind der Uberzeugung, dass es gerade die Motive eines dekonstruktionistisch gelesenen Nietzsche sind, die sich als Grundlage einer zeitgemäßen Ontologie empfehlen. Dabei stellt sich zwangsläufig die Frage, wie die Bewegungen der „écriture", der „différance" oder einer inhaltlich unbestimmbar gewordenen „transgression" in philosophischer Hinsicht genau zu verstehen sind, als deren philosophischer Ahnherr Nietzsche bei Foucault und Derrida erscheint. W e n n derartige Bewegungen selber bereits einen ontologischen Sinn haben, dann wäre es unsinnig, sie durch eine inhaltliche Ontologie anderer Art zu überbieten. W e n n sie hingegen auf einen Sinn angelegt sind, der sich dem gedanklichen Konzept einer Ontologie bewusst widersetzt, dann wäre es unmöglich, eine ontologische Nietzsche-Deutung sachlich überhaupt zu rechtfertigen. Angesichts dieser intrikaten Probleme ist es verständlich, dass wieder andere Autoren über die in Nietzsches W e r k enthaltene Psychologie, über seine Theorie des menschlichen Leibes, den vermeintlichen Empirismus seines Denkens oder über eine von Nietzsche realisierte und zugleich reflektierte Theorie des Spiels zu einem Konzept von Philosophie vorstoßen, das zwischen Ontologie und Transzendentalphilosophie in einer schwer definierbaren Weise oszilliert. Jeder dieser Deutungsansätze verweist auf die kaum lösbaren Probleme einer befriedigenden Klärung des Status und damit des besonderen Wahrheitsanspruchs der nietzscheschen Philosophie, zugleich aber auch auf allgemeine Probleme einer nach-metaphysischen Ontologie und Erkenntnistheorie. Meine Darstellung berührt sich nur teilweise mit anderen Arbeiten zur französischen Gegenwartsphilosophie, in denen die Bedeutung Nietzsches für deren neuere Entwicklung entweder direkt oder indirekt zum T h e m a gemacht worden ist. Diese Beiträge, denen ich vielfältige Belehrung verdanke, folgen anderen inhaltlichen Akzenten. Vincent Descombes 7 will Grundzüge der philosophischen

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Vincent Descombes, Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich. 1933-1978. Frankfurt am Main 1981, dt. Ubers, von Le même et l'autre. Quarante-cinq ans de philosophie française (1933-1978), Paris 1979.

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Entwicklung in Frankreich von 1933 bis 1978 herausarbeiten, die er hauptsächlich nach dem Kriterium einer Nähe zu Hegel, Husserl und Heidegger einerseits und einer Nähe zu Marx, Nietzsche und Freud andererseits zu unterscheiden sucht. Dabei wird das, was der Autor als den „französische(n) Nietzscheismus der letzten zwanzig Jahre" bezeichnet (222), primär aus einer kritisch-polemischen Perspektive betrachtet. Meine eigene Darstellung ist, was die historische Palette betrifft, wesentlich enger, weil ich mich auf die Nietzsche-Rezeption vom Jahre 1960 an konzentriere. Zugleich bemühe ich mich, den sachlichen Impulsen, die sie bestimmen, gerechter zu werden als Descombes. Ich bin nicht so sicher wie er, dass die Rezeption Nietzsches im Kreis von Deleuze, Foucault und Derrida ausschließlich philosophische Defekte erzeugt. Zudem achte ich auf solche Formen der Nietzsche-Rezeption, die ganz ausdrücklich mit Nietzsche einen neuen Zugang zu ontologisch-metaphysischen Fragen und nicht nur deren Destruktion suchen. Bernhard Waidenfels 8 thematisiert die Rezeption der Phänomenologie (Husserl, Heidegger) in der französischen Gegenwartsphilosophie und gibt in diesem Rahmen eine Fülle wertvoller Hinweise auf einzelne Aspekte der sich manchmal mit ihr verbindenden Nietzsche-Rezeption. Manfred Franks Thema ist das besondere philosophische Profd des französischen Neo-Strukturalismus, so dass auch hier der Bezug auf Nietzsche naturgemäß nur indirekt und im Blick auf ein anderes Auswahlkriterium als in meiner Darstellung beachtet wird 9 . Größere Nähe besteht zu den Arbeiten von Alan D. Schrift, der sich in zwei außerordentlich nützlichen Büchern mit wesentlichen Aspekten der Nietzsche-Rezeption in Frankreich, wenn auch nur im Blick auf die „Genealogie des Poststrukturalismus" auseinandergesetzt hat. In Nietzsche and the Question of Interpretation10 geht es dem Autor primär um eine Klärung der philosophischen Motive, durch die es sinnvoll wird, in einer Reaktion auf Heideggers Destruktion der Metaphysik und auf die mit ihr verbundene Nietzsche-Interpretation die vermeintlich obsolet gewordene Frage nach dem ,Sein' durch die Frage nach der ,Interpretation' zu ersetzen. Zudem werden die Überlegungen, die im Kontext dieser Frage im französischen Poststrukturalismus auftreten, mit ähnlichen Fragen der angelsächsischen, vor allem der amerikanischen Nietzsche-Diskussion in Beziehung gebracht 11 . In Nietzsche 's French Legacy12 wird die Bedeutung der Nietzsche-Rezeption für die innere Genealogie des Poststrukturalismus, insbesondere für Derrida, Foucault und Deleuze, herausgestellt.

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Bernhard Waidenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt am Main 1983, zitiert nach 2 1998. Manfred Frank, Was ist Neo-StrukturalismusFrankfurt am Main 1984. Zur Bedeutung Nietzsches für den Neo-Strukturalismus vgl. die 13. Vorlesung, 2 5 9 - 2 7 8 . Alan D . Schrift, Nietzsche and the Question of Interpretation. Between Hermeneutics and Deconstruction, N e w Y o r k / L o n d o n 1990. Aus diesem G r u n d findet die in der vorangegangenen A n m e r k u n g genannte Arbeit von Alan D. Schrift auch ihre Beachtung in meiner Darstellung der angelsächsischen Nietzsche-Rezeption, u n d zwar S. 183ff. des vorliegenden Bandes. Alan D . Schrift, Nietzsche's French Legacy. A Genealogy of Poststructuralism, N e w Y o r k / L o n d o n 1995.

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Für diese Akzentuierung, die mit meiner nicht identisch ist, obwohl sie sich mit ihr teilweise intensiv berührt, sollte der interessierte Leser die genannte Arbeit Schrifts vergleichend heranziehen. Mir geht es auch im Blick auf Positionen des Poststrukturalismus vor allem um eine möglichst konzentrierte Kennzeichnung der philosophisch-systematischen Motive und Fragestellungen, die das Interesse an Nietzsche von vornherein in eine bestimmte Richtung lenken. Zusätzlich werden in der vorliegenden Darstellung auch andere als poststrukturalistische Formen der Nietzsche-Rezeption vorgestellt und auf ihre philosophischen Voraussetzungen hin transparent gemacht. Jacques Le Riders Darstellung 13 ist unter historischem Aspekt umfassender als mein eigener Beitrag angelegt. Einzelne Positionen werden dort, was in einem derartigen Rahmen auch anders kaum möglich ist, nur stichwortartig referiert, während es mir darauf ankam, die Beiträge zur Nietzsche-Interpretation seit den sechziger Jahren inhaltlich genauer und zudem so vorzustellen, dass der philosophische Diskussionsrahmen erkennbar wird, innerhalb dessen sich die Blickweisen auf Nietzsche ihre jeweils besondere Kontur verschaffen 14 . Dabei ist mir nicht an einer Parteinahme für die eine oder andere philosophische Position gelegen, sondern an der Profilierung eines Diskussionsfeldes, das nicht nur für die französische Gegenwartsphilosophie, sondern auch für eine Antwort auf die systematische Frage wichtig ist, was die Tätigkeit philosophischer Prinzipienreflexion unter heutigen Bedingungen überhaupt noch bedeuten kann. Ich möchte zeigen, dass die Konturen dieses Diskussionsfeldes maßgeblich aus kontroversen Bezugnahmen auf Nietzsche zu gewinnen sind. Frankreich, vor allem die französische Kultur des „sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts" mit „ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft" und „ihrer erfinderischen Vornehmheit", ist für Nietzsche immer ein Gegenstand tiefer Bewunderung gewesen 13 . Zwar ist es infolge der Revolution von 1789 und der Wirkungslosigkeit des napoleonischen Intermezzos nur mehr „ein verdummtes und vergröbertes Frankreich", das die Bühne des 19. Jahrhunderts betritt und dort die Aufmerksamkeit seiner Beobachter und Mitspieler in Anspruch nimmt. Dies ändert aber nichts daran, dass Frankreich für Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts immer noch als „Sitz der geistigsten und raffiniertesten Cultur Europa's" 16 gilt. Vor allem die 13

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Jacques Le Rider, Nietzsche in Frankreich. Aus d e m Französischen von Heinz Jatho. Mit einem Nachwort von Ernst Behler, M ü n c h e n 1997 (erweiterte Fassung des Vorworts zu: Friedrich Nietzsche, Œuvres, éd. Jean Lacoste et Jacques Le Rider, Paris 1993). Primär narrativ u n d referierend angelegt ist auch der Beitrag von Louis Pinto, Les neveux de Zarathoustra. La réception de Nietzsche en France, Paris 1995. Die Arbeit von Douglas Smith, Transvaluations. Nietzsche in France 1872-1972, Oxford 1996, bewegt sich einerseits in einem anderen historischen Rahmen als mein Beitrag (obwohl durch Hinweise auf Foucault, Deleuze, Klossowski, Derrida, Granier etc. wichtige Berührungspunkte gegeben sind) u n d konzentriert sich zudem auf genuin politische Implikationen der französischen Nietzsche-Rezeption. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 253, KSA 5, 197. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 254, KSA 5, 198.

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für ihn selber so wichtigen Charakterzüge einer durch Form gebändigten, aber dadurch eher gesteigerten als beschädigten Leidenschaftlichkeit und die Fähigkeit zu subtiler psychologisch-physiologischer W a h r n e h m u n g werden von Nietzsche immer wieder auf die französische Kultur projiziert, so dass er sich ihr unter diesem Aspekt selber zugehörig weiß. W i e wichtig eine genuin französische Dimension für Nietzsches Philosophie gewesen ist, hat einer der beiden italienischen Herausgeber der ersten kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Nietzsches, Mazzino Montinari, in Beobachtungen zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts verdeutlicht 17 . U n d eine der glühendsten Verehrerinnen Nietzsches im gegenwärtigen Frankreich, die 1994 verstorbene Sarah Kofman, hat gezeigt, dass Nietzsche sich ganz bewusst eine französische Identität geschaffen und sie als eine der Masken benötigt hat, hinter denen er die singulare Intensität seines eigenen Lebens und Denkens zugleich andeuten und verbergen konnte 1 8 . So ist es kaum eine Überraschung, dass in Frankreich schon zu seinen Lebzeiten eine intellektuelle Auseinandersetzung mit Nietzsche beginnt. Ihrer Entfaltung hat Geneviève Bianquis bereits im Jahre 1929 eine Studie gewidmet 1 9 , die 1970 durch Pierre Boudot eine Fortsetzung erfahren hat 2 0 . In den letzten Jahren wurde die Geschichte der französischen Nietzsche-Rezeption von Louis Pinto erneut aufgearbeitet 21 und von Jacques Le Rider bis in die unmittelbare Gegenwart nachgezeichnet 22 . Geneviève Bianquis wollte die intensive Rezeption Nietzsches in Frankreich auf einen latenten Prä-Nietzscheanismus der französischen Kultur des 19. Jahrhunderts zurückgeführt wissen. Vor ihr hatte schon der Germanist Charles Andler, dem wir eine der bis heute bedeutendsten Studien zur inneren Entwicklungsgeschichte von Nietzsches Philosophie, zu ihrem europäischen Kontext und

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Mazzino Montinari, Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Siegrid Bauschinger, Susan L. Cocalis und Sara Lenox (Hg.), Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968. 15. Amherster Kolloquium zur deutschen Literatur, Bern und Stuttgart 1988, 137-148. Sarah Kofman, Explosion I. De l'„Ecce Homo" de Nietzsche, Paris 1992 und Dies., Explosion II. Les enfants de Nietzsche, Paris 1993. Geneviève Bianquis, Nietzsche en France, Paris 1929. Pierre Boudot, Nietzsche et l'au-delà de la liberté. Nietzsche et les écrivains français de 1930 à 1960. Préface de Geneviève Bianquis, Paris 1970. Eine zweite Ausgabe dieses Buches ist am selben Ort 1975 erschienen. Pinto, Le neveux de Zarathoustra, 1995. Le Rider, Nietzsche in Frankreich, 1997. Erst nach der Fertigstellung des Manuskripts konnte ich die Druckfassung der 1990 entstandenen Habilitationsschrift von Angelika Schober, Nietzsche et la France. Cent ans de reception française de Nietzsche, Université de Paris X-Nanterre, zur Kenntnis nehmen, die Le Rider, Nietzsche in Frankreich, 36, Anm. 2 zitiert. Sie trägt jetzt den Titel: Ewige Wiederkehr des Gleichen? Hundertzehn Jahre französische Nietzscherezeption. Eternel retour du même? Cent dix ans de réception française de Nietzsche, Limoges 2000. Das Buch enthält im wesentlichen Kurzreferate zu allen wichtigen in Frankreich erschienenen und ins Französische übersetzten Nietzsche-Monographien. Der Anhang enthält die wohl ausführlichste Bibliographie zum Thema. Für den spezifisch akzentuierten Zugang des amerikanischen Autors Alan D. Schrift zum Thema der französischen Nietzsche-Rezeption vgl. im vorliegenden Buch S. 4f.

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zu ihrer Wirkungsgeschichte verdanken, vor allem für die entscheidenden achtziger Jahre Nietzsches eine tiefe Affinität seines Denkens u n d Schreibens mit der französischen Kultur aufdecken wollen 2 3 . In der neueren Forschung w u r d e Andlers Betrachtungsperspektive von Beatrix Bludau 2 4 , Brandan Donnellan 2 5 und, nunmehr in vollständiger Kenntnis der Nachlasstexte, zuletzt, wie bereits erwähnt, von Mazzino Montinari 2 6 a u f g e n o m m e n . So sind wir denn präzise informiert über die frühen Anstrengungen Henri Alberts, der in seiner eigenen Nietzsche-Deutung von Lou Andreas-Salomé beeinflusst ist, u m eine Ubersetzung der wichtigsten Texte Nietzsches i m einflussreichen Verlag des Mercure de Francò1. W i r blicken zurück auf A n n ä h e r u n g e n an Nietzsche aus sozialistischer Perspektive 2 8 u n d auf die Impulse seines Denkens für die vor allem in der Action française repräsentierte politische Rechte 2 9 . W i r beobachten die literarische Rezeption seines W e r k s bei André Gide, Paul Valéry, Albert C a m u s , André M a l r a u x oder A n t o n i n Artaud 3 0 , so dass man von einer breiten kulturellen Aufmerksamkeit für Nietzsche sprechen kann, die zeitlich einer genuin philosophischen Auseinandersetzung mit seinem W e r k vorausgegangen ist. Inzwischen ist diese erste Phase der französischen Nietzsche-Rezeption weitgehend zu einer nur mehr historisch interessanten Angelegenheit geworden. Das gilt jedoch nicht in gleichem M a ß e für die in den dreißiger Jahren einsetzende philosophische Nietzsche-Diskussion, die vor allem mit dem N a m e n von Georges Bataille verbunden ist u n d über Pierre Klossowski u n d Jacques Derrida bis in die Gegenwart weiterwirkt 3 1 .

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Charles Andler, Nietzsche. Sa vie et sa pensée, 6 Bde., Paris, 1920-1931,1, 14f. (Neudruck: Paris 1979). Die französische Germanistik hat sich schon zu dessen Lebzeiten intensiv für Nietzsche interessiert. Vgl. dafür vor allem den Beitrag von Henri Lichtenberger, La philosophie de Nietzsche, Paris 1898, der Nietzsche mit Flaubert und Max Stirners Individualismus parallelisiert, und das Buch von Albert Levy, Stirner et Nietzsche, 1904. Beatrix Bludau, Frankreich im Werk Friedrich Nietzsches. Geschichte und Kritik der Einflußthese, Bonn 1979. Brandan Donnellan, Nietzsche and the French Moralists, Bonn 1982. Als ältere englische Arbeit sei erinnert an William David Williams, Nietzsche and the French. A Study of the Influence of Nietzsche's French Reading on his Thought and Writing, Oxford 1952. Mazzino Montinari, Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute, in: Bauschinger (Hg.), 1988, 137— 148. Vgl. Le Rider, Nietzsche in Frankreich, 44ff. Vgl. ebd., 43: „Mit einem zumeist sicheren Instinkt überträgt Henri Albert die Stileffekte und präsentiert Nietzsche als einen Denker und Schriftsteller, nicht als einen Universitätsphilosophen. Es ist dieser Nietzsche, der Gide und Valéry verführt und in seinen Bann geschlagen hat". Vgl. Le Rider, Nietzsche in Frankreich, 57f. (Jean Jaurès, Charles Andler). Vgl. Le Rider, Nietzsche in Frankreich, 58f. (Charles Maurras, Pierre Lasserre). Vgl. Le Rider, Nietzsche in Frankreich, 62ff. (zu Gide), 64ff. (zu Valéry), 75ff. (zu Malraux), 79 (zu Camus), 85 (zu Artaud). Für eine erste Ubersicht über die Diskussion seit den sechziger Jahren ist ein Blick in zwei Tagungsbände aufschlussreich: 1. Nietzsche. Cahiers de Royaumont. Philosophie N° VI. Vile colloque. 4—8 juillet 1964, Paris 1967. In diesem Band sind hauptsächlich solche Autoren vertreten, die ihre Beiträge zu Nietzsche in der Diskussion der unmittelbaren Nachkriegszeit geleistet haben, z. B. die maßgeblich von Heidegger und Jaspers beeinflussten Philosophen Henri Birault

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Es ist für manche Leser vielleicht hilfreich, wenn der Betrachtung einzelner Positionen der um 1960 einsetzenden Nietzsche-Diskussion ein Hinweis auf einige ihrer charakteristischen Merkmale vorangestellt wird. Zunächst fällt auf, dass die Frage nach dem besonderen Einheitssinn der nietzscheschen Philosophie anders als etwa in Deutschland oder in den angelsächsischen Ländern mit einer kritischen Diskussion über den kulturellen und politischen Sinn der philosophischen Tätigkeit und über die Rolle des philosophisch ambitionierten Intellektuellen in der gegenwärtigen Gesellschaft verbunden ist. Nach dem Zusammenbruch der Ideologien, die in der Nachkriegszeit für die Intellektuellen Frankreichs parteibildend und identitätstiftend gewirkt haben, wird Nietzsche seit etwa 1960 zum Leitstern eines nicht mehr dogmatisch fixierten Denkens der Differenz, in dessen Zeichen

(De la béatitude chez Nietzsche, 11-44), Jean W a h l (Ordre et désordre dans la pensée de Nietzsche, 85—102) u n d Jean Beaufret (Heidegger et Nietzsche. Le concept de valeur, 2 4 5 - 2 7 4 , auch abgedruckt in: ders., Dialogue avec HeideggerII, Philosophie moderne, Paris 1973, 182-200, vgl. ferner ders., N o t e sur le rapport des deux „paroles fondamentales" de Nietzsche, ebd., 201-224) sowie der christliche Existenzialist Gabriel Marcel (Notre point d'interrogation, 103—123). Es treten aber auch schon die Stimmen von Giorgio Colli u n d Mazzino Montinari auf, die für die Notwendigkeit einer historisch-kritischen Nietzsche-Edition plädieren {Etat des textes de Nietzsche, 127-140), sowie die Stimmen einiger der Gründerväter einer dekonstruktionistischen Nietzsche-Deutung wie Pierre Klossowski {Oubli et anamnese dans l'expérience vecue de l'éternel retour du même, 2 2 7 244), Gilles Deleuze {Conclusions. Sur la volonté de puissance et l'éternel retour, 275-287) u n d Michel Foucault {Nietzsche, Freud, Marx, 183—200). Teilnehmer an der Diskussion waren außerdem Martial Gueroult, Maurice de Gandillac, Jean Granier, Christophe Baroni u n d Lucien G o l d m a n n . V o n deutscher Seite n a h m e n Heinz Heimsoeth, Jacob Taubes u n d Karl Löwith teil, der in einem eigenen Beitrag die Essenz seiner Nietzsche-Interpretation vorstellte: Nietzsche et sa tentative de récupération du monde, 4 5 - 8 4 . Der zweite Sammelband trägt den Titel Nietzsche aujourd'hui? Bd. I. Intensités par Pierre Boudot, Gilles Deleuze etc., Bd. II. Passion par Eugen Biser, Eric Blondel etc., Paris 1973. Die Bände enthalten die Beiträge des viel beachteten Nietzsche-Kolloquiums vom Juli 1972 in Cerisyla-Salle. Sie machen bereits auf den ersten Blick deutlich, dass die französische Nietzsche-Diskussion in den sechziger Jahren unter dem Einfluss von Deleuze, Klossowski, Foucault u n d Derrida ein neues Gesicht gewonnen hat. Z u beachten sind dafür vor allem die Texte von Bernard Pautrat {Nietzsche meduse, I, 9 - 3 0 ) , Jean-Luc N a n c y (La thèse de Nietzsche sur la téléologie, 1 , 5 7 - 8 0 ) , Pierre Klossowski (Circulus vitiosus, I, 91—103), Gilles Deleuze {Pensée nomade, I, 159—174), Jacques Derrida (La question du style, 1,235—299), Philippe Lacoue-Labarthe (La dissimulation. Nietzsche, la question de l'art et la „littérature", II, 9 - 3 6 ) , Sarah Kofman (Le/les „concepts"de culture dans les „Intempestives" ou la double dissimulation, II, 119—146) u n d Jean-Michel Rey (Nietzsche et la théorie du discours philosophique, 1,301—321). Andere Interpretationsansätze werden u. a. von Paul Valadier (Remarques sur un texte posthume contemporain d'„Aurore"\ 1,237—254), Eric Blondel (Les guillemets de Nietzsche. Philologie et généalogie, II, 153—178) u n d Pierre Boudot (La méthode dia-critique. U n e méthode de lecture de Zarathoustra, I, 371—383) vertreten. Deutsche Beiträger zu dieser Tagung waren wiederum Karl Löwith (Nietzsche et l'achèvement de l'athéisme, II, 207-235) sowie Eugen Biser (Ni antéchrist ni à la recherche de Dieu, II, 2 5 5 - 2 8 1 ) u n d Eugen Fink (Nouvelle expérience du monde chez Nietzsche, II, 3 4 5 - 3 6 9 ) . Auf weitere Beiträge wird im Verlauf der Darstellung verwiesen. Für einen Bericht über diese Tagung vgl. Maurice de Gandillac, Le colloque de Cerisy-la-Salle. Nietzsche-Studien 4 (1975), 324—333. Die Beiträge von Jacques Derrida u n d Bernard Pautrat zu diesem Kolloquium sind in deutscher Ubersetzung greifbar, u n d zwar in dem Sammelband: Werner Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt am Main/Berlin 1986.

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ein Teil der französischen Intelligenz die ihr zunehmend fragwürdig gewordene Rolle in der zeitgenössischen Gesellschaft zu stabilisieren hofft. In Frankreich wird über Nietzsche öffentlich nachgedacht und dies in einem Ton, der sich häufig durch eine beneidenswert unakademische Spontaneität auszeichnet. Nietzsche gerät dabei in die attraktive und ihm durchaus angemessene Position eines irritierenden Provokateurs, dessen unorthodoxe Stimme die Grenzen der kulturellen und philosophisch-fachspezifischen Üblichkeiten durcheinander wirbelt und damit die Erstarrung dieser Diskurse zu akademisch gesitteten Sprachspielen verhindert. Inhaltlich betrachtet steht die französische Nietzsche-Rezeption natürlich in einer engen Verbindung mit den wichtigsten Entwicklungen der französischen Gegenwartsphilosophie insgesamt. Gilles Deleuze, einer ihrer wichtigsten Akteure, hat die für die sechziger Jahre charakteristische Distanzierung gegenüber der Synthese aus Existenzialismus, Phänomenologie und Marxismus, wie sie sich vor allem im Denken und politischen Wirken Jean-Paul Sartres verkörpert hatte, auf einen antihegelianischen Impuls zurückgeführt, der zuerst in Nietzsche seine Stimme gefunden haben soll32. Durch Nietzsche findet ein Teil der französischen Gegenwartsphilosophie zu einem Denken, das sich nicht mehr am praktischen Akt subjektiver oder gesellschaftlicher Selbstkonstitution bzw. am theoretischen Akt phänomenologischer Wesensschau, sondern an einem funktionalen Begriff des Systems orientiert, der mit besonderer Intensität an den strukturalistischen Begriff der Sprache bei Ferdinand de Saussure anknüpft 33 . Im Denken der Differenz und der Wiederholung wird eine Distanz gegenüber der bis in die Gegenwart einflussreichen cartesischen Tradition erkennbar, die im Medium der Selbstreflexion auf einen 32

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Für Deleuze steht, wie er in seinem philosophischen Hauptwerk Difference et répétition, Paris 1968, (ich zitiere nach der deutschen Ubersetzung: Differenz und Wiederholung, München 1992, 11) betont, das Denken der Moderne im Zeichen eines generellen Anti-Hegelianismus (vgl. dazu auch Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie - dt. Ubers, von Nietzsche et la philosophie, Paris 1962 - München 1976, I, 4: Wider die Dialektik, 13—15), der in der Zeit nach Nietzsche exemplarisch in Heideggers Philosophie der ontologischen Differenz, im Koexistenzdenken des Strukturalismus und in den a-mimetischen Darstellungsformen des zeitgenössischen Romans zum Ausdruck kommt. Im Denken der Differenz werden die hegelschen Zentralkategorien „des Identischen und des Negativen, der Identität und des Widerspruchs" durch diejenigen der unversöhnbaren Differenz und der unabschließbaren Wiederholung ersetzt. Dies bedeutet einen Bruch mit dem traditionellen „Vorrang der Identität" und die Konzentration auf Bedeutungswelten, die nur mehr von „Trugbildern" („simulacres") der Identität beherrscht werden. Identität ist in diesen Bedeutungswelten keine authentische, sondern apriori eine fiktive und kontingente Größe. Die Philosophie der Differenz findet zur Beschreibung einer Regelhaftigkeit, die dem menschlichen Denken die Qualität konzeptioneller Freiheit zurückerstattet, die ihm nach Deleuze vom metaphysischen ebenso wie vom transzendentalphilosophischen Denken entzogen worden sein soll. In der italienischen Diskussion wird das Motiv des Denkens der Differenz bei Gianni Vattimo unter dem Stichwort pensiero debole aufgenommen. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 112ff. Vgl. Frank, Was ist Neo-Strukturalismus?, 30ff„ 88ff. - sowie den wichtigen Text von Jacques Derrida, La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines. L'écriture et la différence, Paris 1967, 409-428 (dt. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1972, 422—444).

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authentischen Gewissheitsgrund rational konstruierbarer Wahrheit zurückgehen wollte. Dieses Misstrauen betrifft vor allem die modernen Varianten dieses Anspruchs in der Phänomenologie, im Existenzialismus oder im Marxismus, insofern sie ein jeweils unterschiedliches Konzept des Authentischen für ihre eigenen Ansprüche geltend gemacht haben. In der Konturierung Nietzsches zum antihegelianischen Philosophen par excellence wird ein in sich gebrochener Zugang zur Dimension des Authentischen erkennbar, der unter französischen Bedingungen vor allem auf Rousseaus Gedanken einer radikalen Gegensätzlichkeit von unmittelbarer Empfindung und regelgeleitetem Denken zurückverweist. Das vom frühen Rousseau im Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes und im Essai sur l'origine des langues vertretene Vorrecht der individuellen Empfindung („sentiment") gegenüber dem abstrakten Denken („raison") und sein Gedanke der definitiven Zerstörung authentischer, in sich einfacher Gefühle durch jede Form von Regularität, ließ sich im Blick auf den späteren Rousseau des Emile und des Contrat social zum Konzept einer tragischen Antinomie zwischen Spontaneität und Rationalität oder von unbestimmbarer Intensität und bestimmter Gestalt erweitern. Diese Spannung hat Rousseau dazu bewogen, nach solchen Formen des Lebens zu suchen und sie in seiner Schrift zu thematisieren, die von sich aus die Intensität des „sentiment" gleichsam institutionalisieren statt sie zu zerstören, wobei deutlich wird, dass die gesuchten Formen intensiver Lebendigkeit eher der „imagination" als der lebbaren Wirklichkeit zugehören. Rousseau antizipiert das in der künstlerischen Avantgarde des 19. und 20. Jahrhunderts entscheidend gewordene Problem der Darstellbarkeit einer Erfahrung intensiver Sinnhaftigkeit, die ihre Authentizität nicht mehr inhaltlich oder gegenständlich, sondern primär durch ihre prinzipielle Nicht-Repräsentierbarkeit glaubhaft macht. Nietzsche gerät ins Zentrum der französischen Gegenwartsphilosophie, weil sein Denken und mehr noch sein Schreiben den latenten Rousseauismus, der bestimmten Theorien künstlerisch-avantgardistischer Darstellung — vor allem dem bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren einflussreichen Surrealismus (André Masson, André Breton, Louis Aragon, Paul Eluard, Antonin Artaud, Georges Bataille) — zugrunde liegt, mit einem aktiv-kämpferischen Vorzeichen ausstattet. Als Theoretiker und Praktiker einer Darstellung des Nicht-Darstellbaren fasziniert Nietzsche viele seiner französischen Leser dadurch, dass sie in seinem Werk den Abschied von jenem Logozentrismus vorweggenommen sehen, den sie in der Nachfolge Heideggers mit allzu großer Bereitwilligkeit der gesamten Tradition europäischer Philosophie als die Generalregel ihres Denkens unterstellen 34 .

Gegen die Z u o r d n u n g Nietzsches zur Avantgarde wehrt sich mit fast einsamer Stimme André Glucksmann, der in Les Maîtres-Penseurs, Paris 1987, Nietzsche als Denker der Totalität in die für ihn obsolet gewordene Tradition der vermeintlich gewaltsamen metaphysischen Meisterdenker einweist.

Einleitung

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D i e D a r s t e l l u n g d e r f r a n z ö s i s c h e n N i e t z s c h e - R e z e p t i o n ist in z w e i g r ö ß e r e A b s c h n i t t e g e g l i e d e r t . I m ersten (A) sollen d i e s o e b e n n u r s t i c h w o r t a r t i g a n g e d e u t e t e n V o r a u s s e t z u n g e n d e r so g e n a n n t e n d e k o n s t r u k t i o n i s t i s c h e n N i e t z s c h e R e z e p t i o n in D a r s t e l l u n g e n zu e i n z e l n e n P o s i t i o n e n n a c h u n d n a c h d e u t l i c h e r e n t w i c k e l t u n d z u n e h m e n d a u f e i n a n d e r b e z o g e n w e r d e n . D a s M o t i v des A n t i H e g e l i a n i s m u s w i r d a m B e i s p i e l v o n G i l l e s D e l e u z e , d a s j e n i g e des R o u s s e a u i s m u s a n P i e r r e K l o s s o w s k i u n d d i e B e d e u t u n g des S t r u k t u r b e g r i f f s a m B e i s p i e l v o n Jacques D e r r i d a erläutert. Zwischen diesen drei A u t o r e n steht die ihnen v e r w a n d te, a b e r d e n n o c h e i n e n u n v e r w e c h s e l b a r e i g e n e n A k z e n t s e t z e n d e N i e t z s c h e - A n e i g n u n g v o n M i c h e l F o u c a u l t . D a s erste K a p i t e l s c h l i e ß t m i t H i n w e i s e n a u f m e h r systematisch angelegte Nietzsche-Interpretationen aus d e m U m k r e i s Derridas. A u f diese W e i s e soll d a s R e c h t e i n e r N i e t z s c h e - D e u t u n g g e k l ä r t w e r d e n , d i e s i c h p r i m ä r a u f s e i n e S c h r i f t s t a t t a u f s e i n e so g e n a n n t e n L e h r e n b e z i e h t . Z u g l e i c h w i r d d e u t l i c h , w i e u n d a u s w e l c h e n G r ü n d e n sich d i e M o t i v e g e g e n s e i t i g ü b e r l a g e r n ,

Zu betonen ist, dass die französische Nietzsche-Diskussion natürlich nicht ausschließlich internen Regeln folgt. Aus dem deutschsprachigen Raum werden vor allem die Impulse Martin Heideggers und diejenigen der Nietzsche-Interpretation von Karl Jaspers aufgenommen (1971 erschien Pierre Klossowskis Ubersetzung der zwischen 1936 und 1940 gehaltenen NietzscheVorlesungen Heideggers; vgl. dazu aus dekonstruktionistischer Perspektive Philippe LacoueLabarthe, L'oblitération. Martin Heidegger: Nietzsche. Critique 313 (1973), 487-513, vgl. ferner die Ubersetzungen wichtiger Texte von Karl Jaspers: Nietzsche et le Christianisme, Paris 1949 und ders., Nietzsche. Introduction à sa philosophie, Paris 1950). Ahnliches gilt für die NietzscheDeutung Eugen Finks, der seit 1946 an der Universität Freiburg lehrte, als Heidegger nach 1945 wegen seiner Verstrickung in die Politik des Nationalsozialismus (Rektoratsrede von 1933) die Lehrerlaubnis entzogen war. Finks Nietzsche-Buch (Nietzsches Philosophie, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 1960) wurde 1965 ins Französische übersetzt: La philosophie de Nietzsche, Paris 1965. 1960 war schon eine Ubersetzung seines Buches Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960 erschienen: Eugen Fink, Le jeu comme symbole du monde, Paris 1960. Auf dem Kolloquium in Cerisy-la-Salle von 1972 ist deshalb auch Fink einer der vortragenden Gäste aus Deutschland gewesen (Nouvelle expérience du monde chez Nietzsche. Nietzsche aujourd'hui? II, 345-369). Die eminente Bedeutung, die den Begriffen des Spiels, der Maske und des Labyrinthischen, aber auch dem Motiv des Anti-Hegelianismus in der französischen Nietzsche-Diskussion zukommt, steht in Verbindung mit Finks Ansätzen zu einer paradigmatisch an Nietzsche verdeutlichten Ontologie des Spiels. Vor allem seine gegen Heidegger gerichtete These, Nietzsche sei mit seiner Deutung des Verhältnisses von Sein und Werden als Spiel aus den Grenzen der Metaphysik herausgetreten (Nietzsches Philosophie, 188: „Wo Nietzsche Sein und Werden als Spiel begreift, steht er nicht mehr in der Befangenheit der Metaphysik") ist von A. D. Schrift (Nietzsche and the Question of Interpretation 63) zu Recht als Initialzündung fur die wichtigsten Lesarten der Nietzsche-Deutung in Frankreich herausgestellt worden. Dies ist gerade deswegen besonders einleuchtend, weil Finks Nietzsche zur Metaphysik im paradoxen Verhältnis von „Gefangenschaft und Befreiung" steht (Fink, Nietzsches Philosophie, 179, Überschrift zum 5. Kapitel), woran gerade Derrida intensiv angeknüpft hat. Zugleich ist Finks Nietzsche „der Blitzgetroffene", der, „versengt vom Blitz eines neuen Anfangs der Wahrheit vom Seienden im Ganzen", zum „Ausbruch aus der Bahn der Metaphysik" gezwungen wird (181) — ein Gedanke, der vor allem von Pierre Klossowski aufgenommen wird. Zu Finks Kritik an Heideggers Nietzsche-Deutung vgl. ebd. 178. Schließlich wird auch das von Fink (Nietzsches Philosophie 8) herausgestellte Motiv der Metaphysikkritik in Gestalt „einer umfassenden Kulturkritik" in Frankreich weitergeführt, vor allem von Eric Blondel (vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 83ff.

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I Nietzsche in Frankreich

ergänzen und verstärken, die den dekonstruktionistischen Zugang zu Nietzsche bestimmen. Der zweite Abschnitt (B) ist der kritischen Reaktion auf eine Lektüre Nietzsches gewidmet, die sein Denken ausschließlich einer Philosophie der reinen Differenz zuordnen will und es allenfalls für strittig hält, wie diese Differenz genau zu verstehen ist. Dabei geht es durchweg um Ansätze zu einer Reontologisierung Nietzsches und damit zugleich um Antworten auf die systematische Frage nach einer heute noch sinnvollen Form von Ontologie. Einige der Reontologisierungen wie etwa diejenigen von Pierre Boudot, Simone Goyard-Fabre, Michel Guérin und François Lamelle knüpfen an Motive von Bataille, Deleuze und Derrida an, die dort, wie das erste Kapitel meiner Darstellung verdeutlicht, eine nicht-ontologisierende Lesart Nietzsches freigesetzt haben. Im Anschluss daran folgt ein Hinweis auf solche Autoren, die Nietzsches Philosophie primär als Beitrag zu einem Konzept individueller und kultureller Realisierung von Freiheit lesen, wobei diese Freiheit in eine Ontologie des Werdens oder der endlichen Welt rückgebunden wird. Daneben stehen Autoren, die den Gehalt der nietzscheschen Philosophie durch Parallelen mit der freudschen Psychoanalyse verdeutlichen wollen. Beide Ansätze minimieren damit die ontologische Bedeutungskomponente der nietzscheschen Philosophie und konzentrieren sich dafür auf deren Wirkungsabsichten und -möglichkeiten. Mit dem Werk von Jean Granier liegt ein ganz anders gearteter, auch heute noch imponierender Versuch vor, die ontologische Dimension der nietzscheschen Philosophie gegen ihre Deutung als Endgestalt der Metaphysik bei Martin Heidegger und zugleich gegen ihre Interpretation als „écriture" im Sinne Derridas zu profilieren. Was für ein Konzept von Ontologie vertritt Nietzsche, wenn es weder mit der metaphysischen Reflexion auf den einen Grund aller Mannigfaltigkeit noch mit einem unabschließbaren Prozess diskontinuierlicher Sinnverschiebung verwechselt werden soll? Auf diese von Granier ausdrücklich gestellte Frage werden bis in die Gegenwart verschiedene Antworten gegeben. Sie laufen in systematischer Hinsicht auf die Frage hinaus, ob Nietzsches Philosophie eher als Vollendungsgestalt einer nach-heideggerschen Ontologie oder einer nach-kantischen Transzendentalphilosophie aufzufassen ist. Alain Juranville konzentriert sich dabei in anderer Weise als Deleuze auf den Begriff der Physis, während der von Louis Althusser beeinflusste Marxist Yvon Quiniou einen naturalistischen Begriff des Lebens ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, um ihm ein Konzept materialistischer Praxis zu entnehmen. Eine ausführliche Fußnote verweist auf die auch philosophisch bedeutsamen Ansätze zu einer theologischen Nietzsche-Deutung bei Paul Valadier und Georges Goedert, die sich vor allem auf das Motiv des Dionysischen konzentrieren. Demgegenüber versucht Michel Haar so etwas wie eine synthetische Nietzsche-Deutung. Er übernimmt den antiheideggerschen Impuls Graniers, den Dionysismus Valadiers und die Konzentration auf sprachliche Darstellungsverfahren von Derrida und Blondel, um Nietz-

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sches Philosophie als den Entwurf einer neuartigen Metaphysik lesen zu können. Das Motiv des Dionysischen wird aber auch von Eric Blondel, und zwar ebenfalls mit einem erkennbar theologischen Akzent, aufgenommen. Zugleich wird es in den Rahmen einer Theorie der Kultur transponiert, die sich, zusätzlich belehrt durch die Psychoanalyse Freuds, dem Ziel einer Freisetzung bislang vergessener Lebensmöglichkeiten verpflichtet weiß. Blondel entwickelt außerdem eine Sensibilität für Nietzsches Schrift, wie sie bis dahin nur für Derrida und seine Nachfolger charakteristisch gewesen ist. Sein Schüler Patrick Wotling hat die Möglichkeiten einer kulturtheoretisch ambitionierten und auf die Metaphorizität der nietzscheschen Schrift bezogenen Deutung seiner Philosophie in eine mehr systematische Form gebracht.

A Nietzsche als Philosoph der Differenz 1. Nietzsche als Gründungsfigur einer anti-hegelianischen „différence et répétition " Gilles Deleuze

Philosophie

der

Der „allgemeine Anti-Hegelianismus", in dessen Zeichen Nietzsche an der Hand von Gilles Deleuze die Bühne der französischen Gegenwartsphilosophie betritt35, ist seinerseits eine kritische Reaktion auf die vor allem durch Alexandre Kojève verkörperte Präsenz des hegelschen Denkens in der französischen Philosophie der dreißiger und vierziger Jahre 36 . Nach Deleuze markiert Nietzsche die schärfste Gegenposition zu Hegels Dialektik des Absoluten. Er entwirft die Grundfigur einer Philosophie, die unter dem provozierenden Titel einer Physik das Sein von Kraft, Bewegung und Werden prinzipientheoretisch auszeichnet und sich darin von der Tradition europäischer Metaphysik entfernt, die ihrerseits das Sein der Mannigfaltigkeit, der Differenz und der Bewegung aus einem ihm übergeordneten Prinzip der Einheit des in sich ruhenden oder des sich auf sich selbst

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Die Lektüre der Beiträge in dem Sammelband: Nietzsche (1967), unter denen sich auch eine Auseinandersetzung von Gilles Deleuze mit anderen Interpretationsansätzen zu den Lehren von der ewigen Wiederkehr und des Willens zur Macht befindet (Conclusions. Sur la volonté de puissance et leternel retour, 275-287), macht deutlich, dass der neue Nietzsche der Dekonstruktion oder positiv ausgedrückt der Nietzsche einer dionysischen Physik keine creatio ex nihilo darstellt, sondern durch eine Nietzsche-Interpretation vorbereitet ist, für die hier nur auf Namen wie Jean Wahl (Anti-Dialektik) oder Angèle Kremer-Marietti (vgl. dazu im vorliegenden Band Anm. 172) hingewiesen sei. Neben dem Nietzsche der Dekonstruktion hält sich in Frankreich zunächst auch eine an Jaspers und Heidegger orientierte Lesart Nietzsches, die vor allem von Jean Wahl, L'avant-dernière pensée de Nietzsche, Paris 1961, und Henri Birault, Heidegger et l'expérience de la pensée, Paris 1978, vertreten wird. Zur Bedeutung der Hegel-Vorlesungen des russischen Emigranten Alexandre Kojève (eigentlich Alexander Kotjenikov), die er in den Jahren von 1933-1939 an der Ecole pratique des Hautes Etudes in Paris gehalten hat, vgl. Descombes, Das Selbe und das Andere, 17ff. Raymond Queneau, Georges Bataille, Jean-Paul Sartre, Pierre Klossowski, André Breton, Raymond Aron, Jacques Lacan, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Lévinas, Eric Weil und andere gehörten zu den mehr oder weniger regelmäßigen Hörern dieser einflussreichen Vorlesungen. Ihr Thema war neben der Religionsphilosophie Hegels vor allem dessen Phänomenologie des Geistes, die Kojève unter paradigmatischer Bezugnahme auf das Herr-und-Knecht-Kapitel als Anthropologie der Freiheit interpretiert hat. Zu Kojèves Hegel-Deutung vgl. Iring Fetscher, Vorwort zu: Alexandre Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Iring Fetscher, Frankfurt am Main 1975, 7ff. und llff. Jean Wahl {Le malheur de la conscience dans la philosophie de Hegel, Paris 1929) und Jean Hyppolite (Genèse et structure de la „L'hénoménologie de l'Esprit", Paris 1946) sind weitere Repräsentanten des französischen Hegelianismus. Vgl. dazu auch Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 28ff.

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beziehenden Seins verständlich machen wollte 3 7 . Nietzsches Physik stellt sich in die von Kant begründete Tradition eines rigoros kritischen Denkens 38 und tritt damit einer als metaphysisch deklarierten Philosophie der Ordnung entgegen. Weil sie die empirischen Gesetzmäßigkeiten der Erfahrung nicht auf ein ihnen gegenüber transzendentes Prinzip von Ordnung zurückführt, ist Nietzsches Philosophie ih-

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Basistext meiner Darstellung ist Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris 1962, deutsche Ubersetzung Nietzsche und die Philosophie, München 1976. Nach Zitaten in französischer Sprache folgt in der Klammer die Seitenangabe aus der 6. Auflage von 1983, den Zitaten in deutscher Sprache folgt in der Klammer die Seitenangabe der genannten Ubersetzung. Weitere explizit Nietzsche gewidmete Texte von Gilles Deleuze sind: Nietzsche. Sa vie, son œuvre avec un exposé de sa philosophie, Paris 1965 (ein Lesebuch mit Nietzsche-Texten und einer Einleitung des Herausgebers, dt. Nietzsche. Ein Lesebuch von Gilles Deleuze, Berlin 1979) und Pensée nomade. Nietzsche aujourd'huiì I, 159-174. Zu beachten ist ferner ders., Logique du sens, Paris 1969, Appendice I: Simulacre et philosophie antique. 1. Platon et le simulacre, 347—361 (dt. Platon und das Trugbild. Logik des Sinns, Frankfurt am Main 1993, 311-324). In diesem Beitrag geht es um die philosophische Bedeutung einer im Zeichen Nietzsches vollzogenen „Umkehrung des Piatonismus" im Kontext einer Lesart der Welt als „Grunddisparität" (dt. 320) und als Maskenspiel (dt. 322). Das Spiel des Disparaten (= ewige Wiederkehr des Gleichen) „errichtet die Welt der nomadischen Verteilungen und der vollendeten Anarchien. Weit davon entfernt, ein neues Fundament zu sein, verschlingt es jedes Fundament, sorgt für einen universellen Zusammenbruch, jedoch als positives und freudiges Ereignis, als Zu-Grunde-Geheri' (321). — Vgl. dazu die Ausführungen zu einem analogen Gedanken von Michel Foucault im vorliegenden Buch S. 32f. — Die Lehre von der ewigen Wiederkehr ist deshalb nichts anderes als der Ausdruck einer vollkommenen Form von Macht, die dazu fähig ist, „die Divergenz und die Dezentrierung zu bejahen" (323). Zugleich bedeutet sie eine Macht der Selektion, weil sie nicht wiederkehren lässt, „was den Anspruch erhebt, die Divergenz zu korrigieren, die Kreise zu rezentrieren oder Ordnung in das Chaos zu bringen" (324). Die plurivalenten Formen moderner Kunst gelten als Ausdrucksgestalten ewiger Wiederkehr von Divergenz und Dezentrierung. Sie finden in Nietzsches Philosophie ihre exemplarische Reflexionsgestalt.

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Vgl. dazu Gilles Deleuze, La philosophie critique de Kant, Paris 1963. Für eine erste Charakterisierung der philosophischen Intentionen von Deleuze vgl. Descombes, Das Selbe und das Andere, 180ff. Ab 1972 hat Deleuze seine philosophische Position politisch verschärft. Vgl. dazu Gilles Deleuze und Félix Guattari, Capitalisme et schizophrénie L. L'anti-Œdipe, Paris 1972 (dt. AntiOdipus, Frankfurt am Main 1974). Zu den nietzscheanischen Implikationen der dort vor allem gegen Lacan gerichteten „politischen Analyse des Begehrens" vgl. Descombes, Das Selbe und das Andere, 202ff. Genauere Einführungen in die philosophischen Intentionen von Gilles Deleuze findet man bei Friedrich Balke und Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München 1996 (vgl. vor allem die Einleitung der Herausgeber, 5-25), Paul Patton (Hg.), Deleuze. A Critical Reader, Oxford/Cambridge (Mass.) 1996, Christian Jäger, Gilles Deleuze. Eine Einführung, München 1997, Keith Ansell-Pearson (Hg.), Deleuze and Philosophy. The Difference Engineer, London 1997, und ders., Germinal Life. The Difference and Repetition of Deleuze, London 1999. Zur Bedeutung der Nietzsche-Rezeption für die innere Systematik des Denkens von Deleuze vgl. vor allem A. D. Schrift, Nietzsche's French Legacy, Chapter III, Deleuze: Putting Nietzsche to Work: Genealogy, Will to Power, and Other Desiring Machines, 59—81. Schrift hat weniger die Nietzsche-Monographie von 1962 im Auge als die spätere Entwicklung des Denkens von Deleuze, die er zurecht charakterisiert als „a self-conscious utilization of Nietzsche for purposes other than the philosophical explication de texte' (60). Gemeint ist vor allem die Bezugnahme auf Nietzsches Kritik der Moral, mit der Deleuze die anarchisch-produktive Kraft eines elementaren Begehrens („désir") freilegen und für einen fundamentalen politischen Wandel fruchtbar machen will.

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rem Wesen nach empiristisch und naturalistisch 39 . Zudem artikuliert sie den Modus aktiver Existenz, der nach Deleuze aufgrund seiner „natürliche(n) Aggressivität" und „göttliche(n) Bosheit" (7) für die Lebensform kritischer Philosophie insgesamt bestimmend ist40. Im Zeichen Nietzsches verwandelt sich die Philosophie aus einer Tätigkeit der Ordnungsstiftung, die sich auf Regeln der Einheit und Identität verpflichtet hatte, zur Aktivität einer Kunst der in sich vielfältigen Interpretation. Sie ist aufgrund ihrer Offenheit für die lebendige Vielfalt von Bedeutungen der singuläre Garant konkreter geistiger Freiheit (8f.), so dass sie im „Genuß der Differenz" („jouissance de la différence", 10) ihren Sieg über ein radikal indifferentes Sein feiern und dabei auch dem individuellen Leben die ästhetisch-tragische Qualität der „schönen Unverantwortlichkeit" aufprägen kann (14). Während in Hegels Philosophie des Absoluten die Begriffe „Negativität" und „Arbeit" besonders ausgezeichnet werden 41 , entwickelt Nietzsche eine ganz anders geartete „Logik der reinen Bejahung" (23), mit der seit der Geburt der Tragödie der stimulierende Affekt „vielfältige(r) Freude" (22) verbunden ist42. Sie lässt sich auch als Logik des Dionysischen charakterisieren, der es darum geht, das Leben als ästhetisch-tragische Einheit von Katastrophe und Produktivität ohne jede Einschränkung zu bejahen. Ihr begriffliches Zentrum bildet später die Lehre vom Willen zur Macht. Sie wird in den Schriften der mittleren Periode am Paradigma des organischen Körpers vorbereitet, weil dieser nur als „Vielfalt irreduzibler Kräfte" (46) verstanden werden kann. Organismen bilden ein komplexes Wechselverhältnis aus aktiven und reaktiven Kräften. Dabei zeigt sich, dass deren Einheit

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Vgl. dafür vor allem Gilles Deleuze, Lukrez u n d das Trugbild. Logik des Sinns (1993), 3 2 4 - 3 4 0 (Erstdruck 1961). Zur Bedeutung des Empirismus für Gilles Deleuze vgl. Bruce Baugh, Deleuze u n d der Empirismus. Balke u n d Vogl (Hg.), Gilles Deleuze (1996), 3 4 - 5 4 . Deleuze, Nietzsche. „La critique n'est pas une ré-action du re-sentiment, mais l'expression active d'un mode d'existence actif: l'attaque et non la vengeance, l'aggressivité naturelle d'une manière d'être, la méchanceté divine sans laquelle on ne saurait imaginer la perfection. Cette manière d'être est celle du philosophe ..." (3). Diesen Akzent hatte Kojève in Hegels Philosophie eingetragen. Dabei wird mehr oder weniger bewusst übersehen, dass „Negativität" u n d „Arbeit" bei Hegel zugleich als Formen der affirmativen Selbstdarstellung u n d Selbstverwirklichung des Absoluten auftreten. Als Marxist war Kojève nicht an Hegels Theorie des Absoluten interessiert, sondern an dem, was er für ihr anthropologisches Substrat hielt. Zwar expliziert Nietzsche in seiner Frühschrift noch eine Theorie der dialektischen Synthese von Apollon u n d Dionysos, die christlichen Kategorien wie „Rechtfertigung" u n d „Erlösung" folgt. Aber er zeigt auch dort schon, dass die Essenz des Tragischen letztlich auf die Feier des „dieu affirmatif Dionysos hinausläuft, dem in dieser Bestimmung nicht mehr der G o t t Apollon, sondern der Mensch Sokrates gegenübersteht (14). Im Spätwerk amplifiziert Nietzsche nach Deleuze die dionysisch-sokratische Opposition zum Gegensatz zwischen Dionysos u n d dem Gekreuzigten, während an die Stelle der Antithese des Dionysischen u n d Apollinischen die „complémentarité plus mystérieuse" von Dionysos u n d Ariadne tritt (16, dt.l7ff.). Vgl. dazu auch ders., Mystère d'Ariane. Magazine littéraire298 (1992), 2 1 - 2 4 . Die Kennzeichnung des nietzscheschen Denkens als Philosophie der Affirmation, die sich einer Philosophie der Negativität entgegenstellt, wird von Foucault aufgenommen. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 33.

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nicht den Regeln „logische(r) Identität", „mathematische(r) Gleichheit" oder eines „physikalischen Gleichgewichts" folgt (51), sondern die Fähigkeit beständiger Differenzerzeugung voraussetzt. Das organisch fundierte Prinzip „der Reproduktion des Verschiedenen" und die von ihm garantierte „Wiederholung der Differenz" lassen sich mit der Formel von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen umschreiben (53)43. Sie bezeichnet eine aktive Synthese, die als „Grund des Verschiedenen und seiner Reproduktion" (55) auf einem „wesentlich plastischen Prinzip" beruht (57)44. Nietzsche benennt es mit dem Begriff des Willens zur Macht, wobei er den Willen als dramatischen Akteur einer vielfältigen Synthese von Kräften verstanden wissen will. Weil er gegenüber dem, was er synthetisiert, keine transzendente, in sich ruhende Größe darstellt, genügt der Wille zur Macht den methodischen Anforderungen des von Deleuze favorisierten Konzepts eines kritischen Empirismus. Der Wille zur Macht ist der Motor einer aggressiv-kritischen Bewegung, die jede Gestalt eines opaken Seins zerstört. Er erhält sich in dieser Tätigkeit als das „différentielle ... Element der miteinander in Beziehung stehenden Kräfte" und bildet darin die Grundfigur einer ständigen Metamorphose seiner selbst (56). Im Begriff des Willens zur Macht setzt Nietzsche voraus, dass der Wille keine Instanz darstellt, die zwischen psychischen Akten so etwas wie eine definitive Identität oder eine stabile Ordnung stiftet. Er ist vielmehr ein aktiv synthetisches Prinzip, das jeglicher Art von Wirklichkeitserzeugung zugrunde hegt, sowie ein in sich bewegliches Prinzip ständiger Kreativität, das in keiner seiner Manifestationen authentisch präsent sein kann. Durch die Eigenschaft seiner generellen Nichtrepräsentierbarkeit unterscheidet sich Nietzsches „Wille" nach Deleuze auch in methodischer Hinsicht von den Prinzipienbegriffen der metaphysischen Tradition, denen unbesehen die Eigenschaft der Repräsentierbarkeit unterstellt wird 43 . Als kreative Ubermacht über ein univokes Sein bezeichnet der Wille zur Macht eine stets in sich differente Einheit des Vielen. Sie kann nicht dialektisch als Prinzip der Einheit von Mannigfaltigkeit, sondern nur als ein Prinzip verstanden werden, das aus der Bejahung seines differenziellen Überschusses die ihm notwendig eigene

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Schon im Nietzsche-Buch treten die Begriffe auf, die in Différence et répétition (1968) eine affirmative Theorie der M o d e r n e stützen sollen. Deleuze erläutert sie auch dort im Blick auf Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkehr, die er als Denken identitätsfreier „Verschiedenheit" u n d „Wiederholung" versteht. „Wesentlich plastisch" ist ein Prinzip („principe essentiellement plastique", 57), wenn es „keinen größeren U m f a n g aufweist als jeweils das, was (sc. Akkusativobjekt — A.R.) es bedingt". Es ist dann dadurch definiert, dass es „sich mit dem Bedingten verwandelt, sich ein jedes Mal mit dem bestimmt, was es selbst bestimmt" (57). Es kann deshalb niemals ein Jenseits seiner Produkte darstellen, das in dieser Position der Bestimmbarkeit durch das von ihm Bedingte entzogen wäre. Diese sachlich nicht zu rechtfertigende Unterstellung geht auf Heideggers kritisch gemeinte Charakterisierung des Seins der Metaphysik durch die Eigenschaft der Anwesenheit (= Repräsentierbarkeit) zurück. Auf die umfangreiche Heidegger-Rezeption in der französischen Nachkriegsphilosophie kann hier nicht hingewiesen werden. Vgl. dazu Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich 36f„ 44f.

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Macht der Zerstörung immer wieder für die Erzeugung selbständiger Mannigfaltigkeit ausnutzt (94)46. Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht ist im wesentlichen eine Genealogie des Willens zur Macht. Sie steht im Kontext einer Theorie endlicher Kraft, die mit Hilfe einer „typologie pluraliste" (frz. 97) zu einer Theorie der Kultur und ihrer Geschichte erweitert wird. Endliche Kraft äußert sich in den fundamentalen Modi von Aktivität und Reaktivität, ohne dass einer von ihnen den Stellenwert einer absoluten Größe annehmen könnte. Aktivität bleibt bei einer endlichen Kraft notwendig an Reaktivität gebunden, Reaktivität vice versa an Aktivität. Reine Aktivität wäre die Eigenschaft einer unendlichen Kraft, reine Reaktivität das vollständige Verschwinden von Kraft. Innerhalb einer Theorie endlicher Kraft bildet Aktivität immer den besonderen Modus von Reaktivität, Reaktivität hingegen einen Modus von Aktivität. Da das Sein endlicher Kraft in keiner singulären Gestalt vollständig auftreten kann, wird die Kategorie der dynamischen Wechselwirkung zur zentralen Denkfigur einer empiristisch-kritischen Physik endlichlebendiger Kraft. Ihr bevorzugtes Thema sind nicht die isolierbaren Merkmale gegebener Kraftzustände, sondern die dynamischen Prozesse zwischen endlichen Kräften und ihren veränderlichen Zuständen. Unter diesen von Deleuze in seinem Nietzsche-Buch nicht näher begründeten Voraussetzungen47 wird es verständlich, dass menschliche Kraft für Nietzsche zwei verschiedene Formen der Reaktivität verwirklichen kann. Die erste beschränkt sich als „das reaktive Unbewußte" (123) auf eine passiv-reaktive Tätigkeit, die sämtliche von außen empfangenen Impulse in ein Vorstellungsbild verwandelt, das sie dem eigenen Gedächtnis dauerhaft einprägen kann. Unter der Vorherrschaft der Gedächtnisbilder reagiert der menschliche Körper nicht mehr auf den unmittelbar lebendigen Eindruck einer Erfahrung, sondern nur noch auf die in der „memoria" von ihr aufbewahrte Spur. Von diesem Typus der passiver Reaktivität ist die Fähigkeit zu unterscheiden, auf gegenwärtige Erregungen des Organismus aktiv und produktiv zu reagieren. Die notwendige Differenz zwischen beiden Typen der Reaktivität wird von der aktiven Macht des Vergessenkönnens aufrechterhalten. Aktives Vergessen verhindert das Aufkommen passiver Reaktivität. Dieses Vergessen ist alles andere als der Ausdruck stupider Geistesabwesenheit, sondern es ist die Kunst, auf das von sich her zu Ruhe und Stabilität tendierende Bewusstsein („la conscience") und auf die in der Erinnerung aufbewahrten Erfahrungsspuren wie-

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Deleuze folgt in der Auszeichnung des Willens zur Macht als Z e n t r u m der nietzscheschen Philosophie nicht der These Heideggers, nach der die Lehre vom Willen zur Macht als die Vollendungsgestalt der Metaphysik zu verstehen ist. Deleuze trifft damit einen wesentlichen Aspekt der nietzscheschen Philosophie angemessener als Heidegger u n d antizipiert so den G r u n d duktus der Nietzsche-Interpretationen von Pierre Klossowski, Michel Foucault u n d Jacques Derrida. Vgl. dafür aber Gilles Deleuze, Différence et répétition (1968), u n d ders., Logique du sens (1969).

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der ein „élément chimique mobile et léger" zu übertragen (frz. 129), das dem Bewusstsein entgehen müsste, wenn im „Scheitern des (sc. aktiven — A. R.) Vergessens" die tote Spur von Ereignissen die Stelle der unmittelbaren Erregung dauerhaft besetzt hielte (125). In der Dominanz des reaktiv Unbewussten erführe die menschliche Kraft zum Selbstausdruck einen „unendlichen Aufschub" (127) und würde dadurch auf jenen Reaktionstyp festgelegt, den Nietzsche mit dem Begriff des Ressentiments umschrieben hat. Die Entstehung des Ressentiments folgt einer Logik der Reaktionsverschiebung, die Deleuze in drei Schritten rekonstruiert. Sie erfindet 1. die Kategorie der Kausalität. Mit ihrer Hilfe lässt sich die Manifestation einer Kraft als die Wirkung einer von ihr verschiedenen Ursache interpretieren. In einem 2. Schritt wird die Trennung zwischen Kraft und Wirkung durch die Einführung der Kategorie der Substanz verstärkt. Dabei erhält die Kraft ein Substrat, das über die Freiheit verfügt, sich zu manifestieren oder nicht. In einem 3. und letzten Schritt wird die Kategorie der wechselseitigen Bestimmung von Ursache und Wirkung bemüht, um den Prozess der Kraftmanifestation moralisch bewerten zu können. Erst wenn das Ressentiment eine prinzipielle Differenz zwischen Kraft und Ausdruck aufgebaut hat, kann eine Kraft für schuldig erklärt werden, wenn sie agiert, und für moralisch gut, wenn sie sich unter bestimmten Bedingungen einer aktiven Reaktion enthält. Auf diese vom Ressentiment bewirkte Verschiebung von Kräften wendet Nietzsche eine Dramatisierungsmethode an, über die er bereits in der Geburt der Tragödie verfügt. Sie unterscheidet sich von der als metaphysisch deklarierten Bestimmung des Wesens von etwas dadurch, dass sie die Frage nach dem Wesen einer Sache durch die Frage nach ihrem konkreten Urheber ersetzt. Wer also „ist der,Künstler' des Ressentiments" (136)? Nietzsche antwortet auf diese Frage mit einer komplexen Typologie des jüdisch-christlichen Priesters. Sie ist nach Deleuze nicht rassistisch oder biologistisch zu verstehen, sondern sie bildet die architektonische Basis einer Kulturtheorie, die der Logik des Ressentiments eine anthropologisch-geschichtliche Dimension hinzufügt. Als prähistorische Aktivität besteht Kultur im Auswählen und im gewaltsamen Durchsetzen von Normen, durch die sich menschliches von anderem Leben unterscheidet. Innerhalb eines bereits etablierten Normensystems entwickelt der Typus des Priesters die entscheidenden Mittel zu seiner Internalisierung, ohne die Normativität nicht dauerhaft wirksam werden kann. Er erfindet vor allem ein öffentlich anerkanntes Verfahren der Schuld- und Strafzuweisung und erzeugt so den moralisch verantwortlichen Menschen, der auf das Leben im Zustand seiner „schönen Unverantwortlichkeit" nur noch mit dem Affekt der Scham zurückblicken kann (145ff.). Nietzsche versteht die bisherige Kultur als einen künstlich geschaffenen Raum, innerhalb dessen die Regel individueller Verantwortlichkeit gegenüber einem religiös, metaphysisch oder politisch qualifizierten Allgemeinen vollständig durchge-

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setzt ist. Kultur bedeutet deshalb — wie Rousseaus „état de civilisation" — eine prinzipielle Denaturierung menschlicher Kraft. Die Geschichte der Kultur kann keine Fortschrittsgeschichte sein, denn sie perpetuiert allein den destruktiven Akt, „vermittels dessen die (sc. ausschließlich — A.R.) reaktiven Kräfte sich der Kultur bemächtigen oder sie zu ihren Gunsten wenden" (152). Die Geschichte der Kultur konstituiert einen von der Welt lebendiger Kraftreaktionen hermetisch abgeschlossenen Raum starrer Regularität und Ordnung. In ihm wirkt die nihilistische Regel der Kraftauslöschung, die bereits die Entstehung primitiver Moralen bestimmt hat und die sich in der Kultur der machinalisierbaren Glückserwartungen des „letzten Menschen" ihren vollkommensten Ausdruck verschafft 48 . Die Geschichte der Kultur lässt sich deshalb auch als Geschichte vom Tode Gottes lesen. Gott wird in der Moderne zu einem humanen Ideal depotenziert und gibt in dieser Form den Platz vor, den der moralisch denaturierte „letzte Mensch" seinen minimalisierten, der eigenen Schwäche angepassten Glückserwartungen vorbehält. Mit dem Sieg des „letzten Menschen" wäre jedes Prinzip aktiver Differenzerzeugung aus der Geschichte verschwunden, so dass die vollständig moralisierte Menschheit in den Todeszustand eines differenzlosen Seins zurückfallen müsste. Dennoch bildet der Raum der bisherigen Kultur bei Deleuze — anders als etwa in der Kulturtheorie von Theodor W . Adorno und Max Horkheimer — keineswegs den Ort radikaler Hoffnungslosigkeit oder des melancholischen ,Eingedenkens' an eine ihm unerfüllbar gewordene Möglichkeit. Im Raum der Kultur kann nämlich auch, gleichsam als dessen „reifste Frucht", „das souveraine ..., das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum" 49 auftreten, das die Krankheit des Nihilismus dadurch überwindet, dass es sich zum Ubermenschen konturiert und sich so der Gattung nach vom schwachen Menschen der bisherigen Kultur unterscheidet. Das souveräne, übermenschliche Individuum reaktiviert die von der Logik des Ressentiments verdrängten „differentiellen Mechanismen" (171), die jede Kraftäußerung vor ihrer kulturellen Denaturierung bestimmt haben. Es inszeniert damit keineswegs einen skeptischen Wertepluralismus, der dem Prinzip ästhetischer Gefälligkeit und situationsbedingter Beliebigkeit gehorcht, sondern es bedient sich der schon von Piaton in der Politeia realisierten „Idee einer züchtenden Gewalt der Kultur" (τταιδεία) (119), die allerdings im Gegensatz zum prähistorischen Anfang der menschlichen Gattungsgeschichte jetzt zur Privilegierung aktiv-reaktiver Kraft eingesetzt wird. In ihrer Aktivität unterliegt die Kraft des übermenschlichen Individuums der praktischen Regel des affirmativ auf sich selbst bezogenen Willens, nämlich der Regel der ewigen Wiederkehr des Gleichen: Das, was du willst, sollst du so wollen, dass du damit zugleich die ewige Wiederkehr deines Willens wollen kannst. Die Lehre von

48 49

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Vorrede 5, KSA 4, 19. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II, 2, KSA 5, 293.

A Nietzsche als Philosoph der Differenz

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der ewigen Wiederkehr hat deshalb keine kosmologische Bedeutung, sondern sie formuliert lediglich das dramatische Prinzip, das den Willen zu souveräner Kreativität befähigt (75ff.) 50 . Sogar das Denken, das die Grundform rein-reaktiven Wollens darstellt, wird vom Ubermenschen im Zeichen der ewigen Wiederkehr auf das Leben als die Grundform des aktiv-reaktiven Wollens zurückbezogen. Die wechselseitige Steigerung von Denken und Leben hat neben einem praktischen für Deleuze zugleich einen ontologischen Sinn. Sie versetzt die endliche menschliche Kraft in den Zustand einer dynamischen Aktivität, in dem sie sich für den Wiedereintritt in jenes dionysische Sein qualifiziert, von dem sie sich durch die Konstitution eines denaturierten Raums regelgeleiteter Kultur ausgeschlossen hatte. Der Übermensch weiß und verhält sich als selbständiger Träger einer physischen Energie, die seine Individualität transzendiert und die in ihrer Fähigkeit zur Selbstmetamorphose nicht nur ihm, sondern dem Sein insgesamt den göttlichen Charakter einer dionysischen Macht aufprägt (48). Ganz im Sinne Nietzsches plädiert Deleuze nicht für eine in sich voraussetzungslose Ontologie der Physis. Sie erhält ihren Sinn erst aus der Perspektive einer Realisierung der differenziellen Kraft, die sie als ihr Thema dem Denken der Metaphysik entgegensetzt.

2. Nietzsche als Philosoph dionysischer Pierre Klossowski

Theophanie

Als Schriftsteller, Übersetzer, Maler und Filmautor ist Pierre Klossowski in der philosophischen Nietzsche-Diskussion ein Außenseiter 51 . Seine gänzlich unortho-

31

Eine derartige kreative Kraft prägt auch die Bestimmung des Begehrens („désir") in: Deleuze — Guattari, Capitalisme et schizophrénie I. Die Autoren, die sich der Deutung des Begehrens als eines kompensationsfähigen Mangels bei Jacques Lacan widersetzen, verstehen es als Aktionsform eines authentischen Willens, der sich in politischer und künstlerischer Tätigkeit äußert. Vgl. dazu Descombes, Das Selbe und das Andere, 205ff. Basistext meiner Darstellung ist Pierre Klossowski, Nietzsche et le cercle vicieux. Edition revue et corrigée, Paris, 1978, Erstdruck ebd., 1969, dt. Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, München 1986. Nach Zitaten in französischer Sprache folgt in der Klammer die Seitenangabe der Edition von 1978, Zitaten in deutscher Sprache folgt in der Klammer die Seitenangabe der genannten Ubersetzung. Klossowski hat sein Nietzsche-Buch Gilles Deleuze gewidmet. Zu Klossowskis Nietzsche-Interpretation vgl. Monique Broc-Lapeyre, Insinuations perverses: un vice de forme. Critique 313 (1973), 530-544. Für die Affinität zwischen Deleuze und Klossowski vgl. Gilles Deleuze, Klossowski et le corps-langage. Logique du sens, Paris 1969, 325—350 (dt. Klossowski oder Die Körper-Sprache. Logik des Sinns, Frankfurt am Main 1993, 341-364). Weitere explizit Nietzsche gewidmete Texte Klossowskis sind: Sur quelques thèmes fondamentaux de la „Gaya Scienza" de Nietzsche. Un si funeste désir, Paris 1963, 7—36; Nietzsche, le polythéisme et la parodie. Un si funeste désir 185—228, dt. Nietzsche, Polytheismus und Parodie. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich (1986), 15-45; Oubli et anamnèse dans l'expérience vécue del'éternel retour du même. Nietzsche (1967), 227—244; Circulus vitiosus. Nietzsche aujourd'hui? (1973), I, 91—103, dt. Circulus vitiosus. Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, 401—429. Vgl. auch die folgende Anm. Zu Klossowskis Nietzsche-Rezeption vgl. Le Rider, Nietzsche in Frankreich, 114-121 mit weiterführender Literatur.

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I Nietzsche i n Frankreich

doxe, von persönlicher Identifikation getragene Annäherung an Nietzsche folgt dem methodischen Vorbild seines Freundes Georges Bataillé12, der wohl als Erster seine Aufmerksamkeit nicht nur dem Inhalt, sondern primär der Schreibweise Nietzsches gewidmet hat53. Bei Klossowski erhält dieser Deutungsansatz54 zusätz,2

Ich entnehme folgende Daten dem Beitrag Rudolf E. Kiinzlis, Nietzsche und die Semiologie: Neue Ansätze in der französischen Nietzsche-Interpretation. Nietzsche-Studien 5 (1976), 268E: Klossowski hat zusammen mit Bataille die für die Bewegung des Surrealismus wichtige Zeitschrift Acéphale ( 1 9 3 6 - 1 9 3 9 ) herausgegeben „und schon i m Jahre 1947 . . . Batailles Verhältnis zu Nietzsche" ausdrücklich thematisiert. Künzli verweist dafür auf Pierre Klossowski, L'expérience de la Mort de Dieu chez Nietzsche et la nostalgie d'une expérience authentique chez Georges Bataille. Sade mon prochain, Paris 1947, 155—183, sowie auf ders., Apropos du simulacre dans la communication de Georges Bataille. Critique 195/196 (1963), 7 4 2 - 7 5 0 . Zur Nietzsche-Deutung von Bataille vgl. Le Rider, Nietzsche in Frankreich, 85ff.

53

Vgl. Georges Bataille, Nietzsche. Jörg Salaquarda (Hg.), Nietzsche, Darmstadt 1980, 4 5 - 4 9 (Erstdruck: Critique 32, 1949, 271-274). Danach sind Nietzsches Lehren Ausdruck einer „intime(n) Erfahrung" (47), nämlich derjenigen des Geprägtseins von „den W u n d e r n der Sinnlichkeit und der Leidenschaft" (48). N u r in der exzeptionellen und deshalb allein authentischen Erfahrung wird „die irreduzible Wahrheit des Seins" (49) zugänglich, so dass sie in der Sprache umkreist werden kann. Zur Nietzsche-Rezeption Batailles vgl. Jean-Michel Rey, La mise en jeu. L'Arc 32 (Georges Bataille) (1967), 1 9 - 2 3 , und François W a r i n , Nietzsche et Bataille. Le parodie à l'infini, Paris 1994. Die Texte, die Bataille Nietzsche außerhalb seines Buches Sur Nietzsche. Volonté de chance, Paris 1945 (vgl. dazu im vorliegenden Buch die A n m . 104), gewidmet hat, sind jetzt auch in deutscher Ubersetzung greifbar: Georges Bataille, Wiedergutmachung an Nietzsche. Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte. Hg. von Gerd Bergfleth, M ü n c h e n 1999. Vgl. dort auch den Beitrag des Herausgebers zum spezifisch a-politischen, gegen den politisch missverstehbaren W i l l e n zur Macht und gegen das Konzept des Ubermenschen gerichteten, ganz unter das Konzept machtfreier, transpolitischer, in religiös-mythischer Weise gemeinschaftsbildender Souveränität gestellten Charakter der Nietzsche-Nachfolge Batailles (G. Bergfleth, Nietzsche redivivus, aaO., 2 9 9 396). Für eine Aktualisierung der a-politischen Nietzsche-Deutung Batailles, die sich explizit gegen ihre als politisch-nazistisch deklarierte Vereinnahmung nicht nur durch Elisabeth FörsterNietzsche und Peter Gast, sondern auch durch Martin Heidegger richtet, vgl. Jean Pierre Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre à la guerre, Paris 1998.

1

Einem in methodischer Hinsicht vergleichbaren, inhaltlich aber mehr von Bergson und Valéry geprägten Deutungsansatz folgt Edouard Gaède, Nietzsche et Valéry. Essai sur la comédie del'esprit, Paris 1962. T h e m a ist auch hier nicht primär die Lehre Nietzsches, sondern die Bewegung seines Denkens, das sich in Sätzen und Lehren nur unzureichend artikulieren kann. Gaède deutet die prinzipiell unendliche Bewegung des Denkens, wie der Untertitel seines Buches nahe legt, als Explikation der „comédie de l'esprit", in der sich der „Geist" denkend von sich selber absetzt, u m so zu jenem „Leben" zurückzufinden, von dem er sich ursprünglich hat unterscheiden müssen. „Geist" kann sich ebenso wenig fixieren wie das transzendentale Ich oder das metaphysische Prinzip von Sein — es sei en passant notiert, dass Gaède einer der wenigen Autoren ist, die das Prinzip von Sein i m Sinne der Metaphysik nicht als Form der Präsenz missverstehen. Geist realisiert sich als Freiheit einer Macht, die sich aus eigener Fülle jeder Objektivierung entzieht und deshalb auf die ewige Wiederkehr ihrer selbst angelegt ist. Die innere Ambivalenz der „comédie del'esprit" verdichtet sich nach Gaède bei Nietzsche zu einer fundamentalen Opposition zwischen Kritik und Konstruktion. Da alle „Leistungen" des Geistes auf einem W i l l e n zur Macht und nicht auf einem objektiven Wahrheitsgeschehen beruhen, sind sie ausnahmslos kritischer Destruktion ausgesetzt. Ihr steht der Anspruch auf Konstruktion gegenüber. Die Zusammengehörigkeit beider Ansprüche formuliert Nietzsche aus der Perspektive einer „méta-philosophie" (267), die trotz ihrer Bindung an die kritische Methode des universellen Misstrauens einen konstruktiven W i l l e n zur Macht realisiert. Die Spannung von Kritik und Konstruktion wird nach Gaède von Nietzsche nicht begrifflich bewältigt, sondern durch die mythische Figur Zarathustras lediglich poetisch überbrückt. Indem

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lieh einen Akzent, der auf Rousseaus Zivilisationskritik zurückgeht. Danach stehen sich die individuelle, als authentisch empfundene Erfahrung und das regelgeleitete Bezeichnungssystem der menschlichen Sprache wie die unvermittelbaren Positionen einer tragischen Antinomie gegenüber. Nietzsche hat jedes Bedürfnis nach einer wechselseitigen Identifizierung von Sprache und individueller Erfahrung aufgekündigt. Klossowski folgt Bataille55 und dem anti-hegelianischen Rousseauismus seines Denkens in der Annahme, dass die „emotion" in ihrer gleichsam göttlichen Souveränität auf der Ebene eines allgemeinen Bewusstseins unrepräsentierbar ist (frz. 32). Sie wird in ihrer Authentizität lediglich in diskontinuierlich auftretenden Zuständen des Körpers fühlbar, vor allem in den spontanen Bewegungen seiner unzensierten Triebimpulse. Die Triebimpulse des erregten Organismus erzeugen einen Intellekt, der reichhaltiger und umfassender ist als die sprachlich konturierte Vernunft des regelgeleiteten Bewusstseins. Die Vernunft des Leibes gilt als singuläre Spur des souveränen göttlich-lebendigen „Selbst" im Sinne Batailles, dem allein kreative Kräfte und Wertschätzungen entspringen können. Klossowski folgt Rousseau in der Behauptung, das Bewusstsein („la conscience") habe durch seine Bindung an Regelhaftigkeit a priori auf jede „Empfindungsfähigkeit ... verzichtet" und antworte auf die Singularität der „émotion" durch die ihr entgegenwirkende Arbeit des Begriffs 56 . Er entwirft damit bewusst ein Gegenmodell zu der von Kojève auf Hegels Phänomenologie des Geistes projizierten Konzeption eines dialektischen Bezuges von Begehren, Arbeit und Bewusstsein. Während Hegel die Konturierung des Begehrens durch Arbeit als einen zwar riskanten, aber unumgänglichen Weg zur Freiheit des Selbstbewusstseins versteht, insistiert Klossowski auf dem Gedanken, dass jede Aktivität des Bewusstseins einen irreversiblen Verfall emotionaler Intensität zur Folge hat. Die bisherige Kultur beruht auf einem ungleichen Tausch zwischen spontanen Triebimpulsen und den sprachlichen Zeichen eines profanen Codes (dt. 68) 57 . In seinem Bann entsteht eine

"

,7

Zarathustra den Mythos der ewigen Wiederkunft verkündet, entspricht er zwar dem „besoin de synthèse" aus den gegenläufigen Denkbewegungen von Kritik und Konstruktion, kann aber ihre innere Einheit nicht philosophisch begründen. Nietzsches Denken ist deshalb letztlich keine Philosophie, sondern mythische, prophetische oder poetische „profession de foi" (277). Im Motiv vom philosophischen Scheitern Nietzsches folgt Gaède dem Duktus von Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956 (zuerst Berlin 1935). Zur Bedeutung der Hegel-Interpretation Batailles für dessen Nietzsche-Bild und für die Stabilisierung der dekonstruktionistischen Nietzsche-Rezeption in Frankreich vgl. Jacques Derrida, Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus. Die Schrift und die Differenz, 380—420 (Del'économie restreinte àléconomie générale. Un Hegelianisme sans réserve. L'écriture et la différence, 369—407). Die Unübertragbarkeit der „émotion" auf die Ebene der „conscience" und die Tragikomödien, die aus den Versuchen ihrer Annäherungen und wechselseitigen Spiegelungen entstehen, bestimmen Thematik und Schreibweise von Pierre Klossowski, Les lois de l'hospitalité, Paris 1965 (dt. Die Gesetze der Gastfreundschaft, Reinbek bei Hamburg 1966). „Code" ist ein Schlüsselbegriff in der Linguistik Ferdinand de Saussures. Zur Bedeutung der linguistischen Theorie de Saussures für die französische Nietzsche-Rezeption vgl. im vorliegenden Band S. 42ff.

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I Nietzsche in Frankreich

Ausgleichung' aller spontanen Bedürfnisse, was gleichbedeutend ist mit einer vollständigen Abschaffung aller Differenzen bei der Bedürfnisbefriedigung" und mit einer ebensolchen „Homogenisierung der Denk- und Fühlgewohnheiten" (dt. 259). Der hier angedeutete gedankliche Rahmen wird von Klossowski nicht diskutierend entwickelt, sondern als gängige Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. In ihm wird dennoch eine für Nietzsche ganz entscheidende Intention zum Sprechen gebracht. Klossowski umschreibt sie als den Versuch einer Restitution des lebendigen Daseins und seiner „authentischen Spontaneität" (85), die nur als „Komplott" des Einzelnen gegen die bisherige Kultur der Egalisierung von Individualität gelingen kann (10)58. Dies bedeutet ebenso wenig wie bei Rousseau die unvermittelte Revitalisierung eines vorkulturellen Zustands emotionaler Intensität, sondern den reflexiv geleiteten Versuch, „die ,bewußte'Semiotik", die schon nach Rousseau den „état de civilisation" bestimmt, „in eine Triebsemiotik zurückzuübersetzen ..., um die authentische Spontaneität wiederzuerlangen", die in den Zeichencodes der bisherigen Kulturen zum Schweigen gebracht worden ist (85). Klossowski rückt die philosophische Intention Nietzsches in unmittelbare Nähe zu einem der schwierigsten Darstellungsprobleme moderner Kunst, das exemplarisch im Werk von Marcel Proust, James Joyce und Samuel Beckett thematisch wird. Es läßt sich charakterisieren als der Versuch einer Darstellung dessen, was sich den Regeln sprachlicher Repräsentation entzieht, wobei dieses in sich paradoxe Vorhaben einer Darstellung des Nicht-Darstellbaren von der Uberzeugung getragen ist, dass nur das, was aufgrund seiner Intensität oder Überkomplexität einem deutlich explizierbaren Sinn unerreichbar bleibt, auf eine an sich selbst notwendigerweise unrepräsentierbare Idee des gelingenden Lebens verweisen kann 39 . Eine derartige Intention

'

Der Komplott des isolierten Einzelnen — vgl. dazu den Hinweis auf eine in Frankreich früh gesehene Parallele zwischen Nietzsche u n d Stirner in A n m . 23 des vorliegenden Buches — gegen die ihn umgebende Kultur der Intensitätsauslöschung ist das T h e m a in Pierre Klossowski, Sade mon prochain, Paris 1947. Klossowskis Nietzsche-Interpretation berührt sich mit derjenigen des ebenfalls d e m Kreis u m Bataille zugehörigen Literaturtheoretikers u n d Schriftstellers Maurice Blanchot. Blanchot hat folgende Texte zu Nietzsche verfasst: D u côté de Nietzsche. La Part du feu, Paris 1949, 2 7 8 - 2 8 9 (enthält eine Auseinandersetzung mit der christlich-existenzialistischen Nietzsche-Deutung von Henri de Lubac, Le drame de l'humanisme athée, Paris 1933, sowie eine Aktualisierung der Nietzsche-Deutung von Karl Jaspers, in der das Motiv des Widerspruchs zentral ist); Nietzsche, aujourd'hui. L'entretien infini, Paris 1969, 2 0 1 - 2 1 5 (konzentriert sich anlässlich der von Karl Schlechta besorgten Neuausgabe des Nachlasses von Nietzsche auf das für Blanchot insgesamt charakteristische T h e m a von der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit eines „Hauptwerks" für ein essenziell modernes Denken) ; Passage de la ligne. L'entretien infini, 215 - 2 2 7 (enthält eine Auseinandersetzung mit den Nietzsche-Vorlesungen Martin Heideggers u n d mit der Nietzsche-Deutung von Georg Lukács); Nietzsche et l'écriture fragmentaire. L'entretien infini, 2 2 7 - 2 5 5 , dt. Nietzsche u n d die fragmentarische Schrift, in: Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, 4 7 - 7 3 (nach eigenem Bekunden „en marge des livres" von Michel Foucault, Gilles Deleuze, Eugen Fink, Jean Granier u n d Jacques Derridas L'écriture et la différence geschrieben). Für die Erstdrucke dieser Texte vgl. das Literaturverzeichnis.

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lässt s i c h ü b e r B a t a i l l e m i t d e m S u r r e a l i s m u s u n d d e r P s y c h o a n a l y s e F r e u d s i n V e r b i n d u n g bringen. Sie erinnert aber auch an den V e r s u c h M a r t i n Heideggers, d e m als m e t a p h y s i s c h d e k l a r i e r t e n D e n k e n d e r I d e n t i t ä t u n d s e i n e m u n i v e r s a l e n „principium reddendae rationis" das dichterische A n d e n k e n an ein Sein entgegenz u s t e l l e n , d a s in d e r c o d i f i z i e r t e n R e d e des r a t i o n a l e n , m a n ' u n a u s d r i i c k b a r b l e i b t 6 0 . N i e t z s c h e realisiert e x e m p l a r i s c h d i e e x z e p t i o n e l l e M ö g l i c h k e i t e i n e r s p r a c h l i c h e n D a r s t e l l u n g a u t h e n t i s c h e r S p o n t a n e i t ä t , w e n n er d i e L e h r e v o n d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t des G l e i c h e n als A u s d r u c k e i n e r p l ö t z l i c h e n E r l e u c h t u n g

charakteri-

siert 6 1 . S e i n e S c h r i f t w i r d z u m O r t b e w a h r e n d e r V e r a r b e i t u n g u n d r e f l e x i v e r W i e d e r e r i n n e r u n g a n e i n e E r f a h r u n g , d i e in i h r e r S i n g u l a r i t ä t n u r a u s s i c h selbst h e r a u s E v i d e n z g e w i n n e n , s i c h a l l e n f a l l s in d e r G e s t i k des K ö r p e r s o d e r i m S c h r e i der S t i m m e unmittelbar ausdrücken kann62. U n t e r inhaltlichem Aspekt antizipiert Nietzsches Lehre der ewigen W i e d e r k u n f t f ü r K l o s s o w s k i ein zentrales T h e m a d e r f r a n z ö s i s c h e n G e g e n w a r t s p h i l o s o p h i e , Auch Blanchot versteht die Schrift Nietzsches als ein Form gewordenes Verfahren der Reflexion auf Möglichkeit und Unmöglichkeit einer Darstellung des Nichtdarstellbaren. Der Autor nähert sich diesem Problem aus einem Interesse an der elementaren Ambiguität der Sprache und des von ihr ausgeschrittenen „espace littéraire" (vgl. Maurice Blanchot, L'espace littéraire, Paris 1955, und ders., L'attente l'oubli, Paris 1962), der nur in der begrenzten und gleichsam zeitlosen Zeit der Imagination die prekäre Balance zwischen Affirmation und Negation aufrechterhalten und dadurch einen Ort gesteigerten Lebens umschreiben kann. Als Konstitution eines Bedeutungsraumes, der durch die Dichotomie von Leben und Tod geprägt ist, bewegt sich die künstlerische Darstellung in der Orientierung an einem „principe de contestation" zwangsläufig auf eine Grenze zu, an der sie den von ihr geschaffenen Raum wieder auslöscht. Blanchot verdeutlicht sein Verständnis des in sich stets prekären literarischen Raumes in Interpretationen zu Hölderlin, Rilke, Kafka, Bataille und Artaud. Michel Foucault (La pensée du dehors. Critique 229, Juni 1966, 523-546, jetzt Dits et écrits 1954—1988, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, 4 Bde., Paris 1994, Bd. I (1954-1969), 518-539, dt. Das Denken des Draußen. Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1979,130—156) betont die Affinität Blanchots mit Motiven des neueren, in sich dynamischen Strukturalismus. Für Blanchots Charakterisierung der Intentionen Foucaults vgl. Maurice Blanchot, Michel Foucault, vorgestellt von Maurice Blanchot, Tübingen 1987. Zu den systematischen Intentionen Blanchots vgl. Carolyn Bailly Gill (Hg.), Blanchot. The Demand of Writing, London 1996, und Leslie Hill, Blanchot. Extreme Contemporary, London 1997.

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Eine von Bataille, Blanchot und Klossowski inspirierte Einführung in die fundamentalphilosophische Bedeutung der Ästhetik Nietzsches gibt Jacques Sojcher, La question et le sens. Esthétique de Nietzsche. Essai suivi d'un choix de textes présentés en bilingue, Paris 1972. Auf Klossowskis Ubersetzung der Nietzsche-Vorlesungen Heideggers ist in Anm. 34 des vorliegenden Bandes hingewiesen worden. Klossowski, dt. 95: „Der Gedanke der Ewigen Wiederkunft des Gleichen überkommt Nietzsche wie ein plötzliches Erwachen, das durch eine gewisse (im Orig. deutsch) ausgelöst wird: in Verbindung mit dieser Stimmung löst sich die Ewige Wiederkunft als Gedanke heraus; aber dennoch bewahrt sie den Charakter einer Offenbarung (,révélation') - also einer plötzlichen Entschleierung" („d'un subit dévoilement", 93). Vgl. dazu Rousseaus Kennzeichnung des „premier langage de l'homme" als „cri de la nature" und als „le langage le plus universel, le plus énergique", dessen allgemeine Verständlichkeit auf der Evidenz eines unmittelbaren, von expressiven Gesten begleiteten „sentiment" beruht: Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes. Œuvres complètes, III, Paris 1964 (Bibliothèque de la Pléiade), 148.

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nämlich das der Auflösung des Ich als des Identität stiftenden Garanten des subjektiven Selbstbewusstseins und seiner rechtlich und moralisch qualifizierbaren Autonomie. Nietzsche artikuliert demgegenüber die Erfahrung einer Dispersion des Selbst in der Zeit, in der ich „mein gegenwärtiges Ich" „entaktualisiere", „um mich in all den anderen Ichs zu wollen, deren Folge durchlaufen werden werden muß, damit ich entsprechend der zirkulären Bewegung wieder zu dem werde, der ich in dem Moment bin, in dem ich das Gesetz der Ewigen Wiederkunft entdecke" (97). Der Wechsel von Vergessen und Erinnern, von unmittelbarer Erfahrung und gewollter Wiederholung inszeniert das heilsame Delirium des Ich-Verlusts. Die aktive Selbstauflösung des Ich geschieht als Intensität (102ff.), die das zuvor in ein definierbares Prinzip seiner Identität eingeschlossene Selbst in den Zustand eines sich selbst „bewegenden Chaos ohne Anfang und Ende" versetzt (102). Es wird darin Teil des Circulus vitiosus deus, den Nietzsche im Zeichen des Dionysos als „ein beständiges Sich-Selbst-Verlieren und ein beständiges Sich-Selbst-Wiederfinden von zahllosen Göttern " charakterisiert und den er in der literarischen Form des beständigen Wechsels von Aphorismen, Bildern und Mythen sinnenfällig darstellen will (106). Klossowski folgt wiederum einem Motiv Batailles, wenn er die Entgrenzung des Ich mit der Befreiung von der knechtischen Ökonomie der Zeichen zugunsten einer Teilhabe an einem „Gesamthaushalt des Universums" (219) verbindet, der in seiner Ökonomie nicht der verängstigten Sparsamkeitsregel beständiger Kraftakkumulation folgt, sondern der beglückenden Uberflussmaxime einer ständigen Ruptur gegebener Kraftverbindungen und der explosionsartigen Dispersion jeder zuvor gebundenen Kraft. Nietzsches „Lehren" sind nach Klossowski nichts anderes als vielfältige, präzise miteinander verbundene, aber letztlich vergebliche Versuche, die in sich unverständliche Erfahrung der ewigen Wiederkunft auf die Ebene des kommunikativen Denkens zu übertragen (108f£). N u r zu diesem Zweck sucht Nietzsche nach Begründungsformen, die ihrem Inhalt nicht adäquat sein können, wie z. B. nach wissenschaftlichen Beweisen oder nach ethischen Imperativen, die den Wahrheitsgehalt der ewigen Wiederkehr unterstützen oder als plausible Handlungsregeln aus ihr hervorgehen sollen. Zusätzlich vermenschlicht Nietzsche die Erfahrung der Wiederkehr dadurch, dass er ihr die Lehren vom Willen zur Macht und vom Übermenschen zuordnet. Klossowski hält es für irreführend, Nietzsches „Lehren" als philosophische Theorien aufzufassen. Ihre Deutung als komplexes Verfahren der künstlichen Überlagerung, also der „dissimulation" authentischer Erfahrung, stellt bis heute die provozierendste Herausforderung für jede philosophisch-theoretisch orientierte Nietzsche-Hermeneutik dar 63 . 63

Zu den Problemen einer dem Denken Nietzsches angemessenen Hermeneutik sei auf die folgenden Beiträge zweier deutschsprachiger Autoren verwiesen: Peter Köster, Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Interpretation. Nietzsche-Studien 2 (1973), 31-60, und Eugen Biser, Das Desiderat einer Nietzsche-Hermeneutik. Nietzsche-Studien 9 (1980), 1—37.

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In seiner Spätphilosophie, der sich Klossowski primär über die Nachlassnotizen der achtziger Jahre nähert 64 , stilisiert Nietzsche den Philosophen zum Experimentator und Züchter einer Gegenmenschheit. Seine Aufgabe besteht — ähnlich wie bei Deleuze — in der Umkehrung aller Instrumente bisheriger Kultur zugunsten einer Uberwindung des Elends, „in das die wissenschaftliche Entmystifizierung die Menschheit ... gestürzt hat". Nietzsche antwortet auf dieses Elend durch eine reflexive „Remystifikation, die neue Lebensbedingungen schafft und die kreative Kraft der Triebe aufwertet" (208). In der Lehre vom Übermenschen will er „dem Dasein einen Sinn" und ein Ziel geben, das er aus der Perspektive seines analytischen Denkens nur als „Trugbild" („simulacre") kennzeichnen kann. Es wird aber „in den Händen des betrügerischen' Philosophen" (209) zu einem wertvollen Instrument für die Erforschung der „physiologischen und psychischen Bedingungen", die zur „Entwicklung von einigen seltenen Individuen" führen, in denen sich jener Typus des Übermenschen „abzeichnet, der die einzige Rechtfertigung ... der Gattung bildet" (231). Sogar die Lehre von der ewigen Wiederkunft wird zu einem Mittel der nietzscheschen Politik, insofern sie in der ihr ursprünglich fremden Form eines Imperativs Menschen züchten will, die in ihrem Selbst- und Wirklichkeitsbezug die Grenzen der bisherigen „Herdengewohnheiten" überschreiten (266). Nietzsches Philosophie der Gewalt und des kalkulierten Betruges weiß sich legitimiert durch die „Gerechtigkeitder universellen Ökonomie" (243). W e n n der „intentionslose Gesamthaushalt des Universums ... intentionale Wesen" schafft, die mit Hilfe der Moral „die Intensität der Kräfte" zur blassen Form einer „Intention" herabstimmen, dann ist es mehr als berechtigt, mit Hilfe von Trugbildern wenigstens einige dafür geeignete Individuen in jenen intentionslosen Zustand zurückzuversetzen, der den „Gesamthaushalt des Universums" ursprünglich bestimmt (219). Im Kern folgt Nietzsches Philosophie theologischen und soteriologischen Motiven, die dem göttlichen Ideal „einer völlig referenzlosen Authentizität" verpflichtet sind (185) 63 . Sie ist „Theologie des ,Gottes Circulus vitiosus'" und als solche ein wahres Evangelium, weil es verkündet, dass „das Ubermenschliche" wider alle Erwartung in der menschlichen Welt präsent sein kann (267f.). Nietzsche lehrt die Befreiung von der „Knechtschaft, die jede Signifikation mit sich bringt" (271),

Vgl. auch die Übersetzungen Klossowskis: Friederich Nietzsche, Le Gai Savoir et fragments posthumes, 1880—1882. Œuvres philosophiques complètes de Nietzsche, Paris 1964, und ders., Fragments posthumes 1887-1888, Paris 1976. ^ Das Ideal referenzloser Authentizität und seine Erscheinung als „Theophanie", die im ironischen Spiel alle Regeln der Signifikation sprengt und so einen einzigartigen Zustand körperlicher Erregung erzeugt und zugleich beschreibbar macht, ist Thema in Pierre Klossowski, Le Bain de Diane, Paris 1956 (dt. Das Bad der Diana, Reinbek bei Hamburg 1970). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Beitrag von Michel Foucault zu Klossowski mit dem bezeichnenden Titel: La prose dActéon. La nouvelle revue française 135, März 1964, 444-459. Jetzt Dits et écrits, I, 326-337. 64

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indem er zu der paradoxen Anstrengung auffordert, mit Hilfe einer exklusiven Intention eine Existenzweise zu schaffen, die in ihrer Intensität von jeder intentionalen Signifikation frei ist. In ihren soteriologischen Motiven knüpft Nietzsches Philosophie an die Theologie der griechischen Tragödie an, insbesondere an das Motiv der Vergöttlichung des Einzelnen durch die Selbstaufopferung seiner beschränkten Individualität. Allein das Opfer individueller Identität führt zum Gewinn jener essenziellen „Insignifikanz", die Klossowski mit Bataille allein in der göttlichen „Gewalt" und Souveränität verkörpert sieht (183). Nietzsches Lehre vom Tode Gottes distanziert sich ausschließlich von einem Gott, der als Garant „identischer Individualität" schon von sich aus jede Prätention auf wirkliche Göttlichkeit aufgegeben hat. Sie redet aber keineswegs einer „Abschaffung des Göttlichen" das Wort, das nach Klossowski „untrennbar vom Chaos ist" (290). Nietzsches bewusstes Leben endet deshalb als zugleich christlich-apokalyptische und griechisch-tragische Theophanie. Es realisiert „Intensitätsfluktuationen", in denen Nietzsche sich ironischerweise „ganz plötzlich mal für Dionysos und mal für den Gekreuzigten" ausgibt (361). Turin ist der Ort, an dem sich Nietzsches exemplarisches Eindringen in den Circulus vitiosus deus ereignet. Er hat den Weg dorthin mit Hilfe einer intellektuellen Intention gesucht, die sich im Erreichen ihres Ziels als nunmehr überflüssig gewordener Umweg erweist. Indem er sich dem Circulus vitiosus deus opfert, wird Nietzsches individuelles Bewusstsein, wie Klossowski den Leser glauben machen will, im Akt der Selbstauslöschung zum Ort einer literarisch nicht mehr vermittelbaren, aber dafür uneingeschränkt authentischen Theopha-

"

Vgl. Klossowski, 356:

„INCENDIE ET C O N S U M P T I O N , V O I L À CE QUE D O I T ÊTRE N O T R E VIE,

0

V O U S D I S C O U R E U R S DE LA VÉRITÉ! ET PLUS L O N G T E M P S QUE LA V I C T I M E V I V R O N T LA V A P E U R

Durch das Motiv des Opfers ist Klossowskis Nietzsche-Deutung noch einmal dem Denken Batailles verbunden. In bewusster Abweichung von Klossowski hat Philippe Granarolo, L'individu éternel. L'expérience nietzschéenne de l'éternité, Paris 1993, an Nietzsches erlebte Erfahrung der ewigen Wiederkehr angeknüpft. Sie ist für ihn primär die Erfahrung der radikalen Poly- und Dyschronie des Lebens, also ein Ereignis der Natur insgesamt, das sich im menschlichen Leib authentischen Ausdruck verschafft. In der Geschichte der europäischen Rationalität wird diese Erfahrung angeblich vor allem durch Piaton und neuzeitlich durch Descartes verdrängt. Die spezifische Zeiterfahrung des lebendigen Leibes findet ihr Symbol in Dionysos. In seinem Zeichen wird die menschliche „dynamique du corps" (129) zu einem Teil des unendlichen Spiels der Natur mit sich selbst. Im dionysischen Spiel befreit sich der Mensch von den Fesseln der linearen Zeit (Erlösung) und gewinnt damit Zugang zu spontaner, in sich vielfältiger, renaturalisierter Kultur. Das Individuum, das so zu wahrer Freiheit fähig geworden ist, folgt nicht mehr den Regeln rationaler Selbsterhaltung, sondern bildet die „holistische" und zugleich offene Einheit einer ,,,ηοηséparabilité' des éléments" sowie einer „conécessité ... de l'ordre et du chaos" (166f.). Sie ist ihrer Form nach am Modell der Kunst orientiert und stimmt nach Granarolo in frappierender Weise mit dem Naturbegriff der modernen Quantenphysik überein. Methodisch ist der Ansatz Granarolos mit demjenigen von Alain Juranville zu vergleichen. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 76f. ET L'ENCENS DES SACRIFICES".

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3. Nietzsche als Theoretiker und Praktiker des Kriegs oder des Spiels der Zeichen Der von Deleuze zum Anti-Hegelianer und von Klossowski zum Apologeten der künstlerischen Avantgarde stilisierte Nietzsche gerät in das Kraftzentrum des Denkens von Michel Foucault und Jacques Derrida 6 7 . Keiner von ihnen würde sich selber als Nietzsche-Interpreten verstehen, aber sie gewinnen beide das Profil ihres philosophiekritischen Impulses in der Anknüpfung an seine Philosophie. In der Appropriation durch Foucault und Derrida verliert Nietzsche zwangsläufig wichtige Konturen seines eigenen Denkens, erhält aber dadurch die Rolle des exemplarischen Vorläufers der von diesen Autoren vertretenen Konzepte nachmetaphysischer Philosophie.

a) Nietzsches Blick auf die Geschichte als Theater der Gewalt

Michel

Foucault

Das Interesse Foucaults an Nietzsche ist ausschließlich durch die methodischen Prämissen seines eigenen Denkens motiviert 68 . Foucaults Denken steht für eine besondere Art des Zugangs zur Geschichte europäischer Rationalität. Er interpretiert sie als unbewusst artifizielle und daher stets auch gewaltsame Konstitution eines Raumes, der die Umrisse, die ihn begrenzen, und die Regeln seiner internen Füllung nur durch die dramatische Geste einer Spaltung gewinnt, durch die er sich gleichsam von einem Unort des Diffusen ablöst. Am Beginn der Geschichte der Vernunft steht deshalb das Gegenteil ihrer selbst, nämlich „die Geste, die den

67

68

Vgl. für diesen Zusammenhang auch die kleine, in der seinerzeit einflussreichen Reihe 10/18 erschienene, ganz im Geiste Blanchots und Derridas geschriebene Arbeit des Franco-Kanadiers Claude Lévesque, L'étrangetédu texte. Essai sur Nietzsche, Freud, Blanchot et Derrida, Paris 1978 (durchgesehene und erw. Auflage gegenüber der Erstausgabe Montreal 1976), insbesondere 13— 84: Déclinaison de l'abîme. Le puits d'éternité, sowie ders., Dissonance. Nietzsche à la limite du langage, Lasalle (Québec) 1988. Vgl. dafür auch A. D. Schrift, Nietzsche's French Legacy, Kap. II: Foucault: Genealogy, Power, and the Reconfiguration of the Subject (34—58). Besonders wertvoll sind die Hinweise des Autors auf die oft übersehene Komplexität des Machtbegriffs, den Foucault wesentlich über Nietzsche gewinnt. So entsteht ein einheitlicher Blick auf ein Denken, in dem die vier Themen „Sprache", „Wahrheit", „Macht" und „Subjekt" wechselseitig miteinander verbunden sind. Für direkte Äußerungen Foucaults zur Bedeutung Nietzsches für sein eigenes Denken vgl. A. D. Schrift, Nietzsche's French Legacy, 37f. Für eine Gesamtdeutung der philosophischen Intentionen Foucaults vgl. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 513—534, Frank, Was istNeostrukturalismusi 135-243, und, besonders authentisch: Gilles Deleuze, Foucault, Paris 1986 (dt. Ubers. Frankfurt am Main 1987). Zur Bedeutung Nietzsches für Foucault vgl. auch Keith Ansell-Pearson, The Significance of Michel Foucault's Reading of Nietzsche. Power, the Subject, and Political Theory. NietzscheStudien 20 (1991), 267-284, sowie Thomas Gutmann, Nietzsches „Wille zur Macht" im Werk Michel Foucaults. Nietzsche-Studien 27 (1998), 377-419.

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I Nietzsche in Frankreich

Wahnsinn" als Un-Vernunft („non-raison") von sich „abtrennt"69. Sie gehört näherhin zur Gattung der „gestes obscurs", die nicht mit Bewusstsein vollzogen werden können, sondern in der Ausführung „notwendigerweise schon vergessen sind". Nur im Akt der Zurückweisung von „etwas ..., was für sie außerhalb liegt", entsteht der begrenzte Raum einer Kultur, innerhalb dessen sie die „Dichte" („l'épaisseur originaire") ihres eigenen Sinns entfalten kann. Foucault bestimmt deshalb die Regel, die der Geschichte der Vernunft zugrunde liegt, als diejenige einer in sich antinomischen „structure tragique" 70 . Dass die Geschichte der Vernunft grundsätzlich vom Anderen ihrer selbst begleitet wird, zeigt sich zwar niemals direkt, sondern immer nur indirekt, nämlich daran, dass die interne Regel, nach der jede Kultur den von ihr definierten Binnenraum mit ihrem Sinn ausfüllt, diskontinuierlichen Veränderungen unterliegt. Dieses historiographisch beschreibbare Faktum lässt nur den Rückschluss zu, dass das von einer Kultur als „déraison" Ausgeschlossene vom Rand her immer wieder in einer völlig unberechenbaren Weise in den abgeschlossenen Raum des kulturell definierten Sinns eindringt. Der Raum des Sinns erscheint so nicht als Ort der kontinuierlichen Annäherung an eine Summe des Sinn-Möglichen, sondern er bildet die zeitlich und räumlich limitierte Ausnahme gegenüber einem stets größeren und daher aus der Perspektive der Geschichte der „raison" prinzipiell unerreichbaren Bereich des Nicht-Sinns 71 . 69

70 71

Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1973, Vorwort, 7 (Folie et déraison. Histoire de la folie à l'âge classique, Paris 1961). Das Vorwort zur Erstausgabe ist in den späteren Auflagen des französischen Textes, der ab 1972 unter dem Titel Histoire de la folie à l'âge classique erscheint, nicht mehr enthalten. Für Zitate aus dem Originaltext beziehe ich mich auf Dits et écrits (1994), I, 159-167. Das angeführte Zitat ist zu finden in I, 159: „le geste qui partage". Diese Geste erzeugt so etwas wie eine „césure originaire", „qui établit la distance entre raison et non-raison" (ebd.). Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (1973), 9; Dits et écrits (1994), I, 161. Foucault thematisiert in Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966 (dt. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1974) verschiedene inhaltliche Füllungen des von der europäisch-neuzeitlichen Vernunft eingenommenen Raumes, der seinerseits im Ubergang von einer Logik des Ahnlichen (Renaissance) zu einer Logik der Klassifikation (Descartes) entsteht. Descartes definiert Regeln für den Aufbau eines gegenüber der Welt der Dinge exemten locus veritatis, von dem aus die Wahrheit der „res extensae" methodisch rekonstruiert und klassifikatorisch bestimmt werden kann. In diesen Ort tritt am Ende des 18. Jahrhunderts der Mensch ein, so dass nunmehr die internen Regeln seines Bewusstseins als allgemeine Strukturen der Wahrheitsfindung gelten. Nietzsche steht zusammen mit der Psychoanalyse, der Linguistik und der strukturalen Ethnologie für das Ende der gleichsam kantianischen Epoche des Wissens, die dem menschlichen Bewusstsein die Rolle des singulären Sinnproduzenten zugeschrieben hatte. Die modernen Verhaltens- und Sprachwissenschaften thematisieren allgemeine, subjektfreie Strukturen der Sinnkonstitution, in denen aus methodischen Gründen ein autonomer Sinnproduzent überhaupt nicht auftreten kann. In analoger Weise distanziert sich Nietzsches Lehre vom Ubermenschen von solchen Konzepten, in denen der Mensch gegenüber der Wirklichkeit des Daseins die privilegierte Rolle eines erkenntnisoder handlungstheoretisch privilegierten Subjekts innehat. Für Foucault gehört der Begriff des Menschen, der mit dem Recht transzendentaler Freiheit in eine Welt kontingenter Faktizität eingreift, zu einer schon im 19. Jahrhundert beendeten Episode in der Geschichte des Wissens, in die er nur infolge einer der beliebigen Verwerfungserscheinungen („pli") in der Abfolge unterschiedlicher Füllungen des Sinn-Raumes europäischer Vernunft hatte eintreten können.

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Es ist kein Zustand denkbar, in dem die Distanz zwischen Sinn und Nicht-Sinn aufgehoben werden könnte, denn die „ursprüngliche ... Reinheit" („cette inaccessible pureté primitive") vor dem Auseinandertreten von „raison" und „déraison" ist für die menschliche Realitätserfahrung ebenso wenig zugänglich wie ein Ort, der diese Spaltung definitiv hinter sich gelassen hätte 72 . Thematisieren lässt sich die Geschichte der Vernunft nur im Kontext einer Archäologie des Wissens, deren Aufgabe darin besteht, Berichte über kontingent-faktische Variationen der „ursprünglichen Gegeneinanderstellung" von Sinn und Nicht-Sinn zu verfassen und archivarisch zu ordnen 73 . Nietzsche ist der methodische Ahnherr einer derartigen Archäologie, weil es ihm vor allem in seinem Frühwerk gelungen ist, die Geschichte der europäisch-sokratischen Vernunft gleichsam psychoanalytisch zu lesen und sie als „Vergessen ... der Tragödie" und als „Ablehnung" der ursprünglichen Gegeneinanderstellung von Dionysos und Apoll, also von Unbestimmtheit und (räumlicher) Begrenzung, zu charakterisieren 74 . Foucault versteht seine eigene Rekonstruktion der Geschichte des Wissens als eine maßgeblich von Nietzsche inspirierte Absage an den dialektisch konzipierten Begriff der Geschichte, der sie als Kontinuum eines sich prozesshaft erfüllenden Sinns verstehen will. Es sind vor allem die geschichtsphilosophischen Konzepte von Hegel und Marx, die Foucault im Blick auf die „grande recherche nietzschéenne" „mit den unbeweglichen Strukturen der Tragik" im Sinne einer unaufhebbaren Spaltung von „raison" und „déraison" konfrontiert 73 .

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Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (1973), 13, Dits et écrits (1994), I, 164. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (1973), 10, Dits et écrits (1994), I, 161. In Foucaults erkenntnistheoretischem Hauptwerk L'archéologie du savoir, Paris 1969 {At. Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, 24ff.) ist Nietzsche kein Thema expliziter Reflexion. Die Bezugnahme auf ihn beschränkt sich auf seinen Begriff der Geschichte als des Ortes kontingent-faktischer Machtverschiebungen. Dieser Geschichtsbegriff ist das explizite Thema von Michel Foucault, Nietzsche, la généalogie, Πι ¡suoi re (vgl. im vorliegenden Buch Anm. 85). Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (1973), 10, Dits et écrits (1994), I, 161: „... que la structure tragique à partir de laquelle se fait l'histoire du monde occidental n'est pas autre chose que le refus, l'oubli et la retombée silencieuse de la tragédie". Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (1973), 10, Dits et écrits (1994), I, 162: „confronter les dialectiques del'histoire aux structures immobiles du tragique". Foucaults Einschätzung von Marx ist insofern ambivalent, als er zwar dessen dialektisch konzipierte Geschichtsphilosophie ablehnt, aber seine ökonomischen Analysen als Dezentrierungsleistungen auffasst, in denen die scheinbar in sich geschlossenen Bedeutungswelten der Kultur (Uberbau) aufgelöst und auf ein in sich bewegtes Anderes ihrer selbst zurückgeführt werden. Ein anderes Thema, über das sich Foucault auf Nietzsche bezieht, wird von ihm selber als das einer Dekomposition des sprechenden Subjekts charakterisiert - vgl. dafür vor allem die letzten Kapiteln von Les mots et les choses. Gutmann, Nietzsches „Wille zur Macht" (wie vorliegender Band, Anm. 68) zeigt, dass dieses nietzscheanische Thema beim frühen Foucault durch die Orientierung seines Begriffs der episteme am Begriff anonymer Struktur gleichsam blockiert und noch nicht auf eine Theorie der Macht bezogen wird. Diese Blockade wird in der Archäologie des Wissens noch verschärft und erst Anfang der siebziger Jahre durch eine erneute Nietzsche-Lektüre zugunsten einer umfassenden Genealogie der Macht und ihrer vielfältigen Dispositive gelöst. In diesem Zusammenhang, so Gutmann, entdeckt Foucault

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In dem Georges Bataille gewidmeten Essay Préface à la transgression76 thematisiert Foucault die Struktur einer Welt, die er mit Nietzsche als Welt nach dem Tode Gottes beschreibt. In einer Welt, in der Gott tot ist, wird der Bezug auf einen absolut authentischen Grund menschlicher Wirklichkeitserfahrung wie Wahrheit oder Gerechtigkeit unmöglich. Die Einsicht in den fiktiven, immer nur politisch gewollten Grund vermeintlich authentischer Absolutheitsansprüche führt jedoch nicht wie etwa bei Feuerbach zum Wiedergewinn einer natürlichen Wirklichkeit. Vielmehr wird das Vorhandensein von Regularität und Normativität auf das anthropologische Radikal einer „Geste der Überschreitung" gegebener Faktizität zurückgeführt, der in ihrer Klassifizierung als artifizieller und politischer Größe jeder Zugriff auf einen gleichsam natürlichen' Raum von Wahrheit verwehrt ist. Solange sich endliches Dasein in der „Geste der Überschreitung" auf einen absoluten Wert beziehen zu können glaubte, erschien ihm dieser Wert zwar als das Andere, aber dennoch als das Andere seiner selbst, das ihm unter bestimmten Bedingungen aus eigener Kraft erreichbar schien. Ihm entging damit jedoch der erkennende Blick auf die essenziell tragische Struktur, die in diese für das endlichlebendige Dasein konstitutive Geste eingeschrieben ist. W e n n nach dem Tode Gottes der Ort absoluter Sinnerfüllung definitiv als unerreichbar erkannt ist, wird die „Geste der Überschreitung" zur tragischen Gebärde, mit der endliches Dasein die Grenze des von ihm erfüllten Raumes durchstößt, ohne einen normativ gehaltvollen locus veritatis erreichen zu können. Dabei wird zugleich deutlich, dass der Akt der Transgression nicht zwischen zwei verschiedenartigen Räumen stattfindet, die sich aus der Beobachtungsperspektive eines dritten Raumes voneinander unterscheiden ließen. „Innen" und „Außen" werden vielmehr zu perspektivischen Aspekten einer inhaltlich leer gewordenen und darin zugleich zu sich selbst gekommene Geste der Überschreitung, die als a-teleologische Bewegung gleichsam „in einer spiralförmig sich einrollenden Beziehung ... an die (sc. von ihr überschrittene — A. R.) Grenze gebunden" bleibt 77 . Da die Geste der Transgression an keinem Raum, den sie berührt oder durchstößt, zur Ruhe kommen kann, bleibt ihr nichts anderes übrig, als in der unendlichen Wiederholung ihrer selbst „das maßlose Maß der Distanz" auszumessen, die sich an der von ihr überschrittenen „Grenze" immer wieder und deshalb in einer inhaltlich völlig unbestimmbaren Weise eröffnet. Sie erreicht keinen archimedischen Punkt, von dem aus der Raum der Vernunft als

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über Nietzsche das Konzept radikaler Relationalität von Historie, Wissen u n d leibhafter Physis, das er jedoch mit Inhalten füllt, die sich von Nietzsches Intentionen fundamental unterscheiden. Michel Foucault, Préface à la transgression. Critique 195-196, H o m m a g e à Georges Bataille, Aug./Sept. 1963, 7 5 1 - 7 6 9 . Dits et écrits (1994), I, 2 3 3 - 2 5 0 , dt. Z u m Begriff der Übertretung. Schriften zur Literatur (1979), 6 9 - 8 9 . Foucault, Z u m Begriff der Übertretung. Schriften zur Literatur (1979), 74. Dits et écrits (1994), I, 237: „Elle lui est liée plutôt selon u n rapport en vrille dont aucune effraction simple ne peut venir à bout".

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bestimmter R a u m von einem Raum der „déraison" unterscheidbar wäre, sondern sie zeichnet in ihrer explosiven Bewegung lediglich „die funkelnde Linie nach, die sie das sein läßt, was sie ist" 78 . Foucault entnimmt seine Charakterisierung der auf sich selbst zurückgeführten Geste der Überschreitung einem fundamentalen Darstellungsprinzip moderner Kunst, die ihre komplexen Bedeutungswelten im M o d u s der Fiktionalität aufbaut, um sie im Akt der Konstitution sogleich wieder zurückzunehmen 7 9 . Von diesem Prinzip aus gewinnt er die Grundzüge einer zutiefst tragisch und zugleich kämpferisch gefärbten „philosophie de l'affirmation non positive". In ihr wird ein Denken überwunden, das als Philosophie der Negativität darauf hinausläuft, das begrenzte Dasein im Namen absoluter W i r k lichkeit zu verneinen, oder als Philosophie der positiven Affirmation das Sein einer Bestimmtheit nur auf Kosten einer anderen Bestimmtheit beziehungsweise einer von ihm radikal verschiedenen Unbestimmtheit bejahen zu können. In der namentlich von Nietzsche präfigurierten „philosophie de l'affirmation non positive" hingegen wird das endliche Dasein genau in derselben Weise bejaht wie „jenes Unbegrenzte", in das es mit der Geste der Transgression so „hineinspringt", dass es sich im Akt der Überschreitung das Sein von Grenze und Unbegrenztem immer wieder wie „zum ersten Mal erschließt". Da die Bejahung des Unbegrenzten ebenso wenig wie die des Begrenzten an einen positiven Inhalt gebunden werden kann, ist sie „vielleicht . . . nichts anderes als die Bejahung der Teilung" oder des „être de la différence", das in seiner tragischen Struktur die ursprüngliche Spaltung zwischen Sinn und Nicht-Sinn bestimmt 8 0 .

78

79

811

Foucault, Zum Begriff der Übertretung. Schriften zur Literatur (1979), 75. Dits et écrits (1994), I, 238: „eile prend, au cœur de la limite, la mesure démesurée de la distance qui s'ouvre en celleci et dessine le trait fulgurant qui la fait être". Foucault parallelisiert die Geste der Transgression mit dem „Prinzip der Bestreitung" oder der „Infragestellung" („principe de contestation"), das Maurice Blanchot als konstitutives Merkmal moderner Kunst herausgestellt hat. Vgl. dazu im vorliegenden Band die Anm. 59. Foucault, Zum Begriff der Übertretung. Schriften zur Literatur (1979), 75. Dits et écrits (1994), I, 238: „Rien est négativ dans la transgression. Elle affirme l'être limité, elle affirme cet illimité dans lequel elle bondit en l'ouvrant pour la première fois à l'existence. Mais on peut dire que cette affirmation n'a rien de positif: nul contenu ne peut la lier, puisque, par définition, aucune limite ne peut la retenir. Peut-être n'est rien d'autre que l'affirmation du partage. Encore faudrait-il alléger ce mot d'une séparation ou la mesure d'un écart, et lui laisser seulement ce qui en lui peut désigner l'être de la différence". Die Nähe zu Derridas Konzept der „différance" bzw. der „différence originaire" ist nicht zu verkennen, ebenso wenig der Versuch Foucaults, die Geste der Transgression von bloßer Gewalt zu unterscheiden. Die (phallisch konnotierte) Geste der Überschreitung findet bei Derrida ihr Pendant in der Aktivität der „écriture", während das Unbegrenzte Foucaults dem weiblich konnotierten und daher von der „écriture" uneinnehmbaren Bereich der „Wahrheit" bei Derrida vergleichbar ist. Die strukturelle Affinität zwischen Derrida und Foucault schließt einen inhaltlichen Gegensatz keineswegs aus. Beide liefern alternative, einander ausschließende Deutungen für eine ähnliche Problemstellung, die in der Überschrift zu diesem Abschnitt durch die Begriffe „Krieg" und „Spiel der Zeichen" einander gegenübergestellt sind.

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Nietzsche entwickelt die Denkfigur der nicht-positiven Bejahung in einer Philosophie, die als Einheit von Kritik und Ontologie auftritt 81 . Foucault thematisiert sie im Ausgang von Nietzsches Genealogie der Moral. In seinem früheren Text Nietzsche, Freud, Mary?2 vertritt Foucault gerade im Blick auf dieses Werk die für die Bewegung des Poststrukturalismus zentrale und deshalb immer wieder zitierte These, dass Nietzsche mit Marx und Freud den „Primat der Interpretation über das Zeichen" formuliert und damit „die Postulate der modernen Hermeneutik" festgelegt hat, die sich als Philosophie einer unabschließbaren Bewegung der Interpretation von allen referenziellen Ansprüchen im Sinne der klassischen Semiologie verabschiedet83. Der fundamentale Begriff der Interpretation, der in Nietzsches

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Foucault, Zum Begriff der Übertretung. Schriften zur Literatur (1979), 76. Dits et écrits (1994), I, 239: „Le jeu instantané de la limite et de la transgression serait-il de nos jours l'épreuve essentielle d'une pensée de l' à laquelle Nietzsche nous a voués dès le début de son œuvre — une pensée qui serait, absolument et dans le même mouvement, une Critique et une Ontologie, une pensée qui penserait la fmitude et l'être". Von diesem Gedanken aus lässt sich gegen Gaède (vgl. vorliegender Band Anm. 54), Granier (vgl. vorliegender Band S. 75f), Blondel (vgl. vorliegender Band S. 85) und andere die innere Einheit von Kritik und Konstruktion im nietzscheschen Denken als philosophische Einheit deutlich machen.

82

Michel Foucault, Nietzsche, Freud, Marx. Nietzsche (1967), 183-200, Dits et écrits (1994), I, 5 6 4 579. Zwei weitere Kurztexte zu Nietzsche hat Foucault gemeinsam mit Gilles Deleuze verfasst: Michel Foucault et Gilles Deleuze veulent rendre à Nietzsche son vrai visage (entretien avec C. Jannoud). Le Figaro littéraire 1065, 15. Sept. 1966, 7. Dits et écrits (1994), I, 5 4 9 - 5 5 2 , und Introduction générale aux Œuvres philosophiques complètes de Friedrich Nietzsche, Paris 1967, t. V Le Gai Savoir. Fragments posthumes (1881-1882), I - I V . Dits et écrits (1994), I, 561-564.

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Foucault, Nietzsche, Freud, Marx. Nietzsche (1967), 190, Dits et écrits I, 572: „Peut-être cette primauté de l'interprétation par rapport aux signes est-elle ce qu'il y a de plus décisif dans l'herméneutique moderne". Die Trias Marx, Freud, Nietzsche ist vor allem von Paul Ricoeur, De l'interprétation. Essai sur Freud, Paris 1965, 40 (vgl. dort Kap. II „Le conflit des interprétations", Abschnitt 3. „L'interprétation comme exercice du soupçon") in die französische Diskussion eingeführt worden. Die drei Autoren werden dort als „Meister des Verdachts" von den traditionellen „philosophes de la conscience" unterschieden und unter dem Titel „philosophes del'interprétation" einer originär hermeneutischen Philosophie zugeordnet, in die Ricoeur allerdings Alternativen zu einer Hermeneutik des Verdachts einbringt. Für Descombes (Le moment français de Nietzsche. Alain Boyer et al., Pourquoi nous ne sommes pas nietzschéens, Paris 1991, 99—128) radikalisiert Foucault den ricœurschen Begriff der Interpretation dadurch, dass er den von Marx und Freud noch festgehaltenen Begriff einer „interprétation correcte" im Zeichen Nietzsches durch das Konzept einer „interprétation dominante" ersetzt. Foucault geht es um den „jeu infini des signes", der sich jedem „passage ... au sens" verweigert und deshalb nur mehr an einer unabschließbaren „guerre des interprétations" interessiert ist statt an ihrem im Sinne Ricoeurs produktiven Konflikt. Diese Charakterisierung ist von Descombes kritisch gemeint. Für eine dezidiert politische Distanzierung von der poststrukturalistischen Nietzsche-Deutung vgl. Luc Ferry et Alain Renaut, La pensée 68. Essai sur l'antihumanisme contemporain, Paris 1985. Die Autoren wiederholen eine schon um 1968 artikulierte Kritik am Nietzscheanismus der französischen Philosophie. Man findet sie exemplarisch formuliert bei Jean Brun, Le retour de Dionysos, Paris 1969, und bei Olivier Reboul, Nietzsche critique de Kant, Paris 1974. Reboul arbeitet die totalitären und dogmatischen Implikationen der nietzscheschen Philosophie heraus, die sich in ihrer „grandeur esthétique" dem Problem der Verantwortung für die Gegenwart zugunsten einer irrealen Beschwörung der Zukunft entzieht (160f.). Insofern wird Kant in diesem Buch gegen seinen Kritiker Nietzsche verteidigt. Vgl. im Zusammenhang dieser Diskussion auch A. D. Schrift, Nietzsche's French Legacy

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Denken vorausgesetzt ist, bezeichnet an sich selbst einen Akt der Transgression. In ihm werden Zeichen nicht auf Dinge bezogen, die sich in ihrer vermeintlichen Einfachheit der Interpretation als deren gleichsam natürliches Ziel anböten, sondern auf andere Zeichen, die ihrerseits nur durch Interpretation als selber interpretierende Zeichen wahrgenommen werden können. Die Gegenwart ist das Zeitalter der Interpretation, das die Epochen der an sich selbst wahren und der dialektisch miteinander versöhnbaren Zeichen abgelöst hat. Der für die vergangenen Epochen des Wissens konstitutive Glaube an das originäre Gegebensein zeichenhaft aus sich selbst heraus sprechender Wirklichkeit bedeutet den T o d der Interpretation, während deren Leben von dem gegenteiligen Glauben abhängt, dass „Wirkliches" oder „Sein" nur im Modus von Interpretation gegeben sein kann. Dieser Glaube fundiert eine Hermeneutik, die sich allein aus ihrer eigenen Bewegung des Interpretierens entfaltet und dabei einen „Bereich von Sprachen" betritt, „die sich gegenseitig bedingen und implizieren". N u r an diesem Ort („domaine"), der so etwas darstellt wie die „mittlere Region" zwischen einem Wahnsinn, der nur Geräusche produziert, und einer „reinen Sprache" authentischer Zeichen, können und sollen wir Nietzsche wiedererkennen 84 ( 192). In Ergänzung zu diesen Überlegungen dient der Blick Foucaults auf die Genealogie der Moral in Nietzsche, la généalogie, l'histoire85 einer Deutung der Geschichte, die sie dem dialektischen Prinzip einer bis in die Gegenwart sich aufrechterhaltenden „Identität ihres Ursprungs" grundsätzlich entzieht 86 . Nietzsches Genealogie akzentuiert allein die chaotischen „Einzelheiten und Zufälle" („méticulosités et ... hasards"), die jeder Identitätsbestimmung geschichtlicher Prozesse vorausliegen und damit deren Wahrheitsanspruch untergraben 87 . Die genealogische Reflexion „liefert kein Fundament", das als Prinzip geschichtlicher Einheit zu verstehen wäre, sondern „sie beunruhigt, was man für unbeweglich hielt; sie zerteilt, was man für eins hielt; sie zeigt die Heterogenität

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102ff. (5. Kap.: W h y the French are no longer Nietzscheane), der vor allem auf die Entwicklung des Denkens von François Lyotard hinweist, das sich von Nietzscheanischen Anfängen auf eine kantianische Position zubewegt. Z u Nietzsches Bedeutung für eine hermeneutische Philosophie der Postmoderne vgl. im vorliegenden Buch S. 112ff. (Gianni Vattimo). Foucault, Nietzsche, Marx, Freud. Nietzsche (1967), 192. Dits et écrits, I, 573f. Michel Foucault, Nietzsche, la généalogie, l'histoire. Hommage à Jean Hyppolite, Paris 1971, 145— 172, Dits et écrits (1994), II, 136-156, dt.: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. Von der Subversion des Wissens, hrsg. u n d aus dem Französischen übers, v. Walter Seitter, Frankfurt am Main, Berlin und W i e n 1978, 83—109. Jean Hyppolite war einer der führenden Hegelianer der französischen Gegenwartsphilosophie (vgl. dafür im vorliegenden Band die A n m . 36). Insofern hat es einen polemischen Hintersinn, wenn Foucault sein anti-hegelianisches Konzept von Geschichte als Theater der Gewalt in der Gedenkschrift für seinen ehemaligen Lehrer veröffentlicht, als dessen Nachfolger er 1971 an das Collège de France berufen wurde. Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie. Von der Subversion des Wissens (1978), 86, Dits et écrits (1994), II, 138: „Ce qu'on trouve, au commencement historique des choses, ce n'est pas l'identité encore préservée de leur origine - c'est la discorde des autres choses, c'est le disparate." Foucault (1978), 88. Dits et écrits (1994), II, 140.

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dessen, was man für kohärent hielt" 88 . So macht sie deutlich, dass die gesamte Geschichte der Menschheit nichts anderes ist als der unendliche, gewaltsame, radikal kontingente Kampf von Kräften gegeneinander, der mit seinen „Ersetzungen, Versetzungen und Verstellungen, Eroberungen und Umwälzungen" („effets de substitutions, de remplacements et de déplacements, de conquêtes déguisées, de retournements systématiques") nicht auf das Ziel „einer universellen Gegenseitigkeit" („à une réciprocité universelle") hinausläuft 8 9 , sondern ewig wiederkehrt als chaotischer, vom „Zufall des Kampfes" („hasard de la lutte") bestimmter W i l l e zur Macht 9 0 . Insofern eröffnet Nietzsches Blick auf die Geschichte den Zugang zu einer essenziell ,grausamen' Welt. Foucault umschreibt sie seinerseits mit Metaphern des „theatrum mundi", die er dem „Theater der Grausamkeit" im Sinne von Antonin Artaud entnimmt 9 1 . Das „Hasardspiel der Überwältigungen" („le jeu hasardeux des dominations") namens Geschichte beginnt mit dem sprunghaften „Heraustreten der Kräfte . . . aus den Kulissen auf die offene Bühne". Der damit eröffnete Raum ist notwendig ein „Ort einer Konfrontation" („un lieu d'affrontement"), der sich niemals so zu einem „geschlossenen Feld" beruhigen kann, dass sich auf ihm ein „Kampf zwischen Gleichen abspielt", der von sich her auf einen Ausgleich oder auf eine wechselseitige Anerkennung verschiedener Rechte hinausliefe. Der Raum der Geschichte bildet vielmehr den „Nicht-Ort" einer „bloße(n) Distanz, die den Gegnern keinen gemeinsamen Platz einräumt" 9 2 . In ihm gibt es deshalb auch keine „einfache Figur", in welche die absolut individuellen „Ereignisse zurücktreten" und so einen „endgültigen Sinn . . . zur Geltung" bringen könnten. Die Grundfigur der Geschichte besteht vielmehr in einem grundlosen „Wirrwarr unzähliger Ereignisse", der aus keiner wie auch immer gearteten Perspektive als vernünftig zu begreifen oder zu gestalten ist 93 .

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93

Foucault (1978), 90. Dits et écrits (1994), II, 142: „La recherche de la provenance ne fonde pas, tout au contraire: elle inquiète ce qu'on percevait immobile, elle fragmente ce qu'on pensait uni; elle montre l'hétérogénité de ce qu'on imaginait conforme à soi-même". Foucault (1978), 95. Dits et écrits (1994), II, 145f. Foucault (1978), 98. Dits et écrits (1994), II, 148. Zur Affinität zwischen Artaud und Nietzsche vgl. Camille Dumoulié, Nietzsche et Artaud. Pour une éthique de la cruauté, Paris 1992. Auch Jacques Derrida ist dem Verhältnis zwischen Nietzsche und Artaud nachgegangen. Vgl. dafür ders., La parole soufflée. L'écriture et la différence (1967), 253-292, dt. Die soufflierte Rede. Die Schrift und die Differenz (1972), 259-301, und ders., Le théâtre de la cruauté et la clôture de la représentation. L'écriture et la différence (1967), 341-368, dt. Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. Die Schrift und die Differenz (1972), 351-379. Foucault (1978), 92ff. Dits et écrits (1994), II, 143ff, vgl. insbes. 144: „L'émergence, c'est donc l'entrée en scène des forces; c'est leur irruption, le bond par lequel elles sautent de la coulisse sur le theâtre, chacune avec la vigeur, la juvénilité qui est la sienne" und ebd. in Bezug auf den Entstehungsherd moralischer Normen: „encore faut-il se garder de l'imaginer comme un champ clos ... un plan où les adversaires seraient à égalité; c'est plutôt ... un , une pure distance, le fait que les adversaires n'appartiennent pas au même espace". Foucault (1978), 99. Dits et écrits (1994), II, 148: „Si bien que le monde tel que nous le connaissons

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Nietzsche verbindet mit seiner Deutung der Geschichte ein bestimmtes Konzept des Wissens. Danach besteht Wissen nicht in der Organisation eines „tröstlichen Spiel(s) der Wiedererkennungen", sondern es lebt von der aggressiven Bereitschaft, „das Diskontinuierliche in unser eigenes Sein" einzuführen und damit jede „Stabilität des Lebens oder der Natur" zu verwerfen. Wissen meint nicht wie bei Hans-Georg Gadamer die hermeneutische Integration zwischen eigenen und fremden Denk-Horizonten, sondern es entsteht aus dem stets gewaltsamen „Zerschneiden" vorgegebener Kontexte. Wissen bleibt grundsätzlich eine Funktion des Willens zur Macht, so dass jede seiner Gestalten zum Auftritt gegen andere gezwungen ist. Weil jeder Auftritt von Macht auch in der Form des Wissens mit analytischer Notwendigkeit „auf Ungerechtigkeit" beruht, perpetuiert jede Gestalt des Wissens den unendlichen Krieg der Interpretationen, dem sie ihrerseits das eigene Bestehen verdankt 94 . Keine Gestalt des Wissens kann allein oder in der Verbindung mit anderen einen gleichsam gewalt- und machtfreien locus veritatis erreichen oder begründen, an dem sich die Wahrheit als sie selbst zeigte und mit dem Akt ihrer Selbstrepräsentation das belliköse Gegeneinander der verschiedenen Auftritte des Wissens zu Ende brächte. Im Ausgang von seinem Konzept ganz und gar individueller Machtereignisse als dem „Grund" der Geschichte gewinnt Foucault theoretische Ansätze zu seiner eigenen Analyse von Machtverhältnissen, in denen die Entstehung des modernen Subjekts vor allem als Resultat einer administrativ gesteuerten Unterwerfungsstrategie verstanden wird 95 . Man kann sich die Frage stellen, ob Foucault und Nietzsche in ihrer jeweiligen Deutung von Vernunft und Geschichte ähnliche oder verschiedene Sprachen sprechen. Für Foucault bildet die Geschichte den Raum purer Faktizität und Gewalt, der auch durch die Aktivität des Wissens nicht verlassen werden kann. In der Akzentuierung der wechselseitigen Verbindung von Wahrheit und Macht bleibt Foucault sicherlich ein Erbe Nietzsches. Dennoch kennt Nietzsches genealogische Analyse von Macht einen Akzent, den Foucault nicht übernimmt. Beim frühen Nietzsche entsteht aus einer praktischen Logik der Selbsterhaltung heraus ein gleichsam apollinischer Raum der Vernunft, von dem man sagen kann, dass es fiktive Ordnungsparameter sind, die ihn strukturieren und damit von einem NichtRaum des Unvernünftigen abtrennen. In ihrer Fiktionalität erzeugen die geschlossenen Räume der Vernunft jedoch in bestimmten Fällen, wie in der sokratischen Kultur, aber auch in der christlichen Moral, langfristig einen Mehrwert von Refle-

94

n'est pas cette figure, simple en somme, où tous les événements se sont effacés pour que s'accusent peu à peu les traits essentiels, le sens final, la valeur première et dernière; c'est au contraire une myriade d'événements enchevêtrés". Foucault (1978), 97f„ 100, 107. Dits et écrits (1994), II, 147f„ 150, 155f. Man findet diese Analysen hauptsächlich in Michel Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975 (dt. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976).

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I Nietzsche in Frankreich

xions- und Differenzierungsgewinnen, die Nietzsche auch dann respektiert wissen will, wenn er sie in späteren Schriften aus der Perspektive seines Konzepts dionysischer Lebenssteigerung kritisch destruiert. Insofern kennt Nietzsche im Gegensatz zu Foucault durchaus das Konzept einer Akkumulation und einer internen Differenzierung von Macht, innerhalb dessen qualitative Bewertungen und Unterscheidungen nicht nur möglich, sondern notwendig sind. Außerdem ist fraglich, ob Foucault noch den Bahnen Nietzsches folgt, wenn er seine kritische Analyse von Machtdispositiven als einen Akt faktischer Gewalt versteht, auch wenn dies nach den Prämissen seines eigenen Denkens völlig konsequent ist. Nietzsche jedenfalls versteht in der Geburt der Tragödie seine Kritik an den Wahrheitsprätentionen eines systematisch geordneten Wissens offensichtlich nicht als Akt bloß faktischer Gegengewalt gegen den Sokratismus, sondern als die logische Folge einer im Sokratismus selber angelegten Dynamik. Die Erkenntniskritik Kants und Schopenhauers ist ein Indiz dafür, dass sich die Wahrheitsnormen sokratischer Rationalität aus ihrem eigenen Universalitätsanspruch heraus auch auf sich selbst richten und sich so nicht durch fremde, sondern durch die Verwirklichung eigener Macht auflösen. In späteren Schriften erscheint die Geschichte der europäischen Vernunft ebenso wenig allein als beliebige Abfolge von Gewaltauftritten, sondern als ein dramatisches Geschehen, das in seinen Konfliktkonstellationen bewertend nachvollzogen und im umwertenden Nachvollzug der in ihnen agierenden Kräfte zur qualitativen Steigerung des Ausdrucks von Macht im Sinne übermenschlicher Lebensmöglichkeiten ausgenutzt werden kann. Foucaults Geschichtsbild hat sich demgegenüber von jeder Idee potenziellen Gelingens, wie sie bei Nietzsche vor allem im Konzept der Überwindung des Nihilismus zum Ausdruck kommt, radikal verabschiedet, was offensichtlich damit zusammenhängt, dass die Perspektive, aus der Foucault auf Nietzsche zugeht, aus Komponenten besteht, die vom Denken Nietzsches abweichen 96 . Angesichts des unvollendeten Charakters seiner Geschichte der Sexualität muss es offen bleiben, inwieweit Foucaults spätes Interesse an einer Ethik der nichtuniversalisierbaren „Sorge um sich" außer mit antiken Konzepten des „amor sui" auch mit der von Nietzsche empfohlenen Aufmerksamkeit für „die kleinste(n) und allernächste(n) Dinge (...)" in einer zwingenden Verbindung steht97. Hier geht es

96 97

Vgl. dazu Gutmann, Nietzsches „Wille zur Macht" wie vorliegender Band, Anm. 68. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, II 2, 6, KSA 2, 542. Pierre Hadot hat dem antiken Begriff der Philosophie als „Sorge um sich" besondere Aufmerksamkeit gewidmet (Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991, frz. Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 1981). Die deutsche Ubersetzung, die nicht in allen Teilen mit dem französischen Original identisch ist, enthält im Anhang „Ein unvollendetes Gespräch mit Michel Foucault" (177ff.), das aus der Erfahrung persönlicher Vertrautheit Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Foucaults „souci de soi" und antiker „Sorge um sich" herausstellt. Vgl. dazu Michel Foucault, Histoire de la sexualité. I. La volonté de savoir, Paris 1976, II. L'usage des plaisirs,

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Foucault jedenfalls um das Plädoyer für ¿me. Ästhetik der Existenz, die an Nietzsches Konzept von der Notwendigkeit einer Selbsterschaffung des Subjekts anknüpft. In diesem Begriff ist eine Praxis der Freiheit vorausgesetzt, in der sich das Subjekt als selbstbezügliche, in sich fluide Macht vom öffentlichen Raum politischer oder technologischer Uberwältigungmacht absetzt98.

b) Nietzsches Blick auf das Spiel der „differance" Jacques Derrida Auch Jacques Derrida leistet keinen eigenständigen Beitrag zum Verständnis der nietzscheschen Philosophie. Stattdessen entwirft er in der Annäherung an sie Grundzüge seiner eigenen Reflexionsform der Dekonstruktion, mit der er das Denken der Gegenwart aus der Tradition logozentrischer Vernunft herausführen will. Derridas Dekonstruktion der Metaphysik berührt sich mit Foucaults Destruktion des Begriffs der Geschichte als des Kontinuums eines sich selbst erfüllenden oder durch Praxis erfüllbaren Sinns darin, dass auch sie keinen Zugang zu einer Welt authentischer Wahrheit eröffnet, wie dies noch Bataille und Klossowski in ihren Konzepten von Souveränität, mit Abstrichen selbst noch dem Deleuze des Nietzsche-Buches mit seinem Leitbegriff dionysischer Physik vorschwebte. Derrida anerkennt vielmehr mit Nietzsche und mit dem Strukturalismus de Saussures die unaufhebbare Gebundenheit des Wissens an die Sprache einer ausschließlich immanenten Zeichenhaftigkeit, die an keiner Stelle referenziell auflösbar ist. Weil man im Denken der Sprache und der in ihr sich manifestierenden Regularität selbst durch massive Angriffe nicht entkommen kann, bleibt als Möglichkeit ihrer „Uberwindung" nur der Versuch, die Regeln, an die das Denken gebunden ist, als Elemente eines selbstreferenziellen Spiels bewusst zu machen und dadurch ihre Objektivitätsansprüche zu relativieren. Die erste Konsequenz aus dieser Einsicht Derridas zeigt sich in der Distanzierung von Heideggers Deutung der nietzscheschen Philosophie als End- oder Vollendungsgestalt der Metaphysik. Die zweite besteht in der Wahrnehmung eines wesentlichen Ähnlichkeitsverhältnisses von Philosophie und Kunst, das in Nietzsches Schrift seinen exemplarischen Ausdruck gefunden hat und das seine Texte dazu qualifiziert, mit den zu seiner Zeit avanciertesten Werken literarischer Schrift verglichen zu werden.

98

Paris 1984, III. Le souci de soi, Paris 1984. So mag eine Tradition angedeutet sein, die sich für eine philosophische Interpretation des nietzscheschen Denkens als fruchtbar erweisen könnte: die Deutung der Philosophie als einer „ars vivendi", die sich aus dem Affekt einer Sorge um sich differenzierend, erweiternd und verstärkend auf sich selbst bezieht. Vgl. dazu Gutmann, Nietzsches „Wille zur Macht" (wie vorliegender Band Anm. 68), S.414ff.

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I Nietzsche in Frankreich Ernst Behler hat die philosophischen Voraussetzungen der Nietzsche-Rezepti-

o n bei J a c q u e s D e r r i d a m i t v o r b i l d l i c h e r D e u t l i c h k e i t h e r a u s g e s t e l l t " . S e i n e A u s f ü h r u n g e n s o l l e n d e s h a l b a n d i e s e r Stelle n i c h t w i e d e r h o l t , s o n d e r n l e d i g l i c h m i t den bereits a n g e k l u n g e n e n Leitmotiven der Nietzsche-Bilder von Deleuze, Kloss o w s k i , B l a n c h o t u n d F o u c a u l t in V e r b i n d u n g g e b r a c h t w e r d e n . B e g o n n e n w i r d m i t einer Ü b e r l e g u n g z u m Bataille-Essay von

1 9 6 7 , in d e m D e r r i d a w i c h t i g e

E l e m e n t e seines e i g e n e n D e n k e n s i m a n e r k e n n e n d e n u n d z u g l e i c h d i s t a n z i e r t e n Blick a u f die bereits für die Darstellung der Position Pierre Klossowskis herangezogene Hegel- u n d Nietzsche-Interpretation Georges Batailles gewinnt100.

Die

z u g l e i c h m i t u n d g e g e n B a t a i l l e g e w o n n e n e D e n k f i g u r d e r Ü b e r s c h r e i t u n g des in s i c h g e s c h l o s s e n e n S i n n s w i r d i m E s s a y Die Struktur,

das Zeichen

und

das Spiel

im

Diskurs der Wissenschaften vom Menschen (1966) zeichentheoretisch konkretisiert101. In dieser F o r m b i l d e t d i e D e n k f i g u r d e r V e r s c h i e b u n g ( „ d é p l a c e m e n t " , „ d i f f é r a n c e " ) des S i n n s , d i e D e r r i d a d e r D e n k f i g u r d e r „ c l ô t u r e " d e s S i n n s g e g e n ü b e r s t e l l t , o h n e i h r v o l l s t ä n d i g e n t k o m m e n zu k ö n n e n , d e n M o t o r e i n e r s u b t i l e n K r i t i k a m „ L o g o z e n t r i s m u s " e u r o p ä i s c h e r R a t i o n a l i t ä t , der, w i e D e r r i d a in s e i n e m 1 9 6 7 ers c h i e n e n e n W e r k De la grammatologie

im Anschluss an Heidegger suggeriert, die

g e s a m t e „ G e s c h i c h t e d e r M e t a p h y s i k v o n P i a t o n ( ü b e r L e i b n i z ) bis H e g e l u n d , j e n s e i t s i h r e r s c h e i n b a r e n G r e n z e n , v o n d e n V o r s o k r a t i k e r n bis H e i d e g g e r " g e p r ä g t

hat102. In Texten wie La différance, Ousia et gramme oder Les fins de l'hommelm

wird

"

Ernst Behler, Derrida—Nietzsche Nietzsche—Derrida, München, Paderborn, Wien und Zürich 1988. Vgl. ders., Nietzsche jenseits der Dekonstruktion, Josef Simon (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. I, Würzburg 1985, 88—107, sowie ders., Apokalyptische NietzscheInterpretationen: Heidegger und Derrida. Bauschinger (Hg.), Nietzsche heute (1988), 105—128. Zur Einführung in Derridas Denken vgl. den Text seiner Schülerin Sarah Kofman, Lectures de Derrida, Paris 1984 (dt. Derrida lesen, Wien 1988), sowie Frank, Was ist Neostrukturalismusi, insbes. 316-366 und Waidenfels, Phänomenologie in Frankreich, 535-547. Zum Verhältnis Nietzsche—Derrida vgl. ferner die kritischen Bemerkungen von Michel Haar, Le jeu de Nietzsche dans Derrida. Revue philosophique de France et de l'étranger 115, (1990), 207-227, sowie die mehr verständnisvoll interpretierende Darstellung von A. D. Schrift, Nietzsche and the Question of Interpretation, Kap. 4: Derrida: Nietzsche Contra Derrida (enthält insbesondere eine genaue Interpretation von Derrida, La question du style (Eperons) — wie im vorliegenden Buch Anm. 114 — und Hinweise auf das subtile Wechselspiel, das Derrida zwischen Nietzsche und Heidegger organisiert). In ders., Nietzsche's French Legacy, Kap. I, Derrida: The Critique of Oppositional Thinking and the Transvaluation of Values (9—32), wird die innere Affinität zwischen Nietzsches Kritik der Metaphysik und Derridas Kritik des Logozentrismus herausgearbeitet.

11111

Derrida, Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Die Schrift und die Differenz (1972), 380-420. Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. Die Schrift und die Differenz (1972), 422-442. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 1974, 11 {De la grammatologie, Paris 1967). Die genannten Texte sind im Jahre 1968 an verschiedenen Stellen publiziert worden. Zusammen mit anderen Beiträgen findet man sie in Jacques Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972 (La différance, 1-29, Ousia et grammè. Note sur une note de ,Sein und Zeit', 31-78, Les fins de l'homme, 129-164), dt. Randgänge der Philosophie, Wien 1988 (Die différance, 29-52, Ousia und gramme, 53—84, Fines hominis, 119-141).

1111

1112 1113

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41

das Konzept einer „transgression" der „clôture" des logozentrischen Denkens einer philosophiehistorischen Perspektive zugeordnet. Spätere Texte, die explizit dem Denken und Schreiben Nietzsches gewidmet sind, demonstrieren die besonderen Merkmale der plurivalenten Schrift Derridas, die im Zeichen Nietzsches ihre eigene Entfernung vom Denken der „Präsenz des Seins" eher performativ vorführt als begrifflich entfaltet. Derrida bezieht sich in seinem Essay Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie auf den zugleich psychologisch und transzendentalphilosophisch interpretierbaren Verdacht Batailles, dass die in sich geschlossene Form eines philosophischen Systems, in dessen Rahmen Hegel die selbst- und wirklichkeitsbegründende Realität des Absoluten im Medium begrifflicher Reflexion zur Darstellung bringen will, eine spontane Erfahrung des Absoluten als göttlicher Gewalt und Souveränität zu ihrer Voraussetzung hat. Die Erfahrung des Absoluten als reiner Intensität wäre identisch mit der von Klossowski beschworenen physischen Zerstörung und mentalen Zerrüttung des Individuums in Zuständen der exzessiven Verausgabung und des Wahnsinns 104 . Rettung vor der drohenden Katastrophe des vollständigen Selbstverlusts kann sich das Individuum nur von der Form des Systems und seiner vermeintlich in sich geschlossenen Ordnung versprechen, insofern es dadurch gelingt, die diffuse Ubermacht des Absoluten in einem rational durchgestalteten Raum zu verorten und so auf kontrollierbare Distanz zu halten. Die kontinuierliche Arbeit, die nötig ist, um einen homogenen, rational beherrschten, systematisch durchartikulierten und daher überraschungsfreien Bedeutungsraum aufzubauen, basiert nach Bataille auf dem Willen des Knechtes im Sinne der Hegeischen Phänomenologie des Geistes, das eigene Leben angesichts einer tödlichen Konfrontation mit der souveränen Übermacht eines Herrn durch Selbstverpflichtung zu kontinuierlicher Arbeit zu retten. Hegel findet in der begrifflichen Arbeit der Dialektik die Instanz, die das gefährlich offene Spiel eines Lebens, das sich der Erfahrung des Absoluten ungeschützt aussetzt, sofort wieder „begrenzt und bearbeitet" und damit dem, was es als sein bedrohliches Gegenüber erfährt, die relationale Gestalt von „Form und Sinn" aufzuprägen sucht. Der Wille zur Bewahrung des Lebens gegenüber der absoluten Souveränität gibt sich im Blick auf die Begrenztheit der eigenen Lebensressourcen die Form der Selbsterhaltung. In ihr wird das in der Erfahrung des Absoluten ins Unendliche geöffnete Leben wieder

1114

Derrida bezieht sich vor allem auf Georges Bataille, Sur Nietzsche. Volonté de chance, Paris 1945, ders., Le coupable, Paris 1944 u n d ders., L'expérience intérieure, Paris 1947 (wichtig für Batailles Hegel-Interpretation, bei der er sich ausdrücklich auf Kojèves Vorlesungen zur Phänomenologie des Geistes beruft, jetzt auch in dt. Ubersetzung: Die innere Erfahrung, M ü n c h e n 1999). Diese drei Titel bilden zusammen Batailles Trilogie La somme athéologique. Vgl. dafür Georges Bataille, Œuvres complètes, Paris 1973, Bd. V u n d VI, sowie Jean-Michel Rey, La mise en jeu. L'Arc (1967), 19-23.

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I Nietzsche in Frankreich

geschlossen und in den Zustand einer aus sich selbst heraus funktionierenden „Zirkulation und Reproduktion des Selbst" versetzt (387). Inspiriert durch die Bewegung des Surrealismus hat Bataille in einer für die französische Philosophie und Literatur folgenreichen Weise Hegels Logik des Absoluten als Logik verängstigter Selbstbeherrschung interpretiert und ihr Nietzsches „Nicht-Logik der Souveränität" gegenübergestellt. Nietzsches Denken organisiert „ein Gewebe der Differenzen", in dem ein Identität stiftender „Sinnkern" nicht vorkommt (405). Sein Denken beruht nicht auf dem Willen zu vernünftiger Selbsterhaltung und damit zur Präsenz eines ihm entgegenkommenden Sinns, sondern auf der eigenen Fähigkeit zur Souveränität, die es sich zutraut, jede Vergegenwärtigung von Sinn durch die „Möglichkeit einer absoluten Ausstreichung" zurückzunehmen (402). Vor allem in seiner Schrift realisiert Nietzsche eine exzessive „Sinnmutation" (405), die sich im Gegensatz zu Hegel „auf die Souveränität" des Absoluten selbst bezieht (407) und dafür das rückhaltlose Opfer des begrenzten eigenen Sinns und des von ihm realisierten Prinzips ökonomischer Selbsterhaltung auf sich nimmt 1 0 5 . Derrida hat sich im Unterschied zu Klossowski von den unverkennbar theologischen Implikationen des batailleschen Denkens der Souveränität distanziert, und zwar durch eine Anknüpfung an den Strukturbegriff de Saussures, bei dem sprachliche Zeichen („les signifiants") ihre Bedeutung nicht mehr aus ihrem Verweisungsbezug auf eine zu bezeichnende Sache („le signifié"), sondern ausschließlich aus dem Bezug auf andere Zeichen gewinnen. Derridas Nietzsche-Rezeption steht deshalb nicht mehr im Zeichen von Authentizität und Souveränität, sondern im Zeichen des Spiels, das allerdings den Extremwert der Gewaltspiele zu vermeiden weiß, die nach Foucault die Realität der Geschichte bestimmen. Die Begriffe „Struktur" und „Strukturalität" bezeichnen in Derridas wohl berühmtesten Essay

Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom

Menschen

ein prinzipiell offenes Spiel aus verschiedenen, einander vollständig gleichberechtigten Komponenten, die sich in unterschiedlichsten Konfigurationen und Konstellationen aufeinander beziehen können. Erst wenn eine dieser Komponenten dem Spiel der ständigen „Permutation" entzogen wird, gewinnt die Struktur ein privilegiertes Zentrum, das der rational nicht antizipierbaren Bewegung der Transformation ihrer Elemente seine eigene Regel und damit eine Begrenzung auferlegt. Historisch gesehen wird die Zerstörung der offenen Struktur durch willkürliche Zentrierung nicht erst von der Metaphysik und dem von ihr geprägten wissenschaftlich-logozentrischen Denken vollzogen, sondern sie ist bei Derrida bereits die Voraussetzung für den Aufbau der natürlichen Sprachen. Schon die Zen-

1115

Zu Nietzsches Bedeutung für den batailleschen Gegensatz zwischen begrenzter und allgemeiner Ökonomie und zur Präsenz dieser Unterscheidung bei Derrida vgl. Arkady Plotnitsky, Reconfigurations. Critical Theory and General Economy, Gainesville etc. 1993.

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trierungsregeln der Alltagssprachen beruhen auf dem Affekt der Angst vor der radikalen Offenheit eines regellosen Spiels zwischen heterogenen Elementen, ein Affekt, der sogleich denjenigen der Begierde („désir") nach sich zieht, die als bedrohlich empfundene Offenheit des Spiels reiner Strukturalität durch die ihm gegenüber notwendigerweise willkürliche Etablierung eines Zentrums einzuschränken. Nach dem Vorbild sowohl von Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne als auch von Heideggers Sein und Zeit verweisen die Affekte „Angst" und „Begierde" auf den niemals direkt berührbaren Untergrund einer radikalen Offenheit des Lebens. Diese Regel der Offenheit wird in der Geschichte des klassischen Begriffs der zentrierten Struktur deswegen vergessen oder verdrängt, weil sie gleichsam instinktiv von der Möglichkeit einer natürlichen oder authentischen Zentrierung von Strukturen überzeugt ist. „Nietzsches Kritik an der Metaphysik, an den Begriffen des Seins und der Wahrheit, die er durch die Begriffe des Spiels, der Interpretation und des . . . jeglicher präsenten Wahrheit baren Zeichens" ersetzt, bildet zusammen mit Freuds „Kritik am Sich-selbst-gegenwärtigSein" des Subjekts und mit Heideggers Destruktion der metaphysischen „Bestimm u n g des Seins als Präsenz" das unübersehbare Indiz für eine fundamentale Krise des klassischen Konzepts einer natürlich oder authentisch zentrierten Struktur. Diese Krise ist kein geschichtliches Ereignis, das auf die W i r k u n g individueller Personen, sozio-kultureller Gruppen oder historiographisch beschreibbarer Prozesse zurückgeführt werden könnte. Eher ist sie die logische Folge des Denkens reiner Strukturalität, für das die Eigenschaft prinzipieller Offenheit kein Faktum, das ihm selber vorgegeben wäre, benennt, sondern nichts anderes darstellt als die der Strukturalität innewohnende Bedingung der ihr eigenen Aktivität einer unvermeidbaren, aber niemals authentisch gelingenden und deshalb sich immer wiederholenden Zentrierung. Die Struktur bildet in der Form ihrer größtmöglichen Offenheit „eine Art von Nicht-Ort", an dem „ein unendlicher Austausch von Zeichen" stattfindet („une sorte de non-lieu dans lequel se jouaient à l'infini des substitutions de signes", 411). Da keine Struktur ohne ein Zentrum funktionieren kann, kommt eine konkrete Struktur der logisch in ihr angelegten Offenheitsnorm reiner Strukturalität unter der Bedingung am nächsten, dass sie ihr Zentrum „nicht in der Gestalt eines (sc. in ihr auf authentische Weise — A. R.) Anwesenden" sucht, sondern in einem der Elemente ihres eigenen Spiels, das sie durch kontingentkünstliche Entscheidung in die Funktionsstelle eines Zentrums einsetzt. Die bewusst künstliche Setzung von Zentren enthält, aus der Perspektive des Reflexionsbegriffs reiner Strukturalität betrachtet, immer auch die Möglichkeit ihrer Zurücknahme. Die „Dezentrierung" vorgegebener Strukturen ist deshalb auch kein Akt der Gewalt gegen sie, sondern sie vollzieht nichts anderes als das „Denken" der reinen „Strukturalität", nach dem jedes der zur Gemeinsamkeit eines Spiels miteinander verbundenen Elemente a priori dem Verfahren der Substitution unterliegt. Zugleich wird im Denken der reinen Strukturalität deutlich, dass die in ihm voraus-

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I Nietzsche in Frankreich

gesetzte „Abwesenheit" oder Unerreichbarkeit eines „transzendentalen", also eines natürlichen oder authentischen Signifikats, „das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche" erweitert (422ff.) 106 . Nietzsche ist der Erste, der in seiner Philosophie die vom Denken der reinen Strukturalität geforderte „fröhliche Bejahung des Spiels der Welt ... aus Zeichen ... ohne Wahrheit" formuliert und sich damit ohne Resignation von der als unerfüllbar erkannten Prätention auf eine von sich aus legitime und daher gleichsam „natürliche" Zentrierung verabschiedet. Der Verzicht auf die Wahrheit einer authentisch zentrierten Struktur oder einer von sich selbst her legitimen Präsenz ermöglicht nach Derrida die von Heidegger nur beschworene, aber noch nicht realisierte Chance, „den Menschen und den Humanismus" zu überwinden, der in der Orientierung am Begriff privilegierter oder substanzieller Subjektivität immer so etwas erwartet hat wie „die volle Präsenz, den versichernden Grund und das Ende des Spiels" (441). Mit der Epoche des Glaubens an die Möglichkeit einer authentisch zentrierten Struktur ist eine Privilegierung der Stimme („phoné") verbunden, weil sie — ganz im Sinne Rousseaus — das Medium einer unmittelbaren Präsenz von Affekten oder Gedanken darstellt. Ihr gegenüber hat die Schrift („écriture") die „zweitrangige ... Funktion" der „Übertragung eines ... in seiner ganzen Fülle präsenten Wortes" auf die Ebene eines künstlichen Zeichensystems (Grammatologie, dt. 19). Noch Heideggers Kritik an einer in Nietzsche kulminierenden Metaphysik bleibt mit dem Gedanken der „absolute(n) Nähe der Stimme zum Sein" dem „Logozentrismus" und dem ihm zugehörigen „Phonozentrismus" verhaftet {Grammatologie, dt. 25). Für Derrida ist Nietzsche nicht mehr wie für Heidegger der Vollender der Metaphysik, sondern der erste wirkliche und darin Heidegger überlegene Philosoph der Schrift. Nietzsche geht es nicht um die Restaurierung „eine(r) profunde(n), an eine Ur-Wahrheit heranreichende(n) ontologische(n) Intuition" (Grammatologie, dt. 36f.) sondern darum, dem in sich beruhigten „System der 1116

Derridas Motiv der dezentrierten Struktur wird von Geneviève Léveillé-Mourin, Le langage chrétien, anticbrétien de la transcendance. Pascal - Nietzsche, Paris 1978, in theologischer Perspektive aufgenommen. Nietzsches Parabel v o m T o d e Gottes veranschaulicht den definitiven Verlust der Repräsentation (101). Insofern Gott in keiner Sprache anwesend ist, n i m m t jedes Sprechen über ihn essenziell metaphorischen Charakter an u n d wird so zu einem „jeu des signes en l'absence de tout centre". W i e bei Pascal wird auch bei Nietzsche die Sprache zum O r t einer „critique radicale de la représentation" u n d zugleich zum O r t einer „autre-langage, au-delà du rapport signifiésignifiant" (15). Nietzsches neue Sprache ist bestimmt durch das Dionysos-Symbol. In seinem Zeichen ist es ein Wille zur Selbstfragmentarisierung, der sich dadurch als „ Z e n t r u m " aller Wirklichkeit erweist, dass er sich gleichsam aus d e m U b e r m a ß eigener Kraft dem offenen Spiel der Dezentrierung ausliefert. Die Autorin bezieht die christliche Theologie der Inkarnation auf elementare Gedanken Derridas. Der bedeutendste Theologe der Derrida-Schule ist Jean-Luc Marion. (Vgl. dafür nur dessen Buch Théologiques. Dieu sans letre. Hors-texte, Paris 1982. Für dessen Bezugnahme auf Nietzsche vgl. im vorliegenden Band die A n m . 200). Für eine Auseinandersetzung mit der dekonstruktionistischen Nietzsche-Interpretation (Foucault, Deleuze, Derrida) aus theologischer Perspektive vgl. Jean Greisch, Die ewige W i e d e r k u n f t des Anderen. Nietzsche u n d die Denker der Differenz. Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 17 (1981),370—375.

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metaphysischen Grammatik" jene ,„aktive", in ständiger Bewegung begriffene Zwietracht verschiedener Kräfte und Kräftedifferenzen" entgegenzusetzen, die Derrida mit dem neologischen Begriff der „différance" umschreibt. Er versteht darunter den von Nietzsche in den Lehren vom Willen zur Macht und vom Ubermenschen antizipierten Begriff einer Aktivität beständiger Selbstüberschreitung, die aufgrund der ihr eigenen Dynamik jeder Selbstvergegenwärtigung ausweicht und deshalb der Form nach als „Gleichheit der Verschiedenheit und der Wiederholung in der ewigen Wiederkehr" charakterisiert werden kann 1 0 7 . Als solche referiert sie nicht auf eine ihr vorgegebene Realität, sondern sie bezeichnet die unendliche Bewegung aktiver Interpretation, die sich in der Absage an jede „Enthüllung der Wahrheit als Darstellung der Sache selbst in ihrer Anwesenheit" als ein Verfahren des „unaufhörlichen Dechiffrierens" konstituiert. Das in der aktiven Interpretationstätigkeit der „différance" aufgebaute Wissen gleicht deshalb einem „System von Chiffren", das in der Offenheit reiner Strukturalität „nicht durch den W e r t " einer ihr gegenüber transzendenten Gestalt „von Wahrheit beherrscht wird" 1 0 8 . Derridas Begriff der „différance" verschiebt oder ersetzt den von Bataille als Ausnahme-Ort des Authentischen beschworenen Begriff der Transgression 109 . Der von Derrida artikulierte Begriff eines referenzlosen „Spiel(s) von Differenzen und Quantitäten" 1 1 0 steht nicht mehr für den Exzess absoluter Verausgabung oder explosiver Theophanie, sondern für die andersartige Realität einer Aktivität, die in einer noch gänzlich gewaltlosen Weise Verschiebungen und Differenzen erzeugt und von der sich jede konkrete Wirklichkeitsdeutung, die notwendigerweise mit begrifflichen Formen der Bestimmtheit arbeitet, durch eine härtere Form der Setzung von Differenzen immer schon abgesetzt haben muss, um von alternativen begrifflichen Deutungsmustern sowie von nicht-begrifflich bestimmten Zugangsweisen zu „Wirklichkeit" unterschieden und damit überhaupt erst aussagekräftig werden zu können. W e d e r die Bewegung der „différance" noch die ihr methodisch korrespondierende oder unmittelbar aus ihr hervorgehende Erfahrung der „différence originaire" bezeichnen authentische Formen des Seins oder Gestalten des Derrida, Die différance. Randgänge (1988), 43f. Es ist kein Zufall, dass Derrida mit dieser Formulierung die beiden zentralen Begriffe der Philosophie von Gilles Deleuze — „différence" und „répétition" — aufnimmt, sie in einem vergleichbaren Sinn auf Nietzsche projiziert u n d sie damit von jeder bei Deleuze zumindest im Nietzsche-Buch noch mitschwingenden Aura des Authentischen freisetzt. 1118 Derrida, Die différance. Randgänge (1988), 44. Unter dem Aspekt des Denkens der „différance" werden Nietzsche und Freud miteinander parallelisiert. Vgl. dazu auch Derrida, Freud et la scène de l'écriture. L'écriture et la différence (1967), 2 9 3 - 3 4 0 , dt. Freud und der Schauplatz der Schrift. Die Schrift und die Differenz (1972), 302—350. H " Vgl. dafür Derridas A n k n ü p f u n g an die eigene Bataille-Interpretation: Die différance. Randgänge (1988), 45f. 1111 Derrida, Die différance. Randgänge (1988), 43, mit ausdrücklicher Berufung auf das NietzscheBuch von Deleuze. 1117

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Sinns. Eher sind sie als Reflexionsbegriffe zu verstehen, die ihre Bedeutung nicht dadurch gewinnen, dass sie auf einen an sich bestehenden Sachverhalt referieren, sondern dass es nur von ihnen aus möglich ist, den Denkraum reiner Strukturalität zu erschließen. Aus der Perspektive begrifflicher Reduktionen, die einen Abbruch der ,,différance"-Bewegung voraussetzen, verweist der Begriff der „différence originaire" auf einen an sich selbst begrifflich unrepräsentierbaren Hintergrund. U n d von ihm muss sich jede begrifflich konturierte Wirklichkeitsdeutung so abgesetzt haben, dass sie in ihm zugleich ihre eigene Voraussetzung erkennt und sich darin als das weiß, was sie aus der Perspektive reiner Strukturalität ist: die künstlich gewollte Einschränkung einer ihr vorausgehenden Unbestimmtheit. Derrida verweist im Denken der Wechselbeziehung von „differance" und „différence originaire" auf die transzendentale Regel eines doppelsinnig verlaufenden „passage" zwischen den Grenzwerten der Überkomplexität und reduzierter Komplexität, bei dem jeder Bestimmtheitsgewinn einen Verlust an Unbestimmtheit und jeder Gewinn an Unbestimmtheit einen analogen Verlust an Bestimmtheit voraussetzt 111 . Derrida will mit Nietzsche begriffliche Diskurse von absoluten Sinnerwartungen entlasten. Sie bleiben notwendig in das Spiel künstlicher Τ^ζηνάς.rung eingebunden, so dass sie nicht dem Begehren nach einer wirklichen Berührung mit dem Überraum unendlicher Möglichkeit oder einer Instanz absoluter Souveränität nachgeben, das ihnen, wäre es de facto erfüllt, die Basis ihrer reichhaltigen Verwirklichung entziehen würde 1 1 2 . 111

Der Begriff „différence originaire" bildet das Zentrum einer Auseinandersetzung mit Emanuel Lévinas in: Jacques Derrida, Gewalt und Metaphysik. Ein Essay über das Denken von Emmanuel Lévinas. Die Schrift und die Differenz (1972), 1 2 1 - 2 3 5 . Gewonnen wird dieser Begriff in einer Auseinandersetzung mit Husserl. Vgl. dazu Jacques Derrida, Husserls W e g in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, M ü n c h e n 1987, 202f. (Edmund Husserl, L'origine de la géométrie. Traduction et introduction par Jacques Derrida, Paris 1962, 171). Dort bezeichnet dieser Begriff die gegen die Evidenzansprüche der Phänomenologie gerichtete Einsicht in „die Unmöglichkeit, in der einfachen Jetztheit einer lebendigen Gegenwart zur Ruhe zu k o m m e n " bzw. „das Unvermögen, sich in der Einheit des ursprünglichen Absoluten, das nur gegenwärtig ist, indem es sich ununterbrochen aufschiebt [se différant], einzuschließen; dieses Unvermögen und diese U n m ö g lichkeit werden zu Gegebenheiten in einem ursprünglichen und reinen Bewußtsein der Differenz. ( . . . ) Ursprüngliche Differenz des absoluten Ursprungs (.différence originaire de l'origine absolu'), der in apriorischer Sicherheit seine reine konkrete Form unbegrenzt zurückhalten und bekunden kann, als das Jenseits oder Diesseits, das aller empirischen Schöpferkraft und faktischen Fülle Sinn gibt - eben das hat der Begriff,transzendental' durch die rätselhafte Geschichte seiner Verschiebungen hindurch vielleicht immer besagen wollen. Transzendental wäre die reine und endlose Unruhe eines Denkens, das sich darum bemüht, die Differenz zu ¡reduzieren , indem es die faktische Unendlichkeit auf eine Unendlichkeit des Sinns und der Geltung hin übersteigt, d.h. die Differenz beibehält. U n d transzendental wäre die reine Gewißheit eines Denkens, das, weil es dem sich schon bekundenden Telos nur entgegensehen kann, indem es sich auf den sich unbegrenzt entziehenden Ursprung hinbewegt, immer schon weiß, daß es stets zukünftig ist". Vgl. dazu auch Derrida, La voix et le phénomène (1967), IV: Le supplément d'origine, 98ff. Zur philosophischen Bedeutung des Ansatzes von Derrida vgl. M a n f r e d Frank, Eine fundamental-semiologische Herausforderung der abendländischen Wissenschaft. Philosophische Rundschau 23 (1972), 1—16.

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Berechtigte Zweifel an der Legitimität dieser Nietzsche-Deutung formuliert Haar, Le jeu de Nietzsche dans Derrida (1990), 2 0 7 - 2 2 7 .

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Die Texte, die Derrida Nietzsche explizit gewidmet hat, leisten vor allem eine performative Konkretisierung dessen, was der Autor unter einer kritisch-ironischen Überschreitung der „clôture" des europäischen Logozentrismus verstanden wissen will. Sie thematisieren primär die nietzschesche Schrift als Theorie und Realisierung dezentrierter Struktur. Ihren Inhalt und ihre philosophischen Implikationen hat Ernst Behler so ausführlich und vorzüglich dargestellt, dass sich hier eine erneute Nachzeichnung des von ihm Geschriebenen erübrigt 113 . Es sei lediglich gestattet, einige der von Derrida — und Behler — angesprochenen Motive mit den wichtigsten thematischen Schwerpunkten der vorliegenden Darstellung stichwortartig in Verbindung zu bringen. In La question du style114 markiert Nietzsches Schrift den Einsatz einer „phase nouvelle" im Prozess einer affirmativen „interprétation déconstructrice" (236). In ihr geht es um den immer auch gewaltsamen, bei Derrida allerdings im Unterschied zu Foucault gleichsam erotisch abgemilderten Austausch zwischen der phallisch-männlichen Geste der Schrift und einem vaginal-weiblichen Grund, in den sie sich einschreibt und der für sie so etwas darstellt wie die Instanz überkomplexer Wahrheit. Nietzsches Schrift schützt sich vor der Bedrohung durch eine an sich selbst unbestimmbare und ihr deshalb überlegene Realität, die sie ihrerseits verletzt, aber so, dass sie im Sinne einer Spur („trace", 238) auf sie verweist, ohne damit den Anspruch zu erheben, sie authentisch zu vertreten. Derrida konzentriert sich auf Nietzsches Metaphorik einer konfliktgeladenen erotisch-sexuellen Kommunikation zwischen M a n n und Frau bzw. von Schrift und Wahrheit, deren asymmetrisch subtiles Wechselspiel auf die Suspension jeder binär fixierbaren Identität im Sinne einer bestimmbaren „essence" hinausläuft (242f. und 245fi). Parallel dazu wird eine Auseinandersetzung mit der Nietzsche-Deutung Martin Heideggers geführt ( 2 5 6 f f ) . Ihm wird vorgeworfen, die Heterogenität und Plurivalenz der nietzscheschen Schrift unterschätzt zu haben. Nietzsches „écriture" gestaltet ihre unvermeidliche phallische Vorgabe so, dass sie als Spur des ihr gegenüber Anderen einer nicht-limitierbaren Wahrheit lesbar wird. Damit realisiert sie die Form einer nicht-zentrierten Struktur, in der jedes besondere Zeichen in das Andere seiner selbst übergeht. So wird Nietzsches Schrift der Ort eines Tausches, der seiner Form nach an die offene Ökonomie der konkreten „Gabe" („le don") erinnert, den die französische Ethnologie seit Marcel Mauss in kritischer Absicht der geschlossenen Ökonomie des abstrakten Eigentums und des Geldverkehrs gegenüberstellt 115 .

113 114

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Behler, Derrida-Nietzsche, 117ff. Jacques Derrida, La question du style. Nietzsche aujourd'hui? (1973), I, 235—287, dt. Sporen. Die Stile Nietzsches. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich (1986), 129-168, spätere französische Version Eperons. Les styles de Nietzsche, Paris 1978. Derrida, La question du style, 277f. Derrida verbindet an dieser Stelle das von Marcel Mauss übernommene Konzept einer Ökonomie der freien Gabe (vgl. Marcel Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l'échange dans les sociétés archaïques, Paris 1925, dt. Die Gabe. Form und

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Ausgangspunkt der Überlegungen in Nietzsches Otobiographie ist der Unterzeichnungsakt der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776116. Er gilt als Akt eines Willens zu sich, der seine originäre Gewaltsamkeit hinter den Namen Gottes und der Natur verbirgt. Demgegenüber zeigt sich in Nietzsches Selbstdeklaration, für die Derrida auf das Spiel der Masken und Eigennamen in Ecce homo zurückgeht, eine ganz andere Form lebendiger Selbstkonstitution 117 . Die Zeichen der nietzscheschen Schrift verweisen auf eine in sich dynamische „Randung" („bordure") zwischen Leben und Werk, die sich im komplexen Wechselspiel verschiedener Masken und Namen bekundet, und damit auf die nicht-repräsentierbare Macht einer „puissance virtuelle et mobile" (frz. 41, dt. 71). Als Ausdruck der Intensität des eigenen Lebens gilt wie zuvor schon bei Klossowski die ,Lehre' von der ewigen Wiederkehr. Von ihr aus schlägt Derrida einen Bogen zurück zu den frühen kultur- und erziehungskritischen Schriften Nietzsches, den er dann wieder auf die politik- und staatskritischen Reflexionen des Spätwerks ausdehnt. In seinen späten Texten spricht Nietzsche mit der ihm eigentlich fremden Stimme eines Lehrers und Führers über eine neue Kultur des Lebens. In Hitlers Politik erkennt Derrida eine der nietzscheschen in diesem Punkt durchaus ähnliche Stimme. Hinter der Stimme Nietzsches steht jedoch immer die aus Hitlers Perspektive überhaupt nicht wahrnehmbare Realität seiner Schrift und damit ein unausschöpfbares Potenzial, das sich in keiner Politik oder Lehre adäquat konkretisieren lässt, nämlich das Potenzial einer weiblich-mütterlichen „figure sans figure" (frz. 118) — metaphorische Umschreibung der „différence originaire" —, die allen Gestalten Raum gibt, indem sie sich „wie eine anonyme Gestalt im Hintergrund der Szene verliert" (dt. 97). Guter Wille zur Macht (II)nt leistet aus Anlass eines öffentlichen Disputs mit Hans-Georg Gadamer über die Wahrheitsansprüche philosophisch-hermeneutischer Interpretation eine weitere explizite Auseinandersetzung mit Heideggers

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Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1990) mit dem heideggerschen Begriff des Ereignisses. Zur Bedeutung des Motivs der Gabe („le don") in der französischen Gegenwartsphilosophie vgl. Alan D . Schrift (Hg.), The Logic of the Gift. Towards an Ethic of Generosity, N e w Y o r k / L o n d o n 1997. Das Motiv der freien Gabe wird in der feministischen Annäherung an Nietzsche vor allem bei Hélène Cixous aufgenommen. Vgl. dazu im vorliegenden Buch die A n m . 135. Mit Derrida, La question du style, sollte durchgängig verglichen werden Eric Blondel, Nietzsche: la vie et la métaphore (wie A n m . 202 des vorliegenden Buches). Derrida, Nietzsches Otobiographie oder Politik des Eigennamens. Die Lehre Nietzsches. Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch für Text-Analytik, hrsg. v. Manfred Frank, Friedrich A. Kittler u n d Samuel Weber, Freiburg i. Br. 1980, 6 4 - 9 8 (frz. Otobiographies. L'enseignement de Nietzsche et la politique du n o m propre, Paris 1984). Vgl. dazu vorliegender Band S. 54ff. (Sarah Kofman). Derrida, Guter Wille zur Macht (II). Die Unterschriften interpretieren (Nietzsche/Heidegger). Philippe Forget (Hg.), Text und Interpretation, München 1984, 62—77. Ein kurzes Vorspiel zu diesem Text ist Jacques Derrida, Guter Wille zur Macht (I). Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer, ebd. 5 6 - 5 8 .

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Nietzsche-Vorlesungen. Die von Heidegger beschworene Einheit der Sache des nietzscheschen Denkens — von Klossowski mit dem Wort „cause" ins Französische übersetzt — wird in der Umschreibung Derridas zur Angelegenheit eines Rechtsstreits („causa"), so dass der Name Nietzsches für so etwas steht wie „Strittigkeit", „Einsatz, Krieg oder Streitfall" (65). Zu der Art dieses Einsatzes gehört eine dynamische Potenz, die sich aus eigener Intensität „in Masken und Simulakren zerstückelt und vervielfältigt". Selbstzerreißung, das Widerspiel mit Namen, Lehren und Unterschriften werden zu Spuren eines Denkens, das als Denken der Wiederkehr „kein Denken der Ganzheit" im Sinne der Metaphysik sein will, so wie Heidegger es präsentiert, sondern ein solches, das „alles durchkreuzt, was ein Denken oder eine einfache Antizipation der Ganzheit regiert" (75f.). Durchgängige Metaphern für die in Nietzsches Schrift realisierte und zugleich thematisierte Bewegung der „difference" sind vor allem in Nietzsches Otobiographie die spiralförmigen Windungen der Ohrmuschel und des Omphalos — beides wie das weibliche Geschlecht Orte der „dissimulation", die nach Derrida auf den entscheidenden Charakterzug lebendiger Wirklichkeit verweisen 119 .

c) Nietzsche als Systematiker des Spiels der Zeichen. Bernard Pautrat, Jean-Michel Rey, Sarah Kofman, Thierry Lenain Auch für die Nietzsche-Interpretationen der Derrida-Schüler Bernard Pautrat 120 , Jean-Michel Rey121 und Sarah Kofman 122 liegen bereits ausführliche Referate und 119

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Vgl. Derrida, Nietzsches Otobiographie: „Das Leben ist Dissimulation" (75) oder „widersprüchliche Duplizität" (79) — Umschreibungen für den Begriff „différence originaire". Auf einer strukturellen Ebene sollten diese Metaphern Derridas mit Foucaults Charakterisierung der Geste leerer Transgression verglichen werden, vgl. dazu im vorliegenden Band S. 32ff. Bernard Pautrat, Versions du soleil. Figures et système de Nietzsche, Paris 1971. Vgl. ders., Nietzsche médusé. Nietzsche aujourd'hui? (1973), I, 9 - 3 0 , dt. Nietzsche, medusiert. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich (1986), 113—128, u n d ders., Brief an den Narren. Uber einen ungeheuren Augenblick. Alfredo Guzzoni (Hg.), 100 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption, Frankfurt am Main 1991, 167-189. Jean-Michel Rey, L'enjeu des signes. Lecture de Nietzsche, Paris 1971. Vgl. ders., Nietzsche et la théorie du discours philosophique. Nietzsche aujourd'hui? (1973), I, 301—321, dt. Nietzsche u n d die Theorie des philosophischen Diskurses. Guzzoni (Hg.), 100 Jahre philosophische NietzscheRezeption, 155—166. Sarah Kofman, Nietzsche et la métaphore, Paris 1972. Eine zusammenfassender Auszug aus dieser Monographie ist zuvor erschienen in der Zeitschrift Poétique 5 (1971), 77—98. Einem vergleichbaren Ansatz folgen die Arbeiten der Derrida-Schüler Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy. Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, Le détour. Poétique 5 (1971), 53—76, dt. Der Umweg. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich (1986), 7 7 - 1 1 0 ; ders. u n d Jean-Luc Nancy, Rhétorique et langage. Poétique 5 (1971), 9 9 - 1 4 2 ; Ph. Lacoue-Labarthe, La dissimulation. Nietzsche, la question de l'art et la .littérature'. Nietzsche aujourd'huiÌ (1973), II, 9 - 3 6 ; ders., Le sujet de la philosophie (Typographies 1), Paris 1979, darin besonders: Nietzsche apocryphe, 75—109; ders., L'imitation des modernes (Typographies 2), Paris 1986, darin besonders: Histoire et mimèsis, 8 7 111, und: L'antagonisme, 113-131; Jean-Luc Nancy, La thèse de Nietzsche sur la téléologie (1).

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Besprechungen vor123. Ihr gemeinsamer methodischer Ausgangspunkt ist Derridas Metapherntheorie, die sich gegen die platonisch-aristotelische Tradition auf Nietzsche und Bataille beruft 124 . Für Piaton und Aristoteles gilt die Metapher als bildhafte Darstellung einer an sich selbst nicht bildhaften Wahrheit, die jedoch aus eigener Macht zur Präsenz im Bild tendiert. Bei Nietzsche und Bataille hingegen fungiert sie als Ausdrucksform der „differance", als zeichenhafter, in sich kontingenter und deshalb stets substitutionsfähiger Hinweis auf etwas, das sich als Realität' einer „différence originaire" jeder angemessenen Darstellung prinzipiell entzieht. Im Hören auf die überkomplexe Stimme der „différance" entsteht bei Nietzsche und Bataille eine im Kern aphonetisch-metaphorische Schrift, die im Gegensatz zum rationalen Diskurs eine Bewegung der ständigen Bedeutungsverschiebung entfaltet. Im Blick auf diese Theorie essenziell metaphorischer „écriture" wird bei Derrida und in seiner Schule „die traditionelle thematische Nietzsche-Forschung" obsolet125. Pautrat, Rey und Kofman bemühen sich jedoch im Unterschied zum assoziativen Darstellungsverfahren der Nietzsche gewidmeten Texte Derridas um eine möglichst vollständige chronologische Ubersicht über die Texte, in denen Nietzsche seine Philosophie der metaphorischen Schrift expliziert und verwirklicht. Dabei wird dem von Deleuze, Klossowski, Foucault und Derrida eher vernachlässigten Frühwerk besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Vor allem Pautrat und Kofman zeigen eine entwicklungsgeschichtliche Linie des nietzscheschen Denkens auf. Sie zielt auf ein enttheoretisiertes Verständnis der Lehre vom Willen zur Macht, die sie als metaphorische Formel für den Prozess unendlicher Verschiebung und Substitution von Bestimmtheit verstehen. In der Geburt der

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Nietzsche aujourd'huiÌ (1973), I, 57-80; ders., L'impératif catégorique, Paris 1983, darin: „Notre probité!" Sur la vérité au sens moral chez Nietzsche, 61-86, dt. „Unsre Redlichkeit!" (Uber Wahrheit und Lüge im moralischen Sinn bei Nietzsche). Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich (1986), 171—192. Zu den systematischen Intentionen dieser beiden Autoren vgl. Simon Sparks (Hg.), On Jean-Luc Nancy. The Sense of Philosophy, London 1997, und ders., Retreating the Political. Philippe Lacoue-Labarthe and Jean-Luc Nancy, London 1997. Für Einzelreferate zu diesen drei Monographien vgl. Critiqueìlì (1973), 514-529: Roger Laporte, Nietzsche: la métaphore et/ou le concept, zu Sarah Kofman; 545—554: François Galichet, Versions de Nietzsche, und 555-567: Rodolphe Gasché, Le texte en réserve, zu Bernard Pautrat; 568580: Eliane Escoubas, L'espacement de la métaphysique, zu Jean-Michel Rey. Ferner: Rudolf E. Künzli, Nietzsche und die Semiologie. Nietzsche-Studien 5 (1976); Gianni Vattimo, Nietzsche heute? Philosophische Rundschau 24 (1977), 67-91, Günter Eifler, Zur jüngeren französischen Nietzsche-Rezeption. Mihailo Djuric und Josef Simon (Hg.), Zur Aktualität Nietzsches, Bd. II, Würzburg 1984, 34-48, und A. D. Schrift, Nietzsche and the Question of Lnterpretation 84-94 (insbesondere zu Sarah Kofman, 86ff.). Für eine frühe Kritik an der im Umkreis Derridas praktizierten, primär an seiner Schrift orientierten Nietzsche-Deutung vgl. Richard Roos, Règles pour une lecture philologique de Nietzsche. Nietzsche aujourd'huiÌ (1973), II, 283—318, und Heinz Wismann, Nietzsche et la philologie. Nietzsche aujourd'hui? (1973), II, 325-335. Jacques Derrida, La mythologie blanche. La métaphore dans le texte philosophique. Poétique 5 (1971), 1-52, auch Marges de la philosophie (1972), 247-324, dt. Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text. Randgänge (1988), 205-258. Künzli, Nietzsche und die Semiologie. Nietzsche-Studien 5 (1976), 286f.

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Tragödie gibt es auf der Ebene der Metaphern noch Annäherungen an so etwas wie einen authentischen Grund der Welt. Vor allem die Bilderwelt der M u s i k erhält — nach dem Vorbild Schopenhauers und Wagners — den Status eines repräsentativen Vertreters für den dionysischen Urgrund allen Lebens, von dem sich die Bildersprachen der Lyrik und des Epos zunehmend entfernen. In der sokratischen Begriffssprache ist der dionysische Grund des Daseins dagegen vollständig vergessen. Er kann aber am Ende der sokratischen Kultur durch M u s i k (Wagner) wiedererinnert werden. Weil es die Bilderweit der M u s i k ist, die den essenziell ambivalenten Weltgrund vergegenwärtigt, folgt bereits das Frühwerk dem Konzept einer „généralisation de la métaphore", obwohl Nietzsche in dieser Zeit mit der Bezugnahme auf eine „essence" der W e l t noch der „clôture de la métaphysique" verhaftet bleibt 126 . Dies ändert sich bereits in der annähernd gleichzeitig mit der Geburt der

Tragödie verfassten Studie Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen

Sinne.

Hier vergegenwärtigt die von Nietzsche explizit thematisierte Metapher keinen wie auch immer gefassten Weltgrund, sondern sie gilt als kontingenter Bildentwurf einer ausschließlich auf sich selbst bezogenen Phantasie. Jede sprachliche, mimische oder gestische Äußerung wird gesteuert vom anthropologisch fundamentalen „Trieb der Metapherbildung" 1 2 7 . Er antizipiert die Funktion des Willens zur Macht, der nicht als ontologische oder psychologisch-politische Größe zu verstehen ist, sondern als metaphorische Umschreibung einer Instanz, die in ihren Objektivationen immer nur als uneigentlicher und indirekter Ausdruck ihrer selbst wirksam sein kann. Das Denken des Willens zur Macht als einer paradoxen Einheit zwischen dem Willen zu etwas und dem W i l l e n zu sichnt motiviert Nietzsche zu Texten, die im Spiel der Vieldeutigkeit gleichsam auf der Schwelle zwischen Andersheit und Selbstheit verharren und sich so jedem inhaltlich bestimmbaren Sinn verweigern. Bernard Pautrat veranschaulicht die polyvalente Schreibweise Nietzsches nach 1876 129 vor allem an den miteinander verwandten Metaphern des Rades, des Rings und des Kreises. Sie organisieren ein „système circulaire"130, das sich in Nietzsches 126 127

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Kofman, Nietzsche et la métaphore 28f. Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Läge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, 887. Sarah Kofman, Le/Les „Concepts" de culture dans les „Intempestives" ou la double dissimulation. Nietzsche aujourd'hui? (1973), II, 119-146, thematisiert den Nietzsche der Unzeitgemäßen Betrachtungen als Autor eines Stils metaphorischer Vieldeutigkeit. Zu diesem Thema vgl. die leider viel zu wenig beachtete Arbeit von Wolfgang Bartuschat, Nietzsche. Selbstsein und Negativität. Zur Problematik einer Philosophie des sich selbst aufhebenden Willens, Phil. Diss. (Ms.) Heidelberg 1964. Zur Fragwürdigkeit dieses chronologischen Einschnitts vgl. Kiinzli, Nietzsche und die Semiologie. Nietzsche-Studien 5 (1976), 280. Pautrat, Versions du soleil, 266. Mit dem Begriff „système circulaire" nimmt Pautrat die Bewegung der „différance" im Sinne Derridas auf. In der dionysischen Urbewegung (meine Charakterisierung — A.R.) der „différance" wird gleichsam die Quelle noch einmal berührt, auf die sich auch das Denken der Metaphysik (= Denken der natürlich zentrierten Struktur und der Möglichkeit

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I Nietzsche in Frankreich

Denken immer stärker durchsetzt und sich schließlich in einer „écriture dionysiaque" verkörpert 131 . Pautrat nimmt zudem ein Motiv Klossowskis auf, wenn er die metaphorisch-unbegriffliche Sprache Nietzsches als Vergegenwärtigung vorsprachlicher Triebimpulse deutet. Im Gegensatz zu Deleuze und Klossowski sieht Pautrat in Nietzsches Aufwertung des Werdens gegenüber dem Sein einen latenten, bereits von Derrida in Nietzsche hineingelesenen Hegelianismus wirksam werden 132 . Nietzsche hat bei seiner Exposition des Werdens, wenn man sie in systematischer Hinsicht betrachtet, ein Analogon zu den Reflexionen über die Koinzidenz von Sein und Werden entworfen, mit denen die hegelsche Logik ihren Anfang nimmt. Insofern eröffnet bereits Hegel das Thema einer dionysischen Selbstbewegung des Absoluten, das Nietzsche dann weiterführt und vollendet 133 . Im Untertitel seiner Monographie „figures et système" deutet sich der generelle Zwiespalt zwischen Offenheit und Geschlossenheit an, der für Nietzsches Schrift schon in der Deutung Derridas charakteristisch gewesen ist. Demgegenüber parallelisiert Jean-Michel Rey Nietzsches „theâtre de métaphores" mit Freuds Theorie des psychischen Apparates, nach der das „Es" als ihr gleichsam authentisches Zentrum sich immer nur indirekt und umwegig zur Geltung bringen kann 134 . Dominant bleibt auch bei Rey das von Derrida übernommene Konzept der nicht-zentrierten Struktur. Außerdem entwirft er im Rekurs auf die Metaphernbühne Nietzsches ein Gegenbild zum Theater der Gewaltauftritte, das Michel Foucault in den Texten Nietzsches entdecken wollte. Sarah Kofmans Nietzsche-Deutung kommt aus zwei Gründen eine besondere Bedeutung zu. Z u m einen bemüht sie sich wie sonst allenfalls noch Klossowski und Deleuze darum, dem Denken Nietzsches den Charakter absoluter Singularität zuzusprechen. Z u m anderen will sie Nietzsche nach einer Vorgabe Derridas in ein reflektiertes und begrifflich abgesichertes Verständnis feministischer Philosophie integrieren 135 . Der Kennzeichnung des Singularitätsanspruchs der nietzscheschen authentischer Präsenz) bezogen hat. Allerdings kann sich auch die erneute Berührung dieser Quelle nicht an ihr selbst verorten. Sie entfernt sich von ihr aber nicht in einer begrifflich zentrierten, sondern in der metaphorischen Schrift nicht-zentrierter Zeichen. Nietzsches Schrift verweist deshalb im Sinne einer Spur auf die von ihr berührte Quelle aller Wirklichkeit zurück, die vom Bedeutungsraum einer metaphysisch oder transzendentalphilosophisch zentrierten Schrift gleichsam verdeckt wird. In der Dynamik einer dionysisch-zirkulären Bewegung u m die Quelle aller Wirklichkeit formuliert Nietzsche seine Theorie vom Willen zur Macht so, dass das Begriffsfeld, das er mit ihr aufbaut, ein Spiel der offenen Struktur inszeniert. 131 132

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Vgl. Pautrat, Versions du soleil, 296ff. Vgl. Pautrat, Versions du soleil, III: Nietzsche entre Saussure et Hegel, 2 1 3 - 2 4 1 . Für den Hegelianismus Derridas vgl. u. a. dessen Levinas-Essay: Gewalt u n d Metaphysik. Die Schrift und die Differenz, 121—235, sowie Stuart Bernett (Hg.), Hegel After Derrida, London 1998. Vgl. die beiden M o t t i aus Hegels Wissenschaft der Logik, die Pautrat seinem Buch vorangestellt hat. Rey, L'enjeu des signes, 151. Für eine scharfe Kritik an Reys Nietzsche-Buch vgl. Pierre Trotignon, Caligula philosophe. Revue philosophique de la France et de l'étranger 96 (1971), 377—384. Derrida, Eperons {1978) bildet offensichtlich auch den Ausgangspunkt für eine eher metaphorischpoetische Annäherung an Nietzsche aus feministischer Perspektive, wie sie vor allem bei der

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Philosophie sind mehrere Studien gewidmet. Bereits in Nietzsche et la métaphore ist Nietzsche der Autor einer „écriture neuve" (9), die einen freien Tausch zwischen begrifflicher und poetisch-bildhafter Darstellungsform organisiert. Hinter diesen Verfahren der Vertauschung steht die bereits von Klossowski beachtete Fähigkeit, ein „pathos dionysiaque" in ein von ihm elementar verschiedenes „pathos philosophique" zu transponieren (12). Nietzsches sprachliche Ausdrucksformen sind insgesamt Figuren der Uneigentlichkeit, die als solche auf die „essence ... énigmatique" lebendiger Wirklichkeit verweisen (27f.). Jedes einzelne Seiende verliert seinen „statut du propre" (ebd.), wenn das Sein lebendiger Spontaneität jenseits der „clôture de la métaphysique" gedacht und so als Inbegriff grundloser Mannigfaltigkeit wahrgenommen wird. In einer Sprache, die als Spur des Lebendigen gelesen werden kann, erhält jedes Zeichen den fragilen Status einer Interpretation. Jede in ihr geleistete Konstitution von Sinn bleibt gehalten von einer indeterminierbaren „force artistique" des Interpretierens selbst (29). Nietzsches Einmaligkeit besteht darin, dass er der Kraft künstlerischer Interpretation im Kontext endlichen Lebens den Rang der höchsten Macht zuerkennt. In Nietzsche et la scene philosophique136 präsentiert Sarah Kofman eine Lektüre einzelner Texte, in denen sich Nietzsche kritisch einigen der prominentesten Vertreter der philosophischen Tradition zuwendet. Sie will dabei zeigen, dass Nietzsche einen anti-sokratischen 137 und anti-kantischen 138 Philosophiebegriff entfaltet,

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Philosophin u n d Psychoanalytikerin Luce Irigaray (Amante marine. D e Friedrich Nietzsche, Paris 1980) erkennbar wird. Die Autorin inszeniert in diesem Text wie eine zweite Diotima ein intimes Gespräch mit Nietzsche, in dessen Verlauf die melancholisch gefärbte Idee der wechselseitigen Anerkennung sexueller Differenz aus der Pespektive einer Vollkommenheit aufscheint, die sich der Einengung durch jede Form binärer Differenz entzieht (vgl. dazu auch dies., Ce sex qui n'en est pas un, Paris 1977, u n d dies., Ethique de la différence sexuelle, Paris 1984). Das Vorbild der bereits von Derrida herausgestellten sexuellen Vertauschungsspiele ist durchgängig erkennbar. Derrida gibt auch den Anstoß für den Riickbezug der Pariser Literaturwissenschaftlerin Hélène Cixous auf Nietzsche. Sie konfrontiert eine männlich konnotierte, an der bloßen Sicherung des Lebens orientierte (von Nietzsche als sklavisch diskreditierte) Ö k o n o m i e des Eigentums mit einer weiblich konnotierten Ö k o n o m i e der freien Gabe (Marcel Mauss), die über Batailles Ö k o n o m i e der Verschwendung auf Nietzsches Konzept der schenkenden T u g e n d zurückgeht. Vgl. dazu Hélène Cixous, Le Rire de la Méduse. L'Arc 61 (1975), 3 9 - 5 4 ; dies., unter Mitarbeit von Catherine Clément, La jeune née, Paris 1975. Z u m T h e m a des Nietzsche-Bezuges bei Hélène Cixous vgl. A. D . Schrift, Nietzsche's French Legacy, Kap. IV: Cixous: O n the Gift-Giving Virtue as Feminine Economy, 8 2 - 1 0 1 . Bei der wesentlich textgenauer interpretierenden Sarah Kofman k o m m t die Perspektive feministischer Philosophie ebenfalls im Motiv der Vertauschung sexuell differenzierter Identität zum Tragen. Die immer auch feministische Färbung dieses Motivs wird in der folgenden Darstellung nicht mehr eigens herausgestellt. Für analoge Denkfiguren der zeitgenössischen feministischen Nietzsche-Rezeption im angelsächsisch-amerikanischen Sprachraum, die sich z.T. explizit mit Luce Irigary, Helène Cixous u n d Sarah Kofman auseinandersetzen, vgl. im vorliegenden Band die Hinweise in A n m . 372. Kofman, Nietzsche et la scène philosophique, Paris 1979. Für eine vollständige Bibliographie der Texte, die Sarah Kofman Nietzsche gewidmet hat, vgl. Nietzsche-Studien 25 (1996), 4 4 5 - 4 4 8 . Kofman, Socrate(s), Paris 1989, Kapitel IV: Les Socrate(s) de Nietzsche: „Qui" est Socrate?, 2 8 9 318. Kofman, Nietzsche et la scene philosophique, daraus: Kant ou „le médecin malgré lui", 317—336.

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der an die literarischen Charaktere des Mythos und der Komödie anknüpft. Er gewinnt damit die Fähigkeit zu einer uneingeschränkten Bejahung der gesamten Dimension des menschlichen Lebens, einschließlich seiner Exzesse und Zusammenbrüche. Der männliche Dionysos und die weibliche Baubo werden gemeinsam zu mythisch-komischen Vexierbildern der Ambivalenz zwischen Sich-Zeigen und -Verbergen, die für jede Form von Lebendigkeit charakteristisch ist. Der tragische Blick auf das Leben entlädt sich in der Aneignung einer in Baubo und Dionysos verkörperten Macht agonaler Zweideutigkeit zu einem Lachen, das die Erstarrung des Lebens und seine Fixierung auf feste Formen der Identität auflöst 139 . Die explosive Dionysos-Identität, die Nietzsche in der Schrift Heraklits vorgeformt findet 140 , hat die Macht, das menschliche Leben in eine singulare Macht der Ambivalenz umzuformen. Der anti-christliche und anti-sokratische Impuls des Willens, der sich in Nietzsches Schrift bekundet, ist das besondere Thema in dem autobiographischen Text Ecce Homo, dem Sarah Kofman unter dem signifikanten, an Klossowski erinnernden Titel Explosion einen ebenso ausführlichen wie vielschichtigen, das Gesamtwerk souverän einbeziehenden Kommentar gewidmet hat 141 . Ecce Homo ist keine 139

1411

141

Kofman, Nietzsche et la scene philosophique, daraus: Baubô, perversion théologique et fétichisme, 263-304. Sarah Kofman, Séductions. De Sartre à Heraclite, Paris 1990, daraus: Nietzsche et l'obscurité d'Heraclite, 87-137, dt. Nietzsche und die Dunkelheit des Heraklit, Bauschinger (Hg.), Nietzsche heute (1988), 75-104. Kofman, Explosion I. De l'„Ecce Homo" de Nietzsche, Paris 1992, und dies., Explosion II. Les enfants de Nietzsche, Paris 1993. In ihrem engagiert, weil aus der Perspektive eigenen Betroffenseins geschriebenen Buch l e mépris des Juifs. Nietzsche, les Juifs, l'antisémitisme, Paris 1994, verteidigt Sarah Kofman Nietzsche entschieden gegen den Vorwurf des Antisemitismus. Sein rassistisch geprägter Antisemitismus ist für sie lediglich ein kulturell bedingter Jugendirrtum. Nach dem Bruch mit Wagner und Schopenhauer inszeniert Nietzsche einen „combat agonal" zwischen Juden und Deutschen (20), in dem Heinrich Heine und Jacques Offenbach als Vertreter des Dionysischen gegen Wagners vermeintliche Rückkehr zum Christentum ins Feld geführt werden. Die Juden verkörpern gerade in ihrer Gesetzesreligion das lebensförderliche Prinzip einer konsequenten Hierarchisierung der „forces affirmatives et aggressives de la vie" (27). In der Verehrung für die allein in ihrem unnennbaren Gott anwesend-abwesende „puissance suprême" erkennt Nietzsche eine ungewöhnliche Sensibilität der jüdischen Kultur für die Erfahrung des Erhabenen (38). Ihr entspricht ein essenziell tragisches Bewusstsein von der Notwendigkeit schuldhafter Verfehlung, das notwendig aus dem Mut resultiert, das Ziel des eigenen Lebens auf einen erhabener nicht auszudenkenden Träger souveräner Macht zu beziehen. Aufgrund dieser ambivalenten Beziehung zu Erhabenheit und Schuld sowie der historischen Erfahrung von Fremdheit und Ohnmacht in der Zeit des so genannten Babylonischen Exils erkennt Nietzsche im „devenir maître du J u i f (Orientierung an der Herr-Knecht-Dialektik in Hegels Phänomenologie des Geistes) (44) ein normatives Modell fur das Werden des Ubermenschen im Kontext einer zukünftigen europäischen Kultur (vgl. dazu auch, als Annexe zu dieser Schrift gedruckt, Sarah Kofman, Métamorphose de la volonté de puissance du Judaïsme au Christianisme d'après „L'Antéchrist" de Nietzsche. Revue de l'enseignement philosophique 18 (1968), 15-19. Le mépris des Juifs, 85—95). Nur im Vergleich mit den Griechen werden die Juden negativ bewertet. In dieser Gegenüberstellung verliert der Begriff des Judentums jedoch jede rassische Bedeutung, weil Nietzsche mit ihr allein die Differenz zwischen jüdisch-christlicher Moral und einer Kultur verdeutlichen will, die sich im Gegensatz zu ihr an die Norm eines sich voll entfaltenden Willens zur Macht bindet. Zu diesem

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Autobiographie im gewöhnlichen Sinn, sondern die Darstellung einer Transposition überreicher, sich explosiv verschleudernder Lebenskräfte auf die Ebene eines Textes. Möglich wird dies durch die formale Organisation eines subtilen Spiels mit Masken, Spiegeln und Selbstbeschreibungen. Im Spiel seiner Schrift wird deutlich, dass Nietzsche die Einheit seines Lebens und Denkens nicht als eine homogen sich entfaltende Identität versteht, sondern als diejenige eines dionysisch temperierten „être exceptionnel", das, wie Sarah Kofman ganz im Sinne von Deleuze und Klossowski betont, die Dimension der Vergleichbarkeit mit jeder anderen Lebensform grundsätzlich überschritten hat (Explosion /, 29f.). Das Exemplarische des nietzscheschen Lebens besteht darin, dass es die unerschöpfbare Fülle produktiver Kräfte, denen es sich ausgesetzt sah, nicht auf ein Normalmaß des Erträglichen reduziert, sondern in ihrem Ubermaß sich hat einverleiben können. Nietzsche verwirklicht, was er in den Unzeitgemäßen Betrachtungen in Stellvertretung der eigenen Person auf Arthur Schopenhauer und Richard Wagner projiziert: die Verzeitlichung und Verräumlichung exzessiver Intensität, aus der heraus allein so etwas möglich ist wie eine uneingeschränkte, zugleich praktische und theoretische Bejahung des Daseins. Nietzsche entwirft in Ecce Homo den Lauf eines von ihm selber unbewusst, aber gerade deswegen mit äußerster Konsequenz geführten Lebens, das sich gleichsam in explosiven Schüben von seiner eigenen natürlichen und kulturellen Identität sowie von jeder definierbaren Zeitgenossenschaft gelöst hat. Sein Leben verkörpert damit die Macht einer transindividuellen, göttlichen Potenz, in der sich Züge des Gekreuzigten agonal mit dionysisch-explosiven Kräften überlagern. Aus der energetischen Macht dieses Gegeneinanders findet Nietzsche zur Lehre von der ewigen Wiederkehr, mit der er sich von jeder theologischmoralischen Interpretation des menschlichen Lebens entfernt. Nach der Lehre von der ewigen Wiederkehr ist das Herz des Lebens nicht von jenem in christlicher Tradition immer wieder beschworenen „bitteren Tod" ( m o r s amara) bedroht, von dem nur ein Leben jenseits des Todes wirklich befreien kann, sondern sie bedeutet die Verherrlichung des endlichen Lebens, das den Tod als seine eigene Voraussetzung in sich einschließt (Explosion II, 374f£). Nietzsches lebendiges Denken inszeniert eine „cérémonie funèbre", die den zerschundenen Leib des christlichen, Text Sarah Kofmans vgl. Arno Münster, Anti-anti-sémitisme ou philosémitisme. Nietzsche et les juifs (en hommage à Sarah Kofman). Nietzsche et le nazisme, Paris 1995, 109—123. Für eine differenziertere und kritischere Sicht auf das Problem des Antisemitismus bei Nietzsche vgl. Dominique Bourel und Jacques Le Rider (Hg.), De Sils-Maria à Jérusalem. Nietzsche et le Judaïsme. Les intelectuels juifs et Nietzsche, Paris 1991. Besonders verwiesen sei auf den Beitrag der beiden deutschen Altphilologen Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier in diesem Sammelband: Philhellénisme et antisémitisme en Allemagne. Le cas de Nietzsche. De Sils-Maria à Jérusalem (1991), 21—46. Zu diesem Thema vgl. auch Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart/Weimar 1995. Zum Thema Nietzsche und die Juden vgl. im vorliegenden Band Anm. 479; ferner Werner Stegmaier und Daniel Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin/New York 1997, und Jacob Golomb (Hg.), Nietzsche und die jüdische Kultur, Wien 1998. Zu diesem Autor vgl. im vorliegenden Band S. 223ff.

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gewaltsam seines Lebens beraubten Gottes zu Grabe trägt, um ihn in der gloriosen Gestalt jenes heidnischen Gottes wieder erwachen zu lassen, der als Dionysos die Macht hat, die Auferstehung mitten im Herzen des sterblichen Lebens selbst zu verankern ( E x p l o s i o n II, 376). Das Spiel der Masken, das Nietzsche in Ecce Homo inszeniert, um seine transindividuelle Identität verhüllend zu offenbaren, endet deshalb konsequent in der Artikulation eines agonalen Gegensatzes zwischen den beiden Göttern Christus und Dionysos. Ihr Gegeneinander wird im Licht des frühen Wettkampfgedankens (Homer's Wettkampf) betrachtet, nach dem das Leben nur durch den Kampf zwischen wenigstens zwei gleichwertigen Genien vor seiner Erstarrung bewahrt werden kann. Weil Nietzsche den W e t t k a m p f als Prinzip einer den T o d bejahenden Lebensentfaltung auffasst, entwirft er gegen das asketisch-christliche Lebensideal die „fiction de ,Zarathoustra'/,Dionysos'" (Explosion II, 379). W ä h r e n d er sich selber als den Gekreuzigten eines moralisch restringierten Lebens versteht, das sich ihm in den Gestalten seiner Mutter und seiner Schwester verkörpert hat, transfiguriert er sich zugleich zum letzten Jünger des Philosophengottes Dionysos. In der Macht dieser Konstellation wird Nietzsche — gleichsam als Substitut seines früh verstorbenen natürlichen Vaters — zum geistigen Vater Zarathustras, der als sein Sohn für die Zukunft eines ihm selber nicht mehr zugänglichen reicheren Lebens steht ( E x p l o s i o n II, 377ff. und 369fi). Alle Entwürfe des Spätwerks stehen im Zeichen der Einsicht, dass das Leben nur durch die extremste Steigerung der in ihm originär angelegten Gegensätzlichkeit vor der Gefahr tödlicher Erstarrung gerettet werden kann. W ä h r e n d Sarah Kofman die Perspektive Derridas mit derjenigen von Klossowski und Deleuze verbindet, um Nietzsche als Philosophen exzessiver Intensität vorzustellen 142 , plädiert Thierry lenain im Anschluss an dieselben Vorgaben für eine wesentlich distanziertere Lesart der nietzscheschen Philosophie als Antizipation einer modernen Spieltheorie 143 . Lenain kümmert sich überhaupt nicht um Inhalte, sondern allein um die Statusbestimmung der nietzscheschen Philosophie. Ebenso wenig lässt er sich auf die Diskussion neuerer spieltheoretischer Konzepte ein. Stattdessen geht er allein auf die Ansätze zu einer Theorie des Spiels zurück, die im von Georges Bataille gegründeten College de Sociologie namentlich von Roger Caillois entworfen worden sind. Caillois hat sich aus ethnologisch-anthropologi142

143

Sarah Kofmans Beziehung zu Nietzsche ist keineswegs primär intellektuellen oder literarischen Charakters. Ihre traumatischen Erlebnisse als junges jüdisches Mädchen im Frankreich der nationalsozialistischen Okkupation lassen sie mit Nietzsche und Freud nichts Geringeres suchen als die Lebbarkeit ihrer eigenen Identität, die ihrer natürlichen Wurzeln gewaltsam beraubt wurde. Vgl. dazu ihre Selbstcharakterisierung als „enfant de Nietzsche" (Kofman, Explosion II, 37 Iff.) sowie ihren eigenen autobiographischen Text Rue Ordener, rue Labat, Paris 1994. Der von ihr selber gewählte Todestag, der 15. Oktober 1994, war der 150. Geburtstag Nietzsches. Thierry Lenain, Pour une critique de la raison ludique. Essai sur la problématique nietzschéenne, Paris 1993.

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scher Perspektive mit dem Spiel und dem Fest als Formen des Lebensexzesses befasst, die in der modernen Welt ortlos geworden sind 144 . Die gleichsam noch surrealistische Bedeutungsdimension der Spieltheorie von Caillois wird bei Lenain jedoch nicht mehr aufgenommen. Er interessiert sich allein für die Logik einer Theorie des Spiels, die er als Vollendungsgestalt einer transzendentalphilosophischen Reflexion interpretiert. Im Ausgang von einer Interpretation der Rede Zarathustras Von den drei VerWandlungen143 unterstellt Lenain Nietzsche den Entwurf der immanenten Logik jener Denkart, nach der alles Seiende als Komponente eines auf sich selbst bezogenen und sich selbst erschaffenden Spiels aufzufassen ist (19). Nietzsche erschließt in der Logik des Spiels die transzendentale Dimension menschlicher Wirklichkeitserfahrung und bestimmt sie als „Praxis einer sich aus sich selbst entfaltenden Immanenz" (9). Er entdeckt ihre Grundform in der vorsokratischen Philosophie, insbesondere bei Heraklit und Anaxogoras. Die mit Sokrates und Piaton einsetzende Metaphysik destruiert für ihn das offene „Spiel der Welt", während er seine eigene Philosophie als reflektierte Rückkehr zu einem Denken des Spiels versteht, mit dem die Epoche des von der Metaphysik geprägten Denkens endet. Im Zentrum der nietzscheschen Philosophie des Spiels steht die Lehre vom Willen zur Macht. Sie bezeichnet eine essenziell politische Instanz, die in der Setzung bestimmter Formen von Regelhaftigkeit die ihr eigene Intensität — in Analogie zu den verschiedenen Typen des Ausdrucks von Kraft bei Deleuze — modifiziert und ihr dadurch gestalthafte Wahrnehmbarkeit verleiht. Als Herr des Spiels ist der Wille zur Macht eine indefinite dynamische Größe, die als solche niemals in den Zustand vollständiger Präsenz übergehen kann. Von diesem Konzept aus lässt sich die Bedeutung der nietzscheschen Metaphysikkritik einschätzen. Sie will gegen die Formen der Weltdeutung, die sich nur einem begrenzten modus operandi der „raison ludique" öffnen, die dynamische Potenz des Willens zur Macht intensivieren (44). Das negative Urteil über eingeschränkte Realisierungen der „raison ludique" findet sein Kriterium nicht in einem authentischen Blick auf einen zuvor unbekannt gebliebenen Grund der Wirklichkeit, sondern in einer analytischen Reflexion auf die immanente Logik des Spiels, nach der ihre vollständige Entfaltung höher bewertet werden muss als ihre eingeschränkte Verwirklichung. Die Logik der raison ludique bewährt sich bei Lenain vor allem in der Interpretation der für Nietzsche fundamentalen begrifflichen Oppositionen wie Wissen und Leben, Wissenschaft und Kunst, apollinisch-dionysisch, Askese und Exzess, Aktivität und Reaktivität oder Sein und Werden. Besondere Aufmerksamkeit wird 144

145

Roger Caillois, Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige, durchgesehene und erw. Auflage, Paris 1967, Erstausgabe 1958 (dt. Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, München/ Wien 1965). Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 29-31.

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der Opposition von begrifflich bestimmter „science" und der im Spiel des Willens zur Macht sich umsetzenden Form von Lebendigkeit gewidmet (52). Der frühe Nietzsche arbeitet noch vor-spieltheoretisch mit einer begrifflich auflösbaren Opposition zwischen Wissen und Kunst, wobei das Wissen die indefiniten Bedingungen lebendiger Erfahrung einschränkt, während die Kunst eine authentische Form offener Lebendigkeit verwirklicht. Der Bruch mit Wagner und Schopenhauer ermöglicht eine offene Theorie des Spiels, die den Begriff einer dem Spiel entzogenen Authentizität bewusst vermeidet. Unter dieser Voraussetzung gilt auch die Kunst nur noch als nihilistisch-dekadente Kompensation des klassifikatorischen Denkens. In der Kritik namentlich an Wagner steht sie für die Vagheit einer weltumfassenden Geste, die eine Infantilisierung des Lebens zur Folge hat. Seit Menschliches, Allzumenschliches wird mit dem Konzept genealogischer Kritik der Gedanke einer wechselseitigen Steigerung von Leben und Wissen verbunden. Er wird ergänzt durch ein Konzept des perspektivischen Pluralismus, nach dem auch das Wissen als Konzentrationsgestalt lebendiger Erfahrung bewertet werden kann. Wissen erzieht zu einer der Kunst unerreichbaren Form von Genauigkeit, die für die anti-nihilistische Kultur der Zukunft unentbehrlich ist. Nietzsches „perspectivisme sans limites" (63) folgt der internen Logik der raison ludique, die zwischen sämtlichen Komponenten menschlicher Praxis eine uneingeschränkte Gleichwertigkeit und Vertauschbarkeit herstellt, die jede Privilegierung einer ihrer bestimmten Gestalten systematisch verhindert. Eine durchgeführte raison ludique verzichtet auf referenzielle Ambitionen. Sie ist keine verbesserte Metaphysik, sondern sie inszeniert ein „regime simulatif ausschließlich semiologischen und praktischen Charakters (65). Was dies für Nietzsches Philosophie bedeutet, zeigt sich beispielhaft in der Umkehrung der traditionellen Privilegierung des Geistes gegenüber dem Leib. Sie will die bisherige „ontologie primaire" des Geistes nicht durch eine ihr methodisch gleichartige Metaphysik des Leibes ersetzen, sondern den bisherigen „terme inférieure" der Relation von Geist und Leib anti-dualistisch für den Gehalt des ihm zuvor übergeordneten Begriffs öffnen. Der Leib wird dann zum Paradigma einer dem reinen Bewusstsein gegenüber vollständigeren Form von Vernunft. Nietzsche entfaltet generell ein komplexes Wechselspiel zwischen begrifflichen Oppositionen, das nicht zugunsten eines der gegensätzlichen Terme geschlossen werden soll. Die für sein Denken konstitutive Einheit von integrierender Kritik an der Metaphysik und selbstkritischer Konstruktion wird durch die Lehre von der ewigen Wiederkehr unterstützt, in der Nietzsche die Unmöglichkeit einer definitiven Konstitution von Totalität a priori festschreibt. Im Spätwerk verbindet Nietzsche sein Konzept des „jeu inconditionné" (122) mit dem historisch-praktischen Problem des Nihilismus. Dies nötigt ihn dazu, vor allem mit dem Konzept des Übermenschen, in die „pratique du simulacre" des Spiels (128) eine mit ihr inkompatible Form von Authentizität einzutragen und sie

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so auf die Norm einer vollständigen Präsenz des Willens zur Macht zu verpflichten. Erst in der Verabschiedung von kulturkritischen Motiven kann die „raison ludique" endgültig zu sich selbst kommen. Dies geschieht nach Lenain bei den großen Nietzscheanern der Gegenwartsphilosophie, nämlich bei Bataille, Deleuze und Derrida. Hier gilt das Spiel als „pratique ,impure' par excellence", die jede „pratique primaire", die sich als Verwirklichung authentischer Normativität versteht, in sich auflöst (137f.). In der M u s i k von John Cage und in der Pop-Art Robert Rauschenbergs sieht Lenain künstlerische Äquivalente zur internen Logik der „raison ludique". Sie bildet deshalb den Leitmythos der Moderne, der nicht nur die Produktionsformen der Kunst, sondern auch die Organisationsformen des kulturellen und sozialen Lebens der Gegenwart verständlich machen kann. Methodisch ist Lenains Buch nicht als Interpretation nietzschescher Texte angelegt. Der Autor entwirft die interne Logik einer transzendentalphilosophisch ambitionierten Spieltheorie zunächst auf einer begrifflich-abstrakten Ebene und ordnet ihr dann in einem zweiten Schritt entsprechende Textpassagen Nietzsches zu. In einem dritten Schritt werden die Texte Nietzsches, die von der internen Logik der „raison ludique" abweichen, historisch relativiert. So gelingt dem Autor zwar keine Nietzsche-Interpretation im strengen Sinn, aber doch ein bemerkenswerter Beitrag zur Statusbestimmung seiner Philosophie.

Β Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe 1. Nietzsche als Ontologe der Differenz Pierre Boudot, Simone Goyard-Fabre, Michel Guérin, François Laruelle Die verschiedenen Ansätze zu einer dekonstruktionistischen Lektüre Nietzsches gehen, wenn man sie in philosophiehistorischer Perspektive betrachtet, letztlich auf die Stimme von Georges Bataille zurück. Batailles Nietzsche ist ein Autor des Exzesses, des Wahnsinns oder der radikalen Abwesenheit jeder Form von Ordnung und Sicherheit. Er findet in seiner „expérience intérieure" den Zugang zu einer Welt ständiger Identitätsvertauschung 146 , die Bataille in seinen eigenen Schriften als die Welt des Eros charakterisiert. Batailles Stimme hat ihr Echo aber nicht nur in einer dekonstruktionistischen Nietzsche-Lektüre gefunden. Sie hat auch zu ontologisierenden Nietzsche-Deutungen angeregt, wobei die Ontologie, die in Nietzsches Denken erschlossen wird, als Ontologie radikaler Ambivalenz auftritt. Die Möglichkeiten, die sich aus einer von Bataille — und in diesem Fall zusätzlich vom Existenzialismus Jean-Paul Sartres — angeregten ontologischen Lesart der Philosophie Nietzsches ergeben, lassen sich zuerst bei Pierre Boudot beobachten, der auch als links-gaullistisch orientierter politischer Schriftsteller und als Autor literarischer Werke hervorgetreten ist147. Boudot sieht in Nietzsche einen Erneuerer des menschlichen Denkens, wie er radikaler überhaupt nicht gedacht werden kann. Er bindet das Denken als eine Form der Aktivität an eine Norm absolut freier Kreativität, im Blick auf die sämtliche Formen gesellschaftlicher und individueller Wirklichkeit als defizitär erscheinen. Aktiv-kreatives Denken überwindet sämtliche Formen entfremdeter Existenz. Die in ihm wirksame Norm ist für Nietzsche keine subjektive Fiktion. Sie verweist vielmehr auf eine ästhetisch-tragisch und zugleich theologisch-dionysisch konnotierte demiurgische Macht, die den Grund aller Wirklichkeit darstellt. Demiurgische Macht beinhaltet notwendig eine „Geste der Gewalt". Sie greift gestaltend in eine Wirklichkeit ein, die von sich selbst her zu Zerstreuung und Aufspaltung tendiert (13f.). Die tragisch-unauflösbare Verschränkung von Kreativität und Gewalt bildet den Kern der neuen 146

147

Vgl. dazu Georges Bataille, L'expérience intérieure de Nietzsche. Œuvres complètes, VI, Paris 1973, 189-191. Ich beziehe mich bei meiner Darstellung primär auf Pierre Boudot, L'ontologie de Nietzsche, Paris 1971. Zu den wichtigsten Büchern des politisch-philosophischen Schriftstellers Pierre Boudot gehören die Band c L'Algérie mal enchaînée, Paris 1961, und Fureur et espérance. Ecrits polémiques, Paris 1996.

Β Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe

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Ontologie Nietzsches, in der — ähnlich wie in der Literatur der „poètes maudits" des 19. Jahrhunderts — der Wille zu einer „Restauration des Diabolischen" zum Ausdruck kommt (14). Der im Sinne des radikalen Existenzialismus absolut einsame Akt der kreativen Konstitution von Wirklichkeit ist im Kontext des endlichen Daseins nur als Vereinigung göttlich-schöpferischer und satanisch-destruktiver Potenzen zu denken. Im Denken der ewigen Wiederkehr werden die gewaltsame Bewegung der Kreativität und die Gegenbewegung eines Widerstandes so miteinander verbunden, dass sich die zerstörerische Potenz demiurgischer Aktivität in die von Zarathustra gepriesene „Liebe zur Erde" verwandelt. Die potenziell gewaltsame Kreativität bejaht sich unter der Einwirkung des Gedankens der ewigen Wiederkehr als Komponente innerhalb eines unendlichen Spiels der „Ersetzung" („substitution", 103), das die in sich bewegte Struktur des endlichen Daseins ausmacht. Das Spiel der Substitution steht im Zeichen des Dionysos, der als Symbol für die Verbindung von Tod und Leben sowie von Zerstreuung und (synthetischer) Einheit für Nietzsche das endliche Sein sakralisiert. Es wird zur singulär göttlich-diabolischen Instanz einer auf sich selbst bezogenen schöpferischzerstörerischen Bewegung, die sich durch die Qualität dynamischer Selbsttranszendierung auszeichnet. Nietzsches dionysisch-satanische Ontologie des endlichen Daseins bedarf einer neuartigen Darstellungsform. Sie besteht in einem In- und Gegeneinander von Formen der Reflexivität und poetischen Ausdrucksgestalten, die sich so aneinander konturieren, dass sie ihren in sich ambivalenten Sinn nur in einer Lektüre preisgeben, die für plurivalente und gegensätzliche Bedeutungsdimensionen offen ist. Boudot bezeichnet diese Lektüre mit dem Begriff der Diakritik 148 . Eine diakritische Lektüre hält fest am Nebeneinander gegensätzlicher Ausdrucksformen und versteht sie als Hinweis auf ein Denken, das im Wechsel von sprachlich-grammatischer Fixierung und musikalischer Freiheit nichts Geringeres veranschaulichen will als die Ubergänge zwischen Tod und Leben, von Kreativität und Destruktion, also die Essenz dionysischer Macht 149 . Die von der Phänomenologie Husserls inspirierte und vor allem an rechts- und politiktheoretischen Fragen interessierte Autorin Simone Goyard-Fabre orientiert sich an Deleuze und Klossowski, wenn sie Nietzsches Philosophie als eine Ontologie interpretiert 150 , die das Sein insgesamt unter einer originär politischen Qualität 148

149 1511

In seinem Buch Nietzsche en miettes, Paris 1973, versucht Boudot selber eine literarisch freie Annäherung an den von Nietzsche thematisierten „acte ontologique" absolut freier Kreativität und an die in ihm wirksamen Spannungen, die nur aus der Perspektive einer „méthode diacritique" angemessen wahrgenommen können (6ff.). Zu diesem Begriff vgl. ferner ders., La méthode dia-critique. Une méthode de lecture de „Zarathoustra". Nietzsche aujourd'hui? (1973), I, 371-383. Vgl. dazu Pierre Boudot, La momie et le musicien. Nietzsche, Lyon 1981. Simone Goyard-Fabre, Nietzsche et la conversion métaphysique, Paris 1972.

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I Nietzsche in Frankreich

wahrnimmt 131 . In ihrem Buch Nietzsche et la conversion métaphysique geht es um eine Charakterisierung der nietzscheschen Ontologie. Ihr zentrales Thema ist das „Eine, das Zwei wird", und so eine Wirklichkeit erzeugt, die sich den Eindeutigkeitserwartungen menschlichen Denkens entzieht (17). Mit Hilfe seiner genealogischen Methode destruiert Nietzsche die Ansprüche der metaphysischen Tradition auf den Zugang zu einem transzendenten Einheitsgrund aller Wirklichkeit, um auf ihren Ruinen eine Metaphysik strenger Immanenz aufzubauen. Dabei orientiert er sich am Vorbild der Kunst, indem er das Sein als Produkt einer Schöpfung deutet (48), die in sich Einheit ist, aber nach außen nur als Vielheit erscheinen kann (50). Vorgebildet ist Nietzsches Ontologie in Heraklits „kosmischem Spiel des Lebens und des Werdens" (52). Das Denken des Einheitsgrundes lebendiger, werdender und mannigfaltiger Wirklichkeit führt bei Nietzsche zu einer faszinierend-irritierenden Freisetzung verschiedener, in sich gegensätzlicher „Mächte des Lebens" (101). Die Autorin bezieht sich für ihre Deutung der nietzscheschen Ontologie vor allem auf das Spätwerk, das nach ihrer Uberzeugung die kontinuierliche Erweiterung früherer Theorieansätze darstellt. Als Station auf diesem Weg ist ihr besonders der Zarathustra wichtig. In diesem Text verweist die Lehre vom Willen zur Macht auf die Essenz des Lebens (159). Parallel dazu feiert die Lehre von der ewigen Wiederkehr das Werden als den ständigen Wechsel von „différence et répétition" (164). In ihm gewinnt das in sich einheitliche Leben seine prinzipiell zweiheitliche Form von Gegenwärtigkeit. Insofern die dionysische Welt auf einem Ineinander von „Schöpfung und Auswahl" („création et sélection") beruht (161), erfordert die Bejahung ihrer Wirklichkeit die uneingeschränkte Anerkennung des destruktiven Charakters, der jeder Form von Kreativität zu eigen ist. Nietzsches Metaphysik ist zutiefst aristokratisch temperiert. Sie affirmiert, vor allem in Jenseits von Gut und Böse und in der Genealogie der Moral, die harte „Primärwahrheit" („vérité primordiale") des Lebens und findet aus ihr die Quelle für eine neue, in sich wahrhaftige Form menschlicher Kultur (199). Das metaphysische Erkenntnisorgan der nietzscheschen Ontologie ist die Fähigkeit zur Vision, die ihren Gehalt nur auf dem Umweg über ambivalente Formen sprachlicher Darstellung verdeutlichen kann. Nietzsche klärt die Voraussetzungen für diese Umwegigkeit in seinem erkenntnistheoretischen Konzept des Perspektivismus und in einer ihm zugeordneten „semantischen Ontologie" (221), deren

151

Simone Goyard-Fabre, Nietzsche et la question politique, Paris 1977. Für die rechts- und politiktheoretischen Interessen der Autorin vgl. dies., Essai de critique phénoménologique du droit, Paris 1972, dies., Philosophie politique XVIe-XXe siècles (Modernité et humanisme), Paris 1987 (vgl. dort 443-454 für eine Bezugnahme auf Nietzsche), und dies., Elements de philosophie politique, Paris 1996. Die Autorin möchte sämtliche institutionellen Regulierungen der politischen und sozialen Welt auf transzendental-elementare Grundformen der Wirklichkeit zurückführen, die niemals vollständig, sondern immer nur partiell besetzt werden können und daher in der realen Welt in Gegenverhältnissen aufeinander einwirken.

Β Nietzsche als M e t a p h y s i k e r oder als Psychologe

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Grundgedanke in der Einsicht besteht, dass sprachliche Zeichen keine repräsentierend-referenzielle, sondern nur eine interpretierend-bewertende und damit im Kern eine politische Funktion besitzen. In Nietzsche et la question politique thematisiert die Autorin die genuin politische Komponente, die sie in der ontologischen Dimension des nietzscheschen Denkens wirksam sieht. Sie wendet sich dabei vor allem der Lehre vom Willen zur Macht zu, die dem Dasein insgesamt einen aggressiv-überwältigenden Charakter unterstellt. Die Gestaltungsmöglichkeiten konkreter Politik lassen sich deshalb auf eine metaphysische Lebensmacht zurückführen, die zwar an sich selbst schon politisch ist, aber dennoch einer vollständigen Umsetzung in konkrete Politik a priori entzogen bleibt 152 . Mit Hilfe der Methode genealogischer Reflexion zeigt Nietzsche, dass bestimmte Formen sozialer und politischer Organisation auf einer „Primärbejahung" („affirmation primordiale") des Lebens als erobernder Macht und schöpferischer Energie beruhen (16). N u r in einer derartigen Perspektive lässt sich ein angemessenes Verständnis des Menschen als „politischem Lebewesen" (3) gewinnen. Das Politische ist nicht die Vollendungsgestalt des menschlichen Daseins wie für Aristoteles, sondern es steht für seine elementare Dimension, die sämtlichen Institutionen der politischen Welt als Bedingung ihrer Möglichkeit vorausliegt. Es gibt deshalb auch keine politische Institution, in der sich die politische Natur des Menschen vollkommen verwirklichen kann. Vielmehr bildet die politisch-agonale Dimension des Lebens ein anthropologisches Radikal, dessen Matrix für eine Vielfalt miteinander konkurrierender Ordnungsformen offen ist. Sokrates hat für Nietzsche die ursprüngliche Primärbejahung des essenziell politischen Lebens entwertet und damit die Katastrophe des Nihilismus inszeniert. Sie wird vom Christentum verstärkt, so dass der Nihilismus, nur episodisch von der italienischen Renaissance unterbrochen, die Gegenwart mit derartiger Intensität beherrscht, dass in ihr nur noch eine „Politik der Dekadenz" möglich ist (65ffi). Der moderne Staat verkörpert für Nietzsche nur mehr die „absolute Anti-Wahrheit" degenerierter Politik, die ausschließlich dem individuellen „Machtbegehren" bestimmter Interessenten folgt und damit jeden authentischen Willen zur Macht, nämlich den Willen zu produktiver Gestaltung elementarer, nicht bereits institu-

152

Die Autorin verteidigt im Blick auf diesen Gedanken Nietzsche gegen den Vorwurf, seine Philosophie habe den Politikkonzepten des Faschismus u n d des Nationalsozialismus das Programm geliefert. Jeder, der versuchen will, Nietzsches Politikbegriff zu instrumentalisieren, hat nach Ansicht der Autorin weder die philosophisch-metaphysische Dimension des Politischen noch den Begriff des Politischen bei Nietzsche verstanden (Nietzsche et la question politique 30ff.). Für einen ähnlichen Zugang zur politischen Dimension der Philosophie Nietzsches steht Raymond Polin, der in der Orientierung an Sartre, C a m u s u n d an einem Konzept existenzialistischer Phänomenologie die d e m Leben selber immanente Bewegung als Aktivität einer unendlichen „création des valeurs" verständlich machen will. Vgl. dazu Raymond Polin, La création des valeurs, Paris 1944, u n d ders., Ethique et politique, Paris 1968. Z u seinem Bezug auf Nietzsche vgl. ders., Nietzsche u n d der Staat oder Die Politik eines Einsamen. Steffen (Hg.), Nietzsche (1974), 2 7 - 4 4 .

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tionell gebändigter Konflikte, zum Verschwinden bringt (74£). Die Dominanz eines parteilich oder national egoistischen Machtbegehrens staut gleichsam das originäre Konfliktpotenzial der politischen Welt auf, das dann in Form blinder Gewalt ausbricht und damit das Politische als humane Lebensmacht zerstört. Nietzsche antwortet der dekadenten Politik seiner Zeit mit dem Gedanken einer radikalen Metamorphose, in der jede Ausdrucksform egoistisch und nihilistisch degenerierter Macht vom explosiven Wirbel „großer Politik" zerstört wird (94). Nietzsche denkt dabei vor allem an die in seiner Gegenwart dominierenden Gestaltungsformen der Politik wie Demokratie, Sozialismus, Anarchie oder an den modernen Nationalstaat. Sie sind für ihn entgegen ihrem Selbstverständnis keine Heilmittel gegen die Krankheit des Nihilismus, sondern deren deutlichste Symptome. Die Krankheit des Nihilismus lässt sich nur im Zeichen absoluter Differenz heilen (127). Allein in der Macht absoluter Differenz gelingt die totale Negation des Negativen degenerierter Politik (128), die in konstruktiver Hinsicht eine messianisch-apokalyptische Wirksamkeit entfaltet. Ihr Träger ist die aristokratische Rasse zukünftiger Ubermenschen, die jene ursprüngliche Affirmation der originär politischen Dimension des Lebens wiederherstellt, die Sokrates zugunsten rational gebändigter Politik zerstört hat. Die inhaltlichen Ziele zukünftiger „großer Politik" werden von Nietzsche schon im frühen Text Der griechische Staat nur metaphorisch umschrieben (145). Das Spätwerk bestätigt, dass sie sich der begrifflichen Definierbarkeit entziehen und nur in Symbolen einer reinigenden Alchemie wie „Spiel der Welt", „herakliteisches Feuer", „Licht der Ewigkeit" oder „Zerreißung des Dionysos" angedeutet werden können (166). Metaphysisch dimensionierte Politik fixiert sich nicht auf endliche Ziele, sondern zeichnet sich durch eine Empfänglichkeit für den „Schauder des Unendlichen" („frisson d'infini") aus, mit dem sie eine ursprüngliche Wahrheit des Seins berühren kann (169) 153 . Bei Michel Guérin154 bildet das von Derrida geprägte Denken der unausschöpfbaren Ambivalenz das Zentrum der nietzscheschen Ontologie. Nietzsche ist der Religionsstifter eines radikalen Anti-Realismus, der die egalisierenden Tendenzen moderner Kultur überwinden will. Nicht die Sprache, sondern die Lehre Nietzsches, näherhin die duale Einheit aus den Lehren von der ewigen Wiederkehr und vom Willen zur Macht, inszeniert eine anti-platonisch gemeinte Wiedererinnerung an die tragische Welt, die von der Struktur essenzieller Ambivalenz geprägt war 155 . Nietzsches Sprache absoluter Metaphorizität bildet den Ort für die Artikulation

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Eine weniger aggressive Variante der Deutung Nietzsches als Philosoph der Differenz artikuliert Angèle Kremer-Marietti, L'homme et ses labyrinthes. Essai sur Friedrich Nietzsche, Paris 1972, und dies., Nietzsche et la rhétorique, Paris 1992. Vgl. dazu im vorliegenden Buch Anm. 172. Michel Guérin, Nietzsche. Socrate héroique, Paris 1975. Guérin, Nietzsche, 332: „deux" als „chiffre tragique".

Β Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe

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einer uneingeschränkten Bejahung der dem Leben selber zugrunde liegenden „différance" 156 . Für Guérin wird Nietzsches Methode genealogischer Reflexion zur Basis einer metaphysikkritischen Anthropologie. Sämtliche Formen der Kultur sind für sie gewaltsame Abweichungen von einer nur fiktiv erschließbaren Instanz namens „Natur", die ihrerseits keine substanzielle Bedeutungsgröße darstellt, sondern gleichsam nur funktional als Ort des tödlichen Gegeneinanders verschiedenartiger Kräfte zu verstehen ist. Für den monistischen Ansatz einer dem Prinzip des Gegeneinanders verpflichteten Ontologie besteht das Seiende insgesamt ebenso wie die ihm angemessene Form seiner Interpretation im konfliktgeladenen Wechselspiel gegeneinander gerichteter Trugbilder („simulacres"). François Lamelle folgt den Vorgaben von Gilles Deleuze und Félix Guattari 137 sowie von Pierre Klossowski, wenn er in Nietzsches Philosophie einen originär politischen Kern entdeckt, der mit der bisherigen Praxis sowie mit den traditionellen Theorien des Politischen in einer radikalen Weise bricht 158 . In der Engführung zwischen den Lehren vom Willen zur Macht und der ewigen Wiederkunft des Gleichen erobert sich Nietzsche den Zugang zum wirklichen Kontinent des Politischen. Er äußert sich in den komplexen Relationen zwischen Macht und Libido, die ausschließlich vom Begehren nach Lust getragen sind und deshalb auf den unerschöpflichen „désir" als produktive Primärkraft aller Realität verweisen. Libido bezeichnet eine originär materielle Realität. Als solche tritt sie nicht an die Stelle eines metaphysischen Prinzips, das in den Formen seiner Manifestation anwesend wäre. Da sie der binären Opposition von An- und Abwesenheit entzogen ist, kann sie sich nur in einer wechselseitigen Durchdringung von „Erregung und Macht" Ausdruck verschaffen und deshalb immer nur in, aber niemals jenseits einzelner Organe ihrer Macht so etwas wie Präsenz gewinnen (13). Die Beziehungen zwischen Macht und Lust entfalten sich weder nach den ökonomischen Regeln rationeller Warenproduktion und Güterverteilung noch nach institutionellen Regeln der Distribution von politischer oder technologischer Macht, sondern nur nach den Regeln einer „von innen her politisch organisierten Maschine" („machine intrinsèquement politique"), in der Nietzsche die primordiale Voraussetzung sämtlicher politischer und ökonomischer Institutionen erkannt haben soll (11). Die ihr zugrunde liegende Regel lässt sich allerdings nicht nach dem von Derrida favorisierten Modell der Linguistik de Saussures als Struktur verstehen, sondern nur als die Wirkung eines Ensembles von Beziehungen, die sich nach der theoretischen Vorgabe von Gilles Deleuze und Félix Guattari aktiv oder reaktiv entfalten und

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Guérin, Nietzsche, 357. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Capitalisme et schizophrénie. L'anti-Œdipe, Paris 1972. François Laruelle, Nietzsche contre Heidegger. Thèses pour une politique nietzschéenne, Paris 1977.

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I Nietzsche in Frankreich

dabei im Wechsel von Erregung und Machtbegehren prinzipiell veränderbare Hierarchien und Unterscheidungen hervorbringen. Heidegger hat die essenziell politische und ästhetisch-produktive Matrix der nietzscheschen Philosophie vollständig übersehen und sie deshalb als Grundform technisch-technologischer und, nach Laruelles Lesart, offen faschistischer Weltbeherrschung missverstanden. In Wirklichkeit wird die Dimension der Machtentfaltung bei Nietzsche auf eine rebellisch-anarchische Potenz zurückgeführt, zu der auch der Marxismus keinen angemessenen Zugang hat finden können. Nur von dieser libidinös besetzten Basis des Politischen aus ist nach Laruelle eine Durchbrechung der zum Faschismus tendierenden technologisch-ökonomischen Dimension politischer Machtentfaltung vorstellbar. Methodisch ist die Arbeit von Laruelle so angelegt, dass die Reflexionen des Autors den Text Nietzsches nahezu vollständig überlagern. Insofern realisiert Laruelle mit der autosuggestiven Entschiedenheit seiner eigenen sprachlichen Produktion einen prekären Grenzwert der Nietzsche-Interpretation, der nicht nur nach akademischen Kriterien als unzulässig gilt. Dennoch erfährt der Leser bei Laruelle mehr von der undomestizierbar subversiven Kraft des nietzscheschen Denkens sowie von seiner exzeptionellen Fähigkeit, sich den Problemen der Gegenwart offen und ohne Schutz durch überlieferte Üblichkeiten zu konfrontieren, als dies in lege artis korrekten Interpretationen möglich ist.

2. Nietzsche als Psychologe

und als Erzieher zur Freiheit

Christophe Baroni, Daniel Laurent, Charles M u r i n , Tarmo Kunnas, Michel Henry, Paul-Laurent Assoun, Louis Corman Neben die ontologisierenden Nietzsche-Deutungen, die den Impulsen einer von Deleuze und Klossowski angestoßenen Philosophie der Differenz folgen, treten bereits von den sechziger Jahren an immer wieder Ansätze, die den Gehalt der nietzscheschen Philosophie dadurch charakterisieren wollen, dass sie ihr primär ein pädagogisches oder psychologisch-psychagogisches Interesse unterstellen. Diese Ansätze sind in methodischer Hinsicht eher fragwürdig, und man wird kaum behaupten können, dass sie dem philosophischen Anspruch Nietzsches gerecht werden. Dennoch wird auf sie verwiesen, weil sie im Einzelnen durchaus beachtliche und integrationsfähige, wenn auch allzu oft übersehene Versuche unternehmen, die kulturelle Wirkungsabsicht zu artikulieren, die in einem angemessenen Verständnis der nietzscheschen Philosophie nicht an den Rand gedrängt werden darf. In methodischer Hinsicht könnte man diese Ansätze dadurch charakterisieren, dass sie auf eine Deutung des nietzscheschen Denkens als radikal praktischer Philosophie hinauslaufen.

Β Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe

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Christophe Baroni hat dem Denken Nietzsches primär erzieherische Impulse unterstellt. Sie bestehen für ihn in der Exposition eines Ideals beständiger Selbstüberwindung, das auf die Verwirklichung authentischen Lebens hinausläuft 1 5 9 . Im Zentrum der Aufmerksamkeit von Daniel Laurent steht Nietzsches Konzept des Ubermenschen 1 6 0 . Es verkörpert das Ideal eines freien Menschen, der es sich zutraut, im Blick auf den kontingenten Grund auch seines eigenen Lebens zukunftsbezogene Entscheidungen zu treffen. Der Übermensch führt sein Leben im Bewusstsein seines elementaren Kampfcharakters und der mit ihm verbundenen Gefahren (23). In der Umkehrung des Idealismus, in der Befreiung der menschlichen Existenz vom vermeintlichen Joch metaphysischer Finalität und in der Aufforderung zu einem Leben autonomer Freiheit realisiert Nietzsche anti-nihilistische und revolutionäre Züge, die ihn mit Marx, Freud und dem Existenzialismus verbinden. Wichtiger als diese eher plakativen, ganz von der Emphase des Existenzialismus getragenen Interpretationen sind die psychologisierenden Nietzsche-Deutungen des Franco-Kanadiers Charles M u r i n und des französisch schreibenden finnischen Autors Tarmo Kunnas. Charles Murin geht es vor allem um die Beziehungen zwischen dem individuellem Leben Nietzsches und seinen Texten, denen Derrida und Kofman, wie gezeigt wurde, von ganz anderen methodischen Prämissen aus ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben. Für M u r i n verweisen die Texte Nietzsches direkt auf die Psyche ihres Autors. Sie bildet ein undurchdringliches Labyrinth aus gegensätzlichen Lebensformen, die sich unterschiedlichen Epochen der menschlichen Kulturgeschichte zuordnen lassen 161 . Nietzsche hat sich die innere Komplexität seines eigenen Seelenlebens nur in einer Form affektiv bewegter Erkenntnis erschließen können. So gelingt ihm eine authentische Darstellung seines Lebens (58), die einen verschiedenartig dimensionierten und daher in sich gegensätzlichen Reichtum in einer „synthetischen Vision der Totalität des Wirklichen" bewältigt (277). In der Lehre von der ewigen Wiederkehr erkennt Nietzsche den „vereinheitlichenden Rhythmus der Vielfalt des Werdens", während er in der Lehre vom Willen zur Macht den „ewigen Rhythmus des Pulsschlags" wahrnimmt, der die W e l t des Werdens insgesamt bestimmt (278). Nietzsche will den natürlichen Rhythmus freier Kreativität für die Erzeugung des Übermenschen ausgenutzt wissen. Von ihm aus findet er im Symbol des Dionysos zur Annäherung an das Konzept eines ewig werdenden, nicht zentrierbaren Selbst, das sich in genealogischer Reflexion kritisch, zugleich aber auch anti-nihilistisch und konstruktiv auf das Prinzip seiner eigenen sowie jeder anderen Form von Lebendigkeit beziehen 159 1611 161

Christophe Baroni, Nietzsche éducateur. De l'homme au surhomme, Paris 1961. Daniel Laurent, La pensée de Nietzsche et l'homme actuel, Toulouse 1973. Charles Murin, Nietzsche problème. Généalogie d'une pensée, Paris/Montréal 1979. Nietzsches Psyche ist diejenige des „homme-occidental-européen-chrétien, en situation dans un monde grécoromain assimilé par des ,barbares virils'" (53).

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I Nietzsche in Frankreich

kann. Murin geht es in seiner Nietzsche-Deutung zwar primär um Gestaltungsformen für die lebendige Realisierung des individuellen Lebens, aber ihm bleibt bewusst, dass bei Nietzsche gelungene Individualität ein allgemeines Modell für die Verwirklichung endlich-lebendigen Dasein insgesamt darstellt 162 . Den Grenzfall einer psychologischen Nietzsche-Deutung markiert der französisch schreibende finnische Autor Tarmo Kunnas. Er will in einem chronologischen Durchgang durch die Texte Nietzsches die wichtigsten Motive seines Denkens zusammenstellen 163 , um plausibel zu machen, dass sämtliche Gedankenschritte Nietzsches auf die im Spätwerk formulierte, metaphysisch zu verstehende Lehre vom Willen zur Macht hinauslaufen. In erkenntnistheoretischer Hinsicht resultiert der Anspruch der Lehre vom Willen zur Macht aus einem durchgeführten Skeptizismus. Sie konzentriert sich in einer methodischen Reflexion auf jenen Gedanken, von dem aus allein ein Leben, das im Kern tragisch dimensioniert ist, rückhaltlos bejaht werden kann. In der Lehre von der ewigen Wiederkehr geht es Nietzsche um die intellektuelle Wiederbelebung einer Elementarform mythischer Weltdeutung. Sie ersetzt sämtliche bisherigen Religionen, insbesondere das Christentum, und jede transzendent ausgerichtete Metaphysik durch eine „métaphysique terrestre", deren Aufgabe darin besteht, anstelle der Welt des Seins die ihr entgegengesetzte Welt des Werdens mythisch zu verklären (124). Trotz ihres metaphysischen Kerns und ihrer erkenntnistheoretischen Reflektiertheit steht Nietzsches Philosophie aber letztlich für die psychologische Möglichkeit, den tragischen Abgrund des Lebens in einer Mischung aus intellektuellem Heroismus und artifiziellem Optimismus zu überspielen. Kunnas sieht in Nietzsches Lehren eine Ethik der Hoffnung angelegt (140), die produktiv auf eine elementare Verzweiflung (Nihilismus) an der bisherigen Kultur reagiert (222). Aus der psychologischen Notwendigkeit, die paradoxe Spannung zwischen Verzweif162

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Während die psychologisierende Deutung von Charles Murin an den Inhalten der nietzscheschen Philosophie interessiert ist, dient die psychologische Betrachtungsperspektive bei Ivan Gobry (.Nietzsche ou la compensation, Paris 1975) ausschließlich dazu, die Inhalte der nietzscheschen Philosophie zu entwerten. Die theoretische Dimension des nietzscheschen Denkens ist demnach nur das Kompensationsphänomen — dieser Ausdruck wird unter Berufung auf die Individualpsychologie Alfred Adlers verwendet — einer vollkommen zerstörten Psyche. Tarmo Kunnas, Nietzsche ou l'esprit de contradiction. Etude sur la vision du monde du poètephilosophe, Paris 1980. Als die wichtigsten Motive des nietzscheschen Denkens werden genannt: die Kritik an der Allmacht der Semantik über die Strukturen des Denkens, die Überlegungen zur Theoriegestalt der Metaphysik und zu ihrer Bedeutung für die bisherigen Organisationsformen der Zivilisation (37), die intensive Rezeption des naturwissenschaftlichen Denkens seiner Zeit, vor allem der dynamischen Physik und der darwinistischen Evolutionstheorie, die Kritik des Konzepts historischer Teleologie, die Anknüpfung an Heraklit, die Kritik an Schopenhauer und die Begründung einer psychologischen Philosophie, die mit der Entdeckung des „homme-animal" Freuds Theorie der Triebdynamik des Seelenlebens vorwegnimmt (80f.). In deutscher Sprache ist von Tarmo Kunnas zu lesen: Nietzsches Lachen. Eine Studie über das Komische bei Nietzsche, München 1982.

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lung und Hoffnung zu überbrücken, lassen sich nach Kunnas auch die für den modernen Leser abstoßenden Extrempositionen erklären, die Nietzsche einnimmt, wenn er etwa seine anti-demokratisch-aristokratische Einstellung, seinen Immoralismus oder eine Apologie der Gewalt formuliert, mit der er sogar die Aufopferung von Personen rechtfertigt, wenn dies nach seiner Uberzeugung der Verwirklichung allgemeiner, weil vom Willen zur Macht legitimierter Ziele dient. Die tragisch-explosive Geschichte seiner eigenen Psyche erzeugt nach Kunnas in Nietzsche den Geist einer vornehmen Rache gegen das Christentum und gegen die Tradition idealistischer Philosophie insgesamt (140). Eine wichtige Präzisierung erfahren psychologisch orientierte Deutungen der nietzscheschen Philosophie, wenn sie sich reflektierend auf deren strukturelle Affinität mit der Psychoanalyse Freuds einlassen. Die erste wissenschaftsgeschichtliche Studie zu dieser Beziehung hat Michel Henry vorgelegt und dabei Nietzsches Vorläuferrolle für Siegmund Freud herausgestellt 164 . Henry geht es mehr um strukturelle und inhaltliche Ähnlichkeiten zwischen Nietzsche und Freud als um die Klärung der realen Rezeptionsgeschichte Nietzsches im Wiener psychoanalytischen Kreis. Diese ist dagegen das vorrangige Thema zweier historisch sorgfältiger Studien von Paul-Laurent Assoun165. Für eine qualifizierte inhaltliche Annäherung an Nietzsche aus psychoanalytischer Perspektive, die nicht nur dessen Seelenleben erhellen, sondern das psychologische Können Nietzsches für die diagnostischtherapeutische Kompetenz psychoanalytischer Reflexion selber fruchtbar machen will, stehen die lesenswerten Studien des Psychoanalytikers Louis Corman166. Bei

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Michel Henry, Genealogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris 1985 (Kap. VII: Vie et affectivité d'après Nietzsche, 249ff. u n d Kap. VIII: Les Dieux naissent et meurent ensemble, 295ff.). Vgl. dazu auch die Rezension von Bernhard Waidenfels in: Philosophische Rundschau II 2 (1987), 156-158. H e n r y ist auch als literarischer Autor hervorgetreten. Seine Interessen an Nietzsche u n d Freud hängen mit seinem systematischen Versuch zusammen, allein in der Immanenz authentischer Selbstgegebenheit einen Zugang zum göttlichen Ursprung aller Lebendigkeit zu finden. Vgl. dazu Michel Henry, L'essence de la manifestation, Paris 1963, ders., Philosophie et phénoménologie du corps, Paris 1965 u n d ders., Phénoménologie matérielle, Paris 1990. Vgl. dazu auch die inhaltlichen Hinweise bei Waidenfels, Phänomenologie in Frankreich 349ff. u n d ausführlicher: Rolf K ü h n , Einleitung: Die Philosophie Michel Henrys. Michel H e n r y , Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie, F r e i b u r g / M ü n c h e n 1992, 17— 62. Der Band enthält im A n h a n g eine ausführliche Bibliographie zum W e r k Michel Henrys u n d zu seiner Rezeption (328—334). Z u m T h e m a Nietzsche-Freud vgl. auch Edouard Gaède, Nietzsche précurseur de Freud? Nietzsche aujourd'hui? (1973), II, 87—113. Paul-Laurent Assoun, Freud, la philosophie et les philosophes, Paris 1976, u n d ders., Freud et Nietzsche, Paris 1980. Louis C o r m a n , Nietzsche. Psychologue des profondeurs, Paris 1982, u n d ders., Découverte de Nietzsche, Paris 1990. Im Z e n t r u m des zuerst genannten Buches steht Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht. Sie ist das Resultat einer aus der Psyche Nietzsches verständlich gemachten Konversion zur Philosophie, zu der sich Nietzsche in der Baseler Zeit durchringt u n d in der er im

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I Nietzsche in Frankreich

Éric Blondel und seinem Schüler Patrick Wotling findet man den methodisch weitergehenden Versuch, Nietzsches Konzept einer nicht-reduktionistisch verfahrenden Psychologie als einen neuartigen Zugang zu philosophischen Prinzipienfragen auszulegen167.

3. Nietzsche auf dem Weg zu einer neuen

Ontologie

a) Die Lehre vom Willen zur Macht als Ontologie einer „fluidité multiforme du devenir" Jean Granier Die zeitlich erste Stimme von Gewicht, die es sich bereits in den sechziger Jahren zugetraut hat, vom Duktus der dekonstruktionistischen Nietzsche-Deutung fundamental abzuweichen, ist diejenige von Jean GranierUi. Granier will in der komplexen Widersprüchlichkeit des nietzscheschen Denkens 169 eine Einheit inhaltlicher Art ausfindig machen, die sich weder als reine Verwirklichung der „écriture" noch als Ontologie der Differenz verstehen lässt. Zugleich ist diese Einheit etwas anderes als ein sich selbst repräsentierendes Prinzip von Wirklichkeit, als dessen Essenz Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht in der Deutung Martin Heideggers erscheint170. Auch bei Granier bleibt ein wichtiges Motiv der französischen Gegenwartsphilosophie wirksam, nämlich das einer prinzipiellen Spannung zwischen Intuition oder Intensität und sprachlich artikulierter Theorie, was zur Folge hat, dass nur solche Theorien philosophischen Rang beanspruchen

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Blick auf sich selbst die bis dahin unbekannten elementaren Triebkräfte allen Lebens entdeckt. Nietzsche antizipiert mit dieser Entdeckung die Psychoanalyse Freuds, verortet sie aber im Kontext einer allgemeinen „psychologie des créateurs" (354ff.), die er zu einem Konzept aristokratischer Erziehung („L education de l'élite", 393ff.) erweitert. In der Anm. 249 des vorliegenden Buches findet man Hinweise auf die italienische Beleuchtung des Themas Nietzsche und die Psychoanalyse. Für seine Aufnahme in der angelsächsischen Diskussion vgl. im vorliegenden Band S. 223ff. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 83f. mit Anm. 202. Jean Granier, Le problème de la vérité dans la philosophie de Nietzsche, Paris 1966. Für eine Kurzfassung vgl. ders., Nietzsche et la question de l'être (I). Revue philosophique de la France et de l'étranger 95 (1970), 407—422, ders., Nietzsche et la question de l'être (II). Revue philosophique de la France et de l'étranger 96 (1971), 261-296, und ders., La pensée nietzschéenne du chaos. Revue de métaphysique et de morale 76 (1971), 129—166. Die These von der inneren Widersprüchlichkeit Nietzsches übernimmt Granier von Karl Jaspers, dessen Nietzsche-Interpretationen schon zu Beginn der 50er Jahre ins Französische übersetzt worden sind. Vgl. im vorliegenden Buch Anm. 34. Für den durchaus kritischen Bezug Graniers auf Jaspers vgl. Granier, Le problème de la vérité Uff., insbes. 25ff. Für Graniers Auseinandersetzung mit Heidegger vgl. vor allem Le problème de la vérité, 611-628: Appendice. L'interprétation de Martin Heidegger: exposé critique. Für andere pointiert antiheideggerianische Lesarten von Nietzsches Uberwindung der Metaphysik vgl. die Hinweise auf François Laruelle (vorliegender Band S. 65ff.), Alain Juranville (vorliegender Band S. 77) und Michel Haar (vorliegender Band S. 80ff.).

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können, die auf eine ihnen grundsätzlich überlegene Intuition verweisen. Auch für Granier hat Nietzsches Philosophie ihren Ausgangspunkt in „intuitions ontologiques". Sie prägen bereits das Frühwerk und entfalten ihre Wirkungsmacht in einer Reflexion, die in der späten Philosophie des Willens zur Macht ihren Abschluss findet 171 . Mit der Lehre vom Willen zur Macht befreit Nietzsche die auch für ihn verbindliche Frage nach dem Sein vom „Joch" der Willensmetaphysik Schopenhauers und damit zugleich von den methodischen Schwierigkeiten, die unter dualistischen Vorzeichen in der bisherigen metaphysischen Tradition mit dem Konzept der Reflexion auf ein Prinzip oder auf einen ersten Grund aller Wirklichkeit verbunden gewesen sind. Die Lehre vom Willen zur Macht ist deshalb auch etwas anderes als eine bloß formale ,Umdrehung' des Piatonismus, bei der das Werden anstelle des Seins die Funktion eines ersten Prinzips aller Wirklichkeit übernähme. Sie artikuliert vielmehr die von der bisherigen metaphysischen Tradition abweichende ontologische Primärerfahrung einer „vielfältigen, in sich nuancierten Flüssigkeit des Werdens" („fluidité multiforme et nuancée du devenir", 43), die innerhalb der vom Piatonismus geprägten Metaphysik des Seins als dem ungewordenen Grund des Werdens nicht hat zum Tragen kommen können. Erst die Konzentration auf die Erfahrung radikalen, nicht mehr von einem Prinzip der Identität domestizierbaren Werdens befähigt Nietzsche dazu, die zuvor bereits von Hegel gewonnene Einsicht in die „vermittelnde Funktion des Widerspruchs" (47) und in ihre schöpferische Negativität zu einer Ontologie des in sich vielfältigen Werdens zu radikalisieren (50) 172 . Nietzsche unterminiert mit seiner neuen

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Für die ontologische Orientierung seines Deutungsansatzes beruft sich Granier auf die These der marxistisch inspirierten Nietzsche-Deutung Henri Lefebvres: „Nietzsche n'a pas eu plusieurs systèmes ni plusieurs périodes distincts, parce qu'il n'a eu q u ' u n problème unique: être!" (Henri Lefebvre, Nietzsche, Paris 1939, 57, zitiert nach Granier, Le problème de la vérité 20, A n m . 1). Lefebvre betont als Marxist die Bedeutung Nietzsches für die Kultivierung der ästhetischen Dimension des Lebens. Vgl. ders., Hegel — Marx — Nietzsche ou le royaume des ombres, Paris 1975. Z u r Nietzsche-Deutung Lefebvres vgl. Le Rider, Nietzsche in Frankreich, 133f. Granier (Leproblème de la vérité, 46, A n m . 3) distanziert sich von der anti-hegelianischen Nietzsche-Deutung bei Gilles Deleuze, indem er zeigt, dass zentrale Motive im Denken nicht nur des frühen, sondern auch des späteren Nietzsche (Selbstaufhebung der Moral, Sublimierung u n d Selbstüberwindung des Willens zur Macht) dem dialektischen Konzept der „Aufhebung" im Sinne Hegels verpflichtet bleiben. Der Autor folgt darin Angèle Kremer-Marietti, Thèmes et structures dans l'œuvre de Nietzsche, Paris 1957, u n d dies., Hegel et Nietzsche. Quinze années d'études nietzschéennes en France. Revue des lettres modernes, N r . 7 6 - 7 7 , Paris 1962—63, 1 7 - 2 4 . Andere Formen einer vorsichtig hegelianisierenden Nietzsche-Deutung sind schon bei Bernard Pautrat u n d Derrida thematisiert worden (vgl. dazu im vorliegenden Band S. 52 mit A n m . 132). Angèle Kremer-Marietti, die auch als Ubesetzerin nietzschescher Texte hervorgetreten ist (vgl. dazu Le Rider, Nietzsche in Frankreich, 153fl, A n m . 3), nähert sich seit den 70er Jahren stärker dem von Deleuze, Foucault u n d Derrida vorgegebenen D u k t u s der Nietzsche-Interpretation, ohne deren Extrempositionen zu übernehmen. In ihrem früheren Werk: L'homme et ses labyrinthes. Essai sur Friedrich Nietzsche, Paris 1972, versteht sie Nietzsches Philosophie als Suche nach der in sich ambivalenten „vérité radicale" (12) des menschlichen u n d zugleich des kosmischen Lebens. Sie kann nicht szientifisch, sondern nur archäologisch-genealogisch umschrieben werden, so dass

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Ontologie den metaphysischen Dualismus von Sein und Werden 1 7 3 . Zugleich distanziert er sich vom hegelschen Konzept des absoluten Wissens, indem er zeigt, dass die „explosive Macht der vermittelnden Negativität" dem Sein eine Größe zuerkennt, die sich auf die Ebene des begrifflichen Denkens nicht transponieren lässt. Die innere Widersprüchlichkeit der nietzscheschen Philosophie ist deshalb für Granier Folge und Ausdruck der permanenten „Selbstüberwindung" eines Denkens, das von sich weiß, dass es sich nur im Element des Widerspruchs dem änigmatischen Charakter des Seins zu öffnen vermag (52). Die Bewegung des von Nietzsche praktizierten Denkens reagiert in der Aktivität des künstlerischen Spiels auf die originäre Erfahrung einer essenziellen „duplicité de l'être", die sie dadurch wahren will, dass sie sich ihr in einer Vielfalt heterogener Sichtweisen und Deutungsperspektiven annähert (28f.) 174 . Nietzsches „réflexion ontologique" (304) erschließt ein in sich ambivalentes Sein. Es kommt dem Denken entgegen wie ein moderner literarischer Text, der seine Bedeutung im Prozess seiner Artikulation ständig modifiziert (316) 175 . „Sein"

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diese in sich komplexe Wahrheit nur in der perspektivischen Brechung durch die unendliche Vielfalt von Gestalten gelebter Wirklichkeit zu erfahren ist (18). Nietzsche verdeutlicht die „vérité radicale" des Lebens durch das reiche Symbolfeld Dionysos-Ariadne-Minotauros-Labyrinth, so dass diese Wahrheit als „la structure Dionysos" zu bezeichnen ist (298). Sie ist der Struktur nach mit Freuds Dimension des Unbewussten zu vergleichen, die in der Region des Bewusstseins nur indirekt gegenwärtig werden kann. Für die Interpretation des dionysischen Metaphernfeldes werden auch Arbeiten deutschsprachiger Autoren wie Karl Jaspers (Nietzsche. E i n f ü h r u n g in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1936), Eugen Fink (Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960) u n d Eckhart Heftrich {Nietzsches Philosophie. Identität von Welt u n d Nichts, Frankfurt am M a i n 1962) berücksichtigt. Dabei wird Nietzsches dionysischer Wahrheitsbegriff gegen Heideggers technizistische D e u t u n g als Form kreativer Aktivität u n d existenzieller, in sich unbestimmter Selbstüberschreitung interpretiert, die zugleich etwas Komplexeres darstellt als den in sich einfachen „élan vital" im Sinne Bergons. Nietzsche verlässt mit seinem Wahrheitsbegriff den Denkhorizont des metaphysischen Prinzipiendenkens zugunsten einer „ontologie nouvelle" (298), der auf der praktischen Seite eine neuartige „manière de sentir et d'exister" entspricht (61). Seine Philosophie erscheint so insgesamt als eine Philosophie des Dionysischen, die bereits in der Geburt der Tragödie deutlich artikuliert ist u n d in der späten Lehre vom Willen zur Macht ihre definitive Gestalt erhält. Sachlich fragwürdig sind die Versuche der Autorin, das dionysisch besetzte Metaphernfeld Nietzsches mit Gestalten der germanisch-wagnerianischen Mythologie in Verbindung zu bringen. In ihrem Buch Nietzsche et la rhétorique, Paris 1992, charakterisiert Angèle Kremer-Marietti den Wahrheitsbegriff Nietzsches als originär rhetorisch, hermeneutisch, poetisch u n d anti-metaphysisch. Er steht in Verbindung mit dem Unbewussten der menschlichen Seele, näherhin mit ihrer elementaren Fähigkeit zur W a h r n e h m u n g des Tragischen, für deren D e u t u n g sich die Autorin hauptsächlich an Carl Gustav J u n g orientiert. Eine freundlich-kritische Auseinandersetzung mit dem Nietzsche-Buch Jean Graniers leistet Angèle Kremer-Marietti in ihrem Beitrag: Nietzsche et la véritée. Revue de métaphysique et de morale 72 (1967), 486—496. Vgl. dazu Angèle Kremer-Marietti, Nietzsche par - delà les dualismes. Revue philosophique de la France et de l'etranger 96 (1971), 361—375. Vgl. dazu Granier, Le problème de la vérité, 532ff. Granier, Le problème de la vérité, 316: „II (sc. L'Être) est, comme conte Kafka, cet étrange message dont la signification se modifie et s'altère au fur et à mesure qu'il est crié, L'Être, pour Nietzsche, n'est pas la pleine lumière du sens, mais un frémissement de sens, une série d'allusions

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ist als Text an sich selbst schon Interpretation, die ihrerseits nur im M e d i u m einer anderen Interpretation als solche erfahrbar wird. Für die Lektüre eines derartig irritierenden Textes entwickelt Nietzsche Prinzipien einer „philologie rigoureuse" (321), die weder skeptizistisch jeden Anspruch auf inhaltliche Bedeutung aufgibt noch dogmatisch auf einem singulären, in sich eindeutigen und vollständigen Sinn besteht (323). Neben der literarischen Texterfahrung wird vor allem die menschliche Leiberfahrung zum Leitfaden für Nietzsches Interpretation des Seins. Die Selbsterfahrung des lebendigen Organismus erschließt ein Sein, das keine stabile Hierarchie zwischen Teilen, sondern lediglich eine gleichsam politisch-wettkämpferische Beziehung zwischen vielfältigen Funktionen aufweist. Die Leiberfahrung übergreift die triviale Dimension der Privatempfindung, so dass der für sie konstitutive „flux du devenir" zugleich als das Allgemeine einer Struktur, nämlich als Wille zur Macht und als ewige Wiederkehr des Gleichen charakterisiert werden kann. Nietzsches dynamisch-pluralistische Ontologie will keineswegs den Begriff der Einheit unterlaufen. Sie arbeitet allerdings mit dem Begriff einer sich selbst modifizierenden Einheit in (und nicht jenseits) der Mannigfaltigkeit agonal aufeinander bezogener Funktionen 1 7 6 . Nietzsches neue Ontologie distanziert sich damit vom traditionellen Gedanken der ontologischen Differenz, nach dem das Sein des Einheitsgrundes aller Wirklichkeit qualitativ gegenüber dem Sein der von ihm generierten Mannigfaltigkeit auszeichnet wird. Der in sich plurale Einheitsbegriff, den Nietzsche in der Lehre vom Willen zur Macht entfaltet, führt ihn zum vorplatonischen Denken zurück, das seinen exemplarischen Ausdruck bei Hesiod und Heraklit gefunden hat (36l£). Aufgrund seiner agonal-pluralen Einheitsform artikuliert sich die innere Struktur des Willens zur Macht in einem Prozess unabschließbarer Selbstüberwindung. Nietzsche thematisiert die Gesetzmäßigkeit dieses Prozesses schon in der Geburt der Tragödie, und zwar im Begriff der „Duplicitaet" des Apollinischen und des Dionysischen 1 7 7 . Sein beruht für Nietz-

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discrètes, un phénomène expressif. Das ursprünglich französische, an Reflexionen Maurice Blanchots anknüpfende Thema von der bei Nietzsche artikulierten Parallelität zwischen moderner Text- und Realitätserfahrung wird in der amerikanischen Nietzsche-Diskussion am entschiedensten von Alexander Nehamas aufgenommen. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 178ff, Unter dem Aspekt des Nietzsche unterstellten Begriffs von Einheit sind Graniers Ausführungen durchaus mit denen von Gilles Deleuze vergleichbar. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 16ff. Granier orientiert sich für die Einsicht in die Selbstüberwindungsstruktur des Willens zur Macht an Walter Arthur Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist, New Jersey, Princeton University Press, 1950, und an der These von Joan Stambaugh, nach der Nietzsche bereits in der Geburt der Tragödie eine Form der Macht thematisiert, die sich dadurch erhält, „daß sie eine neue, sich selbst spiegelnde Macht immer wieder aus sich gebiert. Hier zeigt sich am deutlichsten Nietzsches frühes Verständnis der Struktur, die später zum Willen zur Macht entwickelt wird" (Joan Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, Den Haag 1959, 16, zitiert Granier, Le problème de la vérité, 432, Anm. 4). Die Arbeit von Joan Stambaugh ist in Freiburg bei Eugen Fink entstanden, von dessen Wirkung auf die französische Nietzsche-Rezeption schon in Anm. 34 des vorliegenden Bandes die Rede war. In ihren späteren Arbeiten, die im vorliegenden

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I Nietzsche in Frankreich

sehe auf einem Prinzip absoluter Unruhe (413). Es generiert die ewige Wiederkehr eines einzigartigen dynamischen Prozesses, der im Kern als Wille zur Selbstüberwindung zu bestimmen ist (432f.). Aus der agonalen Gegensätzlichkeit des Apollinischen und des Dionysischen macht Nietzsche die Genese des „schlechten Bewusstseins" verständlich. Es entsteht als Folge einer Aufspaltung dieser ursprünglichen Duplizität in zwei voneinander unabhängige Größen, die sich gegenseitig moralisch negativ bewerten und dadurch bekämpfen. Die Aufspaltung zwischen dionysischen und apollinischen Funktionen des Willens zur Macht führt auf der Ebene der menschlichen Psyche zu einem Konflikt zwischen Leben und Geist (436). Subjektive Verinnerlichung und moralische Bewertung unterschiedlicher Formen des Willens zur Macht erzeugen aber nicht nur Krankheitsphänomene wie das Ressentiment oder den Willen zum Nichts, sondern sie eröffnen ebenso die Möglichkeit eines ansonsten unerreichbaren Zuwachses an Macht 178 . Die Reflexion auf den Vorgang seiner Verinnerlichung, die ebenfalls einen Willen zur Macht darstellt, führt dazu, dass nur dem mehrfach in sich gebrochenen Willen zur Macht die Bedingungen nachvollziehbar sind, unter denen er im Sinne Zarathustras „der Erde treu" bleiben und seine in der Verinnerlichung zunächst verlorene „rectitude ontologique" wiedergewinnen kann. Die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen entwickelt ein Kriterium, das der Wille zur Macht sich gleichsam einverleiben muss, wenn er die ihm wesentlich eigene Struktur der Selbstüberwindung ohne moralisierende Restriktionen bejahen will. Die Dimension des reflexiven Wissens ist in Nietzsches Philosophie durch dieselbe Ambivalenz bestimmt wie der Wille zur Macht. Beide können zu einem „pragmatisme vital" verkommen, der die Welt, statt sie in ihrer dionysischen Potenz anzuerkennen, in regulierte Bereiche nützlicher Wahrheiten aufteilt. Wissen und Wille können den gesicherten Bereich lebenserleichternder Fiktionen aber auch verlassen und, indem sie sich der Regel der Selbstüberwindung unterwerfen, ihrem eigenen ontologischen Kern verbunden bleiben. Erst in der Abkehr von einer Interpretation des Seins, die ausschließlich den Bequemlichkeitsinteressen der Erhaltung oder der Erleichterung des Lebens folgt, gewinnen menschliches Wissen und Wollen die Tugend intellektueller Redlichkeit (501 f.) 179 . Sie befähigt

178

179

Band nicht eigens besprochen wurden, zeichnet Joan Stambaugh ein freundliches Bild von Nietzsches Denken als einer Philosophie lebendiger Intensität u n d der Befreiung von allen restriktiven Vorgaben des Lebens. Vgl. dazu das Literaturverzeichnis des vorliegenden Bandes S. 320. Granier kritisiert mit dieser These die einseitige Ableitung des „schlechten Bewusstseins" aus der Logik des Ressentiments bei Gilles Deleuze, vgl. Granier, Le problème de la vérité, 440, A n m . 1, verkennt dabei aber die innere Umkehrbarkeit der Logik, die bei Deleuze der Entstehung des Ressentiments zugrunde liegt. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 19ff. V o n diesem Gedanken aus versucht Granier {Le problème de la vérité, 30) eine Klärung des nietzscheschen Wahrheitsbegriffs, der schon v o m Titel her im Z e n t r u m seiner Arbeit steht. Danach wird „Wahrheit" von Nietzsche unterschiedlich verwendet. In kritischer Absicht wendet

Β Nietzsche als M e t a p h y s i k e r oder als Psychologe

75

zum heroischen Akt einer „conversion tragique", durch die sich der sokratische Mensch des vermeintlich gesicherten Wissens in einen übermenschlichen Abenteurer des Bewusstseins verwandelt (514f.), der seinem Willen zum Wissen auch dann folgt, wenn er dafür den Willen zur Erhaltung oder zur immanenten Verbesserung seines Lebens aufgeben muss. Er benötigt dann allerdings ein Gegengewicht zu seinem potenziell tödlichen Willen zum Wissen, nämlich einen ganz anders gearteten Willen zu Fiktion, Illusion und Kunst. Als Wille zur lebensstimulierenden Illusion widersetzt sich die Kunst nicht nur dem Terrorismus des Absoluten und des absoluten Wissens, den Nietzsche in der Metaphysik verkörpert sieht, sondern sie bändigt auch die ungehemmte Leidenschaft der „connaissance", die, bis zum Exzess gesteigert, sämtliche Formen des Lebens in die Bewegung unendlicher Negativität aufzulösen droht. Dabei tritt die Kunst nicht als das pure Gegenprinzip zum Wissen auf, sondern sie ist in der ihr eigenen „activité plastique" selber ein instinktiv oder intuitiv gegebenes Wissen, das von der Notwendigkeit perspektivischer Weltdeutung im Dienste des Lebens überzeugt ist. Kunst begründet eine Kultur des Maßes im Sinne des wettkämpferischen Ausgleichs zwischen den beiden gegensätzlichen Funktionen des einen Willens zur Macht, nämlich dem Willen zu lebensdienlicher Selbstbeschränkung und dem Willen zu einem Wissen, das bereit ist, für seine vollständige Entfaltung den Preis radikaler Selbstzerstörung zu bezahlen (531). Vonseiten der Dekonstruktionisten ist Graniers Nietzsche-Deutung als Rückfall in ontologisches Denken kritisiert worden 180 . In der Tat erschließt Nietzsches Philosophie nach Granier mit dem Willen zur Macht die „vérité originaire" des Lebens 181 . Ihre Wahrheit ist nach Granier aber nicht primär diejenige einer theo-

1811 181

er sich gegen die „pseudo-vérité métaphysique", die auf eine moralische Interpretation des Daseins u n d damit auf einen für das Leben selber schädlichen Irrtum hinausläuft. Daneben kennt Nietzsche eine positiv eingeschätzte „véritépragmatique'' solcher Wertsetzungen, die sich aufgrund ihrer praktischen Bedeutung als für das Leben selber nützliche Irrtümer erweisen. Davon unterschieden wird die bereits erwähnte „vérité originaire" des Lebens. Sie erscheint im agonalen Spiel zwischen Kunst u n d Wahrheit, das in der „duplicité de l'Être" selber fundiert ist (30). N u r aus der Perspektive dieses dritten Wahrheitsbegriffs kann der Wahrheitsbegriff der Metaphysik kritisiert werden, u n d nur aus seiner Perspektive ist es möglich, den besonderen, in sich begrenzten Wert des zweiten Wahrheitsbegriffs einzuschätzen. Der dritte Wahrheitsbegriff ist nicht korrespondenztheoretisch fundiert, sondern er erweist sich als perspektivischer Ausdruck des Lebens als Ambivalenz von Sein u n d Interpretation, von der aus die binäre Differenz zwischen Wahrheit u n d Irrtum zugunsten verschiedener Abstufungen der Scheinbarkeit verschwindet. Vgl. Kofman, Nietzsche et la métaphore, Appendice: Généalogie, interprétation, texte, 175ff. Vgl. Granier, Le problème de la vérité, 30. Sarah Kofman, Nietzsche et la métaphore, 202ff., bestreitet den absoluten Rang der Selbstüberwindungsstruktur, die Granier so intensiv in den Willen zur Macht eingezeichnet hat, dass der sich unendlich überwindende Wille an so etwas wie den Kern der Welt heranreicht. N o c h der vollkommenste, übermenschliche Wille zur Macht unterliegt für Nietzsche nach Kofman dem Gesetz des Perspektivismus, so dass es ihm versagt bleibt, sich in eine originäre Wahrheitsgestalt des Seins zu verwandeln (Kofman, Nietzsche et la métaphore, 188ff. u n d 205f.). Insofern ist es unangemessen, Nietzsches Philosophie als Artikulation einer „vérité originaire" des Lebens verstehen zu wollen.

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I Nietzsche in Frankreich

retischen Aussage, sondern diejenige einer Einstellung, die auf einer intuitiven, begrifflich nicht eindeutig explizierbaren Erfahrung des reinen Werdens beruht. Letztlich bleibt der Wahrheitsanspruch der Lehre vom Willen zur Macht in methodischer Hinsicht unklar. Granier charakterisiert ihn als die Wahrheit einer nachmetaphysischen Metaphilosophie, die als „Interpretation zweiten Grades" keine direkten Aussagen über Eigenschaften oder Grundzüge eines ihr vorgegebenen Seins formuliert. Sie markiert lediglich eine Position, die als solche prinzipiell dem unbestimmbaren Prozess der Selbstüberwindung ausgesetzt bleibt, so dass es von ihr aus möglich wird, naiv-dogmatische Wahrheitsansprüche durch den Nachweis ihres perspektivischen Charakters zurückzuweisen (607). Graniers Nietzsche-Deutung bleibt einer Ambivalenz zwischen den Leitbegriffen

Interpretation

und Intuition

ausgesetzt182. Sätze, die dem Leitbegriff der

Interpre-

tation zugeordnet sind, werden an zentralen Stellen mit ontologisch-intuitiven Bedeutungen aufgeladen, weil Granier offensichtlich keine andere Möglichkeit sieht, Nietzsches Interpretationsphilosophie vor dem Vorwurf des Skeptizismus in Schutz zu nehmen. So bleibt letztlich undeutlich, wie und ob der Anspruch Nietzsches auf so etwas wie Wahrheit methodisch überhaupt begründet werden kann 1 8 3 . Dennoch gibt Granier mit seiner Charakterisierung des Willens zur Macht als ontologischer Struktur eines Prozesses der Selbstüberwindung wichtige Impulse für eine inhaltliche Deutung, die mehr in den Blick bekommen möchte als das Verfahren der nietzscheschen Schrift 184 .

b) Nietzsches Philosophie als Ontologie der Physis, der materialistischen Praxis oder der unerschöpflichen Erzeugung von Schein

Alain Juranville,

Yvon Quiniou, Michel Haar

Andere Versuche, mit einer neuen ontologischen Lesart Nietzsches zurechtzukommen, unternehmen Alain Juranville, Yvon Quiniou und vor allem Michel

182

183

184

Man könnte sagen, dass Granier die in seiner eigenen Interpretation ungeklärte Ambivalenz von Interpretation und Intuition auf Nietzsche projiziert. Seine Philosophie ist einerseits die phänomenalistisch-perspektivistische Umkehrung der „conception traditionelle de l'Être et du connaître" (306), nach der das Denken seine Wahrheit dadurch gewinnt, dass es am Sein partizipiert (313). Andererseits arbeitet Nietzsche mit einer „définition de la connaissance authentique", die sich nach Regeln einer philologisch korrekten Lektüre auf die Wahrheit eines vorgegebenen Textes bezieht (322). In der amerikanischen Nietzsche-Forschung wird das Problem einer methodischen Begründung für den Wahrheitsanspruch der nietzscheschen Philosophie insbesondere bei Bernd Magnus aufgenommen. Vgl. dazu im vorliegenden Band, S. 166ff. Großen Respekt verdient auch heute noch die gänzlich unambitionierte Gesamtdarstellung des nietzscheschen Denkens von Georges Morel, Nietzsche. Introduction à une première lecture, 3 Bde (I: Genèse d'une œuvre, II: Analyse et la maladie, III: Création et métamorphoses), Paris 1970/71. Sein Beitrag ist das Musterbeispiel für eine historisch sorgfältige Nietzsche-Interpretation.

Β Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe

77

Haar. Auch hier geht es darum, Nietzsches Position so zu verstehen, dass sie nicht der Kritik unterliegt, die Heidegger gegen sie formuliert hat. Alain Juranville konzentriert sich dafür auf das Dionysos-Symbol und auf die ihm zugeordnete Lehre von der Ewigen Wiederkunft. Nietzsches Philosophie erschließt sich ihm aus diesem Blickwinkel als Neuformulierung einer Theorie der „physis" im griechischaristotelischen Sinn 185 . Als Physiologie im Sinne der Vorsokratiker eröffnet sie den Zugang zu einer dionysischen Welt, die mit der Formel des Willens zur Macht umschrieben wird. Von ihr aus findet Nietzsche die normative Basis für eine Umwertung aller Werte, die den Nihilismus nicht nur individualistisch, sondern auch in seinen politisch-kulturellen Ausdrucksdimensionen überwindet. Der Wille zur Macht ist das naturhafte Prinzip der Assimilation fremder, zugleich aber auch ein Prinzip der Differenzierung und Hierarchisierung eigener Kraft. Er steht für die kreative Potenz allen Lebens, die sich nach Juranville in Nietzsches Philosophie zum ersten Mal in der Geschichte des europäischen Denkens vollständig zum Ausdruck bringt. Die von Nietzsche artikulierte Kraft der Lebensbejahung unterscheidet sich fundamental von der Bejahung technischer Produktivität, die Heidegger in Nietzsches Denken hineinprojiziert hat. Heidegger wird vorgeworfen, die dionysische Einfärbung sowie die mit ihr verbundene künstlerisch-kreative und musikalische Komponente der nietzscheschen Philosophie vollständig übersehen zu haben 186 . Demgegenüber nähert sich Yvon Quiniou Nietzsche aus der Perspektive einer marxistisch-materialistischen Ontologie, die unter dem Aspekt des für sie notwendigen Praxisbezugs an einer bestimmten Form von Ethik interessiert ist187. Nietz185 186

187

Alain Juranville, Physique de Nietzsche, Paris 1973. Für eine Annäherung an Nietzsches Philosophie aus der Perspektive seiner musikalischen Kompositionen und seiner musiktheoretischen Reflexionen vgl. Georges Liébert, Nietzsche et la musique, Paris 1995. Eine extrem metaphysische Deutung der Philosophie Nietzsches, die das erkenntnistheoretische Motiv des Perspektivismus und die Dimension methodischer Reflexivität weitgehend außer Betracht lässt, findet man bei Jean-François Mattéi. Er radikalisiert die Thesen Eugen Finks, der Nietzsches Philosophie als Ontologie des Spiels interpretiert hat (vgl. dazu vorliegender Band, Anm. 34). Nietzsches Denken überwindet für Mattéi die Dimension der Moderne und findet zurück zu einer zahlentheoretisch und metaphorisch konkretisierten Grundform platonisch-pythagoreischer Kosmologie. Vgl. Jean-François Mattéi, L'étranger et le simulacre. Essai sur la fondation de l'ontologie platonicienne, Paris 1983, und ders., L'Ordre du monde. Platon - Nietzsche Heidegger, Paris 1989, darin vor allem: Nietzsche et l'étoile pythagoricienne, 73-95, zuerst in: Gaède (Hg.), Nietzsche, Hölderlin et la Grèce (1985), 65-82. Yvon Quiniou, Nietzsche ou l'impossible immoralisme. Lecture matérialiste, Paris 1993. Der Autor will die Marxismus-Debatte der Gegenwart von ihren theoretischen Verkrustungen befreien. Er neigt zu einem an Louis Althusser orientierten szientifìschen Marxismus, der seine anthropologisch-hegelianischen Motive hinter sich gelassen hat. Aus dieser Perspektive stellt sich Quiniou dem Problem der Moral, dessen Lösung er in Darwins nicht reduktionistisch-naturaler Deutung der moralischen Dimension des Lebens vorgebildet findet. Nietzsche ist die problemeröffnende Durchgangsstation für eine Zusammenführung von marxistischer Gesellschaftstheorie und darwinscher Lebensdeutung unter den spezifisch modernen Vorzeichen der Wissenschaftlichkeit und des Naturalismus.

78

I Nietzsche in Frankreich

sehe ist für Quiniou nicht der Theoretiker einer hermeneutisch oder transzendentalphilosophisch gefärbten Konstitution von Bedeutsamkeit und damit ebenso wenig der Ahnherr einer Philosophie perspektivischer Interpretation 188 . Er orientiert sich vielmehr an einem zu seiner Zeit avantgardistischen, aber auch heute noch zeitgemäßen Konzept empirischen Wissens, das er unter dem Titel „Wissenschaft" polemisch dem als Traumdenken kritisierten Konzept spekulativ-metaphysischer Philosophie entgegensetzt 189 . Nietzsches Philosophie ist im Kern materialistische Ontologie, die sich auf der Ebene methodischer Reflexion mit dem Denken von Marx, Darwin und Freud verbindet. Daran ändert auch die verbale Polemik nichts, die Nietzsche gegen materialistische Formen der Wirklichkeitsdeutung in der mechanischen Physik und in anderen Naturwissenschaften seiner Zeit formuliert hat. Sein Einwand gilt nicht ihrem materialistischen Ansatz, sondern der methodischen Orientierung am Konzept der Atomistik, die ihren Gegenstand auf definierbare und in sich einfache Minimalentitäten, seien sie nun materieller oder ideeller Natur, zurückführen will. Im Zentrum der Ontologie steht bei Nietzsche der Wille zur Macht, und in seinem Namen plädiert er für eine Renaturalisierung des Menschen. Mit dem Begriff des Willens wird aber unvermeidlich die Ebene der Intentionalität angesprochen, die aus der Position eines reduktiv verfahrenden Materialismus nicht angemessen thematisiert werden kann. Obwohl Nietzsche im Kern wie jeder Materialist mit einem von Quiniou nicht weiter geklärten korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff arbeitet, führt der Versuch, der intentionalen Ebene des Willens zur Macht gerecht zu werden, zu erkenntnistheoretischen Reflexionen, die leicht als Ansätze zu einer Theorie perspektivischer Interpretation missverstanden werden können. Auf der inhaltlichen Seite des für Nietzsche so zentralen Projekts einer Genealogie der Moral kommt eine strukturell vergleichbare Ambivalenz zum Tragen. Das Konzept der Genealogie folgt einerseits bewusst der neuzeitlichen Bewegung des wissenschaftlichen Denkens, die ihre Gegenstände verzeitlicht, historisiert und materialisiert. Von daher werden die Leitbegriffe der idealistischen Moral wie „Subjektivität", „Freiheit" und „Intention" (100)

188

Im deutschsprachigen R a u m haben vor allem Johann Figi (Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, B e r l i n / N e w York 1982), u n d G ü n t e r Abel (Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/ N e w York 1984) Nietzsche als Theoretiker einer Philosophie perspektivischer Interpretation vorgestellt. Vor allem bei Abel werden Anstrengungen zu einer Systematisierung der nietzscheschen Interpretationsphilosophie vorgenommen, die der französischen Diskussion vollständig fremd sind. Z u r Diskussion über Nietzsches möglichen Beitrag zu einer universalen Philosophie der Interpretation vgl. ferner die Hinweise auf Gianni Vattimo u n d Alan D. Schrift im vorliegenden Band S. 112ff. u n d S. 183ff.

189

Vgl. dazu Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches Dingen, Aph. 5, 12 und 13, KSA 2, 21, 3Iff.

1. V o n den ersten u n d letzten

Β Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe

79

kritisiert. Unter einem anderem Aspekt wird in Nietzsches genealogischer Kritik an der Moral jedoch selbst ein moralisches Motiv erkennbar. Nietzsche will keineswegs das Problem moralischer Normativität zum Verschwinden bringen, sondern er reformuliert es in einer physiologischen oder vitalistischen Sprache, um es in der gegenwärtigen, ganz vom Denken der Moderne geprägten Praxis besser zur Geltung bringen zu können. In dieser Sprache werden die traditionellen Normbegriffe „gut" und „böse" durch praxis- oder naturimmanente Normbegriffe wie „Vorteil" oder „Gesundheit" bzw. „Schaden" oder „Krankheit" ersetzt. M i t naturalisierten Normbegriffen soll das menschliche Denken und Handeln von den wissenschaftlich unhaltbar gewordenen Normen einer gegenüber dem Vollzug des natürlichen und gesellschaftlichen Lebens transzendenten Moralität befreit werden (220). Dabei wird jedoch im Unterschied zu naiven Fortschrittstheorien die Erfüllung dieser Perspektive so weit in die Zukunft verlegt, dass die eigene Gegenwart primär als das Zeitalter eines normativen Experimentierens des menschlichen Lebens mit sich selbst wahrgenommen werden kann. Auch eine Lebensform jenseits von Gut und Böse lässt sich nur durch einen moralisch qualifizierten Willen realisieren (221). Nietzsche entwirft zu diesem Zweck genuin moralischpraktische Konzepte wie die des übermenschlichen Lebens oder das einer vollkommenen, weil von der Einstellung des „amor fati" getragenen Realisierung des Willens zur Macht, die sich nur als Resultate einer ethisch qualifizierten Bewertung und Wertsetzung von Handlungs- und Lebenszusammenhängen verstehen lassen (223). Die für das Projekt der Genealogie charakteristische Unterscheidung zwischen theoretisch-materialistischer Reflexions- und praktisch-intentionaler Handlungsebene verweist auf Nietzsches doppelsinnige Deutung des Philosophen als „philosophe savant" und als „philosophe-moraliste". In seiner Rolle als Gesetzgeber der Zukunft kann der Philosoph das Problem der Normativität nicht umgehen, während er sich als „philosophe savant" so auf das Wirkliche des Wirklichen bezieht, dass er von Intentionen und Wertungen sowie von jeder anderen Form subjektiver Wünschbarkeit bewusst absieht. Referenzpunkt der materialistischen Ontologie Nietzsches ist die dem Leben selber immanente Bewegung, die als Wille zur Macht schon an sich selbst durch eine unaufhebbare Ambivalenz von Faktizität und Normativität geprägt ist. Nietzsches Ontologie entlässt deshalb aus sich eine mit ihr kompatible Theorie von Normativität, mit der qualitative Unterscheidungen in den Kontext eines natural gedeuteten Lebens eingeführt werden 1 9 0 . Danach realisiert die Bewegung des Lebens in sich bereits eine Spannung zwischen Sein

190

Quiniou spricht in diesem Zusammenhang von einem „idealistischen Element" in Nietzsches „vitalistischem Materialismus". Der idealistischen Bedeutungskomponente kommt jedoch nur die argumentationsstrategische Funktion zu, ein reduktionistisches Verständnis des Lebens als rein biologischer Positivität zu verhindern (269).

80

I Nietzsche in Frankreich

und Sollen 191 . Sie wird bei Nietzsche nicht zu einem ontologischen Dualismus ausgeformt, sondern sie gilt bei ihm als die Voraussetzung für seine Entdeckung der Autokreativität und Idealität des Lebens selbst. Sie erst ermöglicht die Grundlegung einer Ethik, die im Gegensatz zur Moral ihre Werte der internen Dynamik des Lebens selber entnimmt 192 . Letztlich aber kann der Raum freier Gestaltung, den Nietzsche im Kern des Lebens entdeckt hat und den er für sein eigenes Verständnis von Philosophie als Gesetzgebung für die Zukunft selber massiv in Anspruch nimmt, im Kontext eines ontologischen Monismus materialistischer Spielart nicht konsistent begründet werden (310). Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, der Nietzsches Philosophie bestimmt, beruht jedoch nicht auf einem individuellen Defekt, sondern verweist auf die immanenten Begründungsprobleme, von denen jede materialistische Philosophie im Kern betroffen ist - Probleme, die der Autor in der Evolutionstheorie Darwins allerdings befriedigender gelöst findet als bei Nietzsche, Marx und Freud 193 . Begrifflich schärfer als Juranville und Quiniou verfährt Michel Haar, der Nietzsches Verhältnis zur Metaphysik im Ausgang vom Begriff des Scheins interpretiert 194 . Die von Nietzsche bereits in der Geburt der Tragödie formulierte Apologie des Scheins überschreitet von vornherein den methodischen Rahmen der traditionellen Metaphysik. Ihr geht es nicht um die begriffliche Neubestimmung des ersten Prinzips alles Seienden, sondern um die Entdeckung einer sprachlich kaum artikulierbaren Bewegung der Sinn- und Bedeutungsproduktion, die als solche nicht auf eine vollständige Realisierung ihrer selbst ausgerichtet sein kann. Nietzsche bezeichnet sie im Spätwerk als den dionysisch qualifizierten Willen zur Macht 193 . Dieser ist weder der substanzielle Einheitsgrund der Wirklichkeit noch

191

192

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Vgl. die Hinweise Quinious auf Nietzsches „langage hypernormatiP und dessen Imperativische Form (304). Quiniou entnimmt die begriffliche Unterscheidung von Ethik und Moral der Spinoza-Deutung von Gilles Deleuze (Spinoza, philosophie pratique, Paris 1981). „Moral" setzt den Dualismus zwischen Natur und Freiheit voraus. Sie verpflichtet das Leben auf eine ihm gegenüber transzendente Norm des Guten, für deren Realisierung Freiheit gegenüber naturhaften Lebensimpulsen erforderlich ist. Die Normativität einer „Ethik" ist demgegenüber in der naturhaften Dimension des Lebens selber begründet. Sie ist nicht das Andere des Lebens im Sinne eines „autre réel", sondern eine besondere Form der Beziehung des Lebens auf sich selbst im Sinne eines „autre rapport au réel" (289). Vgl. Quiniou, Nietzsche ou l'impossible immoralisme, 318—327 („... De Nietzsche à Darwin: de l'explication factuelle à la réflexion morale"). Michel Haar, Nietzsche et la métaphysique, Paris 1993. Für eine frühere, skizzenhafte Vorformulierung seiner Nietzsche-Deutung vgl. ders., Nietzsche. Histoire de la philosophie. Encyclopédie de la Pléiade, Bd. 3, Paris 1974, 307-417. Im Namen einer unabschließbaren, diskontinuierlich verlaufenden Bewegung der Sinnproduktion formuliert Nietzsche seine Kritik an den grammatikalisch gegliederten Ausdrucksformen der Sprache, die der komplexen Dynamik des Willens zur Macht nicht gerecht werden können. Vgl.

Β Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe

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der Inbegriff einer Qualität des Guten, der das Seiende insgesamt als Einheit zusammenhält, sondern eine „unausschöpfbare Macht der Erzeugung von Schein", die sich ausschließlich auf Mächte der Negativität stützt, auf Veränderung, Pluralität, radikale Unordnung und Zerstörung 196 . Nietzsche kritisiert zusammen mit dem Identitätsdenken der Metaphysik den neuzeitlichen Begriff des autonomen, auf einen substanziellen Grund seiner Freiheit und Sittlichkeit bezogenen Subjekts 197 . Das Ich ist ein „moi pluriel", so dass sein Wille zur Macht überhaupt nicht, wie in Heideggers Deutung, als Instanz technischer Kalkulation und globaler Lebensplanung auftreten kann 1 9 8 . Das in sich vielfältige Ich ist vielmehr, wie Nietzsche im Kontext seiner theoretischen Lehre von der ewigen Wiederkehr und seines praktischen Begriffs vom Ubermenschen deutlich macht, in seiner eigenen Lebendigkeit offen für die dionysisch sanktionierte Macht der Natur. In der bejahenden Identifikation mit dem offenen Spiel von Ambivalenzen („amor fati"), das die Natur insgesamt bestimmt, findet das Subjekt zu einem Pathos tragischer Freude, dem nach Haar eine primär religiöse Bedeutung zukommt 1 9 9 . Die ekstatische Erfahrung intensiver Verbundenheit mit dem ambivalenten Spiel der W e l t bildet kein Pendant zum traditionell-platonischen Konzept einer Verähnlichung des Subjekts mit dem göttlichen Grund der Welt. Sie impliziert vielmehr immer auch ein Verfehlen des Dionysischen und eine Entfernung von ihm, das sich in seiner Macht sogar gegenüber dem „moi pluriel" als Inbegriff unerreichbarer Irregularität und Überkomplexität erweist. Haars Interpretation distanziert sich mit guten Gründen von der Deutung des dionysischen Grundes der W e l t als einer Instanz der Produktion von „Trugbildern" bei Gilles Deleuze, der auch Pierre Klossowski, Michel Foucault, Jacques Derrida und seine Schüler gefolgt sind. Hiergegen setzt Haar auf den Begriff des Scheins („apparence") und zeigt dabei, dass dessen Sinn aus Nietzschescher Perspektive verfehlt wird, wenn man ihn durch die Termini „simulacre" oder „dissimulation" übersetzt. Nietzsche formuliert keine Apologie für eine W e l t beliebiger Trugbilder. Sie erzeugt stattdessen ein verfeinertes Bewusstsein für die unendliche Mannigfaltigkeit lebendiger Wirklich-

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dazu Michel Haar, Nietzsche et la maladie du langage. Revue philosophique de la France et de l'étranger, 101 (1978), 403-417. Haar, Nietzsche et la métaphysique, 82. Vgl. dazu Michel Haar, La critique nietzschéenne de la subjectivité. Nietzsche-Studien 12 (1983), 80-110. Für Michel Haars Auseinandersetzung mit der Nietzsche-Interpretation Martin Heideggers vgl. ders., La physiologie de l'art: Nietzsche revu par Heidegger. lanicaud (Hg.), Nouvelles lectures de Nietzsche (1985), 70—80, jetzt auch in Michel Haar, La fracture de l'histoire. Douze essais sur Heidegger, Paris 1994, Kapitel 6, 143-155, vgl. dort auch die Kapitel 7: L'impensé ambivalent du surhomme (157—187) und 8: L'adversaire le plus intime (189-218). Diese Texte bilden den zweiten Teil des zitierten Buches, der dem Thema Le différend avec Nietzsche gewidmet ist. Für den Begriff tragischer Freude orientiert sich Haar an lohn Sallis. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 175f.

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I Nietzsche in Frankreich

keit, das nicht das beliebige Produkt einer subjektiven Fiktion darstellt, sondern auf die Wahrheit einer Natur verweist, die in ihrer dynamischen Diskontinuität als die Verkörperung und Gestaltwerdung einer dionysisch-göttlichen Potenz zu verstehen ist200.

21111

Das religiös konnotierte Symbol des Dionysischen hat zuvor bereits im Z e n t r u m der auch aus philosophischer Perspektive beachtlichen, wenn auch primär theologisch orientierten NietzscheD e u t u n g von Paul Valadier gestanden. In seinem H a u p t w e r k Nietzsche et la critique du christianisme, Paris 1974, wird d e m Begriff des Dionysischen sowohl ein erkenntnistheoretischer Sinn abgewonnen, der sich im Konzept des Perspektivismus Ausdruck verschafft, als auch eine ontologisch-theologische Bedeutung. Andere Lehren Nietzsches treten bei Valadier gegenüber dem Dionysos-Symbol in den Hintergrund. Dies gilt auch für die theologisch provozierende Lehre vom T o d e Gottes. Ihr wird ein authentischer, also in diesem Fall ein originär dionysischer Sinn unterstellt, den Valadier aus christlicher Sicht akzeptiert. Der T o d Gottes bedeutet die Befreiung zu einer perspektivisch-pluralistischen, also dionysischen Wirklichkeitswahrnehmung, die in der Uberwindung einseitig-egoistischer Interessen offen wird für die unendliche, göttlich sanktionierte Pluralität des Wirklichen. Nietzsches Kritik am Christentum hat die befreiende W i r k u n g eines Verständnisses der Welt als irreduzibler Vielfalt göttlicher Gestalten u n d Kräfte. Auch andere Arbeiten Valadiers (Essais sur la modernité. Nietzsche et Marx, Paris 1974, darin besonders: Nietzsche et le renversement de la morale, 103-121, ders., Jésus-Christ ou Dionysos. La foi chrétienne en confrontation avec Nietzsche, Paris 1979, u n d ders., Nietzsche l'athée de rigueur, Paris 1989) belegen das systematische Interesse des Autors an einem genuin dionysischen Verständnis des Christentums, das in den authentischen W o r t e n Jesu angelegt, aber im nachpaulinischen Christentum vergessen worden sein soll. Nietzsches dionysischer Atheismus wendet sich gegen die nachbiblische T r a d i t i o n des C h r i s t e n t u m s u n d verweist damit zurück auf eine Bedeutungsdimension, die bereits Jesus für seine Lehre in Anspruch genommen hatte. Für die theologische Nietzsche-Diskussion ist die z.T. kritisch gegen Valadier gerichtete, aber letztlich auf sein Konzept dionysischer Theodizee bezogen bleibende Arbeit von Georges Goedert, Nietzsche, critique des valeurs chrétiennes. Souffrance et compassion, Paris 1977, wichtig geworden. Für seine kritischen Vorbehalte gegen die Interpretationsmethode Valadiers vgl. Georges Goedert, Rezension von Paul Valadier, Nietzsche et la critique d u christianisme, Paris 1974. NietzscheStudien 5 (1976), 384-391. Nach Goedert ist Nietzsches Kritik am Christentum primär gegen Schopenhauers Mitleidsethik gerichtet u n d führt deshalb zu einer verzerrten W a h r n e h m u n g ihres Gegenstandes. Z u m Verhältnis Schopenhauer — Nietzsche vgl. ders., Nietzsche der Uberwinder Schopenhauers und des Mitleids, A m s t e r d a m / W ü r z b u r g 1988. In Absetzung von der tragischpessimistisch motivierten Mitleidsmoral Schopenhauers formuliert Nietzsche eine dionysische Theodizee aristokratisch-antidemokratischen Zuschnitts, in der die von Schopenhauer erschlossene, aber negativ bewertete Dimension des Leidens eine tragisch-optimistische Gegendeutung erfährt. Andere Ansätze zu einer theologischen Nietzsche-Deutung findet man bei Emmanuel Dièt (Nietzsche et les métamorphoses du divin, Paris 1972), Yves Ledure (Nietzsche et la religion de l'incroyance, Paris 1973) u n d bei dem von Derrida beeinflussten Theologen Jean-Luc Marion (Effondrement des idoles et l'affrontement du divin. Nietzsche. L'idole et la distance. Cinq études, Paris 1977, 49—112). Zur Geschichte der christlichen Nietzsche-Deutung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Yves Ledure, Lectures chrétiennes de Nietzsche. Maurras, Papini, Scheler, de Lubac, Marcel, Mounier, Paris 1984. Die von Valadier u n d Goedert begonnene Akzentuierung des theologischen Dionysismus bei Nietzsche findet ihre qualifizierte Fortsetzung bei Eric Blondel, dem der nächste Abschnitt der vorliegenden Darstellung gewidmet ist.

Β Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe

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c) Nietzsche als Metaphysiker dionysischer Kultur Eric Blondel, Patrick Wetting Gegen eine forciert linguistische Nietzsche-Deutung im Sinne der DerridaSchule hat kaum jemand entschiedener polemisiert als Eric BlondelF01. Die Schreibweise Nietzsches, die auch in seiner Interpretation von Anfang an besondere Beachtung gefunden hat202, inszeniert für Blondel kein selbstreferenzielles Spiel von Bedeutungsverschiebungen, sondern verweist auf eine exzeptionelle kulturschöpferische Absicht, die der Form des sprachlichen Ausdrucks vorausliegt. Nietzsches „texte" ist kein in sich geschlossener „discours", sondern realisiert eine spontane „Bewegung der Vervielfältigung". Hinter ihr steht als Motor eine Arbeit, die ihre interne Gesetzmäßigkeit in der „imaginären, einigend vervielfältigenden Ordnung der Metapher" zum Ausdruck bringt. Der metaphorischen Arbeit Nietzsches liegt „ein Schema" zugrunde, das es ihm erlaubt, „die vielfältige Einheit des Sen-

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Seine Kritik an der strukturalistischen Nietzsche-Deutung formuliert Blondel bereits in Nietzsche·. „Le cinquième ,Evangile' "?, Paris 1980, das inhaltlich an die von Valadier (vgl. die vorangehende Fußnote) herausgestellten dionysischen Motive Nietzsches anknüpft. Auch Blondel geht es um Nietzsches Entdeckung eines inhaltlichen Freiheitskonzepts, das in der Opposition Jesu gegen die mosaische Gesetzesreligion antizipiert sein soll. Für Blondeis explizite Kritik an der NietzscheDeutung des französischen Strukturalismus vgl. dessen ζ. T. polemisch-plakativen Artikel: Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für das Verständnis Nietzsches. Nietzsche und der französische Strukturalismus. Nietzsche Studien 10/11 (1981/82), 518-537. Das inhaltliche Interesse an Nietzsches Freiheitsbegriff wird präzisiert in Eric Blondel, Nietzsche, le corps et la culture. La philosophie comme généalogie philologique, Paris 1986. Im Folgenden chrarakterisiere ich die Position des Autors im Ausgang von dieser Arbeit. Vgl. Eric Blondel, Nietzsche: la vie et la métaphore. Revue philosophique de la France et de l'étranger 94 (1971), 315-345. Blondel konzentriert sich auf Motive des nietzscheschen Denkens, die in anderer Beleuchtung auch im Zentrum der von Deleuze, Klossowski und Derrida inspirierten Nietzsche-Deutung stehen. Das Thema ist Nietzsches „choix délibéré de la polysémie métaphorique contre la neutralité conceptuelle" (316). Nietzsches metaphorische Schrift vergegenwärtigt den „refoulement originaire" (318, vgl. ebd. „rupture originaire"), der wie Freuds „ U r v e r d r ä n g u n g (319) die instinktregulierte Einheit des Leibes zerstört und darin die Kultur als Realität einer originären Verschiebung instinktiver Kräfte begründet („Γoriginaire méta-phore ... instituant la culture", 318). Die Kultur wird getragen von der gleichsam mütterlichen „vita femina", die sich als Instanz von Produktivität und Selbstüberwindung von der väterlich-männlichen Realität des Körpers und seinen elementaren Triebimpulsen abwendet. Das Leben in der Kultur ist deshalb dasjenige eines „,Œdipe' originaire" (323). Der Vatermörder Odipus muss das Rätsel der Sphinx (Natur) lösen und sich mit seiner Mutter (Kultur) verbinden, um als „philosophe dionysiaque" (329) den „conflit tragique" des Lebens (Natur-Kultur) (333) verstehend bewältigen zu können. Er wird so zum Träger einer übermenschlichen Macht der Duplizität des Dionysischen und des Apollinischen, die er fur eine weitere „Verschiebung" der ihn zuvor dominierenden „méta-phore" mütterlich-weiblicher Kultur ausnutzt. Das von Blondel aufgestellte Theater der Metaphern sollte nicht als unverbindliches Spiel, sondern als konzeptioneller Gegenentwurf zum metaphorischen Theater der Dekonstruktion wahrgenommen werden. Zum Thema der Sprache Nietzsches vgl. ferner: ders., Les guillemets de Nietzsche. Philologie et généalogie. Nietzsche aujourd'hui? (1973), II, 153-178, ders., Nietzsche's Style of Affirmation. The Metaphors of Genealogy. Yirmiyahu Yovel (Hg.), Nietzsche as Affirmative Thinker. Papers Presented at the Fifth Jerusalem Philosophical Encounter, April 1983, Dordrecht/Boston 1986, 132-146.

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I Nietzsche in Frankreich

siblen und Intelligiblen" bzw. „von Körper und Geist zu denken" und so der plurivalenten Realität des Lebens gerecht zu werden 203 . Das Schema metaphorischer Produktion markiert den transzendentalen Ausgangspunkt für den Zugang zu einem Grund des Lebens, der sich in seiner Uberfülle jedem identifizierenden Zugriff entzieht. Nietzsche benennt ihn mit der Formel des Willens zur Macht. Sie bezeichnet von ihrer eigenen Intention her keine definierbare Entität, sondern die dynamische Wirklichkeit beständiger Selbstüberwindung („dépassement de soi", 46). Die interne Vielfalt und essenzielle Metaphorizität des Sprechens über den Willen zur Macht erzeugt weitere Erscheinungsformen des Willens zur Macht, so dass auch die Sprache über ihn nichts anderes als eine in sich unabschließbare Aktivität der „Selbstüberwindung" verwirklichen kann. In erkenntnistheoretischer Hinsicht wird das plurivalente Darstellungsverfahren des Willens zur Macht vom Konzept einer „Genealogie" des „Willens zur Macht" getragen. Dabei werden einerseits traditionelle Deutungsverfahren der Philologie und der Physiologie aktiviert, andererseits aber auch der neuartige und methodisch riskante Versuch unternommen, gegebene Phänomene einer Kultur als verschiedene Zustände des Willens zur Macht zu entziffern, sie diagnostisch zu bewerten und therapeutisch zu beeinflussen. Ziel der genealogischen Analyse ist die Gesundung des Willens zur Macht. Sie bestünde in einer vollständigen Befreiung von jeder Verengung, die allerdings so angesetzt wird, dass sie ihre lebensweltliche Basis erst in einer transmoralischen und daher als übermenschlich zu bezeichnenden Kultur der Zukunft finden kann (170ff.). Nietzsche ist für Blondel primär ein Theoretiker und Kritiker der Kultur. Eine genuin philosophische Position gewinnt sein Denken erst in der Reflexion auf den Wissensanspruch, der mit seiner kulturschöpferischen Intention verbunden ist. Wenn ein „Zugang zum Leben" (117) nur über Zeichen möglich ist, dann kann das, was lebendige Wirklichkeit ist, niemals intuitiv, sondern nur aus der Perspektive von transzendentalen Prinzipien erfahren werden. In seinen philologischgenealogischen Analysen vorgegebener Lebensformen will Nietzsche diese Prinzipien freilegen. Dabei werden kulturelle Phänomene wie Zeichenensembles gelesen und als Erscheinungen eines dem Denken unzugänglichen An-sich des Lebens interpretiert, das seinen Ort nur im lebendigen Körper finden kann, der aus sich heraus ebenfalls nur im Modus interpretationsbedürftiger, weil grundsätzlich kulturell vermittelter Zeichen auf den Grund seines und allen organischen Lebens verweist.

2113

Blondel, Nietzsche, le corps et la culture, 36. D u r c h die Absicht, die plurivalente Realität des Lebens unverkürzt z u m Ausdruck zu bringen, ist Nietzsche nach Blondel inhaltlich dem diagnostischtherapeutischen Interesse der Psychoanalyse Freuds verbunden. Blondeis eigene Position ließe sich als die eines christlich-dionysisch gefärbten Freudianismus charakterisieren, dem allerdings die für Nietzsche charakteristische pessimistisch-tragische, ja sogar jede skeptische K o m p o n e n t e fehlt.

Β Nietzsche als M e t a p h y s i k e r oder als Psychologe

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Nietzsche differenziert die philologischen und physiologischen Erkenntnisformen seiner Genealogie durch Methoden des musikalischen Zuhörens, des medizinischen Auskultierens und des taktilen Abtastens. Sie werden ergänzt durch eine dem Methodenarsenal der Philologie entnommene Gegenbewegung von Treue und Misstrauen gegenüber einem vorgegebenen Text, ohne dass eine dieser Methoden als „science directe" des Willens zur Macht auftreten könnte (193). Für Blondel vollendet Nietzsche in seinem Konzept der Genealogie die Reflexionsdimension der neuzeitlichen Transzendentalphilosophie. Der wissende Zugang zum Grund aller Wirklichkeit bleibt für ihn an ein transzendentales Prinzip gebunden, das sich ihm in formaler Hinsicht als Antinomie zwischen den beiden gegensätzlichen Denkbewegungen von Reduktion und Überschreitung darstellt (196). Obwohl Nietzsche in reflektierter Form den Begriff einer „essence rationelle du monde" aufgibt, formuliert er den ontologisch gemeinten Satz: „Das Sein ist Wille zur Macht" (205). Er nimmt damit nicht die zuvor gewonnene Einsicht in die Unmöglichkeit eines rationalen Diskurses über den Grund des Seienden zurück. Vielmehr bildet dieser Satz die Komponente eines in seiner philosophischen Bedeutung schwer einzuschätzenden metaphysischen Gegen-Diskurses, der zwischen einer „unheilbaren Auflösung des Textes in ,non-sens'" (36) und einem „discours ... supermétaphysique" oszilliert (42). Die Lehre vom Willen zur Macht vermeidet so die Grenzwerte einseitiger metaphysischer Festlegung und einseitiger Auflösung jeder konkreten Bedeutung. Sie steht weder für ein empiristisches oder biologistisches Prinzip des Lebens noch für ein gehaltloses Spiel sich wechselseitig substituierender Zeichen. Wie Granier ist auch Blondel der Auffassung, dass Nietzsche eine philosophisch zureichende Statusbestimmung seines eigenen Wissensanspruchs misslingt. Sein Text kann nach der Regel des Perspektivismus keinen locus veritatis aufbauen. Dennoch will sich Nietzsche dem Grund der Natur wenigstens insoweit annähern, dass seine kulturkritischen und -schöpferischen Absichten die Charaktere subjektiver Anmaßung und individueller Gewaltsamkeit verlieren. Weil Nietzsche eine klare Selbstdeutung des eigenen Wissensanspruchs letztlich verfehlt, ist die von ihm intendierte „subversion" der gesamten Philosophie nicht davor gefeit, ihrerseits als „letzte Philosophie, als Archimetaphysik" (43) oder als irrationaler „Mystizismus des Lebens" (209) aufzutreten und missverstanden zu werden 204 . Blondels Nietzsche-Deutung wird von seinem Schüler Patrick Wotling auf hohem Niveau selbständig weitergeführt 205 . Auch er arbeitet die grundsätzliche Metaphorizität der Sprache Nietzsches heraus. Sie exponiert wie bei Blondel eine umfassen2114

Für eine Nietzsche-Deutung, die das „hors de texte" Nietzsches nach meiner Uberzeugung angemessener versteht, vgl. die Hinweise auf Gianni Vattimo (vorliegender Band S. 112ff.) u n d Ferruccio Masini (vorliegender Band S. 123f£). 205 Patrick Wotling, Nietzsche et la problème de la civilisation, Paris 1995.

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I Nietzsche in Frankreich

de Theorie und Kritik der Kultur, ohne dabei in die von Granier und Blondel herausgestellte Falle eines erkenntnistheoretischen Paradoxons zu geraten. Nietzsche entgeht ihr aufgrund einer Konzentration auf die methodologische Leitmetapher der Philologie, die ihn vor allem in Jenseits von Gut und Böse zu einer methodisch durchreflektierten Einführung der Lehre vom Willen zur Macht befähigt. Wenn die Bewegung des Lebens nicht auf einen in sich einfachen oder inhaltlich bestimmbaren Trieb (Nahrung, Sexualität) zurückgeführt werden kann, so muss der dem Leben zugrunde liegende und in ihm sich artikulierende Impuls in einer allgemeinen und inhaltlich unbestimmten Form gefasst werden, die als solche für eine Fülle komplexer Verzweigungsformen offen ist. Hierfür findet Nietzsche die Formel Wille zur Macht. Sie umschreibt keine substantiell gefüllte Grundform von Aktivität, sondern eine sich ständig differenzierende und nur in der wechselseitigen Differenzierung von Wille zu etwas und Wille zu sich realisierbare Funktionsform von Lebendigkeit, die im Blick auf alternative Interpretationen als die in methodologischer Hinsicht schwächste, weil unerlässliche Voraussetzung für das Bestehen des organischen Lebens insgesamt aufzufassen ist. Der Wille zur Macht benennt also kein „fondement ontologique" des Lebens, sondern er benennt dessen allgemeine Strukturformel, die gegenüber jedem stärker inhaltlich gefüllten Begriff von Lebendigkeit eine „priorité méthodologique" beanspruchen kann (67)206. Einem Willen zur Macht, der in erkenntnistheoretisch durchdachter Weise nur in einer „Vielfalt von Formen der Beschreibung" thematisiert werden kann, lassen sich zusätzlich die modernen Exzellenzcharaktere des unendlich interpretierbaren Textes und der fundamentalen Relationalität unterstellen (78f.). Nietzsche konkretisiert seine Überlegungen zum Grund aller Wirklichkeit in einer „morphologischen und genetischen Theorie" des Willens zur Macht. Da er sie am Leitfaden menschlicher Leiberfahrung gewinnt, kann er zu ihrer Explikation physiologische und psychologische Beschreibungsmuster miteinander parallelisieren (84). Sie werden durch politische und philologische Leitmetaphern ergänzt. Allein die komplexe Komplementarität verschiedener figurativer, nichtreferenzieller Sprachen verleiht Nietzsches umfassender Deutung sämtlicher kulturellen Phänomene als Erscheinungsformen des Willens zur Macht die notwendige Differenziertheit und Glaubwürdigkeit. Im transzendentalphilosophisch ausgerichteten Denkhorizont der nietzscheschen Kulturtheorie wird der Wert einer ersten, im Sinne der philosophischen Tradition absoluten Wahrheit durch

206

Wotling diskutiert in diesem Zusammenhang vor allem Nietzsches Kritik am substanzialistischen Willensbegriff Schopenhauers im §19 (Nietzsche et la problème de la civilisation, 72) und die Einführung des Begriffs „Wille zur Macht" im § 36 von Jenseits von Gut und Böse. Der Autor hält das methodologische Begründungsverfahren Nietzsches in diesem Text für generalisierbar, so dass es auf sämtliche Texte übertragen werden kann, in denen Nietzsche auf den Willen zur Macht rekurriert.

Β Nietzsche als Metaphysiker oder als Psychologe

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eine dem Willen zur Macht immanente Norm der Gesundheit ersetzt. Sie bezeichnet keine substanzielle Primärentität des Willens zur Macht, die in Zuständen seiner Erkrankung verloren wäre, sondern verweist auf eine a priori relationale Form der „Solidarität zwischen Gesundheit und Krankheit", die sämtliche Formen des Lebens miteinander verbindet (122). „Gesundheit" meint die Entfaltung und Steigerung, „Krankheit" die Reduktion und Minderung der dem Willen zur Macht eigenen „dynamischen Tendenz" (126). In seiner maßgeblich von Stendhal inspirierten Physiologie und Psychologie der Kunst findet Nietzsche ein therapeutisches Instrument für kulturelle Krankheitsphänomene. Ihre genealogische Analyse ist nach Wotling wie bei Blondel ebenfalls eine Form des Willens zur Macht. Nach der Regel, dass auf den Willen nur ein anderer W i l l e wirken kann, wendet sich der W i l l e zur genealogischen Analyse auf eine ihm gegenüber schwächere Gestalt des Willens zur Macht, um ihr in Diagnose und Therapie die Chance einer Verstärkung und Heilung zu eröffnen (186). Es gibt weder eine Lebensform noch eine Analyseform der Kultur, die außerhalb der relationalen Solidarität von Gesundheit und Krankheit stünde. Gesundheit bedeutet niemals das Andere der Krankheit. Sie kann ihre Norm deshalb nicht von außen in das Andere ihrer selbst einführen. „Heilung" meint vielmehr die Verschiebung von Werten innerhalb einer vorgegebenen Relation zwischen Gesundheit und Krankheit, bei der weder das, was verschoben wird, noch die Instanz, die verschiebt, dem Gesetz der wechselseitigen Durchdringung von „Gesundheit" und „Krankheit" entzogen sind. Unter inhaltlichem Aspekt arbeitet Nietzsches Kulturtheorie gegen Rousseau und Schopenhauer den Gedanken einer notwendigen und daher grundsätzlich bejahenswerten Verbindung von Kultur und Grausamkeit heraus (203f.). Nietzsche ergänzt diese Einsicht durch eine Theorie der Sublimierung des Willens zur Macht, ohne mit ihr dessen essenziell tyrannischen Kern auflösen zu wollen. Auch die Reflexionsform der Philosophie, die Nietzsche durch die Begriffe der Gesetzgebung und Wertsetzung definiert, bleibt eine Praxis der Grausamkeit, die sich in den Dienst kultureller Ziele stellt. Sie reagiert aktiv auf das Krankheitsphänomen des Nihilismus, den sie durch Projekte überwinden will, die nur in metaphorischen, nicht-referenziellen Formeln wie „Umwertung aller Werte", „Übermensch", „amor fati" und „ewige Wiederkehr" umschrieben werden können. Wotling hat im Blick auf die bis dahin unterbewertet gebliebenen methodologischen Reflexionen in Jenseits von Gut und Böse eine Möglichkeit aufgezeigt, nach der Nietzsches neue Ontologie die Positionen einer metaphysischen Prinzipienreflexion im traditionellen Sinn ebenso vermeidet wie die einer selbstreferenziellen Bewegung der Sinnverschiebung. Nietzsche überwindet die Denkform der Metaphysik, indem er einer neuen Form der Psychologie zum Dasein verhilft. Sie ist nicht mehr empirisch oder rationalistisch ausgerichtet, sondern sie hat sich gleichsam von innen eine genuin transzendentalphilosophische und metaphysische Reflexionsdimension angeeignet, um von daher mit dem Willen zur Macht erst-

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I Nietzsche in Frankreich

mais Grundcharaktere des Lebens erschließen zu können 2 0 7 . In einer konsequent immanenten Reflexion auf die in sich ambivalenten Bedingungen eines immer schon kulturell ausgeformten Lebens findet Nietzsche die Kriterien, nach denen menschliches Dasein als Kultur aus der Grundform ihrer Selbstbewegung in einen Zustand besserer Entfaltung übergehen kann. Die in selbstbezüglicher Reflexion beglaubigte Binnenstruktur des Willens zur Macht benennt keine instrumenteil umsetzbare Norm des richtigen Lebens, sondern sie verschafft sich in der immanenten Aneignung ihrer eigenen Bewegungskraft eine Außenseite, die als metaphorisch-zeichenhafter Ausdruck für den dynamischen Prozess unabschließbarer Selbstüberwindung gelesen werden kann.

2117

Vgl. dazu auch Patrick Wotling, „Der Weg zu den Grundphänomenen". Statut et structure de la psychologie dans la pensée de Nietzsche. Nietzsche-Studien 26 (1997), 1—33. Die Überschriften zu einigen Abschnitten dieses Beitrags (La psychologie comme théorie de la volonté de puissance, 16, La généalogie, déchiffrage „psycho-physiologique" des interprétations, 25, La psychologie contre la morale: la théorie de la spiritualisation, 29) machen deutlich, dass man diesen Text auch als Kurzfassung der Nietzsche-Monographie des Autors lesen kann.

C Schlussbemerkung zur französischen Nietzsche-Diskussion

Die französischen Debatten der Jahre von etwa 1960 bis 1995 über Nietzsches philosophische Intention ergeben, wie dies nicht anders zu erwarten war, kein einheitliches Bild. Vielleicht kann man dennoch zwei verschiedene, wenn auch in sich wieder differenzierte Diskussionsfelder voneinander unterscheiden. Dann stünde auf der einen Seite der Nietzsche der Dekonstruktion, auf der anderen der Nietzsche einer neuen Ontologie. Beide Seiten teilen ein Bild von Nietzsche, das die schwarze Komponente seines Denkens, seine offene Apologie der Gewalt, des bewusst betriebenen individuellen, ja sogar des kollektiven Vernichtungsopfers und seine Befürwortung der Ungleichheit, die ihn für Adaptionen aus nationalsozialistischer oder faschistischer Perspektive anfällig macht, entweder gar nicht zur Kenntnis nimmt oder zum integralen, nicht weiter diskussionsbedürftigen Bestandteil einer Philosophie absoluter Kreativität und Singularität umformt. Nietzsche wird in Frankreich, wie im Übrigen auch in Italien, ausschließlich als Philosoph der Freiheit und der aktiven Befreiung diskutiert. Dabei wird „Freiheit" nicht nur subjektivistisch-individualistisch verstanden, sondern, wie dies Nietzsche angemessen ist, durchaus in ihrer politisch-kulturellen Dimension wahrgenommen. Aus einer derartigen Perspektive erscheint das Zentrum des nietzscheschen Denkens als Philosophie einer „jouissance de la différence" (Deleuze). Dabei muss jedoch beachtet werden, dass das französische Wort „jouissance" weder (wie das deutsche Wort „Genuss" oder das englische „joy") primär eine hedonistische Bedeutungskomponente aufweist noch wie das lateinische „frui" einen eher passiven Vorgang bezeichnet. Im Wort „jouissance" muss vielmehr eine noch nicht gegenständlich gebundene Primäraktivität eines Sich-Selbst-Hervorbringens und eines Sich-Selbst-Realität-Gebens mitgehört werden, so dass es im Kontext philosophischer Nietzsche-Diskussion eine aktive Affirmation des transzendentalen Konstitutionsaktes endlicher, lebendig-selbstbezüglicher Wirklichkeit bezeichnet. Vor allem das Dionysos-Symbol steht in der französischen Diskussion für eine gleichsam transzendentale Macht endlicher Autopoiesis, die eine neue, nicht fixierbare, sondern sich immer wieder aus sich selbst heraus modifizierende Form des individuellen und allgemeinen Lebens, zugleich aber auch eine ihr entsprechende Form des Denkens und Wahrnehmens erzeugt. Dies ist auch der innere Grund dafür, dass Nietzsches Philosophie in Frankreich nahezu zwanglos mit Positionen der künstlerischen und intellektuellen Avantgarde in Verbindung gebracht werden kann. Jedenfalls gehört Nietzsche in Frankreich keineswegs ausschließlich der Universitätsphilosophie. Er steht vielmehr für das, was Kant mit deren Weltbegriff

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hat charakterisieren wollen, nämlich für ein Denken, das von seinen eigenen Voraussetzungen her in den gesamten Raum der Kultur bewusstseinsprägend und mitgestaltend eingreift und das dabei die Dimension politischer Auseinandersetzung erkennbar macht, die von einer sich selbst als zeitgenössisch oder avantgardistisch deklarierenden Kultur in Anspruch genommen wird. Der französische Nietzsche verweigert sich der Rolle eines philosophisch-akademischen Problemlösers. Sein Denken eröffnet vielmehr einen konfliktgeladenen Bedeutungsraum, den die Philosophie betreten muss, wenn sie in der Gegenwart mehr als musealen Rang besitzen oder mehr als die registrierende Rolle eines Beobachters oder Interpreten der Debatten anderer Wissenschaften übernehmen will. Welche philosophischen Diskussionen sind es im Einzelnen, in die uns der französische Nietzsche verwickelt? Da ist zunächst die für das 20. Jahrhundert vor allem von Martin Heidegger angestoßene Frage nach der Möglichkeit einer Überwindung der Metaphysik. Sie hat in systematischer Hinsicht zwei Teile. Sie enthält zum einen die Frage, ob die Kritik Heideggers am Denken der Metaphysik die Sache überhaupt trifft, die sich hinter diesem vieldeutigen W o r t verbirgt. Niemand kann versuchen, diese Frage mit Nietzsche zu klären. W e n n schon Heidegger zu Recht unangemessen einseitige Auffassungen von „Metaphysik" unterstellt werden, so gilt dies umso mehr für Nietzsche. Sein Metaphysikfegrzj^" ist von ihm selber bewusst als politischer Begriff angelegt, der primär polemischen Zwecken dienen soll. Nietzsche will nicht zeigen, was „Metaphysik" ist oder was sie von sich her sein kann, sondern er macht aus diesem Begriff, französisch gesprochen, das „Trugbild" („simulacre"), das er nötig hat, um durch „Umdrehung des Piatonismus" (KSA 7, 199) seinen eigenen Beitrag zur „Überwindung der Metaphysik" leisten zu können. Z u m anderen ist in der Frage nach der Möglichkeit nachmetaphysischer Philosophie die weitergehende systematische Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen der philosophischen Tätigkeit überhaupt enthalten. Allein für die Beantwortung dieser Frage wird der Auseinandersetzung mit Nietzsche in Frankreich trotz seines Feindbilds „Metaphysik" Bedeutendes zugetraut. Nach Bernard Pautrat hat Nietzsche in seinem Denken noch einmal die Quelle berührt, von der auch die Metaphysik ausgegangen war, um sie jedoch in einer anderen Weise wieder zu verlassen, als dies für das Denken der Metaphysik charakteristisch gewesen ist 208 . Nach meiner Überzeugung ist 2118

Pautrat, Versions du soleil, 265f.: „ . . . l e mouvement qui mène à la limite de la métaphysique, n'est pas simplement la restauration de la métaphysique telle quelle: la borne a bien été touchée et tournée, marquant ainsi un moment inoubliable et infranchissable de l'histoire de la philosophie, ou de la pensée. Mais parce qu'on ne peut se tenir à la limite, y demeurer — parce qu'on ne peut écrire autrement que par les signes de la langue, parce que la métaphysique est toujours déjà là dans la langue, ... —, il faut, réintégrant nécessairement la langue, construire un livre qui annulle le risque ou le circonscrive, le règle, le fasse entrer dans son jeu. Afin que la pensée, demeurée dans la langue et la lettre, cesse de retisser inlassablement le voile qu'elle vient de déchirer."

C Schlussbemerkung

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diese Einschätzung der Intention Nietzsches vollkommen richtig. Sie unterstellt zu Recht, dass Nietzsche der Metaphysik durch einen analogen Impuls verbunden ist. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und die These vertreten, dass derjenige, der Nietzsches Denkbewegung nachgeht, in ausgezeichneter Weise lernen kann, was der Impuls einer philosophischen Reflexion ist, der als solcher auch dem Denken Piatons, Aristoteles' oder Hegels zugrunde liegt. Wohin aber führt dieser Impuls? Folgt man Nietzsche, so gelangt man durch ihn nicht zu einem locus veritatis, der dadurch definiert ist, dass an ihm eine authentische Stimme der Wahrheit von sich selbst her spricht oder dass die Wahrheit dort als Gestalt demjenigen sichtbar werden kann, dem es gelungen ist, diesen Ort zu betreten. Achtet man auf die Stimme Pierre Klossowskis, so sollte man vermuten, dass es wohl allein der künstlerischen Erfahrung möglich ist, auf die Richtung dieses Impulses und auf den Ort, an den er führt, angemessen zu reagieren. Nach Klossowski geleitet uns Nietzsches Denken an einen nicht lokalisierbaren Ort absoluter Intensität, also eher an einen Nicht-Ort oder an einen Unort, der durch die exzessiv entfesselte Dynamik unendlicher Explosivität charakterisiert ist. Wahrheit wäre dann nur im Exzess erfahrbar. Und die Philosophie müsste dann als die Fähigkeit definiert werden zu sagen, welche einzigartigen Bedeutungs- und Sinngestalten an einem derartigen Nicht-Ort des absoluten Schreckens auftreten. Dies setzt allerdings voraus, dass es der Philosophie nach dem Vorbild Nietzsches möglich ist, den prekären Nicht-Ort intensiver Explosivität wieder zu verlassen, ohne ihm definitiv den Rücken zukehren zu müssen. Die Sprache der Philosophie gewönne in der Erinnerung an den Unort absoluter Intensität eine gestisch-metaphorische Potenz, in deren Wirkung die etablierten Normalformen sprachlicher Darstellung in den Sog eines In- und Gegeneinanders von Sprechen und Verstummen oder in einen Tanz der Bilder einbezögen würden. Im Blick auf das, was eine poetisch-gestische Sprache als Erfahrung von Exzentrizität hinter sich hat, kann sie allerdings keine Bedeutungselemente produzieren, die sich zur Eindeutigkeit von Begriffen, Sätzen, Theorien oder Lehren zusammenziehen ließen. Andererseits gilt aber auch die Regel, dass eine philosophische Sprache nicht dauerhaft der gestischmetaphorischen Dimension einer „écriture dionysiaque" zugewandt bleiben kann. Zu ihr gehört auch die Fähigkeit, aus eigener Macht eine begrifflich-reflexive Darstellungsdimension zu entfalten. Dies würde die Entfernung von oder die Überlagerung ihrer gestisch-metaphorischen Ausdrucksgestalten bedeuten. Da die begrifflich-reflexive Komponente einer philosophischen Sprache aus der Macht „dionysischer Schrift" (Pautrat) entstünde, könnte sich ihre begrifflich-theoretische Dimension nicht zu einer selbständigen Größe verdichten, die von ihrer exzentrischen Voraussetzung unabhängig wäre. Sie erhielte vielmehr von vornherein eine Brechung, durch die auch die Ebene ihrer reflexiv gewonnenen Begriffe und Sätze mit dem originär dionysischen Impuls philosophischer Aktivität verbunden bliebe.

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I Nietzsche in Frankreich

Wenn man den Impuls philosophischer Tätigkeit nicht allein aus der Perspektive dionysisch-künstlerischer Kreativität betrachten will, wie dies außer bei Klossowski auch bei Deleuze, Derrida und Sarah Kofman geschieht, sondern aus der ebenso berechtigten Perspektive eines philosophischen Denkens, das auf den von Nietzsche umgedrehten Piatonismus zurückverweist, dann müsste dieser Impuls als derjenige einer philosophischen Prinzipienreflexion oder als Reflexion auf Totalität von Wirklichkeit charakterisiert werden. Man könnte gerade im Blick auf Piaton sagen, dass sich die traditionelle Gestalt philosophischer Prinzipienreflexion mit äußerster Intensität darum bemüht hat, in der Bewegung ihres Denkens einen Nicht-Ort absoluter Bedeutungsintensität zu erreichen, und zwar aus der Überzeugung heraus, dass es nur von einem derartigen „Ort" oder „Un-Ort" möglich wäre, die Gesamtheit von Wirklichkeit einschließlich des menschlichen Bezuges auf sie der Struktur nach zu überblicken. In der platonischen Dialektik, so wie Sokrates sie in Piatons Politeia in der Auslegung seines eigenen Höhlengleichnisses zur Sprache bringt, oder in den das Konzept der Dialektik begleitenden Bildern des Aufstiegs aus einer Höhle zu einem Ort jenseits des Kosmos, wie sie den Lesern des Phaidrosoder des Symposion bekannt sind, ist ein solcher Impuls jedenfalls deutlich genug erkennbar. In Nietzsches alternativer Deutung desselben Impulses führt die genealogische Reflexion, die man als das funktionale Äquivalent und als kritisches Gegenstück zur platonischen Dialektik verstehen darf, jedoch nicht zu der ortlosen Idee des Guten im Sinne Piatons. Eher führt sie an einen solchen „Ort" der Reflexion, der sich in seiner Besonderheit dadurch auszeichnet, dass an ihm jede Sicherheit der Orientierung an einer Gestalt seiender, in sich einfacher oder authentisch sprechender Wahrheit vollständig verschwindet. Nietzsche beschreibt diesen Nicht-Ort der Intensität von Sinnerfahrung im Blick auf Heraklit so, dass sein Betreten dieselbe „Empfindung" auslöst, „mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zur festgegründeten Erde verliert" 209 . Nietzsche will mit diesem Satz nicht die Privaterfahrung Heraklits beschreiben, sondern eine allgemeine Regel aufstellen, der jede Gestalt philosophischer Prinzipienreflexion entsprechen muss, wenn sie überhaupt Beachtung verdienen will. Dass Nietzsche sich selber in seinem Denken einer derartigen Erfahrung dionysischer Verunsicherung gestellt und von ihr aus versucht hat, die Gesamtheit des menschlichen Wirklichkeitsbezuges nicht nur der Struktur nach vollständig zu übersehen, sondern jede ihrer einzelnen Gestalten von innen heraus zu bewerten und umzuwerten, wird in Frankreich deutlicher wahrgenommen als irgendwo sonst. Dabei wird keineswegs nur das Frühwerk beachtet, in dem Nietzsche die Erfahrung der Kunst in zugleich erkenntnistheoretischer und ontologischer Hinsicht privilegiert. Der Blick richtet sich in Frankreich vielmehr in erster Linie auf das Spätwerk, auf die „Lehren" vom

209

Friedrich Nietzsche, Die Philosophie

im tragischen

Zeitalter der Griechen, KSA 1, 824.

C Schlussbemerkung

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Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die als bewahrende Reaktionen auf den Taumel dionysischer Verunsicherung oder als Umsetzungen eines dionysischen Pathos in die ihm fremde Gestalt von Schrift und Lehre verstanden werden. Nietzsches „Lehren" werden in einzigartiger Weise aus der methodisch-experimentellen Radikalisierung der Erfahrung des Nihilismus gewonnen, die derjenigen, die er Heraklit unterstellt, durchaus ähnlich ist. Gleichzeitig setzt der in diesem Experiment methodisch geforderte Verzicht auf jeden objektiven Garanten von Wahrheit und Gerechtigkeit nach Nietzsches Uberzeugung die zuvor von vermeintlich objektiven Normen gebundenen energetischexplosiven Kräfte wieder frei, so dass sie im Zustand ihrer pathetischen Steigerung in Formen überführt werden können, in denen die äußerste Macht von Lebendigkeit aktiv wirksam bleibt. Für Nietzsche ist dies die Voraussetzung für das Aufkommen einer anti-nihilistischen Kultur der Bejahung des menschlichen Daseins, in der das endliche Leben insgesamt im Zeichen des Dionysos gerechtfertigt ist. Was aber geht aus der Berührung mit der Erfahrung des Dionysischen in philosophischer Hinsicht hervor? Offensichtlich keine weitere oder gar die Endgestalt einer Metaphysik, die sich, wenn man Heidegger folgt, nur in der Absperrung von der Erfahrung absoluter Unsicherheit konstituieren kann. In der französischen Diskussion scheint ein Konsens darüber zu bestehen, dass Nietzsche die Erfahrung absoluter Verunsicherung und radikaler Infragestellung sämtlicher Wahrheitsvorgaben, die er, wie gerade unter französischen Bedingungen der Blick auf Bataille nahe legt, mit Piaton und Hegel teilt, in einer bis dahin unbekannten, allenfalls von Heraklit antizipierten Weise verarbeitet hat. Für das Verständnis der nietzscheschen Arbeit an und mit einer philosophischen Erfahrung, die auf das Berühren der Quelle zurückverweist, von der auch die Metaphysik ausgegangen war, werden in Frankreich einige beachtliche Vorschläge gemacht. Ich möchte sie unter drei verschiedenen Gesichtspunkten charakterisieren: 1. Nietzsches Philosophie ist eine neue „Ontologie", wobei die Bezeichnung „Ontologie" in der französischen Diskussion in der Regel als Gegenbegriff zu einer mit Heidegger ausschließlich negativ bewerteten Metaphysik verwendet wird, so dass die „Metaphysik" jene Erfahrung schon verdrängt und gleichsam verdinglicht hat, die der Ontologie noch authentisch zugrunde liegt. Nietzsches Ontologie zeichnet sich dann dadurch aus, dass sie eine offensichtlich dramatische Grundform des Seienden erschließt, nämlich das Eine, das niemals für sich Einheit sein kann, sondern immer schon dabei ist, sich in Zweiheit zu zerspalten. Der dramatischkonfliktgeladene und daher als tragisch zu bezeichnende „changement" zwischen Einheit und Zweiheit, der nicht wie bei Piaton von einer ihnen übergeordneten Idee des Guten als reiner Einheit zusammengehalten wird, bezeichnet für Nietzsche die Grundgestalt alles Lebendigen. Die Figur dieser Nietzsche-Deutung wird von Pierre Boudot in die Diskussion eingeführt. Simone Goyard-Fabre hat in Nietzsches Ontologie der Duplizität zusätzlich eine politische Dimension entde-

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cken wollen, nämlich die Grundform einer elementaren Auseinandersetzung zwischen Gegensätzen, die durch keine bestimmte Regel vollständig ausgedrückt und bewältigt werden kann. Die tragische Grundstruktur von „différence et répétition" erscheint bei ihr in ontologisch-politischer Perspektive als das Ineinander von „création et sélection". Andere Autoren benutzen zur Bezeichnung desselben Konzepts den Begriff eines nicht zu vergegenständlichenden „désir" (Laruelle) oder einen allgemeineren Begriff von Natur (Juranville), insofern darunter eine universelle, sich immer wiederholende Kraft der Assimilation und der kreativen Selbstmodifikation zu verstehen ist. Nietzsches Ontologie scheint dann den ewig pulsierenden Rhythmus des reinen Werdens (Murin) so berührt zu haben, dass ihr erstmals eine mythische Verklärung des endlichen Daseins gelingt (Kunnas). Nietzsches Ontologie des Gegeneinanders in sich ambivalenter Kräfte markiert die Extremposition einer anti-realistischen Philosophie (Guérin). Sie beruht auf dem ontologischen Konzept einer originären Differenz, in dem so etwas Attraktives wie eine „affirmation primordiale" des endlichen Lebens zum Ausdruck k o m m t (Goyard-Fabre). Eine kompliziertere Variante dieses Ansatzes ist die Charakterisierung der nietzscheschen Philosophie als Physik dionysischer Kräfte bei Gilles Deleuze. 2. Zuerst bei Jean Granier, später und deutlicher bei Eric Blondel, Patrick Wotling und Michel Haar gilt Nietzsches Philosophie als Theoriegestalt einer ontologisch ambitionierten Transzendentalphilosophie. In ihrem Zentrum steht, wie im Übrigen auch bei Yvon Quiniou und zuvor schon bei Gilles Deleuze, ein nicht-empirischer Begriff des Lebens. „Leben", das nicht als biologische Positivität, sondern als Instanz unendlicher Produktivität verstanden wird, kann sich weder in einer bestimmten Gestalt des Lebendigen authentisch realisieren noch kann es in seiner Realität authentisch berührt werden. „Leben" bekundet sich in Zeichen, die nur in Form von Interpretationen und Metaphern, also in einer Form des Scheins (Haar), als Selbstinterpretationen eines an sich selbst nicht verobjektivierbaren Lebens gedeutet werden können. Nietzsches Philosophie expliziert die Regeln einer Reflexion auf den Grund einer Wirklichkeit, der sich in seiner Überkomplexität jedem definitiven Verstehen apriori entzieht. „Leben" kann nur im Element von Differenz auf sich verweisen, und zwar in Zeichen, die nicht die Gestalt einer systematischen Ordnung annehmen, sondern diejenige eines überkomplexen literarischen Textes (Granier), einer dezentrierten, vom Prinzip des gelenkten Zufalls bestimmten M u s i k im Sinne von John Cage oder eines disparaten Arrangements gegensätzlicher Bedeutungsebenen wie in der Pop-Art Robert Rauschenbergs (Lenain). Für Blondel bleibt die Serie der Interpretationen und Zeichen, in denen sich Leben bekundet, auf ein unerreichbares Jenseits dieser Serie bezogen, ohne dass es möglich wäre, dieses „Jenseits" als vor-serielles Prinzip zu verstehen. Die Regel der Unerreichbarkeit des letzten Referenten gilt auch für die Interpretationen, die sich auf Teile der Serie beziehen und sie als Zeichen eines sich im Schein

C Schlussbemerkung

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verobjektivierenden Lebens lesbar machen wollen. W i e aber sind dann Wahrheitsund Gestaltungsanspruch einer Philosophie zu charakterisieren, die sich in jeder Hinsicht nur als Philosophie der Interpretation von Interpretationen verstehen kann? Blondel sieht hier ein unlösbares Paradoxon, während Granier seine Lösung einer Metaphilosophie anvertrauen will, die Nietzsche noch nicht zur Verfügung stand und die auch von Granier selber nur postuliert, aber nicht ausgestaltet wird. Nach meiner Überzeugung gibt Patrick Wotling wohl die angemessenste Antwort auf diese intrikate Frage. Er zeigt, dass Nietzsche über eine neuartige Form genealogischer Psychologie verfügt und mit ihrer Hilfe zu einer bislang unbekannten Form philosophischer Prinzipienreflexion findet, die zwar von den prinzipientheoretischen Verfahren der Tradition abweicht, andererseits aber durchaus den Erwartungen an eine methodologisch zureichende Begründung ihres eigenen Anspruchs gerecht wird. Eine Alternative zu dieser Lösung wird bei Michel Haar erkennbar, der Nietzsches Philosophie als eine neuartige Theologie des Dionysischen versteht, die als solche notwendig mit einer universalen Theorie des heterogenen Scheins verbunden ist. Schein steht dann nicht im Gegensatz zu Wahrheit, sondern Wahrheit selber ist nichts anderes als die Macht universalen Scheins. Nietzsches Text „Wie die wahre W e l t endlich zur Fabel wurde" aus der GötzenDämmerung gilt als Paradigma eines Denkens des Ganzen von Wirklichkeit, für das der Gegensatz zwischen Schein und Wahrheit aus methodologisch stringenten Gründen sinn-, weil bedeutungslos geworden und durch ein Konzept der wechselseitigen Beziehungen von Gestalten des Scheins abgelöst ist 210 . Offensichtlich ist es von diesem Typus der Nietzsche-Deutung aus besonders gut möglich, nicht nur dem theoretischen Anspruch seiner Philosophie, sondern gerade auch ihren kulturkritischen Impulsen gerecht zu werden, die sich vor allem im Konzept einer Genealogie der Moral Ausdruck verschaffen. 3. Bei Jacques Derrida gilt Nietzsches Philosophie als Theorie und Praxis der „difference". W a s mit dieser Charakterisierung in philosophischer Hinsicht gewonnen ist, ließe sich nur klären, wenn man dem Konzept der „différance" bei Derrida selber ausführlich nachginge. Ein solches Nachdenken würde jedoch den Rahmen einer Schlussbemerkung zu Typenbildungen innerhalb der gegenwärtigen französischen Nietzsche-Diskussion sprengen. Ich muss mich deshalb mit einigen Andeutungen begnügen. Offensichtlich bezeichnet das Kunstwort „différance" kein Prinzip des Seins oder des Lebens, das im Kontext einer Ontologie zur Sprache gebracht werden könnte, sofern man darunter die Reflexion auf Grundcharaktere objektiver Wirklichkeit und auf die Ordnungsform ihrer Einheit versteht. Eher bezeichnet der Begriff „différance" eine ganz besondere, schwer zu realisierende und deshalb immer wieder neu einzuübende Form des menschlichen 2111

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 34, KSA 5, 53: „Stufen der Scheinbarkeit ... und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesamttöne des Scheins",

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I Nietzsche in Frankreich

Wirklichkeitsbezuges, nämlich diejenige, die sich durch die größtmögliche Offenheit für so etwas wie „Wirklichkeit" auszeichnet. Der Theorie der „différance" eignet deshalb eher eine transzendentalphilosophische als eine ontologische Dimension. In ihr wird aber nicht nur gefragt, wie die Bewegung des Denkens methodisch konstruiert werden kann, die sich so offen wie möglich auf das Andere der „Wirklichkeit" bezieht, sondern zugleich, wie das ihr gegenüber Andere einer „Wirklichkeit" der Methode oder der Struktur nach zu denken ist, das sich in der Bewegung der „différance" erschließt. Derrida fasst dieses Andere durch den Begriff der reinen, dezentrierten Strukturalität, die hinsichtlich ihrer eigenen Gegebenheit auch durch den Begriff der „différence originaire" charakterisiert werden kann. Es erschließt sich nicht als die Form einer Ganzheit, die sich erst nachträglich differenziert oder dionysisch zerstückelt, sondern als eine Ganzheit, die sich in ihren Komponenten immer wieder verschiebt und verändert. Das Sein eines beständigen „déplacement" ist in diesem Konzept kein selbständiges Signifikat gegenüber der es bezeichnenden Theorie, sondern deren methodisches Produkt, weil aus der Perspektive der „différance" das Gegebensein einer Ganzheit von Wirklichkeit gar nicht anders denn als Realität einer „différence originaire" erschlossen werden kann. Im Horizont einer Theorie der „différance" steht deshalb auch keine Metaphysik des Werdens, die das Sein als das Gegebensein von Differenz und in sich bewegter Mannigfaltigkeit zu ihrem Objekt hätte. Offensichtlich ist Derrida daran interessiert, die Form des Denkens von Totalität und das Ganze des von ihr gedachten „Wirklichen" so zu exponieren, daß es von jeder inhaltlich-substanziellen Vorgabe so weitgehend wie möglich frei bleibt. Sein Denken, das sich vor allem von Vorgaben transzendentalphilosophisch und phänomenologisch strukturierter Regularität des Zugangs aufWahrheit distanziert, erschließt ein „Sein", das sich als immer wieder neu zu denkende Mitte zwischen den reflexiven Grenzbegriffen des reinen Werdens und eines authentischen Seins als Unbestimmtheitsqualität einer „différence originaire" bewegt und in das jede begriffliche Bestimmtheit eine härtere, aber nicht vollständig andersartige Differenz einschreibt. Wie man auch immer das reflektierte Ineinander zwischen der „différance" des „Denkens" und der „différence" oder der reinen Strukturalität des „Seins" philosophisch einschätzen mag, das in den besten Texten Derridas aufscheint, es verbietet sich jedenfalls, diese Position nur mehr als letztlich triviale, ästhetisch beliebige oder offen irrationale Theorie und Praxis eines beliebigen Spiels der wechselseitigen Substitution arbiträrer Zeichen aufzufassen. Eher sollte man darauf achten, dass Derridas Denken sich so voraussetzungslos wie möglich auf die schmale Grenze zwischen Metaphysik und Transzendentalphilosophie zubewegt und dass sie von da aus in Nietzsches „Lehre" vom Willen zur Macht und in seinem erkenntnistheoretischen Konzept des Perspektivismus auf die Möglichkeit eines Denkens jenseits von Metaphysik und Transzendentalphilosophie verweist. In Foucaults Denken der „transgression", das sich selbst als neue, mit Nietzsche gewonnene Form des

C Schlussbemerkung

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Ursprungsdenkens versteht, findet Derridas Denken der „différence originaire" eine beachtenswerte Parallele. Vor allem mit den unter den Punkten zwei und drei genannten Charakterisierungsmöglichkeiten sind die Fragehorizonte angedeutet, die in systematischer Perspektive mit Nietzsche durchdacht werden müssen, wenn die Philosophie sich in der gegenwärtigen Situation noch durch ein ausweisbares Denken des Ganzen von „Wirklichkeit" von anderen Formen des Denkens unterscheiden will, die entweder dieses Ganze nur noch im Modus unausweisbarer Gestimmtheit denken oder sich von vornherein nur mehr auf Definierbares und Besonderes beziehen wollen. Aus der Perspektive eines besonderen Begriffs der philosophischen Tätigkeit wird in Frankreich deutlich gemacht, dass Nietzsche nicht nur einen neuen Typus philosophischer Theoriebildung zur Diskussion stellt, sondern dass er aus seiner Perspektive kritisch, zerstörerisch und konstruktiv zugleich auf die Situation der Kultur und der Politik einwirken will. Nietzsche hat nur deshalb nach einer neuen Theoriegestalt der Philosophie gesucht, weil er der Uberzeugung war, dass nur auf diesem Weg eine neue Form des Lebens gefunden werden kann, und zwar diejenige, die nicht mehr anfällig ist für den Nihilismus, den er als die schlimmste Erkrankung des Lebens an sich selbst erfahren und verstanden hat. Leben hat bei Nietzsche aber nicht nur eine private, sondern in erster Linie eine öffentliche und deshalb nur politisch zu realisierende Dimension. Mit ihrer Charakterisierung sind vielleicht die größten Probleme der Nietzsche-Interpretation verbunden. In Frankreich wird die originär politische Dimension der neuen Form des überindividuellen Lebens, die Nietzsche mit dem ominösen Begriff der „großen Politik" mehr andeutet als ausspricht, zwar nicht nur in der Verkürzung auf individuelle und künstlerische Formen der Intensitätssteigerung wahrgenommen, aber es gibt kaum überzeugende Versuche, die inhaltliche Dimension des Politischen in Nietzsches Philosophie wirklich herauszuarbeiten. Nietzsche hatte als zutiefst griechisch gestimmter Aristokrat für alles, was bloß zur privaten Dimension des Lebens gehört, nichts als Verachtung übrig. Seiner politisch-öffentlichen Wirkungsabsicht wird man nicht gerecht, wenn man in ihr nur Konzepte ästhetischer Intensität, Entwürfe der diffusen Befreiung eines gesellschaftlich gefesselten Begehrens oder Leitbilder einer heroisch gestimmten Erziehung (Baroni, Laurent) wahrnimmt, selbst dann nicht, wenn man sie psychoanalytisch differenziert (Henry, Assoun, Corman) oder in eine Theologie des Dionysischen integriert (Valadier, Haar). Auch Simone Goyard-Fabre, bei der die politische Dimension der nietzscheschen Philosophie schon im Titel einer ihrer Monographien direkt angesprochen ist, nimmt sie nur aus transzendentalphilosophisch-phänomenologischer Perspektive auf und vernachlässigt darüber die von Nietzsche offen angesprochene allgemeine Realisierungsdimension und den normativen Anspruch seines Begriffs von Politik. Wer die Lücke füllen will, die durch eine für Frankreich ebenso wie für Italien und Deutschland typische Unterschätzung der für Nietzsches Philosophie ebenso cha-

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I Nietzsche in Frankreich

rakteristischen wie schwer zu bestimmenden politischen Bedeutungsdimension entsteht, muss sich an der politologischen Nietzsche-Diskussion in den angelsächsischen Ländern beteiligen, die sich diesem Thema mit bemerkenswerter Offenheit stellt 211 . Aus der Verbindung einer im Kern politischen mit einer ontologischtranszendentalphilosophischen Deutung, die in ihrer Sensibilität für die Sprachform Nietzsches auch dem kulturkritischen Impuls seines Denkens gerecht wird, könnte sich die Perspektive einer integralen Interpretation der nietzscheschen Philosophie abzeichnen, zu der in Frankreich von 1960 bis heute bereits beachtliche Beiträge geleistet worden sind.

211

Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 233ff.

II Nietzsche in italienischer Perspektive

Im zweiten Kapitel des vorliegenden Buches werden besonders signifikante und außenwirksame Positionen der italienischen Nietzsche-Diskussion vorgestellt. In den Fußnoten findet der Leser Hinweise auf Autoren, die sehr wohl Beachtung verdienen, aber weder in den Uberschriften, die dieses Kapitel gliedern, noch im Darstellungstext ausdrücklich genannt werden. W e n n beim Blick auf die italienische Nietzsche-Rezeption nicht dasselbe Maß an Ausführlichkeit im Erschließen verschiedener Positionen investiert worden ist wie für die französische und die angelsächsische, so hat dies vor allem den Grund, dass zur italienischen Diskussion bereits umfangreiche, wenn auch für die späten achtziger und neunziger Jahre ergänzungsbedürftige Darstellungen vorliegen 212 . Zu beachten ist zusätzlich, dass die in Italien übliche Praxis des Publizierens zur Produktion kleinerer Beiträge anregt, die in einer Fülle verschiedener Reihen und Sammelbände erscheinen. Sie sind für einen Außenstehenden oft nur schwer zugänglich und finden deshalb in der vorliegenden Darstellung keine vollständige Berücksichtigung. In Italien entsteht nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein spannungsgeladenes Wechselspiel zwischen kulturpolitisch ambitionierter Nietzsche-Diskussion und einer sie korrigierenden, aber deswegen keineswegs selbstzweckhaften Nietzsche212

Vgl. dazu Roberta A m à u n d Donatella Cervi, Linee di una bibliografia italiana su Nietzsche, in: Antonio Banfi, Introduzione a Nietzsche. Lezioni 1933-34, hrsg. von D i n o Formaggio, Mailand 1974, Appendice B, 143—187; vgl. in diesem Z u s a m m e n h a n g auch Lorenzo Accame, Il senso di una attuale lettura di Nietzsche, ebd., 131—142, der sich nicht nur auf ältere Autoren wie Georg Simmel, Georges Bataille, Albert Camus, Karl Löwith, Georg Lukàcs, Martin Heidegger, Karl Jaspers u n d Eugen Fink, sondern auch auf damals neuere Autoren wie Jacques Derrida, Michel Foucault, Pierre Klossowski, Gilles Deleuze, Jean-Michel Rey, Bernard Pautrat u n d Sarah K o f m a n bezieht. Vgl. ferner die monographische Darstellung von Manuela Angela Stefani, Nietzsche in Italia. Rassegna bibliografica 1893-1970, Assisi/Rom 1975, sowie die Beiträge von Franco Volpi, Nietzsche in Italien. Der gegenwärtige Stand der Nietzsche-Interpretation in der italienischen Philosophie. Philosophischer literaturanzeiger 31 (1978), 170—184; ders., Nietzsche in Italien. N e u e Forschungen zwischen Philologie u n d philosophischer Zeitkritik. Philosophischer Literaturanzeiger 34 (1981), 165-182, u n d Antonio Maggiore, Alcune riletture di Nietzsche in Italia. Rivista della storia di filosofia 39 (1984), 3 0 3 - 3 2 2 . Die italienische Nietzsche-Rezeption bis 1940 ist T h e m a der umfangreichen Monographie von D o m e n i c o M . Fazio, Il caso Nietzsche. La cultura italiana di fronte a Nietzsche 1872—1940, Mailand 1988. Für eine Kurzfassung davon vgl. ders., Nietzsche in Italien. Ein kurzer Abriss der Nietzsche-Rezeption in Italien anhand der Ubersetzungen seiner Schriften (l%72-19W).Nietzsche-Studien22 (1993), 3 0 4 - 3 1 9 . Vgl. zusätzlich die A n m . 248 u n d 267 des vorliegenden Bandes. Eher wort- als aufschlussreich ist der Beitrag von Eduard Sturm, Die Nietzsche-Renaissance in Italien, W i e n 1991.

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

Philologie. Dabei werden wichtige Interpretationen aus d e m europäischen Ausland, w i e diejenigen von Karl Löwith, M a r t i n Heidegger, Eugen Fink, Gilles Deleuze, Pierre Klossowski, M i c h e l Foucault, Jacques Derrida u n d seiner Schule nachhaltig a u f g e n o m m e n 2 1 3 . Für die linke Intelligenz w a r zunächst die marxistische V e r u r t e i l u n g Nietzsches durch Georg Lukács maßgeblich214. Lukács hatte die i d e o l o g i e k r i t i s c h e B e h a u p t u n g a u f g e s t e l l t , es b e s t e h e e i n e i n n e r e A f f i n i t ä t z w i s c h e n N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e , v o r a l l e m z w i s c h e n s e i n e r als I n b e g r i f f des I r r a t i o n a l i s m u s charakterisierten Lehre v o m W i l l e n zur M a c h t a u f der einen u n d der Ö k o n o m i e des K a p i t a l i s m u s s o w i e d e r P o l i t i k des i m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s b z w . i m F a s c h i s m u s k u l m i n i e r e n d e n Imperialismus auf der anderen Seite. U n t e r diesen Vorzeichen w a r es n i c h t n u r u n n ö t i g , s o n d e r n s o g a r ü b e r f l ü s s i g u n d s c h ä d l i c h , a u s d e r P o s i t i o n d e r L i n k e n e r n s t h a f t m i t N i e t z s c h e zu d i s k u t i e r e n 2 1 5 . D a s V e r d i k t v o n L u k á c s h a t s e i n e W i r k s a m k e i t f ü r d i e m a r x i s t i s c h o r i e n t i e r t e I n t e l l i g e n z erst n a c h d e r p o l i t i s c h e n Distanzierung der K o m m u n i s t i s c h e n Partei Italiens v o m ideologischen Führungsanspruch u n d von der imperialen H e g e m o n i a l p o l i t i k der d a m a l i g e n S o w j e t u n i o n u m d i e M i t t e d e r f ü n f z i g e r J a h r e v e r l i e r e n k ö n n e n . A n d e r s s t a n d es u m d i e N i e t z sche-Rezeption der sogenannten bürgerlichen Intelligenz. Hier hat vor allem die Rezeption Heideggers das Bewusstsein für den philosophischen R a n g Nietzsches geschärft216. Seit den sechziger J a h r e n steht die italienische Nietzsche-Rezeption

213 214

215

216

Vgl. dazu die vorhergehende Anmerkung. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1955. Das Buch wurde 1959 ins Italienische übersetzt: La distruzione della ragione, Turin 1959. Dabei wurde verdrängt, dass es ebenso wie in Frankreich (Bataille) bereits während der dreißiger Jahre auch in Italien eine antifaschistische Nietzsche-Deutung gegeben hat. Hier ist vor allem an den antidogmatischen Marxisten Antonio Banfi zu denken, der mit Nietzsche nach Möglichkeiten sowohl der Analyse als auch der Uberwindung der Krise europäischer Kultur in einem neuen Konzept von Freiheit gesucht hat. Vgl. dafür Antonio Banfi, Introduzione a Nietzsche. Lezioni 1933—34, hrsg. von Dino Formaggio, Mailand 1974. Zu diesem Ansatz vgl. die Prefazione des Herausgebers, ebd. 9—17. Banfi antizipiert Möglichkeiten einer marxistischen Nietzsche-Adaption, wie sie später bei Gianni Vattimo, Massimo Cacciari, Ferruccio Masini und Mazzino Montinari zum Tragen kommen. Neben seinem Ansatz stehen existenzialistische, primär von Karl Jaspers beeindruckte Nietzsche-Interpretationen wie etwa diejenige von Luigi Pareyson, La filosofia dell'esistenza e Carlo Jaspers, Napoli 1940, und Enzo Pacis Einleitung zu: Friedrich Nietzsche, Scelta dalle opere. A cura e con introduzione di Enzo Paci, Mailand 1940. Die spätere Darstellung von Nicola Massimo de Feo, Analitica e dialettica in Nietzsche, Bari 1965, bezieht sich ebenfalls noch auf Jaspers. Auch die Nietzsche-Interpretation Karl Löwiths ist in Italien schon in den dreißiger Jahren zur Kenntnis genommen worden. Ich entnehme diese Hinweise Domenico M. Fazio, Nietzsche in Italien. Nietzsche-Studien 22 (1993), 304—319, insbesondere 317ff. Fazio zeigt, dass die Beziehung des italienischen Faschismus zu Nietzsche keineswegs eindeutig apologetisch gewesen ist. Seine eigene Nietzsche-Deutung hat der Autor in seinem Buch II viandante e il proletario. Saggio su Nietzsche con una introduzione di Francesco Fistetti, Manduria 1982, vorgestellt. Sie sucht mit Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr und der mit ihr verbundenen Figur des ,Wanderers' („il viandante") nach einem Konzept der Veränderung von Wirklichkeit, das die Grenzen des als zu eng empfundenen Denkens von Hegel und Marx sprengt. Vgl. dafür vor allem Giorgio Penzo, L'interpretazione ontologica di Nietzsche, Bologna 1967, und ders., Friedrich Nietzsche nella interpretazione heideggeriana, Bologna 1976. Penzo verarbeitet

Einleitung

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zusätzlich unter dem Einfluss der anti-hegelianischen und strukturalistischen Nietzsche-Deutungen französischer Provenienz. Ein selbständiges Gegengewicht dazu bilden die Interpretationsansätze von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, denen wir die erste kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe Nietzsches verdanken 217 . U m das Spektrum der gegenwärtigen Nietzsche-Rezeption in Italien wenigstens in den gröbsten Umrissen anzudeuten, beginne ich mit einer Darstellung der originär philosophisch orientierten Interpretation von Giorgio Colli. Ihr folgt ein Hinweis auf die besonderen Interessen der eher philologisch-historisch ausgerichteten Nietzsche-Deutung des Historikers Mazzino Montinari, bei dem zusätzlich zu seinem methodischen Konzept einer historisch korrekten NietzscheLektüre und zu seinen inhaltlichen Ergebnissen ein wenig beachtetes Modell radikaler Aufklärung erkennbar wird, mit dem zumindest Teile der linken Intelligenz zu einer neuen, gleichsam nachideologischen Selbstdefinition haben finden können. Das Problem der Nietzsche-Aneignung durch eine undogmatisch gewordene Linke bestimmt auch das Denken des Turiner Philosophen Gianni Vattimo und die Interpretationsarbeit des 1988 verstorbenen Germanisten Ferruccio Masini. Vattimo findet mit Nietzsche, aber auch mit Heidegger und Gadamer, zu einer hermeneutischen Philosophie des pensiero debole, die an bestimmte Trends der französischen Postmoderne anknüpft, sich aber zugleich auch kritisch davon unterscheidet. Dieser Ansatz zu einer systematisierenden Nietzsche-Deutung im Zeichen einer radikalen Philosophie der Hermeneutik ist das Thema des dritten Abschnitts. Der letzte darstellende Abschnitt ist der philologisch ausgerichteten Nietzsche-Interpretation des Germanisten Ferruccio Masini gewidmet, der vor allem über eine sorgfältige Beachtung der Wortfelder Nietzsches den als essenziell dionysisch deklarierten Kern seines Denkens erschließen will.

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bereits in seinem zuerst genannten Buch die Nietzsche-Interpretationen von Eugen Fink, KarlHeinz Volkmann-Schluck, Karl Löwith sowie die theologisch akzentuierten Arbeiten von Bernhard Welte u n d Johann-Baptist Lötz. In seinem Buch Friedrieb Nietzsche. Il divino come polarità, Bologna 1975, hat Penzo eine eigenständige, theologisch u n d metaphysisch ambitionierte Nietzsche-Deutung vorgetragen. Danach ersetzt Nietzsche die theologische Metaphysik der philosophischen Tradition durch eine als ästhetisch deklarierte Ontologie, in der der Begriff des Grundes aller Wirklichkeit durch den Begriff des Spiels ersetzt wird. Auf diese Weise gelingt Nietzsche die Wiederentdeckung Gottes u n d des Göttlichen als einer vom Christentum verdeckten Macht der Ambivalenz. Die interne Ambivalenz des Göttlichen wird bei Nietzsche m i t Hilfe einer existenzialistischen, prinzipiell unversöhnlichen Dialektik des Authentischen und des Nicht-Authentischen aufgeschlossen. Ich entnehme die Hinweise auf Penzo d e m Beitrag von Franco Volpi, Nietzsche in Italien. Philosophischer Literaturanzeiger 31 (1978), 170-184. Für Ubersetzungen fremdsprachiger Nietzsche-Monographien ins Italienische vgl. Alfredo Marini, Amicizia stellare. Studi su Nietzsche, Mailand 1982, L-LIV. Zur Entstehungsgeschichte dieser auch in italienischer (bei Adelphi, Turin) u n d französischer Ubersetzung (bei Gallimard, Paris) erschienenen Ausgabe (seit 1967 bei de Gruyter, Berlin) vgl. Giuliano Campioni, Leggere Nietzsche. Alle origini dell'edizione critice Colli-Montinari. C o n lettere e testi inediti, Pisa 1992.

A Nietzsche und die Wiedergeburt der Weisheit Giorgio Colli Giorgio Collis (1917—1979) Zugang zu Nietzsche ist durch eine subtile Verbindung von philologischen und philosophischen Interessen bestimmt. Colli repräsentiert ein Denken, das für die italienische Philosophie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts charakteristisch gewesen ist. Es distanziert sich ebenso von jedem ontologisch, metaphysisch, theologisch oder geschichtsphilosophisch begründeten Begriff der Wahrheit wie von den Gerechtigkeitsansprüchen einer politisch oder gesellschaftlich realisierten Praxis zugunsten einer radikalen Philosophie- und Rationalitätskritik, die sich wesentlich auf den Begriff einer vor- und überrationalen, ganz und gar ungeschichtlichen „Weisheit" stützt218. Die Geburt der Philosophie meint die Entstehung eines Denkens, das einen substanziellen Grund alles Seienden sucht, um mit seiner Hilfe die dem Denken vorgegebene, ursprünglich chaotisch-komplexe Wirklichkeit des Lebens eindeutig oder wenigstens überschaubar zu machen. Philosophie setzt deshalb das Ende einer „Weisheit" voraus, die es sich zutraute, das Seiende als den in sich gebrochenen Ausdruck eines unaussprechlichen Hintergrundes alles Lebendigen zu akzeptieren und sich ihm bewusst auszusetzen. Aufgrund des wirkungsgeschichtlichen Erfolgs philosophischer Vernunft und der von ihr getragenen Rationalität ist „Weisheit" in der modernen Welt ortlos geworden, so dass sie gegenwärtig nur noch im Modus der Erinnerung zu erfahren ist. Einer derartigen Erinnerung dient der Rückgang in die Welt des vorsokratischen Denkens, für die sich Colli jedoch nicht an der von Heidegger praktizierten Geste des Großphilosophen, sondern am bescheidenen Duktus philologischer Arbeit und aphoristischer Reflexion orientiert 219 . Nietzsche ist für Colli die Leitfigur der

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Vgl. dazu Gianni Carchia und Reimar Klein, Zum Denken Giorgio Collis. Giorgio Colli, Die Geburt der Philosophie {La nascita della filosofia, Mailand 1975), Frankfurt am Main 1990 (Erstausgabe 1981), 109-128, insbes. 112ff. Colli erscheint in dieser Darstellung als Endgestalt einer Bewegung, zu der Autoren wie Carlo Michelstaedter, Piero Martinetti, Gioele Solari, Giuseppe Rensi sowie die „crepuscolari" Guido Gozzano und Sergio Corazzini gehören. Solari war der Doktorvater Collis. Vgl. dafür Giorgio Colli, Physis kryptesthaiphilei. Studi sulla filosofia greca, Mailand 1968, Neuausgabe unter dem Titel, Natura ama nascondersi. Physis krytesthai philei, hrsg. von Enrico Colli, Mailand 1988. Vgl. ferner die von Colli betreute Ausgabe von Texten der so genannten Vorsokratiker unter dem Titel: Sapienza greca, Bd. I, Mailand 1977, Bd. II, ebd. 1978, und Bd. III, ebd. 1980 (nach dem Tod Collis im Jahre 1979 von D. del Corno ergänzt). Hinzuweisen wäre ferner auf die postum herausgegebenen Vorlesungen zur Philosophie des Zenon von Elea: Zenone di Elea. Lezioni 1964-1965, Mailand 1998. Für die italienische Diskussion über philosophische Bedeutung des nietzscheschen Rückgriffs auf die Vorsokratiker vgl. besonders Ferruccio Masini,

A Nietzsche und die Wiedergeburt der Weisheit. Giorgio

Colli

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Erinnerung an eine „sapienza"220, die sich weder in ruhiger Kontemplation noch im unmittelbaren Bezug auf eine Instanz göttlicher Vernunft, sondern nur in einem niemals zu beruhigenden Kampf zwischen göttlichem Wirklichkeitsgrund und einer menschlichen Rede verwirklicht, die in dieser Konfrontation Gefahr läuft, sich mit ihrer Tendenz zur Eindeutigkeit gegenüber dem unaussprechbar mehrdeutigen Grund aller Realität zu verschließen. Collis Ausführungen zu Nietzsche sind dem deutschsprachigen Leser in den Nachworten zu den einzelnen Bänden der kritischen Studienausgabe der Werke Nietzsches und in seinem Buch Distanz und Pathos leicht zugänglich 221 . Sie bezeugen eine bewundernswert unprätentiöse Genauigkeit des Verständnisses sowie eine keineswegs unkritische Sensibilität für Gehalt und literarische Ausdrucksform des nietzscheschen Denkens. Zahlreiche Motive, die in der gegenwärtigen NietzscheForschung als das singuläre Fundament seines Denkens herausgestellt werden, werden bei Colli subtil aufeinander bezogen. So entsteht eine Fülle aufschlussreicher Verstehenshilfen für eine vom Leser selbständig und kritisch weiter zu vollziehende Annäherung an einen Impuls vor-philosophischer Weisheit, den Colli im Denken Nietzsches als wirksam erkannt hat. Colli beginnt mit einem Thema, das bei Klossowski in verabsolutierter Einseitigkeit auftritt, nämlich mit einem Hinweis auf die Geburt der Tragödie, näherhin auf ihren paradoxen Versuch, die esoterische Erfahrung eines an sich selbst unsagbaren Welt- und Daseinsgrundes im Medium des geschriebenen Wortes festzuhalten. Das vorzügliche Organon der Intensitätserfahrung einer Berührung des an sich unverständlichen Wirklichkeitsgrundes ist für den frühen Nietzsche nicht die Sprache, sondern die Musik, beispielhaft diejenige des dritten Tristanaktes von Richard Wagner. In ihr wird die „Dissonanz im Herzen der Welt" als „durchgreifender Schauder" und „erregender Rausch" im Gegensatz zu Schopenhauer im Zeichen dionysischer Urlust bejaht 222 . In den Unzeitgemäßen Betrachtungen ver-

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L'interpretazione die Presocratici come progetto storiografico di una „künstlerische Cultur" nel giovane Nietzsche. Studi Germanici 6 (1968), 109-137. Vgl. dazu Sandro Barbera, Der „griechische" Nietzsche des Giorgio Colli. Nietzsche-Studien 18 (1989), 83-102. Giorgio Colli, Distanz und Pathos. Einleitungen zu Nietzsches Werken. Mit einem Nachwort von Mazzino Montinari, Frankfurt am Main 1982 (dt. Ubersetzung von Colli, Scritti su Nietzsche, Mailand 1980). In diesem Buch sind die Nachworte zu den Bänden der kritischen Studienausgabe der Werke Nietzsches (KSA, München 1980) um die Vorworte zu italienischen Einzelausgaben der Texte Nietzsches in der Reihe Classici Adelphi ergänzt. Das Nachwort Montinaris zeichnet ein einfühlsames Porträt Giorgio Collis und enthält aufschlussreiche Informationen über die Entstehung der von diesen beiden Autoren initiierten und zu Ende geführten historisch-kritischen Nietzsche-Ausgabe. Ich zitiere im Folgenden die Texte Giorgio Collis nach ihrem Abdruck in Friedrich Nietzsche, KSA, sowie nach Colli, Distanz und Pathos aaO., und zwar unter der Chiffre DP. KSA 1, 904: Musik als Ritual einer „direkten, nicht mittelbaren Erfahrung" des Urgrundes der Welt, so dass der Musik der „Wert einer Urvision" zukommt. (Colli, Distanz und Pathos, 18, vgl. dort auch S. 23—26 das Vorwort zur italienischen Einzelausgabe von Nietzsches Geburt der Tragödie, Mailand 1972).

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

schärft sich die Distanz zwischen der inneren Wirklichkeitserfahrung Nietzsches und derjenigen seiner Zeit. Dieser sich zum dramatischen Konflikt zuspitzende Gegensatz führt zum sprachlichen Gestus der Polemik, hinter dem sich der nahezu verzweifelte Wunsch bekundet, als „Mystiker" und somit als von der eigenen Zeit „Ausgestoßener" dennoch als „Mensch der Tat" in ihr wirksam werden zu können (KSA 1, 905, D P 18f.). Auf seinem „Weg in die Isolation" (KSA 1, 911, DP 52) entdeckt Nietzsche „das vorhellenistische Griechenland" (KSA 1, 910, D P 51), das der „moderne(n) Verkehrtheit" unbegreifbar bleiben muss (KSA 1, 912, D P 53). Medium des Zugangs zur Weisheit der alten Griechen ist jetzt jedoch nicht mehr die Musik, sondern — frühes Zeichen der Loslösung von Wagner und Schopenhauer — das Wort der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, vornehmlich das Wort Heraklits, das intensiver noch als dasjenige der blutigen Theogonien Hesiods mit dem Wettkampf das grausame Fundament benennt, das aller Wirklichkeit als die Voraussetzung ihrer Ordnung, Lebendigkeit und Schönheit zugrunde liegt. Als Philologe weiß Colli allerdings genau, dass Nietzsche mit seinen Ausführungen am Gehalt der vorsokratischen Philosophie souverän vorbeigeht und dabei der „üblen Angewohnheit" folgt, „seine Informationen aus der Literatur zweiter oder dritter Hand, und zwar antiker wie moderner Autoren, zu beziehen" (KSA 1,917, D P 36). In den Werken der so genannten „mittleren Periode" wird die Orientierung am philosophisch-kritischen Wort noch enger. Nietzsche entwickelt dort die Grundzüge einer alles andere als irrationalistischen „Kritik des logischen und deduktiven Denkens". Sie stützt sich auf eine dem methodisch kontrollierten Wissen übergeordnete Form des Erkennens, nämlich auf eine fundamentale „Fähigkeit zum Urteil" 223 . Im Namen konkreter Urteilsvernunft distanziert sich Nietzsche von dem, was er für Metaphysik hält. Dabei entdeckt er inhaltlich das menschliche Leben als „unwandelbare Naturgegebenheit", die uns aber niemals als sie selbst, sondern stets nur „in der Zeit", also in Form geschichtlicher Wirklichkeit, gegeben sein kann. Im Urteil über geschichtliche Realität will Nietzsche „sich und seine Leser von der eigenen Zeit los(.. .)lösen", um in einer distanzierten Welterfahrung die eigene Zeit als die Wirklichkeit beurteilen zu können, die in den Formen der von ihr entwickelten Kultur den menschlichen Lebensgrund verletzt oder gar zerbrochen hat (KSA 2, 714, D P 63). Die Wahrheit dieser schmerzhaften Selbstbeurteilung wird dem Leser durch ihre sprachliche Gestalt schmackhaft gemacht. N u r wenn der Leser Nietzsches Verfahren stimulierender Erkenntnisvermittlung 223

KSA 2, 709f., Colli, D P 57: „Was dieses Urteil auszeichnet, ist seine Konkretheit: Subjekt u n d Prädikat werden direkt dem intuitiven, sinnlichen Bereich e n t n o m m e n oder sind Bestimmungen ethischer N a t u r , die sich auf die Wurzeln des Angenehmen u n d des Schmerzlichen, des W ü n schenswerten u n d des Vermeidbaren berufen; u n d soweit sie abstrakt sein müssen, sind sie keine logischen Universalien, sondern ethische oder jedenfalls aus der Welt des Werdens gewonnene". Nietzsche realisiert für Colli die Utopie einer V e r n u n f t , die sich mit ihren Urteilsleistungen nicht in der reinen Abstraktion verliert, sondern der Realität konkreter Lebenserfahrung verbunden bleibt.

A Nietzsche und die Wiedergeburt der Weisheit. Giorgio

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durchschaut hat, gewinnt er die kritische Distanz, die nötig ist, um einerseits „von Nietzsche zu lernen" und andererseits sich gegen seine Verführungskünste „wehren" zu können (KSA 3, 656, DP 70). Zentral für die Realisierung der Erkenntnisintention Nietzsches ist die Fröhliche Wissenschaft. Hier wird nicht mehr wie in Menschliches, Allzumenschliches die Wissenschaft auf Kosten der Kunst aufgewertet, sondern Kunst und Wissenschaft stehen sich jetzt in agonaler Koexistenz gleichrangig gegenüber (KSA 3, 660, DP 80). Für Nietzsche ist die eigene „Erkenntniserfahrung" in ihrem Bezug auf den in sich ambivalenten Grund aller Wirklichkeit „immer und überall mit Qual, Angst und Bestürzung verbunden". Die in der Geburt der Tragödie artikulierte Erfahrung eines Zugangs zu dionysischer Intuition durch musikalische Ekstase wird abgelöst von der trostlosen Einsicht in die Geschichte als einem unentrinnbaren Ort menschlicher „Irrtümer und Schrecknisse". Nietzsche sucht in der zweiten Phase seines Denkens „eine neue Form der Erkenntnis", die ihm „mit sanfterem Antlitz" entgegenkommt, findet aber mit dem „Gedanken der ewigen Wiederkunft . . . eine Wahrheit, die schrecklicher ist als jede andere". In der Erfahrung dieses Schreckens wendet er sich abermals der Kunst zu, und zwar aus dem Wissen heraus, dass sie keine korrespondenztheoretisch qualifizierte Wahrheit, sondern eine W e l t des Scheins erzeugt, die nur durch ihre Unwahrheit als Stimulans des Lebens wirksam werden kann (KSA 3, 662, DP 82). Colli verweist exemplarisch auf den Zarathustra, der wesentliche Motive der mittleren Periode des nietzscheschen Denkens aufnimmt und im Verfahren der sprachlichen Darstellung wieder an die Geburt der Tragödie anknüpft. Die Bildersprache des Zarathustra will im Leser jene dionysische Wirklichkeitserfahrung wachrufen, über die der Mensch — nach Einsicht der Geburt der Tragödie — ursprünglich verfügt, obwohl er sie „im Strom abgeleiteter und abstrakter Ausdrucksformen" zwangsläufig, aber nicht unwiederbringlich verliert. Insofern erzeugt Nietzsche mit seinem Text Also sprach Zarathustra so etwas wie den exemplarischen „Widerschein . . . des dionysischen Wesens" in seiner „Unmittelbarkeit" (KSA 4, 412f„ DP 86fi). Colli deutet das Spätwerk Nietzsches als Ausdruck äußerster Ambivalenz. Er versteht die Ausführungen zum Willen zur Macht als eine erneute „Annäherung an Schopenhauer" und damit an eine philosophisch, nicht mehr durch „Weisheit" qualifizierte „Metaphysik", weil die in ihr vorgenommene „Reduktion alles Realen" auf den Willen zur Macht eine „Rückführung aller Eigenschaften auf eine einzige, wenngleich vielgestaltige Wurzel" bedeutet 224 . „Die Errichtung eines ,Sy224

KSA 5, 415. Colli, DP, 97f. In diesem Punkt wäre als Korrektur zu verweisen auf die NietzscheInterpretation von Wolfgang Müller-Lauter, der als Erster die interne Pluralität und den nichtreduktionistischen Charakter der Lehre vom Willen zur Macht herausgearbeitet hat: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin / New York 1971. Auch in der französischen Nietzsche-Diskussion dominiert eine nicht-reduktionistische Interpretation des Willens zur Macht.

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

stems' des Willens zur Macht" ist die Kehrseite eines nach Colli im Kern reduktionistischen Denkens (KSA 5, 416, D P 98). Im Nachlass der mittleren und der späten achtziger Jahre erkennt Colli jedoch auch andere als metaphysisch-reduktionistische Tendenzen. Z u m einen artikuliert Nietzsche das komplexe Wechselspiel zwischen Zufall und Notwendigkeit, das unmittelbar mit der Lehre von der ewigen Wiederkunft zusammenhängt. Der theoretischen Anerkennung des Zufalls „als ... Prinzip der Dinge" korrespondiert eine praktische Anerkennung der Heuchelei als Prinzip der Moral (KSA 11, 717, D P 113). „Lüge" und „Verstellung" gelten sogar als die „Wurzel jedes organischen Lebens", so dass „Leben" insgesamt den Inbegriff äußerster Zweideutigkeit darstellt. „Heuchelei" ist die pervertierte Form jener Lüge, die in der Gestalt schöpferischer Fiktion die einzige Instanz darstellt, die das Spiel des Lebens in Gang halten kann (KSA 11, 717f., D P 113f.). Z u m anderen thematisiert das Spätwerk die Figur des Philosophen als Typus des vollendeten Menschen, in dem sich die heterogensten und moralisch fragwürdigsten Eigenschaften zu einem äußersten Machtgefühl verdichten. Das Machtgefühl des Philosophen ist im Kern in einem ihm selber unverfügbaren mystischen Zustand verankert. Das Denken eines Typus menschlicher Vollendung verstärkt deshalb nach Colli „das antisystematische ... Motiv" in Nietzsches Philosophie und verleiht ihr damit „einen mystischen Hintergrund" (KSA 11, 719, D P 115). Für Colli ist Nietzsche am deutlichsten mit Also sprach Zarathustra „über die Philosophie" im Sinne systematisch verfasster Rationalität „hinausgeschritten". Allein in der Absage an alles, „was traditionsgemäß für Philosophie gehalten wurde" (KSA 11, 720f., DP 118), lässt sich jene „höchste Weisheit" erreichen, die Nietzsche mit dem Begriff des Dionysischen umschreibt. Der „Kern" dionysischer Wirklichkeitserfahrung besteht nicht mehr wie im Frühwerk in einem „orgiastischen, exaltierten Element" (KSA 11, 721, D P 119), sondern in einer Form des Lebens, das im Wechsel zwischen tragischer „Erkenntniseroberung" und spielerisch-künstlerischer Selbststimulierung den „Gipfel des Menschentums" erreicht (KSA 11, 722, DP 119). Colli hält Nietzsches Versuch einer Systematisierung seiner Philosophie durch die Lehre vom Willen zur Macht für einen Irrweg, den Nietzsche allerdings selber nicht eindeutig genug als solchen erkannt hat. Unklar bleibt deshalb, ob seine explizite „Zurückweisung der Versuchung zur Systematik die Folge eines Scheiterns oder eines Überwundenhabens war" (KSA 13, 658, D P 133). Für akzeptabel hält Colli allein die erkenntnistheoretische Perspektive des Willens zur Macht, die zeigt, dass menschliches Wissen „keine wahre Welt" widerspiegelt, sondern im Modus fiktiver Entwürfe und Wertsetzungen „eine Welt" aufbaut, „die uns das Leben möglich macht" (KSA 13, 659, D P 134). Die Einsicht in den lebensweltlichen und künstlerischen Charakter theoretischer und praktischer Regularität überlagert die andere Tendenz Nietzsches, in der er seine eigene Lehre vom Willen zur Macht als objektivistische Metaphysik misszuverstehen

A Nietzsche u n d die W i e d e r g e b u r t der Weisheit. Giorgio

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scheint. Im Entscheidenden aber ist diese Lehre der prekäre, offensichtlich nicht vollkommen beherrschte Versuch, „dem dunklen Grund des Daseins ... Ausdruck zu verleihen, ohne dabei der systematischen Erstarrung ... zu verfallen". Sie formuliert die nur scheinbar ontologische Außenseite eines Wirklichkeitszugangs, der im Kern aus der Perspektive urteilender und wertender Vernunft gewonnen ist. Im Spätwerk kann Nietzsche seine paradoxe „theoretische Suche nach den nicht fassbaren Bedingungen des Bewusstseins" nicht mehr durch eine skeptische Einstellung ausgleichen (KSA 13, 660, DP 135f.). Dies führt zu einer destruktiven „Rückwendung ... auf die eigene Person" und zu einem ständigen Bemühen, die Qual der eigenen Existenz hinter pathetischen Posen und pathologischen Texten zu verbergen (KSA 13, 666, DP 141). In seinem Buch Dopo Nietzsche223 wird noch deutlicher, dass Colli Nietzsche keineswegs unkritisch vergegenwärtigt. Zwar gilt für ihn, dass Nietzsche der Einzige ist, der „unsere Gedanken über das Leben auf ein höheres Allgemeinniveau gehoben hat, ... weil er sich von den Menschen und Dingen, die ihn umgaben, einen rückhaltlosen Abstand bewahrte" 226 . Aber ihn prägte zugleich die höchst unweise Erwartung, durch Erkenntnis „den Weltlauf ... ändern" zu können. In der Abweichung von der gelegentlich berührten Einsicht, dass „die Welt ... keinerlei L a u f kennt, weil es in ihrer „Tiefe" „kein Werden" gibt, sieht Colli den Zwiespalt, aber auch die interne Gewaltsamkeit des nietzscheschen Denkens begründet, die er nur durch gelassene „Weisheit", Illusionslosigkeit und Skepsis hätte mildern können (36f.).

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Giorgio Colli, Dopo Nietzsche, Mailand 1974, dt. Nach Nietzsche, Frankfurt am Main 1980. Ich zitiere im folgenden nach der deutschen Ubersetzung. Im Übrigen findet m a n eine Fülle von Bezugnahmen auf Nietzsche in Giorgio Colli, La ragione errabonda. Quaderni postumi, hrsg. von Enrico Colli, Mailand 1982. Sie sind über den „Indice dei nomi" leicht aufzufinden. Colli, Nach Nietzsche, 212: „Seine Stimme übertönt jede andere Stimme der Gegenwart; die Klarheit seines Denkens läßt jedes andere Denken unscharf erscheinen. Für den, der sich aus den Ketten gelöst hat und in der Arena der Erkenntnis u n d des Lebens Tyrannen nicht anerkennt, zählt einzig er".

Β Nietzsche als Philosoph radikaler Aufklärung Mazzino

Montinari

Mazzino Montinaris (1928—1986) Faszination von Nietzsche geht nach eigenem Bekunden auf Giorgio Colli zurück, der in den Jahren von 1942 bis 1945 am Niccolò-Machiavelli-Gymnasium in Lucca sein Philosophielehrer gewesen ist. Als keineswegs unkritischer Nietzscheaner hat Colli seine Schüler in der Opposition gegen den Faschismus bestärkt, wofür er in die Schweiz hatte fliehen müssen. Montinari konnte deshalb nie „die schlechte (weil ideologische) Gleichung Nietzsche = Faschismus" akzeptieren, auch nicht, „als der Krieg zu Ende war, und Nietzsche in Deutschland der Entnazifizierung zum Opfer fiel" 227 . Obwohl Montinari nach dem Krieg zehn Jahre in verschiedenen Funktionen für die Kommunistische Partei Italiens tätig gewesen ist, hat er sich nie der hauptsächlich von Georg Lukács artikulierten Kritik an Nietzsche angeschlossen228. Nach 1956 distanziert sich Montinari von dem dogmatischen Wahrheitsanspruch marxistischer Politik, die in der militärischen Niederschlagung des Ungarnaufstandes durch die Sowjetunion ihren brutalen Ausdruck gefunden hatte. Er gewinnt mit der Einsicht, „daß die totale Politisierung" seines eigenen Lebens „ein Irrtum war", zugleich die innere Freiheit für eine neue, diesmal maßgeblich von Thomas Mann „inspirierte ... Lektüre Nietzsches". Sie führt zu einer Unterscheidung zwischen den Sphären der Politik und der Kultur, wobei allein die Kultur rückhaltlos dem Ideal individueller Freiheit verpflichtet ist229. So ist es nur konsequent, dass Montinari Nietzsche als Philosophen rückhaltloser Aufklärung versteht230, der — vor allem nach dem Bruch mit Wagner und Schopenhauer — sein eigenes Denken als Leidenschaft der Erkenntnis charakterisiert 231 . Damit distan227

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Mazzino Montinari, Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken (1980). Nietzsche lesen, Berlin und New York, 1982, 10. Vgl. Mazzino Montinari, Per una discussione dell'interpretazione lukácsiana di Nietzsche. Il caso Nietzsche. Quaderni del convegno. Sezione Germanistica, 4, hrsg. von Marino Freschi, Cremona 1973, 67-83, und ders., Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukács (1979). Nietzsche lesen, 169-206. Mazzino Montinari, Erinnerung an Giorgio Colli. Giorgio Colli, Distanz und Pathos, 168. Vgl. Mazzino Montinari, Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe. Nietzsche lesen, 56—63. Im Zentrum der Aufmerksamkeit Montinaris steht „der ... antimythische, antiromantische, antiwagnersche Nietzsche" (ebd., 56). Vgl. dazu auch ders., Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren (1977/78). Nietzsche lesen, 38-55. Ich stütze mich bei dem folgenden Referat auf Mazzino Montinari, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung (dt. Ubersetzung von Che cosa ha „veramente" detto Nietzsche, Rom 1975), Berlin/ New York 1991. Das Buch enthält ein informatives Vorwort von Karl Pestalozzi, das die Besonderheiten der Nietzsche-Interpretation Montinaris herausstellt (V-XIV). Zu Nietzsches „Leiden-

Β Nietzsche als Philosoph radikaler A u f k l ä r u n g . Mazzino

Montinari

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ziert sich Montinari vom Frühwerk Nietzsches, das er als illusionär einschätzt, sowie vom poetisch-mythologisierenden Verkündigungsstil des Zarathustra1^. Inhaltlich folgt Nietzsches Philosophie nach Montinari dem einheitlichen Impuls einer „Kosmodicee" 233 , die das Leben in seiner Immanenz und in seiner essenziell tragischen Struktur rückhaltlos bejahen will. Dies bedeutet die philosophische Anerkennung auch des Bösen und des Leidens, das alles Leben unaufhebbar grundiert und damit zugleich die Anerkennung einer Macht, die in ihrem Kern dem begrifflichen Denken, das stets mit binären Unterscheidungen arbeiten muss, unzugänglich bleibt. Dennoch ist das Grundgeschehen des Lebens keine störend irrationale Größe, die von der Vernunft zu beseitigen oder zu bändigen wäre, sondern der Ausdruck einer Überkomplexität, die als produktive Voraussetzung aller lebendigen Wirklichkeit anerkannt werden muss. Im Gegensatz zu den kulturreformerischen Idealen des Frühwerks verzichtet der reife Nietzsche auf jede dogmatisierende Überzeugung 234 , so dass sich sein philosophisches Denken jeder Systematisierung entzieht 233 . Auch die im Umkreis des Zarathustra entwickelte Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, die für Montinari eng mit der Konzeption des Übermenschen verbunden ist, gilt ihm als Leitformel einer „großen Kosmodizee" 236 . Die vermeintlichen Lehren des späten Nietzsche sind keine ontologisierenden Aussagen, sondern sie entfalten reflexive „Grenzbegriffe am Horizont einer antimetaphysischen, antipessimistischen Vision der Welt, nach dem ,Tod Gottes'" 237 . Das Denken des späten Nietzsche (1885-1889) konzentriert sich auf den Begriff des Willens zur Macht. Montinari deutet ihn unter theoretischem Aspekt als Ausdruck einer dionysisch-tragischen Weltdeutung. Zugleich aber eignet dieser Lehre der Charakter eines Gedankenexperiments, das die permanente „Umwertung aller

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schaft der Erkenntnis" vgl. ebd. 47 u n d 75f. sowie Mazzino Montinari, Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" (1969). Nietzsche lesen, 6 4 - 7 8 . Zur Einschätzung des Zarathustra durch Montinari vgl. Pestalozzi, Vorwort zu Montinari, Friedrich Nietzsche, XI. Hinweise auf eine später differenzierte Einschätzung, die im Zuge seiner Ubersetzung dieses Textes ins Italienische entsteht, sind belegt bei Guiliano Campioni, „Die Kunst, gut zu lesen". Mazzino Montinari u n d das H a n d w e r k des Philologen. Nietzsche-Studien 18 (1989), LXff u n d LXIXff. Mazzino Montinari, Friedrich Nietzsche, 58: „... u n d im G r u n d e könnte man die ganze Philosophie Nietzsches als den ständigen Versuch einer Kosmodizee bezeichnen". Montinari e n t n i m m t diesen Begriff einem Brief Erwin Rohdes v o m 6. Februar 1872, in dem die Geburt der Tragödie als „Kosmodicee" bezeichnet wird. Montinari, Friedrich Nietzsche, 76: „Nietzsche hat keinerlei Uberzeugungen, keinerlei Reformprogramm, zu denen er seine Mitmenschen bekehren möchte". Diese Beobachtung gilt nach Montinari auch für den Zarathustra. Montinari, Friedrich Nietzsche, 80: „Sämtliche Werke Nietzsches von Menschliches, Allzumenschliches an, also auch die Morgenröthe, entziehen sich einer Systematisierung. Ihre Besonderheit, das, was sie am meisten als Werke Nietzsches charakterisiert, ist die Tatsache, daß sie ,offene' Werke sind, daß sie die Befreiung des Geistes suchen u n d nicht seine Katechisierung, klare ,unendliche Räume' hinter dem .letzten Horizont'", wie Montinari poetisch mit Leopardi formuliert. Montinari, Friedrich Nietzsche, 90f. Montinari, Friedrich Nietzsche, 93.

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

Werte" zum Ziel hat. Montinari hat einen präzisen Blick für die Gegenläufigkeit zwischen dem theoretischem und dem praktischen Aspekt der Lehre vom Willen zur Macht. Dabei stellt sich ihm die Frage, wie aus der Position eines radikalen Skeptizismus, der in erkenntnistheoretischer Hinsicht mit dieser Lehre verbunden ist, das Seiende dennoch insgesamt glaubwürdig als Wille zur Macht bezeichnet und außerdem — als Folge des praktischen Aspekts dieser Lehre — die gesamte Menschheit in ihrem Namen auf ein neues Gesetz der ständigen Umwertung aller Werte verpflichtet werden kann. Auch für Montinari ist Nietzsche als Denker und Schriftsteller an diesem Paradoxon gescheitert. Dennoch verwirklicht er im Scheitern seiner philosophischen Intention die Ideale der Aufklärung: Selbst in seinen utopischen Visionen von neuen Menschheitszielen bleibt er bei seiner Absage „an jegliche Form tröstender Transzendenz" und an jeden Versuch, die Ziele seiner „großen Politik" inhaltlich auszugestalten 238 . Sein Denken bedeutet deshalb eine „ständige Herausforderung" für das elementar kritische Welt- und Selbstverhältnis des modernen Intellektuellen 239 , weil es „eine Dimension geistiger Freiheit" eröffnet, „die . . . nie aufhören wird, alles in Frage zu stellen". Sie sollte nach Montinari „auch innerhalb einer sozialistischen und demokratischen Gesellschaft (oder in der Bewegung, die dahin führen soll)" zum Tragen kommen, da sie den Einzelnen befähigt, „seinen Schutz und sein spontanes eigenes Betätigungsfeld . . . in der Kultur (im Sinne Jacob Burckhardts) und damit letztlich gegen den Staat zu finden, vorausgesetzt, man glaubt wirklich an die notwendige Aufhebung des Staates ins ,Reich der Freiheit' und wünscht tatsächlich die Uberwindung der ,Politik' als Repression" 240 . M a n sollte diese kritische Vergegenwärtigungsintention mitbedenken, wenn man den spezifischen methodischen Impuls verstehen will, den Montinari der Nietzsche-Forschung unter philologisch-historischem Aspekt gegeben hat. Der umfangreiche Kommentarteil der kritischen Gesamtausgabe und die Fülle philologischer Detailuntersuchungen wollen dem heutigen Leser „einen Nietzsche vor Augen" führen, „der mit den kulturellen Problemen seiner Zeit bestens vertraut ist, einen Historiker Nietzsche, der herzlich wenig mit dem bleichen Gespenst vieler, vor allem deutscher Interpretationen zu tun hat, die sich damit begnügen, eine Handvoll fragwürdiger Philosopheme frei von jeglichem Bezug zu Nietzsches tatsächlichem geistigen Leben immer wieder zu drehen und zu wenden" 2 4 1 . Für 238

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Montinari, Friedrieb Nietzsche, 124: „Nietzsche schuf keine Mythen, er zerstörte sie". Dieser Satz gilt nach Montinari auch für Nietzsches Spätwerk. Vgl. dazu Wolfgang Müller-Lauter, Ständige Herausforderung. Uber Mazzino Montinaris Verhältnis zu Nietzsche, Nietzsche-Studien, 18 (1989), 32—82, sowie Montinaris eigenen Hinweis auf Overbecks Diktum: „Nietzsche ist der Mensch, in dessen Nähe ich am freiesten geatmet ... habe", Montinari, Friedrich Nietzsche, 128. Montinari, Friedrich Nietzsche, 138f. Ausführliche Informationen zur persönlichen Annäherung Montinaris an Nietzsche enthalten die beiden Artikel von Guiliano Campioni, Mazzino Montinari in den Jahren von 1943 bis 1963. Nietzsche-Studien 17 (1988), XVI-LX, und ders., „Die Kunst, gut zu lesen". Nietzsche-Studien, 18 (1989), XV-LXIV. Montinari, Friedrich Nietzsche, 115. Diese Bemerkung enthält eine sachlich so nicht zu rechtfertigende Spitze gegenüber der Nietzsche-Deutung Heideggers.

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Montinari war Nietzsche kein einsames Genie, sondern ein Autor, der die „Lektüre anderer Autoren" zum integralen „Bestandteil" des eigenen Gedankens und Textes umformt 2 4 2 . Die Bemühung, „(meistens) versteckte Zitate in seinen (sc. Nietzsches) Schriften" aufzuschlüsseln und durch Beachtung der „Exzerpte im Nachlaß", der „Randglossen, Unterstreichungen und andere(r) Lesespuren in Bänden seiner Bibliothek" das weite Umfeld zeitgenössischen Denkens zu rekonstruieren, auf das sich Nietzsche in kritisch-aneignendem oder -distanzierendem Dialog bezieht 243 , erschließt im Zentrum seines Denkens eine bislang verkannte oder durch Mythologisierungen geleugnete kritische Reflexivität und geistige Vitalität. Montinaris Auslegungskunst impliziert auch den Einspruch gegen die zeitgenössische „Inanspruchnahme Nietzsches" durch Befürworter und Gegner der postmodernen Vernunftkritik 244 . Montinari nennt als den Preis, den man für eine philologisch genaue Lektüre Nietzsches zu zahlen hat, die Gefahr, seine Texte „aus zu großer Nähe" wahrzunehmen und „über dem Versuch, den verschlungenen Wegen seines Autors genauestens nachzugehen, gleichsam das Ziel seiner Arbeit aus den Augen" zu verlieren 245 . Aus diesem Grunde war es produktiv, dass Giorgio Collis Zugang zu Nietzsche für Montinari stets als Gegengewicht zu seinen eigenen philologischen und historischen Interessen gewirkt hat 246 .

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Karl Pestalozzi führt dieses Motiv, das für Montinaris historisch-philologische Arbeit an Nietzsche zentral ist, auf den Einfluss des Historikers Delio Cantimori zurück, bei dem Montinari promoviert hat. Vgl. dafür auch Mazzino Montinari, Delio Cantimori e Nietzsche (1978). Su Nietzsche, Rom 1981, 104-122. Pestalozzi betont zu Recht: „Quellenforschung ist für die Methode, die sich daraus ergab, nicht die richtige Bezeichnung, es ist das Phänomen der Intertextualität, das Montinari avant la lettre an Nietzsche aufging" (Pestalozzi, Vorwort zu: Montinari, Friedrich Nietzsche, VIII). Mazzino Montinari, Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute. Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bauschinger (Hg.), Nietzsche heute (1988), 137. Vgl. dazu Müller-Lauter, Ständige Herausforderung. Nietzsche-Studien 18 (1989), 40ff. Auf den philologischen Beitrag Montinaris zur Charakterisierung des Nachlasses, der souverän mit früheren Stilisierungen Nietzsches zu einem Systematiker und deutsch-nationalen Philosophen der Macht bei Elisabeth-Förster-Nietzsche, Peter Gast, Alfred Bäumler und Erich Friedrich Podach abrechnet, sei ausdrücklich verwiesen: Montinari, Nietzsches Nachlass von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht (1976). Salaquarda (Hg.), Nietzsche (1980), 323-349. Mazzino Montinari, Glanz und Elend der philologischen Arbeit. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1985, Heidelberg 1986, 56f. und das Vorwort zu ders., Nietzsche lesen, VII: „Der Herausgeber bleibt ... im Netz seiner historisch-philologischen Vor- und Rücksichten gefangen: so sehr, daß er die Nietzsche-Interpretation, die sich hinter diesem Band verbirgt und der er gleichsam ausgewichen ist, selber noch gar nicht entdeckt hat. Lauter Präliminarien, lauter Warnungen, lauter Bereinigungen erhält man hier im Hinblick auf eine mögliche NietzscheLektüre; die Sache aber, um die es eigentlich geht ... die direkte Auseinandersetzung mit Nietzsche selbst, scheint aufgeschoben zu werden, in die Ferne gerückt. Sei's drum! Der Verfasser möchte mit diesen Versuchen ein Gespräch mit Lesern Nietzsches beginnen. Der Titel ... soll auf einen (langsamen) Prozeß der Annäherung an den gewaltigen Fluß seines Denkens deuten." Vgl. auch dafür die bereits in der Anm. 240 des vorliegenden Buches erwähnten Beiträge von Giulio Campioni.

C Nietzsche als Begründer einer radikal hermeneutischen Philosophie

Gianni Vattimo Gianni Vattimo (geb. 1936) ist einer der führenden, auch international bekannten Vertreter der italienischen Gegenwartsphilosophie. Er vertritt heute ein sich als postmodern deklarierendes Denken des pensiero debole, das sich von definitiven Wahrheitsprinzipien und Gewissheitsansprüchen ebenso distanziert wie von jenen Spielarten des französischen Poststrukturalismus, denen der Autor einen latenten Rousseauismus unterstellt, nämlich die Überzeugung, durch kreative Entfesselung des Metapherntriebes den menschlichen Wirklichkeitsbezug aus dem Bann logozentrischen Denkens herauslösen und in ein gleichsam authentisches Spiel der Dionysie einführen zu können. Da sich der französische Poststrukturalismus auf Nietzsche und Heidegger beruft, kann es nicht überraschen, dass auch Vattimo seine davon abweichende Überwindung des Logozentrismus in der Auseinandersetzung mit diesen beiden Philosophen profiliert. In der Berufung auf Nietzsche zeigt sich zudem die Entwicklung seines eigenen Denkens, das von einer marxistisch-revolutionären Position ausgeht und in einer Philosophie der Hermeneutik zum Abschluss kommt — eine Entwicklung, die charakteristisch ist für die Situation der italienischen Gegenwartsphilosophie. Vattimo hat sein Konzept des pensiero debole nicht von Anfang an vertreten. Seine erste Annäherung an Nietzsche steht vielmehr im Zeichen des marxistischen Revolutions- und Befreiungsbegriffs. Dabei wird Nietzsche als ein Philosoph interpretiert, der aufgrund der kulturellen und individuellen Implikationen seines Denkens das von Marx intendierte Konzept einer primär ökonomisch-politischen Verwirklichung von Freiheit an Radikalität überbietet. Bereits die Ipotesi su Nietzsche1 führen einen „authentischen und grundlegenden Dialog mit Nietzsche" aus marxistischer Position, der möglich geworden war durch die Überwindung der politisch-weltanschaulich bedingten Vorurteile gegenüber Nietzsche nach 1945 und durch die Erschließung der authentischen Texte seines Nachlasses248. Inhaltlich konzentriert sich Vattimo in seinem ersten Nietzsche-Buch auf Themen wie 247 248

Gianni Vattimo, Ipotesi su Nietzsche, Turin 1967. Vgl. dazu Gianni Vattimos Übersicht über die Nietzsche-Interpretation nach 1945: Ipotesi su Nietzsche, 159—193 (Gli studi su Nietzsche dopo la seconda guerra mondiale). Dieser Abschnitt ist als Ersatz für die im vorliegenden Buch aus den eingangs erwähnten Gründen unterlassene Darstellung der ersten Phase der italienischen Nachkriegsdiskussion hervorragend geeignet. Für eine Fortsetzung dieser Ubersicht bis etwa 1975 vgl. den Hinweis in Anm. 267 des vorliegenden Bandes.

C Nietzsche als B e g r ü n d e r einer radikal h e r m e n e u t i s c h e n Philosophie

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„Nihilismus", „Geschichte", „Wertsetzung", „Wahrheit" und „esercizio ontologico", die er in späteren Arbeiten wieder aufnimmt. Zunächst geschieht dies in Il soggetto e la maschera, in dem er gegen Heideggers Deutung des Willens zur Macht als Endgestalt der Metaphysik den Beitrag Nietzsches zu einer vollständigen „Befreiung" aus den Fesseln metaphysischen Denkens herausstellt 249 . Im Zentrum des Buches Le avventure della differenza steht ein Problem, das mit dem Thema von II soggetto e la maschera eng verbunden ist, nämlich die Antwort Nietzsches auf die Frage, was philosophisches Denken und der mit ihm verbundene Anspruch auf Wahrheit nach dem Ende der Metaphysik überhaupt noch bedeuten können 250 . Die Intention, mit Nietzsche das Denken der Metaphysik hinter sich zu lassen, wird zum entscheidenden Motiv von Vattimos eigenem Philosophiekonzept, das er auch in einer kritischen Distanzierung von der Nietzsche-Deutung Derridas und seiner Schüler Bernard Pautrat, Jean Michel Rey und Sarah Kofman profiliert 251 . Der Nietzsche der Dekonstruktionisten entpuppt sich für Vattimo noch als unfreiwilliger Gefangener des metaphysischen Denkens, das bei diesen Autoren die von ihnen selber gar nicht als metaphysisch durchschaute Form einer Theorie des geschichtslosen Widerspiels zeitfreier Strukturen (etwa des Dionysischen oder des Apollinischen), der Nicht-Präsenz oder einer ursprünglich bereits unreinen, weil von der Regel der „différence originaire" geprägten „Dionysie" des Seins annimmt 2 3 2 . Demgegenüber macht Vattimo geltend, dass Nietzsches Philosophie in ihrer sprachlichen Gestalt und von ihrem Inhalt her

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Gianni Vattimo, Il soggetto e la maschera. Nietzsche e il problema della liberazione, Mailand 1974. Zur Diskussion über Nietzsche als Philosoph der Befreiung vgl. auch den Sammelband Nietzsche e la liberazione. Discorso a sei voci, Vorwort von Sergio Cotta, L'Aquila 1975, mit Beiträgen von Bruno R o m a n o (Critica al concetto di liberazione in Nietzsche, 11-29), Andrea Bixio (Nietzsche e la liberazione del simbolico, 31—42), Adriano Ballarmi (Lapolitica come liberazione totale, 43—91), Pierfranco Ventura (Considerazionifdosofichesu Nietzschepsicologo, 93-130), Diego Pecilli (Volontà infinita e valori oggetivi, 131-142) u n d Carlo Menghi (La liberazione in Nietzsche secondo Scheler, 143—169). M a n entdeckt in diesem kleinen Band eine Reihe von Autoren, die sich in ihren monographischen Arbeiten rechts-, politiktheoretischen u n d psychoanalytischen T h e m e n zuwenden u n d sich dabei immer wieder auf Nietzsche (und Foucault) beziehen. Vgl. Bruno Romano, Soggetto, libertà e diritto nel pensiero contemporaneo. Nietzsche verso Lacan, R o m 1983, Adriano Ballarmi, Essere collettivo dominato. Nietzsche e il problema della giustizia, Mailand 1982, u n d Pierfranco Ventura, Normalità e normatività. Prospettiva fìlosofìco-guiridico per una fenomenologia della anormalità, Mailand 1982, u n d ders., La psicoanalisi colletiva, Mailand 1984. Carlo Menghi u n d Sergio C o t t a haben in einer Fülle von Monographien zur Diskussion über eine neuzeitlich angemessene Fundierung von Recht, Normativität u n d politischer O r d n u n g beigetragen. Gianni Vattimo, Le avventure della differenza. C h e cosa significa pensare dopo Nietzsche e Heidegger, Mailand 1980. Gianni Vattimo, Nietzsche heute? Philosophische Rundschau 24 (1977), 6 7 - 9 1 . Z u diesen Autoren vgl. im vorliegenden Buch S. 39—56. Vor allem Bernard Pautrat wird vorgeworfen, einen ontologischen Begriff der Dionysie zu verwenden u n d von ihm aus eine Verbindung zwischen Nietzsche u n d Hegel herzustellen, die „sowohl auf Kosten der tasächlichen historischen Stellung der beiden Autoren" erfolgt „als auch ... auf Kosten ihrer Bedeutung für die Geschichte, in der wir stehen u n d die gerade gemacht wird". Nietzsche heute? Philosophische Rundschau (1974), 74.

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

einen wirklichen „Umsturz der philosophischen Tradition" bedeutet233 und nicht nur die Gestalt einer milden Parodie annimmt, die der Metaphysik als dem Denken einer Primärqualität des Seienden noch wie ein Schatten verbunden bleibt234. Nietzsches Philosophe ist ein anti-metaphysisches Denken der Differenz. Und dies bedeutet, dass Differenz nicht den Ursprung allen Seins bestimmt, wie dies nach Vattimo in Derridas Deutung der nietzscheschen Philosophie als Theorie einer „différence originaire" vorausgesetzt ist. Differenz ist keine an sich selbst ursprüngliche Realität, sondern sie verweist auf „Ereignisse", die sich in ihrer energetischen Aktivität und in ihrer geschichtlichen Konkretion nicht mehr durch ein sich selbst differenzierendes Spiel ursprünglicher Dionysie auffangen lassen255. Der wichtigste inhaltliche Beitrag von Vattimos früher Nietzsche-Deutung besteht nach meiner Überzeugung aber nicht in dieser philosophisch vage bleibenden und im Übrigen bei Klossowski wesentlich genauer herausgearbeiteten Charakterisierung des nietzscheschen Denkens als einer Philosophie explosiver Differenz, sondern in einer Interpretation der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Vattimo hat sie in seinem Buch II soggetto e la maschera vorgetragen. Dort macht er deutlich, dass diese Lehre sich nicht nach dem Vorbild Karl Löwiths256 in den Zwiespalt zwischen einer kosmologischen und einer ethischmoralischen Aussage auflösen lässt257, sondern dass Nietzsche mit ihr den elementar aktiven, in sich jedoch ambivalenten Charakter menschlicher Zeiterfahrung entdeckt. Jeder Augenblick der Zeit gewinnt seine Bedeutung nur im Bezug auf

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Vattimo, Nietzsche heute? Philosophische Rundschau (1974), 67. Vattimo, Nietzsche heute? Philosophische Rundschau (1974), 80. Im Blick auf meine eigenen Hinweise zu Derrida (vgl. im vorliegenden Band S. 39ff. und S. 95ff.) ließe sich Vattimos eindeutig zu .metaphysisch' ausfallende Lesart der poststrukturalistischen Nietzsche-Interpretation bestreiten. Aus sachlichen, primär an Nietzsche selber zu profilierenden Gründen ist es trotzdem plausibel, dass Vattimo aus dem französischen Sprachraum die konsequent antihegelsche Nietzsche-Deutung von Gilles Deleuze und die am Begriff des Komplotts orientierte Interpretation von Pierre Klossowski favorisiert. Sogar die Nietzsche-Adaption des Anti-Œedipe von Deleuze und Guattari wird den Interpretationen Derridas und seiner Schüler vorgezogen, weil die Autoren des Anti-Odipus in ihrer Apologie für eine anti-psychiatrische Bewegung geltend machen, dass Nietzsches Text Kräfte zum Ausdruck bringt, die jeden, auch den eigenen Text radikal transzendieren: Nietzsche heute?, 87ff. Später bezieht Vattimo auch Deleuze in seine Kritik an der Derrida-Schule mit ein. Vgl. dazu Gianni Vattimo, Nietzsche und das lenseits vom Subjekt. Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik (dt. Ubers. \on Al di là di soggetto. Nietzsche, Heidegger e l'ermeneutica, Mailand 1985), Graz und Wien 1986. Vattimo interpretiert dort seinen eigenen Begriff der Differenz als das Analogon zu dem als dezidiert anti-ontologisch aufgefassten Kraftbegriff Nietzsches: Seine „Distanz zu jedem empirischen oder transzendentalen Idealismus, aber auch und vor allem zu jeder dialektischen Perspektive" (41) impliziert ebenso eine Distanz zur vermeintlich „reinen Explosion einer freien metaphorisierenden Tätigkeit", die für Deleuze das Zentrum des nietzscheschen Denkens bildet (54). Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956 (zuerst Berlin 1935). Für die Auseinandersetzung mit Löwith vgl. Gianni Vattimo, Nichilismo e problema della temporalità. Ipotesi su Nietzsche, 7—57.

C Nietzsche als Begründer einer radikal hermeneutischen Philosophie

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andere Augenblicke einer ihm gegenüber vergangenen oder zukünftigen Zeit (189ff.). Dabei kann die Erfahrung des gegenwärtigen Jetzt ihre eigene Bedeutung zugunsten eines vergangenen oder zukünftigen Zeitraums aufheben oder relativieren. Die Entwertung der unmittelbaren Gegenwart zugunsten einer von ihr verschiedenen Zeit ist der Entstehungsgrund für die Dekadenzphänomene des Historismus und des Nihilismus 2 5 8 . Allerdings kann im Ausgang von derselben Struktur der Zeit das Jetzt auch aufgewertet werden, so dass es sich Zeitpunkte der Vergangenheit oder der Zukunft zur Verstärkung seiner eigenen Ausdruckskraft unterordnet (249ff.). Ihre originär aktivische Maximalbedeutung gewinnt die Lehre von der ewigen Wiederkunft nur in der Verbindung mit den Lehren vom Übermenschen und vom Willen zur Macht (205): Die Struktur aktiver Zeiterfahrung, die der Lehre von der ewigen Wiederkunft zugrunde liegt, muss in einer Entscheidung gewollt werden, die einzig dem Willen zur Macht des Ubermenschen gelingt. Nur aus dem übermenschlichen Willen zur Macht gelingt eine, im Sinne von Deleuze gesprochen, aktive Erfahrung gegenwärtiger Zeit, die den Abstieg in eine nihilistisch gefärbte „struttura edipica" der Zeiterfahrung vermeidet. Vattimo hat sich später von seiner emphatischen Deutung des Ubermenschen als aktiver Synthese aus dem Willen zur Macht und der Gesetzmäßigkeit ewiger Wiederkehr verabschiedet. Der Übermensch war auch von ihm zunächst als die Erfüllung eines authentischen Konzepts humaner Selbstverwirklichung missverstanden worden 2 3 9 . Dabei musste unbedacht bleiben, dass Nietzsche, der im Unterschied zu Marx keinen politischen Agenten der Revolution ausfindig machen konnte, das Konzept der von ihm gemeinten Befreiung nur mehr durch eine mythische Figur verbildlicht hat, nämlich in der fiktiven Gestalt Zarathustras. Ein Konzept, das seinen Sinn von Freiheit bewusst in einer mythischen Figur vorführt, hat damit zugleich gesagt, dass sich der mit ihm gewollte Gehalt nicht authentisch durch eine Form der Praxis umsetzen lässt. Im Blick auf Nietzsches in sich gebrochene Philosophie der Freiheit, die sich nicht nur jedem politischen Aktionismus, sondern vor allem auch jeder Theorie des politischen Handelns verweigert, hat Vattimo in den achtziger Jahren seinen 258

259

Das aktive Jetzt erscheint in diesem Modell metaphorisch als „Vater" aller Zeit. Wenn er zugunsten der Vergangenheit oder der Zukunft gleichsam „ermordet" wird, entsteht eine „ödipale" Struktur der Zeit. Nietzsche ist für Vattimo ein Kritiker „ödipaler Zeit", so dass er ihn mit dem Konzept des Anti-Œdipe von Deleuze und Guattari in Verbindung bringen kann. Vgl. dazu Vattimo, Il soggetto, 249ff. (Lo spirito di vendetta e la struttura edipica del tempo). Für diese Selbstkritik Vattimos vgl. ders., Das Fliegenglas, das Netz, die Revolution und die Aufgaben der Philosophie. Ein Gespräch mit „Lotta continua". Jenseits vom Subjekt (1986), 28ff.: „Nietzsches Uber-Mensch stellte sich ... als eine Art Hegelscher absoluter Geist oder als ,nichtentfremdeter' Mensch im Marxschen Sinne dar, das heißt, er definierte sich im Zeichen der Versöhnung, der Wieder-Aneignung seiner selbst ... im Zeichen von Selbstbewußtsein". Vattimo hat den Begiff des Ubermenschen im Übrigen nicht wie üblich durch den Terminus „superuomo", sondern mit dem Begriff „Γoltreuomo" übersetzt, um ihn von jeder martialischen Konnotation freizuhalten. Zur Begründung vgl. Il soggetto, 283ff. („L'oltreuomo e il mondo liberato").

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

ursprünglich emphatischen Begriff von Befreiung deutlich herabgestimmt und ihn so in sein Konzept des pensiero debole integriert 260 . Auch das Konzept schwachen Denkens' hält fest am Begriff der unüberbrückbaren Trennung von Sein und Erscheinung oder von Wesen und Maske, der bereits in II soggetto e la maschera als die entscheidende Einsicht Nietzsches herausgestellt worden ist. Die Betonung dieser radikalen Differenz bedeutet jetzt, dass es eine „Befreiung jenseits der kontingenten Erscheinungen in einem vermeintlichen Reich des eigentlichen Seins" nicht geben kann.,Freiheit' meint dann nur noch so etwas wie „Mobilität zwischen den ,Erscheinungen'". Nachdem „die wahre Welt zur Fabel geworden ist", verweisen „Erscheinungen" nicht mehr auf ein Ding an sich im Sinne eines authentischen Seins jenseits seiner phänomenalen Verwirklichung. W i r leben vielmehr nur noch in einer plural verfassten Welt von Phänomenen, und zu ihnen verhalten wir uns dann nach einer Regel der Freiheit, wenn wir uns nicht dem Gesetz einer einzigen Erscheinung oder den Ansprüchen einiger privilegierter Phänomene unterwerfen, sondern ein Leben führen, das sich der Tendenz nach auf „die Gesamtheit der Botschaften" bezieht, „die die Menschheit uns in der Sprache und in den symbolischen Formen' überliefert" hat. An die Stelle eines metaphysischen Denkens des Ganzen von Wirklichkeit tritt deshalb ein hermeneutischer Bezug auf die Totalität von Phänomenen und ihrer Interpretationen. Hermeneutische Philosophie intendiert keine Befreiung zu einem wie auch immer bestimmten an sich selbst wahren Sein, sondern sie zeigt den Bewohnern der postmodernen Welt, „wie man sich in diesem Geflecht von Botschaften bewegt", nämlich so, dass „sie uns jede einzelne Botschaft und jede einzelne Erfahrung in ihrer unauflöslichen Verbindung mit allen anderen ... erleben läßt" 261 . Nietzsche ist für den späten Vattimo der entscheidende Begründer einer hermeneutischen Ontologie 262 , die „zu spezifischen ontologischen Ergebnissen gelangt". Weil sie „relevante... Aussagen über den Sinn des Seins" formuliert, erfüllt sie nichts Geringeres als die traditionelle „Aufgabe der Metaphysik" (N3). Nietzsches Ontologie besteht inhaltlich gesehen in einer „Reflexion über die Existenz", die an Motive der antiken Sophistik und Rhetorik, der neuzeitlichen Moralistik, der Ästhetik und der Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts verstärkend anknüpft 263 . Sie initiiert damit eine Denkbewegung, die, 2611

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Vgl. dafür II pensiero debole, hrsg. von Gianni Vattimo, Mailand 1988, sowie die Einleitung zu Gianni Vattimo, Das Ende der Moderne (dt. Ubers, von La fine della modernità, Mailand 1985), Stuttgart 1990, 5-21. Vattimo, Das Fliegenglas. Jenseits vom Subjekt (1986), 16. Vgl. dazu Gianni Vattimo, Introduzione in Nietzsche, Rom und Bari 1985. Ich zitiere im Folgenden unter der Chiffre Ν mit jeweiliger Seitenangabe nach der deutschen Ubersetzung: Nietzsche. Eine Einführung, Stuttgart und Weimar 1992. Vattimo, Nietzsche, 2. Vattimo bezieht sich dort auf den Gedanken Diltheys, nach dem die Lebensphilosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht als irrationalistische Metaphysik des Vitalismus zu verstehen ist, sondern als „eine Reflexion über die Existenz", die deren Uberkomplexität bejaht und deshalb für sich selbst „jeden .wissenschaftlichen' Anspruch auf Geltung und Begründung" aufgibt.

C Nietzsche als B e g r ü n d e r einer radikal h e r m e n e u t i s c h e n Philosophie

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wie ein Blick auf Heidegger und Gadamer verdeutlicht, für die Philosophie des 20. Jahrhunderts bereits prägend geworden ist und die nach Vattimos Uberzeugung für die Philosophie der Zukunft insgesamt paradigmatisch werden sollte. Ihre Grundzüge sind in der Lehre vom Willen zur Macht angelegt, so dass jetzt sie anstelle der früher von Vattimo favorisierten Lehre der ewigen Wiederkehr den entscheidenden Fluchtpunkt des nietzscheschen Denkens darstellt. Schon in den frühen Schriften zeigt sich in der Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen ein Leitfaden, der Nietzsches Denken als eine sich in Brüchen und dennoch konsequent entfaltende Einheit zusammenhält 2 6 4 . Dabei geht es inhaltlich um ein Denken der antithetischen Spannung zwischen abstrakter Rationalität und leidenschaftlicher Spontaneität, aber auch von Öffentlichkeit und Privatheit, die weder zugunsten der einen noch der anderen Seite aufgehoben werden darf. Exemplarisch verweist Vattimo auf den Aphorismus 251 des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, nach dem „eine höhere Cultur" sich dadurch auszeichnet, dass sie „dem Menschen . . . gleichsam zwei Hirnkammern" zugesteht, „einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden" (KSA, 2, 209). Auch die Gegenüberstellung des wissenschaftlichen und des intuitiven Menschen in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne gilt als Plädoyer für die wechselseitige Anerkennung und Steigerung zweier in sich gegensätzlicher Zugangsweisen zu „Wirklichkeit". In der zweiten Phase seines Denkens distanziert sich Nietzsche definitiv von Schopenhauers und Wagners Metaphysik der Kunst. Kunst dient nicht mehr der authentischen Annäherung an einen in sich komplexen und widersprüchlichen, aber gerade dadurch lebendigproduktiven Grund der Welt, sondern sie macht nur mehr „das Wissen von der Unvermeidbarkeit jener Irrtümer erträglich . . . , auf die das Leben und die Erkenntnis" notwendig „gegründet sind" 265 . Die Anerkennung der irreduziblen Komplexität des Lebens motiviert Nietzsche zu einer Destruktion platonisch-christlicher Moral. Dabei stützt er sich auf einen philosophisch beachtenswerten Begriff menschlicher Handlung, den herausgearbeitet zu haben nach meiner Auffassung die zweite bleibende Leistung der Nietzsche-Interpretation Vattimos darstellt. Nietzsche unterstellt dem Handeln einen

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265

Vattimo, Nietzsche, 14: „ . . . Nietzsche legte (sc. in der Geburt der Tragödie) . . . die Grundlagen jener u m den Begriff der Interpretation zentrierten ,Ontologie', die später in den W e r k e n der Reifezeit und in den Fragmenten des Willens zur Macht ausgearbeitet wird. Das Zusammenspiel des Apollinischen und Dionysischen sowie der zweideutige Sinn der Tragödie als Befreiung vom und zum Dionysischen im schönen Bild des Apollinischen bleiben entscheidende Elemente für die gesamte spätere Entwicklung in Nietzsches Denken und bilden die Grundlage seiner theoretischen Aktualität". Vattimo, Nietzsche, 38. Vattimos Nietzsche-Deutung berührt sich unter diesem Aspekt durchaus mit derjenigen der Derrida-Schüler Pautrat und Kofman, aber auch mit derjenigen von Giorgio Colli.

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

originär performativen Sinn. Dies hat zur Folge, dass menschliches Handeln nicht auf letzte, in sich einfache Elemente zurückgeführt werden kann, die sich als Ziele oder als Motive des Handelnden interpretieren ließen. Das Handlungsgeschehen bleibt vielmehr der „Bewußtseinsherrschaft des Subjekts" entzogen (N 42). Vor allem in der Genealogie der Moral zeigt Nietzsche, dass ein Handlungsvorgang aus einer rational nicht beherrschbaren, d.h. weder kausal noch teleologisch interpretierbaren Verbindung aus Lust- und Unlustempfindungen hervorgeht. Die Empfindungen von Lust und Unlust bilden keine atomaren Bausteine des Handelns, da sie nicht als in sich einfache Einheiten im Sinne von psychologisch definierbaren Fakten, sondern als variabel aufeinander reagierende synthetische Gebilde aus Instinkten, Empfindungen, Gedanken und Urteilen zu verstehen sind. Vattimo weist deshalb den in sich komplexen Empfindungen von Lust und Unlust in erkenntnistheoretischer Hinsicht den Status „formaler" oder „transzendentaler" Begriffe zu (N43). Wenn es komplexe, mit Elementen der Rationalität und Urteilsfähigkeit angereicherte Lust- und Unlustempfindungen sind, die den Grund des Handlungsgeschehens ausmachen, so bilden sie aufgrund ihrer nicht antizipierbaren Füllung kein in sich selbst stabiles Fundament, sondern den gleichsam dramatischen „Ausgangspunkt" von Handlungen, die in ihrer „Vielgestaltigkeit" nur erkannt werden können, wenn man sich selber im Nachvollzug mit ihnen „bewegt" (N 44). „Handlung" scheint deshalb für Nietzsche so etwas wie ein nicht weiter ableitbarer, in sich komplexer Fundamentalbegriff zu sein, der, wie die Lehre vom Willen zur Macht und ihre Anwendung in der Genealogie der Moral deutlich machen, eine holistische Struktur aufweist. Eine platonisch-christliche Moral bezieht sich mit ihren Normen immer auf einen handlungsexternen Raum, um von ihm aus das Handlungsgeschehen zu bewerten. Sie hat damit die holistische Struktur der Handlung verlassen und sich dadurch der einzigen Möglichkeit begeben, den Raum des Handelns angemessen aus seiner Binnenperspektive als performatives ,Ereignis' radikaler Individualität wahrzunehmen. Nietzsche will in seiner Spätphilosophie die Lehre vom Willen zur Macht in einem systematischen Hauptwerk darstellen. Weil der Wille zur Macht den Motor des performativen Handelns darstellt, weist er Aspekte auf, die nur in Interpretationen erkennbar werden können, die gleichzeitig physiologisch und ästhetisch ausgerichtet sind. Da die Handlung künstlerischer Produktion von derselben Ambivalenz zwischen Physiologie und Ästhetik geprägt ist, wird die Kunst zum entscheidenden Modell für das angemessene Verstehen des vom Willen zur Macht bestimmten Handlungsgeschehens 266 . Die Kunst erschließt Bilder „vom Dasein in einer Welt", die in der ausschließlichen Gestaltung durch den moralisch ungezügelten Willen zur Macht vollständig frei ist „von stabilen Grundlagen und Struk-

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Vgl. dafür Vattimo, Le avventure, 97ff. (La volontà di potenza come arte).

C Nietzsche als Begründer einer radikal hermeneutischen Philosophie

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turen, von letzten Wesensbestimmungen und irgendwelchen Garantien" (N 90). In der Orientierung an der Kunst realisiert Nietzsches Denken einen „Geschmack am Tragischen", der „keine letzten Lösungen nötig" hat. Er verstärkt damit auch in praktischer Hinsicht die Bereitschaft, „im offenen Horizont einer Welt" zu leben, die als Wille zur Macht zugleich der Struktur der ewigen Wiederkehr des Gleichen unterliegt (N 91). Das alte T h e m a der Synthese zwischen den zentralen Lehren des späten Nietzsche, das Vattimo früher von der ewigen Wiederkehr aus zu klären versucht hatte, erhält jetzt einen Akzent, der den W i l l e n zur Macht in den Vordergrund stellt. Diese Vorrangstellung ist ontologisch begründet: Der Wille zur Macht verweist in singulärer Weise auf eine Welt, in der das Dasein nicht mehr auf eine Form des Seins zurückzuführen ist, sondern auf den performativen Vorgang radikaler Produktivität und damit „auf das reine Ereignis" einer Interpretation von Wirklichkeit (N 96). Vattimos eigenwillige Integration Nietzsches in das von ihm selber vertretene Konzept „schwachen Denkens" ist für deutschsprachige Leser in den Aufsatzbänden Jenseits vom Subjekt und Das Ende der -Moi/mzi bequem nachzuvollziehen. In Das Ende der Moderne werden „Resultate der Reflexion Nietzsches und Heideggers" im Konzept des pensiero debole miteinander verbunden, weil sie „den . . . nicht immer kohärenten Denkansätzen der Postmoderne" eine bislang unbekannte „Strenge und W ü r d e " verleihen (5). Dabei erweist sich die Bedeutung Nietzsches für ein Begreifen des gegenwärtigen Zeitalters der Postmoderne als außerordentlich komplex. Weil er in ontologischer Hinsicht das Sein nicht mehr als eine in sich verharrende Einheit denkt, sondern als ein Handlungsgeschehen und damit als das a priori instabile Ereignis eines sich performativ bekundenden Willens zur Macht, eröffnet Nietzsches Denken gegenüber der metaphysischen Tradition „eine andere Möglichkeit der menschlichen Existenz" (16). Sie ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht abhängig von „einer nicht-metaphysischen Auffassung von Wahrheit", die sich an „der Erfahrung der Kunst" und am „Modell der Rhetorik" orientiert (17f.). Nach dem Tode Gottes ist das menschliche Dasein von der Notwendigkeit der Letztfundierung in einem absoluten Wert entlastet. Die für das Zeitalter der Postmoderne charakteristische Auflösung von Stabilität in fluide Formen oder, in Vattimos Worten, die „Auflösung von Sein in Tauschwert" „vor allem in Sprache . . . und Interpretation" (31) wird deshalb im Zeichen Nietzsches nicht mehr kulturkritisch beklagt, sondern ohne Einschränkung bejaht. Es ist deshalb notwendig, im Namen Nietzsches solche Strategien einer „Befreiung" zu kritisieren, die sich, wie noch Marx, auf die Wiederherstellung eines vermeintlich authentischen Wertes humaner Existenz festlegen. Der Begriff der „allgemeine(n) Verdinglichung", der für den traditionellen Marxismus die negative Kategorie par excellence darstellt, gilt bei Vattimo als eine primär positive Kategorie. Zwar bezeichnet er noch gelegentlich die Möglichkeit einer Gefährdung humaner Existenz, in erster Linie aber steht er für die befreiende „Aufhebung" des Zwangs,

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

der angeblich seit Piaton von jedem absoluten Wert auf das menschliche Dasein ausgegangen ist (32). „Verdinglichung" ist der positive Gegenbegriff zu „Absolutismus" und meint eine Konkretisierung und Individualisierung, die das Dasein von jedem gestaltenden Zugriff entlastet, der für sich eine Perspektive des Absoluten geltend macht. In Jenseits vom Subjekt gilt es als die wichtigste Aufgabe des philosophischen Denkens in der postmodernen Gegenwart, im Ausgang von der performativen Sinnerfahrung der Kunst, die an die unmittelbare Gegenwärtigkeit des besonderen Augenblicks gebunden bleibt, Regeln für das angemessene Verhalten in einer essenziell plural verfassten Welt individueller Ereignisse zu finden. In der Postmoderne ist das Problem der Zukunft und des mit ihr verbundenen Fortschritts auf der politisch-ökonomischen Ebene bereits gelöst, weil hier „das Sichgeben von Neuem ... durch die Automatismen" der modernen Industriegesellschaft schon aus sich selbst heraus „garantiert ist". Es geht deshalb in der Philosophie nicht um Zielreflexionen eines zukünftigen allgemeinen politischökonomischen Lebens, sondern um die Entdeckung gleichsam privater Regeln für den angemessenen Umgangs mit den in sich vielfältigen Elementen der politischgesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit. Zu gewinnen sind sie eher durch konservative als durch revolutionäre Tugenden, vor allem durch die Bereitschaft zu dauerhafter, geduldiger „Fortführung des Dialogs mit dem, was ... die Geschichte, die Tradition, die Sprache" überliefern, durch den „Respekt vor dem, was lebt oder gelebt hat," und durch die treue „Pflege des Gewesenen, der Reste" und „der Spuren der Vergangenheit" (18f.). Für die Kultur der Gegenwart stellt sich deshalb als die entscheidende Frage diejenige, „ob wir in der Lage sind, in einer Welt, in der ,Gott tot ist', ohne Neurosen", d. h. ohne Orientierung an absoluten Normen des Wissens und des Handelns „zu leben", obwohl wir wissen, dass es in dieser Welt „keine festen, gesicherten, wesentlichen Strukturen, sondern ... nur Justierungen geben kann". Eine positive Antwort auf die entscheidende Lebensfrage der Postmoderne ist abhängig von einer Philosophie, die das verstärkt, was Nietzsche unter dem Begriff des ,guten Charakters' verstanden hat. Nur eine hermeneutische Philosophie im Zeichen Nietzsches, Heideggers und Gadamers findet im Blick auf die in ihr vorausgesetzte Ontologie explosiver, performativer und individueller Ereignishaftigkeit die Norm für die Realisierung einer plurivalent in sich „schwingenden" Existenz, die in einer nicht resignativen Weise vom Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit durchdrungen ist (34f.).

D Nietzsches dionysische Optik der Extreme Ferruccio Masini Der auch als Nietzsche-Übersetzer hervorgetretene italienische Germanist Ferruccio Masini (1928—1988) hat eine textbezogene und zugleich philosophisch ungewöhnlich urteilssichere Nietzsche-Interpretation vorgelegt 267 . Sie berührt sich zwar in vielen Punkten mit dem Nietzsche des pensiero debole im Sinne Vattimos, aber sie versteht ihn nicht so sehr als Ratgeber für die komplexe Gestaltung der Binnen- oder der Privatwelten von Bewohnern der Postmoderne. Nietzsche ist in dieser Deutung vielmehr der Theoretiker einer radikal „dionysischen Optik" (27), die vor allem an Züge der von Foucault und Colli entworfenen Nietzsche-Bilder anknüpft. „Optik" meint einen Modus des Sehens von Wirklichkeit, der dem „Sehen" keine passiv-registrierende, sondern eine aktiv entwerfende Funktion zubilligt. Mit der „dionysischen Optik" ist also eine „Optik der Extreme" gemeint, in der so etwas wie eine in sich radikal gegensätzliche „Welt" entsteht, näherhin die „Welt", die Nietzsche mit der Formel des Willens zur Macht umschreibt. Masini versteht den Willen zur Macht primär als einen elementaren „Willen zum Schaffen", der seine Souveränität im Sinne von Bataille und Klossowski darin bekundet, dass er sämtliche Formen dialektischer Selbststabilisierung hinter sich lässt. Nietzsches Denken eröffnet eine „Perspektiven-Welt", die nicht von gleichbleibenden Strukturen, sondern im Gegenteil von einer „volontà contradittoria in se stessa" geprägt ist. Seine Philosophie intendiert keine „Auslöschung der Gegensätze", sondern ihre ekstatische „Suspension" durch den „gioco dionisiaco" eines beständigen Zerstörens und Schaffens (29). Die Konsequenzen dieser Deutung lassen sich gut in einem Vergleich mit Massimo Cacciaris Interpretation des Willens zur Macht als Denkform des pensiero negativo erläutern 268 .

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268

Ferruccio Masini, Lo scriba del caos. Interpretazione di Nietzsche, Bologna 1978. Eine geringfügig erweiterte Neuausgabe ist 1984 erschienen. Im Folgenden zitiere ich nach der Erstausgabe von 1978. Besonders zu beachten ist die Introduzione, die unter d e m Titel Interpretare Nietzsche (13— 56) den eigenen Ansatz in Auseinandersetzung mit den bis dahin vorliegenden Nietzsche-Interpretationen vor allem in Italien profiliert. Masinis Ausführungen zu diesem P u n k t können als Fortführungen der kritischen Ubersicht von Gianni Vattimo zur italienischen Nietzsche-Rezeption der fünfziger u n d sechziger Jahre gelesen werden. Masinis eigener Ansatz ist von der strukturalistischen Nietzsche-Deutung in Frankreich beeinflusst, bezieht sich aber auf sie durchaus selbständig. Für die literarisch-philosophischen Interessen Masinis vgl. auch ders., Alchimia degli estremi, Parma 1967. Das Motiv der „Magie der Extreme" weist auf Eugen Finks NietzscheInterpretation zurück. Vgl. dazu im vorliegenden Buch die A n m . 34. Massimo Cacciari, Krisis. Saggio sulla crisi del pensiero negativo da Nietzsche a Wittgenstein, Mailand 1976 und ders., Pensiero negativo e razionalizzazione, Venedig 1977, 2. Aufl. 1978.

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

Massimo Cacciari hat Nietzsches Philosophie und die für sie als zentral erkannte Lehre vom Willen zur Macht in ein Konzept des pensiero negativo integriert, in dem — ähnlich wie im pensiero debole Gianni Vattimos — das radikale Auseinandertreten von Sprache und Wirklichkeit ohne jede Einschränkung anerkannt wird. Ihr Gegensatz ist Folge und zugleich aktiv weiterführender Motor einer globalen Modernisierung, Industrialisierung und Technisierung, wie sie für die Epoche der Postmoderne charakteristisch ist. In ihr entsteht eine Welt des Nebeneinanders verschiedener Sprachen, die weder ineinander übersetzbar sind noch auf eine substanzielle Sprache der Natur oder der Geschichte zurückgeführt werden können. Die Anerkennung des Gegeneinanders heterogener Sprachen und der prinzipiellen Differenz von Sprache und Wirklichkeit bedeutet die kritische Distanzierung von jedem Versuch einer synthetischen Versöhnung von Sprache und Gegenstand, von Erscheinung und Ding an sich oder von Subjekt und Objekt. Die Protophilosophie eines derartigen pensiero negativo findet Cacciari in der von Nietzsche entworfenen Ontologie der Macht, die so angelegt ist, dass sie der alternativen Ontologie der Freiheit des Willens und einer aus ihr resultierenden Substanzialität des Subjekts den Boden entzieht. Dem Willen zur Macht eignet die Struktur essenzieller Zeitlichkeit. Sie verleiht ihm eine anti-metaphysisch instabile Qualität, mit der er in unversöhnbare Widersprüchen eingreift, ohne sie synthetisch auflösen zu können. So trifft er auf den von ihm selbst erzeugten „ciclo eterno di crisi" (Pensiero negativo, 46), der die Struktur moderner Gesellschaften prägt. Da aus der Perspektive des Willens zur Macht zu erkennen ist, dass er diese Struktur selber geschaffen hat, kann er auf sie nicht mehr mit einer Theorie zielbezogener „ratio", sondern nur mehr in einer Theorie der unabschließbaren Rationalisierung der Welt reagieren. Vernunft („ratio") wird im Zeichen des Willens zur Macht zu einem inhaltlich völlig offenen instrumentalen Handeln, dem primär eine praktische Bedeutung zukommt (Pensiero negativo, 50), oder zu einer Form der „Herrschaft über das Material" einer ganz und gar unlogischen „Welt". Wenn die in der Formel vom Willen zur Macht zusammengefassten Bedürfnisse des menschlichen Lebens auch für die Erzeugung der „Instrumente und Verfahren unserer Weltaneignung" verantwortlich sind, dann verweisen sämtliche Formen des Wissens und des Gestaltens von Wirklichkeit auf die anthropologische Notwendigkeit einer Systematisierung und Logisierung von „Welt" 269 . Aus der Perspektive des Welt-

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Cacciari ist einer der einflussreichsten Denker der undogmatischen Linken und darüber hinaus aktiver Politiker. Für die Nietzsche-Thematik ist vor allem der erste Abschnitt des Buches Pensiero negativo wichtig: „Pensiero negativo e razionalizzazione. Problemi e funzione della critica al sistema dialettico", 13-69, insbes. 40ff. (Wille zur Macht). Es handelt sich bei diesem Text um die erweiterte Fassung einer Einführung zur italienischen Ubersetzung des Buches von Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, die unter dem Titel La filosofia di Nietzsche, Padua 1973, erschienen ist. Cacciari, Krisis, 56ff. Cacciari unterstellt Nietzsche eine Affinität zu Wittgenstein und Heidegger (vgl. „Heidegger e i trostsuchende Menschen", Pensiero negativo, 59—69, und „Confronto con

D Nietzsches dionysische Optik der Extreme. Ferruccio Masini

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und Wissensbegriffs seines pensiero negativo entwickelt Cacciari einen Begriff kämpferisch-offener Problemlösungspolitik, der nicht mehr geschichtsphilosophisch in einer in sich stabilen Macht objektiver Wahrheit oder definitiver Gerechtigkeit begründet werden kann 270 . Uber Cacciaris Konzept des pensiero negativo geht Masini in Lo scriba del caos insofern hinaus, als er Nietzsche als einen Philosophen gesehen wissen will, der sich jedem Denken einer „Integration von Konflikten" verweigert. Der Wille zur Macht erzeugt nicht die Kontinuität aktiver Krisenbewältigung, sondern eher eine unberechenbare Serie unlösbarer Krisen, genauer das an Foucault und Derrida erinnernde „flüssige Spiel diskontinuierlicher und dezentrierter Kräfte, die sich in einem ununterbrochenen Kampf gegeneinander befinden" und ihre Qualität in diesem Gegeneinander ständig modifizieren (40). Nietzsche hat dieses Konzept im Blick auf Heraklit und den tragischen Mythos entdeckt. Dort findet er „das Rätsel des Unmenschlichen" mit unerschrockener Deutlichkeit ausgesprochen, nämlich jene auch für den Kulturbegriff Freuds so entscheidende Dimension animalischer Triebhaftigkeit, von der jede menschliche Tätigkeit in Ermangelung einer besseren Alternative ihren Ausgang nehmen muss, ohne ihr jemals vollständig entrinnen zu können (47). Nietzsche hat sich darum bemüht, die Macht des in sich ambivalenten „Unmenschlichen" als den unerlässlichen Motor jeder Kultur modellhaft in die eigene Zeit zu übertragen. Sie erscheint in den Unzeitgemäßen Betrachtungen in der Figur des anti-historischen oder des über-historischen Menschen und im Spätwerk in der Figur Zarathustras, der die ewige Wiederkunft des Gleichen sowie die Ankunft des Übermenschen verkündet. Nietzsche versteht sein Denken der Extreme als die produktive Vollendung des Nihilismus. Der Nihilismus liegt dem sokratischen Willen zu einer in sich unveränderlichen Wahrheit, der lebensfeindlichen Moral des Christentums und dem von Zarathustra verspotteten Glückswillen des „letzten Menschen" ebenso zugrunde wie Nietzsches psychologisch-genealogischer Dekonstruktion der in diesen Erscheinungsformen eines dekadenten und ressimentgeleiteten Willens zum Nichts artikulierten Wahrheitsansprüche. Der nihilistische Wille vollendet sich bei ihm als definitiver und bewusster Wille zum Schein. In seinem Zeichen entstehen Texte, die auf die Voraussetzung einer einheitlichen und im Kern ,wahrheitsfähigen'

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Heidegger", ebd. 71—83), aber auch zur ästhetischen Avantgarde der Jahrhundertwende, insbesondere zum „finis Austriae"-Gedanken, der in der Dichtung Stefan Georges, Rainer Maria Rilkes, Georg Trakls und Hugo von Hofmannsthals, in der Musik Gustav Mahlers, Arnold Schönbergs und Anton von Weberns sowie in der Psychoanalyse Sigmund Freuds seinen Ausdruck gefunden hat. Cacciari kann deshalb auch positiv an nach- und nicht-marxistische Theorien der Ökonomie (Joseph A. Schumpeter) und der Politik (Max Weber) anknüpfen. Aus der Dominanz seines politischen Interesses wird verständlich, dass die Texte Nietzsches oder anderer Autoren fast immer nur schlagwortartig zur Illustration des eigenen Konzepts herangezogen werden. Dennoch sind Cacciaris Ausführungen auch in philosophischer Perspektive durchaus bedenkenswert.

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

Substanz des menschlichen Geistes bewusst verzichten. Sie verweisen stattdessen auf die in sich zwiespältige Realität des „homo natura", der nicht mehr als Wirklichkeit einer Ordnung, sondern nur als das Gegebensein eines rational nicht beherrschbaren Chaos gedacht werden kann. Als „scriba del caos" orientiert sich Nietzsche am Denken des Mythos als dem Inbegriff destabilisierender Potenzen, ohne dabei einem blinden Irrationalismus zu verfallen. Seine Schrift eröffnet vielmehr den problematischen Raum eines Denkens, der, ähnlich wie bei Foucault, nicht mehr als Ort definitiver Wahrheit zu verstehen ist, sondern als ein Feld des offenen und selbstkritischen Experimentierens mit Möglichkeiten menschlicher Lebensgestaltung. Dieses Feld muss der energetisch-explosiven Macht exzentrischunauflösbarer Spannungen ausgesetzt bleiben, wenn in ihm Mächte der Kultur auftreten sollen, die zur in sich ambivalenten Natur des „homo natura" nicht mehr in dem Gegenverhältnis stehen, das sie für die Krankheit des Nihilismus anfällig macht (56). Masini konkretisiert seine Nietzsche-Interpretation durch eine Auslegung von Texten, die so ausgewählt sind, dass sie die geschichtliche Entwicklung des nietzscheschen Denkens verdeutlichen können 271 . Ihre methodische Besonderheit kann von deutschsprachigen Lesern anhand zweier Aufsätze ohne besondere Mühe nachvollzogen werden 272 . Im ersten Aufsatz, der dem Zarathustra gewidmet ist, interpretiert Masini diesen Text in einer Weise, die an Pierre Klossowski erinnert, als Umsetzung der „Offenbarung einer letzten Endes sicher philosophischen Erfahrung in eine metaphorische Botschaft", d.h. „in eine aus Paradoxem und aus Chiffren bestehende ,bildliche' Schrift". Nietzsche erscheint hier als Autor eines performativen Textes, der nicht als der weitgehend neutrale „Vermittler eines Gedankens" zu verstehen ist, sondern als gleichsam körperhafter „Selbstausdruck" eines „tiefsten existentiellen Grundtons". Nietzsche bedient sich für die Vermittlung dessen, was ihm wichtig ist, einer aktiven, neuartig sprechenden Sprache, die

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Vgl. dazu Bernhard Arnold Krauses Rezension von Lo scriba del caos in: Nietzsche-Studien 16 (1987), 4 8 3 - 4 8 7 . Auch Franco Volpi h a : Masinis Buch positiv gewürdigt: Nietzsche in Italien. Philosophischer Literaturanzeiger 34 (1981), 174ff. Ferruccio Masini, Rhythmisch-metaphorische Bedeutungsfelder in „Also sprach Zarathustra" (= Lo scriba del caos, 2 5 1 - 2 9 2 : I „campi di significato" nel „Cosi parlò Zarathustra"). NietzscheStudien 2 (1973), 2 7 6 - 3 0 7 , u n d ders., Die „zweite Unschuld". Nietzsche-Studien 17 (1988), 9 1 107 = Il divino come «seconda innocenza» di Friedrich Nietzsche. Paradigmi 1 (1983), 57—74, jetzt: Le stanze del labirinto. Saggi teorici e altri scritti, Florenz 1990, 112—126. Dieser nach dem T o d e Masinis von Ubaldo Fadini herausgegebene Band mit einer Fülle einzelner Studien enthält eine E i n f ü h r u n g des Herausgebers in die systematischen Interessen des Autors: Ubaldo Fadini, Pensare la vita. La ragione di alcuni percorsi in: Masini. Le stanze del labirinto, 204—207. Unter den Texten findet m a n Auseinandersetzungen Masinis mit den Nietzsche-Deutungen von Gianni Vattimo: Oltrepassamento del soggetto e fine dell'umanesimo, 163—173, und: Pensiero debole e nichilismo critico, 174—182. Für Masinis Auseinandersetzung mit der Nietzsche-Deutung Giorgio Collis vgl. dessen Rezension von Giorgio Colli, Nach Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), 495-497.

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dem Leser Erfahrungen erschließen will, die er ohne diese Sprache überhaupt nicht machen könnte. Masini zieht aus dieser an sich nicht originellen Einsicht in den performativen Charakter der Sprache Nietzsches eine methodische Konsequenz. Er will „die Art und Weise der poetisch-,metaphorischen' Kommunikation" Nietzsches dadurch konkretisieren, dass er zeigt, wie sie sich „auf eine Reihe assoziativaußersemantischer Verflechtungen" ausdehnt und dabei weit „über die logischdiskursive Kongruenz der Worte" hinausgeht. So entdeckt Masini im Zarathustra einen ,semiotischen Prozeß', der lyrische, dramatische, erzählerische und orakelhafte Bedeutungskomponenten zu einer neuartigen Ausdrucksgestalt zusammenführt, die Nietzsches „Gedanken nicht überlagert, sondern mit ihnen identisch ist" (277f.). Masini zeigt, dass Nietzsche sein sprachliches Darstellungsverfahren ausführlich thematisiert und reflektiert hat. Es handelt sich bei ihm um die bewusste Konstruktion einer „totalen" Sprache 273 . Sie verweist auf Gedanken, die nur aus solchen Erlebnissen hervorgehen können, die „sich mit dem unterirdischen Fluß des Lebens in einer vor-kategorialen und dynamischen Bedeutungsidentität" „vermischen". Sie können deshalb nur in einem Text ausgedrückt werden, der mimetisch „das dionysische Taumeln des Tanzes heraufbeschwört und gleichzeitig besänftigt", so dass er elementare Erfahrungen lebendiger Intensität evoziert, denen er seinerseits das eigene Entstehen verdankt (284). Der Stil des Zarathustra will, ähnlich wie dies Klossowski gesehen hat, als „Medium einer Rückführung des Menschen zur Natur" wahrgenommen werden (293), allerdings nicht als Reintegration in eine gute und stabile Natur im Sinne Rousseaus, sondern in die harte, azentrisch-dynamische Natur des Dionysischen, wie sie auch bei Deleuze und Juranville beschworen wurde 274 . Als sprachliche Evokation dionysischer Wirklichkeitserfahrung reaktiviert Nietzsches Text mythenbildende Instinkte, die in der Gegenwart verschüttet sind. Aus ihrer Verstärkung 275 soll, nach den „Grundmotivationen einer Experimentalphilosophie", die das Äußerste und Bedrohlich-

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274

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Masini verweist als Parallele auf den Begriff der göttlich-kreativen Sprache in der christlichmystischen Tradition, nach d e m das W o r t Gottes sich selbst u n d darin zugleich die WeltTotalität ,gebärt'. Dies ist jedoch nur eine formale Parallele, weil der Begriff der göttlich-kreativen Sprache, wie Masini bewusst macht, sich auf einen ganz anderen Inhalt bezieht, als dies bei Nietzsche der Fall sein kann. Größere N ä h e besteht zu Mallarmés „écriture corporelle", zu Antonin Artauds konkreter Sprache oder zur „langage autarcique" im Sinne von Roland Barthes. Masini, Rhythmisch-metaphorische Bedeutungsfelder. Nietzsche-Studien 2 (1973), 280f. Masini, Rhythmisch-metaphorische Bedeutungsfelder. Nietzsche-Studien 2 (1973), 303ff. Vgl. dafür im vorliegenden Band S. 20f. (Deleuze) u n d S. 77 (Juranville). Für eine andere Auffasung der von Nietzsche im Symbol des Dionysischen beschworenen „Natur" vgl. den Hinweis auf Michel Haar im vorliegenden Buch S. 81f. Der Zarathustra k n ü p f t somit an das Konzept der Geburt der Tragödie an. N u r ist es jetzt nicht mehr die Musik Richard Wagners, sondern das eigene Konzept „totaler" Sprache, das der Gegenwart die Möglichkeit einer Wiedergeburt mythischer Kreativität als etwas in der eigenen Schrift schon Realisiertes vor Augen u n d O h r e n stellt.

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

ste, nämlich die vollständige Absenz eines vorgegebenen Sinns, wie er in der Rede vom Tode Gottes ausgedrückt ist, „zu ihrem eigenen ,experimentum crucis' gemacht hat"276, eine bislang noch nicht einmal denkbare „Fähigkeit zur Vergöttlichung des Daseins" hervorgehen, nämlich diejenige, „die ... einer kreativen Uberfülle und einer höheren Gesundheit entstammt". Allein das Experiment des radikalen Nihilismus kann nach dem Tod des platonisch-christlichen Gottes, der das menschliche Leben von objektiv vorgegebenen Mächten des Sinns befreit, „eine neue Ansicht des Göttlichen" erzeugen, in der es als irreduzible Uberfülle des Schaffens und Zerstörens wahrgenommen wird277. Unter diesem Aspekt kennzeichnet Masini die Sprache des Zarathustra als „mythomorphische Schrift" im Sinne Derridas, nämlich als Schrift, die selber schon „die Form" jenes dionysisch Göttlichen annimmt, „von dem sie spricht"278.

276

277 278

Masini, Die „zweite Unschuld". Nietzsche-Studien 17 (1988), 92. Vgl. à-nu Lo scriba del caos, 1 1 3 219 (Parte seconda: La morte di D i o come „experimentum crucis" del nichilismo). Masini, Die „zweite Unschuld". Nietzsche-Studien 17 (1988), 97. Masini, Die „zweite Unschuld". Nietzsche-Studien 17 (1988), 104. Unter diesem Aspekt wäre nach Affinitäten zwischen der Nietzsche-Deutung Masinis u n d derjenigen von Giorgio Penzo zu fragen (vorliegender Band A n m . 216), wobei sich eine Diskussion über die Möglichkeit einer nietzscheschen ,Theologie' eröffnen könnte, in die Positionen von Paul Valadier, Eric Blondel u n d Michel Haar einbezogen werden müssten (vorliegender Band S. 82 mit A n m . 200 und S. 83ff.

E Schlussbemerkung zur italienischen Nietzsche-Diskussion In Italien ist nach einer Phase ideologischer Diskreditierung und einer sie konterkarierenden, an Heidegger, Jaspers und Fink anknüpfenden existenzialistischontologisierenden Nietzsche-Deutung ein anti-dialektisches und anti-metaphysisches Nietzsche-Bild entstanden, zu dem die Nietzsche-Interpretationen aus Frankreich Erhebliches beigetragen haben. Es ist geprägt von einem subtilen Gespür für die Form und für die in ihr realisierte Explosivkraft des nietzscheschen Denkens und, achtet man besonders auf den Beitrag Ferruccio Masinis, seiner Schrift. Die Beiträge von Gianni Vattimo und Massimo Cacciari belegen eindrucksvoll die Bedeutung der nietzscheschen Philosophie für die gegenwärtige Krise des klassischen Vernunftbegriffs. Dabei tritt die Frage auf, ob das von Nietzsche in deutlicher Distanz zu Hegel und Marx realisierte Denken als gesteigerte Form von Rationalität (Montinari, Cacciari) 279 oder als deren poetisch-mystische Steigerungsform (Colli, Masini) zu verstehen ist. Offen bleibt auch, ob Nietzsches Philosophie die Strukturen einer postmodernen Gesellschaft positiv auf den Begriff bringt, so dass sie in dieser Gesellschaft als M e d i u m kultureller Orientierung wirksam werden kann (Vattimo), oder ob sich sein Denken von einer ihm gegenüber zwangsläufig trivialeren gesellschaftlichen Realität so weit entfernt hat, dass es eine radikale Gegenwelt zur alltäglichen Normalität aufbaut. Sie würde dann eine exzeptionelle Sinnerfahrung umschreiben, die an jedem gesellschaftlich oder normalsprachlich bestimmten Ort unmöglich wäre (Masini). Dass auch aus marxistischer Position mit Nietzsche ein offener, nicht mehr dialektisch abgesicherter Begriff kämpferischer Politik entworfen werden kann (Cacciari), mag im Blick auf die W i r k u n g Foucaults in Italien nicht überraschend sein. Unbestreitbar ist, dass die politisch motivierte Emanzipation von der als metaphysisch deklarierten und daher als logozentrisch kritisierten Denkform der Dialektik gerade auf Seiten der italienischen Linken eine bis dahin unerwartbare Offenheit für den Gehalt der nietzscheschen Philosophie bewirkt hat. Darüber hinaus werden vor allem die methodischen Impulse, die Mazzino Montinari der Nietzsche-Forschung gegeben hat, auch in Zukunft das Bild von Nietzsches Philosophie vor allem im Blick auf die für sein Denken als charakteristisch erkannte Intertextualität dauerhaft bereichern. Montinaris philologischer Zugang zu Nietzsches Texten und zu ihrer kom-

279

Vgl. dazu auch die rationalistisch-kritizistische Deutung von Nietzsches Erkenntnistheorie bei Claudio Tugnoli, Nietzsche e la critica della conoscenza, Abano Terme (Padua) 1979.

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II Nietzsche in italienischer Perspektive

plexen Gedanken-Welt ist wohl der beste Probierstein für jede systematisch oder politisch interessierte Nietzsche-Vergegenwärtigung nicht nur in dem Land, das Nietzsche aus einer Fülle von Gründen, die auch mit dem Inhalt seiner Philosophie zu tun haben, besonders geliebt hat und das für ihn als Person vielleicht gerade deshalb zum Land seines Schicksals geworden ist.

III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

Die verschiedenen Kontexte, die für die angelsächsische Nietzsche-Diskussion charakteristisch sind, bilden kein homogenes Feld. Sie weisen vielmehr eine interne Differenzierung auf, die wesentlich größer ist als die primär auf ontologische und kulturtheoretische Fragestellungen konzentrierte Nietzsche-Diskussion in Italien und Frankreich. Den angelsächsischen Nietzsche gibt es deshalb noch viel weniger als den französischen oder italienischen. Er nimmt mehr als anderswo proteische Züge an, so dass er einmal als Epistemologe, das andere Mal als Apologet ästhetischer Existenz, dann wieder als Begründer rhetorischer Schrift, als Philosoph der „conceptual permissiveness", aber auch als systematischer Ontologe, als Ethiker des konkreten Lebens, als Erzieher und Seelenarzt oder im Kontext politiktheoretischer Diskussionen einmal als Theoretiker agonaler Demokratie, das andere Mal als letzter Vertreter eines klassisch-platonischen Politikverständnisses und dann wieder als Apologet eines antidemokratischen Aristokratismus oder der virtuellen, von einer spätkapitalistischen Elite gesteuerten „technoculture" mit gezielt entpolitisierenden Folgen auftreten kann. Vielleicht hat die verwirrende Vielfalt des angelsächsischen Nietzsche, der primär in den Vereinigten Staaten von Amerika zu Hause ist, nicht nur mit der oft konstatierten Plurivalenz seiner Schrift, sondern auch damit zu tun, dass er hier, anders als in Italien oder Frankreich, besonders in der Situation während und in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg als ein Fremder und Gezeichneter wahrgenommen wurde, als der Protophilosoph des politisch-kulturellen Übels mit Namen „Nationalsozialismus" und „Faschismus", das nur mit erheblicher eigener Opferbereitschaft hatte zerstört werden können. So war es nötig geworden, Nietzsche gleichsam zu entnazifizieren, und das bedeutete, ihn so zu präsentieren oder gar zu verkleiden, dass er endogenen philosophischen oder kulturpolitischen Erwartungen entgegenkam. Nur ein Nietzsche, der versprechen durfte, bei der Klärung eigener Probleme hilfreich zu sein, konnte sich das Recht erwerben, zuerst amerikanischen, später auch den Boden Großbritanniens zu betreten. Und vielleicht war es auch die Fülle der Verkleidungen und die Vielfalt der in ihnen artikulierten Versprechen, dass als Gegenreaktion bis in die Gegenwart hinein gerade in den Vereinigten Staaten immer wieder die Frage nach der wirklichen Identität dieses Immigranten gestellt und mit ihr der Verdacht seiner fundamentalen Nicht-Zugehörigkeit zur Zivilisation des Westens verbunden wurde.

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III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

Wenn die vorliegende Darstellung darum bemüht ist, das vielfältige, in sich widersprüchliche Bild des angelsächsischen Nietzsche soweit zu entzerren, dass es auch für den Außenstehenden überschaubar wird, so geschieht das aus der Überzeugung, dass die Wirkungsgeschichte eines Autors vom Charakter Nietzsches, selbst wenn sie sich von ihrem Ausgangspunkt manchmal fast bis zur Unkenntlichkeit entfernt, den inneren Reichtum, die Komplexität und die ungeheure Riskiertheit seines Denkens in einem besonderen Maße verdeutlicht. Nietzsches Philosophie lebt aus einer explosiven, die Grenze menschlichen Denkens tendenziell sprengenden Kraft, die man auf vielfache Weise übersetzen, der man aber kaum wirklich gerecht werden kann. Der Blick aus der Perspektive einer in sich reich facettierten Fernwirkung soll im Blick auf eine Annäherung an seine Philosophie zwar nicht besonders privilegiert und erst recht nicht singularisiert werden, aber er enthält besondere Verstehenschancen nicht nur im Blick auf den Reichtum Nietzsches, sondern auch auf denjenigen der angelsächsischen Gegenwartsphilosophie. Dabei ist es bemerkenswert, dass Nietzsche auch in der angelsächsischen Welt in mehreren für die Gegenwartsphilosophie signifikanten Diskussionen in der Rolle einer Leitfigur auftritt. Im Einzelnen ist die Darstellung folgendermaßen aufgebaut: Der Abschnitt A thematisiert mit den Nietzsche-Interpretationen des deutschen Emigranten Walter Kaufmann und des amerikanischen Philosophen Arthur C. Danto die historischen Voraussetzungen für die intensive Rezeption des nietzscheschen Denkens als Philosophie im angelsächsischen Kulturkreis. Im Ausgang von Dantos Nietzsche-Bild lassen sich zwei verschiedene philosophische Motive benennen, die jeweils zur Ausbildung besonderer Diskussionsfelder geführt haben. Da ist zunächst in Abschnitt Β auf eine epistemologische Diskussion zu verweisen, die an Dantos Charakterisierung Nietzsches als eines Verbündeten der „ordinary-language-philosophy" anknüpft. Für sie wurde Nietzsche wichtig, weil er nicht nur eine metaphysikkritische Theorie von der Bindung des Denkens an die kontingenten Bedingungen der Sprache, sondern darüber hinaus eine von Danto als antikorrespondenztheoretisch und pragmatisch bezeichnete Theorie des Wissens entworfen hat. Weil Nietzsche seine Theorie des Wissens statt mit einer Theorie der Wahrheit mit einer Theorie des Willens zur Macht verbunden hat, ist es von ihm aus offensichtlich möglich, den Vorgang des Wissens in einer mit Quine vergleichbaren Weise als holistisches, selbstreferenzielles und essenziell naturalistisches Verfahren der Verarbeitung von Informationen oder der eigenständigen Konstruktion gehaltvoller Interpretationen aufzufassen (Ruediger H. Grimm). Zusätzlich lässt sich mit Nietzsche die für die gegenwärtige metaethische Diskussion zentrale Frage stellen, wie das Verhältnis von Wissen, Wollen und Werten aus der Perspektive seiner Lehre vom Willen zur Macht zu verstehen ist (John T. Wilcox). Vielleicht aber ist es eher angemessen, Nietzsches Begriff des

Einleitung

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Wissens im Blick auf seine kulturtheoretischen und -therapeutischen Primärintentionen als genuin rhetorische zu charakterisieren (D. Breazeale). Im Abschnitt C geht es um Überlegungen, die an Dantos Charakterisierung der nietzscheschen Philosophie als Theorie der „conceptual permissiveness" anknüpfen. Sie wollen mit Nietzsche das philosophische Denken nicht nur aus dem als zu eng empfundenen Korsett wissenschafts- oder ,ordinary-language'-orientierter Philosophie befreien, sondern ihm eine neuartige Gestalt aufprägen, die sich als produktive Reaktion auf Martin Heideggers Destruktion der Metaphysik als fundamentalphilosophischer Denkform verstehen lässt (Bernd Magnus). Dabei tritt die Frage auf, ob und wenn ja, in welcher Weise (Nietzsches) Philosophie überhaupt noch als Theorie charakterisierbar ist, und welche alternativen Kennzeichnungen für sie sinnvoll sind, wenn ihr nicht mehr die Denkform philosophischer Theorie zukommt. Bei der Antwort auf diese Frage werden Motive der französischen Rekonstruktion' (Jacques Derrida) mit denen des rhetorischen Literaturbegriffs von Paul de Man verbunden. Sie ermöglichen ein Verständnis der Philosophie als einer Instanz, die elementare Formen der Konstitution von „Wirklichkeit" so erschließt, dass im Blick auf sie die traditionelle Differenz zwischen Theorie, Dichtung und Rhetorik ihren Sinn verliert (Harold Alderman, David F. Krell, Adrian Del Caro, Gary Shapiro, Alphonso Lingis, Henry Staten, John C. Pettey, Stephen F. Barker, John Sallis). Zugleich scheint Nietzsche einen Begriff von Philosophie als Thematisierung und Realisierung von Lebenskunst vorweggenommen zu haben. Mit ihm expliziert er die prekäre Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt (Peter Heller) oder ein Modell des Lebens, das dem postmodernen Ideal ästhetisch-ironischer Existenz verpflichtet ist (Alexander Nehamas, Richard Rorty) und darin ideologisch-politischer Kritik ausgesetzt bleibt (Terry Eagleton). Es wird ferner die Möglichkeit erwogen, mit Nietzsches enttheoretisiertem Verständnis von Philosophie die neuartige Form einer hermeneutischen Fundamentalphilosophie zu finden, die sich um den Begriff der Interpretation zentriert (Alan D. Schrift). Der Abschnitt D konturiert Positionen des Unmuts gegenüber den zuvor dargestellten Ansätzen zu einem an Nietzsche präzisierten enttheoretisierten Philosophieverständnis. Dabei wird offensichtlich Walter Kaufmanns Charakterisierung der nietzscheschen Philosophie als kritisch-existenzialistisch ausgerichteter Naturphilosophie zu einem Bild der nietzscheschen Philosophie als anthropologisch reformierter Metaphysik oder Kosmologie erweitert (Richard Schacht, Alistair Moles). Andere theoretische Präzisierungen werden im Ausgang von den Aporien gesucht, die in den ersten Ansätzen zu einer primär epistemologischen NietzscheLektüre nicht geklärt werden konnten. Lässt sich seine philosophische Intention durch den von Hilary Putnam vertretenen Begriff des internen Realismus so charakterisieren, dass dadurch auch die kulturkritischen Ambitionen Nietzsches verständlich werden (Maudemarie Clark)? Oder ist sein Begriff eines kulturkri-

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III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

tisch ambitionierten praktischen Wissens nur aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts (F. A. Lange, Schopenhauer, Darwin) zu klären, insofern dabei bewusst bleibt, dass Nietzsche seine historischen Vorgaben, zu denen nicht zuletzt der naturphilosophisch und gesellschaftskritisch ausgerichtete Dionysismus des amerikanischen Philosophen Ralph W a l d o Emerson gehört, durch ein ihm spezifisch eigenes Verfahren der Dramatisierung verschärft (George J. Stack)? Wieder andere Autoren verstehen Nietzsches Philosophie als Ausdruck der Verpflichtung gegenüber einer Norm von Wahrhaftigkeit, die unter szientifisch oder epistemologisch präzisierten Voraussetzung überhaupt nicht mehr zur Sprache gebracht werden kann (Randall Havas, Ted Sadler). Die Suche nach der für Nietzsches Philosophie charakteristischen Theoriegestalt kann aber auch dazu führen, dass sie aufgrund der ihr zugrunde liegenden Systematik als Erneuerungsgestalt platonisch-aristotelischer Metaphysik bewertet wird, weil sie ihr nicht nur durch die Theorieform, sondern ebenso durch einen normativen Begriff des guten Lebens verbunden ist (John Richardson). Diese in Abschnitt D vorgestellten Positionen verdienen wegen ihrer vielfältigen Ansätze zu einer synthetisch-integralen Nietzsche-Deutung besondere Beachtung. Im letzten, längsten und in sich komplexesten Abschnitt E dieses Kapitels werden Interpretationen vorgestellt, die ihren Zugang zu Nietzsche nicht aus der Perspektive von Fragestellungen der theoretischen, sondern der praktischen Philosophie gewinnen. Dieser Ansatz ist deswegen besonders einleuchtend, weil gerade die qualifiziertesten Deutungen der nietzscheschen Philosophie als Theorie sich entweder, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden wollten, zusätzlich auf deren normativ-praktisches Fundament beziehen müssen oder aber gezwungen sind, die Reichweite des eigenen Ansatzes einzuschränken. Von daher liegt es nahe, den umgekehrten Versuch zu unternehmen und die theoretischen Motive der nietzscheschen Philosophie im Ausgang von ihrer praktischen Fundamentaldimension zu klären, in der offensichtlich dem Begriff des Willens eine Schlüsselrolle zukommt. Begonnen wird mit der Darstellung von Positionen, die mit Nietzsche auf Probleme der gegenwärtigen Ethik-Diskussion reagieren. Einige von ihnen verweisen auf Insuffizienzen des bislang dominierenden Verständnisses der Moral als verallgemeinerungsfähigem Regelsystem, um ihm mit Nietzsche eine plausiblere Alternative entgegenzustellen (Philippa Foot, Frithjof Bergmann, Bernard Williams, Charles E. Scott). Andere diskutieren die Frage, ob Nietzsche für einen Begriff von Tugendethik plädiert, der sowohl einem regelorientierten als auch einem emotivistischen Verständnis von Moral mit Aussicht auf Erfolg entgegengestellt werden kann (Alasdair Maclntyre versus Robert C. Solomon). W e n n Nietzsche gegenüber der Tradition ein neuartiges Verständnis von Moral entwickelt, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit seiner kritischen Bewertung (Maudemarie Clark, Lester H. Hunt, John A. Bernstein). Zusätzlich wird in den Debatten über Nietzsches

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Moralbegriff dessen Verbindung mit politischen Fragestellungen herausgestellt. Dies stützt die Vermutung, dass das Zentrum der nietzscheschen Philosophie ohne Rücksicht auf ihre kulturelle und politische Wirkungsabsicht nicht angemessen zu verstehen ist. Der praktischen Bedeutungsdimension seiner Philosophie nähern sich erziehungs-bildungstheoretisch, aber auch psychologisch-psychoanalytisch ausgerichtete Interpretationen primär aus der Perspektive eines Nietzsche unterstellten Ideals individueller Authentizität, Selbstsorge und Souveränität (David E. Cooper, Timothy F. Murphy, Claude N. Pavur, Nimrod Aloni, Gary Lemco). Dabei wird nicht zufällig immer wieder die Notwendigkeit gesehen, die individualitätskonzentrierte Perspektive durch eine kulturkritische zu erweitern (Daniel R. Ahern). Letztlich provoziert Nietzsches weit gefasster Begriff von Erziehung und Bildung eine Diskussion über die generelle Bedeutung von Kultur für moderne Gesellschaften und damit über deren Selbstverständnis (Peter Levine). In psychologischpsychoanalytischer Perspektive wird dagegen eher die Spannung zwischen individuellen (Lesley P. Thiele, Graham Parkes) und gesellschaftlich-kulturellen Motiven (Jacob Golomb) des von Nietzsche favorisierten Konzepts lebendiger Gesundheit herausgestellt. Andere Autoren verweisen auf eine transindividuelle Dimension von Natur als der Quelle auch des menschlichen Lebens (Graham Parkes, Daniel Chapelle). Vor allem die Verwirklichung des Lebensideals der Souveränität scheint eine Öffnung für die von Nietzsche als dionysisch qualifizierte Dimension lebendiger Natur vorauszusetzen (Richard J. White). Auch aus der Perspektive der Frage nach den Gesundheitsbedingungen des Lebens werden Ansätze zu einer synthetischen Nietzsche-Interpretation gefunden. Besonders verwiesen sei auf den Beitrag des israelischen Autors Jacob Golomb, der sich unter der Leitfrage, wie mit Nietzsche das individuell und gesellschaftlich wünschenswerte Ideal eines vom Makel des Ressentiments befreiten Lebens zu gewinnen ist, auch mit dem intrikaten Thema „Nietzsche und das Problem jüdischer Identität" auseinandergesetzt hat. Im dritten Teil des Abschnitts E geht es um Nietzsche-Interpretationen, die sich auf das Thema des Bezuges zwischen Philosophie und Politik konzentrieren. Dabei wird in verschiedener Perspektive ein Gedanke geltend gemacht, der in der französisch-italienischen, aber auch in der deutschsprachigen Nietzsche-Forschung kaum beachtet wird, nämlich derjenige, dass Nietzsches Philosophie von ihrem eigenen Anspruch her in ihrem Kern bereits Politik ist280. Wie müssen dann aber die theoretischen Ansprüche seiner Philosophie verstanden werden? Und was ist das für eine Form von Politik, die in ihr so zum Ausdruck kommt, dass man sich zu ihr auch im Verstehen letztlich nur wieder politisch verhalten kann? Die

2811

Eine der wenigen Ausnahmen ist Henning Ottmann, Philosophie Berlin/New York 1987, 2. verb, und erw. Auflage 1999.

und Politik bei

Nietzsche,

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III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

Debatte über Nietzsches Philosophie als Politik verleiht der angelsächsischen Nietzsche-Diskussion gerade unter internationalem Aspekt ein ganz besonderes Gewicht. Sie ist wesentlich mitbestimmt von einer Debatte über die systematische Beziehung zwischen Philosophie und Politik, die auf die Wirkung des deutschen Emigranten Leo Strauss und seine in Amerika außerordentlich einflussreiche Chicagoer Schule politischer Philosophie zurückgeht. Dabei tritt vor allem Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Enthält sie zumindest implizit eine plausible Fundamentaltheorie liberaler Demokratie (Henry S. Kariel) oder gebietet sie ihre Erweiterung zugunsten einer mehr dem Ideal der Verschiedenheit als dem der Gleichheit verpflichteten „agonistic democracy" (Lawrence J. Hatab)? Plädiert sie für die Ersetzung des von Max Weber zentral in die zeitgenössische Theorie der Politik eingeführten, aber unter demokratischrechtsstaatlichen Bedingungen anachronistisch gewordenen Begriffs der Herrschaft zugunsten eines in seinen politischen Realisierungsambitionen depotenzierten Begriffs souveräner Macht (David Owen, William Connolly)? Oder umschreibt sie den Kernbereich des Politischen mit einem schon von Hannah Arendt ins Spiel gebrachten Begriff des kommunikativen und zugleich normativ gehaltvollen Handelns (Mark Warren)? Enthält sie die einzige Möglichkeit, den Bereich des Politischen seinerseits auf ihm übergeordnete kulturelle Ziele zu verpflichten, die innerhalb der politischen Theorie der Gegenwart aufgrund ihrer Anbindung an szientifisch orientierte Wissensbegriffe nicht mehr zur Sprache gebracht werden können (Keith Ansell-Pearson)? Betreibt sie die „Transfiguration" eines dem Ideal der Selbsterhaltung verschriebenen Konzepts apolitischer Individualität zugunsten eines Lebens, das nicht mehr von individuellen Interessen geprägt ist und deshalb an die Lebensform der „dorischen Polis" oder des rousseauschen „citoyen" anknüpft (Tracy Β. Strong)? Oder erzwingt Nietzsches Politik den definitiven Abschied von jeder Variante des humanistischen Paradigmas liberaler, demokratischer und sozialistischer Politik? Wohin aber führt Nietzsche uns dann, und wie sind die von ihm inaugurierten Ziele ihrerseits aus politischer Perspektive zu bewerten? Bei der Antwort auf diese Fragen steht das individualistisch orientierte Fundamentalparadigma der neuzeitlichen Theorie des Politischen zur Diskussion, das mit dem normativen Zentrum des „Projekts der Moderne" als Aufklärung und universaler Freiheitsverwirklichung (Jürgen Habermas) verbunden ist. Insofern Nietzsche das Konzept des normativ gehaltvollen Individualismus radikal destruiert, betritt sein Denken eine Zone expressiv-energetischer Explosivität, die, wie uns in französischer Perspektive vor allem Pierre Klossowski verdeutlicht hat, nur in den Denkfiguren von Exzess und Katastrophe angedeutet werden kann. Geht es Nietzsche dabei um soteriologisch-gnostische Motive, die nur in einer inhaltlich leeren „Moralität der äußersten Anstrengung" bewältigt werden können (Joseph P. Stern) ? Oder lanciert er Strategien für die möglichst vollständige Entfesselung dämonischer Individualität (Robert Eden)? Geht es ihm um das antidemokratische Plädoyer für

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einen ästhetisch fundierten Aristokratismus (Bruce Detwiler), um die Realisierung eines Begriffs klassisch-platonischer Politik unter den ihm entgegenwirkenden Bedingungen des epistemischen Nihilismus (Stanley Rosen) oder um die Apologie der Herrschaft einer spätkapitalistischen Elite von Ubermenschen, die durch die massenwirksame Verbreitung raffiniertester Formen virtueller ,technoculture' die breite Masse der mit mäßigem Wohlstand ausgestatteten ,bourgeois-Bürger' politisch entmachtet (Geoff Waite)? Wie immer man zu diesen Interpretations- und Bewertungsansätzen stehen mag, sie erinnern daran, dass Nietzsches Philosophie, weil sie dem vulkanischen Untergrund des geformten Lebens offenen Auges entgegentreten und sich von ihm im Denken dionysischer Affirmation des Daseins durchdringen lassen will, nur ein prämodernes, essenziell anti-individualistisches Verständnis von Politik entfalten und umsetzen kann. Von daher gelangt die Diskussion über Nietzsches Politik zu einer bemerkenswerten Einsicht auch in die Theorieform seiner Philosophie, nach der sie aufgrund ihrer praktischen Orientierung die Gestalt einer in sich konsistenten Theorie von sich abweist. Z u m Abschluss meiner Darstellung möchte ich auszuloten, welche Antwortmöglichkeiten auf die Frage nach einem der Gegenwart angemessenen Begriff von Philosophie in den Nietzsche-Bildern angelsächsischer Prägung enthalten sind. Bislang existiert keine Gesamtdarstellung zur neueren philosophischen Nietzsche-Diskussion im angelsächsischen Sprachraum 281 . Für die primär literarisch orientierte amerikanische Nietzsche-Rezeption bis 1950 ist die imponierende Monographie von Hays Alan Steilberg zu Rate zu ziehen 282 . Der von Manfred Pütz edierte Sammelband mit dem Titel Nietzsche in American Literature and Thought283 hat seinen besonderen Akzent ebenfalls auf der literarischen Nietzsche-Rezeption. Die eigene Darstellung stützt sich für einige Teile auf die Arbeiten von Alan D. Schrift 284 (Epistemologie, Dekonstruktion) und Keith Ansell-Pearson 285 (Politik), die im Anhang wichtige Bibliographien zu ihren thematischen Schwerpunkten enthalten.

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Für einige Artikel, die sich mit der T h e m a t i k des vorliegenden Bandes berühren, sei auf das Literaturverzeichnis verwiesen (S. 301E). Hays Alan Steilberg, Die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1896 bis 1950\ B e r l i n / N e w York 1996. M a n f r e d Pütz (Hg.), Nietzsche in American Literature and Thought, C a m d e n House 1995. Alan D . Schrift, Nietzsche and the Question of Interpretation. Between Hermeneutics and Deconstruction, N e w Y o r k / L o n d o n 1990. Keith Ansell-Pearson, An Introduction to Nietzsche as Political Thinker. T h e Perfect Nihilist, C a m b r i d g e / N e w York/Melbourne 1994.

A Der Beginn der philosophischen Nietzsche-Rezeption in den Vereinigten Staaten von Amerika Walter Kaufmann und Arthur Coleman Danto Die Ausdrücke „Nietzsche" und „die angelsächsische Welt" scheinen für zwei Größen zu stehen, die sich zueinander nur wie Feuer und Wasser verhalten können. Dennoch hat sich vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, zunächst in den Vereinigten Staaten von Amerika, später auch in England, eine intensive Nietzsche-Rezeption herausgebildet, die eine weitgehende, so nicht zu erwartende und bis heute andauernde Integration seiner Philosophie in den angelsächsischen Kulturkreis zur Folge hatte. Vielleicht ist Nietzsches Karriere in der Gegenwartsphilosophie der angelsächsischen Welt sogar das erstaunlichste Phänomen seiner an Überraschungen ohnehin nicht armen Wirkungsgeschichte 286 .

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Für eine erste Übersicht über die gegenwärtige Nietzsche-Diskussion u n d -Interpretation in den angelsächsischen Ländern vgl. die folgenden Sammelbände: R. Solomon (Hg.), Nietzsche. A Collection of Critical Essays, N e w York 1973; D . B. Allison (Hg.), The New Nietzsche. Contemporary Styles of Interpretation, N e w York 1977; M . Pasley (Hg.), Nietzsche. Imagery and T h o u g h t . A Collection of Critical Essays, London 1978; D . T . O ' H a r a (Hg.), Why Nietzsche Now?, Bloomington 1981; Y. Yovel (Hg.), Nietzsche as Affirmative Thinker, D e n Haag 1986, H . Bloom (Hg.), Friedrich Nietzsche, N e w York 1987; D. F. Krell u n d D. W o o d (Hg.), Exceedingly Nietzsche. Aspects of C o n t e m p o r a r y Nietzsche Interpretation, London 1988; R. Solomon u n d Κ. Higgins (Hg.), Reading Nietzsche, O x f o r d / N e w York 1988; M . Gillespie u n d T . Strong (Hg.), Nietzsche's New Seas. Explorations in Philosophy, Aesthetics, and Politics, Chicago 1988; T . Darby etc. (Hg.), Nietzsche and the Rhetoric of Nihilism. Essays on Interpretation, Language, and Politics, O t t a w a 1989; C. Koelb (Hg.), Nietzsche as Postmodernist. Essays Pro and Contra, Albany 1990; L. Rickels (Hg.), LookingAfier Nietzsche, Albany 1990; D . Conway u n d J. Seery (Hg.), The Politics of Irony. Essays in Self-Betrayal, N e w York 1992; R. Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality. Essays on Nietzsche's , O n the Genealogy of Morals', Berkeley etc. 1994; P. Sedgwick (Hg.), Nietzsche. A Critical Reader, O x f o r d / C a m b r i d g e (Mass.), 1995; B. Magnus u n d Κ. Higgins (Hg.), The Cambridge Companion to Nietzsche, Cambridge etc. 1996. Besonders breit gestreut ist D. Conway (Hg.), Nietzsche. Critical Assessments, 4 Bde., L o n d o n / N e w York 1998 (für die Titel der Einzelbände vgl. das Literaturverzeichnis im vorliegenden Band S. 298). Die Beiträge zu fast allen der genannten Sammelbände geben auch Einblicke in die intensive Rezeption der kontinentalen Nietzsche-Diskussion. Einführende amerikanische Gesamtdarstellungen der nietzscheschen Philosophie findet m a n bei R. Pfeffer, Nietzsche. Disciple of Dionysus, Lewisburg 1972, u n d R. Holub, Friedrich Nietzsche, N e w York etc. 1995. Primär britische Nietzsche-Diskussionen sind dokumentiert bei K. Ansell-Pearson u n d H . Caygill (Hg.), The Fate of the New Nietzsche, B r o o k f i e l d / V e r m o n t 1993. Für Gesamtdarstellungen u n d Einführungen aus Großbritannien vgl. im vorliegenden Band die Hinweise in A n m . 295. Die wichtigsten Arbeiten zur Geschichte der Nietzsche-Rezeption in England sind D . Thatcher, Nietzsche in England 1900—1914. T h e G r o w t h of a Reputation, T o r o n t o 1970, u n d P. Bridgewater, Nietzsche in Anglosaxony. A Study of Nietzsche's Impact on English and American Literature, Leicester 1972. Beide Arbeiten konzentrieren sich auf die literarische Nietzsche-Rezeption.

A Der Beginn der philosophischen Nietzsche-Rezeption in den USA

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Nietzsche wollte auf der prekären Basis eines Denkens der Singularität, der Kreativität und eines explosiven Exzesses, in dem sich das Singuläre zum Träger transindividueller Lebenskraft steigert, eine metaphysisch-ontologische Ambition zur Geltung bringen: die „Umdrehung des Piatonismus" und damit der gesamten Tradition westlichen Denkens 287 . Mit dieser unerhörten Ambition ist nicht nur eine kulturkritische Wirkungsabsicht verbunden, wie sie vor allem in der genealogischen Kritik an der platonisch-christlichen Moral und damit am Wertekanon westlicher Zivilisation insgesamt zum Ausdruck kommt, sondern darüber hinaus der entschiedene Wille zur Schaffung einer vollständig neuen Kultur. Dieser Wille ist von einem Verständnis der Geschichte europäisch geprägter Kultur getragen, das dem Muster der antiken Tragödie folgt. Kultur entsteht aus der Situation eines Handlungszwangs, in dem allzu verständliche und daher kaum vermeidbare Fehler lebensbedrohliche Katastrophen nach sich ziehen, die nur in einer radikalen Peripetie, in der zuvor blind handelnde Akteure die für sie neuartige Qualität tragischer Weisheit gewinnen, eine Wendung zum Besserem erfahren können. Die Katastrophe der bisherigen Kultur trägt für Nietzsche den Namen „Nihilismus". Er ist die Folge einer Wertsetzungshandlung, die in einer Situation elementarer Bedrohung allein die Rettung des Lebens in Aussicht stellte und dennoch dessen Zerstörung zur Folge haben musste. In den Krankheitsprozess des Nihilismus will Nietzsche durch eine dramatischer nicht auszudenkende „Umwertung aller Werte" läuternd und heilend eingreifen, um so Voraussetzungen für die Entstehung einer Welt zu schaffen, die für die katastrophische Krankheit des Nihilismus nicht mehr anfällig ist. In ihr soll zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Fähigkeit wirksam werden, den Handlungsraum des endlichen Lebens und die Regeln seiner Gestaltung ausschließlich aus der unüberschaubaren Dynamik eines zu sich selbst entfesselten Willens zur Macht hervorgehen zu lassen. Zugleich soll in dieser neuen Kultur eine Form des Wissens mächtig werden, die von dem

Für die Geschichte der amerikanischen Nietzsche-Rezeption vgl. die Angaben in den Fußnoten 281 und 282 des vorliegenden Buches. Wichtige Institutionen der amerikanischen NietzscheDiskussion sind die 1979 von Walter Kaufmann und Bernd Magnus gegründete North American Nietzsche-Society. Das zweite Heft des jeweiligen Jahrgangs der International Studies in Philosophy fungiert als deren regelmäßiges Publikationsorgan. Nietzsche-Tagungen werden auch von der Modern Language Association of America veranstaltet, teilweise in Zusammenarbeit mit der North American Nietzsche-Society. Eine weitere Zeitschrift, in der regelmäßig Publikationen über Nietzsche erscheinen, ist Boundary Two. Besonders zu beachten ist die 1991 gegründete Zeitschrift Journal of Nietzsche-Studies, mit der die 1990 gegründete Nietzsche-Society of Great Britain sich darum bemüht, den internationalen Stand der Nietzsche-Diskussion und -Interpretation zu vergegenwärtigen (vgl. dazu auch die „Reviews" und „Noticeboards"). Zuvor findet man philosophisch bedeutsame Nietzsche-Diskussionen in Sonderheften der britischen Gesellschaft für Phänomenologie (= Journal of the British Society for Phenomenology) dokumentiert. 287

Friedrich Nietzsche, Nachlass, 1870/71, 7 [156], KSA 7, 199: „Meine Philosophie ist umgedrehter Piatonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel".

138

III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

Willen gehalten ist, den Entfaltungsraum endlich-lebendiger Wirklichkeit und seine produktive Voraussetzung ohne Einschränkung durch moralische Regeln zu bejahen. Nietzsche ist im Kern der Philosoph einer dionysischen Welt und der ihr zugehörigen tragischen Weisheit. In dieser Qualität konnte er in Frankreich und Italien enthusiastisch begrüßt werden. Aber das, was ihn dort zur Leitfigur eines neuen Denkens der ewig wiederkehrenden Macht der „différance" („Verschiebung") prädestinierte288, musste seiner Aufnahme in die angelsächsische Welt eher entgegenstehen. Als genuin dionysische Philosophie verletzt Nietzsches Denken offen den normativen Rahmen eines demokratisch profilierten Pragmatismus, wie er für die politische Kultur Großbritanniens und der Vereinigten Staaten charakteristisch ist. Ebenso attackiert Nietzsche die vermeintliche Objektivität von Normen individueller Verantwortlichkeit und Freiheit, die aufgrund ihres bisherigen Erfolgs als so natürlich fundiert gelten, dass ihre Tradierung die wichtigste Aufgabe der Bildungsinstitutionen des angelsächsischen, vor allem des amerikanischen Kulturraums darstellt. Zugleich trägt Nietzsche seine Attacken gegen die Standardwerte westlicher Kultur in einer Sprache vor, die sich von sämtlichen Anforderungen an argumentative Deutlichkeit entfernt, die vor allem in der analytischen Philosophie als Heilmittel gegen die Verhexung des Denkens durch den Umgang mit metaphysischen Fragen angepriesen werden. In dieser Sprache artikuliert Nietzsche seinen offenen Immoralismus, der für eine Welt individueller Freiheitsrechte und institutionell gebändigter Macht nur den Affekt der Verachtung übrig hat. Anti-angelsächsischer und anti-amerikanischer als diejenige Nietzsches289 kann eine Philosophie überhaupt nicht konstruiert werden, wenn sie denn überhaupt als Philosophie gelten darf und nicht von vornherein nur als zynischer Ausdruck eines politisch unverantwortlichen, moralisch verwerflichen Irrationalismus oder als

288 289

Vgl. dafür Kap. I, A, 1-3 des vorliegenden Buches. Vgl. dazu Cornel West, Nietzsche's Préfiguration of Postmodern American Philosophy. O'Hara (Hg.), Why Nietzsche Now? (1981), 2 4 1 - 2 6 6 . Anders steh: es mi: der Aufnahmebereitschaft für Nietzsches Denken bei Autoren, die der amerikanischen Politik und Kultur der Gegenwart kritisch gegenüberstehen und dabei an das ursprünglich in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung artikulierte Freiheitsversprechen anknüpfen. In dieser inneramerikanischen Kritik wird eine Beziehung zwischen Nietzsche, Ralph Waldo Emerson und der mit seiner Person verbundenen Bewegung des Transzendentalismus hergestellt, die sich als gemeinsames Interesse an der Idee einer nicht-restringierten Freiheit charakterisieren lässt. In Bezug auf Nietzsche werden in diesem Zusammenhang besonders seine Kulturkritik, die Lehren Zarathustras und das Konzept dionysischer Natur beachtet. Auf dem Niveau gegenwärtiger Reflexion, die an Heideggers These vom Ende der Metaphysik und an die Metaphysikkritik der analytischen Philosophie anknüpft, findet man einen derartigen Nietzsche-Bezug vor allem bei Stanley Cavell, The Claim of Reason, Oxford/ New York 1979, und ders., Conditions Handsome and Unhandsome. The Constitution of Emersonian Perfection, Chicago 1990, daraus vor allem: „Aversive Thinking. Emersonian Representations in Heidegger and Nietzsche", 33—63. Zu dieser inneramerikanischen Lesart Nietzsches und ihren historischen Voraussetzungen vgl. Olaf Hansen, Stanley Cavell Reading Nietzsche Reading Emerson. Pütz (Hg.), Nietzsche in American Literature and Thought (1995), 279-295.

A Der Beginn der philosophischen Nietzsche-Rezeption in den USA

139

blinde Apologie für subjektivistische Beliebigkeit eingeschätzt wird 2 9 0 . Erschwerend fällt ins Gewicht, dass Nietzsche während des Zweiten Weltkrieges, wie in anderen Ländern auch, als Protophilosoph des deutschen Nationalsozialismus galt 291 . Vor diesem Hintergrund, der einer adäquaten Aufnahme seiner Philosophie so hinderlich wie nur möglich war 292 , muss die gewaltige Leistung von Walter Kaufmann gesehen und gewürdigt werden, dem es in den fünfziger Jahren gelungen ist, Nietzsches Denken in den Kontext amerikanischer Kultur einzuführen. Kaufmann, der 1921 in Freiburg im Breisgau geboren wurde, hat, weil er Jude war, nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus sein Leben nicht mehr im Land seiner Herkunft führen können. Er ist 1939 in die Vereinigten Staaten von Amerika emigriert und hat dort an der Harvard-University über Nietzsches Theorie der Werte promoviert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Professor für Philosophie in Princeton. Ihm ist es gelungen, im Land seines neuen Lebens von Nietzsche so zu sprechen und so über ihn zu schreiben, dass er dort überhaupt als Philosoph wahrgenommen werden konnte. Dies geschah zunächst in seiner einflussreichen Monographie mit dem Titel Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist, die zuerst im Jahre 1950 erschienen und danach in zahlreichen Auflagen neu gedruckt worden ist 293 . Nietzsche war für Kaufmann der Erbe eines genuin sokratischen Denkens, das für ihn im Gegensatz zur Philosophie Piatons dem Wirklichkeitsverständnis der griechischen Tragödie verbunden geblieben ist 294 . Als tragisch inspirierter Sokratiker hat Nietzsche schon am Ende des 19. Jahrhunderts produktiv auf die radikale Sinnkrise des Nihilismus reagiert, die er zu seiner Zeit nicht nur in Europa, sondern ebenso in „der positivistischen Herausforderung von jenseits des Kanals" als wirksam erkannt hat, und die, verstärkt durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, nicht nur die europäische, sondern auch die amerikanische Kultur dazu gezwungen hat, ihr eigenes normatives Fundament kritisch zu überdenken 2 9 3 . Angesichts der Gefahr einer Auflösung sämtlicher Werte

2,11

2.1

2.2 2.3 2.4 2.5

Vgl. dazu die weniger an Nietzsche selber als an seiner Rezeption durch linksliberale Intellektuelle orientierte Polemik von Allan Bloom, The Closing of the American Mind. How Higher Education Has Failed Democracy and Impoverished the Soul of Today's Students. Vorwort von Saul Bellow, New York 1987 (dt. Der Niedergang des amerikanischen Geistes. Ein Plädoyer für die Erneuerung westlicher Kultur, mit einem Vorwort von Saul Bellow, Hamburg 1988). Für eine Kritik an diesem Nietzsche-Bild vgl. Richard Schacht, Nietzsche as Menace? Nietzsche and Allan Bloom's Nietzsche. Making Sense of Nietzsche (1995), 25-34. Vgl. dazu Rudolf E. Kuenzli, The Nazi-Appropriation of Nietzsche. Nietzsche-Studien 12 (1983), 429. Vgl. dazu auch Steilberg, Die amerikanische Nietzsche-Rezeption (1996), 213ff. Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist, Princeton (NJ), 1950. Vgl. dazu Walter Kaufmann, Tragödie und Philosophie, Tübingen 1980. Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph - Psychologe - Antichrist, Darmstadt 1982, XIV, dt. Ubers, von Nietzsche (1950) (das Zitat ist dem Vorwort zur Erstauflage entnommen). Der von Jörg

140

III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

u n d N o r m e n h a t N i e t z s c h e „ein n e u e s B i l d v o n der W ü r d e des M e n s c h e n " e n t w o r fen, u n d z w a r a u s g e r e c h n e t in j e n e r Lehre, d i e d e n a m e r i k a n i s c h e n Lesern K a u f m a n n s n u r w e n i g e J a h r e z u v o r als der Kern einer g ä n z l i c h a n t i - m o r a l i s c h e n M a c h t p h i l o s o p h i e v o r g e f ü h r t w o r d e n w a r , n ä m l i c h i n der L e h r e v o m W i l l e n zur M a c h t ( X I V ) . K a u f m a n n n o b i l i t i e r t sie d a d u r c h , dass er sie g e g e n H e i d e g g e r n i c h t als d i e b i s l a n g v e r b o r g e n e Essenz des P r i n z i p i e n d e n k e n s der M e t a p h y s i k , s o n d e r n als d e n G r u n d b e g r i f f einer p r i m ä r i n d i v i d u a l i s t i s c h u n d z u g l e i c h m o r a l i s c h b e d e u t s a m e n P s y c h o l o g i e i n t e r p r e t i e r t , der k e i n e r l e i politische K o n s e q u e n z e n , erst recht n i c h t d i e j e n i g e n des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s z u g e r e c h n e t w e r d e n k ö n n e n 2 9 6 . D e r W i l l e zur M a c h t f u n d i e r t e i n e h e r o i s c h - t r a g i s c h e E t h i k p e r m a n e n t e r i n d i v i d u e l l e r Selbstg e s t a l t u n g , die sich p r i m ä r a u f d i e W e r t e der S u b l i m i e r u n g v o n T r i e b w ü n s c h e n u n d der r a t i o n a l e n S e l b s t k o n t r o l l e b e r u f t . D i e i n t r i k a t e n L e h r e n v o m U b e r m e n s c h e n u n d v o n der e w i g e n W i e d e r k e h r des G l e i c h e n w e r d e n

demgegenüber

m a r g i n a l i s i e r t , u n d z w a r so, dass der L e h r e v o m W i l l e n zur M a c h t n i c h t n u r a u f der i n h a l t l i c h e n , s o n d e r n a u c h a u f der m e t h o d o l o g i s c h e n E b e n e d i e Schlüsselrolle f ü r N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e z u k o m m t . Sie f o r m u l i e r t n ä m l i c h n a c h K a u f m a n n e i n P r i n z i p f ü r das G e s a m t v e r s t ä n d n i s menschlich-aaxmYich-eT

W i r k l i c h k e i t , das n a c h

d e n R e g e l n des in A m e r i k a w e i t h i n a n e r k e n n u n g s f ä h i g e n E m p i r i s m u s a u f d e m

Salaquarda besorgten deutschen Übersetzung steht ein Geleitwort von Hans Albert mit einer kurzen Würdigung der Lebensleistung des 1980 verstorbenen Autors voran (IX-XI). Ich zitiere im folgenden nach der dt. Ubersetzung, die im Anhang unter anderem eine von Kaufmann kritisch annotierte Bibliographie zu Positionen der gegenwärtigen Nietzsche-Forschung enthält. Der Autor erklärt seinen amerikanischen Lesern in einem Prolog (1—19) ausführlich die Entstehungsgeschichte der nationalistisch-nationalsozialistischen Nietzsche-Legende. Das Buch enthält deren Widerlegung. Vgl. dazu auch ebd. 43ff. und 47ff. Für die erste wichtigere Darstellung der nietzscheschen Philosophie, die nach 1945 in England erschienen ist, vgl. Frank Alfred Lea, The Tragic Philosopher. A Study of Friedrich Nietzsche, London 1957, Neuausgabe New York 1972. Dem Autor gelingt eine insgesamt verständnisvolle, wenn auch nicht unkritische Einführung in Nietzsches Denken. Die Darstellung ist werkgeschichtlich aufgebaut und zeichnet deshalb die innere Entwicklung Nietzsches nach, die mit einem romantischen Protest gegen die Verwerfungserscheinungen neuzeitlicher Kultur beginnt, zur Diagnose des Nihilismus als deren Krankheit voranschreitet und schließlich als deren Heilmittel die ,Umwertung aller Werte' propagiert. Die reflexive Modernität des nietzscheschen Denkens wird durchgängig herausgestellt. Für weitere Einführungen in Nietzsches Denken in englischer Sprache vgl. Reginald J. Hollingdale, Nietzsche, the Man and His Philosophy, Baton Rouge 1965; ders., "Nietzsche, London/New York 1973; Frederick Copleston, Friedrich Nietzsche. Philosopher of Culture, London/New York 1975 (erweiterte Ausgabe des Erstdrucks von 1942); Ronald Hayman, Nietzsche. A Critical Life, London 1980 (dt. Friedrich Nietzsche. Der mißbrauchte Philosoph, München 1985). Als neuere Darstellung sei verwiesen auf Michael Tanner, Nietzsche, Oxford/New York 1994 (dt. Nietzsche, Freiburg i. Br. 1999). 296

Kaufmann, Nietzsche, 488: „Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht ist kein primär metaphysisches Prinzip, wie Heidegger behauptet. Nietzsche ist es besonders um den Menschen zu tun; Macht ist für ihn vor allem ein Zustand des Menschen. Die Projektion des Willens zur Macht aus der Sphäre des Menschen ins All ist ein sekundärer Einfall — eine extreme Hypothese, für die es keine Beweise gibt und die mit Nietzsches eigenen kritischen Prinzipien nicht recht zu vereinbaren ist". Vgl. ebd. 237f. Zur These vom apolitischen Charakter der Philosophie Nietzsches vgl. vorliegender Band, Anm. 298.

A D e r Beginn der philosophischen Nietzsche-Rezeption in d e n U S A

141

Weg der Induktion aus der Erfahrung abgeleitet werden kann 297 , während die Lehren vom Übermenschen und von der ewigen Wiederkehr unhaltbare spekulative Überhöhungen von Einzelerfahrungen darstellen, die nach den Regeln empirischer Rationalität nicht verallgemeinert werden dürfen. Im Zeichen des Willens zur Macht findet Nietzsche zu einem philosophischen Monismus, der von der Fragestellung her an die Kosmologie Piatons sowie an die Naturphilosophie Goethes anknüpft und dabei die traditionellen Dualismen von Geist und Leben oder von Mensch und Natur überwindet. Zugleich artikuliert sich in dieser Lehre ein existenzialistisches Bewusstsein für die elementare Bedrohtheit des individuellen Daseins. Nietzsche vertritt für Kaufmann einen aufgeklärten, gleichsam von Voltaire inspirierten Existenzialismus, der sich aus Wahrheitsliebe jede Prätention auf einen definitiven Zugang zum Grund aller Wirklichkeit im Sinne systematischer Metaphysik versagt und dennoch, wenn auch illusionslos, am Ideal humanistischer Selbst- und Kulturgestaltung festhält. Auch wenn inzwischen deutlich ist, dass Kaufmann der intellektuellen Riskiertheit, der Exzessivität und den offen politischen Implikationen des nietzscheschen Denkens nicht gerecht werden kann 298 , bleibt anzuerkennen, dass er allein es war, der Nietzsche in Amerika überhaupt erst als Philosophen diskussionsfähig und -würdig gemacht hat 299 . Kaufmanns Übersetzungen der wichtigsten Texte Nietzsches leisteten dazu einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Beitrag 300 . 297 2,8

299

31111

Allerdings gefunden durch „kühne Induktion" (Kaufmann, Nietzsche 141). Vgl. dazu exemplarisch K a u f m a n n , Nietzsche, 143: „Er (sc. Nietzsche - A.R.) war weder Sozialphilosoph noch politischer Denker"; vgl. ebd. S. 479 und S. 486. Die erste Kritik an Kaufmanns sokratisch orientierter Nietzsche-Deutung formuliert der Politologe u n d Leo-Strauss-Schiiler Werner J. Dannhauser, Nietzsche's View of Socrates, Ithaca, N . Y . / L o n d o n 1974 (vgl. die Zusammenfassung der D e u t u n g Kaufmanns u n d die klare Kritik an ihr S. 26). Der Autor verweist zu Recht auf den lebenslangen Kampf Nietzsches mit Sokrates u n d mit der von ihm begründeten Form rationaler Weltdeutung. Vgl. dazu auch T h o m a s Jovanovski, Critique of Walter Kaufman's Nietzsche's Attitude Toward Socrates'. Nietzsche-Studien 20 (1991), 329-358. Für die erste Kritik an Kaufmanns unpolitischer Nietzsche-Deutung vgl. Walter H . Sokel, Political Uses and Abuses in Walter Kaufmann's Image ofNietzsche. Nietzsche-Studien 12 (1983), 4 3 6 - 4 4 2 . D e m T h e m a der „political uses and abuses of Nietzsche" war eine Sektion der Jahrestagung der Modern Language Association of America von 1980 gewidmet. Sokel betont den fundamentalen Asthetizismus Nietzsches, der in Kaufmanns Betonung der „tiefen humanistischen Essenz" der Lehre vom Willen zur Macht vollständig übersehen werde. Nach Sokel sind mit Nietzsches Asthetizismus politische Vorstellungen der fragwürdigsten Art verbunden. Wille zur Macht ist nicht nur Selbstüberwindung u n d Sublimierung, sondern auch Ausübung von Macht auf Andere. Vor allem: Nietzsches Asthetizismus deutet den Staat als Kunstwerk, das ein Künstler-Führer nur dadurch schaffen kann, dass er die amorphe Masse unqualifizierter Individuen den Regeln seines Werks mit Gewalt unterwirft. Nietzsche kritisiert den schwachen Staat der liberalen Tradition, der kulturelle Werte weder setzen noch durchzusetzen kann, aber nicht den Staat, der sie gewaltsam geltend macht. Sokel stützt sich auf Joseph Peter Stern, Hitler: The Fährer and the People, London 1975, u n d ders., Nietzsche. Die Moralität der äußersten Anstrengung, Köln-Lövenich 1982 (dt. Übers, von A Study of Nietzsche, Cambridge, London, N e w York, Melbourne, 1979). Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 260f. Kaufmanns Übersetzungstätigkeit begann mit der Edition des Portable Nietzsche, zuerst 1954 in N e w York erschienen (enthält Übersetzungen von Also sprach Zarathustra, Götzendämmerung, Der

142

III Nietzsche in der angelsächsischen W e l t

Nach Kaufmann hat vor allem Arthur Coleman Danto Wesentliches zur Anerkennung Nietzsches als Philosoph im angelsächsischen Sprachraum beigetragen. Danto kommt aus dem Kontext der analytischen Philosophie, die er wie kaum ein anderer seiner Generation für Fragestellungen der so genannten Kontinentalphilosophie öffnen wollte. Er selber hat als Theoretiker der Handlung und der Geschichte 301 wichtige Beiträge zur Binnendifferenzierung und Entdogmatisierung der analytischen Philosophie geleistet. Als Kunsttheoretiker und -kritiker hat er der Art des Gegebenseins ästhetischer Gegenstände besondere Aufmerksamkeit gewidmet 302 . Danto war deshalb in singulärer Weise dazu prädestiniert, in der Eingemeindung Nietzsches in den Kontext angelsächsischer Philosophie noch einen Schritt über Kaufmann hinauszugehen und ihn seinem Publikum als Gründungsvater jenes metaphysikkritischen „linguistic turn" vorzustellen, aus dem auch die „ordinary-language-philosophy" hervorgegangen ist. Dies geschieht in einer umfassenden Interpretation des nietzscheschen Denkens als einer Philosophie01, die in formaler Hinsicht, trotz ihrer exzessiv rhetorisch-poetischen Ausdrucksdimension, den Standards logischer Analyse genügt und die zeigen will, dass die grammatisch-logischen Strukturen der Sprache den interpretierenden Zugang zu „Wirklichkeit" bestimmen und, sofern dies undurchschaut bleibt, systematisch in die Irre führen (12, dt. 23). Seit Danto gehören die methodischen Verfahren der argumentativen Rekonstruktion und der systematischen Vereindeutigung von Gedanken, die Nietzsche in einer polyvalenten Sprache zum Ausdruck bringt, zu den charakteristischen Merkmalen der Nietzsche-Deutung im angelsächsischen Sprachbereich. Unter inhaltlichem Aspekt unterstellt Danto Nietzsche außerdem die Absicht, das menschliche Denken durch den Entwurf einer „philosophy ... of total conceptual permissiveness" (12, dt. 23) zur künstlerischen Aktivität autonomer Sinnproduktion zu befreien 304 . Der Streit um Einheit und WidersprüchlichAnticbrist u n d Nietzsche contra Wagner, Auszüge aus anderen Büchern sowie eine Auswahl aus den Nachlassaufzeichnungen u n d Briefen). Ihr folgte eine Ausgabe der Basic Writings of Nietzsche, N e w York 1968 (enthält Ubersetzungen von Jenseits von Gut und Böse, Die Geburt der Tragödie, Der Fall Wagner, Genealogie der Moral u n d Ecce Homo). Ubersetzungen von Einzeltexten sind: Friedrich Nietzsche, The Will to Power, N e w York 1967, u n d ders., The Gay Science, N e w York 1974. Nietzsche-Kenntnisse beruhen in der angelsächsischen Welt bis heute fast ausschließlich auf der Lektüre der kaufmannschen Ubersetzungen. .MI Arthur C. D a n t o , Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965, ders., Analytical Philosophy of Action, Cambridge 1973. 3112 Vgl. dazu Arthur C. Danto, The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Cambridge (Mass.), 1981 (dt. Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1984), u n d ders., Disenfranchissment of Art, N e w York 1986 (dt. Die philosophische Entmündigung der Kunst, M ü n c h e n 1993). 3113 Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher. An Original Study, N e w York 1965, dt. Nietzsche als Philosoph, M ü n c h e n 1998 3114 Dieser Aspekt wird in der späteren Diskussion über Dantos Nietzsche-Bild häufig übersehen. Es sei deshalb auf die folgende These explizit hingewiesen: „Nietzsche ... tried to construct a philosophy consistent with the extraordinary openness he felt available to man, or at least a philosophy that would entail this openness as one of its consequences" (12f., dt. 23). D a m i t ist

A Der Beginn der philosophischen Nietzsche-Rezeption in den USA

143

keit zwischen diesen beiden Intentionen bildet bis heute ein zentrales T h e m a der angelsächsischen Nietzsche-Interpretation. Es hat diese Diskussion nachhaltig beeinflusst, dass Kaufmann und Danto ihren Zugang zu Nietzsche über das Problem des Nihilismus gefunden haben. „Nihilismus" meint die metaphysisch begründete Einsicht in die objektive Bedeutungslosigkeit sowohl der Natur als auch der menschlichen Geschichte (34f., dt. 39fl). Sie führt bei Nietzsche allerdings nicht wie bei Schopenhauer zu einem radikalen Quietiv des Willens oder zu jener lähmenden Lethargie, die in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts kritisch unter diesem Stichwort beschrieben wird, sondern zu einem aktiven Willen zur Macht. Er verwirklicht sich in der kontinuierlichen Anstrengung, einer an sich selbst bedeutungslosen W e l t fiktiv gewonnene Strukturen von Bedeutsamkeit aufzuprägen, durch die menschliches Leben als ein spezifisches überhaupt erst geführt werden kann. Kunst, Religion, Philosophie und Wissenschaft sind Produkte eines aktiven Willens zur Macht. Ihnen entgeht zwar die deskriptive Macht objektiver Wirklichkeitserschließung, aber sie verkörpern die wesentlich wichtigere instrumental-pragmatische Macht der Lebenseröffnung und der Daseinsbewältigung (dt. 47f.). Dantos Nietzsche ist der Apologet künstlerischer Produktivität. In seiner Lehre vom Willen zur Macht plädiert er für eine Moral autonomer Selbstkontrolle und für eine erkenntnistheoretische Position, die gegen das Konzept einer Korrespondenztheorie der Wahrheit einen philosophisch weniger voraussetzungsreichen, von Danto als pragmatisch deklarierten Begriff des Wissens geltend macht (72: „a pragmatic criterion of truth" etc., dt. 102, 124f.) 305 . Dem Willen zur Macht werden die schon von Kaufmann als obskur eingeschätzten Lehren vom Ubermenschen, der ewigen Wiederkehr des Gleichen und vom moralischen Ressentiment so untergeordnet, dass sie das Verständnis seiner Philosophie nicht mehr ernsthaft stören. Die Lehre von der ewigen Wiederkehr wird zur einzig plausiblen Metaphysik erklärt, die sich aus nihilistischer Perspektive noch formulieren lässt, bestätigt

305

auch der Kern von Dantos eigenem philosophischen Interesse angesprochen: die Verbindung von logischer Analyse und einer Offenheit für jene Form von „conceptual permissiveness", die vor allem die Tätigkeit einer von philosophischen Ambitionen entlasteten Kunst auszeichnet. Zur philosophischen Problematik der Begriffe „Korrespondenztheorie" der Wahrheit und „pragmatische" Wahrheitstheorie im Kontext der Nietzsche-Interpretation vgl. John T. Wilcox, Nietzsche Scholarship and the „Correspondence Theory of Truth". The Danto Case. Nietzsche-Studien 15 (1986), 337-357. Wilcox tadelt mit Recht die Undurchsichtigkeit und interne Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Korrespondenz" (338). Zugleich erhebt er gut fundierte Einwände gegen die von Danto begründete Mode, Nietzsches eigene Erkenntnistheorie durch den vagen Begriff des Pragmatismus zu charakterisieren. Vgl. dafür auch ders., A Note on Correspondence and Pragmatism in Nietzsche. International Studies in Philosophy 12 (1980), 77—80, und ders., Nietzsche's Epistemology. Recent American Discussions. International Studies in Philosophy 15 (1983), 67—77, insbes. 72ff. Zudem gibt es gewichtige Gründe, die Interpretation von Nietzsches Philosophie als Theorie der Wahrheit zu vermeiden. Vgl. dafür Mary Warnock, Nietzsche's Conception of Truth. Pasley (Hg.), Nietzsche: Imagery and Thought (1978), 33-63.

144

III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

sie doch nichts anderes als die objektive Bedeutungslosigkeit einer Welt, die erst durch die kreative Produktivität des Ubermenschen mit gehaltvollem Sinn angereichert wird. In der Kritik am Ressentiment zerstört Nietzsche alle bisherigen, nur vermeintlich objektiv und damit falsch fundierten, weil ausschließlich von den grammatischen Formen der Sprache vorgeprägten Wahrheits- und Gerechtigkeitsnormen. Die schon von Kaufmann bemühte Ethik der Sublimierung und der Selbstkontrolle verhindert es, dass Nietzsches Plädoyer für Authentizität und Kreativität als Empfehlung für ein machtpolitisches oder individuell-hedonistisches Ausagieren aggressiver und libidinöser Kräfte missverstanden wird 306 . Das harmonistische Nietzsche-Bild Dantos, das inhaltlich mit den Vorgaben Kaufmanns weitgehend übereinstimmt 307 , wird lediglich durch die Wahrnehmung einer unausrottbaren Vorliebe für dramatisierende Rhetorik getrübt. Missverständnisse ergeben sich ferner durch gelegentliche Rückfälle in einen Sprachgebrauch, der eher der von Nietzsche kritisierten als seiner eigenen Position entspricht. Dies erzeugt jedoch lediglich sprachliche Inkonsequenzen, die wegen der radikalen und deshalb gedanklich noch nicht völlig beherrschten Neuartigkeit des von Nietzsche verwirklichten Denkens mit Nachsicht beurteilt werden sollten 308 . Gravierend ist allerdings die Spannung („crucial tension") zwischen Kritik und Metaphysik, die seine Philosophie als theoretische Einheit zu zerbrechen droht. Nietzsche vertritt ein nihilistisches Konzept des Wissens, ohne sich dadurch davon abhalten zu lassen, Aussagen über die reale Beschaffenheit der Welt zu formulie3116

3117

308

Im Vorwort zur deutschen Übersetzung macht Danto auf die Problematik seiner eigenen Stilisierung Nietzsches zu einem Philosophen aufmerksam. Zugleich erklärt er dort die Motive, die ihn veranlasst haben, Nietzsches „wildes Denken" als analytische, metaphysikkritische Philosophie zu profilieren. Er wollte Nietzsches „Denken genau jener Kritik auszusetzen, die er selbst gegen so viele Formen philosophischen Denkens in Anschlag gebracht hat", um so „einer der moralisch verfänglichsten Stimmen der Neuzeit ihre Schärfe zu nehmen" (Nietzsche als Philosoph 11). Nietzsche sollte der analytischen Philosophie die Geduld vermitteln, sich den entscheidenden Fragen der Philosophie rückhaltlos zu stellen, so wie Danto dies selber in seinem Buch Connections to the World. The Basic Concepts of Philosophy, New York 1989 (dt. Wege zur Welt. Grundbegriffe der Philosophie, München 1999), exemplarisch getan hat, und zugleich galt es, „Nietzsches eigene Philosophie" durch Anwendung auf sich selbst „zu entwaffnen und jene allzu lebhaften Bilder des Schreckens zu neutralisieren, welche seit über einem Jahrhundert zahllose Soziopathen inspiriert haben" (Nietzsche als Philosoph, dt. 12). Vgl. dafür die an Kaufmann gemahnende Formulierung: „It is ... a much qualified paganism that we must attribute to Nietzsche. Celebrating, as he did, the Mediterranean values, ... he held the basically sane if perhaps dull view that the passions and drives of men be disciplined and guided by reason, that our lives be Apollinian and Dionysiac at once, in that balance of force and form which, after all, had been recommended from the beginning of moral philosophy. Language aside, then, Nietzsche hardly deviated from the tradition which goes back at least to Socrates" (149, dt. 183). Vgl. damit etwa Kaufmann Nietzsche (1982), 128f„ 441ff. oder 445ff. Als Beispiel wird die Spannung zwischen Nietzsches pragmatischer und der von ihm bekämpften Korrespondenz-Theorie der Wahrheit erwähnt: „Although he (sc. Nietzsche) had developed a pragmatic theory of truth, he often spoke in an idiom more congenial to the Correspondence Theory of Truth which he was trying ... to overcome. ... Like many innovators, he was not quite sure of the theory he invented, or perhaps that he had invented a new theory" (80, dt. 102).

A Der Beginn der philosophischen Nietzsche-Rezeption in den USA

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ren 309 . So bleibt er letztlich ein Gefangener der von ihm angegriffenen Metaphysik. Er kritisiert mit guten Argumenten den semantischen Realismus und dessen Überzeugung von der prinzipiellen Ähnlichkeit zwischen ontologischer und grammatischer Ordnung. Aber er zieht daraus „den verheerend falschen Schluß, daß die Wirklichkeit . . . nicht beschreibbar sei, statt den weitaus plausibleren, daß der semantische Charakter der Wirklichkeit" nicht die Voraussetzung dafür darstellt, sich ihr beschreibend oder darstellend anzunähern 3 1 0 . Die beiden von Danto vorgegebenen Stichworte „theory of knowledge" und „philosophy of total conceptual permissiveness" bestimmen bis heute erhebliche Teilbereiche der amerikanischen Nietzsche-Diskussion. Der sachlich berechtigte Eindruck, dass Danto weder die Bedeutung des Wissensbegriffs noch diejenige des Nietzsche unterstellten Begriffs ästhetischer Produktivität wirklich geklärt und dass er ebenso wenig die Frage nach der Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen mit der nötigen Präzision gestellt hat, ist möglicherweise ein Grund dafür, dass sich in der amerikanischen Nietzsche-Interpretation der siebziger und achtziger Jahre zunächst zwei verschiedene Diskussionsfelder herausbilden, die auf diese Defizite konstruktiv reagieren. Aus dem Bedürfnis, den Erkenntnis- und Wissensbegriff Nietzsches zu präzisieren, entsteht ein epistemologisches Diskussionsfeld. Dabei macht sich zusätzlich die sachlich problematische Uberzeugung bemerkbar, dass Nietzsches „epistemology" den rationalen Kern seiner Philosophie darstellt, um den sich die nicht nur für seine angelsächsischen Leser wesentlich weniger plausiblen Lehren von der ewigen Wiederkunft oder vom Ubermenschen so gruppieren lassen, dass sie die innere Konsistenz seiner Philosophie als einer Theorie des Wissens nicht ernsthaft gefährden. Aus dieser Einstellung heraus lässt sich die bereits von Kaufmann und Danto herausgestellte Zentralposition des Willens zur Macht durch weitergehende methodologische Reflexionen absichern, so dass die in sich als besonders sperrig empfundene Lehre von der ewigen Wiederkehr gar nicht mehr als eigenständige Theorie diskutiert werden muss. Die Fragen an Nietzsche

309

3111

„Nietzsche's is a philosophy of Nihilism, insisting that there is no order and a fortiori no moral order in the world", und dennoch gilt: „In the end, then, he too has his metaphysics and his theory as to what its structure and composition ultimately must be" (80, dt. 103). Danto, Nietzsche und der semantische Nihilismus. Guzzoni (Hg.), 100 Jahre Nietzsche-Diskussion (1991), 149 (vgl. jetzt auch den Anhang zu Danto, Nietzsche als Philosoph, dt. 280-294: Engelszungen und Menschenrede. Nietzsche als semantischer Nihilist, insbes. 29Iff.). Danto distanziert sich mit diesem Einwand nicht nur von Nietzsche, sondern auch von den „Spielarten von Sprachphilosophie, die wir dem späten Wittgenstein, Austin, Searle und Grice ... verdanken", und plädiert im Blick auf die gegenwärtige sprachphilosophische Diskussion für eine strukturalistischsemantische Theorie, die er bei Frege, Carnap und Davidson vorgebildet findet (vgl. ebd. 152). Für eine Zusammenfassung der Nietzsche-Interpretation Dantos in deutscher Sprache vgl. ders., Friedrich Nietzsche. Norbert Hoerster (Hg.), Klassiker des philosophischen Denkens, Bd. 2, München 1982, 230—272 (dt. Ubers, von Nietzsche, in: D. J. O'Connor, ed., A Critical History of Western Philosophy, London 1964).

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III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

konzentrieren sich dann auf den Begriff des Wissens, den er ablehnt, und auf den Begriff des Wissens, den er für seine Philosophie in Anspruch nimmt. Insbesondere wird gefragt: Lässt sich das von Nietzsche verworfene Konzept des Wissens tatsächlich als Korrespondenztheorie der Wahrheit kennzeichnen? Genügt es, das von ihm beanspruchte Konzept von Wissen als pragmatisch zu charakterisieren? In der Konfrontation mit der Frage „what did Nietzsche think we can know, and what did he think we can't know?"311 wird seine Philosophie wie sonst nur noch diejenige Humes, Kants und Wittgensteins für einige Philosophen aus dem Kontext der „ordinary-language-philosophy" zum Paradigma eines Wissensbegriffs, der sich vom Skeptizismus ebenso distanziert wie von transzendentalphilosophisch oder phänomenologisch fundierten Regeln der Wahrheitsfindung 312 . Die Antworten, die auf die genannten Fragen gegeben werden, unterscheiden sich nicht nur inhaltlich voneinander. Unterschiedlich sind auch die methodischen Verfahren, mit denen diese Antworten begründet werden. John T. Wilcox und Ruediger H. Grimm thematisieren Nietzsche aus der Perspektive gegenwärtiger Epistemologie und Metaethik. Daniel Breazeale macht demgegenüber eine historische Perspektive geltend. Zugleich zeigt sich in diesen Debatten die Notwendigkeit, den Fragerahmen der Epistemologie durch einen Begriff wertsetzender Praxis (Wilcox), durch eine Ontologie der werdenden Welt (Grimm) oder durch eine Reflexion auf ihre kulturkritischen Motive (Breazeale) zu erweitern. Diese Fragen sind Gegenstand des folgenden Abschnitts (B). Das zweite Diskussionsfeld entsteht aus der sachlich näher liegenden Annahme, dass Nietzsches Philosophie von ihrem eigenen Anspruch her so zugeschnitten ist, dass sie an einer Theorie des Wissens oder der Wahrheit gar kein isoliertes, ja nicht einmal ein besonderes Interesse haben kann. Dann aber wäre es unzulässig, die Aufmerksamkeit des Lesers primär den Aussagen zuzuwenden, die ein epistemologisches Konzept zu enthalten scheinen. Es wäre vielmehr erforderlich, den weiter reichenden Kontext zu beachten, innerhalb dessen Nietzsche unter anderem auch mit Begriffen des Wissens arbeitet. Aus der Perspektive dieses Ansatzes erscheint Nietzsches Denken als das einer „philosophy of conceptual permissiveness". Antworten auf die Frage, wie die von ihr gemeinte Offenheit des Denkens genau zu verstehen ist, bilden den Gegenstand des übernächsten Abschnitts (C).

311 312

Wilcox, Nietzsche's Epistemology. International Studies in Philosophy 15 (1983), 69. Vgl. dazu die charakteristische Formulierung von John T. Wilcox, Nietzsche's Epistemology. International Studies in Philosophy 15 (1983), 72: „we live in a generally Kuhnian, Wittgensteinian, semi- or neo-Kantian intellectual era, an era of the sociology of knowledge, which emphasizes the human contribution to human knowledge, and the biological, historical, and social determinants of that human contribution. On the other hand, we are not total sceptics; we believe in the possibility and, within limits, in the desirability of some sort of truth — what sort, we're not sure of. So we find that Nietzsche's concerns are our own".

Β Nietzsches Philosophie als systematisch diskussionsfähige Epistemologie 1. Nietzsches Alternative

zur Korrespondenztheorie John T. Wilcox

der

Wahrheit

Das Diskussionsfeld „Nietzsches Epistemologie" wird von John T. Wilcox e. röffnet. Er konzentriert sich, in methodischer Distanzierung von Kaufmann und Danto, auf einen speziellen, aber signifikanten Aspekt der nietzscheschen Philosophie, nämlich auf den ihr zugrunde liegenden Begriff des Wissens. Die Begründung dafür besteht in der Beobachtung, dass Nietzsche in seiner Lehre vom Willen zur Macht, in seiner Analyse moralischer Urteile und in seiner Kritik an den Grundlagen der christlichen Moral bestimmte Begriffe von „Wahrheit" und „Wissen" voraussetzt, die nach Wilcox nicht nur dem Argumentationsniveau der analytischen Gegenwartsphilosophie standhalten, sondern darüber hinaus so gehaltreich sind, dass es sich lohnt, sie in die systematische Debatte über die interne Beziehung zwischen Epistemologie und Metaethik einzuführen 313 . Den argumentativen Ausgangspunkt der Überlegungen von Wilcox bildet die Uberzeugung, dass jeder Beitrag zu einer Theorie der Normativität eine bestimmte Auffassung von Rationalität voraussetzt, weil jede Antwort auf die Frage nach dem Zugang zu moralischen Normen notwendigerweise auch eine Einschätzung der Leistungsfähigkeit des menschlichen Wissens impliziert. Der Autor konfrontiert seine Leser zunächst mit einer Sequenz von Texten, in denen Nietzsche die Macht des Wissens für die Konstitution von Normativität minimiert. Die Illusion, die Kunst oder der Rausch sind Zustände des Nichtwissens, und sie sind für die menschliche Lebensorientierung durch Wertsetzung offensichtlich bedeutsamer als Zustände des Bewusstseins, die für das Leben und für den mit ihm notwendig verbundenen Akt der Wertsetzung eher destruktive Folgen haben. Nietzsches Position erscheint deshalb aus metaethischer Perspektive als diejenige eines „Non-

313

John T. Wilcox, Truth and Value in Nietzsche. A Study of His Metaethics and Epistemology. Vorwort von Walter Kaufmann, Ann Arbor 1974, Neudruck Washington D. C. 1982. Kaufmanns Vorwort legitimiert die Reflexion auf eine von ihm selber kaum berücksichtigte Fragestellung allerdings mehr durch äußerliche Gründe. Er verspricht sich von ihrer Behandlung ein Gegengewicht zur Nietzsche-Interpretation Dantos, die er wegen ihrer Affinität zur analytischen Philosophie als oberflächliche Verfälschung ablehnt. Derselbe wissenschaftspolitische Zusammenhang wird in Kaufmanns Vorwort zu Daniel Breazeales Ausgabe der frühen erkenntnistheoretischen Schriften unter dem Titel Friedrich Nietzsche, Philosophy and Truth (wie Anm. 335 des vorliegenden Bandes), erkennbar.

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III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

kognitivisten" 3 1 4 . Dieser Einschätzung stehen jedoch andere Befunde entgegen: Nietzsche beansprucht für seinen Anti-Kognitivismus eine rational begründbare Art von Wahrheit. Sein Konzept menschlicher Größe impliziert einen normativen Begriff von „Wahrheitsliebe", nach dem der Rang eines Menschen danach eingeschätzt wird, in welchem M a ß e er Wahrheit ertragen kann (50). Ebenso setzt der höchste Ausdruck des Willens zur Macht, das dionysische Ja-Sagen zum Leben, ein Wissen von den Grundlagen eben dieses Lebens voraus. Nur aus einer wissenden Einstellung heraus ist eine „Umwertung" der moralischen Werte des Christentums möglich, von denen Nietzsche bekanntlich behauptet, sie seien das Resultat mangelhafter Einsicht in die Entstehungsbedingungen und in die reale Bedeutung moralischer Normen 3 1 5 . W e n n Nietzsches Erkenntnisbegriff nicht einfach als nihilistisch zu bezeichnen ist, so muss geklärt werden, welchen Begriff von Wahrheit und Wissen er im Kern seiner Philosophie beansprucht. Zusätzlich muss gezeigt werden, dass die von ihm eingenommene kognitivistische Position mit seiner Lehre vom grundsätzlichen Perspektivismus des menschlichen Wissens vereinbar ist. Die schwer zu klärende Antinomie zwischen Skepsis und Wahrheitsanspruch, bei der Nietzsche in die bekannten Fallen des Lügner-Paradoxons oder der selbstreferenziellen Inkonsistenz zu geraten droht, ist bis heute ein ungewöhnlich beliebtes T h e m a der Nietzsche-Forschung und der -Diskussion. Bei Wilcox findet es eine nahezu vorbildliche Klärung. Sie wird durch einen Vergleich zwischen den erkenntnistheoretischen Positionen Kants und Nietzsches vorbereitet. Skepsis gegenüber der anschaulichen oder begrifflichen Erkenntnis der Dinge an sich ist bei Kant die Voraussetzung für eine Theorie der apriorischen Fundiertheit und damit der Objektivität des empirischen Wissens von Gegenständen der Erfahrung. Nietzsche bestreitet mit Kant die Erkennbarkeit der Dinge an sich, und er akzeptiert faktisch die konzeptionellen Rahmenbedingungen des menschlichen Erfahrungswissens, wie sie in der Kritik 314 315

Wilcox, Truth and Value in Nietzsche, llff., Chapter 1: Nietzsche as Noncognitivist. Wilcox, Truth and Value in Nietzsche, 44ff. und 67ff. Für einen alternativen Versuch, die Voraussetzung des nietzscheschen Wissensbegriffs zu klären, vgl. Mary Warnock, Nietzsche's Conception of Truth. Pasley (Hg.), Nietzsche: Imagery and Thought (1978), 33-63. Die Autorin unterstellt Nietzsches Aussagen über Wahrheit und Wissen eine innere Spannung zwischen skeptischagnostizistischen und doktrinalen Tendenzen, die er im Rahmen seines Denkens nicht lösen kann. Seine Skepsis führt zu einer radikalen Kritik am Bewusstsein als vermeintlicher Wahrheitsinstanz. Sie verhindert aber nicht die Formulierung einer Lehre vom Willen zur Macht, mit der eine gegenüber der philosophischen Tradition neuartige Interpretation des Wissens als pragmatischer Macht menschlicher Lebensgestaltung verbunden ist. Der Wille zur Wahrheit, der das Wissen regiert, bildet eine interne Funktion des Willens zur Macht. Mit der Lehre vom Willen zur Macht ist deshalb das Konzept des Wahrheitspluralismus verbunden, dessen Bedeutung Nietzsche in seiner Theorie des Perspektivismus zu klären versucht. Das Konzept des perspektivisch angelegten Wahrheitspluralismus hindert Nietzsche jedoch nicht daran, am Begriff der qualitativen Steigerung von Wahrheit festzuhalten, nach dem die Maximierung von Wahrheit mit einer gesteigerten Form des Willens zur Macht verbunden ist und umgekehrt. Aus derartigen Spannungen heraus lässt sich kein kohärenter Begriff von Wahrheit entwickeln.

Β Nietzsches Philosophie als systematisch diskussionsfähige Epistemologie

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der reinen Vernunfì herausgestellt werden. Er bestreitet jedoch das apriorische Gegebensein der sinnlichen Anschauungsformen und der Urteilskategorien, indem er sie gegen Kant auf Prozesse praktischer Bewertungen zurückführt. Sie sind für ihn das Resultat notwendiger Simplifizierungen, die das Leben im Blick auf eine Realität vornimmt, die zu chaotisch ist, um vom menschlichen Wissen adäquat verstanden werden zu können. In methodischer Hinsicht folgt aus Nietzsches Kritik an Kant eine Orientierung am Darwinismus: Der menschliche Geist wird wie jeder andere Gegenstand der Natur behandelt, nämlich als Resultat eines evolutionären Prozesses, der sich als Geschichte eines unendlichen Kampfes um Selbstbehauptung entziffern lässt. Auch Wissenschaft beruht wie jede andere Form des Wissens oder eines noch umfassenderen Für-wahr-Haltens auf dem „Urvermögen menschlicher Phantasie" ( Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA I 883) und damit auf einer Vorgestalt jener Instanz von Produktivität, die im Spätwerk als Wille zur Macht bezeichnet wird. Der Wille zur Macht ist nicht der Grund, sondern von sich selbst her schon eine Gestalt des Wissens, die sich genauer als Wille zur Konzeptualisierung charakterisieren lässt (145). Er folgt dem Interesse am Uberleben in einer überkomplexen Realität, so dass als sein Grundzug der Wille zur Vereinfachung und zum Weg-Sehen vom fundamental Irritierenden der Wirklichkeit erkennbar wird. In seiner Aktivität stellt der Wille zur Macht jedoch keine monolithische Einheit dar, sondern eine Kraft, die sich in einer verwirrenden Vielfalt vergangener und gegenwärtiger „menschlicher Bewertungen und Lebensbedingungen" bekundet. Nietzsches Begriff des Wissens als einer internen Funktion des Willens zur Macht ist nicht nihilistisch. Er beansprucht vielmehr ausdrücklich die Tugend einer über sich selbst aufgeklärten philaletheia, die sich von metaphysischen und transzendentalphilosophischen Formen der Wahrheitsliebe dadurch unterscheidet, dass sie für sich lediglich eine „innerweltliche, irrtumsanfällige, hypothetische, perspektivische, wertgeladene, historisch entwickelte und realitätsvereinfachende Wahrheit" in Anspruch nimmt (156). Nietzsches perspektivischer Wahrheitsbegriff arbeitet mit einer Fülle interner Differenzierungen. Seine generelle Option für empirisch fundiertes Wissen verhindert keineswegs ein perspektivisch bedingtes Lob der Illusion oder eine situationsbedingte Anerkennung der „Überlegenheit der Fälschung gegenüber der Wahrheit". In Nietzsches Reflexion auf die Vielgestaltigkeit und in seinen unterschiedlichen Bewertungen verschiedener Formen des Wissens zeigt sich ein bislang unbekanntes Bewusstsein von der „gefährlichen oder zerstörerischen Seite, die mit jeder Gestalt des Machens von Wahrheit verbunden ist" (158fi). Mit seiner Hilfe entdeckt Nietzsche erstmals die genuin praktische Dimension der spezifisch menschlichen Wahrheit, die ihre Bauprinzipien nicht mehr durch Prozesse der Annäherung an Instanzen objektiver Wahrheit gewinnt. Die Skepsis gegenüber objektiver Wahrheit führt weder zu prinzipieller Urteilsenthaltung noch zu intellektueller Verzweiflung, sondern zu einer Anerkennung dessen, was menschliche Wahrheit

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III Nietzsche in der angelsächsischen W e l t

tatsächlich ist: „eine menschliche Interpretation, eine Perspektive, ein provisorisch akzeptabler Schatz, der aus der Tiefe menschlicher Leidenschaft, Vernunftfähigkeit und Erfahrung" gewonnen wird (170) 316 . Im Blick auf diesen Wahrheitsbegriff thematisiert Wilcox Nietzsches möglichen Beitrag zu einer Metaethik, die das Verhältnis von Wissen, Selbstaffirmation und Wertschätzung bzw. Wertsetzung klären will. Nietzsche erkennt, dass das kulturell spezialisierte Wissen in der europäischen Moderne mit dem Verfahren einer generellen Historisierung seiner Gegenstände auf kulturelle Werte primär eine destruktive Macht ausübt (184). Er nutzt sie selber aus, wenn er die Grundwerte der christlichen Moral angreift. Damit ist zugleich gesehen, dass die Schaffung neuer oder die Umwertung bisheriger Werte einerseits nicht durch wissenschaftlich qualifiziertes Wissen, andererseits aber auch nicht durch pure Dezision erfolgen kann. Was also ist das von Nietzsche beanspruchte Wissen der Wertsetzung, das mehr als eine bestimmte Form des kulturell spezialisierten Wissens darstellen muss? U n d wie ist dieses „Mehr" in Bezug auf Nietzsches Begriff von Wahrheit und Wissen zu interpretieren? Auf diese Fragen gibt Nietzsche nach Wilcox keine überzeugenden Antworten. In der Geburt der Tragödie wird in der Gestalt des Musik treibenden Sokrates lediglich ein Bild für das Gesuchte entworfen. In Menschliches, Allzumenschliches beschwört Nietzsche „eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntnis der Bedingungen der Cultur", also die besonders qualifizierte Form eines kulturell bislang noch nicht etablierten Wissens, das benötigt wird, wenn sich die Menschheit in einer Welt nach dem Tode Gottes erstmals „ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen" will (KSA II 46). U m ein derartiges Wissen zu erzeugen, sucht Nietzsche nach einer Regel für die wechselseitige Durchdringung von Kreativität und Wissen. Aber es scheint von der Sache her unmöglich zu sein, eine instrumentalisierbare Formel für ihr richtiges Mischungs- und wechselseitiges Steigerungsverhältnis festzulegen. Aus diesem Grunde bleibt der Begriff des Wissens mit einer Vieldeutigkeit belastet, so dass er sich einer konsistenten Theorie der Wahrheit aus systematischen Gründen 316

Richard Schacht, selber ein bedeutender Nietzsche-Interpret u n d wie Wilcox entschiedener Gegner der These vom epistemologischen Nihilismus Nietzsches, bezweifelt mit Recht Wilcox' empiristische D e u t u n g der nietzscheschen Erkenntnistheorie. Vgl. Schacht, Rezension von Wilcox, Truth and Value in Nietzsche. Journal of the History of Philosophy, 14, 1976, 4 9 0 - 4 9 4 . Bei der Interpretation seines Wissensbegriffs muss Nietzsches „philosophical cosmology and anthropology" berücksichtigt werden (491), aber auch die Tatsache, dass für ihn die Unterscheidung zwischen allzu-menschlicher u n d übermenschlicher Wahrheit wichtiger ist als diejenige zwischen (unerreichbarer) absoluter u n d nützlicher Wahrheit (494). Im R a h m e n einer Kritik an der von D a n t o vertretenen These vom epistemologischen Nihilismus Nietzsches charakterisiert Schacht (Nietzsche and Nihilism. Journal of the History of Philosophy 11, 1973, 65—90; wiederabgedruckt: ders., Making Sense of Nietzsche 1995, 5—61) die Position Nietzsches als Plädoyer für „absolute Werte", die im Gegensatz zu relativen keine beliebigen Fiktionen darstellen, sondern aus einer der N a t u r der Wirklichkeit selber verpflichteten „dionysischen Werthabmessung des Daseins" hervorgehen (Journal of the History of Philosophy 11, 1973, 80f.). Z u Schachts Nietzsche-Deutung vgl. im vorliegenden Buch S. 187ff.

Β Nietzsches Philosophie als systematisch diskussionsfähige Epistemologie

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versperrt. Nietzsche verwendet zwar keinen undifferenzierten, irrationalen oder bloß pragmatischen Begriff des Wissens, aber er lässt Fragen offen, die nach Wilcox allerdings auch in der metaethischen und epistemologischen Diskussion der Gegenwart immer noch nicht genau genug beantwortet worden sind.

2. Nietzsches „Empirismus ohne Dogma " Ruediger Hermann Grimm Den Eindruck eines Konsistenzdefizits, der es erforderlich machen würde, Nietzsches philosophische Position jenseits seiner Epistemologie zu suchen, möchte Ruediger Hermann Grimm dadurch beseitigen, dass er Nietzsches Philosophie als eine besonders qualifizierte, absolut moderne Theorie des Wissens interpretiert 317 . Er nähert sich ihr aus der Perspektive der quineschen Kritik an dem Versuch, die Gesamtheit des Wissens als konstruktive Erweiterung von unmittelbar gegebenen Formen der Gewissheit zu interpretieren 318 . Quines bekannte Thesen von der „Unerforschlichkeit der Referenz" und der „Ubersetzungsunbestimmtheit" 319 zeigen, dass Theorien sich nicht einfach auf vorgegebene, theorieunabhängige „Gegenstände" beziehen, sondern auf Rahmentheo rien, die den Charakter der Gegenstände vorab festlegen, die innerhalb einer bestimmten Theorie zum Thema gemacht werden. Ontologische Aussagen über Gegenstände sind notwendig relativ zu einer Rahmentheorie von Gegenständlichkeit. Generalisierende Aussagen über Gegenstände geraten deshalb hoffnungslos in die Falle der ontologischen Relativität 320 , in der sie die für ihr erfolgreiches Bestehen unentbehrliche Qualität selbstreferenzieller Konsistenz zwangsläufig verlieren321. Auf Quines Kritik am 317 318

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Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge, Berlin und New York 1977. Vgl. dazu vor allem Willard van Orman Quine, Two Dogmas of Empiricism. From a Logical Point of View. Logico-Philosophical Essays, Cambridge (Mass.) 1953, 20—46; dt. Zwei Dogmen des Empirismus. Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays. Mit einem Nachwort von Peter Bosch, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1979, 27-50. Quine destruiert gegen Carnap - die Unterscheidung zwischen analytischer und synthetischer Wahrheit sowie das Prinzip des Verifikationismus, nach dem die Wahrheitsfähigkeit von Termen als atomar-einfachen Bestandteilen von Propositionen durch ihre Rückführbarkeit auf eine unmittelbare Erfahrungsgewissheit beglaubigt wird. Für ein sorgfältiges Verständnis dieser Grundbegriffe Quines und seiner philosophischen Position insgesamt vgl. Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Bd. II, Stuttgart 71986, 22Iff. Vgl. dazu Willard van Orman Quine, Ontological Relativity. Ontological Relativity and Other Essays, New York and London 1969, 26—68; dt. Ontologische Relativität und andere Schrifien, Stuttgart 1975, 41—96. Grimm zitiert Quines ontologiekritische These Nietzsche's Theory of Knowledge, 289, Anm. 1. Selbstrcferenzielle Inkonsistenz wird zu einem wichtigen Stichwort neuerer, von Quine inspirierter Metaphysikkritik. Vgl. dafür Joseph M. Boyle, Jr., Self-Referential Inconsistency, Inevitable Falsity and Metaphysical Argumentation. Metaphilosophy 3 ( 1972), 25 - 4 3 , und Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge, 289, Anm. 2.

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III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

Anspruch auf jede Form unmittelbarer Wahrheitsgewissheit gibt es in der analytischen Philosophie zwei verschiedene Reaktionen. Die erste besteht in der Verteidigung des erkenntnistheoretisch privilegierten Anspruchs transzendentaler Argumente 322 , die zweite, von Quine selber vorgegeben, besteht in der Fundierung eines „Empirismus ohne Dogma", der sich im Gegensatz zum traditionellen Empirismus von erkenntnistheoretischen Fundamentalansprüchen freihält. In diesem Konzept verschwindet die „zwischen spekulativer Metaphysik und Naturwissenschaft angenommene . . . Grenze" 323 zugunsten der Uberzeugung, „daß Wissen, Geist und Bedeutung Teile derselben W e l t sind, mit der sie sich befassen, und daß sie mit derselben empirischen Gesinnung, die die Naturwissenschaften belebt, untersucht werden müssen". Quine plädiert deshalb für eine holistisch-naturalistische Theorie des Wissens, in der es aus systematischen Gründen „keinen Platz für eine erste Philosophie" 324 geben kann. Grimm will zeigen, dass Nietzsches Theorie des Wissens nicht nur dem Anspruch von Quines naturalistischem Holismus genügt, sondern ihn zugleich durch ein Konzept ästhetischer Freiheit und Offenheit — im Sinne von Dantos „philosophy of conceptual permissiveness" — ergänzt. Nietzsches Epistemologie bietet für das Problem der logischen Zirkularität, in das sich nach Quine metaphysische Theorien des Ganzen zwangsläufig verwickeln, dadurch eine tragfähige und zugleich elegante Lösung an 325 , dass sie für sich selbst den Charakter der Zirkularität akzeptiert und bis in ihre letzten Konsequenzen durchdenkt. Auf diese Weise vereinigt sie auf sich die in den epistemologischen Debatten der Gegenwart so intensiv begehrten Qualitäten der performativen oder der selbstreferenziellen Konsistenz, der radikalen, selbstbewussten Offenheit und der pragmatischen Nützlichkeit 326 . In Grimms Interpretation steht deshalb der Gedanke im Vordergrund, Nietzsche entwickele in seiner Kritik an der Metaphysik und an der Transzendentalphilosophie eine vom Mangel der Inkonsistenz befreite, ausschließlich in „sich selbst fundierte philosophische Position" (192), von der aus ein Denken des Gan-

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Vgl. dafür exemplarisch H. P. Grice and Peter Strawson, In Defense of a Dogma, in: Philosophical Review 65 (1956), 141-156. Für die vom genannten Beitrag Quines maßgeblich ausgelöste Debatte über transzendentale Argumente vgl. ferner Peter Bieri, Rolf-Peter Horstmann und Lorenz Krüger (Hg.), Transcendental Arguments, Dordrecht 1979. Willard van Orman Quine, Zwei Dogmen des Empirismus. Von einem logiseben Standpunkt (1979), 27. Quine, Ontologisehe Relativität (1975), 41. Holistiscb ist eine erkenntnistheoretische Position, die es für aussichtslos hält, einzelne Elemente des Wissens als seine analytischen Bausteine zu isolieren und sie als in sich selbständige Wahrheitsgaranten zu interpretieren, und sich stattdessen darauf konzentriert, das Wissen als eine Ganzheit aus wechselseitig miteinander verbundenen Elementen zu betrachten. Vgl. dazu genauer Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartspbilosophie wie im vorliegenden Band Anm. 319. Vgl. dazu Ruediger Hermann Grimm, Circularity and Self-Reference in Nietzsche. Metapbilosopby 10 (1979), 290. Grimm, Circularity and Self-Reference. Metaphilosophy 10 (1979), 300, 303, 301.

Β Nietzsches Philosophie als systematisch diskussionsfähige Epistemologie

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zen von Wirklichkeit möglich ist, das die von Quine beschriebene Falle der ontologischen Relativität umgeht. Dabei werden die methodischen Voraussetzungen, unter denen Nietzsches Philosophie auf Theorieansätze der analytischen Philosophie zu beziehen ist, offen ausgesprochen: Seine Philosophie ist im Kern eine Theorie des Wissens, die ihre obsoleten Teile, seine Theorie der Moral, die Lehre vom Ubermenschen und diejenige von der ewigen Wiederkehr, vollständig überlagert und die ihre eigenen Einsichten in die Tätigkeit des Wissens ausschließlich im bereits von Kaufmann und Danto bevorzugten Kontext der Lehre vom Willen zur Macht entfaltet 327 . Zwar benennt die Lehre vom Willen zur Macht ein Wirklichkeitsprinzip von universaler Geltung, aber sie verfällt dennoch nicht dem Fehler der selbstreferenziellen Inkonsistenz, weil in ihr zugleich eine Theorie des Wissens und Erkennens angelegt ist. Sie formuliert damit in der Lehre vom Willen zur Macht die Rahmenbedingung für ihre Theorie des Wissens und vice versa eine Theorie des Wissens als Rahmenbedingung für ihre Theorie vom Willen zur Macht. Die Konzentration auf die Erkenntnistheorie ist deshalb kein Ablenkungsmanöver, sondern sie ist die logische Konsequenz des Versuchs, die Position der nietzscheschen Philosophie auf der Basis des quineschen „Empirismus ohne Dogma" zu rekonstruieren 328 . Als Textbasis wird — fast könnte man sagen, nach dem methodischen Vorbild der Nietzsche-Vorlesungen Martin Heideggers — primär der Nachlass der achtziger Jahre herangezogen. Allerdings werden die dort relativ leicht greifbaren Ansätze zu einem holistischen Begriff des Wissens auch ins Frühwerk zurückverfolgt, so dass die innere Kontinuität der epistemologischen Position Nietzsches erkennbar wird (IX). Die Lehre vom Willen zur Macht revidiert aufgrund der in sie eingelagerten Theorie des Wissens als Ausdrucksform des Willens zur Macht einerseits sämtliche Kategorien der traditionellen Ontologie, Anthropologie und Epistemologie und erweist sich andererseits in ihrem von der Metaphysik abweichenden Denken des Ganzen als eine Philosophie radikaler Offenheit (Vlllf.). Nietzsche kann deshalb in ihrem Kontext „Es-gibt-Sätze" formulieren, die für jede nicht holistisch aufgebaute Theorie des Wissens selbstzerstörerisch wären. Die in der logischen Form der Negation formulierten Aussagen wie „es gibt keine Wahrheit", „es gibt keine 327

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Das Kriterium für die methodische Privilegierung der nietzscheschen „theory of knowledge" ist das der internen Kohärenz, die gefährdet ist, wenn man sich primär auf die populären Lehren Nietzsches bezieht. Grimm verweist vor allem auf Karl Löwith (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956), der aufgrund seiner Konzentration auf den Lehrgehalt der nietzscheschen Philosophie nur die These von ihrer internen Gegensätzlichkeit entfalten kann. Sie besteht dort zum einen im Gegensatz zwischen der vermeintlich subjektivistischen Lehre vom Willen zur Macht und der naturphilosophischen Lehre der ewigen Wiederkehr, zum anderen im kosmologisch-anthropologischen Doppelsinn der Lehre von der ewigen Wiederkehr (Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge, 1977, 17). Wilcox, A Note on Correspondence and Pragmatism in Nietzsche. International Studies in Philosophy 12 (1980), 77—80, übersieht diesen Aspekt in seiner Kritik an Grimms Interpretation von Nietzsches Philosophie als Theorie des Wissens.

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III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

Tatsachen" oder „es gibt kein objektiv wahres Wissen von Tatsachen" treten in solchen Kontexten auf, die auf die Charakterisierung des Willens zur Macht als einem „all-inclusive principle" von Wirklichkeit hinauslaufen 3 2 9 . Positive Existenzsätze vom W i l l e n zur Macht sehen zwar für sich betrachtet genauso aus wie metaphysisches Sätze mit referenziellen Ambitionen. Dennoch benennen sie kein ihnen vorgegebenes metaphysische Prinzip der Einheit des Seienden, sondern verweisen auf ein endliches, diskontinuierliches, in sich gegensätzlich organisiertes Q u a n t u m an Macht, das ganz und gar unmetaphysische, weil essenziell paradoxe Eigenschaften wie Ambiguität, Widersprüchlichkeit, Beweglichkeit und Veränderlichkeit aufweist (52) 330 . Die „Welt" des Willens zur Macht ist das Produkt eines Denkens der irreduziblen Vielfalt von Willens-Quanten. Sie wiederum lassen sich nur durch die formale Eigenschaft definieren, dass sie ihre Macht bis zum Maxim u m ausdehnen und dabei notwendigerweise mit- und gegeneinander agieren bzw. aufeinander reagieren 331 . „Dinge", „Gegenstände" oder „Eigenschaften" können in einer „Welt", die nur mit Hilfe einer „flux ontology of power-quanta" beschrieben werden kann (45), keinerlei essenzielle Bedeutung besitzen. Nietzsches Lehre vom W i l l e n zur Macht formuliert kein inhaltlich-qualitatives Charakteristikum des Grundes der Welt, wie Martin Heidegger dies unterstellt, sondern sie versteht die Gesamtheit des Seienden als das Produkt einer inhaltlich unbestimmbaren „kreativen Aktivität" der Selbsterzeugung (188). Der Wille zur Macht ist kein in sich stehendes Prinzip jenseits seiner pluralen Realisierungen 3 3 2 . Er lässt sich auch nicht als Beschreibung einer psychologisch interpretierbaren Form des Wünschens deuten, die sich als solche auf ein Etwas bezöge, das nicht selber vom Charakter des Willens wäre. Der von Nietzsche gemeinte Wille zur Macht agiert nicht gegen eine ihm gegenüber fremde und andersartige Wirklichkeit, sondern er benennt die Instanz einer Aktivität, von der aus allein alles Wirkliche als eine Gestalt seiner selbst verstanden werden kann. Das Thema der „flux ontology" Nietzsches ist deshalb der ausschließlich formale „Prozess

Vgl. dafür besonders die Kapitel 1 (The World as Will to Power) und 8.1 (The Ontology of Power). .«o Q e r Autor beruft sich in diesem Zusammenhang besonders auf Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin und New York 1971, der als Erster in einer überzeugenden Kritik an der prinzipientheoretischen NietzscheInterpretation Martin Heideggers (Wille zur Macht als Bezeichnung für ein in sich einheitliches substanzielles Prinzip von Wirklichkeit) die interne Pluralität des ,Willens zur Macht' herausgestellt hat. Vgl. dazu Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge 3, Anm. 7. 331 Grimm, Theory of Knowledge 9, Anm. 27, mit Zitat aus dem Nachlass vom Frühjahr 1888 (14[81], KSA 13, 261: „Wille zur Accumulation von Kraft", „Stärker-werden-wollen von jedem Kraftcentrum aus". Zu vergleichen ist auch Friedrich Nietzsche, Nachlaß Frühjahr 1888, Nr. 14 [79], KSA 13, 257ff. 332 j m f r a n z ösi s c hen Kontext wird dieser Gedanke vor allem von Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris 1962 (dt. Nietzsche und die Philosophie, München 1976) herausgearbeitet. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 14ff. 329

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der Welt-Konstitution", der „Welt" dadurch konstituiert, dass er sich in autokreativer Aktivität selbst interpretiert (189) 333 . Entscheidend für die innere Einheit von Ontologie und Epistemologie ist, dass der Wille zur Macht als produktives Prinzip aller Wirklichkeitskonstitution an sich selbst bereits eine elementare Form des Wissens und Interpretierens darstellt. Danach sind Willensäußerungen zwangsläufig Selbsteinschätzungen, die sich im Modus des Interpretierens gleichzeitig auf sich selbst und auf andere Gestalten des Willens beziehen. Wissen ist eine Form des Interpretierens, und Interpretieren die fundamentale Ausdrucksform des Willens zur Macht. In Nietzsches holistischer Philosophie bilden „Wissen" und „Wirklichkeit" nur interne Differenzierungen ein und derselben Rahmentheorie, der Lehre vom Willen zur Macht. Nietzsche kritisiert von dieser Voraussetzung aus die Korrespondenztheorie der Wahrheit 334 , also jenes kognitive Paradigma, das die Geschichte des westlichen Denkens bislang maßgeblich bestimmt hat (43). In diesem Konzept treten Subjekt und Objekt des Wissens zwar als miteinander kommunikationsfähige, aber im Entscheidenden selbständige, nicht aufeinander reduzierbare Faktoren auf. In Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht hingegen bedeutet die Aktivität des Wissens die Organisation einer internen Einheit zwischen Subjekt, Objekt und Medium des Wissens, die Nietzsche im Begriff des Perspektivismus zu klären sucht. Für das aktiv sich realisierende Wissen existiert keine ihm vorgegebene „letzte Wirklichkeit", auf die es referieren oder die es repräsentieren könnte. Vielmehr ist Wissen die interne Funktion einer selbstbezüglichen, kreativ-dynamischen Aktivität, die sich in keiner ihrer Gestalten selbst überschreiten kann, aber in Gestalt einer „regulativen Fiktion" ein formales „Erklärungsmodeü" für „Wirklichkeit" insgesamt, einschließlich ihrer selbst, bereitstellt (114). Auch in der Kritik an anderen ontologischen oder epistemologischen Positionen folgt Nietzsche dem Konzept dieser internen Einheit von Ontologie und Epistemologie sowie dem immanent in ihm enthaltenen Kriterium der Steigerung des eigenen Machtgefühls. Der entscheidende Gewinn von Grimms Interpretation der nietzscheschen Philosophie besteht in der Verdeutlichung des engen Zusammenhangs zwischen der Lehre vom Willen zur Macht und der mit ihr verbundenen Theorie des Wissens. Nietzsche verabschiedet sich von der „natürlichen Einstellung", die vom Wissen Repräsentationsleistungen in Bezug auf eine ihm vorgegebene Wirklichkeit erwartet. Er antizipiert damit eine der wichtigsten Voraussetzungen der analytischen Philosophie. Grimm plädiert jedoch keineswegs für die differenzlose Einge-

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Das Denken der „Welt" als Wille zur Macht tendiert deshalb nicht zu einer Vereinfachung der Wirklichkeit, sondern zu einer bislang unbekannten Komplexität der Wirklichkeitsdeutung: „by ,reducing' all differences to power differences ... Nietzsche succeeds in making the world infinitely more complex than it appeared to be" (Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge, 16). Zur Problematik dieses Begriffs vgl. im vorliegenden Buch die Anm. 305.

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meindung Nietzsches in den Kontext sprachanalytischen Denkens. Zwar will er mit Nietzsche die ontologisch-epistemologischen Voraussetzungen bewusst machen, die der sprachanalytischen Philosophie mehr implizit als explizit zugrunde liegen. Zugleich aber findet er bei Nietzsche eine Einsicht in den essenziell kreativen Charakter des Wissens formuliert, die der Tradition des sprachanalytischen Denkens vollständig fremd ist.

3. Nietzsches rhetorischer Wissensbegriff und das Problem einer nicht-nihilistischen Kultur Daniel Breazeale Weniger ambitioniert, aber in Bezug auf die einschlägigen Texte aussagekräftiger als die mehr systematisch orientierten Ausführungen von Wilcox und Grimm ist die Interpretation der nietzscheschen Erkenntnistheorie bei Daniel Breazeale. Das Bemühen um einen historisch korrekten, nicht aus der Perspektive von Gegenwartsdebatten, sondern aus derjenigen ihrer eigenen Zeit gewonnenen Zugang zu Nietzsches Theorie des Wissens führt bei Breazeale zu einer erheblichen Erweiterung des nicht mehr als epistemologisch zu charakterisierenden Kontextes, der im Rahmen einer plausiblen Nietzsche-Interpretation beachtet werden muss. Der Autor begründet diese Ausweitung seiner Deutungsperspektive in den beiden folgenden Gedankenschritten: 1. Nietzsches Theorie des Wissens verweist auf die Kritik an der Kultur seiner Zeit. Er kennzeichnet sie bereits in Die Geburt der Tragödie als sokratische, vom Affekt des theoretischen Optimismus getragene Kultur, in der die Uberzeugung dominiert, dass zwischen Wissen und Wirklichkeit Beziehungen der Korrespondenz oder der Koinzidenz erreichbar sind. Aus dieser Grundannahme entsteht das Ideal absoluten Wissens, das sich aber durch eine immer unabweisbarer werdende Einsicht in die naturale (Darwinismus) oder geschichtliche (Historismus) Kontextgebundenheit der sprachlichen und begrifflichen Formen des Wissens als unrealisierbar erweist. Das begriffene Scheitern der Intention auf absolutes Wissen hat destruktive Folgen für die gesamte Kultur, die sich von diesem Ideal abhängig gemacht hat. Zur Vermeidung der fatalen Konsequenz des skeptischen Nihilismus entwirft Nietzsche das Gegenkonzept rhetorischen Wissens, das der im 19. Jahr-

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Daniel Breazeale, Introduction zu: Friedrich Nietzsche, Philosophy and Truth. Selections from Nietzsche's Notebooks of the Early 1870's. Ubersetzt und herausgegeben von Daniel Breazeale, Vorwort von Walter Kaufmann, Atlantic Highlands (N.J.) 1979, XVII-LIII. Die Sammlung enthält Nachlasstexte der 70er Jahre, die im Zusammenhang mit Plänen für das so genannte, später zugunsten von Menschliches, Allzumenschliches aufgegebene „Philosophenbuch" entstanden sind (Ueber Wahrheit und läge im aussermoralischen Sinne, Ueber das Pathos der Wahrheit etc.). Sie verdeutlichen nach Breazeale die nietzschesche Konzeption des Wissens besser als seine gleichzeitig publizierten Texte (XIV).

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hundert vorherrschenden Einsicht in die konstitutive Abhängigkeit der Formen des Wissens von den grammatischen Formen der Sprache verbunden bleibt. Nietzsche akzeptiert ohne Abstriche den genuin rhetorischen Charakter der Sprache. Die Sprache „ist kein transparentes, neutrales Medium für die Mitteilung zeitloser Wahrheiten oder eine Widerspiegelung der ,Dinge an sich'", sondern sie baut eine „zweite, mehr menschliche Natur" auf, die als „künstlich konstruierte Welt" aus der Aktivität der Einbildungskraft, näherhin aus dem anthropologisch fundamentalen „Trieb zur Metapherbildung" ( Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA I 887) hervorgeht (XXXV). Die sprachlich konstituierten Formen des Wissens sind anthropomorph und bleiben deshalb außerstande, ein Reich objektiver Wahrheit zu begründen oder von sich her aufzubauen. Nietzsches Interesse an einer Kultur jenseits des Nihilismus veranlasst ihn auch zu einer fundamentalen Kritik an den ausschließlich formalen Gewissheitskriterien der neuzeitlichen Wissenschaften. Da sie den Trieb zum Wissen in keiner Weise sinnvoll regulieren können, destruieren sie zwangsläufig die Grundlagen jeder Kultur. Sie können durch keine Instanz des von ihnen selber beglaubigten Wissens daran gehindert werden, kulturell vorausgesetzte Werte und Normen als Fiktionen zu entlarven. Nietzsche plädiert deshalb für eine immanente Selbstkritik der Wissenschaften. Aus ihr kann allerdings nur der Philosoph des tragischen Bewusstseins die angemessenen Konsequenzen ziehen. Er ist der einzige, der den Skeptizismus, in den die fundamentale Selbstkritik des wissenschaftlichen Erkenntnisanspruchs auszuarten droht, dadurch überwindet, dass er eine neuartige Einsicht in den originär künstlerisch-schöpferischen Charakter allen Wissens artikuliert. Kunst unterscheidet sich als „außermoralische" von der simplen Lüge durch die Fähigkeit zu einem „konstruktiven und annähernd selbstbewussten Gebrauch von Illusionen" 336 . Nietzsche überträgt mit seiner Einsicht in den rhetorisch-künstlerischen Charakter der Sprache und des von ihr aufgebauten Wissens ein Konzept, das ihm in der Zuwendung zur Kultur der Griechen aufgegangen ist, auf seine eigene Zeit. Seine Theorie des Wissens ist somit der Beitrag zur Begründung einer Kultur des Wissens unter den Bedingungen der Gegenwart. 2. Breazeale gewinnt mit seiner Einsicht in den inneren Zusammenhang zwischen dem theoretischen Begriff des Wissens und dem praktischen Begriff der Kultur ein Verständnis für die systematische Einheit der nietzscheschen Philosophie. Sie wurde in der Diskussion der sechziger Jahre normalerweise in drei Epochen unterteilt, eine ästhetische Frühgestalt, eine mittlere „positivistische" und 336

Breazeale bezieht sich bei der Begründung dieser These auf die Nietzsche-Interpretationen von Eugen Fink {Nietzsches Philosophie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1960) und Jean Granier {Le problème de la vérité dans la philosophie de Nietzsche, Paris 1966), die dem Begriff des Spiels besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben (XLIII). Zur Überlegenheit der „bewussten Illusion" über die Lüge und zum Begriff des Wissens im Kontext griechischer Kultur vgl. auch G r i m m Nietzsche's Theory of Knowledge, 66.

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eine späte quasi-metaphysische Periode. Breazeale gibt zwar keine Gesamtdarstellung der nietzscheschen Philosophie, aber er macht im Blick auf das Frühwerk ein Verständnis ihrer inneren Einheit und Kontinuität plausibel. Es wird gezeigt, dass Nietzsche den für seine Philosophie zentralen Begriff des rhetorischen Wissens schon in den frühen 70er Jahren und nicht erst in Menschliches, Allzumenschliches gewinnt. Es ist deshalb nicht korrekt, einen Bruch zwischen einem angeblich primär ästhetisch orientierten Frühwerk und einer späteren, vermeintlich wissenschaftlich orientierten Epoche seines Denkens anzunehmen 3 3 7 . Ästhetik und Rationalitätstheorie bilden vielmehr von Anfang an eine systematische Einheit. Hinter dieser Einheit aber steht das praktische Interesse an einer nichtnihilistischen Kultur. Nietzsches Philosophie ist deshalb im Kern nicht Erkenntnistheorie, sondern eine fundamental angelegte Reflexion über die Möglichkeiten von Kultur im Zeitalter der neuzeitlichen Wissenschaften. Wilcox und Grimm haben Nietzsche erstmals mit epistemologischen Fragen im engeren Sinn konfrontiert, wobei sich allerdings zeigte, dass Nietzsche eine Philosophie radikaler Freiheit vertritt, die weit über die Grenzen einer epistemologischer Reflexion hinausgreift. W a s aber bedeutet seine Philosophie dann? Wilcox macht geltend, dass zur Kennzeichnung des nietzscheschen Wissensbegriffs Charakterisierungen wie „anti-korrespondenztheoretisch" oder „pragmatisch" nicht ausreichen. Er wehrt sich gegen den Versuch, Nietzsche nach der Vorgabe Kaufmanns der Tradition des empirischen Rationalismus zuzuordnen 3 3 8 . Eine Klärung des von Nietzsche beanspruchten Wahrheitsbegriffs verlangt in jedem Fall eine Deutung des Bezuges zwischen W i l l e und Wissen und damit der genuin praktischen Dimension seiner Philosophie. Ihr nähert sich Grimm, indem er die innere Konvergenz zwischen Wissen und Wille zur Macht hervorhebt, so dass dieser a priori als irreduzibler Wille zur Konzeptualisierung erscheint. Breazeale bezieht den Wissensbegriff Nietzsches auf dessen Diagnose der Kultur seiner Zeit. Sie ist als sokratisch geprägte Kultur wissenschaftlichen Wissens von der tödlichen Krankheit des Nihilismus bedroht, von der sie nur in einer Kultur rhetorischen Wissens geheilt werden kann. Insofern stünde im Zentrum der nietzscheschen Philosophie der Wille zu einer nicht-nihilistischen Kultur. Präzisere Lösungen für eine Bestim-

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Eine derartige Periodisierung findet man weniger bei Kaufmann und Danto als in der von Breazeale durchaus zur Kenntnis genommenen deutschsprachigen Nietzsche-Interpretation, etwa bei Eugen Fink (vgl. dazu die vorhergehende Anmerkung) und Karl Löwith (vgl. dazu im vorliegenden Buch die Anm. 327). Vgl. dazu Wilcox, Nietzsche's Epistemology (1983), 70: „I did not say enough about the character of Nietzsche's empiricism. I think that Nietzsche was ... a sophisticated empiricist; but it is also clear that he was a life-long critic of naive empiricism. How to be an empiricist without being simple-minded about it, how to rely on the senses without believing they are innocent, is one of Nietzsche's great problems. I do not think my account ignores it, but I did not say enough on this difficult subject."

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mung dieses Zentrums hätten sich möglicherweise durch eine stärkere Rezeption einiger Positionen der gleichzeitigen Nietzsche-Interpretation in Deutschland ergeben können, die im Willen zur Macht eine genuin praktische Dimension von fundamentalphilosophischer Bedeutung entdeckt haben 339 . Stattdessen wurden offensichtlich populärere Positionen der französischen dekonstruktionistischen Nietzsche-Diskussion aufgenommen, die sich ebenfalls in den sechziger Jahren herausgebildet hatten 340 . Der Einfluss des Nietzsche-Bildes der Dekonstruktion musste allerdings zur Folge haben, dass seine Epistemologie gar nicht mehr zur Debatte stand, sondern nur noch seine radikale, in einer „philosophy of conceptual permissiveness" fundierte Kritik an Theorien des Wissens und der Wahrheit. Die Entdeckung dieses Nietzsche-Bildes und einige seiner unmittelbaren Folgen bilden den Gegenstand des folgenden Abschnitts (C).

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Ich denke dabei vor allem an die allerdings auch in Deutschland wenig rezipierten Arbeiten von Wolfgang Bartuschat, Nietzsche. Selbstsein und Negativität. Zur Problematik einer Philosophie des sich selbst aufhebenden Willens, Phil. Diss. (Ms) Heidelberg 1964, und Bernhard Bueb, Nietzsches Kritik der praktischen Vernunfl, Stuttgart 1970. Vgl. dazu Kap I A des vorliegenden Buches.

C Nietzsche als Philosoph der „conceptual permissiveness" und als Theoretiker der ästhetisch-ironischen Existenz Bei der Klärung der Frage, was das in Nietzsches Philosophie realisierte Konzept einer radikalen Offenheit des Denkens in philosophischer Hinsicht bedeutet, wird auch in Amerika die dekonstruktionistische Lesart Nietzsches im Sinne Derridas und seiner Schüler wirksam, die in den Vereinigten Staaten durch den forciert rhetorischen Literaturbegriff Paul de Mans und der an ihn anknüpfenden Yale School of Literary Criticism (Daniel O'Hara, Geoffrey H. Hartman, Joseph H. Miller, Harold Bloom) Vorbereitung und Verstärkung erhalten hat 341 . Es war

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Paul de Man hat einen einflussreichen, wenn auch problematisch einseitigen Begriff des literarischen Textes entwickelt, der ihn als Verfahren permanenter Bedeutungsverschiebung und Bedeutungssuspension charakterisiert. Vgl. dazu Lindsay Waters, Introduction. Paul de Man. Life and Works, in: Paul de Man, Critical Writings, 1953—1978. Hrsg. und eingeleitet von Lindsay Waters, Minneapolis 1988, IX-LXXIV, sowie Werner Hamacher, Unlesbarkeit, in: Paul de Man, Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher, Frankfurt am Main 1988, 7—26. De Man sieht seinen Textbegriff exemplarisch bei Nietzsche realisiert und theoretisiert. Vgl. Paul de Man, Nietzsche's Theory of Rhetoric. Symposium 28, (1974), 33—51, und ders., Allegories of Reading. Figurai Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven 1979 (dt. Allegorien des Lesens, 1988, enthält nur den ersten Teil von Allegories of Reading, aber auch zwei Aufsätze über Heinrich von Kleist und Baudelaire aus ders., The Rhetoric of Romanticism, New York 1984). Die drei Nietzsche gewidmeten Kapitel der Allegories of Reading sind in der deutschen Ubersetzung enthalten und tragen dort die Titel: Genese und Genealogie, 118—145, Rhetorik der Tropen, 146—163, Rhetorik der I'ersuasion, 164-178. Für eine kritische Auseinandersetzung mit de Mans NietzscheInterpretation vgl. Maudemarie Clark, Language and Deconstruction. Nietzsche, de Man, and Postmodernism. Koelb (Hg.), Nietzsche as l'ostmodernist (1990), 75—90, und Manfred Pütz, Paul de Man and the Postmodern Myth of Nietzsche's Deconstruction of Causality. Pütz (Hg.), Nietzsche in American Literature and Thought (1995), 313—336. Zum Yale Criticism und zu seinem Bezug auf Nietzsche vgl. Jonathan Arac et al. (Hg.), The Yale Critics. Deconstruction in America, Minneapolis 1983 (vgl. dort den Beitrag von Daniel O'Hara, The Genius of Irony. Nietzsche in Bloom, 109-132) und, mit besonderem Blick auf Harold Bloom: Hubert Zapf, Elective Affinities and American Differences. Nietzsche and Harold Bloom, in: Pütz (Hg.), Nietzsche in American Literature and Thought (1995), 337-355. Auch in Harold Blooms Fall ist das Interesse für Nietzsche wie bei Stanley Cavell durch ein Interesse an Ralph Waldo Emerson vorgeprägt. Zum Thema Emerson - Nietzsche vgl. im vorliegenden Buch S. 198ff. Harold Blooms Literaturtheorie (vgl. dazu vor allem ders., The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, Oxford 1973 (dt. Einfluss-Angst. Eine Theorie der Dichtung, Basel/Frankfurt am Main 1993; ders., A Map of Misreading, Oxford 1975 und dt. Eine Topographie des Fehllesens, Frankfurt am Main 1997) ist außer durch Vico und Milton entscheidend von Nietzsche (das Prinzip des Agonalen in Homer's Wettkampf) und Freud geprägt. Zentral ist der Begriff der Selbsterschaffung, die nur im tödlichen Kampf gegen übermächtige Dichter-Väter gelingen kann, die notwendig missverstanden (.poetic misprision') werden müssen, wenn ein neuer „strong poet" seinen Raum in der Geschichte der Dichtung einnehmen will. Die Geschichte der Dichtung ist

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Bernd Magnus, der diese Offenheit zunächst als die Fähigkeit zu einer Modifikation der vorreflexiven Elementarform des menschlichen Lebens verstanden hat, die er mit Heideggers Begriff des „In-der-Welt-Seins" umschreibt, während er sie in späteren Beiträgen immer entschiedener als eine Antizipation der postmodernen Fundamentalpraxis von „différe/ance" und Dekonstruktion darstellt (/.). Die dekonstruktionistische, von Jacques Derrida und Paul de Man beeinflusste Nietzschelektüre, für die unter anderen, wenn auch nur knapp, auf Autoren wie Harold Alderman, David Farrell Krell und Henry Staten verwiesen wird, erhält bei John Sallis einen besonderen rationalitätskritischen Akzent (2.). Diese Art der Ent-Theoretisierung Nietzsches hat vielfältige Kritik provoziert. Sie wird zunächst in einer relativ milden Form vorgestellt, in der sie Nietzsches Philosophie zwar keine theoretische Lehre, aber doch eine in sich konsistente Absicht unterstellt. So erkennt Peter Heller in der Strategie der nietzscheschen Schrift die performative Realisierung der besonderen Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, während Alexander Nehamas und Richard Rorty mit und zum Teil auch gegen Nietzsche das Modell einer primär ästhetischen, auf individualistische Vervollkommnung abgestellten Lebensform entfalten. Demgegenüber entdeckt Alan D. Schrift im Denken Nietzsches Grundzüge einer hermeneutischen Ontologie, die in einer fast paradoxen Weise als theoretische Fundierung seines enttheoretisierten Philosophieverständnisses charakterisiert werden kann. Schärfere Formen der Reaktion auf die Ent-Theoretisierung der nietzscheschen Philosophie kommen im Abschnitt D (S. 186ff.) zur Sprache.

1. Nietzsche und die Frage des „In-der-Welt-Seins" Bernd Magnus Den für das Ende der siebziger Jahre charakteristischen Übergang von einer epistemologisch interessierten zu einer dekonstruktionistischen Nietzsche-Deutung hat vor allem Bernd Magnus vollzogen. Dabei wird deutlich, dass dieser Ubergang mit einem Wechsel der Perspektive auf das gedankliche Zentrum der nietzscheschen Philosophie verbunden ist. Während die epistemologische Debatte sich primär auf den Willen zur Macht konzentriert, weil er, wie schon Kaufmann vorausgesetzt hat, einer rationalen Interpretation relativ gut zugänglich zu sein scheint, gelingt die Ent-Theoretisierung Nietzsches eher mit Hilfe der epistemologisch ungleich schwieriger zu rekonstruierenden Lehre von der ewigen Wie-

deshalb die tragische Geschichte des Kampfes der „strong poets" gegeneinander, in dem sie sich vom bedrohlich erscheinenden Einfluss ihrer Vorbilder durch den Vorgang kreativer Korrektur befreien und in diesem Kampf zugleich gegen das Bewusstein der Todesnotwendigkeit rebellieren.

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derkehr. Sie steht bei Magnus im Zentrum seiner frühen Nietzsche-Interpretation von 19 7 8 342 , die vor allem zwei Thesen begründen möchte: 1. Die Lehre von der ewigen Wiederkunft charakterisiert das „In-der-WeltSein" des Ubermenschen (XIII)343 und 2. Die Lehre vom „In-der-Welt-Sein" des Ubermenschen wird nicht in Form einer philosophischen Theorie, sondern bewusst in der sprachlich-literarischen Darstellungsform eines äternalistischen Gegenmythos entworfen. Es hat natürlich einen philosophisch-systematischen Grund, dass der heideggersche Terminus des „In-der-Welt-Seins" das gedankliche Zentrum der Nietzsche-Deutung von Bernd Magnus ausmacht. Heidegger hat in den fundamentalontologischen Analysen von Sein und Zeit das „In-der-Welt-Sein" als ein in sich modifikationsfähiges Schema herausgestellt, nach dem sich endliches, vom Verlauf der Zeit elementar betroffenes Dasein zu sich selbst und damit auch zu dem Kontext seines Lebens verhält. Heideggers „In-der-Welt-Sein" radikalisiert den husserlschen Begriff lebensweltlicher Intentionalität. Es beruht auf elementaren Affekten wie Angst und Sorge, mit denen es in einer noch vor-subjektiven Weise auf die Grunderfahrung der Zeitlichkeit so reagiert, dass es sich dadurch erst die ihm zuvor noch nicht realisierbare Bestimmtheit einer Form verleiht, die seine Selbst- und Weltdeutung vorprägt. Weltdeutungen beruhen weder auf subjektiver Meinung noch gar auf bewusster Reflexion, sondern auf allgemeinen, vorreflexiven Formen des „In-der-Welt-Seins". Diese können deshalb auch nicht durch Meinungen, Sätzen oder Theorien verändert werden, sondern nur auf der Basis eines veränderten Modus eben des „In-der-Welt-Seins". An dieses Konzept knüpft Magnus an, wenn er die Lehre von der ewigen Wiederkehr als das Zentrum der nietzscheschen Philosophie interpretiert, um deutlich zu machen, dass Nietzsche

Bernd Magnus, Nietzsche's Existential Imperative, Bloomington/London 1978. Wie Ruediger H. Grimm ist auch Bernd Magnus deutschsprachiger Herkunft, was sich in ihren Arbeiten insofern niederschlägt, als sie Nietzsche im Originaltext zitieren. Magnus hat seine eigene NietzscheDeutung durch eine Arbeit über Heideggers Nietzsche-Interpretation vorbereitet: Heidegger's Metahistory of Philosophy. Amor fati, Being and Truth, Den Haag 1970. Dort trägt das 3. Kapitel des ersten, Nietzsches „Philosophy of Eternal Recurrence" gewidmeten Teils schon die Uberschrift: „Nietzsche's Existential Imperative" (27ff.). Dieses Kapitel bildet den Nucleus des Nietzsche-Buches von 1978. 343 pQr e j n e a n c j e r e Orientierung des eigenen Nietzsche-Verständnisses an Heidegger vgl. Bernard Den Ouden, Essays on Reason, Will, Creativity, and Time. Studies in the Philosophy of Friedrich Nietzsche, Washington (D.C.) 1982. Der Autor versteht mit Heidegger das in der Neuzeit dominierende Denken, das sich an der Form der Kausalität orientiert, als Ausdruck einer Tyrannis über das Sein. Die von Heidegger gesuchte Alternative dazu sieht Den Ouden in Nietzsches Kritik an Sokrates und am Piatonismus zumindest antizipiert. Ein Konzept nicht-tyrannischer Kreativität steht für den Autor im Zentrum der Lehren vom Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr. Nietzsches vielfältige Auseinandersetzungen mit der platonischen Figur des Sokrates bilden ein zusätzliches Thema, bei dessen Durchführung sich Den Ouden insbesondere mit Kaufmann, Nietzsche (1950/1982), Dannhauser, Nietzsche's View of Socrates (1974), und Joan Stambaugh, Nietzsche's Thought of Eternal Return, Baltimore 1972, auseinandersetzt. 342

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keine neue theoretische Lehre vertreten, sondern eine gegenüber der Tradition veränderte Weise des „In-der-Welt-Seins" artikulieren will, aber auch darin außerstande bleibt, den elementaren Modus der Zeitlichkeit zu verändern, der offensichtlich unaufhebbar zur Struktur jeder Form des „In-der-Welt-Seins" gehört. Magnus beginnt seine Deutung mit einer souveränen Gesamtübersicht über Nietzsches Philosophie. Er folgt dem Vorbild Kaufmanns, Dantos und Breazeales, wenn er die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus als ihr zentrales praktisches Interesse herausstellt. Nietzsche differenziert die Diagnose des Nihilismus als der fundamentalen Erkrankung der westlichen Zivilisation durch eine Kritik an der christlichen Moral, wobei diese Kritik von einer Theorie über die Entstehung und über die pragmatische Bedeutung moralischer Normen abhängig ist. In der westlichen Zivilisation hat sich die Sklavenmoral durchgesetzt, die den Ausbruch der anthropologischen Fundamentalerkrankung des Nihilismus durch die Setzung allgemein verbindlicher, „natürlich" fundierter Normen hat verhindern können. Unter neuzeitlichen Bedingungen verschaffen sich diese Normen ihre öffentliche Geltung vor allem im Gleichheitsdenken der Demokratie und des Sozialismus. Infolge des Zusammenbruchs theologisch-metaphysischer Fundierungen der europäischen Moral durch die kritische Bewegung des wissenschaftlichen Denkens droht in der Gegenwart der Ausbruch eines praktischen Nihilismus, der die Destruktion sämtlicher moralischer Normen zur Folge haben müsste. Seine Uberwindung wird von Nietzsche nicht mehr einem prinzipiell anti-nihilistischen Konzept von Philosophie (Piatonismus), sondern nur mehr dem aktiven Nihilismus des Willens zur Macht anvertraut. Er soll die gängigen Dualismen überwinden, die für die Philosophie, Religion und Moral des Westens bislang chararakteristisch gewesen sind. Der Wille zur Macht ist kein metaphysisches Prinzip, sondern, wie bereits in den epistemologischen Nietzsche-Interpretationen behauptet worden war, das „letzte Erklärungsprinzip für weit-konstituierende Entitäten" (23). Die Realisierung des Willens zur Macht bedeutet deshalb das Entwerfen selbstreferenzieller Interpretationen, Fiktionen oder Perspektiven, die als solche keiner von ihnen unabhängigen Wirklichkeit korrespondieren. Als Agent des im Willen zur Macht wirksamen Willens zur Interpretation soll der Ubermensch wirksam werden, weil er allein jene Form des „In-der-Welt-Seins" überbieten kann, die unsere „durchschnittliche Alltagsexistenz" bislang bestimmt hat (33) 344 . Von dieser Überlegung aus findet Magnus einen Zugang zur Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Er distanziert sich ausdrücklich von der Anti344

Magnus schließt sich mit seiner D e u t u n g des Willens zur Macht u n d des Übermenschen der zahmen Variante an, die seit K a u f m a n n in Amerika weitgehend akzeptiert ist. Danach vertritt Nietzsche ausschließlich die noblen Gentleman-Ideale der Selbstbeherrschung u n d der Selbstüberwindung. Zusätzlich plädiert er für eine ständige „Transformation des Lebens in eine Form der Kunst" (34), ein Motiv, das nach Magnus vor allem Alexander Nehamas u n d Richard Rorty in anderer Nuancierung aufgenommen haben. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 178ff.

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nomie zwischen einer kosmologischen und einer anthropologischen Bedeutungsvariante, die ihr Karl Löwith unterstellt hatte 345 , und bereitet dann seine eigene Interpretation durch ein methodisches Verfahren vor, das in der Nietzsche-Interpretation bis dahin leider so viel wie keine Beachtung gefunden hat. M a g n u s versucht nämlich erstmals eine Klassifizierung der verschiedenen Textcharaktere, in denen Nietzsche seine „Lehre" von der ewigen Wiederkehr zum Ausdruck bringt 346 . Danach gilt es als aufschlussreich, dass ihre kosmologisch-empirische Bedeutungsvariante ausschließlich im Nachlass, aber nicht in den publizierten Texten auftritt. Dort wird die „Lehre" der Wiederkehr vielmehr in einer „hypothetischen Sprache" vorgetragen und zusätzlich durch poetische Bilder angereichert. Auch im Zarathustra wird ihre kosmologische Variante nur den Tieren, aber niemals dem darauf verärgert reagierenden Zarathustra selber in den M u n d gelegt. In Analysen der Nachlasstexte will Magnus plausibel machen, dass ein empirischer oder logischer Beweis für die Lehre von der ewigen Wiederkunft scheitern muss (116). Dies lässt nur den Schluss zu, dass ihr primär eine normative und ontologische Bedeutung zukommt. Genauer gilt sie als Anleitung für die Konstitution eines Wirklichkeitsbegriffs und einer individuellen Wirklichkeitserfahrung, die den Typus des Lebens, das sich im Sinne Piatons oder des Christentums an transzendenten Normen des Guten orientiert, so umformt, dass die Quelle der Normativität aus der konsequenten Bejahung der radikalen Diesseitigkeit des Lebens gewonnen wird (117). Die Lehre von der ewigen Wiederkunft ist kein „verkleideter ethischer Imperativ", sondern sie ersetzt den Anspruch auf normative Allgemeinheit durch die jeweils besondere Regularität eines „existential imperative". Wertbildung besteht für diesen Imperativ nicht mehr in einer inhaltlich konkretisierbaren, verallgemeinerungsfähigen Norm, die sich auf einzelne Akte der Willensäußerung auswirken soll, sondern in der W i r k u n g von Normen, die unmittelbar aus einer ganz bestimmten Form der Lebensführung hervorgehen. Die positive Antwort auf die Frage, ob ein bestimmter Modus der Lebensführung in ewiger Wiederkehr gewollt werden kann, wird zum Indikator für das Vorhandensein einer Lebensform, deren interne Regularität von der Last jenseitiger Normativität befreit ist. In der Auszeichnung der Lehre von der ewigen Wiederkehr als einem existenziellen Imperativ geht es Nietzsche nicht um eine Apologie subjektiver Beliebigkeit, sondern um die Veranschaulichung einer ungewöhnlich strengen und anspruchsvollen Form des „In-der-Welt-Seins", wie sie nur für den Ubermenschen charakteristisch ist. In ihr akkumuliert sich die soteriologische Kraft, die das Leben vom

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Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, wie Anm. 327 des vorliegenden Buches. Grundzüge dieser Interpretation und ihres methodischen Ansatzes enthält bereits Bernd Magnus, Nietzsche's Eternalistic Countermyth. The Review of Metaphysics 26 (1973), 604-616, dt. Nietzsches äternalistischer Gegenmythos. Jörg Salaquarda (Hg.), Nietzsche, Darmstadt 1980, 219-233.

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Bann des Nihilismus erlöst, indem sie es in den Zustand kreativer, durch nichts restringierter Selbst- und Wirklichkeitsaffirmation versetzt (139f.) 347 . Kosmologische und ethische Deutungen unterstellen der Lehre von der ewigen Wiederkehr fälschlicherweise einen ausschließlich theoretischen Wahrheitswert. U m diese Erwartung zu unterlaufen, entfaltet Nietzsche sie in Form einer „ontologischen Allegorie", die sich negierend auf ihr formales Vorbild, das Höhlengleichnis Piatons, bezieht. Piaton wollte mit diesem Gleichnis eine Lebensweise verewigt wissen, die sich nicht an der Welt des Werdens, sondern an der Welt intelligiblen Seins orientiert. Die von Piaton gewollte und vom Christentum verstärkte Lebensweise bildet nach Nietzsches Uberzeugung den Nährboden für die Krankheit des Nihilismus. Sie entsteht letztlich aus dem Affekt einer elementaren Kronophobie, der für menschliches Leben, weil es ohne Todesfurcht nicht geführt werden kann, insgesamt charakteristisch ist. W e n n Nietzsche die entgegengesetzte Welt des Werdens bejaht wissen will, muss er dem anthropologischen Elementaraffekt der Kronophobie wie ein politischer Taktiker entgegenkommen (oder wie ein guter Psychoanalytiker — A. R.) und ihm den „Triumph des Eros über den Logos ' durch einen äternalistischen Gegenmythos attraktiv zu machen versuchen (192). Die Lehre der ewigen Wiederkehr will dem Menschen, der aufgrund seines ,In-derWelt-Seins' die Verlaufsform der Zeit als unausweichliche Bedrohung seiner Individualität fürchten muss, nahe legen, dass er ihrer zerstörerischen Macht nicht durch den Übergang in eine zeitfreie Welt entgehen kann, sondern dass er mit ihr nur durch die ewige Wiederkehr einer Erfahrung gesteigerter Zeit zurechtkommt, die ihn von ihrer negativen Erfahrung als eines unaufhaltsamen „Vorlaufs zum Tode" (Heidegger) ablenkt. In seiner Reaktion auf den Elementaraffekt der Kronophobie bleibt Nietzsche letztlich ein Gefangener der Tradition, die er abschaffen wollte. Er eröffnet in seinem Gegenmythos jedoch die Möglichkeit, dem anthropologischen Bedürfnis nach einer Uberwindung zeitlich geprägter Wirklichkeit durch eine affektive Liebe zur Welt des Werdens entgegenzukommen, nämlich durch eine Form des „In-der-Welt-Seins", die sich zur Beschwichtigung der auch für sie charakteristisch bleibenden Angst vor der Zeit nicht mehr auf eine „Ewigkeit ,jenseits' oder ,hinter' der Vergänglichkeit" beziehen muss (192). Magnus hat in seiner Nietzsche-Interpretation auch dem Begriff des Wissens besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei könnte man im Blick auf den Grundgedanken von Nietzsche 's Existential Imperative erwarten, dass er, etwa in Anknüp347

Die soteriologischen Implikationen dieses Konzepts bringt Magnus in seiner Interpretation der Lehre v o m „amor fati" z u m Ausdruck. In ihr geht es u m eine Bejahung der „Zirkularität alles Existierenden", aus der der Zustand einer „vollständigen u n d voraussetzungslosen Liebe zum W e r d e n " bzw. eine „Liebe zu d e m Leben" hervorgeht, „das meine Schöpfung u n d mein Schicksal" ist (146). Kaufmanns Interpretation des Willens zur Macht u n d der ewigen Wiederkehr als einer universalen Philosophie des Eros mag im H i n t e r g r u n d der D e u t u n g von Magnus noch wirksam sein.

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fung an Breazeale, Nietzsche primär einen rhetorischen Wahrheitsbegriff unterstellt. Dies ist aber nicht der Fall. Magnus gehört noch in die Reihe der Autoren, die Nietzsche eine „harte" Theorie des Wissens unterstellen. Er orientiert sich am „self-reference problem" in Nietzsches Wissensbegriff 3 4 8 und schlägt dafür ein Lösungsparadigma vor, mit dem er Nietzsche auch dem Zugriff seiner dekonstruktionistischen Anhänger entziehen will. Zugleich macht er deutlich, dass Nietzsches Wissensbegriff weder mit dem von Danto ins Feld geführten Pragmatismus etwas zu tun hat noch mit einem im Sinne von Quine gereinigten Empirismus, den vor allem Grimm auf Nietzsche projizieren wollte. Die systematische Frage, die Magnus mit Nietzsche beantworten will, betrifft die Möglichkeit eines nichtreferenziellen Wissensbegriffs 349 . Er erläutert die Bedeutung dieses Begriffs am Beispiel der philologischen Rekonstruktion eines verlorenen Originaltextes auf der Basis verschiedener Abschriften, die ihrerseits nicht direkt vom Original, sondern von anderen Kopien abhängen. Es geht im Beispiel von Magnus genauer um den wissenden Zugang zum verlorenen Original der aristotelischen Schrift über die Kunst des Briefeschreibens, die wir nur durch Kopien aus der Rennaissance kennen und die ausnahmslos auf mittelalterliche Abschriften zurückgehen. In diesem Fall können wir Textfehler und Auslassungen nicht im Blick auf das Original korrigieren. Dennoch stehen dem Philologen bewährte und gehaltreiche Kriterien der Textrichtigkeit zur Verfügung, mit deren Hilfe zwischen angemessenen und unangemessenen Rekonstruktionen des Urtextes unterschieden werden kann. Aus einer epistemologischen Verallgemeinerung dieses Beispiels lassen sich Kriterien für die Wahrheit oder die Falschheit des Wissens insgesamt gewinnen. Das nicht referenziell auf Gegenstände bezogene Wissen gleicht der Form nach einem konjektural rekonstruierten Text, zu dem die „Welt" der „Gegenstände" das unzugängliche Original darstellt. Die Wahrheit dieses „Textes" lässt sich nicht durch Theorien begründen, die einen strukturellen „Isomorphismus zwischen Sätzen und ,Tatsachen'" voraussetzen, sondern nur durch eine Theorie von der internen Mehrstufigkeit eines selbstreferenziell organisierten Wissens. Als seine Wahrheitsfunktionen gelten bestimmte Schemata, die den Kriterien der Denknotwendigkeit und der experimentellen Bewährung genügen. Die Wahrheit von Aussagen über eine unzugängliche „Wirklichkeit" resultiert dann aus ihrer Ubereinstimmung mit Grundschemata des menschlichen Wissens, für die Nietzsche vor allem auf die grammatischen Strukturen der Sprache verweist. Auf sie rekurrieren wir als Wahrheitsfunktionen auch dann, wenn wir ihnen keine gegenstandsrepräsentierende Bedeutung zuschreiben. Nietzsche vertritt für Magnus die epistemologisch attraktive Position eines „gemässigten Skeptizismus", der die Wahrheitserwartung

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349

Vgl. dazu die Übersicht bei Wilcox, Nietzsche's Epistemology. International Studies in Philosophy 15 (1983), 70f. Bernd Magnus, Nietzsche's Mitigated Scepticism. Nietzsche-Studien 9 (1980), 260-267.

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des Wissens insofern temperiert, als er es nicht auf Repräsentation festlegt, sondern auf die interne Kohärenz zwischen Sätzen, der ihnen zugrunde liegenden logischen Form und bewährten Ordnungsschemata, denen ähnlich wie in Putnams Konzept des internen Realismus der Status „schwacher", aber hinreichender Transzendentalität zugesprochen werden kann 350 . Man kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass dieser Lösungsvorschlag der komplexen Diskussion über Nietzsches Epistemologie ebenso wenig gerecht wird wie den Ausführungen zum Begriff des Wissens, die man bei Nietzsche selber findet 351 . Magnus vernachlässigt vor allem die von Grimm herausgestellte enge Verschränkung von Wissen und Wille zur Macht und den von Breazeale betonten Zusammenhang von Kulturkritik und Wissensbegriff, ohne deren Beachtung eine angemessene Interpretation dessen, was „Wissen" bei Nietzsche bedeutet, kaum gelingen wird. In späteren Aufsätzen versucht Magnus, den kritischen Punkten seiner zuvor vertretenen Thesen über Kernthemen der nietzscheschen Philosophie (Wille zur Macht, Übermensch, ewige Wiederkehr und Wissen) dadurch auszuweichen, dass er ihr die Intention einer radikalen Dekonstruktion aller bisherigen philosophischen Theorie- und Wissensansprüche unterstellt. Dabei legt er den Gedanken nahe, dass wir in Bezug auf Nietzsche immer dann in unauflösbare Interpretationsparadoxien geraten, wenn wir ihn auf ein konventionelles Bild philosophischer Theorie festlegen und dabei übersehen, dass er eine solche Erwartung gerade unterlaufen will. Nietzsche geht es primär um einen kritischen Blick auf die vielfältigen Realisierungen menschlichen „In-der-Welt-Seins", der zeigen will, aufgrund welcher Voraussetzungen unsere bisherigen Erwartungen an Wahrheit und Wissen zustande gekommen sind 352 . Aus einem derartig kritisch relativierenden Blick lässt sich ein Modus des „In-der-Welt-Seins" verwirklichen, für den diese Erwartungen ihren Sinn verloren haben. Nietzsches Lehren sind im Kern „selfconsuming concepts", die sich im Vorgang ihrer Erfüllung in ihrer theoretischen Bedeutung auflösen und dadurch sowohl zur Erweiterung als auch zur Intensivierung des menschlichen Lebenshorizonts beitragen. Sie beziehen sich in der harten Absicht der Destruktion nur auf objektivitätsorientierte Formen des „In-der-WeltSeins", in der Absicht der Konstruktion hingegen auf eine sich selbst bejahende Form des endlichen und auschließlich selbstbezüglichen Daseins 333 . 3511 351

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353

Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 193ff. Vgl. dazu etwa die Kritik von Wilcox, Nietzsche's Epistemology. International Studies in Philosophy 15 (1983), 6 7 - 7 7 . Bernd Magnus, Nietzsche and the Project of Bringing Philosophy to an End. Journal of the British Society for Phenomenology 14 (1983), 304-320. Vgl. dazu Bernd Magnus, Self-Consuming Concepts. International Studies in Philosophy22 (1989), 4 9 - 5 7 , sowie ders., Nietzsche and Postmodern Criticism. Nietzsche-Studien 18 (1989), 301-316, insbes. 312f. Der Begriff „self-consuming concepts" ist am Begriff „self-consuming artifacts" orientiert, den der Literaturkritiker Stanley E. Fish in die amerikanische Debatte über moderne Kunst eingeführt hat (Self Consuming Artifacts. T h e Experience of Seventeenth Century Literature, Berkeley, University of California Press 1972). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bernd Ma-

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Bernd Magnus nimmt in der amerikanischen Nietzsche-Deutung eine Sonderstellung ein. Er kommt wie Danto und Grimm aus dem Kontext der analytischen Philosophie, die er schon früh für heideggersche Diskussionen öffnen will. Aus seiner sprachanalytischen Herkunft gewinnt er Kriterien für eine Nietzsche-Lektüre, die in den intrikaten Texten dieses Autors die immer wieder bezweifelte Tugend argumentativer Klarheit entdeckt. Von der sorgfältigen Beobachtung der argumentativen und darstellerischen Strategien Nietzsches dringt er mit Hilfe des heideggerschen Konzepts des „In-der-Welt-Seins" so zum Zentrum der nietzscheschen Philosophie vor, dass sie dem Leser als ganze im Licht wohl fundierter Rationalität vor Augen steht. In der Zuwendung zu Nietzsches Theorie des Wissens macht Magnus den weiter gehenden Versuch, eine Teiltheorie der nietzscheschen Philosophie auf gegenwärtige epistemologische Debatten zu beziehen, ohne dabei dem Fehler zu verfallen, sie als ihr gedankliches Zentrum auszugeben. So bleibt er dem Diskussionsfeld über Nietzsches Philosophie als Epistemologie in der Distanz immer noch verbunden. In seinen Arbeiten ab etwa 1983 herrscht jedoch ein davon abweichendes Interesse vor, das wichtige Motive der auch zuvor schon in Amerika virulent gewordenen, am französischen Dekonstruktionismus und am Yale Criticism der amerikanischen Literaturtheorie orientierten intertextuellen Lesart Nietzsches aufnimmt. Dieser dekonstruktionistische Deutungsansatz kulminiert in dem 1993 gemeinsam mit den Literaturwissenschaftlern Stanley Stewart und Jean-Pierre Mileur verfassten Buch mit dem Titel Nietzsche's Case. Hier soll Nietzsches Denken in methodischer Orientierung am literaturtheoretischen Konzept von Textualität und Intertextualität in einem Zwischenreich von Philosophie und Literatur verortet werden. Es geht Magnus jetzt nicht mehr um die logische Rekonstruktion der Gedanken Nietzsches aus der Perspektive argumentativ geschärfter Theoriedebatten, sondern um das spielerische Arrangement einer „Konversation" zwischen philosophischen, theologischen und literarischen Texten, die mit denjenigen Nietzsches nur durch eine Eigenschaft von so elementarer Vagheit wie die an Goethe erinnernde, dort aber zu tragischer Verbindlichkeit verdichtete „elective affinity" verbunden sind (2). Diese Statusklärung der nietzscheschen Philosophie als einer Grenzform nicht-referenziellen Denkens und Darstellens knüpft an Gehalte und methodische Verfahren an, wie sie sich in den siebziger Jahren im amerikanischen „Literary Criticism" herausgebildet haben. Auf einige ihrer Ergebnisse und methodischen Ansätze soll deshalb hingewiesen werden, bevor gezeigt wird, wie Elemente der ent-theoretisierten NietzscheDeutung bei Alexander Nehamas und Richard Rorty eine andere, auch von Magnus abweichende philosophische Gestalt annehmen.

gnus, Perfectibility and Attitude in Nietzsche's „Übermensch". The Review of Metaphysics 36 (1983), 633-659, sowie ders., Stanley Stewart und Jean-Pierre Mileur, Nietzsche's Case, London/ New York 1993.

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2. Nietzsche im Spiel der Dekonstruktion Von Paul de Man zu John Sallis Am Anfang der literaturtheoretischen Annäherungen an Nietzsche in Amerika stehen Paul de Man und die Schule des so genannten Yale Criticism354. De Man ist Literaturtheoretiker mit einem genuin philosophischen, an der Metaphysikkritik Martin Heideggers geschulten Anspruch. Literatur gilt ihm nicht so sehr wie für andere Vertreter des Yale-Criticism als ein exzeptioneller „Zustand des Geistes", der auf eine Erfahrung ursprünglicher Einheit von Sprache und Wirklichkeit oder auf eine Verbindung des menschlichen Bewusstseins mit der ihm überlegenen Macht des Sakralen verweist, sondern primär als das Gegegebensein einer autopoetischen, reflexiv auf sich selbst bezogenen Wirklichkeit, die sich a priori jeder Vergegenständlichung entzieht. Die einzige Zugangsmöglichkeit zu dieser Wirklichkeit, die konsequent von sämtlichen existenzialistischen Konnotationen freigehalten wird, besteht in einer komplexen, im höchsten Maße selbstreflexiven Sprache. Zu ihrer Charakterisierung bekämpft de Man in einer konstruktiven Annäherung an die in den modernen Wissenschaftswelten heimatlos gewordenen Fächer des mittelalterlichen trivium: Grammatik, Logik und Rhetorik, die traditionelle Unterscheidung zwischen Literatur und Philosophie bzw. zwischen Rhetorik und Logik, wobei gezeigt werden soll, dass die literarische der philosophischtheoretischen Sprache dadurch überlegen ist, dass sie ein Bewusstsein ihres eigenen genuin rhetorischen Status verkörpert. Sprache ist in ihrem Kern „figura", d.h. eine Bewegung autopoetischer Konstruktion und als solche weder ein Ort authentischer Wahrheit noch ein Darstellungsverfahren mit referenziellen Ambitionen. Im Rahmen seiner Literaturtheorie gibt de Man beachtliche Hinweise auf den in sich ambivalenten Status der nietzscheschen Philosophie, die in einer schwer bestimmbaren Weise zwischen wissenschaftlicher, referenziell ambitionierter Reflexion und Literatur changiert. In ihr wird Sprache zudem zum bevorzugten Thema, wobei bereits der frühe Nietzsche deutlich macht, dass sie weder durch expressive noch durch repräsentative Funktionen zu charakterisieren ist, sondern dass diese und ihre anderen Funktionen als Derivate ihrer figurativ-tropischen und das heißt für de Man ihrer rhetorischen Natur aufzufassen sind 355 . Während die Anhänger der Metapherntheorie Derridas356 die Geburt der Tragödie noch der

354 355

356

Vgl. dazu im vorliegenden Band die Anm. 341. Paul de Man, Rhetorik der Tropen, Allegorien des Lesens, Frankfurt am Main 1988, 146-163, insbes. 147f. Der Begriff „Rhetorik" steht bei de Man nicht für die Kunst des Uberredens und Uberzeugens, sondern für die interne Figurativität der Sprache, die in der Literatur ihren deutlichsten Ausdruck findet: aaO., 148: „Die Trope" als „das linguistische Paradigma par excellence". Vgl. dazu ders., Semiologie und Rhetorik, Allegorien des Lesens, 31—51, insbes. 36ff. und 40. Zur Metapherntheorie Derridas vgl. im vorliegenden Band S. 50 mit Anm. 124.

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Epoche des Logozentrismus zuordnen 357 , analysiert de Man bereits diesen Text als Realisierung einer Bewegung der „Dekonstruktion", in der er den Begriff der unendlichen Reflexion im Sinne der romantischen Transzendentalpoesie umgesetzt findet338. Der Streit zwischen der Derrida-Schule und de Man 359 bezieht sich auf die Einschätzung des Wahrheitspathos, das nicht nur, aber eben auch für Die Geburt der Tragödie unübersehbar ist. Es zeigt sich nicht nur in direkten Aussagen Nietzsches, mit denen er für „die ontologische Priorität des Dionysos" plädiert 360 , sondern auch in der Struktur dieses Textes. Nietzsches Text ist von binären Oppositionsketten (Dionysos —Apoll, Musik—Bild, Ding an sich — Erscheinung, Oper — Musikdrama) geprägt, die er so zu einer genetisch in sich konsistenten Geschichte entfaltet, dass ihr Anfang eines authentischen Wahrheitsbezuges nach einer Epoche des Verlusts an ihrem Ende im Modus der Identität wiederkehrt. De Man zeigt, dass die zu einer Geschichte entfaltete Struktur binärer Opposition von einer Stimme beglaubigt wird, die in ihrer eigenen Argumentationsfigur eher der von ihr kritisierten Figur der euripideischen Tragödie („deus-ex-machina"-Struktur), der neuzeitlichen Oper (Wiederkehr des reinen Ursprungs) oder des bürgerlichen Trauerspiels als der von ihr offen favorisierten Struktur der alten Tragödie oder des wagnerschen Musikdramas entspricht. Nach Maßgabe der von ihr selbst beglaubigten Kategorien dionysischer Wahrheit wäre sie eine Stimme der Unwahrheit, da eine göttlich sanktionierte Wahrheit über das Dasein für jede lediglich individuell motivierte Stimme nur tödliche Folgen haben kann. Dasselbe Verfahren einer prinzipiellen Destruktion von Wahrheit und Authentizität beobachtet de Man an dem frühen Nachlasstext Uber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, aber auch im Spätwerk, das primär mit dem wechselseitigen Vertauschungsverhältnis von Gut und Böse operiert und dabei den Zweck verfolgt, den Willen zur Macht als die authentische Wahrheitsmacht des endlichen Daseins auszuzeichnen. De Man will „ein wiederkehrendes Strukturprinzip" 361 herausarbeiten, das Nietzsches Werk als ganzes bestimmt und zugleich den „Schlüssel" zu einer Metaphysikkritik enthält, die etwas anderes „als eine bloße Umkehrung der Metaphysik oder des Piatonismus" beabsichtigt 362 . Der Begriff einer essenziell tropischen oder rhetorischen Sprache setzt voraus, dass Authentisches, das als solches

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Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 50f. Vgl. dazu de Man, Rhetorik der Tropen, Allegorien des Lesens, 148f. und 159. Vgl. dazu auch ders., The Rhetoric of Romanticism, New York 1984. Zum Verhältnis de Man - Derrida vgl. Paul de Man, The Rhetoric of Blindness. Jacques Derrida's Reading of Rousseau. Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of contemporary criticism, 2. Aufl., Minneapolis 1983, 102-141, dt. Ubers, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. von Christoph Menke, Frankfurt am Main 1993, 185—230, sowie Jacques Derrida, Mémoires pour Paul de Man, Paris 1988 (engl. Version New York 1986, dt. Übers., Wien 1988). De Man, Genese und Genealogie. Allegorien des Lesens, 124. De Man, Genese und Genealogie. Allegorien des Lesens, 143. De Man, Rhetorik der Tropen. Allegorien des Lesens, 152.

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auf eine außersprachliche Wahrheit referiert, in der Sprache selber nicht ausgedrückt werden kann. Jeder Authentizitäts- oder Wahrheitspunkt bleibt das Produkt einer sprachlich-figurativen Konstruktion, das Authentizität lediglich simuliert und damit zugleich notwendig destruiert. Die Sprache bildet aufgrund ihres figurativ-rhetorischen Kerns den Ort einer unaufhebbaren Unruhe und Ambivalenz, an dem sämtliche Polaritäten (Lüge — Wahrheit, Ich — Welt, dionysisch — apollinisch etc.), „die ein geschlossenes und kohärentes System auszumachen schienen, ... zu einem arbiträren, offenen System auseinandergeschlagen werden", so dass sie sich ständig miteinander vertauschen und gegenseitig substituieren 363 . Die von de Man thematisierte Bewegung der Dekonstruktion ist deshalb keine Aktivität, die sich von außen gegen ein sprachliches Konstrukt richtet, sondern sie realisiert nichts anderes als das innere Baugesetz rhetorisch-figurativer Sprache, in der Wahrheit nur im Modus von Verschiebung oder Ubersetzung ausgesagt werden kann. Figurative Sprache verwirklicht sich in einem Schematismus, der nur durch eine unendliche Serie „substitutiver Umkehrungen" zu erfüllen ist, so dass sie außerstande bleibt, „die Dinge an ihren eigentlichen Platz zu rücken" 364 . De Man findet seine Einsichten in den essenziell figurativ-rhetorischen Charakter der Sprache bei Nietzsche aber nicht nur thematisiert, sondern in seinen Texten auch realisiert. Sie artikulieren ferner die Ambivalenz zwischen der bedrückenden Erfahrung referenzieller Ungewissheit und einer Euphorie angesichts der Befreiung des Denkens von den Fesseln referenzieller Wahrheit — eine Euphorie, die programmatisch im Titel der Fröhlichen Wissenschaft zum Ausdruck kommt. Man wird sich fragen können, inwieweit de Mans eigener Literaturbegriff, der mit einer unversöhnbaren Opposition zwischen einheitserzeugender Metapher und einheitsauflösender Metonymie bzw. zwischen Figuration und Defiguration arbeitet363, sowie sein Begriff des lesenden Subjekts, das in sich gegensätzliche, miteinander unversöhnbare Tendenzen des Verstehens und der Distanzierung realisiert, vom dualen Oppositionsdenken Nietzsches mitgeprägt ist. Die Literatur ist für de Man jedenfalls kein Ort der Versöhnung von Entzweiungen, wie er in den ästhetischen Utopien des Idealismus gefeiert wurde, sondern der gleichsam essenziell tragische Ort eines unversöhnbaren Streits von Gegensätzen, der an anderer Stelle, etwa in der Wissenschaft oder in der Politik, nur um den verhängnisvollen Preis der Selbstdogmatisierung bzw. der Ideologisierung kaschiert, aber niemals überwunden werden kann 366 . Mit dem Begriff der Literatur als einem Ort unversöhnbarer Gegensätze (vgl. Henry Staten, John Sallis), der damit ein Sein andeutet, das sich

363 364 365 3ii

De Man, Rhetorik der Tropen. Allegorien des Lesens, 150. De Man, Rhetorik der Tropen. Allegorien des Lesens, 156. Vgl. dazu vor allem Paul de Man, Lesen (Proust). Allegorien des Lesens, 103ff. Vgl. dazu Christoph Menke, „Unglückliches Bewußtsein". Literatur und Kritik bei Paul de Man, in: Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. v. Christoph Menke, Frankfurt am Main 1993, 265-299.

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jeder Tendenz zur Verdinglichung entzieht, und mit dem Begriff des ironischen Lesers als des in seine Pluralität sich auflösenden, der Synthese abgeneigten Subjekts 367 (vgl. Alexander Nehamas, Richard Rorty) hat de Man zwei Themen vorgegeben, die in der Auseinandersetzung mit Nietzsche bis in die unmittelbare Gegenwart hinein eine zentrale Rolle spielen. Eine der ersten systematischen, aus der Perspektive der Dekonstruktion entworfenen Nietzsche-Interpretationen ist diejenige von Harold Alderman36*. In ihrem Zentrum steht die hauptsächlich dem Zarathustra entnommene Philosophiekritik (4). Sie versteht die Tätigkeit philosophischen Denkens als „kreative Aktivität", die im Element des Spiels auf eine prinzipiell offene Welt reagiert (14) und damit deren Offenheit in den Raum des menschlichen Lebens überträgt. Die von Zarathustra verkündete Lehre der ewigen Wiederkehr ist keine Kosmologie, sondern der praktische Hinweis auf die Lebensform permanenter Selbstüberwindung (85). Sie verdeutlicht damit die Lebensform des Übermenschen, der seinen Willen zur Macht als Willen zu radikal subjektiver Freiheit verwirklicht. Der Text des Zarathustra ist aufgrund seines performativen Charakters die Initiation in das „Ideal wahrhaft menschlicher Freiheit" und wird in dieser Funktion von den übrigen Werken Nietzsches unterstützt (155). Alderman konfrontiert seine Leser mit einer optimistischen, inhaltlich an Kaufmanns Konzept der Selbstüberwindung anknüpfenden Variante der im Kern tragischen Nietzsche-Interpretation von Pierre Klossowski, für den die Lehre der ewigen Wiederkehr nicht die Einführung in ein selbstreferenzielles Lustspiel der Selbstbejahung und Selbsterfahrung bedeutet, sondern eine Lehre und Praxis des Exzesses begrenzter Individualität und des Opfers subjektiv-rationaler Intentionalität 369 . Bei dem Philosophen David Farrell Krell, dessen Nietzsche-Interpretationen in Amerika große Resonanz gefunden haben, findet man zusätzlich zu einem moderat gehandhabten intertextuellen Ansatz ein besonderes Interesse für die NietzscheDeutung Martin Heideggers 370 . Krells erstes Nietzsche-Buch 371 ist primär dem 367

Vgl. dazu die auf den Begriff der Ironie konzentrierte Interpretation von Charles Baudelaires Text De l'essence du rire bei Paul de M a n , Die Rhetorik der Zeitlichkeit. Die Ideologie des Ästhetischen, 108ff. (The Rhetoric of Temporality, in: ders., Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, Minneapolis, 2. Aufl. 1983, 187—228). 368 Harold Alderman, Nietzsche's Gift, Athen 1977. 36 ' Vgl. Alderman, Nietzsche's Gift (1977), 103: „Eternal recurrence initiates one into a divinely vicious circle in which one necessarily in each m o m e n t returns to one's self because one wants to return to oneself". Z u Klossowskis Nietzsche-Deutung vgl. im vorliegenden Band S. 21ff. 370 David Farrel Krell hat Heideggers Nietzsche-Vorlesungen ins Amerikanische übersetzt: Martin Heidegger, Nietzsche. Four Volumes, N e w York 1979-1984. Vgl. ferner ders., Intimations oft Mortality. Time, T r u t h , and Finitude in Heidegger's T h i n k i n g of Being, University Park. Pennsylvania State University Press 1986, ders., Daimon Life. Heidegger and Life-Philosophy, Bloomington 1992.

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Thema der von Nietzsche realisierten Überwindung der Metaphysik gewidmet. Die eigene Annäherung an seine Philosophie geschieht jedoch anders als bei Heidegger primär poetisch-spielerisch, ohne dass damit die Absicht verbunden wäre, die genuin tragische Dimension des nietzscheschen Denkens zu verdrängen. Mit seinem zweiten Nietzsche gewidmeten Buch begibt sich der Autor in die amerikanische und französische Feminismus-Diskussion 372 , während er in seiner dritten Publikation 373 kritisch an die Nietzsche-Deutungen des französischen Poststrukturalismus anknüpft 3 7 4 . Krell plädiert für eine Lesart Nietzsches, die sich unter dem Stichwort „hermeneutics of discretion" (XVI, vgl. 125ff.) von Derrida und seinen Nachfolgern absetzt. Dies geschieht dadurch, dass Nietzsches Denken vor allem als Denken der Genealogie charakterisiert wird. Der Begriff „Genealogie" steht für die gedankliche Bewegung einer (weiblich konnotierbaren) „descensional reflection" (XV, 77ff.), mit der sich die Lehre von der ewigen Wiederkehr so verbindet, dass sie sich dem (männlich konnotierbaren) metaphysischen Denken des Aufstiegs („ascensional thought", XVIII) zu einem ersten Prinzip aller Wirklichkeit kritisch entgegenstellt. Nietzsches Genealogie ist im Wesentlichen eine Form der Kritik, die auf methodologisch inventarisierbare Konzepte und Kategorien weitgehend verzichtet. Sie ist darum bemüht, die mit dem Begriff „Wille zur Macht" bezeichnete, originär künstlerische, in sich ambivalente, ewig wiederkehrende Potenz und damit eine Elementarschicht des Lebens zu erschließen, in der die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit zugunsten einer nicht mehr identifizierbaren Wechselwirkung verschwinden bzw. überhaupt nicht auftreten können. Im Vergleich mit den dialektischen Reflexionsbewegungen Piatons, Kants und Hegels wird deutlich, dass sich Nietzsches genealogische Kritik zuletzt auch gegen sich selbst richtet und daher nicht den Anspruch erhebt, nach langem Kampf mit Erscheinungen des Unwahren siegreich zu einem Reich der

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David Farrel Krell, Nietzsche and, the Task of Thinking. Martin Heidegger's Reading of Nietzsche. A n n Arbor 1971. Vgl. dafür auch ders., Heidegger Nietzsche Hegel. Nietzsche-Studien 5 (1976), 255-262. David Farrel Krell, Postponements. W o m a n , Sensuality, and Death in Nietzsche, Bloomington (Ind.) 1986. Die Bedeutung Nietzsches für die angelsächsische Feminismus-Debatte, die selbstverständlich auch analogen Diskussionsansätzen in Frankreich (Luce Irigaray, Sarah Kofman) verpflichtet ist, wird dokumentiert bei Paul Patton (Hg.), Nietzsche, Feminism, and Political Theory, L o n d o n 1993, Peter J. Burgard (Hg.), Nietzsche and the Feminine, Charlottesville (Virg.) 1994, u n d Kelly Oliver (Hg.), Feminist Interpretations of Friedrich Nietzsche, University Park (Penn.) 1998. Z u diesem T h e m a vgl. ferner Kelly Oliver, Womanising Nietzsche. Philosophy's Relation to the „Feminine", N e w Y o r k / L o n d o n 1995. David Farrel Krell, Infectious Nietzsche. Bloomington/Indianapolis 1996. Das Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, die zwischen 1969 u n d 1994 entstanden u n d zuvor an verschiedenen Stellen publiziert worden sind. Das sind vor allem die Nietzsche-Deutungen von Deleuze, Klossowski, Foucault, Derrida, Philippe Lacoue-Labarthe, Sarah Kofman u n d Luce Iragaray, die sich ihrerseits von Heideggers NietzscheD e u t u n g distanzieren.

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W a h r h e i t o d e r d e r G e s u n d h e i t v o r g e d r u n g e n z u s e i n . In s e i n e n l e t z t e n A u f s ä t z e n b r i n g t Krell N i e t z s c h e s E l e m e n t a r b e g r i f f des in s i c h a m b i v a l e n t e n L e b e n s (= W i l l e z u r M a c h t ) m i t d e m r o m a n t i s c h e n B e g r i f f des in s i c h e r k r a n k t e n u n d s i c h a u s E r k r a n k u n g z u g l e i c h s t e i g e r n d e n L e b e n s ( N o v a l i s ) in V e r b i n d u n g . M i t d i e s e m k o m p l e x e n B e g r i f f des L e b e n s s u c h t Krell n a c h e i n e r P o s i t i o n z w i s c h e n H e i d e g g e r s metaphysischer D e u t u n g Nietzsches u n d einer m i n i m a l i s t i s c h e n Lesart seines D e n k e n s als B e w e g u n g d e r „ d i f f e r a n c e " i m S i n n e des f r a n z ö s i s c h e n P o s t s t r u k t u r a l i s m u s . M e t h o d i s c h ä h n l i c h e , m e h r l i t e r a r i s c h als p h i l o s o p h i s c h o r i e n t i e r t e A n n ä h e r u n g e n

an Nietzsche findet man bei Autoren wie Adrian Del Caro375, Gary Shapiro376 und Alphonse

Lingi?11.

I h n e n s t e h t Henry

Staten

nahe, der in seiner Nietzsche-Interpre-

tation vor allem an Freuds M e t a p s y c h o l o g i e u n d an Batailles Philosophie der Lebensökonomie anknüpft378. Nietzsches S t i m m e artikuliert für ihn die unlösbare S p a n n u n g zwischen gegensätzlichen T e n d e n z e n der menschlichen T r i e b ö k o n o m i e , d i e s i c h in d e r A n t i n o m i e v o n S t a u u n d E n t l a d u n g o d e r S e l b s t e r h a l t u n g u n d S e l b s t v e r s c h w e n d u n g b e k u n d e t ( 1 2 9 ) . S i e ist w e n i g e r d i e P r i v a t s t i m m e e i n e r i n d i v i d u e l l e n P e r s o n als v i e l m e h r d i e j e n i g e b e s o n d e r e r O k o n o m i e p r o b l e m e d e r m e n s c h lichen Psyche, in d e n e n sich kulturelle Konflikte widerspiegeln. Eine g r ü n d l i c h e D a r s t e l l u n g d e r in sich g e g e n s ä t z l i c h e n p h i l o s o p h i s c h e n u n d n a r r a t i v e n D a r s t e l l u n g s f o r m e n , d i e in N i e t z s c h e s T e x t e n k o n f l i k t r e i c h z u s a m m e n s t o ß e n , findet m a n

bei John Carson Pettef19, 375

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377

378 379

während Stephen F. Barker Nietzsches Philosophie als

Adrian Del Caro, Dionysian Aesthetics. The role of destruction and creation as reflected in the life and works of Friedrich Nietzsche, Frankfurt am Main/Bern/Cirencester (UK) 1981, und ders., Nietzsche Contra Nietzsche. Creativity and the Anti-Romantic, Baton Rouge 1989. In den Nietzsche-Studien sind zwei Aufsätze von Adrian Del Caro erschienen, die in seine Interpretationsinteressen gut einführen können: Anti-Romantic Irony in the Poetry of Nietzsche. NietzscheStudien 12 (1983), 372-378, und, wichtiger noch: Symbolizing Philosophy. Ariadne and the Labyrinth. Nietzsche-Studien 17 (1988), 125-157. Gary Shapiro hat Derridas berühmten Text Eperons. Les styles de Nietzsche, Paris 1978, anlässlich seiner Ubersetzung ins Amerikanische (Spurs. Nietzsche's Styles, Chicago 1978) rezensiert (Man and World 14, 1981,428-437). Vgl. in diesem Zusammenhang auch ders., Translating, Repeating, Naming. Foucault, Derrida, and ,The Genealogy of Morals'. Koelb (Hg.), Nietzsche as Postmodernist (1990), 39—55; ders., Nietzschean Narratives, Bloomington (Ind.) 1989; ders., Alcyone. Nietzsche on Gifts, Noise, and Women, Albany 1991. Alphonso Lingis, The Will to Power. Allison (Hg.), The New Nietzsche (1988), 37-63, ders., Vicious Circles. Black Stars. The Pedigree of the Evaluators. Graduate Faculty Philosophy Journal, New School for Social Research 15.2 (1991), 67-97, jetzt auch: Conway (Hg.), Nietzsche (1998), IV, 148-170. Henry Staten, Nietzsche's Voice, Ithaca (NY), 1990. John Carson Pettey, Nietzsche's Philosophical and Narrative Styles, New York/San Francisco/Bern etc. 1992, konzentriert sich auf die verschiedenen sprachlichen Stilebenen („protean style", X) des Zarathustra. Die Vielfalt der Darstellungsmittel wird nicht dekonstruktionistisch interpretiert. Sie gilt vielmehr als Organisation einer überzeugenden Einheit aus Form und Inhalt. Nietzsche entdeckt schon früh einen genuin narrativen Stil, mit dem er sich kritisch von den in seiner Zeit dominierenden Tendenzen literarischer Darstellung abwendet. Im Zarathustra findet er zu einem einzigartigen Stil, der in der wechselseitigen Durchdringung narrativer und philosophischer Dar-

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eine Untersuchung dessen verstanden wissen will, was es bedeutet, ein sich selbst reflektierendes menschliches Lebewesen zu sein 380 . Für ihn thematisiert Nietzsches Philosophie im Wesentlichen die Strategien reflexiver Selbstkonstitution, die in Darstellungsformen moderner Literatur (Stendhal, Mallarmé, Joyce, Beckett, Faulkner) zum Tragen kommen. Von besonderem philosophischen Rang ist die Nietzsche-Interpretation des amerikanischen Philosophen John Sallis, die zwar an intertextuelle Methoden anknüpft, ihnen aber eine inhaltlich aussagekräftige Charakterisierung des nietzscheschen Denkens abgewinnen will 381 . Sallis konzentriert sich auf Texte im Umkreis der Geburt der Tragödie, um Nietzsches Philosophie als das Denken eines im positiven Sinne zu verstehenden „Maßlosen" zu kennzeichnen. Ihre Maßlosigkeit konkretisiert sich in seiner Schrift insofern, als sie keinen theoretischen Gehalt artikuliert, sondern einen Prozess ständiger, dialektisch nicht vermittelbarer „Kreuzungen" (crossings) zwischen gegensätzlichen Kräften inszeniert (Apollo — Dionysus, Sprache — Musik, Begriff — Intuition). Das nicht stillzustellende Spiel ihrer gegenseitigen Verdrängungen bestimmt Nietzsches Text auch dadurch, dass die Geburt der Tragödie als Texteinheit nichts anderes darstellt als einen beliebigen Zustand im Prozess eines unabschließbaren Gegeneinanders verschiedener Vor- 382 und Paratexte 383 , der seinerseits die Produktion weiterer eigener 384 und fremder Para-

stellungsformen einen neuartigen Typus von Narrativität kreiert. Neben dem Willen zur Macht u n d dem Willen zur Wahrheit steht bei Nietzsche der Wille zur narrativen Fiktion als einer Form intensiver Yerlebendigung von Gedanken, mit dem er an die antike Rhetorik anknüpft. Er bekundet sich als Wille zu einem „unzeitgemäßen R o m a n " (140), der als „Epopoë der gottverlassenen Welt" (Georg Lukács) in seiner formalen Struktur auf eine intransparente Wirklichkeit reagiert, die ohne den notwendigerweise fragmentarisch bleibenden Versuch einer gedanklichen Durchdringung in den Status der Trivialität abglitte (135, mit Bezug auf Georg Lukács, Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920, 84). Dass Nietzsche nicht an der abstrakten Dimension des philosophischen Gedankens, sondern an seiner individuellen Verlebendigung interessiert ist, zeigt insbesondere seine Darstellung der Lehre von der ewigen Wiederkehr (123ff.). Nietzsche organisiert ein komplexes Wechselspiel von Form u n d Inhalt, in dessen Verlauf die Exposition einer theozentrischen Nekrologie in die Darstellung einer lebens-bejahenden Philosophie transponiert wird (136). Der Zarathustra ist zwar kein hermetischer Text, aber doch eine Geschichte für privilegierte Leser, „die bereit sind, mit ihrem merkwürdigen Arrangement zurechtzukommen, mit ihrem einzigartigen Wechselspiel dihegetischer u n d mimetischer Darstellung sowie mit ihrer erfolgreichen Kombination philosophischer u n d narrativer Ausdrucksformen" (140). 3811 Stephen F. Barker, Autoaesthetics. Strategies of the Self After Nietzsche, Atlanta H i g h l a n d / L o n d o n 1992. 381 J o h n Sallis, Crossings. Nietzsche and the Space of Tragedy, C h i c a g o / L o n d o n 1991. 382 F. Nietzsche, Zwei öffentliche Vortrüge über die griechische Tragödie, Die dionysische Weltanschauung, Die Geburt des tragischen Gedankens, Sokrates und die griechische Tragödie etc. 383 R Nietzsche, Baseler Vorlesungen zur griechischen Philosophie und Literatur, Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Ueber Wahrheit und Läge im aussermoralischen Sinne etc. 384 R Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, Vorrede zur zweiten Auflage der Geburt der Tragödie, Ecce Homo, späte Texte zur Dualität von Christus u n d Dionysos etc.

176

III Nietzsche in der angelsächsischen W e l t

oder Post-Texte (bis hin zu Heidegger) auslöst. Der Text wird zum Ort, an dem sich heterogene Ausdruckskräfte und Intentionen kreuzen, die ihrerseits ebenfalls Produkte von Kreuzungen und Paarungen zwischen gegensätzlichen Kräften darstellen. Nach Sallis verwirklicht Nietzsches Schrift ein Prinzip virtueller und dynamischer Raumerfüllung, das er anders gearteten Formen einer kompakten oder statischen Verräumlichung kritisch gegenüberstellt 385 . Für die Bestimmung des Begriffs des Tragischen sind Hinweise des Autors auf Kants Analytik des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft (§ 27) von besonderer Bedeutung. Das Tragische und das Erhabene thematisieren nichts Gegenständliches, sondern die elementare Plötzlichkeit eines Übergangs zwischen heterogenen Bedeutungswelten, mit der auf der affektiven Ebene ein Wechsel zwischen den absolut gegensätzlichen Elementaraffekten von Erschütterung und Freude verbunden ist. Das Tragische und das Erhabene sind also Darstellungsformen eines Prinzips dynamischer Raumerfüllung, das die Aktivität statisch-eindeutiger Verräumlichung von sich aus nicht zulässt (95ff.) 386 .

3. Nietzsche und das Modell philosophischer

Lebenskunst

a) Peter Hellers philologische Rekonstruktion: Nietzsches Neubewertung der Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt Außerhalb des dekonstruktionistischen Kontextes, aber in präziser Orientierung an philologischen Genauigkeitsregeln agiert die Nietzsche-Deutung des Literaturwissenschaftlers Peter Heller'il. Im methodischen Rahmen eines ausführlichen Textkommentars zum ,ersten Hauptstück' des ersten Buches von Menschliches, Allzumenschliches mit dem Titel „Von den ersten und letzten Dingen" wird Nietzsches Philosophie als Uberwindung der Metaphysik nachvollziehbar. Nietzsche will in der Bewegung seines Denkens der Ambivalenz eines Lebens gerecht

385

Vgl. dazu J o h n Sallis, Die Krisis der Vernunft. Metaphysik u n d das Spiel der Einbildungskraft, Hamburg 1983, u n d ders., Spacings of Reason and Imagination in Texts of Kant, Fichte, Hegel, Chicago 1987.

386

Zur Geburt der Tragödie aus primär literaturwissenschaftlich-intertextueller Perspektive vgl. die Arbeiten von Michael Stephen Silk und Joseph Peter Stern, Nietzsche on Tragedy, Cambridge 1981, David Lenson, The Birth of Tragedy. A Commentary, Boston 1987, u n d Keith M . May, Nietzsche and the Spirit of Tragedy, London 1990. Peter Heller, Dialectics and Nihilism, Amherst (Mass.) 1966, ders., „Von den ersten und letzten Dingen". Studien u n d Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche, Berlin/ N e w York 1972, u n d ders., Studies on Nietzsche, Bonn 1981 (von besonderem systematischem Interesse sind dort vor allem die beiden ersten Titel „Multiplicity and unity in Nietzsche's works and thoughts on thought" und „Multiplicity and unity in Nietzsche's style"). Das im Text folgende Referat stützt sich auf den zweiten der aufgeführten Titel.

387

C Nietzsche als Philosoph der „conceptual permissiveness"

177

werden, dem jede Form von Gewissheit und Sicherheit entgeht. In der mittleren Periode seines Denkens konkretisiert sich diese Intention in der Figur des Freigeistes, die Heller als Bild der heiteren Wahrung des Lebens angesichts seiner begriffenen Sinnlosigkeit versteht. Die im Bild des Freigeistes Gestalt gewordene Uberzeugung, dass das Leben nur im Kontext von Illusionen oder von Fiktionen geführt werden kann, führt zum Entwurf einer reflexiv gebrochenen Lebenskunst. Sie entlastet den Kontext des Lebens vom Pathos einer ihm gegenüber transzendenten Wahrheit und führt ihn darin zu einer Höhe, die selbst im Exzess (Fahrt aufs offene Meer, Flug, Tanz) den Bezug zu seiner Immanenz (Erde) aufrechterhält. Der „Freigeist" von Menschliches, Allzumenschliches ist seinerseits Erbe des Musik treibenden Sokrates der Geburt der Tragödie und des Autors der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung, in der sich Nietzsche auf die Musik Richard Wagners bezieht. Nietzsches Denken entwirft Figuren, die im Zwischenreich von Musik und Sprache eine Freiheit und innere Lebendigkeit gewinnen, die nur in der wechselseitigen Durchdringung von Reflexion und Kunst gelingen kann. Zugleich antizipiert die Figur des Freigeistes die im Spätwerk vom Ubermenschen realisierte Form eines Lebens, das seinen elementar dionysischen Charakter ohne Abstriche bejaht. Nietzsches Grundfigur des dionysisch affizierten Lebens, das von Exzessen der Selbst- und Weltzerstörung bedroht ist, verweist auf die exponierte Rolle des Intellektuellen und des Intellekts im Kontext einer radikal modern gedeuteten Wirklichkeit.

b) Terry Eagletons ideologiekritischer Einwand: Nietzsches Philosophie als ästhetisch fundierte und dadurch politisch entmachtete Gesellschaftsutopie Quer zu den bislang dargestellten intertextuellen Deutungsansätzen steht die marxistisch geprägte Lesart der nietzscheschen Philosophie als ästhetisch fundierter Gesellschaftsutopie, für die sich der einflussreiche englische Literaturtheoretiker Terry Eagleton eingesetzt hat. In seiner breit angelegten Studie zu den sozialen und politischen Implikationen moderner Ästhetik388 wird Nietzsches Position als eine im Kern materialistische Philosophie charakterisiert, weil sie als angewandte Physiologie den menschlichen Leib und seine „Vernunft" als einen Subtext des soziokulturellen Primärtextes zum Sprechen bringen will. Die bisherige moralische Kultur ist für Nietzsche die Geschichte einer brutalen Selbststilisierung des menschlichen Leibes und seiner Triebimpulse. In ihr markiert die Gegenwart einen Übergangszustand, aus dem durch revolutionäre Aktivität eine zukünftige Kultur indi-

388 Terry Eagleton, The Ideology of the Aesthetic, Oxford 1990, vgl. daraus den Abschnitt mit dem Titel .True Illusions: Friedrich Nietzsche', 234—261.

178

III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

vidueller und gesellschaftlicher Freiheit hervorgehen kann. Als Agenten dieser Revolution benennt Nietzsche jedoch keine politische Instanz, sondern einen ominösen, gesellschaftlich und politisch ortlosen Willen zur Macht, der lediglich die inhaltlich leere Funktion einer beliebigen Lebenssteigerung umschreibt. In methodologischer Hinsicht schwankt die Lehre vom Willen zur Macht zwischen den Gegenpositionen eines metaphysisch ambitionierten und deshalb retrospektiv orientierten „foundationalism" und dem progressiven Konzept eines radikalen Perspektivismus (248). Die N o r m des guten Lebens, die in der Selbststeigerungsaktivität des Willens zur Macht angelegt ist, sieht Eagleton weitgehend in den Strukturen der gegenwärtigen Kapital- und Markwirtschaft verwirklicht. Er widerspricht damit Nietzsche, der dort nichts anderes wahrgenommen hat als den primitiv egoistischen Selbsterhaltungswillen des kulturell und politisch amputierten „letzten Menschen" oder die blinde Betriebsamkeit eines außer Kontrolle geratenen Strebens nach Nervenreizen für dekadente Individuen. Nach Eagleton ist Nietzsche für den im Willen zur Macht ausgedrückten politisch-gesellschaftlichen Aspekt blind geblieben. Er hat in dieser Lehre zwei heterogene Trends moderner Ästhetik - die Beförderung produktiver Vitalität und den „Trieb zum Konsens" — so gegeneinander gestellt, dass sie sich nicht ergänzen, sondern nur blockieren können (259). Die Lehre vom Willen zur Macht bleibt deshalb in dem für sie charakteristischen ästhetischen Kern gegenüber der politisch-gesellschaftlichen Realität der Moderne in der Position einer für sie kompromittierenden Unentschiedenheit. Da sie sich nicht in eine Theorie politisch-ökonomischer Revolution umformen lässt, kann sie weder das Paradigma intellektueller Existenz in der Moderne noch die Grundform eines zukunftsorientierten Lebens darstellen.

c) Die definitive Entlastung der philosophischen Theorie. Nietzsche und das Modell postmoderner Lebenskunst. Alexander Nehamas und Richard Rorty Eine neuartige philosophische Gestalt gewinnen die literatur- und kunsttheoretisch orientierten Lesarten der nietzscheschen Philosophie bei Alexander Nehamas und Richard Rorty. Das Thema von Alexander Nehamas ist die für Nietzsches Denken als charakteristisch ausgegebene Beziehung zwischen Ästhetizismus und Perspektivismus 389 . Nietzsche will keine theoretischen Lehren ent-

3S

' Alexander Nehamas, Nietzsche. Life as Literature, Cambridge (Mass.)/London 1985, dt. Nietzsche. Leben als Literatur, Göttingen 1991. Ich zitiere im Folgenden nach der deutschen Ubersetzung. Die Wiederentdeckung der Philosophie als zutiefst sokratisch inspirierter .Lebenskunst' ist das systematische Interesse des Autors. Vgl. dazu ders., The Art of Living. Socratic Reflections from Plato to Foucault, Berkeley, Los Angeles, London 1998, mit dem Beitrag: A Reason for Socrates' Face. Nietzsche on ,The Problem of Socrates', 128—156.

C Nietzsche als Philosoph der „conceptual permissiveness"

179

werfen, die mit denjenigen der philosophischen Tradition konkurrieren wollten und ihnen deshalb in methodischer Hinsicht verbunden bleiben müssten, sondern er möchte seinen Lesern zeigen, was es bedeutet, die W e l t als „eine Art Kunstwerk" oder als ,literarischen Text' zu betrachten (17) 390 . Sein „positives Denken" besteht deshalb allein in der Absicht, „einen besonderen, erkennbar literarischen Charakter beispielhaft vorzuführen, der aus den philosophischen Ideen eine Lebensart macht, die ganz und gar seine eigene ist" (24). Es geht in Nietzsches Philosophie um die esoterische Einführung der von ihr gewonnenen Anhänger in die attraktive Lebensform eines radikalen, ästhetisch aufgeladenen Egotismus, die sich einer plurivalenten Schreibweise bedient, um jeden von sich abzuweisen, der einem Leben radikaler Individualität nicht gewachsen ist 391 . Nietzsches plurivalenter Text ist keine Einladung zum Spiel unendlicher Interpretation, sondern er wirkt als privilegierte Instanz absoluter Individualitätsstiftung. Von daher hält Nehamas es auch für unsinnig, sich an der von Wilcox, Breazeale, Grimm und teilweise noch von Magnus begonnenen, später vor allem von George J. Stack und Maudemarie Clark fortgesetzten Debatte über Nietzsches Perspektivismus als Epistemologie zu beteiligen 392 . Nietzsches Philosophie ist an Theorie, also auch an einer Theorie des Wissens oder einer Theorie der Wahrheit, überhaupt nicht interessiert (79). Auch die Lehren vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkunft sind nicht als Theorien oder als ihre Teile zu verstehen, sondern sie dienen allein der Selbstexposition einer absolut individualistischen Lebensform. Die Lehre vom W i l l e n zur Macht ist weder metaphysische noch kosmologische Theorie, sondern die

390

Man findet eine Vorgestalt dieser These bei Alderman, Nietzsche's Gifi (1977), 10. Für die Auffassung, Nietzsche wolle zeigen, was es bedeutet, die Welt wie einen literarischen Text zu betrachten, vgl. ebd., 15. Zu Aldermans Nietzsche-Deutung vgl. im vorliegenden Band S. 172. Ihre erste Formulierung hat diese These im französischen Kontext gefunden, und zwar bei Jean Granier, Le problème de la vérité dans la philosophie de Nietzsche, Paris 1966, insbes. S. 316. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 72f. Vgl. die amerikanische Ubersetzung eines Abschnitts aus der zitierten Monographie Graniers, in dem die These, Nietzsche leite den Leser dazu an, die Welt als komplexen literarischen Text zu betrachten, mit der auch bei Nehamas besonders akzentuierten Lehre von der ewigen Wiederkehr verbunden ist: Jean Granier, Nietzsche's Concept of Chaos. Allison (Hg.), The New Nietzsche (1977), 135-141 (vgl. 135: „Being is text"), und ders., Perspectivism and Interpretation, ebd., 190-200 (vgl. 192: „Nietzsche imposes a definition of Being as ,text"').

391

Zur Analyse des stilistischen Pluralismus bei Nietzsche vgl. Nehamas, Nietzsche, 35ff. Dabei wird nicht nur auf den immer wieder herausgestellten aphoristischen Stil verwiesen, sondern auf vielfältige Modi des Schreibens, die sich von der wissenschaftlichen Prosa bis hin zu dithyrambischer Lyrik erstrecken, wobei vor allem der Stilfigur der Hyperbel besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Nehamas unterscheidet Nietzsches Darstellungsverfahren von derjenigen des platonischen Sokrates, der ähnliche Modi des Sprechens vor allem durch die Stilfigur der Ironie einfärbt. Für die These vom apotropäischen Charakter des nietzscheschen Stils beruft sich Nehamas auf die französischen Nietzsche-Interpretationen von Deleuze, Klossowski, Blanchot, Derrida und Kofman. Für eine Kritik an Nehamas' ästhetischer Nietzsche-Deutung vgl. Richard Schacht, On Self-Becoming. Nietzsche and Nehamas's Nietzsche. Nietzsche-Studien 21 (1992), 266-280. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 147ff. und 192ff.

3,2

180

III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

Inszenierung eines Spiels permanenter, rein individueller Selbstgestaltung, aus dessen Perspektive es ebenso unsinnig wie unmöglich ist, überhaupt so etwas wie eine „allgemeine Theorie über den Charakter der Welt und die Dinge, die sie konstituieren", aufzustellen (110f.). Auch die Lehre von der ewigen Wiederkehr ist keine kosmologische Hypothese, sondern expliziert nichts anderes als Nietzsches Auffassung von Individualität, indem sie die Bedingung für das Gelingen eines radikal egotistischen Lebens in einer besonderen Formulierung festhält. Nietzsche geht es einzig um die Konstitution eines ganz und gar authentischen „Selbst", so dass dem potenziell unabschließbaren Vorgang der Selbstwerdung eine genuin moralische Bedeutung zukommt. Selbstwerdung meint nicht die unkontrollierte Entfesselung des eigenen Trieblebens, sondern, ähnlich wie schon bei Walter Kaufmann, eine Selbststilisierung, die schon von ihrer Form her allen „extremen Fällen von Verderbtheit ... die Anerkennung versagt". Wenn Nietzsche der Ethik der Selbstwerdung gelegentlich dennoch so etwas Krudes wie eine „positive ethische Auffassung" abgewinnen will, so kann sie aufgrund der ihr zugrunde liegenden ästhetisch-individualistischen Form von Normativität nur „banal und unbestimmt" ausfallen (292f.). Das Modell, das Nietzsches Philosophie radikaler Individualität bestimmt, ist nach Nehamas mit demjenigen des Erzählers in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu identisch. Proust und Nietzsche favorisieren und exemplifizieren ein identisches Programm authentischer Selbstverwirklichung. Aus der Stilisierung des individuellen Lebens und Schreibens zu einem Werk der Kunst entsteht die Fähigkeit, die Welt selber ebenfalls als ein absolutes Kunstwerk zu betrachten und sich ihr gegenüber autopoetisch zu verhalten 393 . Richard Rorty folgt einem Impuls der nietzscheschen Philosophie, wenn er unter den Bedingungen der modernen Welt nach einem Ort sucht, an dem menschliches Leben noch einmal das Ideal heroischen Lebens, „Größe", „Vollkommen-

3,3

Eine Interpretation des Zarathustra, die sich an den Vorgaben von B. Magnus und A. Nehamas orientiert, gelingt Kathleen M. Higgins, Nietzsche's Zarathustra, Philadelphia 1987. Die Autorin achtet besonders auf die literarische Dimension dieses Textes. Sie versteht ihn als ein in sich vielfältiges Projekt, das zu einer persönlichen Wahrheit über die tragische Dimension des individuellen Lebens führen will und das sich dabei als persönliches Wort mit dem Problem der sprachlichen Kommunikation auseinandersetzen muss. Nietzsche entfaltet einen Diskurs, der sich hinsichtlich seiner Geltung selber begrenzt und zu seinem Inhalt eine ambivalente Einstellung findet. Zarathustra ist der Lehrer der ewigen Wiederkehr und damit einer offenen Einstellung zur Zeit, die in der musikalischen Zeiterfahrung (Einheit von Linearität und Totalität) ihr Analogon findet. Der vierte Teil des Zarathustra wird im Sinne einer menippischen Satire als parodistische Selbstrelativierung der Wahrheitssuche Zarathustras interpretiert, wobei auf die Asinus-Aureus-Texte von Lukian und Apuleius als Modell verwiesen wird. Vgl. dafür auch dies., Nietzsche on Music. Journal of the History of Ideas 47 (1986), 663—672, dies., Reading „Zarathustra". Solomon-Higgins (Hg.), Reading Nietzsche (1988), 123-151, und dies., Zarathustra IV and Apuleius. Who is Zarathustra's Ass? International Studies in PhilosophylQ (1988), 29—53, jetzt auch: Conway (Hg.), Nietzsche (1998), I, 166-189.

C Nietzsche als Philosoph der „conceptual permissiveness"

181

heit" und „Freiheit" im Sinne eines ausschließlich ,selbstgeschaffenen, autonomen Lebens verwirklicht' 3 9 4 . Die nietzscheanische Qualität dieses Impulses zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass der Ort radikaler Selbsterschaffung in der Moderne nur unter den ungünstigsten aller denkbaren Voraussetzungen gefunden werden kann. Die Moderne ist ihrer Struktur nach geprägt von der politischen Herrschaftsform der Demokratie und von den Regeln einer Kultur umfassender Rationalität. Demokratie und Rationalität entlasten den öffentlichen Raum vom explosiven Erwartungsdruck absoluter, charismatisch legitimierbarer Ansprüche und etablieren ihn als prosaische W e l t der Normalität, der Überraschungsfreiheit und der möglichst allseitigen Berechenbarkeit. Moderne Gesellschaften haben deshalb die strukturelle Eigenschaft, durch die ihnen eigene Verfasstheit jeden Ort radikaler Selbsterschaffung zu verhindern. Das zweite Erschwernis für die Verwirklichung menschlicher Vollkommenheit unter den Bedingungen der Moderne besteht in der Einsicht in die unaufhebbare Kontingenz sämtlicher Gestalten des menschlichen Lebens, einschließlich der ihm zugehörigen Formen des Wissens. Unter diesen Voraussetzungen kann der Ort maximaler Lebenssteigerung nicht mehr unter Berufung auf eine natürliche, göttlich beglaubigte, universal gültige, theoretisch eruierbare, den Bedingungen der Kontingenz entzogene Wahrheit gefunden werden. Rorty versteht deshalb die Philosophie als Instanz einer Suche nach etwas, was es im öffentlichen R a u m der Moderne nicht geben kann, nämlich als die Etablierung eines Ortes, an dem eine Person allein für sich selbst steht und darin eine Größe bekundet, die auf andere eine Macht erotischer Verzauberung ausübt. Er findet diesen Ort jedoch ausschließlich im Privatraum der Individualität, der sich der Gattung nach vom öffentlichen R a u m berechenbarer Normalität, geteilter Uberzeugungen und der Solidarität unterscheidet. Aus diesem Grunde ist Rorty in Anknüpfung an Derrida daran interessiert, die genuin theoretische Komponente der Philosophie abzuschwächen und sie dadurch von vermeintlich nur angemaßten Ansprüchen auf objektive und daher allgemein gültige Verbindlichkeit ihrer Wissens- und Handlungsnormen zu entlasten 395 . Er plädiert damit für den Übergang von einer wissens-zentrierten, auf das Ideal rationaler Letztbegründung bezogenen Kultur zu einer „poeticized culture", die allein dem individualistisch zu realisierenden Ideal authentischer Selbsterschaffung verpflichtet ist 396 . Eine öffentlich gültige, konsensuell anerkannte Norm des Guten ist für ihn im Kontext der Moderne in den Institutionen der Demokratie und des Rechts bereits verwirklicht. Deshalb ist es für die Philosophie überflüssig geworden, im

3.4 3.5

3'6

Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1989, 12. Zu Rortys Kritik an der „traditional, Platonic, epistemologically-centered philosophy" vgl. Richard Rorty, Pragmatism, Relativism, and Irrationalism, in: ders., Consequences of Pragmatism. Essays 1972-1980, 160-176, insbes. 164. Rorty, Contingency, Irony, andSoldarity, Cambridge (Mass.) 1989, XIV (dt. Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1989, 12f.)

182

III Nietzsche in der angelsächsischen W e l t

Medium des Wissens auf eine öffentlich wirksame N o r m des Guten zu verweisen. Philosophie muss deshalb in der Moderne vollständig in den Kontext einer „poeticized culture" integriert werden, die von vornherein einzig dem Ideal individueller Selbstverwirklichung verpflichtet ist. Mit dem Stichwort „ironische Existenz" bringt Rorty das ausschließlich privat realisierbare Leitbild gelungener Individualität auf den Begriff. Bei seiner Explikation bezieht er sich ausdrücklich auf Nietzsche, den er im fünften Kapitel seines Buches Contingency, Irony, and Solidarity unter dem Leitthema „Selbsterschaffung und Affiliation" kritisch mit Marcel Proust und Martin Heidegger konfrontiert. Dabei distanziert sich Rorty von der Aufwertung Nietzsches zum Philosophen individueller Selbstvervollkommnung durch Alexander Nehamas 397 . Rortys Bewertungsmaßstab ist der Beitrag eines Autors zum Ideal privater Vervollkommnung durch „ein selbstgeschaffenes, autonomes menschliches Leben" (12). Zu seiner Realisierung kann weder „die Philosophie noch sonst eine theoretische Disziplin" beitragen, weil jede Theorie zwangsläufig an Konzepten allgemeiner Normativität orientiert ist. Allein die Kunst verwirklicht eine ihr selbst interne N o r m von Authentizität, so dass sie in singulärer Weise auf die Lebensform individueller Einmaligkeit verweist, indem sie sie exemplarisch realisiert. Nietzsches Philosophie erhält eine in sich zwiespältige Bewertung. Zwar distanziert sie sich von objektivistisch-allgemeinen Wahrheitsansprüchen und kann deshalb grundsätzlich der von Rorty bevorzugten Partei liberaler Ironiker zugeordnet werden. Bei der Propagierung seines Ideals vom autonomen Leben verfällt er jedoch in die paradoxe Rolle des ironistischen Theoretikers (169). Er begnügt sich nicht damit, den Prozess der Vervollkommnung seines individuell-kontingenten Lebens vorzuführen, sondern tritt zugleich als wahrheitsbesessener „Prophet eines neuen Zeitalters" in Erscheinung (171), der für das Ideal ironischer Existenz universale Geltung beansprucht. Als „Theoretiker des Willens zur Macht" vergisst Nietzsche die Voraussetzungen seines eigenen Perspektivismus (178f.) und votiert wie ein traditioneller Metaphysiker für „die unsagbare, absolute Erhabenheit des Ganz Anderen" (170), das für ihn den allgemeinen Grund von Wirklichkeit charakterisiert. Anders als viele seiner zeitgenössischen Leser wie Jacques Derrida oder Gianni Vattimo, die ausschließlich die poetisch-ästhetische, primär individualistisch pointierte Ausdrucks- und Reflexionsdimension der nietzscheschen Philosophie wahrnehmen, sieht Rorty genau, dass er mit seinem Plädoyer für eine radikale Trennung zwischen privatem und öffentlichem Lebensraum eine fundamentale Regel des nietzscheschen Denkens verletzt.

3,7

Rorty, Contingency (1989), zitiert nach der deutschen Übersetzung Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1989, 165: „Alexander Nehamas hat" Proust u n d Nietzsche „zusammengebracht" u n d dabei „eine wichtige Differenz" übersehen: „... Prousts U n t e r n e h m e n hat wenig mit Politik zu t u n ... Im Gegensatz dazu spricht Nietzsche oft, als hätte er eine soziale Mission, als hätte er Absichten, die das öffentliche H a n d e l n beeinflussen könnten — deutlich antiliberale Ansichten" (167).

C Nietzsche als Philosoph der „conceptual permissiveness"

183

Nietzsche ist nur zur Hälfte der „große und wirkungsmächtige Dichter", dem Rortys Bewunderung gilt398. Zur anderen Hälfte bleibt er der offen abgelehnte philosophische Theoretiker, der sich zwar vom Traum der Metaphysik und ihrer Sehnsucht nach einem Ort authentischer Wahrheit befreit hat, aber nach wie vor die Absicht verfolgt, die im eigenen Werk verkörperte Macht authentischer Selbsterschaffung im öffentlichen Raum geltend zu machen. So argumentiert Rorty gegen Nietzsche letztlich politisch und rhetorisch, wenn er den Satz formuliert: „Wir sollten Schluß machen, Selbsterschaffung und Politik zu kombinieren" (201). Sein eigenes Denken verabschiedet sich also bewusst aus dem Horizont der nietzscheschen Philosophie, in der es die fatale Wirkungsmacht einer entschieden anti-individualistisch und politisch akzentuierten Theorie wahrnimmt.

d) Nietzsches Philosophie als hermeneutische Ontologie Alan D. Schrift In der Orientierung an den Debatten der Hermeneutik und der Dekonstruktion gewinnt Alan D. Schrift Ansätze zu einer integrativen Nietzsche-Deutung. Der Autor, der sich als präziser Historiograph der dekonstruktionistischen NietzscheInterpretation in Frankreich ausgewiesen hat 399 , konzentriert sich in systematischer Hinsicht auf einen Begriff der Interpretation, den Nietzsche als Konsequenz seiner sprachtheoretisch begründeten Einsicht in die prinzipielle Unhintergehbarkeit interpretierender Aktivität des menschlichen Wirklichkeitsbezuges so entwickelt, dass er gleichzeitig die Extremwerte einer dogmatischen Wahrheitsbehauptung und eines inhaltslosen Relativismus vermeidet. Damit rückt Nietzsches Konzept von Interpretation ins Zentrum der gegenwärtigen Hermeneutik-Diskussion. Der Verzicht auf objektive Weltbeschreibung eröffnet ein Spiel von Interpretationen, das nicht mehr einer ihm gegenüber externen Norm von Wahrheit, sondern allein der intrinsischen Norm ständiger Selbstaffirmation verpflichtet ist. Das Spiel der Interpretationen lebt aus der antinomischen Beziehung zwischen zwei in sich gegensätzlichen Verfahren. Das erste organisiert perspektivische Konstruktionen im Sinne von Eindeutigkeiten, die im Dienst des Willens zur Macht gewonnen werden 400 . Ihm opponiert ein Wille zur Aufmerksamkeit für die Komplexität 3,8

D e n Begriff des „strong poet" ü b e r n i m m t Rorty aus der Literaturtheorie von Harold Bloom. Vgl. dazu im vorliegenden Band die A n m . 341. Bei Rorty wird die essenziell tragische Dimension der von Bloom ü b e r n o m m e n e n Begrifflichkeit erheblich abgemildert.

399

Vgl. dazu Alan D . Schrift, Nietzsche and the Question of Interpretation. Between Hermeneutics and Deconstruction, L o n d o n / N e w York 1990, u n d ders., Nietzsche's French Legacy. A Genealogy of Poststructuralism, N e w York 1995. Im Folgenden beziehe ich mich auf den zuerst genannten Titel. Schrift unterscheidet zwischen einem physiologischen, instinktiven u n d einem soziohistorischen Typus perspektivischer Konstruktion {Nietzsche and the Question of Interpretation, 146). Der systematische Vorrang des physiologischen Typus resultiert aus Nietzsches naturalistisch angelegter Lehre vom Willen zur Macht.

400

184

III Nietzsche in der angelsächsischen W e l t

interpretationsbedürftiger Texte, wie er für die Anstrengungen der Philologie charakteristisch ist. Nietzsche entfaltet die Dynamik dieser Antinomie in seinem Konzept von Genealogie. Das von ihm praktizierte Verfahren genealogischer Interpretation beschränkt sich nicht darauf, die Binnenperspektive oder die Intentionalität vorgegebener Formen des Denkens oder der Moral so getreu wie möglich zu reproduzieren, sondern sie bezieht ihnen gegenüber zugleich eine extrinsische Perspektive, die verständlich machen soll, aus welchen physiologisch konkretisierbaren Gestalten des Willens zur Macht die Wahrheitsansprüche bestimmter Formen des Wissens und Handelns hervorgegangen sind. Nietzsches Theorie der Interpretation macht eine neue Objektivität des Sehens mit verschiedenen Augen geltend (189), die, statt destruktiver Willkür zu folgen, das Maß ihres Gelingens von einer a priori unbestimmbaren und erst in der interpretierenden Praxis sich bewährenden Regel der Angemessenheit abhängig macht. Die prinzipielle Destruktion der Unterscheidung zwischen wahrer und scheinbarer Welt im 6. Abschnitt der Götzen-Dämmerung („Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde") ermöglicht eine pluralistische Form der Interpretation (191), in der die binäre Unterscheidung zwischen „wahr" und „falsch" nicht mehr nachvollzogen werden kann. Das neue Kriterium von Sinnhaftigkeit ist das der Lebensbejahung. Es verlangt nicht mehr die Privilegierung einer bestimmten inhaltlich konturierbaren Interpretationsperspektive über eine andere, sondern die Dynamisierung des Interpretierens selbst, das sich in ihr zu einer Gestalt des Willens zur Macht entfaltet (192). Im gemeisterten Spiel der Interpretation, das verschiedene Perspektiven nach Kriterien der Angemessenheit zu einer prinzipiell revisionsfähigen Rangordnung zusammenfasst, verschwindet der Gegensatz von „wahr" und „falsch" ebenso wie derjenige zwischen interpretierendem Subjekt und interpretiertem Gegenstand, weil sie beide nur im Modus einer Interpretation in das dynamische Spiel des Interpretierens eintreten können. Nietzsche entwickelt in der Verbindung zwischen seinem Konzept des Perspektivismus und seiner Lehre vom Willen zur Macht letztlich so etwas wie eine hermeneutische Ontologie, nach der die gegenständliche Welt das Resultat einer Interpretation darstellt, die als solche wiederum eine potenziell unendliche Aktivität des Interpretierens auf sich zieht 401 . Die von Schrift mit Nietzsche gewonnene hermeneutische Ontologie könnte an Konturen gewinnen, wenn sie sich entweder nach dem Vorbild von Grimm mit dem quineschen Konzept des geläuterten Empirismus, der in ihm vorausgesetzten holistischen Erkenntnistheorie oder mit einer Philosophie der Interpretation in

4111

Schrift bietet Nietzsches hermeneutische Ontologie auch d e m Feminismus als Fundamentalphilosophie an, weil sie keine phallisch-logozentrische Weltbeherrschung anstrebe, sondern die sanfte F o r m einer „reciprocal creation" oder gar einer „reciprocal interpénétration" von Wirklichkeit u n d Interpretation realisiere (Nietzsche and, the Question of Interpretation, 196). Zur Bedeutung Nietzsches für die angelsächsische Feminismus-Debatte vgl. die A n m . 372 des vorliegenden Buches.

C Nietzsche als Philosoph der „conceptual permissiveness"

185

Verbindung setzte, wie sie im deutschsprachigen Raum vor allem von Günter Abel402 und Johann Figi403 entwickelt worden ist. Erst in derartigen Präzisierungen könnte geklärt werden, ob und in welchem Sinne Nietzsches Philosophie in einem modernen Sinn theoriefähig ist, oder ob sie als hermeneutische Ontologie nur um den Preis in die systematischen Debatten der Gegenwartsphilosophie eintreten kann, dass sie die Tätigkeit der philosophischen Reflexion in theoretischer Perspektive minimalisiert, sei es im Sinne des von Gianni Vattimo propagierten Ideals eines pensiero deboleAM, des von Paul de Man und Jacques Derrida realisierten Verfahrens der Dekonstruktion oder im Sinne einer Rückverwandlung der Philosophie in eine letztlich sokratisch inspirierte ars vivendi (Nehamas), die zeigen möchte, dass die Realisierung des Guten unter postmodernen Bedingungen auf das Ideal authentischer Individualität hinausläuft.

4112

4113

4114

Vgl. dafür Günter Abel, Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984. Johann Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches Theorie der universalen Auslegung im späten Nachlass, Berlin/New York 1982. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 112ff.

D Nietzsches Philosophie als theoretische Lehre Die bislang vorgestellten Nietzsche-Interpretationen ließen sich um die beiden von Danto vorgegebenen Stichworte: „Nietzsche als Kritiker des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs" und als „Denker ästhetischer Produktivität" gruppieren und so zwei verschiedenen Diskussionsfeldern zuordnen, von denen sich das erste auf Nietzsches Beitrag zu einer systematisch sinnvollen Theorie des Wissens konzentriert, während das zweite in Nietzsches Philosophie die besondere Form eines ästhetisch oder hermeneutisch bestimmten Zugangs zu ,Wirklichkeit' bzw. zu individueller Authentizität entdeckt. In diesem Abschnitt geht es um kritische Reaktionen auf die Stilisierung Nietzsches zum Philosophen einer radikalen „conceptual permissiveness", die zugleich dem Gesamtduktus der nietzscheschen Philosophie und ihrem theoretischen Kern gerecht werden wollen. Sie entwickeln wertvolle Ansätze zu einer synthetischen Nietzsche-Interpretation, die auch die bislang offen gebliebene Frage nach dem besonderen Theorietypus seiner Philosophie beantworten will. Ist sie, wie bereits Walter Kaufmann nahe gelegt hat, eine Fortsetzung der Metaphysik oder der Naturphilosophie mit anderen Mitteln, oder überwindet sie, wie vor allem Bernd Magnus, die Anhänger der „Dekonstruktion" und Alexander Nehamas suggerieren, die überlieferten Paradigmata philosophischer Reflexion? Jede Antwort auf diese Frage berührt ein weiteres zentrales Problem der gegenwärtigen Nietzsche-Hermeneutik. Bernd Magnus hat es als den Streit zwischen einer Partei der „lumpers" und einer Gegenpartei der „splitters" beschrieben. W ä h r e n d die „lumpers" Nietzsches Philosophie den Charakter innerer Konsistenz unterstellen, so dass sie als Fortsetzung bisheriger Philosophie mit anderen Mitteln erscheint, feiert die Gegenpartei der „splitters" Nietzsche als einen „bricoleur" des Denkens im Sinne von Claude Lévi-Strauss und damit als den ersten „fullblooded postmodern, nonrepresentational thinker" 4 0 5 . Die im folgenden Abschnitt besprochenen Ansätze gehören zur Partei der von Magnus kritisierten „lumpers". Sie nehmen zum Teil Ergebnisse und offen gebliebene Fragen aus dem epistemologischen Diskussionsfeld wieder auf und verbinden mit ihr diejenige nach den Möglichkeiten des gelingenden Lebens unter den Bedingungen der Moderne, die bei den Anhängern einer theoretisch minimalisierten NietzscheDeutung im Vordergrund des Interesses stand.

4115

Magnus, The Use and Abuse of „The Will to Power". Solomon - Higgins (Hg.), Reading Nietzsche (1988), 222. Für die von Magnus selber eingenommene Position vgl. im vorliegenden Buch S. 161 ff.

D Nietzsches Philosophie als theoretische Lehre

1. Nietzsches Philosophie als anthropologisch

187

reformierte Metaphysik und Kosmologie

Richard Schacht und Alistair Moles Die erste systematisch orientierte, auf die Gesamtintention Nietzsches bezogene Interpretation seiner Philosophie, die in das angedeutete Problemfeld eintritt, ist diejenige von Richard Schachtmb, der heute mit Recht als einer der einflussreichsten Nietzsche-Interpreten Amerikas gilt. Für ihn ist Nietzsche ein metaphysisch ambitionierter Theoretiker, der in seiner Lehre vom W i l l e n zur M a c h t Grundcharaktere des Daseins angemessener erschließen will als dies der philosophischen Tradition gelungen ist 407 . Gegen Kaufmann verortet Schacht Nietzsche aber nicht in der Tradition des Empirismus, auch nicht in derjenigen eines quineschen E m pirismus ohne Dogma', sondern er charakterisiert seine Philosophie, die in der Lehre vom W i l l e n zur Macht ihr Zentrum findet, als Grundlegung einer umfassenden Philosophie der Interpretation 408 . Dabei wird der Interpretationsbegriff allerdings anders akzentuiert als in der dekonstruktionistischen Nietzsche-Deutung. Er bezeichnet bei Schacht einen komplexen, zunächst selbstbezüglichen Prozess, der unter bestimmten Voraussetzungen für eine ihm vorgegebene „Realität" offen wird. Diese Offenheit wird weder durch einen referenziellen Verweis auf unbezweifelbare Tatsachen im Sinne des Empirismus gewonnen noch durch die Repräsentation erster Prinzipien von Wirklichkeit im Sinne der neuzeitlichen Tradition rationalistischer Metaphysik. Nietzsche nimmt im Willen zur Macht vielmehr eine zugleich anthropologisch und kosmologisch begründete Wahrheitsnorm in Anspruch, die im praktischen Unternehmen einer Umwertung aller Werte ihre Wirksamkeit entfaltet. Er gewinnt sie in der gedanklichen Bewegung, die sich selber als eine „fundamentally interpretative affair" versteht (20). Nur von ihr aus 4116 4117

408

Vgl. dafür vor allem Richard Schacht, Nietzsche. London/Boston/Melbourne/Henley 1983. Schacht, Nietzsche (1983), 34-51, interpretiert Nietzsche gegen Danto als entschiedenen Kritiker sprachanalytischer Philosophie „ante rem". Zur Auseinandersetzung mit Danto vgl. Richard Schacht, Nietzsche and Nihilism. Journal of the History of Philosophy 11 (1973), 65—90, wiederabgedruckt in ders., Making Sense of Nietzsche. Reflections Timely and Untimely, Urbana/Chicago 1995, 5-61. Für andere Alternativen zu einer dekonstruktionistischen Nietzsche-Deutung vgl. Yirmiyahu Yovel (Hg.), Nietzsche as Affirmative Thinker. Papers Presented at the Fifth Jerusalem Philosophical Encounter, April 1983, Den Haag 1986. Der Band enthält auch einen Beitrag von Richard Schacht, der die Intention seiner 1983 erschienenen Monographie zusammenfasst: Nietzsche on Philosophy, Interpretation, and Truth, 1-19. Des weiteren sei auf die folgenden Aufsätze von Richard Schacht verwiesen: A Way With Nietzsche. International Studies in Philosophy 15 (1983), 78—85, Nietzsche's ,Gay Science'. Or, How to Naturalize Cheerfully. Solomon - Higgins (Hg.), Reading Nietzsche (1988), 68-86, Nietzsche's Kind of Philosophy. Magnus - Higgins (Hg.), The Cambridge Companion to Nietzsche (1996), 151 — 179. Die Aufsatzsammlung von Richard Schacht, Making Sense of Nietzsche (1995), kann einerseits als Einführung in Probleme der gegenwärtigen Nietzsche-Forschung (Allan Bloom, Danto, Dekonstruktion, Nehamas) und -Interpretation gelesen werden. Andererseits formuliert das „Unscientific Postscript" (261ff.) die Intention von Schachts eigenem Zugang zu Nietzsche. Ihm geht es um eine Reform der Philosophie, die nach Nietzsches Vorbild Denken und Leben durch die Qualität der Offenheit miteinander verbindet.

188

III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

lässt sich das menschliche Leben als die Form selbstbezüglicher Praxis wahrnehmen, als die sie von der philosophischen Tradition nicht hatte verstanden werden können, so dass Nietzsche für sein Wissen dieser Praxis im emphatischen Sinn Wahrheit beansprucht. Nach Schacht unterscheidet Nietzsche zwischen einem diskursabhängigen, einem lebensorientierten und einem präskriptiven Begriff von Wahrheit. Während die beiden ersten Begriffe perspektivisch fundiert sind — Wahrheit als Resultat diskursinterner Regeln oder als Projektion praktischer Interessen —, ist der präskriptive Wahrheitsbegriff dem Gesetz des Perspektivismus entzogen. Er wird der privilegierten Position des Philosophen der Zukunft zugeordnet, der erstmals imstande sein wird, die Wirklichkeit des endlichen Daseins unverstellt aus sich selbst heraus zu interpretieren. Nur aus der Perspektive seiner Wahrheit erweist sich die Geschichte der Metaphysik als Abfolge von Irrtümern. Nietzsche bricht zwar mit den fundamentalen Wahrheitsansprüchen der empirischen und der rationalistischen Metaphysik, aber keineswegs mit dem Versuch, im Element philosophischer Reflexion und Interpretation das Ganze der Wirklichkeit zu verstehen. Seine eigene Lehre vom Willen zur Macht ist nur insofern an das erkentnniskritische Konzept des Perspektivismus gebunden, als er sie vom Anspruch auf ein gleichsam göttlich beglaubigtes Wissen befreit, den er exemplarisch in Hegels Philosophie des Absoluten verwirklicht gesehen hat 409 . Nietzsche beschreibt die Welt nicht aus der Perspektive eines göttlichen Blicks, sondern er begründet eine nicht-metaphysische Kosmologie (205), die ihre Wahrheit im Blick auf jenen Grundzug lebendiger Wirklichkeit gewinnt, der sich für die menschliche Lebenserfahrung insgesamt als fundamental erweist (215) und zugleich nach einer Regel der Analogie auf die Grundstruktur der Welt des Lebendigen übertragen werden kann. Leider werden bei Schacht die von Nietzsche selber vor allem in den methodologischen Reflexionen von Jenseits von Gut und BöseA1° vorgegebenen Möglichkeiten zu einer präziseren Fassung des Konzepts von Analogie, das im Kern der Lehre vom Willen zur Macht wirksam ist, nicht mit der gebotenen Schärfe aufgenommen. Für die eigene Deutung des Willens zur Macht werden primär NachlassTexte herangezogen, die unter dem Aspekt methodologischer Reflexion eher unterbestimmt bleiben. Dennoch erschließt Schacht eine Fülle signifikanter Aspekte für das inhaltliche Verständnis dieser Lehre. Er verweist insbesondere auf die in sich vielfältige, nicht reduktionistisch-naturalistisch festgelegte Verwendung des Be-

41"

4111

Für eine Kritik an Nietzsche, die sich ihrerseits auf Kriterien der hegelschen Philosophie beruft, vgl. Stephen Houlgate, Hegel, Nietzsche and the Criticism of Metaphysics, London / New York etc. 1986. Diese Studie beginnt mit einer lesenswerten Ubersicht zur Hegel-Nietzsche-Diskussion (1 — 23). Vgl. dafür vor allem Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Zweites Hauptstück: der freie Geist, §34 und §36, sowie die darauf bezogene neuere Interpretation von Patrick Wotling (vgl. im vorliegenden Band S. 86).

D Nietzsches Philosophie als theoretische Lehre

189

griffs „Wille zur Macht", der für jede Art von Anreicherung offen ist (224). Seine Grundform ist nicht die Gewalt, sondern die kontrastreiche Veränderung (228), so dass der Grundbegriff der nietzscheschen Philosophie in der Lage ist, elementare Lebensprozesse aus verschiedenen, einander ergänzenden Perspektiven aufzuschließen (234f.). Mit seiner Deutung des Willens zur Macht verbindet Schacht eine vorsichtig abwägende Interpretation der Lehre von der ewigen Wiederkunft. Er versteht sie als Ausdruck eines dionysischen Weltbegriffs, der auf die Apologie eines Lebens hinausläuft, das sich, ohne auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet zu sein, kontinuierlich verändert (261). Die Lehre von der Wiederkunft fungiert zugleich als regulative Idee für eine experimentelle Selbstverstärkung des menschlichen Lebens (266), ohne sich zu einer eindeutigen kosmologischen Aussage zu verdichten. Besonders wertvoll sind die Ausführungen zur Anthropologie, die für Schacht das Zentrum der nietzscheschen Philosophie darstellt. Nietzsche entwickelt den Begriff menschlichen Lebens im Blick auf die Form des organischen Daseins, das nicht als Summe oder Verbund für sich selbständiger und deshalb in sich einfacher Substanzen, sondern als Wechselwirkungszusammenhang relational aufeinander bezogener Entitäten besteht. Demgegenüber wird es als sekundär eingeschätzt, dass Nietzsches Charakterisierung der menschlichen Existenz durch Triebimpulse und Affekte einem naturalistischen Missverständnis ausgesetzt ist. Für die Einschätzung der Gesamtintention Nietzsches ist es jedoch aufschlussreich, dass er das menschliche Dasein in einer pathologischen Terminologie umschreibt und die dabei eruierten Befunde auf den Bereich der Kultur überträgt. So wird der Gedanke einer subtilen Wechselbeziehung zwischen Natur und Kultur erkennbar, der plausibel macht, dass die Erhaltung und vor allem die für notwendig gehaltene Steigerung des individuellen und sozio-kulturellen Lebens das Gegebensein einer handlungsdirigierenden Instinktstruktur voraussetzt. Aus dem Zusammenbruch der Beziehung zwischen Instinkt, Wille und Handlung resultiert eine Erkrankung des Lebens, die jedoch nicht den definitiven Verlust von Gesundheit zur Folge hat, sondern zuvor unbekannte Möglichkeiten lebendiger Selbstdifferenzierung eröffnet. Ein Zusammenbruch des Lebens tritt nur ein, wenn die in der Erkrankung gestörte oder verlorene Instinktstruktur nicht durch eine reflexive Instanz der Handlungsregulierung ersetzt werden kann. In den fundamental verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten auf den Verlust der ursprünglichen Instinktstruktur erweist sich menschliches Leben als ein einzigartiges Experiment der Natur, in dem es darum geht, auf der Ebene der Reflexivität eine instinktanaloge Sicherheit der Handlungsregulierung zu gewinnen, ohne dass es dabei möglich oder gar sinnvoll wäre, die besonderen Eigenschaften der Instinktstruktur durch Reflexivität zu verdrängen oder auszuräumen (274). Nietzsche plädiert nicht für eine animalische Regression des menschlichen Lebens, sondern für dessen anti-rousseauistisches „Hinaufkommen ... in die hohe, freie, selbst fruchtbare Natur und Natürlichkeit"

190

III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

(Nietzsche, Götzen-Dämmerung IX, 48, KSA 6, 150)411. In diesem Lösungsmodell ist offensichtlich ein präskriptiver Begriff souveräner übermenschlicher Individualität vorausgesetzt (294). Er verweist auf eine Norm des Ausgleichs zwischen Natur und Reflexivität, aber auch von Notwendigkeit und Freiheit (315), die nur auf der Basis vollendeter Selbstbeherrschung in individuell und kulturell gelebte Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Aus der Perspektive des normativ gemeinten Konzepts vom übermenschlichen Dasein als der höchsten Form des Willens zur Macht fällt noch einmal ein bezeichnendes Licht auf das Ausgangsdilemma der Nietzsche-Interpretation von Richard Schacht, nämlich auf die von ihr konstatierte Gegenläufigkeit zwischen metaphysischer Aussageabsicht und perspektivischer Erkenntnistheorie. W e n n die Norm des übermenschlichen Daseins nur in einer Perspektive gewonnen werden kann, so wird sie dennoch gegenüber anderen perspektivischen Lebensdeutungen kognitiv als die umfassende Perspektive des endlichen Lebens ausgezeichnet, die in singulärer Weise den „fundamentalen Charakter des Lebens und der Welt" erschließt (349). Als „dionysische Werthabmessung des Daseins" 412 ist sie anderen Lebensperspektiven aber auch in praktischer Hinsicht überlegen, weil sie die Voraussetzung für die „Schöpfung neuer eigener Gütertafeln" darstellt 413 , die das Leben benötigt, wenn es von der Krankheit des christlich-platonisch motivierten Nihilismus genesen will (353). Alistair Moles, ein Schüler von Bernd Magnus, versucht einen Ausgleich zwischen dem Ansatz seines Lehrers, der sich für sein Nietzsche-Verständnis am Begriff einer Elementarpraxis im Sinne des heideggerschen „In-der-Welt-Seins" orientiert 414 , und der stärker kosmologisch-anthropologisch ausgerichteten Nietzsche-Interpretation von Richard Schacht 413 . Nietzsche entwirft einen genuin modernen, radikal entteleologisierten und entsubstanzialisierten Naturbegriff. In der Nichterfüllung inhaltlicher Ordnungserwartungen wird „Natur" zu einer für den Menschen elementar fremden und irritierenden Wirklichkeit (17), die Nietzsche mit der Formel „Wille zur Macht" umschreibt. Sie bezeichnet kein empirisches oder metaphysisches Prinzip der Natur (23), sondern entfaltet ein Verständnis von Natur, das den modernen Gedanken eines Systems energetisch bewegter Prozesse mit dem antiken Konzept tragischen Wissens verbindet und dadurch den unauflöslichen Zusammenhang von Wachstum und Zerstörung herausstellt. Nietzsche behandelt die dynamischen Prinzipien der neuzeitlichen Physik so, dass sie zugleich auf eine 411 412

413 414 415

Vgl. dazu Schacht, Nietzsche (1983), 282. Nietzsche, Nachlass Frühjahr-Sommer 1888, 16 [32], KSA 13, 493. Vgl. dazu Schacht, Nietzsche (1983), 346f. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, IV, § 335, KSA 3, 563. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 161 ff. Alistair Moles, Nietzsche's Philosophy of Nature and Cosmology, New York/Bern/Frankfurt am Main 1990. Das Buch ist die Druckfassung einer von Bernd Magnus betreuten Dissertation.

D Nietzsches Philosophie als theoretische Lehre

191

Interpretation der menschlichen Natur bezogen werden können. Die Prinzipien einer dynamischen Naturinterpretation lassen sich nämlich inhaltlich aus der menschlichen Erfahrung von Ausnahmesituationen ableiten (83), genauer aus dem exemplarischen Fall des Gelingens von Selbstbeherrschung in der Krise eines radikalen Stabilitätsverlusts (94). Die Erfahrung von Identitätskrisen des Lebendigen lässt sich nicht durch mentale Introspektion im Sinne der cartesischen Tradition, sondern nur im Rekurs auf die komplexe Wahrnehmungsfähigkeit des gesamten menschlichen Körpers gewinnen (96). In der Selbstwahrnehmung des in der Erschütterung sich bewährenden Organismus werden Normen „lebendiger Moralität" erfahrbar (100), die auf Grundformen des sozialen Lebens übertragbar sind. Nietzsche entdeckt strukturelle Parallelen zwischen den Gesetzmäßigkeiten körperlicher Organisation, sozialer Ordnung und geistiger Aktivität. Sie verweisen auf eine agonale Struktur, die Nietzsche seinem dialektisch konzipierten Kraftbegriff zugrunde legt. Dabei wird der Begriff der Kraft mit seinen Negationen wie „Widerstand", „Brechung" oder „Schwächung" so verbunden, dass sie singuläre Möglichkeiten der Optimierung von Kraft andeuten (136f£). Nietzsches Naturbegriff verweist auf das Konzept einer dionysischen Physik, in der der Grund aller Natur als Wille zur Macht und damit als Geschehen agonaler Wechselwirkung zwischen seinen mannigfachen Erscheinungsformen verstanden wird (165). Gleichzeitig bezeichnet der Wille zur Macht aber auch den Prozess des Zerfließens und der Selbstauflösung seiner Erscheinungsformen, so dass die Natur insgesamt den Charakter einer zwischen Produktivität und Selbstzerstörung schwankenden Ambivalenz annimmt (183). Für Nietzsche ist nicht nur die Natur, sondern auch die menschliche Bezugnahme auf sie zutiefst mehrdeutig. W e n n die W e l t des Willens zur Macht gleichzeitig Zustände des Zerfließens und des Geformtseins umfasst, dann bedeutet die positive Bezugnahme auf den Zustand des Zerfließens ein dionysisches Ja zur W e l t des Willens zur Macht. Die Bejahung bestimmter Formen des Willens zur Macht hingegen verneint die W e l t des Werdens und evoziert so ihr gegenüber den Geist der Rache und des Ressentiments (243). U m mit dieser Ambivalenz menschlicher Einstellungen zur Natur zurechtzukommen, entwickelt Nietzsche seine Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. In ihr geht es nicht um naturwissenschaftlich-kosmologische oder ethisch-anthropologische Reflexionen, sondern um die Vision einer dionysischen Natur, in der die W e l t wie ein Gott erscheint, der gleichzeitig dem Gesetz ewiger Selbsterschaffung und Selbstzerstörung unterliegt (301). Nietzsches Philosophie ist reflexive Kosmologie, die im Blick auf gegensätzliche menschliche Erfahrungsmöglichkeiten die gesamte W e l t des Lebendigen als Realität der Ambivalenz erschließt 416 . 416

Für eine anders akzentuierte inhaltliche Deutung der nietzscheschen Philosophie, die sich primär am praktischen Problem der Wertsetzung orientiert, vgl. Edgar E. Sleinis, Nietzsche's Revaluation of Values. A Study in Strategies, Urbana/Chicago 1994.

192

III Nietzsche in der angelsächsischen W e l t

2. Wiederaufnahmen der epistemologischen Nietzsche-Deutung: Der systematisch-gegenwartsbezogene Ansatz von Maudemarie Clark und der historisch-systematische von George J. Stack Für Schacht und Moles gilt Nietzsche als Reformator der metaphysisch-kosmologischen Tradition, insofern er im Willen zur Macht eine Form elementarer Prozessualität der Natur zu denken versucht 417 , die zugleich eine praktische, anthropologisch, aber auch kulturkritisch präzisierbare Dimension enthält. Beide Autoren halten sich an den Deutungsrahmen von Walter Kaufmann, der in methodischer Hinsicht letztlich auf Martin Heideggers Interpretation der nietzscheschen Philosophie als Endgestalt der Metaphysik zurückgeht. Einen anderen Weg zu einer theoretischen Vereindeutigung des nietzscheschen Denkens geht die amerikanische Philosophin Maudemarie Clark418. Sie betrachtet Nietzsche primär aus der Perspektive epistemologischer Reflexionen. Insofern nimmt sie Überlegungen von Danto, Wilcox, Grimm und Magnus wieder auf, führt sie aber so weiter, dass sie damit eine Kritik am Nietzsche-Bild der Dekonstruktion verbinden kann 419 . Die dekonstruktionistische Lektüre legt Nietzsche zu einseitig auf eine Wahrheitstheorie fest, die er nur im Frühwerk, insbesondere in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne vertreten, später aber im Konzept des Perspektivismus überwunden habe 420 . Nietzsches frühe Konzeption scheitert am Paradoxon der Selbstreferenz, 417 418 419

420

Vgl. dafür auch die Hinweise auf David Farrel Krell im vorliegenden Buch, S. 173f. Maudemarie Clark, Nietzsche on Truth and Philosophy, Cambridge (Mass.) 1990. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Aufsätze von Maudemarie Clark, Nietzsche's Perspectivist Rhetoric. International Studies in Philosophy 18 (1986), 35—43, dies., Deconstructing ,The Birth of Tragedy'. International Studies in Philosophy 19 (1987), 6 7 - 7 5 , u n d dies., Language and Deconstruction. Nietzsche, de M a n , and Postmodernism. Koelb (Hg.), Nietzsche as Postmodernist (1990), 7 5 - 9 0 . Bei der Darstellung des inneren Wandels der erkenntnistheoretischen Position Nietzsches spielt der zuerst von D a n t o ins Spiel gebrachte Begriff der Korrespondenztheorie der Wahrheit eine wichtige Rolle. Der frühe Nietzsche arbeitet aus argumentationsstrategischen G r ü n d e n mit einer strengen Fassung des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs, u m seine Voraussetzung zu destruieren. „Wahrheit" wäre die direkte Repräsentation gegenständlicher Eigenschaften durch sprachliche Zeichen. V o n Schopenhauer ü b e r n i m m t Nietzsche die These, dass sprachliche Zeichen als Transpositionen von „Vorstellungen" auf die Ebene von Laut u n d Schrift zu verstehen sind, wobei bereits diese „Vorstellungen" nicht als referenzielle Repräsentanten von „Dingen an sich" fungieren. Die Differenz zwischen Wissen u n d Gegenstand wird durch die Bindung des Wissens an das Zeichensystem der Sprache so verschärft, dass Wissen u n d Gegenstände miteinander nicht korrespondieren können. Mit der These von der schopenhauerschen Vorgabe für die frühe erkenntnistheoretische Position Nietzsches wendet sich Clark gegen George J. Stack, Lange and Nietzsche B e r l i n / N e w York 1983, der Nietzsches frühe Erkenntnistheorie hauptsächlich von der frühneukantianischen Position Friedrich Albert Langes beeinflusst sieht (79). Z u m T h e m a des Wandels von Nietzsches erkenntnistheoretischer Position vgl. auch Alan D . Schrift, Nietzsche and the Question of Interpretation (1990), 123ff., der zwar auch auf den Einfluss Schopenhauers fur die frühe Position Nietzsches verweist (125), aber den Wandel Nietzsches im Gegensatz zu Clark als Ubergang von einem „representational model of language toward a rhetorical model" interpretiert (130). V o n daher geht es Nietzsche nicht u m „epistemology", sondern u m ein Konzept rhetorischer Kritik als „¿¿-construction" (131). Auch in dieser Detailfrage des inneren Wandels der

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weil er mit dem Anspruch auf eine nur korrespondenztheoretisch interpretierbare Wahrheit behauptet, dass es eine korrespondenztheoretisch fundierte Wahrheit nicht geben kann. Aus der Unmöglichkeit, das Dilemma selbstbezüglicher Inkonsistenz mit logischen Mitteln zu lösen, zieht die dekonstruktionistische Position, von Maudemarie Clark als epistemologische „Linke" deklariert (2), den leichtfertigen Schluss, dass bereits Nietzsche für die Befreiung des Intellekts von den Lasten der Theorie- und Wahrheitsbegründung eingetreten sei und damit die Umformung der referenziell ambitionierten Aktivität des Wissens in ein lustvolles Spiel mit selbstreferenziellen Signifikanten vorweggenommen habe. In Wirklichkeit aber hat Nietzsche seine frühe Destruktion des Wahrheitsbegriffs nachhaltiger Kritik unterzogen. Dabei erreicht er in Jenseits von Gut und Böse eine Position, die als Theorie des Perspektivismus dem Dilemma der Selbstreferenz entgeht 421 . Die Konzeption des Perspektivismus übernimmt die frühe Kritik am korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff, ohne dadurch die menschliche Erkenntnisfähigkeit vollständig zugunsten von Kunst und Fiktionalität abzuwerten. Die Tätigkeit des Erkennens gilt jetzt vielmehr als ein holistischer Prozess Wahrheitsfindung, innerhalb dessen mannigfaltige, heterogene, stets revidierbare Wahrheitsansprüche auf kontextueller Basis gerechtfertigt werden können (130f). Die verschiedenen erkenntniserschließenden Perspektiven können zwar nicht zu einer Zentralperspektive zusammengefasst und von ihr aus hierarchisch eindeutig geordnet werden. Dennoch lässt sich die Bevorzugung bestimmter Perspektiven gegenüber anderen durch

nietzscheschen Erkenntnistheorie' wird die gesamte Spannbreite möglicher Nietzsche-Deutungen erkennbar, die für die angelsächsisch-amerikanische Diskussion bezeichnend ist. Anders als Clark interpretiert Glen T . Martin, From Nietzsche to Wittgenstein. T h e Problem of T r u t h and Nihilism in the M o d e r n World, N e w Y o r k / B e r n / F r a n k f u r t am Main/Paris 1989, Nietzsche als den Diagnostiker des Nihilismus, aus dem allerdings nicht Nietzsche selber, sondern erst Wittgenstein einen überzeugenden Ausweg gefunden haben soll. Martins D e u t u n g setzt allerdings gegen Nietzsche voraus, dass „Nihilimus" eher ein erkenntnistheoretisches als ein Kulturproblem darstellt. 421

In der Debatte über Nietzsches Epistemologie setzt sich allgemein die Uberzeugung durch, dass Nietzsches Konzept des Perspektivismus dem Paradox der Selbstreferenz entgehen kann. Vgl. dazu Willard Mittelman, Perspectivism, Becoming, and T r u t h in Nietzsche. International Studies in Philosophy 16 (1984), 3 - 2 2 , der sich ausführlich mit Schacht, Wilcox, Nehamas u n d anderen auseinandersetzt, u n d Tracy Burr Strong, Texts and Pretexts. Reflections on Perspectivism in Nietzsche. Political Theory 13 (1985), 164-182, jetzt auch Conway (Hg.), Nietzsche (1998), IV, 340—355, der sich vor allem mit Alexander Nehamas, I m m a n e n t and Transcendent Perspectivism in Nietzsche. Nietzsche-Studien 12 (1983), 4 7 3 - 4 9 0 , auseinandersetzt. Maudemarie Clark antizipiert die Ausführungen ihres Buches in ihrem Beitrag Nietzsche's Perspectivist Rhetoric. International Studies in Philosophy 18 (1986), 3 5 - 4 0 . Für eine Alternative zu Clarks Interpretation der erkenntnistheoretischen Position Nietzsches vgl. Peter Poellner, Nietzsche and Metaphysics, Oxford 1995. Der Autor konfrontiert Nietzsche noch intensiver, als dies bei Maudemarie Clark geschieht, mit epistemologisch-ontologischen Debatten der Gegenwart. Dabei arbeitet er eine prinzipielle Spannung zwischen Nietzsches metaphysikkritischem Anti-Essenzialismus („Scepticism Generalized", 57fif.) u n d seiner Lehre vom Willen zur Macht heraus, die durch eine im Wesentlichen als psychologisch u n d evolutionär charakterisierbare Erkenntnistheorie nicht überbrückt werden könne.

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III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

die Inanspruchnahme einer minimalisierten, nicht metaphysisch aufgeladenen, sondern vom Bewusstsein des common-sense getragenen Korrespondenztheorie begründen. Sie besagt, dass die Welt unabhängig von unseren Vorstellungen existiert und dass die Vorstellungen von ihr als wahr gelten können, die mit den bestmöglichen Standards für menschliches Wissen übereinstimmen. Clark bezieht dieses Konzept einer anti-realistischen Korrespondenztheorie zum einen auf die Erkenntniskritik Kants. Seine Unterscheidung zwischen Ding-an-sich und Erscheinung distanziert sich vom Gedanken einer Entsprechung zwischen Wissen und Ding-an-sich und findet dadurch die Basis für ein Konzept des Wissens als Entsprechung zu phänomenaler Wirklichkeit (56). Z u m anderen verweist sie auf die gegenwärtige, hauptsächlich zwischen Putnam und Rorty verhandelte Diskussion über das angemessene Verständnis einer anti-realistischen Erkenntnistheorie und Ontologie 422 . Im Blick auf diese Debatte erscheint die Erkenntnistheorie des nietzscheschen Perspektivismus eine besonders gut fundierte Variante des Anti-Realismus zu enthalten (48ff.). Für Nietzsche sind Theorien über Gegenstände der Erfahrung nicht in einem referenziellen oder verifikationistischen Sinne „wahr" oder „falsch", sondern sie gewinnen ihre Wahrheitskriterien ausschließlich im Blick auf die besten Standards menschlicher Erkenntnismöglichkeiten und -interessen. Er vertritt damit, ähnlich wie Hilary Putnam in seinem Konzept des internen Realismus eine skepsisresistente Theorie des Wissens, die Kants Kritik am Cartesianismus, an der dogmatischen Metaphysik und am Empirismus verinnerlicht hat. Nietzsches Philosophie ist anschlussfähig für eine Theorie des Wissens, die am Begriff der Wahrheit festhält, ihre Kriterien jedoch nicht in der Reflexion auf die konkrete Tätigkeit des Wissens, sondern im Blick auf ideale Standards rationaler Akzeptanz gewinnt, an denen sich die konkreten Prozesse menschlicher Wahrheitsfindung in normativer Hinsicht orientieren können. Wissen bedeutet die potenziell unabschließbare Aktivität einer auf hohem Niveau methodologisch standardisierten Wahrheitssuche. Ihre Tätigkeit zerbricht weder am Gegensatz zwischen „Wissen" und „Wirklichkeit" noch an demjenigen zwischen ihrem prinzipiellen Begehren und ihrem aktualisierbaren Können, sondern sie entfaltet in der positiven Anerkennung dieser Differenzen erst das Optimum ihrer eigenen Dynamik. Maudemarie Clark beschränkt sich nicht auf den vielleicht als unangemessen künstlich erscheinenden Versuch, Nietzsches epistemologische Position aus der Perspektive gegenwärtiger Debatten zu rekonstruieren. Vielmehr fungiert diese Klärung als Basis für ein umfassendes Verständnis seiner Philosophie. Maudemarie Clark arbeitet dafür den Zusammenhang zwischen den für Nietzsche konstitutiven epistemologischen Standards und den von ihm propagierten ethisch-praktischen Normen heraus. Clark versteht Nietzsches Perspektivismus anders als Nehamas 422

Die Autorin orientiert sich hauptsächlich an Hilary Putnam, Reason, Truth and History. Cambridge 1981, und Richard Rorty, Consequences of Pragmatism, Minneapolis 1982.

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nicht als Apologie des erkenntnistheoretischen Pluralismus 4 2 3 , der in letzter Konsequenz auf eine ästhetisch-politische (P. Feyerabend), eine gemäßigt rhetorische Theorie des Wissens (Thomas S. Kuhn) oder auf eine Apologie des in sich ambivalenten Spiels der Dekonstruktion (de M a n , Derrida) hinausliefe. Ebenso wenig akzeptiert sie Vereindeutigungen eines als essenziell aufgefassten Perspektivismus, wie sie Bernd Magnus 4 2 4 oder Richard Schacht vorgeschlagen haben. Der Perspektivismus ist für Maudemarie Clark die metaphorische Präsentation einer antirealistischen Theorie des Wissens. Er formuliert gleichsam eine rhetorische Devise, die den Leser auffordert, die im Frühwerk artikulierte radikale Abwertung des menschlichen Wissens durch den Nachvollzug der das Spätwerk prägenden Kritik asketischer Ideale zu relativieren. Dabei kommt der Figur Zarathustras eine besondere Bedeutung zu, weil sie zeigt, dass und wie das asketische Ideal der Lebensverneinung durch das Gegenideal dionysischer Lebensaffirmation ersetzt werden kann. Der W i l l e zur Wahrheit war ursprünglich mit dem Ideal der Verneinung von Leben und Werden verbunden. Er zeigte sich deshalb als W i l l e zur Regularität, der sich als Gestalt der Wahrheit ausgab, um das an sich selbst irreguläre Leben vor der Auflösung seiner selbst zu schützen. In der Bindung an die praktische Intention der Selbsterhaltung entfaltet der W i l l e zur W a h r h e i t ausschließlich nihilistische Potenziale. Indem er sich kritisch auf die Normen seiner Wahrheit (Zeitfreiheit, Absolutheit, Allgemeinheit, universale Begründbarkeit) zurückwendet, erkennt er, dass sie auf einem W i l l e n zur Macht beruhen und, vice versa, dass jede Norm, die sich referenziell auf die Instanz des Lebens selbst bezöge, der Aufgabe seiner Regulierung nicht gewachsen wäre. Nietzsches Gegenprogramm zum epistemischen Nihilismus besteht in der Entkoppelung des Willens zur Wahrheit vom asketischen Ideal der Daseinsverneinung und in seiner dadurch möglichen Anbindung an den lebensbejahenden Willen zur Macht. Die Lehre vom Willen zur Macht lässt sich als Konstruktion einer W e l t aus der Perspektive des von Nietzsche vertretenen anti-asketischen Ideals der Lebenssteigerung verstehen 423 . Auch die Lehre von der 423

424

425

Nehamas, Immanent and Transcendent Perspectivism in Nietzsche. Nietzsche-Studien 12 (1983), 473-490. Vgl. Bernd Magnus, Nietzsche's Mitigated Scepticism. Nietzsche-Studien 9 (1980), und die Ausführungen im vorliegenden Buch S. 165ff. Daneben fungiert der Wille zur Macht als Sekundärbegriff einer Triebpsychologie, die zeigt, wie der Wille zur Macht in die Abhängigkeit von anderen Trieben geraten und wie er sich aus dieser Abhängigkeit wieder befreien kann. Analog unterscheidet Maudemarie Clark auch schon in ihrem Beitrag: Nietzsche's Doctrines of the Will to Power. Nietzsche-Studien 0 ( 1 9 8 3 ) ,458-468, zwischen der Lehre vom Willen zur Macht als „selbstbewusstem Mythos, der kein Wissen über die Welt bereitstellen will", und einer „zweiten, psychologischen Lehre vom Willen zur Macht, von der Nietzsche glaubt, dass sie uns ein solches Wissen gibt" (ebd., 458). In ihrer Nietzschemonographie von 1990 gibt sich die Autorin zwar alle Mühe, die eigene Deutung des Willens zur Macht als reflexivem Mythos von ähnlichen Interpretationen bei Magnus und Nehamas zu unterscheiden. Dennoch trifft John T. Wilcox, Comment on Paper by Maudemarie Clark „Nietzsche s Doctrines of the Will to Power". Nietzsche-Studien 12 (1983), 469-472, einen wunden Punkt, wenn er ihre Deutung des Willens zur Macht in methodologischer Hinsicht genauer geklärt wissen möchte.

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ewigen Wiederkunft des Gleichen umschreibt das praktische Ideal uneingeschränkter Lebensbejahung. Die Überlegenheit der nietzscheschen Wissens-Perspektive auf Wirklichkeit beruht also letztlich auf einer gewollten und durch Wissen verstärkten „Bejahung des Lebens" (274), so dass im Kern seiner Philosophie epistemische und praktische Interessen ununterscheidbar miteinander verbunden sind. Nietzsche will zur Verwirklichung eines vollkommenen, jenseits von Gut und Böse geführten Lebens beitragen, das in der Steigerung seiner eigenen Intensität den Nihlismus einschließlich der mit ihm verbundenen Abwertungen des endlichen Daseins und des perspektivischen Wissens verhindert. Eine methodische Alternative zu dem bei Danto, Grimm und Clark unternommenen Versuch, einen theoretisch präzisen W e g zu Nietzsche über Positionen der gegenwärtigen epistemologischen Diskussionen zu finden, besteht darin, das Verfahren von Breazeale wieder aufzunehmen und Nietzsches Reflexionen zu ,Wissen' und ,Wahrheit' aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts zu lesen. Dass dieses Bemühen nicht auf einen bloßen Historismus hinauslaufen muss, zeigt exemplarisch George J. Stack. Seine erste Nietzsche-Monographie macht deutlich, dass Nietzsches Begriff des Wissens offensichtlich nachhaltig von der Kant-Interpretation Friedrich Albert Langes beeinflusst ist, der die Kategorien und Anschauungsformen des Denkens nicht mehr als apriorische Gegebenheiten, sondern in einer für den Neukantianismus insgesamt prägenden Weise als Resultate lebensdienlicher Fiktionen aufgefasst hat 426 . Diese Deutung gibt den methodischen Rahmen vor, innerhalb dessen Nietzsche seine Kritik an Kants erkenntnistheoretischer Position formuliert und über sie zu seiner eigenen Konzeption des fiktional fundierten Wissens gefunden hat 4 2 7 . Nietzsches Position bildet für Stack ein Amalgam aus anthropologischen Ansätzen Kants, dem neukantianischem Fiktionalismus und der Evolutionstheorie Darwins. Bei Lange beeindruckt ihn besonders die Kritik an den Begriffen nicht-relationaler Einheit und des in sich einheitlichen Selbst. Nietzsche geht über seine Vorgaben jedoch dadurch hinaus, dass er den Erfolg moderner

426

427

George J. Stack, Lange and Nietzsche, Berlin/New York 1983. M i : diesem Ansatz orientiert sich Stack an der neu-kantianischen Nietzsche-Interpretation von Hans Vaihinger, Nietzsche als Philosoph, Berlin 1902. Friedrich Albert Lange (1828-1875) ist der Autor einer im 19. Jahrhundert einflussreichen, auch von Nietzsche gelesenen und ausführlich exzerpierten Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866, 2. Auflage 1873/1875), Neudruck Frankfurt am Main 1974 in zwei Bänden. Das zweite Buch („Geschichte des Materialismus seit Kant") enthält die von Nietzsche rezipierte Darstellung der kantischen Erkenntnistheorie (Frankfurt am Main 1974, II, 453-511). Vgl. dazu auch Daniel Breazeale, Lange, Nietzsche, and Stack. The Question of ,Influence'. International Studies in Philosophy 21 (1989), 91-103. Für Nietzsches Beziehung zu Lange sind außerdem die folgenden Studien von Jörg Salaquarda heran zu ziehen: Nietzsche und Lange. Nietzsche-Studien 7 (1978), 236-248, und ders., Der Standpunkt des Ideals bei Lange und Nietzsche. Studi Tedeschi 29 (1979), 133-160.

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Wissenschaftlichkeit als das Resultat eines Konflikts zwischen zwei gegensätzlichen Tendenzen der Wirklichkeitswahrnehmung auffasst428. Die erste besteht in der Intention einer prinzipiellen Entzauberung der Welt, die zweite in der Möglichkeit einer ästhetischen Neuschaffung von Werten. Nietzsche versucht eine Lösung dieses Dilemmas im Konzept des Willens zur Macht, indem er diese beiden Tendenzen moderner Wirklichkeitswahrnehmung als unterschiedliche Realisierungen des Willens zur Macht interpretiert. Dabei kommt der Schaffung neuer ästhetisch-philosophischer Werte insofern ein Vorrang zu, als sie den Willen zur Entzauberung der Welt in sich integrieren kann, während dieser außerstande bleibt, Werte zu schaffen. Die Steigerung des menschlichen Selbstgefühls im Willen zur Macht ist deshalb an die Realisierung der ästhetisch-kreativen Tendenz neuzeitlicher Wirklichkeitswahrnehmung gebunden. Bei seiner Nietzsche-Interpretation konzentriert sich Stack auf wenige, aber zentrale Aspekte seiner Philosophie, wobei neben dem Wissensbegriff das Konzept des Anthropomorphismus und sein dynamisch-energetischer Naturbegriff eine wichtige Rolle spielen. Stack versteht Nietzsches Kritik an Wissensbegriffen platonischer oder kantischer Provenienz als Explikation einer destruktiven und zugleich konstruktiven Intention. Die früh, vor allem in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ausgesprochene Einsicht in die Unmöglichkeit einer methodisch oder intuitiv zugänglichen Einsicht in den Grund aller Wirklichkeit motiviert eine Theorie vom durchgängigen Anthropomorphismus des menschlichen Weltverhältnisses 429 . Er artikuliert sie besonders in seiner von Lange und Emerson beeinflussten Deutung der Sprache als eines Instrumentariums menschlicher Daseinssicherung und in seinem Konzept des Perspektivismus. Stack legt Wert darauf, dass der Perspektivismus nicht nur wie bei den Befürworten des „neuen Nietzsche" der Dekonstruktion als Favorisierung eines ästhetisch-produktiven Wirklichkeitsverhältnisses und des metaphorischen Ausdrucks wahrgenom-

428

429

George J. Stack, Kant, Lange, and Nietzsche. Ansell-Pearson (Hg.), Nietzsche and the Modern German Thought (1991), 47. Man kann diesen Aufsatz (aaO., 30-58) als Zusammenfassung der Monographie von 1983 lesen. Vgl. dazu auch Claudia Crawford, The Beginnings of Nietzsche's Theory of Language, Berlin/New York 1988. Für eine eher ästhetizistische Deutung der Erkenntnistheorie Nietzsches, in der das Wissen als Form lebensförderlicher Kreativität gegenüber anderen kreativitätsvergessenen Deutungen des Wissens ausgezeichnet wird, vgl. Babette E. Babich, Nietzsche's Philosophy of Science. Reflecting Science on the Ground of Art and Life, Albany 1994. Nietzsches Interpretation des Wissens ist für Babich eine „perspektivische Ästhetik der Wahrheit" (227ff.), die in einer dionysischen Philosophie des Lebens fundiert ist. Demgegenüber ist Julian Young, Nietzsche 's Philosophy of Art, Cambridge/New York 1992 nicht am Verhältnis von Kunst und Wissen, sondern an einer Gesamtinterpretation der nietzscheschen Philosophie der Kunst im engeren Sinn (mit beständigem Seitenblick auf Schopenhauer) und an der Klärung ihres Beitrags zu einer umfassenden Philosophie dionysischer Lebensbejahung interessiert, von der aus Nietzsche jedoch am Ende seines Lebens {Ecce Homo) in die Position des schopenhauerschen Pessimismus zurückgefallen sein soll.

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men wird. Seine Deutung des Wissens als eines dynamischen, ausschließlich selbstreferenziell verlaufenden Prozesses der Umwandlung vorgegebener Daten in kontextabhängige Wahrheiten verweist vielmehr auch auf erkenntnistheoretische Grundlagendiskussionen der fortgeschrittensten Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Dies sind vor allem die Diskussionen über Tendenzen zu einem instrumentalen Fiktionalismus innerhalb der dynamischen Physik und in der biologischen Theorie des organischen Lebens und die Debatten über Darwins Theorie der natürlichen Evolution. Nietzsche dramatisiert diese Vorgaben, indem er sie zu einem Konzept des Wissens umformt, das die These Thomas Kuhns von der fiktionalistisch-rhetorischen Fundierung wissenschaftlicher Interpretationsparadigmata vorwegnimmt. Sie werden dabei dem Konzept einer „Umwertung aller Werte" zugeordnet, das Stack wegen seiner kulturellen und politischen Bedeutung explizit aus seiner primär am Thema des Wissens orientierten Nietzsche-Interpretation ausklammert. Ihm gelingt jedoch ein verstehender Zugang auch zu den Lehren vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, indem er sie als Ausdruck einer mythischen Potenz im Denken Nietzsches deutet. Nietzsche entwirft reflexive Mythen, die nicht in ein unmittelbar mythisch oder metaphysisch geformtes Denken zurückfallen, sondern die das essenziell anthropomorphe Bild von „Wirklichkeit" explizieren, das seine Philosophie insgesamt charakterisiert und das seinen unmythischen Ausdruck in seiner Theorie des Wissens als eines praktisch-perspektivischen Prozesses der Interpretation von Wirklichkeit findet. In methodischer Hinsicht ist Stack ähnlich wie Mazzino Montinari daran interessiert, das mythische Trugbild von Nietzsche als einsamem Genie dadurch zu zerstören, dass er dessen Denken in der Geschichte des 19. Jahrhunderts verortet 430 . Das geschieht nicht ausschließlich durch Rekonstruktion von Quellen oder Konstatierung von Einflüssen, sondern in der Bestimmung von Anstößen, die Nietzsche produktiv aufgenommen und zu einer Philosophie emphatischer Existenz erweitert hat. Diese methodische Einstellung bestimmt auch Stacks Buch über Nietzsche und Ralph Waldo Emerson, dem wohl bedeutendsten Vertreter des amerikanischen „Transcendentalism" 431 . Mit bewundernswerter Präzision wird dessen Einfluss auf Nietzsche nachgezeichnet. Er kommt besonders im Konzept des dionysischen Pessimismus und in einem Verständnis der Natur zum Ausdruck, das Nietzsche im Kontext einer „philosophy ... of fluxion and mobility" gewinnt (IX), die Emerson schon bei dem ebenfalls von Nietzsche bewunderten Montaigne vorgefunden hat. Der Einfluss Emersons betrifft ferner Verfahren der sprachlichen Darstellung und die Selbststilisierung zu einem „gefährlichen Denker". Wie Emerson versteht sich Nietzsche als experimenteller Theoretiker der menschlich-

430 431

Vgl. dazu im vodiegenden Band S. llOf. George J. Stack, Nietzsche and Emerson. An Elective Affinity, Athen 1992.

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paradoxen Existenz, der sich in seinem Denken, Empfinden und Schreiben so intensiv wie möglich mit dem dionysischen Strom des Lebens verbinden will. Nietzsche ist natürlich nicht einfach das europäische Sprachrohr des Amerikaners Emerson, sondern er bezieht sich auf die genannten Motive seines Denkens wiederum nach dem für ihn so charakteristischen Muster von Übernahme und dramatisch-existenzieller Transposition, der auch Nietzsches Bezug auf die griechische Tragödie, die Philosophie der Vorsokratiker, insbesondere auf Heraklit und Empedokles, aber auch auf Autoren des 19. Jahrhunderts wie Lange, Schopenhauer, Wagner oder Eugen Dühring zugrunde liegt 432 .

3. Nietzsches Philosophie als Alternative zu einem epistemologischen Begriff von Wahrheit und Wissen Randall Havas und Ted Sadler Eine Sonderstellung in der Diskussion über Nietzsches Begriff des Wissens nehmen die Arbeiten von Randall Havas und Ted Sadler ein. Randall Havas behandelt das Thema nicht epistemologisch, sondern verbindet es unter dem Stichwort „commitment to truthfulness" unmittelbar mit Nietzsches normativem Kulturbegriff 4 3 3 . Die Ausgangspunkte seiner Untersuchung sind Nietzsches Begriff tragischer Kultur und seine Deutung der Figur des Sokrates, der sich mit seinem Begriff des rational begründeten Wissens aus dem Kontext tragischer Kultur entfernt. Der sokratische Begriff von Rationalität erzeugt eine kritische Distanz zwischen Philosophie und Gesellschaft, während das Wissen der tragischen Kultur affirmativ auf die Gegebenheiten des gesellschaftlichen und des natürlichen Lebens bezogen war. Im tragischen Wissen gilt das Leben als Inbegriff einer dem Individuum vorgegebenen Bedeutungsfülle, während Sokrates sich instinktiv jeder sozial vorgegebenen Dimension von Sinnhaftigkeit widersetzt und ihr als Individuum kritisch mit einem Verlangen nach rationaler Rechtfertigung entgegentritt. In seiner Kritik an der Figur des Sokrates setzt Nietzsche selber einen Begriff des Wissens als einer Unterordnung unter die „ordinary conditions" des Lebens voraus (14) und damit zugleich einen normativen Begriff von Kultur als einer Autorität, die keinen Raum lässt für das Bemühen, die soziale oder natürliche Welt nach Maßgabe einer ihr gegenüber externen N o r m von Rationalität umzuformen. Die

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433

Für das T h e m a Nietzsche — Emerson sei ferner verwiesen auf Stanley Cavell, Aversive Thinking. Emersonian Representations in Heidegger and Nietzsche. Conditions Handsome and Unhandsome. T h e Constitution of Emersonian Perfectionism, Chicago 1990, 3 3 - 6 3 , der sich auf den Schopenhauer-Essay aus den Unzeitgemäßen Betrachtungen konzentriert. Für eine mehr einführend-informierende Gesamtdarstellung der nietzscheschen Philosophie aus ihrem historischen Kontext vgl. Robert C. H o l u b , Friedrich Nietzsche, N e w York etc. 1995. Randall Havas, Nietzsche's Genealogy. Nihilism and the Will to Knowledge, I t h a c a / L o n d o n 1995.

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Differenz zwischen tragischem und sokratischem Wissen wird von Nietzsche als Differenz instinktiver Reaktionen auf die ebenfalls instinktiv gegebene Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit verstanden, durch die sich das menschliche von anderen Formen des Lebens unterscheidet. In der Moderne dominiert die sokratische Interpretation der Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit. Gegen sie will Nietzsche das tragische Selbstverständnis des Willens zur Wahrheit geltend machen, und zwar im Rahmen seiner genealogischen Kritik. In ihr wird die verdrängte Geschichte seiner historischen Konditionierung so wiedererinnert, dass die tragisch konnotierte Grundform des Wissens erkennbar wird, nämlich eine Kulturform des Gehorsams gegenüber Vorgaben von Bedeutsamkeit, ohne die menschliches Leben auf der Ebene sozialer Verständigung nicht gelingen kann. Havas unterstreicht seine Interpretationen zum Begriff des Wissens als einer Form der Anerkennung vorgegebener Bedeutsamkeit durch besondere Hinweise auf Nietzsches normativen Begriff der Sprache als sozialer Form des Versprechens und der Vertragsamkeit („contractual relationship", 204), die sich als gehaltvolle, transindividuell bedeutsame Rede („speech") von bloßer Information oder oberflächlichem Gerede („talk") unterscheidet. Die moderne Gesellschaft ist unter dem Einfluss der sokratischen und christlichen Einstellung zum anthropologischen Radikal des „commitment of truthfulness" zu einer derartigen Sprache nicht mehr fähig. Das soziale Leben hat deshalb die Form eines Herdenlebens angenommen mit der Folge, dass die Kompetenz gehaltvollen Sprechens nur noch dem souveränen Individuum insofern zuerkannt werden kann, als es von der Herde unabhängig geworden ist. Souveräne Individualität zeigt sich für Nietzsche in der Einstellung zum Wissen vom Tode Gottes, das mit analytischer Notwendigkeit aus der Einsicht in die essenziell nihilistische Verfassung der modernen Kultur hervorgeht. Das souveräne Individuum tritt der nihilistischen Kultur und ihrer Indifferenz gegenüber der tragischen Verpflichtung zur Wahrheit in der Haltung kritischer Distanz entgegen. Nietzsche hat seine Schriften, vor allem seine Genealogie der Moral, so konzipiert, dass von ihnen aus die Distanz zwischen souveräner Individualität und der Herdengesellschaft als überbrückbar erscheinen kann. Dies setzt jedoch voraus, dass das souveräne Individuum dem Willen zur Wahrhaftigkeit nicht mehr im Sinne einer unkonditionierten Verpflichtung nachgeht, sondern sich darauf beschränkt, die Hypothesen seines Wissens auf die Welt des Werdens zu beziehen (Perspektivismus). Es verwirklicht darin eine nicht-moralische Version des Willens zur Wahrheit, die aus sich heraus die Einstellung des „amor fati", also der Bejahung einer dem Wissen im sokratisch-modernen Sinn radikal überlegenen Bedeutungsfülle entwickelt. Im kritischen Umgang mit der Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit bildet sich die einzige Form bedeutungsvoller „Gemeinschaftlichkeit" heraus, die unter den Bedingungen der Gegenwart möglich ist: die Gemeinschaft derjenigen, die durch genealogisches Wissen wieder zum Gehorsam gegenüber der Bedeutungsfülle des Lebens fähig geworden sind.

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Das Stichwort „Wahrheit" steht auch im Zentrum der Nietzsche-Interpretation von Ted Sadler'1"'. Hier gilt Nietzsche als Vertreter einer „absolutistischen Konzeption von Philosophie und philosophischer Wahrheit" (6), die nichts Geringeres als eine „Erlösung" der Menschheit bewirken will. Die Menschen leben für Nietzsche im Zustand der Verlorenheit, solange sie im Zeitalter des Nihilismus dem Anspruch der Wahrheit auf den höchsten Wert des Lebens nicht gerecht werden können. Durch einen mühsamen, vor allem im Konzept der Genealogie gebahnten und nachgezeichneten Weg des Leidens an minderen Formen der Wahrheit und ihrer Uberwindung durch Annäherungen an ihre uneingeschränkte Macht wird die Menschheit in einen Zustand der Freude und des Segens versetzt. Nietzsche folgt im Denken der Wahrheit als höchstem Orientierungspunkt des Lebens einem soteriologischen Schema. In der Orientierung an Schopenhauers Kant-Kritik versteht er das Problem der Wahrheit weder als ein erkenntnistheoretisches noch als moralisches Problem, sondern als Frage nach der Fähigkeit zu einer „ursprünglichen Beziehung zur Wirklichkeit" („original orientation to reality"). Sie liegt jeder konkreten Form des Wissens und jeder positiven Moral als die Bedingung ihrer Möglichkeit voraus, was zur Folge hat, dass sie auf der Ebene der Sätze des Wissens oder der Gesetze einer Moral nicht im Modus wahrnehmbarer Deutlichkeit auftreten kann. Der Begriff einer praktischen Wahrheit als Orientierungsfähigkeit an Wirklichkeit wird zum Maßstab für eine umfassende Typologisierung und Hierarchisierung des gesamten menschlichen Verhaltens. Dabei wird der affirmativen Einstellung gegenüber dem endlichen Dasein der höchste Rang zuerkannt, weil sich allein in ihr der „erlösende Charakter der Wahrhaftigkeit" verwirklichen kann (14). Für Sadler ist es eine Verzerrung der nietzscheschen Intention, wenn man seine Philosophie als die eines radikalen Perspektivismus oder als Theorie von der (politisch-pragmatischen) Interessenbedingtheit des Wissens und des menschlichen Verhaltens versteht. Perspektiven und Interessen bestimmen nur die untergeordneten Formen des theoretischen und empirischen Wissens, aber nicht die Wahrheit des Lebens selbst, die dem Menschen in einer perspektivisch unverkürzten Intuition entgegenkommt. Insofern steht das Wissen der Philosophie für Sadlers Nietzsche in einem diskontinuierlichen Verhältnis sowohl zum wissenschaftlichen als auch zum alltäglichen Erfahrungswissen. Nietzsches Denken ist Ausdruck der Sehnsucht nach einem Absoluten, das auch noch nach dem „Tode Gottes" Bestand haben kann. Insofern antizipiert Nietzsche das Denken Heideggers. Nietzsche und Heidegger verstehen die Philosophie nicht als Produzentin von Theorien, sondern als eine Form der Aufmerksamkeit gegenüber einem Sein, das von Menschen als eine ihnen selber radikal überlegene Macht erfahren wird. Bei Nietzsche steht für dieses Sein als einer „letzten Sphäre der Wahrheit jenseits des repräsentationalen

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Ted Sadler, Nietzsche. Truth and Redemption. Critique of the Postmodernist Nietzsche, London/Atlantic Highlands (N.J.) 1995.

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Wissens" (119) das Symbol des Dionysischen. Wenn man aus Heideggers Perspektive auf Nietzsche zurückblickt, so wird deutlich, dass er auf die Dimension des Dionysischen zweideutig reagiert hat. In Nietzsches Verwendung des DionysosSymbols zeigt sich einerseits die Sehnsucht nach einem Unendlichen, das die „Unendlichkeit" einer „causa prima" oder eines „transzendenten metaphysischen Seins" überschreitet. Insofern distanziert sich Sadler von der Bewertung Nietzsches als des letzten Metaphysikers und des Apologeten technischer Welteroberung bei Heidegger. Andererseits gibt er Heideggers Nietzsche-Deutung insoweit Recht, als er in den Begründungsformen der Lehren vom Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr verdinglichende Elemente, wie eine Tendenz zu wissenschaftlicher Hypothesenbildung (ewige Wiederkehr des Gleichen) oder zur Psychologisierung (Wille zur Macht) wahrnehmen will 435 . Für Sadler ist Nietzsches Denken jedoch auch in den Lehren seines Spätwerks primär von einem existenziell bedeutsamen Begriff unvordenklich-unverfügbarer Wahrheit geprägt, so dass sie sich für ihn der negativen Theologie und einer Form mystischer Religiosität nähert. Sadler opponiert mit dieser Deutung der Inthronisierung Nietzsches zum Stammvater postmoderner Philosophie. Nietzsches Philosophie ist als Metaphysik keine perspektivische Theorie der Wirklichkeit, sondern die Suche nach einer Instanz von Wahrheit, die aus menschlichen Perspektiven des Wissens und Könnens absolut unverfügbar ist436.

4. Die Entdeckung

der systematischen Gestalt der nietzscheschen John Richardson

Philosophie

Die methodisch strengste und weitreichendste Deutung des theoretischen Charakters der nietzscheschen Philosophie hat John Richardson zur Diskussion gestellt437. Er radikalisiert insbesondere die Interpretationen von Richard Schacht 435

436

437

Zu dieser Ambivalenz vgl. vor allem Sadler, Nietzsche (1995), 195, mit einem Hinweis auf die Ambivalenz zwischen existenzialer Analyse und ontologischer Formel in Bezug auf die ewige Wiederkehr und auf den Willen zur Macht. Dramatisch weniger aufgeladen ist der Versuch von Keith M. May (Nietzsche on the Struggle Between Knowledge and Wisdom, Houndsmill/Basingstoke/Hampshire/London 1993), Nietzsches philosophische Intention aus dem Motiv des Gegensatzes von Wissenschaft und (tragischer) Weisheit zu deuten und als den Versuch, die Dimension transszientifischer Weisheit unter den Bedingungen einer modernen Kultur des Wissens wiederzugewinnen. John Richardson, Nietzsche's System, Oxford/New York 1996. Für eine gegenüber Richardsons Lesart schwächere Lesart der nietzscheschen Philosophie als „System" in sich konsistenter Theorieansprüche vgl. James J. Winchester, Nietzsche 's Aesthetic Turn. Reading Nietzsche After Heidegger, Deleuze, and Derrida, Albany 1994. Der Autor interpretiert die systematischen Ansprüche Nietzsches unter dem Stichwort „aesthetic turn" und berücksichtigt dabei vor allem die Texte des Spätwerks, beginnend mit dem Zarathustra. Er sichert ihren Gehalt in genauen Auseinandersetzungen mit Heidegger, Derrida, Deleuze, Nehamas, Rorty und anderen im Ausgang von den aufeinander verweisenden Lehren vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr. Sie

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und Maudemarie Clark, indem er Nietzsche als den kritischen Reformator einer systematisch orientierten Metaphysik im platonisch-aristotelischen Sinne auffasst. Im Gegensatz zu Stanley Rosen, dessen politisch akzentuierte Deutung der nietzscheschen Philosophie als Piatonismus und Metaphysik bei Richardson außer Betracht bleibt 438 , versteht der Autor unter Metaphysik und so auch unter derjenigen Nietzsches eine systematische Ontologie, die in Form einer in sich konsistenten und wahrheitsfähigen Theorie die essenzielle Grundstruktur des Seienden verdeutlichen will. Richardson findet das Gesuchte in der Lehre vom Willen zur Macht, die als Theorie einer sich zeitlich entfaltenden und in verschiedener Weise realisierbaren Essenz des Seienden das gedankliche Zentrum der nietzscheschen Philosophie ausmacht. Sie bildet vor allem die Basis für eine Ethik, die dazu aufrufen will, das individuelle wie das soziale Leben bewusst nach den normativen Implikationen des Grundes aller Wirklichkeit zu gestalten, und in der die Realisierung dieser Aufgabe als Verwirklichung des höchsten Wertes verstanden wird, der im Kontext menschlichen Lebens erreicht werden kann. Richardson widerspricht offen der von ihm durchaus wahrgenommenen Selbstcharakterisierung der nietzscheschen Philosophie als Theorie des Perspektivismus, die als solche keine direkten ontologischen Ambitionen verfolgen kann, indem er ihre mögliche Unvollständigkeit herausstellt. Richardson will demgegenüber zeigen, dass sich in Nietzsches Philosophie Ontologie und Perspektivismus gegenseitig ergänzen, weil der Wille zur Macht einen Grund alles Seienden benennt, der als solcher nur in einer perspektivischen Reflexion als gegeben erkannt werden kann. U m diesen Gedanken plausibel zu machen, lässt der Autor das Perspektivismusproblem in seiner erkenntnistheoretischen Dimension zunächst auf sich beruhen, um stattdessen die inhaltlichen Aspekte der nietzscheschen „Ontologie der Macht" herauszustellen. Sie benennt eine in sich ambivalente Bewegung des Wachstums und der Selbstverstärkung, in der W i l l e und Macht verschiedene Formen annehmen können. Jedes M o m e n t der sich selbst differenzierenden Bewegung des Willens zur Macht bildet eine synthetische Einheit aus unterschiedlichen Kräften. Sie lassen sich mit Hilfe einer Typologie vereinheitlichen, die sich auf einer allgemeinen Ebene der binären Unterscheidung zwischen aktiver und passivreaktiver Kraft bedient und auf der besonderen Ebene durch eine triadische Typologie persönlicher und politischer Formen von Kraftäußerung angereichert wird,

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repräsentieren für ihn keine Form philosophischer Letztbegründung, sondern umschreiben den theoretischen Rahmen für das Verständnis der „notwendigen Fiktionen" (7), ohne die geformtes Leben nicht möglich ist. Zugleich lässt sich über diese Lehren ein Bewertungsmaßstab gewinnen (53, vgl. 67), der zeigt, dass die „minimalen Zwänge", die dem menschlichen Leben „Stil" verleihen, dem Vollzug des Lebens selber (als „selbst auferlegte Zwänge") entnommen sind (121). Leben wird so zu einer Form der Kreativität, die Verschiedenheit und Stilisierung so miteinander verbindet, dass in ihm eine moralische Norm der Toleranz gegenüber Heterogenem zum Ausdruck kommt. Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 274ff.

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nämlich durch die Unterscheidung von „Herr", „Sklave" und „Übermensch". Zwischen diesen drei psychosozialen Typen von Kraftäußerung lässt sich eine logische Ordnung herstellen, die dazu dient, die ihr vorgeordnete Dichotomie von Aktivität und Reaktivität durch diejenige von Einheit und Vielheit zu ergänzen. Die Willenssynthesis des Herrn hat die Form einer Einheit ohne eine ihr gegenüber selbständige Vielheit und zugleich diejenige einer Aktivität ohne Reaktivität. Diejenige des Sklaven ist demgegenüber durch die Dominanz selbständiger Vielheit über ihre Einheit und durch die Vorherrschaft der Reaktivität über die Macht der Aktivität charakterisiert, während die Willenssynthesis des Ubermenschen zwischen den genannten Polen der Kraft- und Willensäußerung eine in sich modifikationsfähige und vollständig beherrschte Balance herstellt. Der Logik, die Nietzsches Typologie von Macht- und Willensäußerungen zugrunde liegt, eignet zugleich ein zeitlicher Aspekt. Die drei psychosozialen Grundtypen „Herr", „Sklave" und „Übermensch" lassen sich nämlich zu einer zeitlichen Sequenz ordnen, die in der Vergangenheit mit dem Typus des Herrn beginnt und in einer noch ausstehenden Zukunft mit dem Typus des Ubermenschen endet. Unter dieser Voraussetzung wird das Zeitalter der Gegenwart vom sklavischen Typus der Machtäußerung bestimmt. Bei der Betrachtung der gekennzeichneten zeitlichen Sequenz wird zugleich deutlich, dass der Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart, also vom Zeitalter des Herrn zu demjenigen des Sklaven keineswegs einen bloßen Verfallsprozess, sondern zugleich einen Prozess interner Anreicherung von Einheit und Aktivität durch Mannigfaltigkeit und Reaktivität darstellt. Die in die Zukunft projizierte Epoche des Übermenschen ist deshalb keine Rückkehr zur zeitlich vergangenen Lebensform des Herrn, sondern sie bildet das Produkt aktiver Synthesis von Pluralität und Einheit, in der die qualitative Leistung sklavisch dominierter Kultur mit ihrem Interesse an Mannigfaltigkeit und in sich differenzierter, also reaktiv gebrochener Aktivität nicht nur erhalten bleibt, sondern durch ihre Unterordnung unter eine Kraft aktiver Einheit noch weiter gefestigt und in ihren Ausdrucksmöglichkeiten gesteigert wird. Richardson interpretiert die Nietzsche unterstellte Ontologie des Willens zur Macht als eine Ontologie des Werdens. Sie findet ihr methodisches Vorbild in der Logosphilosophie Heraklits und in der platonischen Konzeption der dialektischen Einheit von Werden und Sein. Heraklit favorisiert die Kategorien der dynamischen Wechselwirkung, der Relationalität und des Gegensatzes gegenüber den von Parmenides bevorzugten Kategorien der in sich ruhenden Einheit, der einfachen Substanzialität und Homogenität. Piaton kritisiert unter dem Stichwort des Heraklitismus eine vom historischen Heraklit nicht vertretene Ontologie des reinen und daher vollständig unerkennbaren Werdens, um so deutlich zu machen, dass die Phänomene der werdenden Welt nur mit Hilfe einer Ontologie regulärer Prozessualität zu charakterisieren sind. Piaton versteht die physische und die soziale Realität als normativ geprägte Wirklichkeiten, die Formen des Gelingens und

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des Verfehlens aufweisen. Nietzsches Position ist nicht mit derjenigen des von Piaton kritisierten Heraklitismus identisch. Sie ist vielmehr methodisch an Piatons Ontologie der werdenden Welt orientiert. Für Piaton sind die Formen regulärer Prozessualität, die er im Kosmos, in der menschlichen Seele und in der Polis thematisiert, nicht der Inbegriff göttlicher Vollkommenheit. Sie bleiben vielmehr gegenüber dem Kosmos der Ideen und der ihn zusammenhaltenden Idee des Guten defizitär, auch wenn sich die Regularität der phänomenalen Welt der Norm reiner Identität annähert, die in der Idee göttlich-überweltlicher Gutheit vollkommen verwirklicht ist. Nietzsches Theorie des Werdens ist ebenfalls „wertende Ontologie" (112), auch wenn sie im Gegensatz zu Piaton die Welt der Prozessualität als die einzige, höchste und ohne jede Einschränkung zu bejahende Wirklichkeit versteht. Die entscheidende Differenz zwischen Nietzsche und Piaton besteht für Richardson nicht in einer Favorisierung des Werdens gegenüber dem Sein, sondern im Denken der Voraussetzungen für die Strukturierungen und Gesetzmäßigkeiten, die innerhalb der Welt des Werdens und in der Beschaffenheit ihrer „Gegenstände" auftreten. Nietzsche favorisiert als strukturprägende Kräfte die Werte des internen Reichtums und der Gesundheit 439 . Aus ihrer Realisierung entsteht instinktiv ein Bewusstsein für die Einheit von Werden und Zeitlichkeit, das sich im Daseinstypus des Ubermenschen zu einer Aktivität ausbildet, die sämtliche Dimensionen der Zeit — uneingeschränkt und vom Affekt der Liebe gehalten — zu synthetischer Einheit als höchster Form von Gesundheit zusammenfasst 440 . Wie Piaton erkennt Nietzsche im Kontext der Welt des Werdens qualitative Unterschiede: Er bewertet Seiendes danach, wie weit es als Einheit über die Kraft verfügt, in und aus eigener Aktivität einem Prinzip der Differenz nahe zu kommen, während Piaton umgekehrt Seiendes danach bewertet, inwieweit es als Differenz über die Kraft (=Tugend) verfügt, sich einem Prinzip von Identität und Einheit anzunähern (143). Nietzsches Machtontologie bildet das normative Zentrum für seine Einzelanalysen kultureller Verhaltensweisen in Vergangenheit und Gegenwart, für seine ethischen Maximen, aber auch für die Explikation seiner Zielvorstellungen für eine bessere Kultur der Zukunft (148ff.) 441 . Mit der Ontologie des Willens zur Macht 43

' Zu Nietzsches Bewertung Piatons vgl. Richardson, Nietzsche's System (1996), 116f. Vgl. Richardson, Nietzsche's System (1996), 114f. : „out of love of the past and the present, the active will forces them (and itself as it was and is) to pass over into a finer future that yet continues them". Für Richardson ist der Begriff plastischer Kraft aus der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung (Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben) ein frühes Äquivalent zur synthetischen Aktivität des übermenschlichen Daseins (ebd., 115, Anm. 85). 441 Richardson setzt sich ausführlich mit dem Problem der offensichtlichen Inhumanität auseinander, die vor allem in Nietzsches politischen Konkretisierungen der Maximierungsregeln von Macht erkennbar wird (Befürwortung von Sklaverei, Ablehnung der Demokratie, Abwertung der Frau, Ablehnung von Gleichheit, Züchtung einer Elite, Bewertung der Masse als Material für die Züchtung des Ubermenschen etc.). Er will ihre Härte nicht wegdiskutieren, zeigt jedoch, dass Nietzsches Machtbegriff weder individualistisch noch machtpolitisch gemeint ist, sondern Aspek4411

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ist nun zugleich die Epistemologie des Perspektivismus verbunden, obwohl gerade sie die Möglichkeit zu untergraben scheint, die Essenz aller Wirklichkeit im Modus von Wahrheit und normativer Geltung zur Sprache zu bringen. Richardson löst die Spannung zwischen Nietzsches Ontologie und seiner Epistemologie durch eine Reflexion darauf, dass Nietzsches Machtontologie analytisch das fundamentale Gegebensein perspektivischer Zugänge zu Macht voraussetzt. Innerhalb einer Ontologie des Willens zur Macht kann der Wille zur Wahrheit nur als besondere Form des Willens zur Macht verstanden werden, so dass auch er durch das Verfahren genealogischer Kritik auf ihren Grund in bestimmten Gestalten des Willens zur Macht zurückgeführt werden kann. Dabei wird deutlich, dass der Wille zur Wahrheit auf die Einsicht reagiert, dass eine Welt des radikalen Werdens die Dimension der Wissbarkeit prinzipiell übersteigt. Zugleich lässt sich zeigen, dass das Wissen an eine Form grammatisch vorgeprägter Regularität und das heißt Stabilität gebunden bleibt, so dass es von sich aus auf die Wirklichkeit einer radikal werdenden Welt überhaupt nicht im Modus der Referenz oder der Repräsentation verweisen kann. Im Kontext der werdenden Welt durchläuft der Wille zur Wahrheit wie jede andere Form des kulturell bedeutsamen Willens zur Macht eine dreiphasige Geschichte, deren Struktur in Zarathustras Rede Von den drei Verwandlungen bildhaft in der Abfolge von Kamel, Löwe und spielendem Kind veranschaulicht wird. Die Geschichte des Willens zur Wahrheit beginnt mit seiner vollständigen Subordination unter die Kräfte der Selbsterhaltung, in der das Wissen die kamelhafte Gestalt sozial anerkannter und pragmatisch-nützlicher Konventionalität annimmt. Dieser Phase folgt die löwenhafte Absage an Funktionen sozialer Nützlichkeit und die einseitige Favorisierung rein theoretischer Wahrheitsansprüche, die sich jedem Willen zu praktischer Lebensgestaltung verweigern. Der Wille zur Wahrheit verpflichtet sich in dieser Gestalt auf Regeln von dauerhafter, zeitfreier und universaler Geltung und unterstellt sich damit dem heroischen Ideal einer stets wachen, aber radikal asketischen Selbstkontrolle. Er provoziert damit allerdings auch eine kritische Besinnung auf die von ihm anerkannten Geltungskriterien, in der deutlich wird, dass sie auf einer gegenüber dem Willen zur Selbsterhaltung geschwächten Form des Willens zur Macht beruhen. Der Wille zu objektiver und universal gültiger Wahrheit durchschaut sich dann selbst als passivreaktiver Wille zur Macht, der als solcher die Ausdrucksformen eines aktiv-produktiven Willens zur Macht systematisch blockiert. Die zweite Phase der Geschichte des Willens zur Wahrheit kulminiert deshalb in der Sinnkrise des Nihilismus, der jeden objektiven Wahrheitsanspruch durch seine Verortung in einem vielgestaltigen Willen zur Macht relativiert. Auf die sinnkritische Selbst-

te der Sublimierung und der Respektierung des Anderen aufweist, die primär im Konzept des Wettkampfs und in seiner Auffassung der Freundschaft als agonaler Sozialform zum Ausdruck kommen.

D Nietzsches Philosophie als theoretische Lehre

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destruktion des Willens zur Wahrheit, die sich bereits für die Geburt der Tragödie in der Wissenskritik Kants und Schopenhauers verkörpert, reagiert Nietzsche weder mit einem Verzicht auf qualifizierte Wissensansprüche noch mit ihrer offenen Politisierung, sondern mit einer Selbstreform des Willens zur Wahrheit, die die dritte, reife und damit letzte Phase seiner Geschichte einleitet. Nietzsche erreicht sie in seinem Spätwerk. Seine frühen Schriften formulieren noch eine radikale Absage an das asketische Wissensideal, dem sie die Kunst als vermeintlich authentische Grundform des Willens zum Leben gegenüberstellen. In den Schriften der mittleren Phase versteht Nietzsche auch das Wissen als eine Form der Verstärkung von Lebensimpulsen. Das Spätwerk plädiert vom Zarathustra an für einen agonalen Ausgleich zwischen Wissen und Kunst, den es im epistemologischen Begriff des Perspektivismus auf den Begriff bringen will. Im Konzept des Perspektivismus erscheint der W i l l e zur Wahrheit in einer Gestalt, in der er aus der Position einer kritisch aufgeklärten Selbstreflexion souverän über sich selbst disponiert. Er verbindet dabei seine „feminine" Grundform reichhaltiger Pluralität mit seiner „maskulinen" Gegengestalt produktiver Konstruktivität. Die Pluralität ihrer Mischungsverhältnisse beruht auf der Form eines dramatischen Konflikts zwischen verschiedenen Ansprüchen des Wissens. Sie werden als heterogene Formen des Willens zur Macht spannungsvoll aufeinander bezogen und bilden so die Basis für eine aktive Synthesis, die das energetische Potenzial ihrer Antagonismen durch eine Form in sich differenzierter und aspektreich nuancierter Einheit zugleich steigert und präzisiert. Im Horizont dieser synthetischen Bewegung steht der W i l l e zu einer Wahrheit, der aus Einsicht in ihre prinzipielle Unvollständigkeit den traditionellen Gegensatz von wahr und falsch im korrespondenztheoretischen Sinn hinter sich lässt und seine Souveränität dadurch beweist, dass er besten Gewissens für die Unterscheidung zwischen verschiedenen und variablen, nur kontextuell präzisierbaren „Stufen der Scheinbarkeit" plädiert 442 . Genau für diese Form des Willens zur Wahrheit beansprucht Nietzsche nach Richardson zu Recht die Eigenschaft einer Korrespondenz mit dionysisch-lebendiger Wirklichkeit, die in ihrem Grund nur als dynamisch und perspektivisch differenzierter Vollzug des Willens zur Macht verstanden werden kann. Im Blick auf den normativen Begriff äußerster Lebensmacht und Selbststeigerung hat Nietzsche das „Wahrheitsprojekt" der traditionellen Ontologie unter inhaltlichem und formalem Aspekt auf seine eigene „Metaphysik von und für Perspektiven" bezogen (284). In ihrem Kontext entwickelt er den normativen Begriff empirischer, hypo-

442

Richardson präzisiert das Modell des kindlich gelassenen Spiels des Willens zur Wahrheit mit sich selbst durch Hinweise auf Formulierungen des Aphorismus 34 aus Jenseits von Gut und Böse (278, Anm. 144), wobei er deutlich macht, dass Nietzsche mit seinem Konzept von den „Stufen der Scheinbarkeit" (KSA 5,53) das traditionelle Ideal einer internen Homogenität des Wissens durch ein normatives Ideal internen Reichtums überbietet (279).

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III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

thetischer und partieller Wahrheit, die Richardson einerseits als eine Radikalisierung der aristotelischen Kritik an Piaton, andererseits als eine Antizipation holistisch-naturalistischer Wissenskonzepte mit extern-realistischen Geltungsansprüchen interpretiert, wie sie gegenwärtig etwa im Anschluß an Quine vertreten werden (288f.). Zugleich bekundet sich in Nietzsches Denken die Grundform einer hermeneutischen Philosophie im Sinne von Heidegger und Gadamer, durch die sie sich nach Richardsons Auffassung vom Denken Foucaults und Derridas entfernt (252, mit Anm. 74). Nietzsches Philosophie ist im Kern konstruktiv, weil es ihr gelingt, die „kognitiven Werte der philosophischen Tradition" für die Gegenwart und die Zukunft auch gegen ihre dekonstruktionistischen Verächter eindrucksvoll zu verteidigen (290).

E Nietzsches Philosophie als Wille zu praktischer Wirkung Die praktische Dimension der nietzscheschen Philosophie hat bereits bei vielen der bislang besprochenen Autoren eine unterschiedlich akzentuierte Rolle gespielt, etwa in der kulturkritischen Kontextualisierung epistemologischer Fragen bei Daniel Breazeale und Maudemarie Clark, in der Akzentuierung des „In-der-WeltSeins" als lebensweltlicher Voraussetzung jeglicher Weltdeutung bei Bernd Magnus oder im Konzept authentischer Individualität, das Alexander Nehamas zur Sprache gebracht hat. Selbst eine Philosophie der „conceptual permissiveness" oder der Dekonstruktion impliziert eine Theorie des richtigen oder, in Nietzsches Terminologie, des „gesunden", die Krankheit des Nihilismus vermeidenden Lebens. Ebenso erschließt John Richardsons Reflexion auf Nietzsches Ontologie als System einen praktischen Prozess als deren Voraussetzung, nämlich den Willen zur Macht, der einen Vorgang der Selbstinterpretation und der Selbststeigerung des Lebens darstellt. In den bislang vorgestellten Interpretationen wurde die praktische Dimension der nietzscheschen Philosophie also durchaus angesprochen, aber nicht selber als das Zentrum seiner Philosophie ausgezeichnet. In diesem Abschnitt geht es um Interpretationen, die aus dieser Beobachtung die Konsequenz ziehen, Nietzsches Philosophie im Kern als praktische Philosophie zu interpretieren. Dabei lassen sich drei verschiedene Schwerpunkte ausmachen. Der erste thematisiert Nietzsches Beitrag zur gegenwärtigen Ethik-Diskussion, der zweite die erzieherisch-psychagogische oder gar psychoanalytische Wirkungsabsicht seiner Philosophie, während der dritte Nietzsches Philosophie primär den Willen zu politischer Wirkung unterstellt. Innerhalb dieser drei Schwerpunkte wird Nietzsches Wirkungsabsicht nicht nur kontrovers bewertet, sondern auch inhaltlich unterschiedlich eingeschätzt. Die daraus resultierenden Diskussionen verdienen eine besonders kritische Aufmerksamkeit, weil sie Nietzsches Philosophie nicht in den weitgehend überraschungsfreien Räumen innerakademisch-epistemologischer Diskussion, selbstreferenzieller Dekonstruktion oder privater Selbstverwirklichung verorten, sondern deutlich machen, dass eine von Nietzsche inspirierte Form von Philosophie selbst unter den gegenwärtigen Bedingungen ihrer Verdrängung aus dem Raum öffentlicher Bedeutsamkeit auch in kultureller und politischer Hinsicht normative Gestaltungskräfte freisetzt. Auch wenn Nietzsche seine eigene Philosophie als „Umdrehung" des Piatonismus charakterisiert, erscheint in ihr ein Anspruch auf Lebensgestaltung, der unter veränderten inhaltlichen Vorzeichen und unter gegenteiligen methodischen Prämissen an eine Wirkungsdimension anknüpft, die als Erster kein Geringerer als Piaton betreten hat.

210

III Nietzsche in der angelsächsischen W e l t

1. Nietzsche im Kontext der gegenwärtigen

Ethik-Diskussion

Der Versuch, die praktische Dimension der nietzscheschen Philosophie in systematischer Hinsicht dadurch auszuzeichnen, dass nach ihrer Bedeutung für die gegenwärtige Ethik-Diskussion gefragt wird, eröffnet kaum Chancen für eine befriedigende Gesamtinterpretation. Dennoch ist es möglich und für ein Nietzsche-Verständnis auch sinnvoll, die Grenze sichtbar zu machen, an der ethische in politische Problemstellungen übergehen, die bei den im dritten Teil dieses Abschnitts thematisierten Interpretationen von vornherein im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Zudem ist es aufschlussreich, sich klarzumachen, was selbst eine wie auch immer eingegrenzte Bezugnahme auf Nietzsche für die gegenwärtige Ethikdiskussion bedeuten kann. Hier fällt auf, dass der gemeinsame Nenner des ethiktheoretischen Interesses an Nietzsche in dem Willen besteht, mit seiner Philosophie die methodischen Grenzen einer primär sprachanalytisch orientierten Ethik zu durchbrechen, die sich im Anschluss an Kant und/oder Wittgenstein darauf konzentriert, moralisches Verhalten als eine besondere Form des Regelfolgens zu interpretieren. Vielleicht ist es mit Nietzsche möglich, besser als bislang zu verstehen, was moralische Regeln überhaupt sind, wie sie gewonnen werden und was es bedeutet, sie zu befolgen. Für die englische Philosophin Philippa Foot ist Nietzsche in der gegenwärtigen Ethik-Diskussion ein provozierender Fremdkörper 443 . Er knüpft mit seiner Umwertung aller Werte an ein prä-modern griechisches Konzept von Moral an, das sich dem Begriff einer allgemeinen moralischen Regel verweigert. Nietzsche insistiert nach Foot auf der absoluten Individualität moralischer Wertungen und versteht dabei tugendhaftes Verhalten als rigorose Ausnahme gegenüber der normalen Praxis des Lebens. In diesen Charakterisierungen ist ein Konzept von Moral enthalten, auf das die Grundannahmen der analytischen Ethik nicht anwendbar sind 444 . Die dadurch gegebene Provokation mag mit ein Anlass dafür sein, dass die Autorin sich in ihrem eigenen Ethikverständnis eher an Gefühlen und individuellen Urteilsformen als am Regelbegriff orientiert 445 . Mit der Individualität von

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444

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Philippa Foot, Nietzsche. T h e Revaluation of Values. Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy, Oxford 1978, 8 1 - 9 5 ; Erstdruck Solomon (Hg.), Nietzsche (1973), 156-168. Philippa Foot, Nietzsche's Immoralism. Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality (1994), 3 14; Erstdruck The New York Review of Books 98, 11 (13 June 1991), 18-22; dt. Nietzsches Immoralismus. Die Wirklichkeit des Guten. Moralphilosophische Aufsätze. H g . u n d eingeh von Ursula Wolf u n d A n t o n Leist, F r a n k f u r t / M a i n 1997, 128-143. Für eine genauere Darlegung zu Nietzsches A n k n ü p f u n g an antike Moralkonzepte vgl. die Beiträge der amerikanischen Philosophie- u n d Literaturhistorikerin M a r t h a C. Nussbaum, T h e Transfigurations of Intoxication. Nietzsche, Schopenhauer, and Dionysus. Arion 1 (1991), 7 5 111, u n d dies., Pity and Mercy. Nietzsche's Stoicism. Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality (1994), 139-167.

E Nietzsches Philosophie als Wille zu praktischer Wirkung

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vorreflexiven Urteilsformen scheint Nietzsche eine theoretisch kaum zugängliche Elementarform des Lebens erschlossen zu haben, aus der heraus überhaupt so etwas wie „Moral" entsteht, so dass von da aus auch deutlich wird, dass „Moral" in vielfältigen Gestalten auftritt, die nicht auf eine allgemeine Grundform zurückgeführt werden können. Gegen Philippa Foot und andere macht Maudemarie Clark geltend, dass Nietzsche nicht nur bestimmte, d.h. an universalen Regeln orientierte Formen der Moralbegründung kritisiert, sondern dass er das Phänomen der Moral insgesamt und prinzipiell von einem transmoralischen Standpunkt aus destruieren will 446 . Dieser Standpunkt wird aus der Perspektive einer vor-moralischen Version des Gesellschaftsvertrages gewonnen. Von ihr aus formuliert Nietzsche seine Lehre vom Willen zur Macht, die es ihm gestattet, ethische in politische Fragen umzuformen 447 . Es ist deshalb die Dimension des Politischen, in der letztlich auch über moralische Fragen und Formen der Moral entschieden wird. Belehrt durch Nietzsche plädiert der amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann für einen Themenwechsel in der analytischen Ethik, bei dem der Begriff der Institution gegenüber demjenigen des primär individualistisch aufgefassten moralischen Urteils favorisiert werden soll448. Während traditionelle (metaphysische, transzendentalphilosophische und sprachanalytisch begründete) Ethiken von einem starren Gegensatz zwischen egoistischem und moralischem Verhalten ausgehen, könnte eine Reflexion auf Nietzsche dazu beitragen, diesen Gegensatz zu relativieren. Die Dimension des individuellen Interesses ist nicht per se amoralisch, so dass sie von der Moral nicht grundsätzlich verdrängt, sondern situationsgerecht ausgestaltet werden muss 449 . Moral kann so als die Form erscheinen, in der es primär darum geht, individuelle Lebensinteressen so zu profilieren, dass soziales Leben möglich wird. Eine ähnliche Zielrichtung lässt sich bei dem Oxforder Moralphilosophen Bernard Williams beobachten 450 . Für ihn besteht Nietzsches Bedeutung in seinem Beitrag zur Entkrampfung ethischer Debatten durch eine realistische Minimierung traditioneller moralischer Ansprüche und ihrer Begründungsmuster. Nietzsches Zerstö446

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Maudemarie Clark, Nietzsche's Immoralism and the Concept of Morality. Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality (1994), 15-34. Für M. Clarks epistemologisches Interesse an Nietzsche vgl. im vorliegenden Buch S. 192f£ Frithjof Bergmann, Nietzsche's Critique of Morality. Solomon - Higgins (Hg.), Reading Nietzsche (1988), 29-45. Vgl. dazu auch Frithjof Bergmann, Nietzsche and Analytical Ethics. Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality (1994), 76-94. Bernard Williams, Nietzsche's Minimalist Moral Psychology. Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality (1994), 237-247.

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III Nietzsche in der angelsächsischen Welt

rung der traditionellen „Illusionen des Selbst" (24Iff.) antizipiert die Denkrichtung des von Williams selber weitergeführten „Naturalismus und Realismus in der Moralphilosophie" (239ff.), für den moralische Einstellungen aus einem natürlichen Prozess menschlicher Lebensgestaltung hervorgehen, der zusätzlich, aber notwendig der kontingenten Macht sozialer Prägung unterliegt. Moralische Einstellungen existieren deshalb im Modus der Pluralität und enthalten in sich selbst bereits Verfahren der Selbstkorrektur. Mit Nietzsche teilt Williams die Auffassung, dass eine universalistische Moral und ihre philosophischen Begründungsformen das konkrete Netz moralischer Einstellungen eher zerstören als kräftigen 451 . Der Trend, der sich bei Philippa Foot, Frithjof Bergmann und Bernard Williams andeutet, kann die Bereitschaft verstärken, Nietzsche als Apologeten einer Ethik kontingenter Selbstsorge im Sinne Michel Foucaults wahrzunehmen. Dies geschieht exemplarisch bei dem amerikanischen Autor Charles E. Scott432. Ihm geht es ebenfalls um eine „realistische" Minimierung von normativen Ansprüchen, wie sie mit einer Moral universaler Regularität verbunden sind. Dennoch will Scott keineswegs auf Regeln der Lebens- und Weltgestaltung verzichten. Sie lassen sich jedoch nur in einer kritischen Selbstreflexion auf ethische Postulate finden, für die Nietzsches genealogische Kritik der christlichen Moral als Vorbild dienen kann. Nietzsche artikuliert im Kontext ethischer Debatten eine „mittlere Stimme" zwischen absoluter Affirmation und destruktiver Negation normativer Ansprüche 453 . Sie befürwortet eine Ethik der Selbstüberwindung und findet in ihr zugleich eine normative Basis für die Zurückweisung traditioneller Formen moralischer Normenbegründung, die aufgrund der künstlichen Hypertrophie ihrer Ansprüche folgenlos bleiben 454 . Alisdair Maclntyre's Einschätzung Nietzsches als eines vehementen Kritikers der modernen deontologischen Ethik 455 gehört in den Kontext der Kritik traditioneller 451

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Vgl. dafür Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge (Mass.) 1985, dt. Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg 1999; ders., Making Sense of Humanity and Other Philosophical Papers, Cambridge (Mass.) 1995. Charles E. Scott, The Question of Ethics. Nietzsche, Foucault, Heidegger, Bloomington/Indianapolis 1990. Vgl. dazu Charles E. Scott, The Middle Voice of Metaphysics. Review of Metaphysics 42 (1989), 743-764, jetzt auch in revidierter Fassung: Conway (Hg.), Nietzsche (1998), II, 353-369, in dem das Motiv der „mittleren Stimme" unter metaphysisch-ontologischem Aspekt als „Mitte" zwischen traditioneller Metaphysik und ihrer kritischen Destruktion herausgestellt wird. Vgl. Scott, The Question of Ethics (1990), 15ff.: „The Functions of Recoil". Für den NietzscheFoucault-Zusammenhang vgl. auch Jeffrey Minson, Genealogies of Morals. Nietzsche, Foucault, Donzelot and the Eccentricity of Ethics, Basingstoke, Hampshire etc. 1985. Vgl. dazu Alisdair Maclntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory 1981, 2 1984, dt. Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt am Main/New York 1987, jetzt Frankfurt am Main 1995. Das Nietzsche-Kapitel aus ders., Three Rival Versions of Moral Inquiry, Notre Dame 1991, ist unter dem Titel: „Genealogies and Subversions" abgedruckt bei Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality (1994), 284-305.

E Nietzsches Philosophie als Wille zu praktischer Wirkung

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universalistisch orientierter Moralität vonseiten der einflussreich gewordenen Partei der Kommunitaristen, für die ethische Normen eine ausschließlich regional begrenzte, auf konkrete Lebensgemeinschaften bezogene Bedeutung haben 456 . Nietzsche zeigt, dass moralische Urteile, wenn man sie aus der Perspektive moderner Wissensbegriffe betrachtet, nicht mehr objektiv fundiert sein können. Insofern er diese Kritik nicht nur teilt, sondern verstärkt, ist er gezwungen, die Dimension der Moral der archaisch vor-moralischen, von Maclntyre als ästhetisch-irrational deklarierten Instanz eines heroischen Willens zuzuordnen, der sich als solcher jeder Bindung durch Regeln und eine ihm übergeordnete Idee des Guten verweigert. Maclntyre bezweifelt jedoch eine wesentliche Voraussetzung der nietzscheschen Interpretation des moralischen Verhaltens, nämlich die sachliche Berechtigung der Kritik, die aus der Perspektive moderner Wissensbegriffe an einem Wissen des Guten geübt wird, wie er für die praktische Philosophie des Aristoteles charakteristisch ist. Während eine Rückkehr zu den aristotelischen Begriffen des auf die Natur bezogenen Wissens für die Gegenwart einen unhaltbaren Anachronismus zur Folge hätte, würde eine reflektierte Rückkehr zur Tugendethik des Aristoteles, in der sie von ihren kosmologischen Voraussetzungen gleichsam freigesetzt würde, die bessere Alternative zu einer voluntaristisch-ästhetischen Interpretation der Ethik darstellen, wie Nietzsche sie inauguriert hat. In seiner Kritik an Maclntyre entdeckt der amerikanische Philosoph Robert C. Solomon in Nietzsches Philosophie einen bislang übersehenen ethisch-kommunitaristischen Kern 457 . Seine Moralkritik entgeht dem typisch modernen Gegensatz zwischen Rationalität und Moralität und intendiert bereits von sich aus eine Rückkehr zu den von Maclntyre empfohlenen „Werten der Herrenmoral" (76). Nietzsche reaktiviert ein Konzept regionaler Sittlichkeit („morality of practice"), das er nach dem Vorbild der hegelschen Kritik an Kant dem Konzept einer allgemeinen, ausschließlich prinzipienfundierten Moral entgegensetzt (79). Die Lehre vom Willen zur Macht lässt sich als Verbindung zwischen einer aristotelischen „Moralität der Praxis" und einer romantischen „Praxis künstlerischer Kreativität" interpretieren (84), die als solche dem Konzept praktischen Wissens unter spezifisch modernen Bedingungen erneut Geltung verschafft 458 . Darüber hinaus will Solomon über Nietzsches Konzept des Ressentiments eine Alternative zur kontraktualistischen Theorie der Gerechtigkeit entwickeln, die in der gegen-

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Vgl. dazu David Rasmussen (Hg.), Universalism versus Communitarianism, Cambridge (Mass.) 1990, sowie Shlomo Avineri und Avner De-Shalit (Hg.), Communitarianism and Individualism, Oxford 1992. Robert C. Solomon, A More Severe Morality. Nietzsche's Affirmative Ethics. Yovel (Hg.), Nietzsche as Affirmative Thinker (1986), 69—89. Vgl. dazu Robert C. Solomon, One Hundred Years of Ressentiment. Nietzsche's „Genealogy of Morals". Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality (1994), 95-126.

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wärtigen Diskussion am entschiedensten von John Rawls vertreten wird 459 . Er sieht bei Nietzsche eine qualitative Unterscheidung zwischen schwachen und kraftvollen Formen des Ressentiments. Letztere setzen ein aktives Selbstgefühl voraus, insofern sie nicht nur auf eine individuelle Verletzung reagieren, sondern sich selbst von einem transindividuellen „Sinn für Ungerechtigkeit" getragen wissen. Dem „Sinn für Ungerechtigkeit" wiederum liegt via negationis ein vorkontraktualistischer „Sinn für Gerechtigkeit" zugrunde, der sich nicht primär in universellen Regeln artikuliert, sondern in regional begrenzt gültigen Formen tugendhaften Verhaltens. Nietzsches Philosophie enthält ein Konzept von Tugendethik, das nach Solomon anderen Formen der Begründung politisch-ethischer Normativität überlegen ist460. Der amerikanische Philosoph Lester H, Hunt, ein Schüler von Robert C. Solomon und Richard Schacht, interpretiert Nietzsche ebenfalls als Apologeten einer aristokratischen Tugendethik, die sich von der modernen, am Begriff universaler Regeln orientierten Moralphilosophie distanziert461. Für Nietzsche beruht jede ethische, politische oder theoretische Ordnung a priori auf der gewaltsamen Überwältigung einer essenziell chaotischen Natur. Dies gilt auch für seine eigene Tugendethik, die sich von derjenigen Maclntyres dadurch unterscheidet, dass sie den Prozess der tugendhaften Selbstkonstitution von einer offenen, mit anderen Subjekten konkurrierenden und daher interaktiv-agonalen Entfaltung eigener Macht abhängig macht. Die Regeln der nietzscheschen Tugendethik sieht Hunt exemplarisch in Homer's Wettkampf {ovm\xY\e.rt. Sie begründen dort die „harte", auf den Aspekten der Gewalt und der Überwindung von Natur insistierende Variante einer Theorie intersubjektiver Selbstkonstitution, während ihre eher „weiche", primär kommunikativ akzentuierte Variante in Mark Warren ihren Fürsprecher gefunden hat 462 . In der Diskussion über Nietzsches Bedeutung für die Klärung ethischer Fragen nimmt der Amerikaner John Andrew Bernstein insofern eine besondere Stellung ein, als er Nietzsches Konzept von Individualität nicht als Anleitung zu interner Selbstvervollkommnung, sondern als den integralen Teil einer politischen Strategie versteht, die bewusst Ungleichheit herstellt und sich deshalb jeder genuin ethischen Reflexion verweigert 463 . Bernsteins Interesse gilt den „axiologischen Grundlagendiskussionen der Moderne" (15), für die das Gegeneinander von mo459

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461 462 463

John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge (Mass.) 1971, dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975. Zur Bedeutung des Ressentiments bei Nietzsche im Kontext der an ihn anschließenden Ressentiment-Debatte (Scheler, Heidegger) vgl. Richard Ira Sugarman, Rancor Against Time. The Phenomenology of „Ressentiment", Hamburg 1980. Lester H. Hunt, Nietzsche and the Origin of Virtue, London 1991. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 245ff. John Andrew Bernstein, Nietzsche's Moral Philosophy, Rutherford (N.J.) 1987.

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raiischer und ästhetischer Wirklichkeitsbewertung charakteristisch ist464. Nietzsche ist für ihn ausschließlich der Apologet des ästhetischen Lebens, weil nur dieses ein Gefühl der Steigerung eigener Macht zur Folge hat. Ein moralisch reguliertes Leben ist dagegen prinzipiell mit einer Minderung des individuellen Machtgefühls verbunden. Im Zentrum der Nietzsche-Interpretation Bernsteins steht das Konzept des Willens zur Macht, das er als Synthese zwischen einem asketischen Ideal auto-aggressiver Selbstbeherrschung und dem Motiv gewaltsamer Fremdunterdrückung versteht. Die Spannung zwischen einem Willen zur Macht und einem Willen zur Gutheit, die Nietzsche in der Opposition zwischen Caesar und Christus zum Ausdruck bringt, wird in seiner Philosophie nicht theoretisch bewältigt. Nietzsche thematisiert lediglich eine immanente „Dialektik zwischen verschiedenen Formen eines internalisierten und eines externalisierten Willens zur Macht" 463 , ohne dabei eine bestimmte Form des Willens zur Macht als Willen zum Guten auszeichnen zu können. Politisch bedeutet dies eine Orientierung an Zielen repressiven bis brutalen Charakters (14), deren Favorisierung nach Bernstein nur psychologisch erklärt werden kann. Nietzsche übernimmt unbewusst das offen kritisierte Konzept christlicher Erlösung und stilisiert sich zu einem zweitem Paulus, der nunmehr im Namen seiner Lehre vom Willen zur Macht die Menschheit als ganze „rechtfertigen" und vom Zwang des Gesetzes „erlösen" will. Trotz der Rede vom „Tode Gottes" ist Nietzsches Denken durch die Figur eines theologischen Absolutismus geprägt. Für die Einschätzung der politischen Konsequenzen dieses Denkens neigt Bernstein zu einer differenzierten Bewertung. Er macht in sorgfältigen Analysen von Texten aus den 1880er Jahren deutlich, dass Nietzsches Philosophie aufgrund ihrer inneren Unentschiedenheit und Vielgestaltigkeit zwar für eine Adaption aus nationalsozialistischer Perspektive anfällig gewesen ist, ohne aber damit der stärkeren These von der inneren oder prinzipiellen Affinität zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus das Wort zu reden.

2. Nietzsche als „Arzt der Cultur" In der angelsächsischen Nietzsche-Forschung wird dem befremdlich unmodern gewordenen Thema der Seele, ihrer internen Disposition und Triebökonomie, ihrer Bildung und ihrer Selbstkonstitution in der Auseinandersetzung mit ihrer kulturellen Umgebung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Beiträge zu diesem Thema unterstellen Nietzsche eine in sich konsistente, primär praktisch orientierte Intention. Sie richten sich, zum Teil sogar ausdrücklich, gegen eine ausschließlich literarische Nietzsche-Deutung im Sinne des Poststrukturalismus 464

465

Vgl. dazu John Andrew Bernstein, Shaftesbury, Rousseau, and Kant. An Introduction to the Conflict Between Aesthetic and Moral Values in Modern Thought, Rutherford (N.J.) 1980. Bernstein, Nietzsche's Moral Philosophy (1987), 17.

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und verhalten sich kritisch gegenüber den Vereinnahmungen Nietzsches für ein Ideal ästhetischer (Nehamas) oder ironischer Existenz (Rorty). Der Schwerpunkt der nietzscheschen Philosophie liegt in diesen Interpretationen nicht auf der Ebene der Theoriebildung, wie dies in der epistemologischen und in der sie weiterführenden „ontologischen" Nietzsche-Deutung (Schacht, Moles, Richardson) der Fall ist. Die psychologisch, psychoanalytisch und pädagogisch orientierte Deutung Nietzsches, die an seine Charakterisierung des Philosophen als „Arzt der Cultur" anknüpft 4 6 6 , teilt ihre Favorisierung der praktischen Dimension der nietzscheschen Philosophie mit primär politisch akzentuierten Interpretationen. Ihnen gegenüber fasst sie die „Seele" zwar nicht als eigenständige Entität gegenüber der Gesellschaft auf, aber doch als eine Form von Lebendigkeit, die eher bei sich selbst bleibt, als dass sie in die stärker institutionell geprägten Sphären der Kultur und der Politik hineinwirkt. Da „Seele" bei Nietzsche jedoch immer relational auf die soziale W e l t bezogen und ihre interne Verfassung nur im Blick auf eine von ihr vergessene oder gar verdrängte, aber dennoch aneignungsfähige und erinnerungsbedürftige Geschichte zu verstehen ist, kommt es im Kontext psychologischer Interpretationen nicht nur zu intensiven Diskussionen über den Willen zur Macht, die ewige Wiederkehr, das dionysische Ja-Sagen zur W e l t („amor fati"), den Perspektivismus und über die Methode der Genealogie, sondern auch zur Akzentuierung von Verbindungslinien zwischen Psychologie, Kultur und Politik. Ein besonderes Kennzeichen psychologischer Zugänge zu Nietzsches Philosophie besteht in Reflexionen auf Normen des Guten bzw. — in Nietzsches Terminologie — auf die Norm der Gesundheit des innerpsychischen Lebens, das, wenn es auf seine tödliche Erkrankung (Nihilismus) aufmerksam geworden ist, kreativ an seiner Genesung arbeiten und einen Zustand erreichen muss, in dem die Gefahr eines Rückfalls in die Krankheit nihilistischer Lebens- und Willensschwächung nicht mehr besteht. Die Einsicht, dass es dabei um Normen geht, die zwar nicht in ihrem Gehalt, wohl aber in ihrer theoretischen und praktischen Bedeutungsdimension an die platonische Idee des Guten und an das moralische Gesetz im Sinne Kants heranreichen, wirkt als „pièce de resistance" gegen eine primär ästhetische oder dekonstruktionistische Nietzsche-Deutung. Bei meiner Darstellung beginne ich mit bildungstheoretisch ausgerichteten Interpretationen. Danach werden psychologisch-psychoanalytisch interessierte Nietzsche-Deutungen vorgestellt. W e g e n ihres integrativen Charakters sollte im ersten Abschnitt a) die Nietzsche-Deutung von Peter Levine, im

466

Für den nachgelassenen Text Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen hat Nietzsche auch den Titel „Der Philosoph als Arzt der Cultur" erwogen (KSA 7, 545). Vgl. dazu auch Breazeale, Introduction zu Friedrich Nietzsche, Philosophy and Truth, S. XVIIIff., wie im vorliegenden Band Anm. 335. Zur Konzeption des Philosophen als „Arzt der Cultur" vgl. vor allem Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede zur zweiten Ausgabe, 2, KSA 3, 349: „ein philosophischer Arzt im ausnahmsweisen Sinne des Wortes — ein Solcher, der dem Problem der Gesammt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit nachzugehn hat".

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zweiten b) diejenige von John R. W h i t e besonders beachtet werden. Levine verbindet seine Nietzsche-Deutung zudem mit einer aktuellen Diskssuion über das angemessene Selbstverständnis moderner Kultur und über die dafür geeignete Form von Bildung. Für den Abschnitt b) sei außerdem besonders auf die Nietzsche-Interpretationen von Jacob Golomb und Daniel Chapelle verwiesen. Golomb entwirft mit Nietzsche einen kulturell und politisch ambitionierten Begriff des ressentimentfreien Lebens, das er für das Problem jüdischer Identität unter den politischen Bedingungen des Staates Israel fruchtbar machen möchte. Unter der Perspektive dieses Interesses wendet er sich dem intrikaten Thema „Nietzsche und die Juden" zu. Daniel Chapelle hingegen plädiert für eine Engführung von Psychoanalyse und nietzschescher Philosophie.

a) Nietzsches Philosophie als Theorie der Erziehung und Bildung David E. Cooper hat Nietzsches Philosophie insgesamt als ein Erziehungsunternehmen charakterisiert, das die zum Leben notwendige Aktivität der Wertsetzung nach dem Tode Gottes auf originäre Mächte authentischer Selbstsorge zurückgeführt sehen möchte 467 . Gegeben wird die Anleitung zum Gelingen eines spezifisch menschlichen, ausschließlich in seiner Immanenz zu führenden Lebens in der Lehre vom Willen zur Macht. Sie legitimiert als höchste Form des Mächtigseins die kreative Freiheit des interpretierenden Individuums (82), das sich in seiner Souveränität gegen die konformistische Übernahme gegebener Werte wehrt, aber deshalb dem Problem einer das Leben insgesamt prägenden Normativität keineswegs gleichgültig gegenübersteht. Authentische Kultur beruht nach Nietzsche nicht auf politischen oder ökonomischen Reformen, sondern ist die gesellschaftliche Folge einer notwendigerweise zunächst individuell ausgerichteten Erziehung zu authentischer Selbstgesetzgebung und Wertsetzung. Für Timothy F. Murphy erzieht Nietzsches Philosophie zur Kunst eines selbständig und selbstverantwortlich geführten, inhaltlich dem Ideal der experimenteller Kreativität verpflichteten Lebens 4673 . Im gelungenen Leben ist eine Norm des Guten verwirklicht, die durch Erziehung, Moral und Kultur die gesamte individuelle und soziale Dimension menschlicher Wirklichkeit prägen soll. Von ihr aus kritisiert Nietzsche die bestehenden Bildungsinstitutionen einschließlich der sie tragenden und von ihnen getragenen Kultur. Die Norm des Guten fundiert ein Konzept von Bildung, das den angestrebten W e r t der Authentizität nicht durch rigorose Selbst-

David E. Cooper, Authenticity and Learning. Nietzsche's Educational Philosophy, London/ Boston/Melbourne/Henley 1983. 467a Timothy F. Murphy, Nietzsche as Educator, Lanham 1984. 467

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ermächtigung, sondern nur im Kontext einer Ethik gewinnt, die vom Affekt des „amor fati" getragen ist und darin die Kraft findet, die Bedingungen des endlichen Daseins ohne Abstriche anzuerkennen. Wenn Nietzsche den Zustand, in dem die Authentizitätsnorm des Guten verwirklicht ist, lediglich durch Symbole und Bilder, vor allem im Symbol des Tanzes (2f.), andeutet, so macht er damit zugleich deutlich, dass sich das Ziel der von ihm befürworteten Bildung nicht operational festlegen lässt. Realisiert ist es nur in einer Praxis, die in wettkämpferisch-agonaler Weise für sämtliche Möglichkeiten und Steigerungsformen des menschlichen Lebens offen (4) und darin zugleich handlungsfähig bleibt. Die Gestalt Zarathustras verweist in der Real-Symbolik ihres Handelns und in ihrer Lehre auf das für diese Praxis konstitutive Gesetz der Öffnung und Schließung des Lebens. Sie wahrt ihre Einheit durch ein Ausbalancieren prekärer Gegensätze, die nur aus der höchsten Aufmerksamkeit auf die offene Dynamik ihres eigenen Vollzuges hervorgeht, aber nicht durch die Subordination unter eine externe oder eine in sich geschlossene Form von Normativität zu erreichen ist. Claude Nicholas Pavur ordnet Nietzsches Philosophie unter inhaltlichem und sprachlich-formalem Aspekt der Tradition humanistischer Bildung zu. Sie ist nicht als philosophische Theorie angelegt, sondern als rhetorische Strategie zur Beförderung individueller Souveränität 468 . Nimrod Aloni versteht Nietzsche ebenfalls als einen zutiefst humanistisch orientierten Erzieher469. Dabei geht es ihm aber nicht wie Pavur primär um die typologische Zuordnung Nietzsches zu einem traditionellen Konzept des aufgeklärten und zugleich selbstkritisch eingestellten Humanismus, sondern um die Klärung seiner genuin philosophischen Voraussetzungen in einer „pädagogischen Anthropologie", in der die Fähigkeit zur Selbsttranszendierung als die Grundkraft menschlicher Existenz und die kreative Selbstbestimmung als die eigentlich metaphysische Tätigkeit der menschlichen Natur ausgezeichnet werden. Aloni macht deutlich, dass Nietzsche sein Konzept von Erziehung nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form seiner Darstellung zum Ausdruck bringt. Seine Texte sind stilistisch so organisiert, dass sie im Leser Widerstand gegen alle Tendenzen zur Verkleinerung und Fragmentarisierung seines Lebens hervorrufen und damit seine Erhebung zum souveränen Individuum bzw. zu übermenschlichem Dasein fördern. In einer Art performativer Schrift exponiert Nietzsche eine künstliche Welt, die wie der Kontext des natürlichen Lebens für

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Claude Nicholas Pavur, How One Lets Nietzsche Become Who He Is. Interpreting Nietzsche as a Humanist, Ann Arbor (Mich.) 1990 (Phil. Diss. Emory University). Nimrod Aloni, Beyond Nihilism. Nietzsche's Healing and Edifying Philosophy, Lanham etc. 1991. Der Autor bezieht sich für die Begriffe der therapeutischen, heilenden und aufbauenden Philosophie, die sich als „nicht-letztbegründeter Diskurs" von einer primär logisch-epistemologisch ausgerichteten „foundationalist philosophy" unterscheidet, auf Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton (N.J.) 1979. Vgl. dazu Nimrod, Beyond Nihilism (1991J, 21f.

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jeden, der sie verstehend bewältigen will, eine fundamentale Herausforderung darstellt. Inhaltlich ist die Welt des menschlichen und natürlichen Lebens durch den Willen zur Macht charakterisiert. In der Lehre vom Willen zur Macht formuliert Nietzsche deshalb das normative Ziel eines souveränen Lebens, das sich von normativen Vorgaben distanziert, die die Sphäre seiner Macht dadurch verkürzen, dass sie in ihr transzendente Werte des Guten geltend machen. Die Lehre vom Willen zur Macht integriert in sich die bereits früh entfaltete Dialektik des Apollinischen und des Dionysischen und verbindet sich in ihrer praktischen Dimension mit dem Bild des Ubermenschen. Sie fundiert damit das umfassende Unternehmen einer Therapie gegen die Krankheit des Nihilismus, die das menschliche Dasein in der Gegenwart tödlich bedroht. Gary Lemco akzentuiert spezifisch musikalisch-kompositorische Komponenten des nietzscheschen Begriffs individueller Bildung. Die Einheit des individuellen und souveränen Lebens gleicht seiner Form nach einem musikalisch-romantischen Kunstwerk im Sinne von Robert Schumann und Richard Wagner, das durch agonale Gegen- und konfliktgeladene Ausgleichsverhältnisse zwischen Teilen und Ganzem charakterisiert ist. Nietzsche geht es weniger um ein klassisch-humanistisches als um ein romantisches Erziehungsideal, das den Exzess innerer Spannung in eine in sich heterogene Form überträgt und so das ihr zugrunde liegende energetische Potenzial nicht zu schöner Gestalt beruhigt, sondern zu ihrem unüberbietbaren Maximum zu steigern versteht 470 . Die kulturkritische Dimension der nietzscheschen Philosophie findet besondere Aufmerksamkeit bei Daniel R. Aherrâ71. Als diagnostisch interessierter und therapeutisch ambitionierter Arzt wendet sich Nietzsche dem gesamten Kontext der bisherigen europäischen Kultur von einem „klinischen Standpunkt" aus zu, um in ihr eine bislang verfehlte N o r m von Gesundheit wirksam zu machen (18). Er gewinnt sie in der Orientierung an physiologischen Kriterien, die im Organismus des menschlichen Leibes reflexionslos verwirklicht sind. Leibliche Gesundheit sowie Wachstums- und Reproduktionsfähigkeit sind abhängig vom Vorhandensein einer indeterminierten Vielheit von Triebregungen und energetischen Impulsen, die immer wieder neu um ihre Rangordnung kämpfen und dabei auf begrenzte Zeit einen agonalen Ausgleich bilden können. Die Einheit des Leibes gleicht dem Resultat eines stillschweigend geschlossenen Vertrages, der verschiedene, in je anderer Weise auf Lebenssteigerung ausgerichtete Perspektiven auf eine Regel wechselseitiger Anerkennung festlegt. Sie ist deshalb pluralistisch verfasst, so dass

4711 471

Gary Lemco, Nietzsche as Educator, San Francisco 1992. Daniel R. Ahern, Nietzsche as Cultural Physician, University of Pennsylvania Press, University Park 1995.

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in ihr verschiedene Kräfte zur maximalen Steigerung der Gesamtkraft des Lebens beitragen können. Gegenüber der Norm agonaler und in sich gegensätzlicher Einheit bedeutet die Verwirklichung homogener Einheit eine Schwächung und Erschöpfung des Organismus, wobei der Zustand seiner Erkrankung den Extremwert des Todeswunsches, des Willens zum Nichtsein annehmen kann. Nietzsche hält es für zulässig und sinnvoll, die Regeln der physiologischen Dynamik des organischen Lebens auf die Dimension der Kultur zu übertragen, um so gesunde Kulturen, wie die griechische oder die altjüdische Kriegerkultur von kranken, wie der sokratischen Wissenschafts- oder der spätjüdisch-christlichen Priesterkultur, unterscheiden zu können. Letztlich erweist sich die Abspaltung des bewusst geführten Lebens von seinem organischen Kontext als das unvermeidliche Anfangsstadium einer Erkrankung, die sich zu einem Nihilismus entwickelt, der die Grundlagen des menschlichen Lebens zu zerstören droht. Nietzsche hat die Phänomene dieser Krankheit zum Tode am eigenen Leibe verspürt. Er hat sie aber auch in einer physiologischen Reflexion diagnostiziert und dann in einer zunächst aussichtslos erscheinenden Therapie geheilt. In der Orientierung an einer schon in seiner Kulturkritik vorausgesetzten Analogie zwischen individuellem und sozialem Körper erhebt er den Anspruch, durch eine analoge Behandlung auch die am Nihilismus erkrankte Kultur seiner Gegenwart therapeutisch beeinflussen zu können. Die entscheidenden Lehren Nietzsches sind auf das Ziel gesunder, und das bedeutet für ihn tragisch-dionysischer Kultur bezogen. Dabei erweisen sich Gewalt und Grausamkeit als ihre zentralen Charakterzüge, die auch in ihrer destruktiven Potenz bejaht werden müssen, wenn eine Kultur den Zustand ihrer Gesundheit auf Dauer stellen will. Ahern stellt die Dramatik der experimentellen und explosiven Mitteln heraus, die Nietzsche in der Rolle eines „Arztes der Cui tur" für die Erzeugung einer zukünftigen Kultur physiologischer Gesundheit für notwendig gehalten hat. Sie verweisen auf eine in sich komplexe Physiologie der Gesundheit 472 , die bei Nietzsche dieselbe therapeutisch-erzieherische Funktion übernimmt, die im vermeintlich erzieherisch-politischen Kontext der platonischen Politeia der Idee des Guten zukommt. Eine Norm des Guten trägt auch in Nietzsches Philosophie die Umwertung aller Werte und damit zugleich die „Umdrehung des Piatonismus" und des Christentums. Die Härten, die mit der Umsetzung des Konzepts physiologischer Gesundheit in die Dimension der Kultur verbunden sind, werden bei Ahern nicht verschwiegen, sondern deutlicher Kritik ausgesetzt. Peter Levine findet mit Nietzsche eine Position in der gegenwärtig in den USA mit besonderer Vehemenz geführten kulturpolitischen Diskussion über den moralischen Wert humanistisch-literarischer Bildung. Sie wird in einem Klima der 472

Ahern, Nietzsche as Cultural Physician economics".

(1995), 19ff.: „physiological dynamics", 30: „physio-

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historizistischen Relativierung literarisch vermittelter Werte geführt, die zugleich den Begriff der Einheit des literarischen Werkes als des einzig suffizienten Trägers dieser Werte dem kritischen Verfahren der Dekonstruktion aussetzt 473 . Für diese Diskussion ist es nach Levine bezeichnend, dass Nietzsche nicht nur von historizistischen und poststrukturalistischen Positionen (Derrida, Paul de Man), sondern auch von deren Kritikern (Leo Strauss, Francis Fukuyama, Allan Bloom) in Anspruch genommen wird. Im Streit um Nietzsche wird deshalb über nichts Geringeres entschieden als über die Bedeutung literarisch-künstlerischer Bildung in einer zukünftigen Kultur. Levine verfolgt mit seiner Studie zugleich ein historisches und ein systematisches Interesse. Als Historiker rekonstruiert er den Weg Nietzsches von Schulpforta bis in die Zeit der Baseler Professur als den Weg eines zunächst demokratisch orientierten Humanisten im Sinne der antiken und der Renaissance-Tradition, der danach die Position des konsequenten Historismus (David Friedrich Strauss, Albrecht Benjamin Ritsehl) übernimmt und sie schließlich — erstmals in der Geburt der Tragödie — in einer eigenständigen dionysischen Philosophie überwindet (XV). Der dionysische Impuls der frühen Tragödienschrift macht gegen die unaufbrechbar erscheinende Kultur des Historismus eine transhistorische Macht des Lebens geltend, die sich im Wechselspiel dionysischer und apollinischer Impulse verwirklicht. Historisch kann sie nur in der griechischen Kultur verankert werden, der es in historisch einmaliger und exemplarischer Weise gelungen ist, die naturhaftchaotischen Dispositionen der menschlichen Seele in den apollinischen Formen von Kunst, Kultur und Politik nicht zu verdrängen, sondern durch Gestaltung zu profilieren (lOOfE). Das systematise Äf Interesse Levines bezieht sich auf den normativen Begriff einer zukünftigen, essenziell modernen Kultur. Bei Nietzsche ist zu lernen, dass Kultur nicht auf reflexiven Verfahren der Letztbegründung, sondern nur auf instinktiv gegebenen Formen der unmittelbaren Akzeptanz normativer Rahmenbedingungen beruhen kann. Nietzsche verbindet mit dieser Einsicht eine Präferenz für in sich geschlossene Kulturen. Sie prägt auch die späteren Entwicklungsstadien seiner dionysischen Philosophie, also die Lehren von der ewigen Wiederkehr und vom Willen zur Macht. In diesen Lehren gibt Nietzsche seiner Philosophie die Doppel-

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Peter Levine, Nietzsche and the Modern Crisis of the Humanities, Albany (NY) 1995. Für diese Diskussion vgl. vor allem das einflussreiche Buch von A. Bloom, The Closing of the American Mind (1987). Levine verweist ferner auf Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, N e w York 1992, der die Kultur des Westens nach dem Z u s a m m e n b r u c h des K o m m u n i s m u s in jenen Zustand normativer Beliebigkeit u n d Belanglosigkeit verfallen sieht, den Nietzsches Zarathustra in der Figur des letzten Menschen beschrieben hat (Levine, Nietzsche and the Modern Crisis of the Humanities, 1995, 260E, A n m . 5). Gegenstand der Kritik ist vor allem die Schule des Yale Criticism. Vgl. dazu im vorliegenden Buch die Hinweise in der A n m . 341. Zur D o k u m e n t a t i o n der von Levine angesprochenen bildungstheoretischen Diskussion vgl. Nietzsche and the Crisis of the Humanities (1995), 272, A n m . 50.

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gestalt einer exoterischen und einer esoterischen Variante 474 , um mit ihr auf die historistisch gewonnene Einsicht in die nihilistische Verfassung des modernen Lebens produktiv reagieren zu können. In ihrer exoterischen Form konfrontiert Nietzsche seine im Historismus befangenen Zeitgenossen mit der Möglichkeit eines transhistorischen Lebens, in dem kulturelle Normen als natürliche und deshalb unveränderbare Gegebenheiten anerkannt sind. In ihrer esoterischen Form verweist er dagegen auf einen post-modern nihilistischen Zustand, in dem der Glaube an objektive Werte so vollständig zerstört ist, dass er nur noch in transhistorischen Rauschzuständen dionysisch-übermenschlicher Lebensbejahung überspielt, aber nicht mehr durch Wissen fundiert werden kann. Es bedarf deshalb eines übermenschlich-transhistorischen Zustandes, wenn der Wille zur Macht als Wille zu mythischer Fiktion paradoxerweise als Schöpfer einer in sich geschlossenen Kultur wirksam werden will. Es ist diese innere Problematik einer fiktiv im Willen zur Macht fundierten und dennoch in sich geschlossenen Kultur, die Nietzsche exemplarisch an der Figur und an den Lehren Zarathustras verdeutlicht. Zarathustra lehrt einen Willen zur Macht, der sich einerseits als Instanz fiktiver Kreativität erkennt und dennoch andererseits seine äußerste Steigerung darin findet, dass er im Modus der Fiktionalität Werte schafft, die als Rahmenbedingungen für in sich geschlossene Kulturen wirksam werden können. N u r in einer theoretisch unausgewogenen und daher als übermenschlich charakterisierbaren Balance zwischen Nihilismus, Fiktionalität und Normativität findet Nietzsche die Alternative zur passiv-nihilistischen Lebensform des „letzten Menschen", in der reflexive Wissensbegriffe so dominieren, dass sie die Möglichkeit einer in sich geschlossenen, von gehaltvoller Normativität getragenen Kultur definitiv zerstören. Nietzsche kann Kultur nur als eine Form interner Geschlossenheit von Normen und Werten denken, die unter modernen Bedingungen von der in sich problematischen Instanz eines gegen sich selbst blind gemachten Willens zur Fiktion abhängig ist. N u r in diesem Willen zur Macht findet er die Basis für seine Kritik an der christlichen Moral und an anderen Vorstellungen des Guten, die für sich objektive und universale Geltung beanspruchen. Mit dem Konzept eines reflexiven Willens zur Kultur verstrickt sich Nietzsche in Dilemmata, die theoretisch nicht aufzulösen sind. Levine plädiert deshalb in der systematischen Perspektive seiner NietzscheInterpretation für den Begriff einer in sich regional differenzierten Kultur, der jedoch anders als der in sich geschlossene Kulturbegriff Nietzsches in seiner spezifischen Differenz für eine Verständigung mit anderen Kulturen offen bleibt. Das Individuum ist unter den Bedingungen der Moderne einer Vielfalt verschiedener kultureller Ansprüche ausgesetzt. Wenn keiner dieser Ansprüche sein Leben und

474

Die Unterscheidung zwischen exoterischer u n d esoterischer Philosophie geht in der amerikanischen kulturpolitischen Diskussion immer auf Leo Strauss zurück. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 237ff.

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Denken ausschließlich bestimmen und zugleich der triviale Zustand eines an Normen des Guten überhaupt nicht mehr interessierten „letzten Menschen" vermieden werden soll, muss sich das moderne Individuum eine Form von Bildung aneignen, in der es sich darin übt, die Verschiedenheit normativer Ansprüche zu verstehen und zwischen ihnen einen Ausgleich herzustellen. Levine wehrt sich gegen eine postmoderne Destruktion sämtlicher Ansprüche auf gehaltvolle Normativität, die sich nach seiner Überzeugung einseitig an die kritisch-destruktive Variante der dionysischen Philosophie Nietzsches bindet. Ebenso wenig akzeptiert er das von Leo Strauss favorisierte Lösungsmodell, das aus der Position agnostischer Esoterik heraus den blinden Glauben an Werte nur noch bei denen erzeugen will, die mit ihrem Leben zufrieden sind, wenn sie reflexionsfrei die Vorzüge einer in sich geschlossenen Kultur genießen 475 . Levine greift auf Konzepte von Wittgenstein (Pluralität der Sprachspiele), Gadamer (Verstehen als Verschmelzungverschiedenartiger Horizonte), Rawls (intersubjektiv verbindliche Regularität) und Habermas (interaktive Verständigung) zurück, um gegen Nietzsche zu verdeutlichen, dass Kultur nicht nur als Form interner Geschlossenheit bestehen kann. Sie ist auch möglich als eine in sich flexible Form der Offenheit für differierende normative Orientierungen, die Nietzsche zwar nicht auf der Ebene seiner Sätze thematisiert, aber in den Bildern vom „guten Europäer" und vom „Freigeist" sehr wohl angedeutet hat. Das in diesen Bildern enthaltene Potenzial für einen Begriff zentrierter und zugleich offener Kultur wird von Nietzsche nur deswegen nicht offen entfaltet, weil er im Spätwerk aus kulturkritischen Motiven ausschließlich an der provokativen Gegenüberstellung zwischen der positiv bewerteten Lebensform des „Ubermenschen" und der Negativfigur des „letzten Menschen" interessiert ist. Für Levine besteht die Aufgabe humanistischer Bildung darin, ein Verständnis für die Differenz verschiedener normativer Orientierungen zu entwikkeln, das sich nicht mehr an einer universalen N o r m des Guten orientiert, aber doch zu einer normativen Basis für das Zusammenleben heterogener Kulturen findet.

b) Psychologisch-psychoanalytische Annäherungen Eine aufschlussreiche Annäherung an Nietzsche aus der Perspektive seiner Psychologie gelingt dem israelischen Autor Jacob J. GolombA7il. Für ihn ist Nietzsches Psychologie nicht nur deswegen interessant, weil sie Freuds Metapsychologie an-

475 476

Zur Nietzsche-Deutung von Leo Strauss vgl. im vorliegenden Buch S. 237f£ Jacob J. Golomb, Nietzsche's Enticing Psychology of Power, Ames (Iowa)/Jerusalem 1989 (erste Ausgabe in hebräischer Sprache 1987). Eine Zusammenfassung dieses Buches enthält ders., Nietzsche's Enticing Psychology of Power. Yovel (Hg.), Nietzsche as Affirmative Thinker (1986), 160-182.

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tizipiert und auch de facto beeinflusst hat (20f.), sondern weil sie im Kontext seiner eigenen Philosophie die Funktion einer Metatheorie innehat. Sie verleiht Nietzsches Philosophie insgesamt eine genuin praktische Dimension, indem sie als „Moral positiver Macht" ihre Leser dazu anregt, in sich nach Spuren verdeckter Kreativität zu suchen und diese dann gegen die kulturellen Mechanismen ihrer Verdrängung auch freizusetzen (15) 477 . Die Grundzüge der nietzscheschen Psychologie sind bereits in der Geburt der Tragödie ausgebildet und fungieren dort als Erklärungsmuster für das Gelingen von Kultur. Ihr Fundamentalbegriff ist derjenige der Sublimierung. Er begründet ein agonales Verhältnis zwischen dem Dionysischen, dem in Freuds Metapsychologie das anarchische Lustprinzip des „Es" entspricht, und dem Apollinischen, das Freuds triebökonomische Funktion des identitätsbildenden „Ich" vorwegnimmt. Ihr agonales Mit- und Gegeneinander ist charakteristisch für die Form tragischer Kultur, während defizitäre (sokratischrationalistische) Kulturen dadurch entstehen, dass sie die dionysische Dimension des Lebens verdrängen wollen. Nietzsche versteht das Apollinische und das Dionysische als gleichberechtigte Potenzen einer einheitlichen Natur, so dass es bei ihm nicht erst die Kultur, sondern bereits die Natur ist, die den Kontext des Lebendigen nach einem normativen Modell von Sublimierung und Selbstüberwindung organisiert. Die gelungene Synthesis von Dionysos und Apoll, die auf die Verwandlung naturhaft-sexueller „Libido" in die kulturell angereicherte Macht des Eros bei Freud vorausweist, beruht nach Nietzsches Uberzeugung auf der Funktion eines unbewussten Willens. Dieser Wille bildet jedoch kein Analogon zu der wesentlich repressiven Funktion des freudschen „Uber-Ich", sondern bekundet sich in der Herausbildung eines „höheren Selbst", das zu einer freien, allerdings nicht reflexiv, sondern instinktiv gesteuerten Selbstkonstitution befähigt ist (126f£). W e n n das „höhere Selbst" das Dionysische nur als bedrohlichen und daher verdrängungswürdigen Gegner einschätzt, wird es anfällig für destruktive Kräfte, die ihm so etwas wie ein Schuldbewusstsein einpflanzen oder eine Selbsteinschätzung nahe legen, in der das Ich die Erhaltung seines Lebens den Regeln einer universalisierten Sklavenmoral anvertraut. N u r in der kritischen Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen seines geschwächten Lebens kann das „höhere Selbst" zu einer gekräftigten Form bejahter Lebendigkeit zurückfinden, die bei Nietzsche zunächst in der Figur des exemplarischen Erziehers (Schopenhauer), dann in derjenigen des Freigeistes und schließlich in der Gestalt des Übermenschen auftritt. Beim späten Nietzsche ist der im Kern dionysisch qualifizierte Wille zur Macht ein in sich differenzierungsfähiges Prinzip instinktiver Kreativität (177), das als die sublimierte Kraft einer prinzipiell unabschließbaren Aktivität an ihrer intrinsisch-dynamischen Verstärkung interessiert ist (188). Das Spätwerk Nietz-

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Vgl. dazu auch Jacob J. Golomb, In Search of Authenticity. From Kierkegaard to Camus, London 1995, 68-87: „Nietzsche's pathos of authenticity".

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sches entwickelt auf der Basis dieses Willens zur Macht eine positive „Moral der Macht", in der Autonomie, Authentizität und Nicht-Reifizierbarkeit als höchste Normen gelten. Von ihr aus lassen sich auch die in sich prekären Kulturformen der Wissenschaft und der Religion 4 7 8 , die sich tendenziell vom naturalen Vollzug des Lebens entfernen, wieder in die Sphäre eines sich selbst bejahenden Lebens integrieren. Aus der Verbindung zwischen den vier Lehren des Spätwerks (Wille zur Macht, ewige Wiederkehr, „amor fati", „Ubermensch") und dem erkenntnistheoretischen Konzept des Perspektivismus entsteht der normativ-praktische Begriff eines sich in der Sublimierung seiner selbst steigernden Lebens, das auch in scheinbar reifizierten und daher energetisch geminderten Gestalten seines Selbstausdrucks ungebrochen bei sich selbst bleiben kann. Für Golomb ist Nietzsche der philosophische Begründer einer diagnostisch und therapeutisch ambitionierten Kulturkritik, die weitgehend mit den kulturtherapeutischen Absichten Freuds übereinstimmt. Seine Interpretation kehrt damit zu einem positiv-aufklärerischen Nietzsche-Bild zurück, das, wenn auch nicht in seinen Begründungsformen, so doch in seinen inhaltlichen Grundzügen, an das Nietzsche-Bild Walter Kaufmanns erinnert. M a n kann das als eine Verharmlosung der praktischen Wirkungsabsicht kritisieren, die in Nietzsches Philosophie zum Ausdruck kommt. M a n sollte aber vielleicht bedenken, dass Golomb sich primär an israelische oder jüdisch-amerikanische Leser wendet. Für sie befreit er Nietzsches Denken von sämtlichen Charakteristika, die im Blick auf die Erfahrung des Holocaust und seinen politisch-ideologischen Hintergrund beängstigend und abschreckend wirken. Stattdessen entdeckt er in der Lehre vom W i l l e n zur Macht eine Norm gelungenen Lebens, durch die sich auch geschwächte Individuen und Gesellschaften von ressentimentgeladenen Interpretationen ihrer selbst und anderer befreien können, um in der Kraft eines souveränen Umgangs mit Gefährdungen und Ambivalenzen ein gelasseneres Selbstbewusstsein ausbilden, das an Nietzsches Ideal des „höheren Selbst" erinnert 479 .

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Vgl. dafür einerseits das Konzept „fröhlicher Wissenschaft", das Wissen und Leben agonal aufeinander bezieht, und die religiöse Definition des „amor fati" andererseits, der als dionysisch sanktionierte Form der Weltbejahung so etwas wie eine lebensfreundliche Religion darstellt, weil er eine „Erlösung von metaphysischer Rettung und Tröstung" bedeutet (25 3£). Dieser Intention dient auch der Sammelband Jacob J. Golomb (Hg.), Nietzsche and Jewish Culture, London/New York 1997 (dt. Nietzsche und die jüdische Kultur, Wien 1998), der u. a. eine ausführliche Bibliographie zum Thema „Nietzsche und die jüdische Kultur" (263ff.) enthält. Verwiesen sei besonders auf die konträr gelagerten Beiträge von Hubert Cancik (Tübingen), „Mongols, Semites, and the Pure-Bred Greeks ". Nietzsche's Handling of the Racial Doctrines of His Time, 55—75 (sehr kritisch zu den rassistisch-antisemitischen Implikationen von Nietzsches Einschätzung der griechischen Kultur) und Sander L. Gilman (Chicago), Heine, Nietzsche and the Idea of the Jew, 76—110 (akzentuiert die philosemitischen Züge des nietzscheschen Denkens, ist sehr materialreich angelegt und enthält eine ausführliche Bibliographie). Wichtig ist ferner der Beitrag von Yirmiyahu Yovel, Nietzsche and the Jews. The Structure of an Ambivalence (117—

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Lesley Paul Thiele entdeckt in der Philosophie Nietzsches Regeln für Einstellungen, mit deren Hilfe das Chaos, das im Zeitalter des Nihilismus das Binnenleben von Individuen charakterisiert, wieder in einen Zustand der Ordnung übergehen kann 480 . Der Begriff der Politik, den der Autor Nietzsche unterstellt, wird primär als Politik seelischer Selbstgestaltung und Hierarchisierung verstanden, die methodisch an Piatons Konzept der Erziehung der in sich vielgestaltigen Seele zu einer stabilen Form vernunftregierter Einheit anknüpft. Nietzsche übertrifft das platonische Vor- und Gegenbild an psychologischer Feinzeichnung, weil er mit dem anti-platonischen Begriff eines Willens zur Macht arbeitet, der die Seele zu einer in sich flexiblen, aktiv auf äußere und interne Gegebenheiten reagierenden Einheit anhält, die sämtliche in ihr wirksamen Triebimpulse in sich integriert und dadurch sowohl diese als auch sich selbst verstärkt. In der Zielperspektive nietzschescher Politik steht eine Seele, die sich als Wille zur Macht zu voller Lebendigkeit entfaltet und dennoch in der Verwirklichung von Vielheit, Gegensätzlichkeit und Flexibilität die Macht souveräner Selbstkontrolle bekundet.

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134). Danach unterscheidet Nietzsche drei Phasen jüdischer Geschichte: den biblischen Judaismus bis zur Babylonischen Gefangenschaft (aktiv, nicht-dekadent, kriegerisch), das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels (Priesterreligion, asketische Ideale, Sklavenaufstand in der Moral, vom Christentum generalisiert) und das Judentum der Diaspora nach der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n. Chr. Nietzsche bewundert die modernen Juden, denen er die entscheidende Mitgestaltung einer nicht-dekadenten Kultur der Zukunft zutraut. Der Antisemitismus ist Ausdruck desselben Ressentiments, das dem Typus des asketischen Priesters und damit der zweiten Phase jüdischer Kultur zugrunde liegt. Yovels Überlegungen berühren sich inhaltlich mit denen von Sarah Kofman, Le mépris des Juifs (wie im vorliegenden Band, Anm. 141).Zu diesem Thema vgl. ferner Michael Duffy und Willard Mittelman, Nietzsche's Attitudes Toward the Jews. Journal of the History of Ideas 49 (1988), 301-317, Yirmiyahu Yovel, Perspectives nouvelles sur Nietzsche et le judaïsme. Revue des études juives 88 (1979), 483-485, ders., Nietzsche, the Jews, and Ressentiment. Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality, 214—236, und ders., Dark Riddle. Hegel, Nietzsche, and the Jews, Cambridge 1998 (Erstdruck in hebräischer Sprache, Tel Aviv 1996). Zum Thema Nietzsche und die jüdische Tradition vgl. ferner James C. O'Flaherty, Timothy F. Seilner und Robert M. Helm (Hg.), Studies in Nietzsche and the Judaeo-Christian Tradition, Chapel Hill/ London 1985, und Weaver Santaniello, Nietzsche, God, and the Jews. His Critique of JudeoChristianity in Relation to the Nazi Myth, Albany (NY) 1994. Die Autorin arbeitet Nietzsches Opposition zum christlichen und säkularen Antisemitismus seiner Zeit heraus. Sie bedient sich, was Nietzsches Einstellung zu den verschiedenen historischen Phasen der Geschichte des Judentums betrifft, derselben Differenzierungen wie Yovel, Kofman und Duffy-Mittelman. Nietzsches Verachtung des Antisemitismus wird mitbestimmt durch seine politischen und religiösen Anschauungen, vor allem durch seine Aversion gegen die nach seiner Uberzeugung christlich-spätjüdisch motivierten Egalitätsideale der Demokratie und des Sozialismus, die er als Abweichungen von den Idealen der frühjüdischen Kultur interpretiert. Das gegenwärtige Judentum wird, gerade weil es nicht von Egalitätsnormen bestimmt ist, zur möglichen Quelle für eine übermenschliche Kultur der Zukunft. Das Spätwerk Nietzsches wird auch unter inhaltlichem Aspekt auf den historischen Kontext der angedeuteten religionspolitischen Diskussion bezogen. Lesley Paul Thiel