Die Beurteilung Leopold von Rankes – vielfach als ›Begründer‹, ›Goethe‹ und ›Papst‹ der Geschichtswissenschaft bezeichne
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German Pages 1480 [1481] Year 2014
GÜNTER JOHANNES HENZ
Leopold von Ranke in Geschichtsdenken und Forschung Band I Persönlichkeit, Werkentstehung, Wirkungsgeschichte
Duncker & Humblot · Berlin
GÜNTER JOHANNES HENZ
Leopold von Ranke in Geschichtsdenken und Forschung Band I
GÜNTER JOHANNES HENZ
Leopold von Ranke in Geschichtsdenken und Forschung
Band I Persönlichkeit, Werkentstehung, Wirkungsgeschichte
Duncker & Humblot · Berlin
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Abbildung auf Umschlag: Leopold von Ranke, Zeichnung von Wilhelm Hensel, 1859 (© akg-images) Alle Rechte vorbehalten 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin © Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-428-14372-6 (Print) ISBN 978-3-428-54372-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84372-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorliegendes Werk geht zurück auf die Jahre 1965-1975, in denen ich die Arbeiten an meiner 1968 erschienenen, dem jungen Ranke gewidmeten Dissertation mit weiter ausgreifenden bibliographischen und archivalischen Studien verband. Aus beruflichen Gründen mußte ich diese Arbeiten, welche 1972 noch zu einem Forschungsbericht über Rankes Briefwechsel geführt hatten, abbrechen und konnte sie erst im Jahre 2007 wieder aufnehmen. Dank gilt zuallererst meiner Frau. Ohne sie wäre dieses Werk nicht entstanden. Ich danke ihr nicht allein für ihre Unterstützung bei Arbeiten in Archiven und Bibliotheken, vor allem in der Bayerischen Staatsbibliothek, im Bayerischen Hauptstaatsarchiv und Geheimen Hausarchiv, und - bereits vor 45 Jahren - im Ranke-Nachlaß der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, und in verschiedenen Beständen des dortigen Geheimen Staatsarchivs, mehrfach im Archiv des Ranke-Vereins Wiehe, sondern auch für die Betreuung von ca. 4.000 Titeln und Kopien der Ranke-Literatur und -Editorik, für wertvolle Korrekturhinweise und die Mitarbeit am aufwendigen Register. Über allem stand ihre stetige Ermunterung, das Begonnene zu Ende zu führen. Ein wenig in diesem Sinne gewirkt haben ferner zahlreiche, hier nicht zu nennende Fachvertreter und Mitglieder historischer Kommissionen, welche mir bei meinen kritischen Veröffentlichungen der Jahre 2008 und 2009 ihre Zustimmung ausgedrückt haben. Dies gilt auch für die ungescheute und qualifizierte Berichterstattung mehrerer Presseorgane. Dank habe ich meinem gymnasialen Geschichtslehrer Dr. Gisbert Bäcker von Ranke, dem Urenkel Leopold von Rankes, abzustatten, der mir bereits Mitte der 1960er Jahre die damals noch in seinem Besitz befindlichen, später an das Archiv des Ranke-Vereins Wiehe übergegangenen Bestände aus dem Nachlaß seiner Mutter Ermentrude von Ranke uneingeschränkt zur Verfügung gestellt hat. Dr. Siegfried Baur, dem verdienstvollen Ordner des Ranke-Nachlasses der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, verdanke ich sowohl Ermunterungen zur Wiederaufnahme meiner Ranke-Studien als auch zahlreiche Hinweise archivlicher und bibliographischer Art. Letztere stellten die Professoren Katsumi Nishii und Shinichi Sato für den japanischen Bereich zur Verfügung. Den in Anspruch genommenen Bibliotheken und über siebzig Archiven kann mit zwei Ausnahmen hier nur pauschal gedankt werden. Zum einen dem Geheimen Hausarchiv München und dessen Leiter, Archivdirektor Dr. Gerhard Immler, zum anderen dem RankeVerein Wiehe e. V., dessen Archiv und Bibliothek mir durch seinen Vorsitzenden, Pastor i. R. Gottfried Braasch, und die Wieher Bürgermeisterin, Frau Dagmar Dittmer, zugänglich gemacht wurden. Frank Bigeschke, stellvertretender Vorsitzender des Vereins, gab aus seiner Ranke-Sammlung wertvolle bibliographische Hinweise. Reinhard Markner/Berlin sind solche auf einige ferner liegende Stücke der Ranke-Korrespondenz zu verdanken. Dr. Florian R. Simon schließlich sei gedankt für die Aufnahme in das Programm seines Verlages, dessen Geschichte die Namen der eher antipodisch ausgerichteten Größen vereint: Goethe als „größter Dichter“, Hegel als „größter Philosoph“ und Ranke als „größter Geschichtsschreiber“ (Constantin Rößler, 1886, 298).
INHALT Band I Einführender Überblick über die Bände I und II (I/0) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Teil (I/1)
WISSENSCHAFTLER ODER LITERAT? Eine kritische Studie zu Persönlichkeit und Werkentstehung
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1. Kapitel: „Der ungewöhnlich kleine, unscheinbare Mann“ und das Faszinosum ‚Buch‘ (I/1.1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Kapitel: Fehlgeplantes und Unvollendetes (I/1.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Kapitel: Atelier und Amanuensen (I/1.3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Kapitel: Buchgestalter und Verleger (I/1.4). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 5. Kapitel: Ohne „System und Regel“ (I/1.5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 6. Kapitel: Fachliche Mängel und fachliche Sünden (I/1.6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 7. Kapitel: Widersprüchlichkeiten (I/1.7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 8. Kapitel: Die Gunst des Publikums (I/1.8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 9. Kapitel: Die Gunst der irdischen und der himmlischen Gewalten (I/1.9) . . . . . . . . . 96 2. Teil (I/2)
RANKE IN DEUTUNG UND SELBSTBESINNUNG DES GESCHICHTSDENKENS
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Einführung (I/2.0) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
1. Abteilung (I/2.1) R ANKE
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Vorbemerkung (I/2.1.0) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Kapitel: Das Frühwerk 1824-1831 und die Gründungssage der Geschichtswissenschaft (I/2.1.1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Kapitel: Die Kritik der historischen Kritik, Objektivität und Unparteilichkeit (I/2.1.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3. Kapitel: Das Geschichtswerk als Kunstwerk? (I/2.1.3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4. Kapitel: Das Scheitern der politischen Publizistik Rankes. Die Aufnahme der ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ 1832-1836 (I/2.1.4) . . . . . . . . . . . . . . . 205
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Inhalt
5. Kapitel: Das ‚Religionswerk‘ und seine Aufnahme 1834-1847 (I/2.1.5) . . . . . . . . 213 Vorbemerkung (I/2.1.5.0) 213 - Die römischen Päpste (I/2.1.5.1) 214 - Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (I/2.1.5.2) 229
6. Kapitel: ‚Preußische Geschichte‘ 1847-1848 (I/2.1.6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 7. Kapitel: Nationalgeschichte als europäische Universalgeschichte 1852-1867 (I/2.1.7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Vorbemerkung (I/2.1.7.0) 267 - Die Aufnahme der ‚Französischen Geschichte‘ (I/2.1.7.1) 269 - Die Aufnahme der ‚Englischen Geschichte‘ (I/2.1.7.2) 277
8. Kapitel: Im Banne der glorreichen Gegenwart. ‚Sämmtliche Werke‘ und preußisch-deutsches Spätwerk 1867-1881 (I/2.1.8) . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Einführung (I/2.1.8.0) 296 - Briefwechsel Friedrich des Großen mit dem Prinzen Wilhelm IV von Oranien und mit dessen Gemahlin Anna, geb. Princess Royal von England (I/2.1.8.1) 302 - Zur Deutschen Geschichte (I/2.1.8.2) 303 - Geschichte Wallensteins (I/2.1.8.3) 304 - Der Ursprung des Siebenjährigen Krieges (I/2.1.8.4) 310 - Die deutschen Mächte und der Fürstenbund (I/2.1.8.5) 312 - Abhandlungen und Versuche (I/2.1.8.6) 316 Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen (I/2.1.8.7) 317 - Zwölf Bücher Preußischer Geschichte (I/2.1.8.8) 321 - Zur Geschichte von Oesterreich und Preußen zwischen den Friedensschlüssen zu Aachen und Hubertusburg (I/2.1.8.9) 324 - Ursprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792 (I/2.1.8.10) 325 - Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg und Hardenberg und die Geschichte des preußischen Staates von 1793-1813 (I/2.1.8.11) 328 - Friedrich der Große. Friedrich Wilhelm der Vierte. Zwei Biographien (I/2.1.8.12) 336 - Historisch-biographische Studien und Zur Venezianischen Geschichte (I/2.1.8.13) 338
9. Kapitel: Die unvollendete, begrenzte Universalität. Die Zeiten der ‚Weltgeschichte‘ 1881-1886 (I/2.1.9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Einführung (I/2.1.9.0) 341 - Amanuensen, Schüler und Hörer als Kritiker (I/2.1.9.1) 345 Sonstige fachhistorisch geprägte Stimmen (I/2.1.9.2) 353 - Konfessionelle und religionswissenschaftliche Kritik (I/2.1.9.3) 363 - Ausländische Stimmen (I/2.1.9.4) 368 - Das letzte Jahr (I/2.1.9.5) 369
10. Kapitel: Letzte Tage - Tod - Nachrufe (I/2.1.10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
2. Abteilung (I/2.2) R ANKE
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Einführung (I/2.2.0) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 1. Kapitel: Die Erweiterung der Diskussionsgrundlagen. Die posthumen Werkfortführungen und ihre Aufnahme (I/2.2.1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Vorbemerkung (I/2.2.1.0) 391 - Die Fortführung der ‚Weltgeschichte‘ (I/2.2.1.1) 391 - Die Fortführung der ‚Sämmtlichen Werke‘ (I/2.2.1.2) 400 - Zur Geschichte Deutschlands und Frankreichs im neunzehnten Jahrhundert (I/2.2.1.2.1) 401 - ,Abhandlungen und Versuche. Neue Sammlung‘ (I/2.2.1.2.2) 404 - ,Zur eigenen Lebensgeschichte‘ (I/2.2.1.2.3) 405
2. Kapitel: Die philosophische Perspektive (I/2.2.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 3. Kapitel: Die fachhistorische Perspektive. Zwischen Kulturgeschichte und politischer Geschichte (I/2.2.3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 4. Kapitel: Die historisch-politische Perspektive. ‚Die großen Mächte‘ und der Primat der auswärtigen Politik (I/2.2.4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
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Inhalt
3. Abteilung (I/2.3) R ANKE
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Einführung (I/2.3.0) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 1. Kapitel: Philosophische und theologische Stimmen (I/2.3.1) . . . . . . . . . . . . . . 468 Oswald Spenglers Kritik und seine Kritiker (I/2.3.1.1) 468 - Ernst Troeltschs Kritik und seine Kritiker (I/2.3.1.2) 469 - Sonstige philosophisch ausgerichtete Stimmen, besonders zur ‚Ideenlehre‘ (I/2.3.1.3) 475
2. Kapitel: Die Romantik-Diskussion (I/2.3.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 3. Kapitel: Die historische und politische Perspektive (I/2.3.3) . . . . . . . . . . . . . . . 491
4. Abteilung (I/2.4) R ANKE
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Einführung (I/2.4.0) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kapitel: Das Jahr 1936. Populäre Idolatrisierung und Hegel-Komparatistik (I/2.4.1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitel: Stimmen der nationalsozialistischen ‚Elite‘ (I/2.4.2) 3. Kapitel: Stimmen von Fachhistorie, Geschichtstheorie und Philosophie (I/2.4.3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kapitel: Religion im ‚Dritten Reich‘ (I/2.4.4) . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . 499 . . . . . . . . . . . . . . 502 . . . . . . . . . . . . . . 508 . . . . . . . . . . . . . . 512 . . . . . . . . . . . . . . 529
5. Abteilung (I/2.5) R ANKE
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Einführung (I/2.5.0) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 1. Kapitel: Mangelnde und erste Versuche von Vergangenheitsbewältigung und Neuorientierung (I/2.5.1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 2. Kapitel: Die historisch-politische Perspektive (I/2.5.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Vorbemerkung (I/2.5.2.0) 555 - Ranke und die politischen Bewegungen seiner Zeit, Preußische Gestalten in Geschichte und Gegenwart, Das Problem der Zeitgeschichtsschreibung (I/2.5.2.1) 556 - Staaten, Nationen, ‚Große Mächte‘, Europa (I/2.5.2.2) 563 - Rankes Nationalgeschichten. Religionskriege und das Problem der Revolution (I/2.5.2.3) 580
3. Kapitel: Die historiographie- und philosophiegeschichtliche Perspektive (I/2.5.3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Vorbemerkung (I/2.5.3.0) 589 - Das Verhältnis zur Aufklärungshistorie (I/2.5.3.1) 589 Ranke in ‚Goethezeit‘ und Romantik (I/2.5.3.2) 594 - Idealistische und neoidealistische Philosophie: Hegel und Croce. Ranke als Geschichtsphilosoph und sein Ideenbegriff (I/2.5.3.3) 597
4. Kapitel: Geschichtstheoretische Fragen (I/2.5.4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 Methodologisches (I/2.5.4.1) 610 - Zum Problem von Objektivität und Unparteilichkeit (I/2.5.4.2) 616 - Weltgeschichte, Universalgeschichte (I/2.5.4.3) 629
5. Kapitel: Historie und Religion (I/2.5.5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 Vorbemerkung (I/2.5.5.0) 638 - Religiosität und Geschichtsanschauung (I/2.5.5.1) 640 Luther und ‚Lutherfragment‘ (I/2.5.5.2) 646 - Zur Deutung der ‚Päpste‘ und der ‚Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ (I/2.5.5.3) 650
6. Kapitel: Die literaturwissenschaftliche und ästhetische Perspektive (I/2.5.6) . . . . . 659
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Je schärfer die Abgrenzung, desto größer ist der Gewinn in der Wiederbegegnung mit Ranke H EINRICH L UTZ (1997, 29). (I/0)
EINFÜHRENDER ÜBERBLICK über die Bände I und II Leopold von Ranke (1795-1886) gelang eine der glänzendsten Karrieren, die sich einem Wissenschaftler seiner Zeit überhaupt erschließen konnten. Als Professor der Geschichte kam er in der späteren kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt zu höchsten Ehren: Er erlangte die Mitgliedschaft der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, wurde von König Friedrich Wilhelm IV., dessen Politik er durch Denkschriften zu fördern gedachte und dessen Abende er gelegentlich mit Lesungen bereicherte, zum Historiographen des Preußischen Staates und zum Mitglied des Preußischen Staatsrats ernannt, wurde Kanzler des Ordens ‚Pour le Mérite‘, erblich geadelt, Wirklicher Geheimer Rat mit dem Titel ‚Exzellenz‘ und war als nahezu freundschaftlicher Berater König Maximilians II. von Bayern Mitbegründer und erster Präsident der Münchener Historischen Kommission und Mitglied des Maximilians-Ordens für Wissenschaft und Kunst, wurde überhäuft mit zahlreichen höchsten in- und ausländischen Orden und mit Ehrenmitgliedschaften internationaler historischer Gesellschaften und Akademien. Ranke schuf ein eindrucksvolles Œuvre, nicht allein in der Vielzahl seiner - posthum erweitert - über fünfundsechzig Bände, vor allem in der kenntniserweiternden Neuigkeit der Forschung, der Anschaulichkeit der Darstellung und in der raumzeitlichen Erstreckung der Thematik. Er schrieb Werke über deutsche, französische, englische, spanische, italienische Geschichte, deren Schwerpunkt im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert liegt. Doch er widmete sich auch der französischen, preußischen, deutschen und südosteuropäischen Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert und befaßte sich angelegentlicher mit zeitgeschichtlicher Thematik, als gemeinhin angenommen wird. Auch seine wenig beachtete editorische Tätigkeit ist nicht unerheblich. Er wandte die kritische Methode der Quellenuntersuchung und -interpretation in konsequenterer Weise, als dies zuvor geschehen war, auf die neuere Geschichte an. In einer außerordentlich ausgedehnten internationalen archiv- und quellenorientierten Arbeit erweiterte und vertiefte er die Kenntnis der europäischen Geschichte des 16. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein beträchtlich. Auf dieser empirischen Grundlage entwickelte er auch eine in Teilen visionäre wissenschaftspolitische Tätigkeit von erstaunlich eindringlicher und nachhaltiger Wirkung. Von landespartikularen und konfessionellen Einseitigkeiten schien er weitgehend frei, und ein aggressiver Nationalismus lag ihm, in dessen Geschichtsdenken die Einheit der romanischen und germanischen Völker die erste Grundlage gebildet hatte, völlig fern. Seine seminaristische Arbeits- und Ausbildungsmethode befähigte ihn, eine Art ‚Schule‘ zu bilden, die in sehr unterschiedlichen bedeutenden Historiker-Persönlichkeiten und wiederum deren Schülern - man spricht gar von ‚Enkeln‘ - oder Anhängern bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein zu großer Wirkung kam. Seine Kunst der Darstellung wurde bewundert und wird heute vielfach untersucht. Bereits 1843 und 1844 fanden Ranke-Texte als Muster vorbildli- 11 -
I/0 Einführender Überblick über die Bände I und II
cher Prosa Aufnahme in deutschen Schulbüchern (Wackernagel/1843; Kletke/1844). Die Fülle permanenter Hervorbringungen während einer außerordentlich langen Zeitspanne von über sechzig Schaffensjahren begleitete eine seit seiner Geschichte der ‚Päpste‘ in der Mitte der 1830er Jahre und der ab 1839 erscheinenden ‚Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ sich verstärkende, auch internationale Wirkung, welche sich mit der 1876 beginnenden und bis über seinen Tod hinaus laufenden Ausgabe seiner ‚Sämmtlichen Werke‘ weiter belebte. Im höchsten Alter unternahm er es, eine ‚Weltgeschichte‘ zu schreiben, bzw. sehbehindert zu diktieren. Sie erregte schon durch das Alter ihres nunmehr breitere Popularität gewinnenden Verfassers außerordentliches Aufsehen. Ranke war in seinen letzten Jahren „unbestritten unter die deutschen Classiker aufgenommen, die jeder Gebildete besitzen muß“, wie der ansonsten nicht unkritische Literarhistoriker Julian Schmidt (1818-1886) in einer Besprechung der ‚Weltgeschichte‘ schrieb (Schmidt/1884, 193), ja, Paul Kleinert, Rektor der Berliner Universität, stand nicht an, Ranke anläßlich des neunzigsten Geburtstages in Analogie zur praeceptor Germaniae-Formel als „Lehrer eines ganzen Volkes“, gar als „fruchtbarsten Lehrer dieses Jahrhunderts“ zu rühmen (Toeche/1886, 14). Diese Darstellung eines höchst erfolgreichen Lebens ist in der Tat aus zutreffenden Elementen gefügt. Doch sie leidet in ihrer dekorativen Vordergründigkeit an eklatanten und folgenschweren Auslassungen und wirft damit über ihre Richtigkeiten hinaus die Frage nach ihrer Wahrheit auf. Nur einem einzigen mit Ranke mehrfach befaßten Historiker sind öffentlich Zweifel gekommen: Hans Schleier fragte sich 1988 in einem Beitrag zu dem von Wolfgang J. Mommsen herausgegebenen Sammelband ‚Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft‘: „Es bliebe überhaupt zu untersuchen, inwieweit das spätere Bild über Ranke dem wirklichen Ranke entspricht, ob nicht bei der nachträglichen Restauration des Ranke-Bildes durch Anhänger und Gegner manche Übermalungen oder andere Farbnuancen hinzugetan wurden.“ (129). In der Tat fanden diese Übermalungen, aber auch Beschweigungen schon zu seinen Lebzeiten statt, und überdies werfen seine Selbstzeugnisse wie auch seine theoretischen Äußerungen Fragen nach ihrem Verhältnis zu einer noch verborgenen ‚Realität‘ auf. Weitere Gründe seiner Verzeichnung liegen in dem Drang einzelner Historiker, sich selbst und der Geschichtswissenschaft eine den Heroen anderer Disziplinen entsprechende ideale Leit- und Identifikationsfigur zu verschaffen und in deren Nähe panegyrisch und zunft- wie selbsterhebend zu verharren. Auch nach seinem Tod galt Ranke in einem weithin wirksamen, wissenschaftlich wie charakterlich vollausstattenden Übertrumpfungsrausch als „der reichste historische Geist aller Zeiten“ (D. Schäfer/(1891) I. 1913, 303), von „lauterer Herzensgüte“ getragen (M. Ritter/1896, 13), als „beyond comparison the greatest historical writer of modern times“ (Gooch/(1913) 1928, 102), als „deutscher Thukydides“ (Max Lenz/(1918) 1922, 284), als „unendlich liebenswerte Gestalt“ (Simon/1925,1926), als „Inkarnation des historischen Sinnes“ (Wach/1933, 89). Man zählte ihn zu den „gewaltigsten Epikern aller Völker und Zeiten“ (Rudolf von Delius/1933). Hierhin gehört auch die maßlose ‚Feststellung‘ „Die deutsche Prosa hat keinen größeren Schilderer als ihn“ (Fritz Ernst/1936, 94). Da war es nur konsequent, ihn überdies als „Goethe der Geschichtswissenschaft“ zu bezeichnen (Rothfels/1965), als „historisch-politischen Weltweisen“ (Küntzel/1936, 845), ausgestattet mit „unbestechlicher Zuverlässigkeit und ... Wahrheitsliebe“ (Koppen/1936), mit „nationalem Ethos und ... sittlicher Humanität“ (Lenz, W./1936, 7f.), dem „Gerechtigkeit“ und „edle“, „tiefschauende, weitherzige Menschlichkeit“ eigen waren (Andreas/1945). - 12 -
I/0 Einführender Überblick über die Bände I und II
Diese häufig in Idolatrie verfallende, heute peinlich wirkende Verehrung ging einher mit einer weit verbreiteten Archivscheu und zum Teil beschämend geringen Literaturkenntnis, - gering nicht allein im Bereich der Forschungsliteratur, gering auch in der Kenntnis von Kritiken und Selbstzeugnissen der Rankeschen Zeitgenossenschaft. Dies begünstigte eine kanonisierte Verfestigung des hoch erhobenen Persönlichkeitsbildes, im wesentlichen fundamentiert auf der sehr bald nach Rankes Tod von seinem Spätschüler Alfred Dove (1844-1916) aus dem teils vorgereinigten, teils - wie sich später zeigte - nicht überblickten Hausnachlaß getroffenen Briefauswahl und den dort ebenfalls herausgegebenen autobiographischen Diktaten (SW 53/54: ‚Zur eigenen Lebensgeschichte‘, 1890), deren Aussagewert nur mit kritischem Vorbehalt zu nutzen ist (Henz/1968, passim; Muhlack: Die Genese/2006). Darüber hinaus ist das RankeSchrifttum geprägt durch ein außerordentliches Mißverhältnis von untersuchenden und rhetorischen Beiträgen, von Forschungs- und Feiertagsliteratur. * Rankes Werk ist weder ein rundum gelungenes, lediglich zu übernehmendes oder nur zu bewunderndes Kunst-Stück, noch ein kurzerhand hervorzuholendes oder beiseite zu rückendes Versatz-Stück. Auch stellt es nicht mehr, wie gelegentlich vor dem Ersten Weltkrieg, ein Nationalepos mit vermeintlich macht- und hegemonielegitimierender Eignung, zumindest allgemeinpolitischer Lehrbefähigung dar, noch bildet es, wie zwischen den Weltkriegen, ein ‚Volksgut‘ und, wie in beiden Kriegen, ein der Erbauung oder Verführung dienendes Front-Vademecum. Auch kann es sich heute nicht mehr darum handeln, Ranke aus fachlichen, politischen, religiösen, ästhetischen oder anderen Gründen zu akzeptieren oder abzulehnen. Vielmehr ist er weitgehend zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchung und zum zwar umstrittenen, aber unstrittig herausragenden Bezugspunkt historiographiegeschichtlicher, methodologischer und allgemeinhistorischer Erörterung und Selbstbesinnung geworden. Zum einen bietet sein Werk für die Frage nach den Mitteln, Methoden und Grundsätzen der Forschung und ihre mehr oder minder konsequente Anwendung ein reiches Anschauungsmaterial. Da ergeben sich ganz konkrete, kaum ansatzweise behandelte Fragen nach den zugrundeliegenden Quellenstrukturen und den bei ihrer Erschließung angewandten oder vernachlässigten Methoden. Dazu gehört ferner die nicht einmal in Grundzügen beantwortete Frage nach seinem insgesamt unvergleichlichen NeuigkeitsBeitrag zur Kenntnis der europäischen Geschichte des 16. bis 19. Jahrhunderts und dessen offene oder stillschweigende Übernahme. Nicht allein über die Frage, wie Geschichtswissenschaft handwerklich zu arbeiten vermag, auch über die Frage, was Geschichtswissenschaft überhaupt aus- und anrichtet, wo ihre Möglichkeiten und wo ihre Grenzen in Erkenntnis und Darstellung liegen und welchen Gefahren sie erliegen kann, sollte angesichts des stark ausgebildeten Rankeschen Erkenntnisoptimismus anhand seiner Werke und theoretischen Äußerungen nachgedacht werden. Die Betrachtung ist besonders ergiebig, da Persönlichkeit und Werk neben hohem Forschungsertrag und Darstellungsvermögen, durchaus auch von bisher kaum bekannten Widersprüchlichkeiten, Fehlern und Schwächen behaftet sind, wodurch die Differenz von erstrebter Idealität und erreichter Realität erkenntnisfördernd wirken dürfte. Mit keinem anderen Historiker ist der Grundsatz von Unparteilichkeit und Objektivität so sehr in Verbindung gesehen worden, ablehnend oder zustimmend, freilich - 13 -
I/0 Einführender Überblick über die Bände I und II
überwiegend plakativ und verabsolutierend mißverstanden, selten in Rankes Darstellungen detailliert untersucht. Wieweit und mit welchen Mitteln er sich diesem Ziel nähern konnte und welche Subjektivitäten eine beeinträchtigende Rolle spielten, auch dies ist gerade bei seinem Werk einer darüber hinaus weisenden Betrachtung wert. In diesem Komplex bietet gerade sein vielfältiges und unbestreitbar hochstehendes Darstellungsvermögen Gelegenheit, über die Faktizitäts- und Wahrheitsfähigkeit der Historie in ihrer jeweiligen Wortgestalt nachzudenken. Ferner sind seine Positionen zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Politik im Zusammenhang zu sehen mit zahlreichen, jedoch einseitigen Kontakten und dem Gewicht politischer Mächte, wie sie sich in seinem Leben ausgeprägt und seinem Werk eingeprägt haben. Das im Ausmaß unterschätzte Verhältnis Rankes zu den Herrschenden und zum Publikum wirft die zeitlosen Fragen nach Aufgabe, Verantwortung, Abhängigkeit, Verführung und auch Schicksal der Geschichtswissenschaft und ihrer Vertreter in Staat und Gesellschaft auf. Wenn von Ranke auch weder eine ‚Historik‘ noch gar ein philosophisches System hinterlassen wurde, man sollte dies im Hinblick auf sein Naturell vielleicht begrüßen, so rufen Werk und nachgelassene Aufzeichnungen gerade in ihrer nicht selten mangelnden Eindeutigkeit oder ‚Verschwiegenheit‘ immer wieder die Frage nach dem Verhältnis seines und jedes anderen historischen Denkens zu Philosophie, Religion, Politik, Literatur und Kunst auf. Darin einbeschlossen ist Rankes häufig behandeltes, jedoch keineswegs eindeutiges persönliches wie fachliches Verhältnis zur Transzendenz, zu den Fragen nach Teleologie und Kausalität, nach Werten und Moral, nach dem Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen in personaler, sozialer und allgemein philosophischer Hinsicht, ein Verhältnis, das in der historiographischen Praxis oft unbedacht bleibt. Es wäre unangemessen und erkenntnisbegrenzend, ihn überwiegend einer immanent personalistischen Analyse zu unterziehen oder ihn lediglich als ungewöhnlich vielfältiges Exempel oder Kontrastfolie neuerer Methodenlehre und Darstellungsmanier heranzuziehen, obgleich die Historie solcher Vergleiche bedarf. Es gilt vor allem, sein Werk und Wirken als bedeutendstes personales, als weitreichendes materiales und als wesentliches ideelles Strukturelement neueren Geschichtsdenkens aufzufassen. Seine Wirkung war und ist fachwissenschaftlich nicht nur kontingenzbildend - wobei sie nicht in einem hinderlichen Sinne kontinuitätsbildend sein sollte - sondern nach innen und außen in starkem Maße überhaupt identitätsbildend. Ranke-Forschung vermag nicht nur - was mehrfach bemerkt wurde - Selbstbesinnung des Geschichtsdenkens zu sein, sondern auch Ergründung der Wissenschaftsgeschichte in einer kaum vergleichbaren Tiefe und Weite, womit zukunftsorientierte Selbstbesinnung eine Verbreiterung ihres empirisches Fundaments gewinnt. * Das vorliegende Werk unternimmt auf der Grundlage einer ausgedehnten bibliographischen Recherche und Durcharbeitung sowie der Heranziehung Rankescher und rankenaher Bestände aus einer Vielzahl von Archiven eine durchgreifende Revision und Erweiterung des bisherigen Kenntnisstandes vor allem in den Bereichen Biographie, Werkbestand, Werkentstehung und nicht zuletzt Wirkungsgeschichte, damit auch in Wissenschafts- und Geistesgeschichte, soweit sie mit Ranke in Zusammenhang stehen. - 14 -
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Die Notwendigkeit grundlegender bibliographischer Arbeit ergab sich auch aus Alter und hochgradiger Unvollständigkeit der einzigen Ranke-Bibliographie in selbständiger Schrift-Form, welche der Ranke-Forscher Hans Ferdinand Helmolt (18651929) im Jahre 1910 zum Erscheinen gebracht hatte. Allein den von ihm ermittelten 15 Besprechungen Rankescher Werke stehen in vorliegender Arbeit etwa 500 gegenüber, eine für die zeitgenössische Wirkung außerordentlich bedeutungsvolle, im Gegensatz zu Diaristik und Korrespondenz ‚öffentliche‘, gelegentlich detaillierte, jedenfalls häufig meinungsbildende Gattung. Nachdem schon Eduard Fueter (18761928) geklagt hatte: „Die Literatur über Ranke ist sehr umfangreich“ (Fueter/1911, 473), bildete sich für die folgende Zeit nicht ganz zu Unrecht als stehende Wendung die Feststellung heraus, sie sei „unüberschaubar“ geworden (Blanke/1991, 212, A. 545). Die Unüberschaubarkeit hängt indes nicht ab von der geringen Zahl nachhaltig tätiger Ranke-Forscher, sondern von der Fülle von Einmal-Beiträgern, die sich nicht selten ohne eigene und in geringer Kenntnis fremder Vorstudien, auch teils in vom Markt mehr oder minder erwarteten Gesamt- und Gelegenheitswürdigungen ergehen, teils nicht selten in Ranke ein Opfer vermeintlich leichten Fabulierens mit eigenschmückender Funktion gefunden zu haben glauben. Sie hängt auch ab von der in der Tat unüberschaubaren Fülle mehr oder minder beiläufiger, jedoch nicht stets unwesentlicher Äußerungen, welche der Ranke-Literatur im engeren Sinne nicht angehören, aber zur Darstellung der Wirkungsgeschichte unverzichtbar sind. Rankes Urenkel, der sich gerade mit dieser Thematik befaßt hat, fand schon zu Anfang der 1950er Jahre, auch die Fülle dieses Materials sei so groß geworden, „daß fast ein ganzes Leben zu seiner Durchdringung erforderlich wäre“ (Bäcker[-von Ranke]/1952, 32, unveröff.). - Zu den entscheidenden Mängeln der Helmholtschen Bibliographie gehört ferner die Nichtbeachtung der bibliographischen Verwicklungen des Rankeschen Werkes, welche infolgedessen später weitgehend unbekannt blieben. „La biographie d’un tel homme que M. Ranke est tout entière dans ses écrits.“ Dieser Satz von Saint-René Taillandier (1854, 44) mag beruhigend klingen, wenn biographische Kenntnisse fehlen. Andernfalls dürfte seine Umkehrung sinnvoller sein. Es soll daher der Versuch unternommen werden, einer allgemeinen Anregung Reinhard Wittrams zu folgen: „Es müßte möglich sein, bei allen großen neueren historischen Darstellern noch tiefer in die Welt der Grund- und Vorlieben hineinzuleuchten, verständlich zu machen, wo wesensmäßige Affinitäten und ungebrochene Sympathien gegeben sind, wo etwa ein verborgenes Kompensationsbedürfnis wirkt oder ästhetische Lust vorwaltet. Man könnte dadurch vielleicht etwas vom feineren Wurzelwerk der geschichtswissenschaftlichen Determiniertheit erschließen.“ (Wittram/1947, 95). Inhaltlich steht also, soweit dies möglich ist, der Zusammenhang von Persönlichkeit und Werk im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Dies gilt nicht allein für den ersten Band ‚Persönlichkeit, Werkentstehung, Wirkungsgeschichte‘, sondern auch für den mit ‚Grundlagen und Wegen der Forschung‘ befaßten zweiten Band, verbunden mit dem Bemühen, den fast verlorenen Begriff ‚Geistesgeschichte‘ für Rankesche Zusammenhänge mit detaillierter Empirie zu fundieren. In einem für die folgenden Abteilungen als grundlegend anzusehenden ersten Teil des e r s t e n B a n d e s - ‚Wissenschaftler oder Literat?‘ - wird der Versuch unternommen, bei Nutzung Rankescher Selbstzeugnisse und zeitgenössischer Stimmen ein neues, realistischeres Bild zu zeichnen. Dabei werden Eigenheiten von Persönlichkeit und Werk sichtbar, die von Rankes Rolle als Mensch, Wissenschaftler und Autor, - 15 -
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seiner arbeitsorganisatorischen und archivlichen Praxis, nicht zuletzt seiner historiographischen Einstellung ein stark korrigiertes Bild vermitteln, das zu neuer, kritischerer Betrachtung und Benutzung seines Werkes Anlaß geben sollte. Der zweite Teil des ersten Bandes befaßt sich mit Rankes über die Historiographiegeschichte hinaus weit hinein in die Gefilde von Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaft reichender zeitgenössischer und späterer Wirkung. Neben der mangelnden Kenntnis seiner Persönlichkeit als Mensch und Autor ist auch seine vielstimmige, höchst kontrovers verlaufende Wirkungsgeschichte bis auf wenige zumeist prominente, immer wieder bemühte personale Ausnahmen in Ausdehnung und Tiefe nahezu unbekannt geblieben oder häufig stereotypen und anonymisierenden Pauschalierungen zum Opfer gefallen. Betrachtet wird ferner die mit Rankes Erstlingswerk verbundene Gründungssage der Geschichtswissenschaft und die Gültigkeit des Begriffs ‚Historismus‘ für ihn und seine Zeit. Völlig falsch eingeschätzt wurde nicht minder seine Wirkung zu Zeiten des ‚Dritten Reichs‘. Nach Deutungen, die in ihm einen politischen Führer, anderen, die in ihm einen Philosophen und dritten, die in ihm einen Geschichtstheologen sahen, sind in den letzten Jahrzehnten - nicht zuletzt ausgehend von Arbeiten Hans Robert Jauß’ - vorwiegend literaturwissenschaftliche und ästhetische Betrachtungen angestellt worden, welche für Ranke wie für die Geschichtswissenschaft in Teilen eine bedenklich ambivalente Bedeutung haben. Der z w e i t e B a n d sucht zunächst den Historiker in der Fülle seiner textlichen Hervorbringungen umfassend und im Detail vorzustellen. Der Begriff ‚Text‘ ist dabei ein weitgefaßter. Er umschließt neben dem Buchwerk auch jede andere Art überlieferter wortmäßiger Äußerung, sei es in Briefen, Tagebuchblättern, Gutachten, Vorträgen und Gesprächen, also in schriftlicher wie mündlicher Form. Der erste Teil gilt dem W e r k Rankes. In der Eingangsabteilung werden zunächst die zumal durch Kriegseinwirkung selten gewordenen eigenhändigen Ausgaben verzeichnet. Nicht nur zur allgemeinen Orientierung, sondern auch mit Blick auf weitreichende Irrungen (s. II/9.1) werden die bibliographischen Daten der Werke durch Inhaltsangaben ergänzt, und es wird - nach Möglichkeit - in knapper Form auf äußere Entstehungsumstände, wesentliche Veränderungen der einzelnen Ausgaben und andere Besonderheiten hingewiesen. Eine zweite Abteilung gilt den n i c h t s e l b s t ä n d i g e n S c h r i f t e n Rankes. Einige kamen nach ihrem ersten Erscheinen - so Artikel der von ihm herausgegebenen ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ (1832-1836) - später an verschiedenen Stellen seiner selbständigen Werke unter, während andere zu seinen Lebzeiten, über sechzig Jahre hin, nicht mehr in Erscheinung traten. Es dürfte z. B. schwerfallen, allein für die bekanntesten Aufsätze Rankes und der historischen Zunft insgesamt, ‚Die großen Mächte‘ und das ‚Politische Gespräch‘, sogleich Sicherheit über die Ausgaben letzter Hand zu gewinnen. Bei der Suche wird sich die peinliche Tatsache ergeben, daß Rankes als besonders bedeutend und wirkmächtig angesehenes ‚Politisches Gespräch‘ von 1836 (HPZ II/4, 775-807), in den Augen Friedrich Meineckes „das Höchste und Bedeutendste dessen, was er als Politiker und Publizist je geboten hat“ (Rankes ‚Politisches Gespräch‘. Zuerst als Einl. zur Ausg. von 1924, später u. a. in: Fr. M. WW VII/1968, 74) in fünfzigjähriger Abgeschiedenheit zu Rankes Lebzeiten nie mehr erschienen ist von einer zeitgenössischen Rezeption der Schrift kann also nicht annähernd die Rede sein - und sich damit mancher spätere historiographiegeschichtliche Interpretationsansatz nurmehr als rückprojizierende Hypothese erweist. Insofern wurde auch nie die - 16 -
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weitreichende Frage nach den Gründen der zeitgenössischen Wirkungslosigkeit und der Zurückhaltung Rankes in der publizistischen Weiterverwertung der Schrift gestellt. Eine dritte Abteilung befaßt sich mit Rankes H e r a u s g e b e r s c h a f t e n , zunächst in seiner problematischen Eigenschaft als Zeitschriftenherausgeber, sodann, was über seiner Rolle als Darsteller meist unbeachtet bleibt, als großzügiger Quelleneditor. Die Darlegungen zum N a c h l a s s - der zweite Teil des zweiten Bandes - bieten in ihrer 1. Abteilung eine kritische Einführung in die Nachlaß- und Editionsgeschichte. Daraufhin wird in einem inventarischen Abschnitt neben dem 1921 angekauften eigentlichen Nachlaßbestand der Staatsbibliothek Berlin und dem durch Kriegseinwirkung vernichtete Depositum ‚Leopold von Ranke‘ des Geheimen Staatsarchivs Berlin - aus Benutzungsaufzeichnungen der Ranke-Enkelin Ermentrude von Ranke (1892-1931) hier erstmals im Bestand skizziert - eine Vielzahl weiterer mit Ranke in Zusammenhang stehender Bestände aufgeführt. Der werkchronologische Teil erfaßt und verzeichnet erstmals kritisch - intendiert - alle verstreut edierten nachgelassenen Papiere Rankes aus den Jahren 1808 (?) bis 1886 nach Entstehungszeit, Herkunft und Druckort, nach Möglichkeit auch editorischer Qualität. Der dritte Teil wendet sich dem B r i e f w e c h s e l Rankes zu. Eine Einführung befaßt sich mit seiner bisher unbekannten fragwürdigen Rolle als Korrespondent sowie mit der diffusen Editionsgeschichte der Gattung. Das Fehlen einer dringend benötigten ‚Gesamtausgabe‘ und die nicht seltenen Mängel der in großer Zahl aufgetretenen kleinen Gelegenheitsveröffentlichungen - Hermann Oncken bezeichnete das Material bereits 1922 als „unsagbar zersplittert“ (Oncken/1922, IV) - machten eine Zusammenstellung intendiert aller von 1829 bis 2012 erschienenen Veröffentlichungen mit Briefen von oder an Ranke erforderlich. Dabei werden etwa 160 Schriften mit Briefwechsel in dieser Fülle erstmals nachgewiesen und kritisch regestiert. In einem eigenen Abschnitt folgen Hinweise auf epistolarische Nachlassbestände, wobei zahlreiche unveröffentlichte Briefe von und an Ranke - trotz des Verdikts älterer Ranke-Forschung nachgewiesen werden. Ein die Abteilung beschließendes, Archivbestände und Druckorte verbindendes Register weist erstmals etwa 650 Korrespondenten nach und dürfte somit auch über die Ranke-Forschung hinaus von Interesse sein. Der vierte Teil stellt D e n k s c h r i f t e n Rankes vor: in seiner 1. Abteilung zunächst in Anlaß und Adressat sehr unterschiedliche w i s s e n s c h a f t l i c h e Denkschriften, Gutachten, Empfehlungen, Pläne, Entwürfe etc. der Jahre 1826-1884, über hundert an der Zahl, welche für die preußische, bayerische und deutsche ‚Wissenschaftspolitik‘ Rankes und insofern auch für die Wissenschaftsgeschichte der Zeit, zum Teil noch heute wirksam und von Bedeutung, nur zu einem geringen Teil zu seinen Lebzeiten weiter bekannt geworden sind, jedoch hier aus zeitgenössischen und neueren Quellen erstmals in diesem Umfang nachgewiesen werden konnten. - Die sich anschließenden h i s t o r i s c h - p o l i t i s c h e n Denkschriften, Gutachten und Reflexionen der Jahre 18311885 gehen über die bisher ausschließlich betrachteten Schriftstücke für Edwin von Manteuffel aufgrund eines weiter gefaßten Gattungsbegriffs entsprechend hinaus. Zudem werden generelle Hinweise auf bisher nicht bekannt gewordene politisch relevante Zeitungsartikel Rankes gegeben. Mit dem fünften Teil des zweiten Bandes beginnt die Reihe der mündlichen Werkformen, zunächst Rankes V o r l e s u n g e n und Ü b u n g e n an der Universität zu Berlin, wobei das verdienstvolle, korrekte Verzeichnis von Ernst Schulin (1958, 306-308) angereichert werden konnte. In diesem Zusammenhang werden auch Nachweise über - 17 -
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Kolleghefte Rankes und - mit Blick auf die Forschungen von Gunter Berg (1968), Volker Dotterweich und Walther Peter Fuchs (WuN IV/1975) - in deutlich vermehrtem Umfang über Hörernachschriften erbracht. Beiden Textgattungen gilt auch eine Betrachtung ihrer im Falle Rankes tiefgreifenden, zum Teil unlösbaren editorischen Problematik, welche zuweilen Züge philologischer Archäologie annimmt. Der sechste Teil schließt an mit ‚V o r t r ä g e n und A n s p r a c h e n ‘ . Er beginnt mit der Frankfurter Oberlehrerzeit, geht über zu einer erstmaligen, der offiziellen Publikation Adolf Harnacks (1900) nicht zu entnehmenden vollständigen Übersicht über Rankes Lesungen vor der Berliner Königlichen Akademie und wendet sich dann seinen Äußerungen bei der Versammlung der Germanisten in Frankfurt a. M. vom Jahre 1846 zu, sodann dem bisher unbekannten Auftreten in der Pariser Académie sowie den Vorträgen vor der Historischen Kommission bei der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, welche sich in der heute nicht mehr bewußten Gefahr befand, Rankes weiterreichenden Planungen zum Opfer zu fallen. Den Abschluß bilden Ansprachen zu besonderen persönlichen Anlässen. Der siebente Teil - ‚B e g e g n u n g e n und G e s p r ä c h e ‘ - stellt eine in ihrer Art neue, über 150 Positionen umfassende Nachweisung - größtenteils mit inhaltlichen Vermerken - von nichtöffentlichen Vorträgen, Gesprächen und Begegnungen Rankes mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft, Politik, Militär und aus Fürstenhäusern dar. Er wird eingeleitet durch eine Einführung in die Geschichte der höchst unzureichenden Ranke-Biographik. Der achte Teil - ‚S a m m l u n g e n ‘ - befaßt sich mit Rankes Bibliothek und Handschriftensammlung. Der 1888, zwei Jahre nach seinem Tod, in die Syracuse University/USA verschifften Sammlung, welche nicht allein seinen Bücherschatz, sondern auch seine Sammlung zahlreicher handschriftlicher Quellen des 16. bis 18. Jahrhunderts sowie persönliche Papiere - manches später hinzuauktioniert - birgt, gilt ein ausführlicher Überblick. Der neunte Teil - ‚B i b l i o g r a p h i e ‘ -, in der Forschung mehrfach als Desiderat bezeichnet, enthält in seiner ersten Abteilung eine kritische Übersicht über Geschichte und Situation der Ranke-Bibliographik. Seine zweite Abteilung stellt eine ‚Chronologische Werkübersicht 1824-1886‘ zusammen, während eine dritte die Ausgaben eigener Hand um in ihrem Umfang bisher unbekannte fremdhändige, sowohl deutschsprachige - spätestens beginnend 1843 - als auch fremdsprachige, 1834 einsetzend, ergänzt. Erstere entströmen, zumal seit 1917, als Rankes Werk gemeinfrei wurde, mit Hilfe z. T. renommierter Herausgeber endlos einer Vielzahl von Verlagen, geben indes für die Ranke-Forschung im engeren Sinne eher zu kritischen Bedenken Anlaß, wenn sie nicht gar gänzlich zurückzuweisen sind. Es gehört zu den Aufgaben der vorliegenden Arbeit, auf die notwendigen Vorbehalte gegenüber diesen Sekundärausgaben im einzelnen aufmerksam zu machen. - Der bibliographische Teil schließt mit einem ‚Chronologischen Literaturverzeichnis‘. Es enthält Schriften, in denen Ranke Erwähnung findet. Mit seinen über 3000 Positionen geht es einerseits zwar über ein bloßes Verzeichnis von Ranke im Titel führenden Schriften weit hinaus, beispielsweise mit einer größeren Zahl von Selbstzeugnissen und historiographischen, literaturgeschichtlichen und lexikalischen Werken des 19. Jahrhunderts, vermag andererseits jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Der zehnte Teil schließlich - ‚P e r s o n e n r e g i s t e r ‘ - verzeichnet nicht allein die Vertreter von Geschichtsdenken und Forschung, von Kultur, Gesellschaft und Politik, - 18 -
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sondern auch die in Rankes Darstellungen auftretenden Akteure - soweit hier genannt -, was eine gezielte und werkübergreifende Suche nach von ihm behandelten Themen und Zeiten ermöglicht. Beiläufig kann damit auch ein alphabetischer Zugriff auf die chronologisch angelegte Bibliographie durchgeführt werden. * Das vorliegende Werk sucht seine Aufgabe nicht zuletzt in der Bewußtmachung des auf der Ranke-Forschung lastenden mehrfachen editorischen Abbruch-Schicksals und im Versuch, durch Überblick und Einblick Grundlagen für eine Besserung zu schaffen. Alle für die Ranke-Forschung und die breitere wissenschaftliche Öffentlichkeit wichtigen Großunternehmungen sind diesem Abbruch-Schicksal zum Opfer gefallen: die beiden von Ranke selbst als Torsi zurückgelassenen Projekte seiner ‚Sämmtlichen Werke‘ (1867-1886) und der ‚Weltgeschichte‘ (1881-1886), der abgebrochene erste und einzige Versuch einer strictu sensu nicht historisch-kritischen Werk-Gesamtausgabe der Deutschen Akademie (1925, 1926, 1930), eine nicht wissenschaftlich zu nennende auswählend-kürzende Zweitdruckausgabe seiner Briefe unter dem irreführenden Titel ‚Briefwerk‘ (1949), der verkürzte, mehrfach umgeplante und zum Teil von schweren Mängeln gezeichnete Versuch einer wiederum falsch titulierten Ausgabe ‚Aus Werk und Nachlaß‘ (1964, 1971, 1973, 1975) seitens der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, nebst verfehlten Aktivitäten zur Ordnung des Nachlasses und schließlich der zunächst eklatant gescheiterte Versuch einer dort ebenfalls angesiedelten Briefwechsel-Gesamtausgabe (2007). Dies zusammengenommen stellt mit der Vielzahl kleiner und kleinster, nicht selten mit Mängeln behafteter editorischer Beiträge trotz einiger fördernder, ordnender und hervorbringender Elemente eine weit ausgebreitete Zersiedelungs- und Trümmerlandschaft dar, die nur mit kritischem Überblick zu betreten und nicht in absehbarer Zeit in wohlstrukturierte sanierte Komplexe zu verwandeln ist. Werk und Nachlaß Leopold von Rankes stellen in ihren weiten Dimensionen, ihren mannigfaltigen inneren Entwicklungen und textlichen Verwicklungen eines der schwierigsten Probleme und umfangreichsten Projekte wissenschaftlichen Edierens dar. Dies gilt - abgesehen von ökonomischen und strategischen Fragen der Wissenschaftsförderung - sowohl für inhaltlich konzeptionelle Entscheidungen als auch für die damit verbundenen, in seinem Fall nicht zu unterschätzenden äußeren Gestaltungsfragen. Ernst zu nehmen ist die Gefahr, daß editorische Aufgaben, v. a. die Möglichkeiten einer historisch-kritischen Gesamtausgabe unterschätzt werden. Ein solches Unternehmen erfordert nicht nur eine fachübergreifende editionswissenschaftliche Kompetenz, sondern bedarf auch - mit Blick auf Rankes multinationales und über weite Zeiträume der Geschichte sich erstreckendes Werk - eines über mehrere Jahrzehnte tätigen, vielfältig historisch-thematisch spezialisierten und damit mehrpersonigen Fachwissens, denn gerade bei Ranke ist neben allgemein geistesgeschichtlichen, geschichtstheoretischen, literaturwissenschaftlichen und verwandten Fragestellungen auch eine Klärung bzw. Dokumentation der wissenschaftsgeschichtlichen Stellung und Bedeutung der einzelnen Werke und ihrer nicht immer klar oder korrekt zu Tage tretenden internationalen quellenmäßigen Substrukturen vonnöten und ergiebig. Der Zustand der skizzierten Trümmerlandschaft hängt nicht zuletzt zusammen mit der geringen Neigung einer vorwiegend interpretatorisch und selbstdeutend orientierten - 19 -
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Forschung, sich mit den arbeitsaufwendigen Gemengelagen verstreuter und im Falle Rankes schwer zu überblickender und zu entziffernder Archivbestände überhaupt und überdies nachhaltig zu befassen. Diese Archivscheu wird ergänzt durch eine Einstellung, welche schon in der oft dem wissenschaftlichen Nachwuchs überlassenen oder aufgebürdeten Editionsarbeit, und erst recht in der empirisch unabdingbaren bibliographischen Recherche lediglich einen niederen Dienst zu erblicken vermag. Die incohärente Geschichte der Ranke-Forschung hat desgleichen gezeigt, daß es nicht nur auf die - gelegentlich unabdingbare - munifizierende und leitende Patronage wissenschaftlicher Institutionen ankommt, sondern mehr noch auf das nachhaltige Engagement einzelner Forscher, zu denen man trotz dieser oder jener Mängel beispielgebend Rankes langjährigen Amanuensen und Sammlungsdokumentaristen Theodor Wiedemann, Rankes ersten Nachlaßherausgeber und Deuter Alfred Dove, seinen ersten Bibliographen und späteren Biographen Hans Ferdinand Helmolt, zu Rankes Korrespondenz nach Hermann Oncken und Karl Alexander von Müller vor allem Bernhard Hoeft, zur Heranziehung der Vorlesungen Eberhard Kessel und Rudolf Vierhaus, zur Einrichtung und Bestandsmehrung des Wieher Ranke-Archivs Gottfried Braasch sowie zur Erschließung und Ordnung des Ranke-Nachlasses der Berliner Staatsbibliothek Siegfried Baur zählen muß. Dabei haben - neben den um die Internationalisierung der Diskussion verdienten Georg G. Iggers, Shinichi Sato und Fulvio Tessitore - vor allem Ernst Schulin und Ulrich Muhlack häufig ein diskussionsförderndes oder klärendes Wort gesprochen.
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1. Teil WISSENSCHAFTLER ODER LITERAT? Eine kritische Studie zu Persönlichkeit und Werkentstehung
(I/1)
„Zwischen den Klippen der Irrung, In chaotischer Verwirrung Führen meine Pfade.“ Aus Rankes Tagebuch, zum 30. Sept. 1881
1. Kapitel (I/1.1) „DER UNGEWÖHNLICH KLEINE, UNSCHEINBARE MANN“ UND DAS FASZINOSUM ‚BUCH‘ Der aus einem kargen Elternhaus im kursächsischen Städtchen Wiehe stammende zarte und ungewöhnlich kleinwüchsige zwölfjährige Schüler Franz Leopold Rancke (!) hatte auf der nahegelegenen Klosterschule Donndorf schon erkannt, daß es nicht sinnvoll war, die Wissenschaften zu vernachlässigen und sich „auf seine Geburt“ oder „auf seinen Reichtum zu stützen“. Wie leicht konnte man da, wie in seiner Vorfahrenschaft mehrfach geschehen, „durch einen Unglücksfall sogleich in die größte Dürftigkeit und Armut versetzt“ werden. Hingegen zeige uns die Geschichte, „wie weit man es bringen“ könne (‚Welchen Einfluß hat die Erlernung der Geschichte auf das Leben der Menschen?‘, Henz/1968, 304f.). „Arbeit und Tätigkeit“, so schreibt später sein Bruder Karl Ferdinand in einer Skizze ‚Zu Leop. Biogr.‘ (unveröff., FR NL GStA PK), „sind das einzige Streben; vorwärts kommen, lernen, sich unter den Menschen hervortun ...“. Ein selbstverfaßtes Buch galt in Rankes Elternhaus nicht allein als öffentliches Dokument besonderer Leistung, sondern auch als greifbarer und beruhigender Beweis aussichtsreicher Befähigung, höherer gesellschaftlicher Weihe und Teilhabe an der Sphäre schöpferischen Geistes. Schon als Schüler hatte Ranke zuhause buchähnliche Arbeiten mit „Zeichnung und Goldschrift … erlesen in Folio schön gebunden“, vorgelegt (ebd): „In des Vaters Stube paradirten mehrere solch eingebundene Geburtstagsgeschenke von Leopold’s Hand, z. B. eine metrische Übersetzung einer Tragödie von Sophocles“, wie sich sein Bruder Wilhelm erinnerte. „Während er Schüler in Pforta war, arbeitete er in jedem Jahr ein solches Werk aus und an jedem Geburtstage des Vaters erschien ein Bote, welcher ihm ein solches Geschenk überbrachte“ (unveröff. WR NL, GStA PK). Ranke selbst erinnerte sich in seinem 1. autobiographischen Diktat, vom Oktober 1863, an eine vollständige Übersetzung der ‚Elektra‘ des Sophokles, mit deren Reinschrift er dem Vater „zu seinem Geburtstag ein Geschenk“ gemacht hatte. Auch bei der Übersetzung des ‚Philoktet‘ hatte er sich große gestalterische Mühe gegeben (SW 53/54, 23f.). Anläßlich von Rankes 50jährigem Doktorjubiläum schilderte Leopolds Bruder Ernst die freudige Ergriffenheit des Vaters im Angesicht des nun wirklich gedruckten öffentlichen Beweismittels, keineswegs einer nie geschriebenen Dissertation, sondern der 1824 erschienenen ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ und ihrer Beilage ‚Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber‘: „Da, Abends, lag in rothem Saffian/Mit goldnem Schnitt ein stattlich Bücherpaar/Vor unserm Vater offen aufgeschlagen,/Er las daraus mit innigstem Behagen./ ... Und wie ein Blatt neu umgeschlagen rauschte,/Erhob, das Auge freudenhell benetzt,/Der Vater sich und rief im Jubelton:/Mein Sohn ist er! mein Sohn, mein lieber Sohn!/ Es war Dein erstes Buch, - 23 -
I/1.1 „Der ungewöhnlich kleine, unscheinbare Mann“
mein Leopold,/Das Doppelwerk, das solche Gluth entzündet/... Die Träger deutscher Wissenschaft, sie tragen/Bausteine Dir heran zum Ehrenmal./ ...“ ([Ranke, Ernst:] Dem theuren Jubilar Leopold von Ranke zum 20. Februar 1867). Den - später doch wieder geänderten - Titel seines Werkes hatte Ranke zuerst in einem Brief an Heinrich genannt, als er ihm, und nur ihm, „das Geheimnis von dem Buch“ entdeckte, und Gott gebeten, daß er es ihm nicht anrechnete, wenn er „vor der Tat“ einmal davon redete ([3. u. 4. 12. 23], NBrr 37), und er hatte Heinrich gebeten, „für das Gelingen“ des Werkes „zu seiner, der Deutschen und unsrer Ehre ein Wort bei Gott einzulegen.“ (18. 2. 24, SW 53/54, 124). Übersandt hatte Ranke das Erstlingswerk Weihnachten 1824, gerade zu Beginn seines dreißigsten Lebensjahres, und dies war von besonderer Bedeutung. Sein Pfortaer Lehrer E. J. G. Schmidt, dessen Famulus er in der Nachfolge Johann Gottlieb Fichtes gewesen war, hatte, wie Ranke sich in seinem autobiographischen Diktat von 1863 erinnerte, „vor dem dreißigsten Jahre keine Stelle annehmen wollen, weil unser Herr und Heiland auch erst im dreißigsten Jahre zu lehren angefangen“ (SW 53/54, 17f.). Der Zusammenhang mag zunächst befremden, doch Ranke hatte noch während der Arbeiten an seinem Werk zur Weihnacht des Vorjahres Bruder Heinrich gemahnt: „Und nur vor dem Druckenlassen einer excentrischen Meinung hüte Dich bis zum dreißigsten Jahr. Es ist nicht mehr lange hin; ich hab es bald erreicht.“ (28. 12. 23, SW 53/54, 120). Dies war freilich, nach vergeblichen Veröffentlichungsversuchen, eine kaum aufrichtig zu nennende Sublimierung seines bisherigen Scheiterns. Denn Rankes Erstlingswerk waren zahlreiche zur Veröffentlichung drängende philologische, poetische und theologische Versuche vorausgegangen (s. II/2.3), so, neben einer ‚Luther-Novelle, um die Frauengestalten einer „Therese“ („ ... Meine liebekundigen Leser denken nun wohl ...“), ein andermal einer „Caroline“ kreisende epische Fragmente (WuN I,52 u. 57f.), gar „einem Werk über Luther“, an dem er den Erinnerungen seines Bruders Heinrich zufolge im Luther-Jahr 1817 schrieb und „das er noch in demselben passenden Jahre unter dem Titel ‚Martin Luthers Evangelium‘ erscheinen lassen wollte“ (HR: Jugenderinnerungen 21886, 90). Er hatte - ein Grundzug seines Schaffens - schon damals „zuviel angefangen, zuviel unternommen“ (1. autobiogr. Diktat, Okt. 1863, SW 53/43, 31). Eine Dissertation war gleichwohl nicht dabei. Sie wird von Ranke, der selbst frühe Übersetzungsübungen nicht unerwähnt läßt, in keinem bisher bekannt gewordenen Lebenszeugnis oder in einem amtlichen Dokument genannt. Auch seine Leipziger Alma Mater weiß nur von der Promotion, nichts von einer Dissertation. Das Thema wird vielmehr von Ranke ein Leben lang beschwiegen. Dabei läßt sich leicht vorstellen, daß mit dieser Hervorbringung kein geringerer Aufwand dedikatorischer Art getrieben worden wäre als mit seinem tatsächlichen ‚Erstling‘. So war also dieses Doppelwerk von 1824 die endlich erreichte Verwirklichung eines großen in der RankeFamilie und -Vorfahrenschaft angelegten Faszinosums. Übrigens entdeckte Rankes Bruder Ernst bei späteren Untersuchungen zur Familiengeschichte, daß wohl kein direkter Urahn, doch immerhin der Bruder eines Urahns, publizistitisch tätig gewesen war, mit einem Werk über die Sprache der Engel (Rancke, Andreas: De Locutione Angelorum, Leipzig 1678). Ranke schrieb Ernst darüber dankbar: Er ist „der erste dieses Namens oder vielmehr der einzige, der vor mir hat etwas drucken lassen. Wir müssen ihn also in Ehren halten.“ (an ER, 9. 7. 75, SW 53/54, 517). Eine Ausgabe der Septuaginta, 1772 von seinem Großvater erworben, war das älteste Buch in der - 24 -
I/1.1 „Der ungewöhnlich kleine, unscheinbare Mann“
Familie. Ranke zählte es als Zweiundachtzigjähriger „zu den Laren und Penaten unsres gelehrten Haushaltes“, nahm es zur Hand und ließ sich damit ablichten (R an ER, 30. 12. 77, SW 53/54, 540). Für den Frankfurter Oberlehrer ist das Buch nicht allein Mittel der Darstellung und Selbstdarstellung, sondern wird überhaupt, und in seinem Fall wohl zu Recht, als das wahre und einzige zur Verfügung stehende Karriereinstrument angesehen: „will ich anders mein Leben nicht ganz verlieren und verderben, so muß diese Schrift sich und mir Freunde und Unterstützung suchen…“, schreibt er über seinen Erstling (an HR, 18. 2. 24, SW 53/53, 121). Dieser hatte ihn „zu der Welt in einen neuen Bezug gesetzt“ (an HR, 17. 11. 24, SW 53/54, 137), ja stellte den „glücklichen Beginn“ seines „Eintrittes in die Welt“ dar (an HR., 17. 2. 25, SW 53/54, 139). In der Tat hatte er diesem Werk, allerdings nicht ohne eine wohlwollende Besprechung Varnhagens, zunächst seinen Eintritt in die Berliner Universität zu verdanken. Die besondere Beziehung Rankes zu seinen literarischen Hervorbringungen blieb auch seinem Wiener Förderer Bartholomäus Kopitar nicht verborgen. Am 23. 5. 1829 schrieb er über Rankes ‚Serbische Revolution‘ an Jakob Grimm: „Rxx ist allerdings ein guter Kopf, und (aber) wiewohl ein geborner Thüringer, doch auch stark lerisch (λέριος). Namentlich ist das E n d r e s u l t a t seines Buchs mehr b e r e c h n e t e s Votum (für sein n ä c h s t e s p e r s ö n l i c h e s Interesse) als g e f u n d e n e s , n a t ü r l i c h e s Resultat. Er will sein Glück machen, und dieß bald, und ein glänzendes.“ (Vasmer: B. Kopitars Briefwechsel mit Jakob Grimm/1938, 63). Sperr. u. Klammern i. T.). - ‚Lerisch‘ erläutert der Herausgeber (ebd., A. 2) wie folgt: „Die Lerier waren berüchtigt wegen ihrer Bösartigkeit.“ Später gewinnt ‚das Buch‘, nunmehr sein angewachsenes großes ‚Werk‘, wie noch zu zeigen sein wird, in den Augen Rankes eine weitere, erhabenere Bedeutung. Es wird zum Monument seiner selbst und der Wissenschaftsgeschichte, ja, es ist göttlichen Segens würdig, zumindest bedürftig („... des neuen Buches, das von Gott gesegnet werden möge...“ An Geibel, 19. 1. 74, Geibel/1886, 57). * Zum tieferen Verständnis Rankes hätte man sich einen Blick auf sein Äußeres und sein öffentliches Auftreten gern erspart, ein Zusammenhang, der in der Forschung bisher nicht beachtet wurde, doch sind die Phänomene der Rankeschen Körperlichkeit derart extrem gestaltet, daß nicht angenommen werden kann, sie seien ohne Einfluß auf Persönlichkeit und Umwelt geblieben. Die Natur hatte ihm äußere Vorzüge in ungewöhnlichem Maße versagt, hatte doch die Erscheinung des „kleinen, etwas verwachsenen Mannes“ ... „nichts Gefälliges“ (Geiger/1918). „Die Gestalt war sehr unansehnlich und nicht wohlgewachsen“, schreibt auch Rankes Hörer Bernhard von Simson (1895, 6). Franklin L. Ford weiß zu berichten, Ranke sei fünf Fuß groß gewesen [ca. 1,52 m.], „even when standing“ (Ford/1975, 64). Er erschien unbedeutend: „Ranke is a little, insignificant-looking man, very like a Frenchman - small, vivacious, and a little conceited-looking” schrieb seine angesehene, auch im Hause Schelling verkehrende Übersetzerin Sarah Austin (Three Generations of Englishwomen I/1888, 171f.), „his head just appears above his desk“, bemerkte William Wetmore Story bei einer Vorlesung (H. James I/1903, 213f.). Ferdinand Gregorovius (1821-1891) lernte ihn im Alter als „kleines Männchen mit einem leise markirten Buckel“ kennen und notierte: „Er imponirt nicht, aber interessirt sehr.“ (Tgb.-Eintrag, 28. 4. 67, Gregorovius/²1893, - 25 -
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353f.). Seine jüngeren Brüder Ferdinand und Wilhelm erschienen Leopold „größer und schöner“, als er es war, - so schrieb er um Weihnachten 1823 an die Eltern ([ca. 16. 12. 23], SW 53/54, 116). Er sah sich da wohl ganz als Gegenteil der schönen, bewunderten Erscheinung seines geliebten Bruders Heinrich, des Vertrauten seiner frühen Jahre, Dieser galt ihm als „einer der lieblichsten Knaben, die man sehen konnte“, er sei „auch später als Jüngling vollkommen schön gewesen“ (Simson/1895, 6). Von einem Empfang in Windsor schrieb Ranke als Siebzigjähriger selbstironisch, eine Haltung, die er gerne einnahm, an seine Frau, er sei dort hinter einem hochgewachsenen Herrn als ihr „kleiner und nicht gerade schöner Ehegemahl“ einhergeschritten (25. 6. 65, SW 53/54, 451). Doch es war nicht allein seine unansehnliche Statur mit einem „außer Verhältniß stattlichen Haupt“ (Dove: Schriftchen/1898, 151). Letzteres bezeugt auch sein Amanuense Paul Bailleu, der bemerkt: „Auf einem kleinen Körper saß ein unverhältnißmäßig großer Kopf“ (P[aul] B[ailleu]: Leopold v. Ranke/1895, 1). Bailleu kannte natürlich auch Rankes Redeweise „in schönstem thüringer Deutsch“ (ebd.) oder, wie es bei Dove heißt, „Thüringer Mundart in hoher Tonlage, mit Gurgellauten versetzt“ (Dove: Schriftchen/1898, 172). Auch Karl Frenzel (1827-1914) hatte Mühe, ihn zu verstehen: „Seine Stimme war dünn, ohne Wohlklang“ (Frenzel/1912, 45). Ranke war überdies leicht pockennarbig (FvR/1903, 195), seine Unterlippe ragte vor, seine Augen waren starrend (Jaffé an A. Thorner, 10. 5. 39, Vier Briefe aus der Jugendzeit Philipp Jaffé’s/1880, 454). Varnhagen von Ense schrieb später an ein Konterfei Rankes in der Leipziger ‚Illustrirten Zeitung‘ „Ranke in seiner ganzen Hässlichkeit“ (Nr. 708, 24. 1. 57, aus dem NL Varnhagens mitgeteilt von Helmolt/1921, 192, A. 167). Dabei mag ein wenig Gehässigkeit mitgespielt haben, doch selbst der unverdächtige Alfred von Arneth (1819-1897), der Ranke Ende Oktober 1863 im Wiener Staatsarchiv kennenlernte, fand, „daß der erste Eindruck, den sein Aeußeres und sein Auftreten“ auf ihn „hervorbrachten, kein durchaus günstiger war. Dazu war der ungewöhnlich kleine, unscheinbare Mann mit seinen lebhaften, eigenthümlich linkischen Bewegungen, welche bei Jemand, der so viel in hoher Gesellschaft verkehrt hatte, in Verwunderung setzten, mit seinem mächtigen Kopfe, der durch einen Wald grauer Haare fast unförmlich groß erschien, mit unschönen, wie durch Blatternarben verwischten Gesichtszügen wirklich nicht angethan. Nur der sprühende Blick seiner kleinen, aber ungemein sprechenden Augen verrieth, daß man es mit einem ungewöhnlichen Manne zu thun habe.“ (v. Arneth/1892, 235). Andere schilderten ihn als „kleinen, beweglichen, immer lachenden Dreikäsehoch“ (Fontane an Lepel, 25. 5. 57, Theodor Fontane und Bernhard von Lepel II/1940, 180), der, „in der ihm von Natur verliehenen heiteren Gemütsstimmung“ (Wiedemann IV/1892, 209) sehr unterhaltend sein konnte, nach den Erinnerungen seines Amanuensen Georg Winter auch „eine unvergleichliche Munterkeit und Heiterkeit der Seele“ besaß (Winter: Erinnerungen/1886, 224), gern provokativ Diskussionen auslöste, so im Varnhagen-Kreis mit der bezeichnenden Behauptung, vor der französischen Revolution sei mehr Freiheit in der Welt gewesen als seitdem. Er wurde, besonders von A. W. v. Schlegel, „stark bestritten.“ (Aus dem Nachlasse Varnhagen’s von Ense. Bll. aus d. preuß. Gesch. IV/1869, 260). Die Defizite seiner Körperlichkeit führten also keine gesellschafts- und weltabgewandte, resignative Reaktion herbei, sondern wurden mithilfe eines lebhaften bis ungezügelten Temperaments, gepaart mit durchgängiger Heiterkeit und steter interes- 26 -
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sierter Kontakt- und Gesprächsbereitschaft, durch einen immensen Zustimmung heischenden Öffentlichkeitsdrang, einen von Herman Grimm, der im Hause Ranke verkehrte (FvR/1903, 13), festgestellten „gewaltigen Drang, sich mitzuteilen“ (H. Grimm/ 1948, 243), wohl unter großem nervlichen und motorischen Einsatz verdeckt, versuchsweise ausgeglichen, zumindest bekämpft, - Bemühungen, die sich im Alter auf unangenehme Weise gesteigert haben dürften. Varnhagen zeichnete eine Begegnung mit ihm im Jahre 1858 in seinem Tagebuch auf: „Ueberhaupt war das Benehmen des kleinen, schiefen Mannes, sein Kopfwerfen, seine Händeschwingungen, seine Verdrehungen und Wackelungen des ganzen Körpers, sein Stimmwechsel zwischen leisem Flüstern und nachdrücklichstem Herausschreien, bei überstürzter, sächsischer, undeutlicher Sprache - ein vollständiges Zerrbild dessen geworden, was seine frühere Erscheinung gewesen.“ (Tagebuchblätter Varnhagens zu einer Begegnung am oder vor dem 2. 6. 1858, Wiedemann: L. v. R. u. V. v. E./1901, 365). Er betrage sich, wie Varnhagen nach einer Begegnung mit Ranke im Tiergarten aufzeichnete, „in Gebärden, Ausrufen und Gelächter ... wie ein Narr“ (ebd, 365). Das dürfte - einer Unterhaltung Varnhagens mit Frau von Treskow am 12. Mai 1855 zufolge - in Rankes frühen Jahren in der Tat anders gewesen sein. „Wir besprachen“, schreibt Varnhagen in sein Tagebuch, „seine frühere liebenswürdige Erscheinung, seine naive Lebhaftigkeit, geistreiche Gewandtheit, und mußten es rätselhaft finden, wie aus diesem frischen Jungen ein solcher Kerl hat werden können. Das Rätsel löst sich durch zwei Worte: ‚Eitelkeit, Schwäche‘“ (ebd., 364). Noch positiv gefaßt hatte Gotthilf Heinrich von Schubert seine Eindrücke vom Auftreten des jungen Ranke im Jahre 1825, als diesem „sein munterer, heller Geist so mächtig in die Augen, Mund und alle Glieder“ hereintrat, „daß er wie ein Wind vom Gebirge, dem die dunkle Wolke vorhergeht, uns Alle, gleich kleinen Schiffen im See, in muntere Bewegung setzte“. Der Schwiegervater seines Bruders Heinrich sah da in ihm ein „Menschenbild von solch’ lachender Natur, mit ihrer Fülle der lebenden, lichtstrahlenden Kräfte (v. Schubert III, 2/1856, 603f.). Später war man bestenfalls geteilter Meinung über sein Auftreten. Immerhin hatte er trotz äußerer Defizite aufgrund seiner lebendigen, geist- und humorvollen Konversation bedeutende gesellschaftliche Erfolge, nicht allein die von Karl Immermann entdeckten: „Der kleine Ranke quirlte auch eines Abends vor mir umher; munter und lustig; übrigens das enfant chéri der Damen“ (Tagebucheintrag Okt. 1833, GSA Weimar, nach WuN I, 179, A. 1). Auch sein häufiger Umgang mit Kg. Maximilian II. und anderen gekrönten und fürstlichen Häuptern spricht für eine teils positive Aufnahme, zumindest in diesen Kreisen. Schon in seinen jungen Jahren war er von dem ungeduldigen und unstillbaren Drang erfüllt, aus der Alltäglichkeit in das öffentliche Leben zu gelangen. Sein Selbstwertgefühl, verbunden mit einem ausgeprägten Erkenntnisstreben mußte sich naturgemäß nach außen, an die Öffentlichkeit wenden. Sein Genie mußte dargestellt werden, es mußte Eindruck machen, mußte anerkannt und gelobt werden. Als Zwölfjähriger hatte er bereits bemerkenswert gefunden, daß die „berühmten Männer ... denen die Kultur der Menschen so viel zu danken hat ... von allen gekannt und geschätzt werden.“ (Aufsatz ‚Welchen Einfluß hat die Erlernung der Geschichte auf das Leben der Menschen?‘. In: Henz/1968, 305). Da wird schon sein Streben nach Anerkennung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Art sichtbar. „Man hört nicht drauf, was meine Klugheit spricht“, heißt es aber noch unerfüllt und klagend in einem Gedicht um 1814 (WuN I, 51), verbunden mit einem fachlich noch unentschiedenen, aber schon - 27 -
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ganz entschiedenen Blick auf das Ruhmes-Symbol: „Nach welchem Kranz soll meine Sehnsucht streben?“ (ebd.). Einem unansehnlichen Menschen wie ihm, mit seinen unübersehbaren körperlichen Mängeln, half Mittelmäßigkeit nicht weiter: „Auch ist [es] wohl so, dass ich, um irgend etwas zu gelten, nach der höchsten Reputation streben muß. Jedoch man ist nicht mehr, als man ist; und soll nicht mehr scheinen.“ (an Varnhagen, Dez. 1828, Wiedemann: Briefe R.s an V./1895, 438). Daß man „gut“ von ihm denkt, sieht er später als seinen „einzigen Besitz in dieser Welt“ an (an Varnhagen, 10. 10. 29, ebd., 442). Das Eindruck machen-Wollen reicht bis hin zu seinem Sterbebett: Am 19. Mai 1886 kam er noch einmal zu „freierem Bewußtsein“. Auf die Mitteilung seines Sohnes Otto: „,Se. Majestät der Kaiser läßt sich erkundigen, wie es Dir geht‘, klärte sich sein Gesicht auf; er wollte sprechen - aber die Worte versagten. Nach einer Minute etwa äußerte er dann: „Es macht also doch Eindruck.“ (OvR: Die letzten Lebenstage/1886, 12f.). Ranke liebte öffentliche Auftritte, bedurfte des Zuspruchs und der Bewunderung, für sein ‚Ich‘ und seine Karriere, bedurfte der „wohlwollenden Aufmerksamkeit so sehr“ (an Perthes, 29. 9. 29, Oncken/1925, 223) und begann bereits während seiner Frankfurter Oberlehrerzeit, nicht allein eine begeisterte Auferstehungspredigt in der Kirche zu Donndorf zu halten oder das Wort vor Frankfurter Bürgern zu führen (s. II/6.1), sondern mehr noch die von ihm hochgeschätzte Rolle eines „guten Gesellschafters“ zu erlernen. Neben Selbstdarstellung und Amusement suchte er, sobald dies irgend möglich war, Eingang in fördernde höhere, adelige Kreise, so in Frankfurt/Oder in die Häuser des Präsidenten von der Reck und des Präsidenten von Wißmann (s. II/7, 1817-1825) und näherte sich der verwitweten Generalin Wilhelmine von Zielinski in ihrer „schönen Gestalt“ (An HR, 17. 2. 25, SW 53/54, 141). Später in Berlin, wo er zunächst gar als „Kourmacher“ gilt, „schlechtestes Wort hier!“, schreibt Rahel Varnhagen an ihren Mann Karl August (15. 9. 27, Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense. Briefwechsel zw. Varnhagen u. Rahel, VI/1875, 173), verkehrte er bis ins hohe Alter in mehreren Salons (Wilhelmy/1989, 591, 603, 666, 695. 761, 827, 863, 871) und Palais, ging bis Mitternacht „aus einer Gesellschaft in die andere“ (an HR, 26. 11. 44, SW 53/54, 329), war dort schließlich „in allen Gesellschaftskreisen zuhause“, wie Wilhelm von Doenniges an König Maximilian II. von Bayern berichtete (‚Notizen für die Reise nach Berlin‘, 1853, bei Hoeft/1940, 109), und ließ auch bei Auslandsaufenthalten keine Einladung, Festlichkeit oder sonstige Attraktion aus, befand sich in Paris im „Saus und Braus von anstrengenden Vergnügungen“ (an CvR, 24. 8. 55, SW 53/54, 377). Lord Acton, der Ranke besuchte und eine seiner Vorlesungen hörte, fand, er habe „in seinem Wesen nichts ernsthaftes oder würdiges“ (Acton an Döllinger, 14. 3. 55, Döllinger Briefwechsel I/1963, 57). Sein Benehmen erschien gelegentlich unkultiviert und indezent: „His articulation is bad, his manner not pleasant nor gentlemanlike. He is not so good as his books”, mußte Sarah Austin im November 1842 anläßlich einer Gesellschaft bei Schelling, wo auch die beiden Grimms, Pertz und Savigny zugegen waren, peinlich berührt feststellen (Three Generations of Englishwomen I/1888, 171f.). Mit seinem Französisch trat er so auf: „bubbling over with most horrible French, which almost chokes him.” (Letters and Recollections of Julius and Mary Mohl/1887, 33). Sein unangemessenes Benehmen erlebte auch Alfred von Arneth bei einer Generalversammlung der Historischen Kommission (s. II/6.5). Hermann Fürst von PücklerMuskau fand ihn als „beau esprit“ interessant, vermißte jedoch, „was die aristokratische Welt gute Erziehung nennt, und sich bei diesem Mangel nie recht behaglich - 28 -
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fühlt.“ (Aus Pücklers Tagebüchern, 4. 10. 47: Briefwechsel u. Tgbb. d. Fürsten Hermann v. Pückler-Muskau IX/1876, 257). Wahrscheinlich hatte der Fürst allzu sehr unter dem dominanten Allein-Unterhalter Ranke zu leiden, den Theodor Fontane später bei einem Diner kennenlernte, wo dieser „wie ein breites, wimpelgeschmücktes Festschiff im Flusse lag und rechts und links hin manövrirend, da eine Salve und hier ein Ruderschlag, keinen Zollbreit Terrain für irgend ein andres Mitglied der Gesellschaft übrig ließ“ (Fontane an Lepel, 25. 5. 57, Theodor Fontane und Bernhard von Lepel II/1940, 179f.). - Aus Paris schrieb Ranke in seinem siebzigsten Jahr: „...außer den Studien - ich bekenne es - haben auch die Beziehungen des Lebens noch immer viel Reiz für mich.“ (An ER, 22. 5. 65, SW 53/54, 42). Und nach einem Konzert in Buckingham Palace: „Ich bin doch noch sehr amüsabel, wie ich finde.“ (An CvR, 25. 6. 65, SW 53/54, 452). Gelegentlich muß es ihm selbst bewußt, jedoch kaum zum Problem geworden sein, als er - gerade in sein 88. Lebensjahr eingetreten -, bei einem Besuch des späteren Kaisers Friedrich III., „überhaupt etwas viel“ sprach (SW 53/54, 645), ähnlich bei einer seiner gelegentlichen Begegnungen mit Kaiserin Augusta. Er „sprach viel ... fast zu viel“, fürchtete er, „doch schien das nicht der Fall gewesen zu sein.“ (SW 53/54, 600). Nicht wenig mißbilligte Wilhelm Ranke (1804-1871) das im Greisenalter noch exaltierte Verhalten seines Bruders: Er „lacht, jubelt und lärmt so laut und so fürchterlich über jeden Wortwitz und jede tausendfach abgedroschene schale Redensart, dass einem sanften [oder: ernsten?] Manne dabei angst und bange wird“ (unveröff., NL WR, Rep. 92, NL Geschw. Ranke, GStA PK). Gelegentlich wurde nicht nur sein Auftreten, auch seine Haltung beanstandet, so, als Jacob Burckhardt schrieb: „Von Ranke ist es leider allzu bekannt, daß er ein guter Gesellschafter ohne Charakter ist“ (an Heinrich Schreiber, 11. 8. 40, Burckhardt: Briefe I/1949, 158). Seine „wenig solide Gesinnung“ sei „völlig sprichwörtlich in ganz Berlin“ (ebd. 160). Ähnlich beurteilte ihn auch, was wenig bekannt ist, König Maximilian II. von Bayern, der am 3. März 1853 über Ranke an seinen Staatsminister von Zwehl schrieb: „Er ist übrigens, wie ich aus selbsteigener Erfahrung weiß, beides, von so biegsamem Charakter und einnehmenden Formen...“ (Hoeft/1940, 85). Pertz soll sich anläßlich des v. Raumerschen Akademie-Skandals 1847 über Ranke geäußert haben: „die Kanaille“ (Wiedemann/1901, 360), und Heinrich von Treitschke schrieb am 24. 12. 72 über Ranke an J. G. Droysen: „Für die preußische Geschichte fehlt ihm worauf Alles ankommt: der Charakter.“ (Treitschke, Briefe III/1920, 361). Rankes Bruder Wilhelm, übrigens Jurist mit höchstem Examensprädikat (s. R an HR, 10. 7. 28, SW 53/54, 206), hat in einer zur Veröffentlichung bestimmten, jedoch unveröffentlicht gebliebenen Charakteristik überaus harte Worte gefunden. Er schreibt über Leopold: „Er ist geizig und erbarmungslos, weil seine Seele sich … auf Studien wirft und sich von den Personen seiner Umgebung abwendet. Er verwendet alle seine Kraft auf Dinge, es bleibt ihm nicht Kraft und Zeit genug übrig, an den ihm nahe stehenden Personen theilzunehmen und sich mit ihnen zu verständigen.“ (NL WR, Rep. 92 NL Geschw. Ranke, GStA PK). Auch Rankes bewunderte Frankfurter Bekanntschaft, Frau von Treskow, entdeckte später „Züge seiner dünkelhaften Eitelkeit, seiner schnöden Härte gegen seine Nächsten“ (Tagebuch-Notiz Varnhagens über ein Gespräch mit ihr am 12. Mai 1855. Wiedemann: L. v. R. u. Varnhagen/1901, 364). - Als „selbstselig“ hatte ihn früher schon Friedrich Christoph Perthes bezeichnet (an Heinrich Leo, 13. Dez. 1835, Moldenhauer/2008, 597). So dürfte es auch Johann Gustav - 29 -
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Droysen empfunden haben, der in einem Brief klagte: „Ranke wird - mit vollem Recht - wegen seiner Feinheit, seiner tiefen Gelehrsamkeit, seines weiten Blickes bewundert; aber man hat kein Herz zu ihm, da er keins - für niemand außer für sich - hat.“ (An Arendt, 8. Mai 1857. Briefwechsel II/1929, 450). Herzlosigkeit warf ihm auch Reinhold Pauli vor, der für ihn 1852 in England „viel gearbeitet“ hatte (Pauli/1895, 179). Seine Anfrage betreffend Habilitation in Preußen blieb gleichwohl, „wie zu erwarten stand“, ohne Antwort. „Wie es Ranke leider an aller Courage in den grossen Dingen des Staats und Vaterlandes gebricht“, schrieb der Enttäuschte, „so hat er auch kein Herz für kleine persönliche Angelegenheiten“ (ebd., 187). Man mag diesen Charakterzug in seinem bisher falsch gedeuteten Korrespondenzverhalten weiterverfolgen (s. II/3.1.1f.). Gelegentlich scheint dies Ranke selbst empfunden zu haben: „Über unsere Arbeiten vergessen wir sammt und sonders unsere Freunde und einer den andern. Es ist eine gute [!] Eigenschaft - so weit. Ich übertreibe sie leider auch“, gestand er seinem Bruder Heinrich (Brief vom 30. 11. 32, SW 53/54, 262). Dazu gehörte im weitesten und tiefsten Sinne auch sein Nicht-Erscheinen bei den Beerdigungen seiner beiden Elternteile. Bezeichnend sind die fadenscheinigen Ausreden. Beim Tod des Vaters schrieb er: „O geliebte Mutter, zürne nicht, daß ich nicht komme. Ferdinand wird gewiß kommen, wahrscheinlich Wilhelm; den Ernst schicke ich Dir; es möchte zu viel Gedräng werden. Auch halten mich Pflichten, von denen der Vater nicht wünschen würde, daß ich sie verletzte.“ (17. 5. 36, SW 53/54, 282). - Die Vorrede zu seinem ‚Wallenstein‘ enthält eine Äußerung - unbedacht, später unbeachtet - welche einen Einblick in die tieferen Schichten seines an der Oberfläche sich - zumal in adäquaten Kreisen - exaltiert freundlich bis aufdringlich vollziehenden mitmenschlichen Umgangs zuläßt: „Wie die lebenden Menschen einander berühren, ohne einander gerade zu verstehen, oder auch verstehen zu wollen, in wetteifernder oder feindseliger Thätigkeit...“ (WALL/1869, VII). Die Überwindung seiner äußerst geringen körperlichen Wertigkeit gelang nicht nur durch einen ausgeprägten Öffentlichkeitsdrang, der sich zunächst als gesellschaftlicher Konversationsdrang, sodann als popularitätsorientierter Veröffentlichungsdrang darstellte, sondern dürfte auch ersatzweise dazu beigetragen haben, das Bewußtsein seiner zweifellos in Fülle vorhandenen geistigen Fähigkeiten bis zur Selbstüberschätzung zu steigern. Diese in seinem Fall selbsterhaltende Einschätzung - er stand bereits als Schüler nicht an, etwa den Kantischen Schönheitsbegriff aus der ‚Critik der Urtheilskraft‘ (3. Aufl., Berlin 1799, 1. Teil, 1. Abschn., 1 Buch, § 2) zu kritisieren (Text bei Henz/1968, 343) - dürfte schon sehr früh durch schulische Erfolge bestärkt worden sein. Bettina von Arnim (1785-1859), die in seinen ersten professoralen Jahren zeitweilig mit Ranke einen erstaunlich vertrauten Umgang pflegte und dem Drastischen nicht abhold war, sprach von „seiner Besoffenheit von seinem eignen Wert noch aus alter Gewohnheit, als er Quartanerkönig war“ (Bettina von Arnim: Ilius, Pamphilius und die Ambrosia/1920, 269). Seine Selbstüberschätzung, von der später noch zu handeln sein wird, konnte sich mehr und mehr befestigt und gerechtfertigt sehen durch wissenschaftliche Erfolge, errungen mit einem ungewöhnlich starken Intellekt und zielgerichtetem Willen, einem lebenslangen leidenschaftlichen Arbeitseinsatz, verbunden mit einem in bestimmten Bereichen grenzenlosen Erkenntnisstreben. Doch es gab eine Folge unliebsamer Retardationen: Schon der Eintritt in die Klosterschule Pforta war mit Verzögerung erfolgt, erst in seinem vierzehnten Lebens- 30 -
I/1.1 „Der ungewöhnlich kleine, unscheinbare Mann“
jahr, nach zwei unbefriedigenden, unterfordernden Jahren auf der weniger bedeutenden Klosterschule Donndorf. Und auch von Pforta, wo er für eigene Studien zu wenig Zeit fand, schied er im Jahre 1814 zwar mit einer umfangreichen ‚dissertatio de tragoediae indole et natura‘ (Erstdr. Henz/1968, 444-479) jedoch auch mit großer Ungeduld. Obgleich der dortige Unterricht auf die Dauer von sechs Jahren angelegt war, verließ er die Einrichtung gegen den Rat des Schulinspektors bereits nach dem fünften Schuljahr (HR: Jugenderinnerungen/21886, 44). Die der Altphilologie und Theologie gewidmeten Studienjahre in Leipzig befriedigten ihn zumindest in letzterem Fach nicht. „Wie sehr muß ich mich nach dem Öffentlichen sehnen ... Mich ergreift die Sehnsucht hinaus und Zorn über den Jammer der Alltäglichkeit...“ (Erstdr. Keibel/1928; WuN III, 471), schrieb er nach unspektakulärem, das heißt, buchlosem Abschluß des Studiums gegen Anfang 1818 in den ‚Papieren eines Landpfarrers‘, mit deutlich autobiographischem Bezug. Daß ihn, wie er im Alter formulierte, aus seinen damaligen Studien eine „Berufung“ an das Gymnasium „gerissen“ hätte (SW 53/54, 60), stellt eine starke Schönung der Verhältnisse dar. Er erhielt die Stelle erst nach der gescheiterten Bewerbung, ohne berufliche Erfahrung, um ein Konrektorat in Merseburg (7. 2. 18, Berger/1942,12-19). Für Ranke folgten „Unter täglicher Schule lastender Pein“ (WuN I, 63) sieben lange, pädagogisch wohl erfolgreiche, aber letztlich wenig erfüllende Jahre als Oberlehrer am Friedrichs-Gymnasium in Frankfurt/O. (Johannis 1818 bis Ostern 1825), denen er zumindest 1822 schon zu entfliehen suchte. Hatte er sich bereits 1818 problemlos von seiner sächsischen Heimat getrennt, so beabsichtigte er 1822 ernstlich, auch Preussen den Rücken zu kehren und bemühte sich vergebens um eine Anstellung in Bayern (an Friedrich Wilhelm Thiersch, 28. 4. 22, Helmolt: Ein merkwürdiger Brief/1907). Auch dabei wieder - es gelang nicht - der Drang, aus bestehenden Verhältnissen zu fliehen, eine instabilitas loci, die sich in Berlin, wo er lange auf eine ordentliche Professur wartete, umgehend in befreienden Reisegedanken niederschlug. Erst Ende 1833, acht Jahre nach seiner Ernennung zum a. o. Professor, seine Antrittsvorlesung hielt er erst 1836, da war sein vierzigstes Lebensjahr bereits überschritten, wurde er zum ordentlichen Professor ernannt. Sein Gegner Heinrich Leo, wie er seit 1825 Extraordinarius in Berlin, war schon 1830 und gerade dreißigjährig in Halle zum Ordinariat aufgestiegen (Maltzahn/1985). Diese mehrfach und bis an sein vierzigstes Lebensjahr erduldeten Retardationen mögen für einen Teil der sein ganzes Leben durchziehenden schädlichen Ungeduld und Hektik bei der Verwirklichung seiner um Anerkennung bemühten Unternehmungen mitverantwortlich sein.
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2. Kapitel (I/1.2) F EHLG EP LAN TES UND UNVO LLEN DETES „... zur Erkenntniß des lebendigen Gottes, des Gottes unsrer Nationen und der Welt sollen alle meine Sachen gereichen“ (SW 53/54, 140), schrieb Leopold Ranke im Februar 1825 nach Erscheinen seines Erstlingswerkes in frommer Unbescheidenheit an seinen Bruder Heinrich. Denn eine realistische Sicht dessen, was er als wissenschaftlicher Autor bewirken konnte, fehlte dem jungen Frankfurter Oberlehrer nicht nur hinsichtlich der historiographisch unerreichten und später zurückgestellten Transzendenz, sondern auch in Hinsicht der zu bewältigenden Stoffmassen. Von beträchtlicher Selbstüberschätzung zeugte dann auch die weit ausgreifende Thematik seiner ersten Berliner Vorlesungen (s. II/5.1). Er hatte hochfliegende Pläne, verglich sich als a. o. Professor auf Reisen mit den größten Entdeckern, vermeinte gar „ein Columbus der venetianischen Geschichte zu werden“, wie er aus Wien an Heinrich Ritter schrieb (28. 10. 27, SW 53/54, 176), und dachte, „wenn nicht wie Columbus, doch wie eine Art Cook für so manch schöne, unbekannte Insel der Welthistorie“ zu werden (an Varnhagen, 9. 12. 27, Wiedemann, L. v. R. u. V. v. Ense. Ungedr. Briefw./1895, 187), nein, eigentlich nicht für eine Insel: Er suchte sogleich die ganze Weltgeschichte: „Mich tröstet, dass ich die Weltgeschichte suche“ (an Varnhagen, 9. 12. 27, Helmolt/1921, 40; dieser Satz fehlt Wiedemann). „Die Entdeckung der unbekannten Weltgeschichte wäre mein größtes Glück“, vertraute er wiederum seinem Bruder Heinrich an (16. [bis Ende] Apr. 28, SW 53/54, 195), ja, er baute für eine erhoffte steile Karriere „oft in Gedanken die neue Welthistorie auf“ (an Varnhagen, 10. 10. 29, Wiedemann: Briefe/1895, 443). Seine „alte Absicht, die Mär der Weltgeschichte aufzufinden“ (an HR, 24. 11.26, SW 53/54, 162; rev.: NBrr 89f.), weist - über ein deutlich ausgeprägtes Selbstbewußtsein noch weit hinausgehend - auf Züge einer mit Naivität gemischten frühen Hybris hin, die bis in sein höchstes Alter nicht verloren gehen sollte. Wo sich mangelnde publizistische Erfahrung mit extremer Ungeduld und diese wiederum mit einer von Selbstüberschätzung geleiteten Fülle und Weite wissenschaftlich-literarischer Planung paaren, treten sogleich schwerwiegende Probleme auf, die sich bibliogenitorisch und bibliographisch nachteilig auswirken. Das nicht ausreichend oder allzu weit Geplante, in der Folge Unvollendete des Rankeschen Werkes, steht nicht nur sehr deutlich am Anfang und am Ende seines langen Schaffens, sondern ist, bisher nicht näher betrachtet, geradezu ein Charakteristikum der ersten Lebenshälfte und steht mit ausgeprägten, auch sonst wirksamen Eigentümlichkeiten seines Wesens in Zusammenhang. Von dem bis an sein vierzigstes Lebensjahr erscheinenden Werk blieb tatsächlich das Allermeiste unvollendet, oder das Erscheinen wurde eingestellt. Doch ist wohl eine mit Ranke so oft verbundene schönende Sicht auch hier noch wirksam. Sein Erstlingswerk, so weiß eine 2005 erschienene italienische Arbeit stellvertretend für andere zu berichten „È la sua unica opera che resta incompiuta.“ (Di Bella/2005, 47, A1). Waren es zu Beginn seiner Laufbahn die ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535‘, deren einziger Band mit der ‚Beylage‘ ‚Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber‘, obgleich als „erster“ bezeichnet, doch nie von einem zweiten gefolgt und nie über das Jahr 1514, also die erste Hälfte der Darstellung, hinausgeführt wurde, so war es am Ende seines Lebens und Schaffens im Jahre 1886 gar ein unge- 32 -
I/1.2 Fehlgeplantes und Unvollendetes
heurer Doppeltorso: die von ihm selbst nicht mehr beendete Ausgabe seiner ‚Sämmtlichen Werke‘, welche aufgrund besonderer Vorkehrungen zu seinen Lebzeiten die hohe Zahl von 48 Bänden erreichte, vor allem aber seine außerordentlich unvollendete, aufsehenerregende ‚Weltgeschichte‘. Nicht allein der Abbruch, auch der inhaltliche und bibliologische Zusammenhang seines unvollendeten Erstlingswerkes mit der selbständig erschienenen ‚Beylage‘ ‚Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber‘ war ein durchaus problematischer, denn eine Beilage erscheint in der Regel nicht selbständig. Nachdem dies schließlich erkannt war, entfiel der unglückliche Beilagen-Untertitel ab der zweiten, erst 50 Jahre später erscheinenden Auflage. Doch die von Ranke, wie aus der Korrespondenz zu ersehen ist, in auffallender Konfusion und Hektik realisierte duale Seltsamkeit gibt auch heute noch zu der Frage Anlaß, welches der beiden Werke vor dem anderen, aus dem anderen oder für das andere entstanden sei, Fragen, die, sollte man ihnen Bedeutung beimessen, aus dem Nachlaß zu klären sein mögen. Von tiefgreifenden sich durchkreuzenden Konzepten zeugt die Änderung des Buchtitels seines Erstlings, der zunächst - und dabei ist die für einen Anfänger verwegene zeitliche Unbegrenztheit zu beachten - lauten sollte: „Das erste Buch einer Geschichte der Roman. und German. Nationen seit 1494. Nebst einer Kritik der Geschichtschreiber“ (an G. A. Reimer, 12. 4. 24, SW 53/54, 129). Dies deutet nicht unbedingt auf eine selbständige Beilage hin und erst recht nicht auf zwei Bücher im Inneren, wenn nur von dem „ersten Buch einer Geschichte“ die Rede ist. Hinsichtlich des schon von der Zeitgenossenschaft immer wieder falsch zitierten Werktitels ist folgende Bemerkung Rankes aus der Vorrede zu beachten: „Es [das Buch] umfaßt aber bey weitem nicht die gesammte Geschichte dieser Nationen, sondern nur einen kleinen Theil derselben, den man wohl auch den Anfang der neuern nennen könnte; nur Geschichten, nicht die Geschichte.“ (IV). Die Begründung wirkt freilich als modestas-Formel aufgesetzt im Hinblick auf den ersten Titelentwurf, der durchaus den Begriff ‚Geschichte‘ verwendete. Gleichwohl ging Ranke gelegentlich sehr bewusst mit dem Begriff um, wie auch sein von allen Deutern - gegenüber einer ‚reinen‘ oder ‚einfachen‘ Biographie - geschätzter Einsatz bei der ‚Geschichte Wallensteins‘ und seine bisher nicht vermerkte, aber befragenswerte durchgängige Vermeidung in den Bandtiteln der ‚Weltgeschichte‘ zeigt. Dem Erstlingswerk schloß sich nicht dessen Fortsetzung, sondern sogleich ein neues ehrgeiziges Vorhaben an, die von seinem zweiten Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772-1843) bereits „im allgemeinen angenommenen“ ‚Erläuterungen der neuern Geschichte‘. In ihnen beabsichtigte Ranke, wie er wieder anpreisend verkündete, „aus gewissen ächten Handschriften, welche unbekannte, sichere, höchst interessante Nachrichten enthalten“, „von Carl V. ausgegangen, der Hauptpuncte der allgemeinen Geschichte bis zum und bis in den dreyßigjährigen Krieg sämmtlich“ zu gedenken, „keines aber ohne neue Aufschlüsse“. Die Realisierung sollte, so hoffte er, „bald geschehen seyn“ (an Perthes, 12. 6. 25, Oncken/1925, 217; Paulsen/1922, 58f. las: 17. 6.). Doch dazu kam es nicht. Übrig geblieben ist davon wohl sein im Nachlaß vorhandenes Heft „Literatur. Besonders Geschichtschreiber, angefangen am 13. November 1824“ (RNL/SBB PK 33 D), und Wege führen auch zu seinem nächsten, tatsächlich realisierten Werk (siehe dazu seinen Brief an Perthes, 24. 8. 25, Oncken/1922, 85). Die währenddessen Perthes gegebene Zusage zur Übernahme der ‚Geschichte Englands‘ in der Heeren/Ukertschen Sammlung der ‚Europäischen Staatengeschichte‘ nahm Ranke im Dezember 1832 zurück. - 33 -
I/1.2 Fehlgeplantes und Unvollendetes
Nun zu seinem nächsten, tatsächlich verfaßten Werk. Es erschien 1827 unter dem Titel ‚Fürsten und Völker von Süd-Europa im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert‘. Indes hatte Ranke in seinem zeitlebens beibehaltenen Drang zu monumentaler Mehrbändigkeit publizistisch und im Hinblick auf die Abschätzung seiner wissenschaftlichen Möglichkeiten, auch in Unkenntnis der auf seiner ersten großen Archivreise in Wien und Italien erst noch zu gewinnenden Schätze, - ohnedies hatte er zunächst nach Paris reisen wollen (an G. H. v. Schubert, 13. 12. 26, NBrr 93) - nur wenig dazugelernt, erklärte auch dieses zweite seiner Werke ausdrücklich wieder als „ersten Band“ und gab ihm unpraktischer Weise keinen Titel - lediglich im Inhaltsverzeichnis findet sich etwas über ‚Osmanen und Spanische Monarchie‘. Der zweite Band sollte, wie Ranke großsprecherisch seinem Verleger verhieß, „eins der wichtigsten Werke werden, was je in diesem Fach erschienen“ sei, sofern man ihm das venezianische Archiv öffnen würde (an Perthes, 8. 8. 27, Oncken/1922, 109). Dies geschah, doch der angepriesene zweite Band erschien nie. So wartet man noch heute auf die Einlösung seines im ersten Band gegebenen Versprechens (445), „im zweiten Bande“ eine „ausführlichere Notiz“ über die benutzten Handschriften geben zu wollen. Da ist auch etwaigen historisch-kritischen Editoren ein hartes Stück Arbeit übriggeblieben. Doch man glaube nicht, in ‚Fürsten und Völker‘ mit dem versteckten inhaltlichen Hinweis auf ‚Osmanen und die spanische Monarchie‘ ein einheitliches Werk vorzufinden. Eher handelt es sich um zwei recht disparate und im Aufbau deutlich unterschiedliche Werke, die hier zusammengeführt wurden. Auffallend, daß, wie bei seinem ersten Werk mit der widersprüchlich selbständigen Beilage, erneut ein Werk-Dualismus vorliegt. In seltenen Momenten seiner Frühzeit gelangte Ranke zu der Einsicht, die er seinem Verleger Perthes eingestand: „Sie sehen, wie es steht. Arbeiten die Menge: Versuche! Aussichten: nichts fertig.“ (Wien, 28. 1. 28, Oncken/1922, 120c), deutlicher noch an seinen Bruder Heinrich: „Wir sind aber alle Fragmentisten. Ich besonders, glaube ich, bringe in meinem Leben nichts als Fragmente zu Stande.“ ([Ende Nov. 1827], SW 53/54, 179). Dies war wohl auch in einem ehrenwerten höheren Sinne gemeint, wäre im Hinblick auf die Gesamtheit seines Lebenswerkes gewiß ungerecht gewesen, doch es traf auf nicht wenige seiner Hervorbringungen zu. Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760-1842), durch eine Vielzahl von Publikationen erfahren, in seiner Reputation damals noch haushoch über Ranke stehend, hatte wohl nicht Unrecht, als er im Juni 1831 an Perthes schrieb: „Der Mann scheint mit sich selber wegen seiner künftigen literarischen Unternehmungen nicht im Reinen zu sein.“ (Oncken/1922, 71). Nun dürfte hinter ‚Fürsten und Völker von Süd-Europa‘, wie bereits der Titel sagt, ein anspruchsvoller, großer, wohl allzu großer Plan gestanden haben. Umso deutlicher die öffentliche Peinlichkeit eines erneuten Abbruchs nach nur einem einzigen Band. Darüber konnte und wollte der noch auf keinen ordentlichen Lehrstuhl gelangte, ohne Dissertation und Fakultätsvotum vom Ministerium okroyierte Neuling mit dem verschwindend geringen Hörerzuspruch nicht einfach, wie bei seinem abgebrochenen Erstlingswerk, hinweggehen. Seine Werkabbrüche müssen umso schmerzvoller gewesen sein, als sie sich unter den Augen unvergleichlicher, hochberühmter, in Preußen, Deutschland, ja über Europa hinaus bekannter Größen wie Alexander von Humboldt, Hegel, Schleiermacher, auch Boeckh, Raumer und Savigny, Carl Ritter vollzogen. Was war zu tun? So brachte er denn zusammenhanglos ein ganz und gar neues Werk in dieses Unternehmen ein, seine Darstellung der ‚Römischen Päpste‘, erhob den bishe- 34 -
I/1.2 Fehlgeplantes und Unvollendetes
rigen Werktitel ‚Fürsten und Völker‘ zum Reihentitel und ließ als dessen Bände II bis IV die Bände I bis III der ‚Päpste‘ einhergehen. Dieser verwirrende Zustand wirkt sich noch heute höchst nachteilig in Leihverkehr und Beleg aus. Die ersatzweise Unterbringung der ‚Päpste‘ unter dem Mantel der ‚Fürsten und Völker‘ war nun allerdings, wie sich später zeigen sollte, auch thematisch ein gänzlich mißlungener Schachzug, weil völlig unpassend, denn Päpste sind weder Fürsten noch sind sie Völker. Erst 1874 wurde der verwirrende Zustand mit der 6. Auflage der ‚Päpste‘ beendet. Bei dieser späten Aktion wurde das Werk endlich von der Bürde des unpassenden Reihentitels der ‚Fürsten und Völker‘ befreit und erhielt überdies einen neuen Werk-Titel: ‚Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten‘. Die während Rankes erster Wien- und Italienreise im Anblick des vorgefundenen Quellenreichtums spontan aufkommenden Pläne waren verständlicherweise von mannigfaltiger Natur. Eine Abhandlung über Don Carlos zerlegte er wieder in zwei Teile (an Perthes, 29. 9. 29, Oncken/1925, 222f.), deren ersten er 1829 in den von Kopitar herausgegebenen ‚Jahrbüchern der Literatur‘ erscheinen ließ, deren zweiten er hingegen fast 50 Jahre zurückhielt. Er dürfte 1877 als ‚Geschichte des Don Carlos‘ in den ‚Historisch-biographische Studien‘ wieder begegnen. Damals hat Ranke auch - nachdem ihm das von Savigny ans Herz gelegte Mediceische Archiv in Florenz eröffnet worden war (s. II/8.1.2) - ein „Heft über Mediceische Geschichte“ angelegt (an A. v. Reumont, nach 29. 12. 73, nicht abgesandt, FvR V/1904, 61), daraus jedoch nichts veröffentlicht. Ob die später in den ‚Historisch-biographischen Studien‘ mitgeteilten Abhandlungen ‚Savonarola und die florentinische Republik gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts‘ und ‚Philippo Strozzi und Cosimo Medici, der erste Großherzog von Toskana‘ (359-445) auf diese frühen Aufzeichnungen zurückgehen, ließe sich allenfalls aus dem Nachlaß klären. Ein enger Zusammenhang mit seinem AkademieVortrag ‚Über das Emporkommen der Mediceer in Florenz‘ vom 22. März 1841 darf vermutet werden. Von großartigerer Natur war sein Projekt einer ‚Geschichte Venedigs‘. Es wurde nicht realisiert. Mag sein, daß er von der Verwirklichung absah, um dem als Erzfeind empfundenen Heinrich Leo und seiner ‚Geschichte von Italien‘ (5 Bde, 1829ff.) nicht in den Weg zu treten. Auch von einer ‚Geschichte des modernen Roms‘ ist jetzt, gerade nach dem Ableben Niebuhrs (2. 1. 31) ungemein auffallend und prätentiös, aber unrealisiert die Rede. Schon in einem Brief an Bunsen vom 28. März des Jahres sprach Ranke davon, „sobald als möglich an Rom zu gehen“, das er „in dem zweiten Bande von Fürsten und Völkern behandeln will.“ (SW 53/54, 252f.) und teilte diesen Plan voreilig immerhin auch Kultusminister Altenstein mit (28. 8. 31, Lenz IV/1910, 469). Fünfzig Jahre danach glaubte er ein solches Unternehmen mit Band II seiner ‚Weltgeschichte‘ verwirklicht und Niebuhr übertroffen zu haben: In einem Widmungsschreiben an Kaiser Wilhelm I. bezieht er sich ganz direkt auf Niebuhrs ‚Geschichte Roms‘, wobei er bemerkt, Niebuhr sei darin „doch nicht weit über die frühesten Zeiten von Rom hinaus vorgedrungen. In dem vorliegenden Bande habe ich dagegen die erste Zeit nur kurz behandelt und die Gesamtgeschichte der Republik bis auf die Zeiten des Kaisertums zu umfassen gesucht.“ (Brief vom 15. 12. 81, NBrr 697). Auch bei einer Begegnung mit Varnhagen war er „auf Niebuhr gar nicht gut zu sprechen“ Tagebuchblätter Varnhagens zu einer Begegnung am oder vor dem 2. Juni 1858 (Wiedemann: L. v. R. u. V. v. E./1901, 365).
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I/1.2 Fehlgeplantes und Unvollendetes
Anfang 1831, „mit gar mannigfaltigem Stoff“ auf der Rückreise aus Italien, gingen seine Pläne hinsichtlich der ‚Fürsten und Völker‘ noch erheblich weiter, denn nicht allein ‚Rom‘ wollte er darin behandeln: „Fürsten und Völker“, so schrieb er Perthes am 5. Febr. während eines Zwischenaufenthalts in München, „müssen unter anderm reformirt und erweitert werden. Einmal bin ich Willens, Frankreich aufzunehmen, über welches Land meine venezianischen Entdeckungen besonders wichtig sind, sodann in allem bis gegen die Zeiten der Revolution heranzugehen... Fertig ist davon freylich wenig.“ (Oncken/1925, 227). Erweiterungen dieser Art kamen jedoch nie zustande. Dem Folgemonat - er hatte es nicht eilig, nach Berlin zurückzukehren - entstammt seine neue Verheißung: „Jetzt denke ich ungefähr den 20. März in Berlin zu sein. Ich werde mich sogleich einrichten und unverweilt an meinem zweiten Band anfangen.“ (4. 3. 31, NBrr 143). Nach alledem mußte es wie Hohn, zumindest wie Phantasterei klingen, daß er in demselben Brief seine Absicht kundtat, „jetzt einen Band kritischer Untersuchungen über causes célèbres der neueren Geschichte zu vereinigen“ und daran Spekulationen über einen passenden Verleger anzuschließen, zumal er erklärte, in seinen „Sachen auf eine fast lächerliche Weise gewissenhaft“ zu sein (ebd.). Aus diesen Plänen wurde jedoch nichts. Rankes zweites Werk ging nach Bruch mit seinem zweiten Verleger - wie auch seine ‚Serbische Revolution‘ und die 1832 begonnene ‚Historisch-politische Zeitschrift‘ - an den mit Perthes in Verbindung stehenden Verlag von Duncker und Humblot über. - Auf den Gedanken der causes célèbres übrigens hatten ihn in der Münchener Bibliothek wohl Papiere in Zusammenhang mit der Geschichte Wallensteins gebracht, die er allerdings erst 1869 und in anderer Weise verwirklichte. Zeitlich und gattungsmäßig sehr nahe stand dem Celebritäts-Gedanken sein Werkchen ‚Über die Verschwörung gegen Venedig‘ von 1831. Doch einen Sammelband dieser Art hat er nie veröffentlicht. Vor allem die seit 1832 von Ranke im preußischen Regierungsauftrag herausgegebene, aufgrund ihrer in „verzagtem Hin- und Herschwanken“ (En., 1833, Sp.193) sich ergehenden antiliberalen Tendenz weitgehend abgelehnte ‚Historisch-politische Zeitschrift‘, welche der mit Karl Marx befreundete Karl Friedrich Köppen (1808-1863) in den von den ‚Junghegelianern‘ Th. Echtermeyer u. A. Ruge herausgegebenen ,Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst‘ als „historisches Schellengeklapper“ zur Besänftigung der „guten Deutschen, die nach der Julirevolution etwas unruhig geworden waren“, wertete ([Köppen]/1841, Sp. 435), war nach zwei Bänden am Ende, - überwiegend von Ranke selbst in eine glänzende Sackgasse geschrieben. Von den ursprünglich vorgesehenen sechs Heften jährlich erschienen 1832 lediglich vier, und die nächsten vier verteilten sich gar auf die folgenden vier Jahre. Bereits in ihrem ersten Jahr war sie in eine Krise geraten, ja die nahende Katastrophe hätte eigentlich schon zu Zeiten des ersten Heftes sichtbar werden können. Von dessen 174 Seiten stammten nicht weniger als 165 von Ranke selbst. Nach dem ersten Band kam es bereits zu einem Verlagswechsel, da der rechtschaffene Anreger des Unternehmens, Perthes, im Hinblick auf die staatliche Finanzierung bei geringem Erfolg die verlegerische Verantwortung nicht mehr glaubte tragen zu können und Ranke überhaupt eine andere Konzeption vorschwebte als die ursprüngliche des Verlegers. Doch Ranke hatte sich ja mit diesem Unternehmen am Beginn einer „gefährlichen, aber ... großen Laufbahn“ (an HR, 21. 11. 31, SW 53/54, 258) gesehen und in permanenter, kaum zu überbietender Selbstüberschätzung geglaubt, sein Blatt könne „allmählig die beste Zeitschrift in Europa werden.“ (an Perthes, 24. 12. 31, Oncken/1925, 230). Sie wurde - 36 -
I/1.2 Fehlgeplantes und Unvollendetes
eine der kurzlebigsten. - Ein erstmaliger Vergleich des Inhalts der Zeitschrift mit dem in ihrer Einleitung von Ranke ausgebreiteten systematischen Programm zeigt deutlich, wie weit er hinter diesen ehrgeizig unrealistischen Zielen zurückblieb. Es werde, so war dort und zuvor in einer Ankündigung der ‚Leipziger Literatur Zeitung‘ (No. 97, Lpz., Apr. 1832, Sp. 771f.) zu lesen gewesen, in einer ersten Abteilung darauf ankommen „die innere Entwickelung der europäischen Staaten seit 1789, vornehmlich aber seit 1815“, darzulegen. Doch hat er u. a. Spanien, Portugal und Schweden außer acht gelassen und von Entwicklungsgeschichte kann kaum die Rede sein. In einer zweiten Abteilung sollten „die deutschen Verhältnisse“ ins Auge gefaßt werden, dabei „vorzüglich“ der „Zusammenhang der Institutionen des preussischen Staates“ erläutert und „seine Richtung und innere Entwickelung aufmerksam“ begleitet werden. Es finden sich zwar je ein Beitrag über preußische Städteordnung, preußisches Zollwesen und preußische Handelspolitik, jedoch wenig über deren Zusammenhang. Eine dritte Abteilung sollte Aufsätzen „historischen“ und „allgemeinen Inhaltes“ offen stehen. Hieran werde sich in einem Anhang „eine Uebersicht der öffentlichen Stimmen aus Flugschriften und Zeitungen reihen“. Auch dies ist hinsichtlich der Flugschriften nur sehr eingeschränkt und für Zeitungen nicht durchgeführt worden. - Seine Zeitschrift scheiterte in zweifacher Hinsicht: Sie fand nicht nur zu wenig interessierte Abnehmer, sie fand auch zu wenig Beiträger. Selbst Rankes späterer Bewunderer Max Lenz mußte - übertreibend - zugeben: „der Kreis seiner Leser war nicht viel größer als der seiner Mitarbeiter“ (Lenz: Die Bedeutung/(1918)/1922, 283). Auch die nachdrücklichen, mehrmaligen Bitten Savignys konnten etwa die Grimms nicht zu einem Beitrag bewegen (s. I/2.1.4). Kontakte zu Beiträgern suchte Ranke nicht nur durch Savigny, sondern auch durch seinen Verleger zu erlangen, den er so reichlich mit entsprechenden Aufträgen bedachte (an Perthes, 31. 1. 32, Oncken/1925, 232-234), daß er sich schließlich ihm gegenüber die Erklärung abringen mußte: „Auch haben Sie schon an diesen Aufträgen genug“ (20. 2. 32, Oncken/1925, 237. Dazu Neues bei Moldenhauer/2008, 553). Zudem hatte Ranke wohl die Rolle von Herausgeber und beitragendem Autor, die natürlich, besonders zu seiner Zeit, keine gänzlich ungeteilte war, sein mußte oder sein konnte, gründlich mißverstanden und in seiner hierbei unangebrachten Scheu vor dezidierten Aussagen auch das von einem Wissenschaftswerk in Machart, Intention und Publikum unterschiedliche Wesen einer Zeitschrift fehlgedeutet. Von den 41 Beiträgen der HPZ verfaßte er selbst 24, von den gut 1600 Seiten ihres Umfangs schrieb er selbst zwei Drittel. Freilich verdient dies keine Bewunderung, wie heute gelegentlich anklingt, sondern ist Ausdruck des Scheiterns. Letztlich ist es wohl so, daß er dieses Übermaß an Beitrags-Anzahl und -Umfang verfaßte, ja verfassen mußte, da er allzu wenige Beiträger suchte oder fand oder diese seinen hohen Ansprüchen nicht genügten. Der ihm attachierte Regierungsrath und Dichter Joseph Frhr. von Eichendorff - Ranke lehnte auch eines seiner Beitragsangebote ab - blieb wirkungslos (s. F. A. v. Stägemann an Ignaz v. Olfers, 9. 4. 32, Briefe und Aktenstücke III/1902, 495). So wurde seine Arbeitslast immer größer und die Zeitschrift immer langsamer. Ein mühevolles Sterben. Als Achtzigjähriger sah er ein: „Das Unternehmen ging eigentlich über meine Kräfte.“ (3. autobiogr. Diktat, Dez. 1875, SW 53/54, 50). Nicht zuletzt stand auch, unabhängig vom anspruchsvollen Inhalt, allein der gewaltige, fast buchartige Umfang mancher seiner Beiträge der gesollten politischen Wirkung entgegen. Doch es war natürlich leichter, eine vertraute, beherrschte, begrenzte Themenzahl nahezu unbegrenzt selbst zu behandeln, als eine nicht zur Verfügung stehende größere Themenzahl in angemessen geringerem Umfang - 37 -
I/1.2 Fehlgeplantes und Unvollendetes
durch nicht vorhandene Dritte behandeln zu lassen. Der Gedanke liegt nahe, daß er die Peinlichkeit des überwiegenden Alleinschreibens durch eine - freilich nicht unübliche Anonymität seiner und einiger anderer Beiträge zu verdecken suchte. Er stand nun neben einer Fülle nicht realisierter Pläne vor seinem dritten abgebrochenen publizistischen Bauwerk. Ranke war kein auf kollektives Wirken bedachter oder gar angewiesener Wissenschaftler: Er hatte den Satz verinnerlicht: „Chi ha compagno, ha padrone“ (an W. Giesebrecht, 13. 12. 62, NBrr 425). So sehr er sich später wissenschaftsorganisatorisch interessiert, projektierend befähigt und nachhaltig einflußnehmend zeigte, so wenig hat er sich nach seinem Scheitern als Zeitschriften-Herausgeber nach Möglichkeit an publizistischen Gemeinschaftsunternehmungen beteiligt. Die ihm 1838 angetragene Leitung der ‚Preußischen Staatszeitung‘ - eine „so zerstreute und zerstreuende Beschäftigung..., der ich nicht gewachsen bin, die mich zerstört“ (an Johann Albrecht Eichhorn, 11. 3. 38, FvR I/1904, 84 und weitere Briefe an dens. Helmolt: Polit. Aufs./1907, 562f. und an seinen Bruder Heinrich SW 53/54, 302f.), lehnte er entschieden ab. - Gemessen an den gewaltigen Dimensionen seines Gesamtwerks und im Vergleich mit den Produktionen seiner Kollegen finden sich aus seiner Feder nur verschwindend wenige Beitrage zu Gemeinschaftswerken, Serien, Sammelwerken (ADB) und Zeitschriften. Offensichtlich scheute er in der enormen Konzentration auf seine großen Werke die zeitlichen Verpflichtungen und personellen wie inhaltlichen Abhängigkeiten von Kollegen und gar Kollektiven. Wohl unter dem Eindruck der hochrenommierten Mitwirkung der Herren A. Boeckh, J. und W. Grimm und G. H. Pertz hat er sich - sehr skeptisch - zu einer herausgeberischen Teilnahme an einem weiteren Periodicum bitten lassen. Es war die von seinem Früh-Schüler Wilhelm Adolph Schmidt herausgegebene ‚Zeitschrift für Geschichtswissenschaft‘, die allerdings, als wäre Ranke Hauptherausgeber gewesen, schon nach zwei Jahren und vier Bänden ihren Titel wechselte und nach vier Jahren und neun Bänden ebenfalls an ihr frühes Ende kam. Ranke hat sich später herausgeberisch nur noch der ‚Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde‘ formell zur Verfügung gestellt, die zwischen 1864 und 1883 immerhin 20 Jahrgänge erreichte. Bezeichnenderweise erhielten beide Zeitschriften von ihm nichts Eigenes, Persönliches. Er überließ ihnen lediglich Editorisches in kleiner Münze: zum einen aus dem British Museum, London, zum anderen aus dem Kgl. Preuß. Staatsarchiv Berlin. Später sah er sich auf absoluter Höhe angelangt. Da mußte ihm jedes nähere Zusammengehen mit Kollegen wie eine Entwürdigung seiner Person erscheinen. Man erkennt: Die bisher in der Literatur als Abbruchobjekte bewußten ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ und die ‚Historisch-politische Zeitschrift‘ stehen bei weitem nicht allein. Vorausgegangen war ihnen bereits im Reformationsjahr 1817 nach und neben allerlei literarischen Versuchen der ehrgeizige und ausgebreitete Versuch eines Werkes über Luther. Auch die später von ihm herausgegebenen, wissenschaftshistorisch bedeutenden, von seinen ersten Schülern verfaßten ‚Jahrbücher des Deutschen Reichs unter dem Sächsischen Hause‘ wurden nach drei Bänden (1837-1840) abgebrochen. Siegfried Hirsch (1816-1860) hatte schon anfangs über das „eher schläfrige, als eifrige“ Betreiben der Jahrbücher durch seinen Lehrer geklagt (an Waitz., 6. 12. 36, Jugendbriefe von Georg Waitz/1920, 247, A. 2), so auch Waitz (1813-1886) selbst über „das immer noch nicht Erscheinen“ (246f.) seines eigenen Werkes in den ‚Jahrbüchern‘ (an Ernst Adolf Herrmann, 4. 2. [1837], ebd., - 38 -
I/1.2 Fehlgeplantes und Unvollendetes
246f.). Der dritte Band enthielt noch eine sogenannte ‚Erste Abteilung‘, der jedoch nie eine zweite folgte, und bemerkenswert ist auch: Er enthielt kein Jahrbuch mehr, wie es der Titel der Reihe verlangte, sondern aushilfsweise und wiederum gänzlich unpassend auffüllend eine Abhandlung. Dieses Ende war nicht einmal ganz erreicht, da hatte Ranke zur Jahreswende 1838/39 bereits ein neues Projekt für seine Schülergruppe ins Auge gefaßt, eine „kritische Durchforschung der Geschichte des alten Papstthums“. Er entwickelte es in Briefen vom [9. 12. 38] und 27. 1. 39 an Waitz (53/54, 306f., 307f.). - Der Plan umfaßte sechs Bände und sollte bis zu den Avignonschen Päpsten und den Konzilen reichen. Als Verfasser waren Rankes alte Schüler Roger Wilmans (1812-1881), Rudolf Anastasius Köpke (1813-1870), Hirsch, Waitz, Wilhelm Giesebrecht (1814-1889) und Wilhelm von Doenniges (1814-1872) vorgesehen. „Ich denke den lebendigsten Antheil zu nehmen ....“ (ebd. 308), versicherte Ranke und stellte bereits Honorar in Aussicht. Der Plan wurde jedoch aus noch unbekannten Gründen nicht verwirklicht. Ebenfalls unrealisiert blieb das Vorhaben einer differenzierten Editionsreihe „Monumenta historiae Brandenburgo-Borussicae“, 1841 (s. II/4.1.2.), und nicht minder der Plan einer „kritischen Bearbeitung der karolingischen Periode“, von ihm „und einigen jüngeren Freunden“ beabsichtigt. Dafür erhielt er gar im voraus eine „reichliche und unerwartete“ finanzielle Beihilfe durch Kg. Maximilian II. v. Bayern (R an M., 30. 4. 55, SW 53/54, 372). Hermann Oncken vertrat übrigens die Auffassung, Rankes ‚Preußische Geschichte‘ sei „im Grunde ein Torso“ geblieben, wozu das „äußere Erleben“ wohl beigetragen habe (Oncken/1922, 79). Dies empfand auch Hans Delbrück (1848-1929) in seinen weltgeschichtlichen Vorlesungen, in denen er von Rankes „ungleichmäßiger und fragmentarischer Darstellung gerade der preußischen Geschichte“ sprach (Delbrück III, 1926, 638. - Siehe auch ebd., 469). Hier sei geschlossen mit Rankes nicht verwirklichtem Plan eines „Leben Jesu“. Er hatte ihn Mitte der 1840er Jahre im Zusammenhang mit einer Reise zu den „heiligen Stätten im Orient“ gefaßt, die später wohl mit Rücksicht auf die Gebrechlichkeit seiner Frau unterblieb (an OvR, 25. 5. 73, Dove: Erinnerungen/1895, 874).
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3. Kapitel (I/1.3) ATELIER UND AMANUENSEN Während Rankes wichtigster Amanuense, Dr. Theodor Wiedemann, in seinen Erinnerungen den handwerklichen Begriff ‚Werkstatt‘ wählte (Sechzehn Jahre in der Werkstatt Leopold von Ranke’s, Wiedemann/1891-1893), bevorzugte Ranke für seinen Arbeitsbereich, mag sein, nicht ganz ohne Ironie, jedoch auch getragen von dem Bestreben, in seinen Werken eine Einheit von Wissenschaft und Kunst zu erreichen, den Begriff ‚Atelier‘ (Brief an HR., 1. 3. 55, NBrr 367 u. an Geibel, 21. 12. 82, Geibel/1886, 148). Innerhalb und außerhalb dieses Ateliers verfügte Ranke über eine erstaunlich große Zahl hilfreicher Geister. Er rekrutierte sie eine Weile - mit der üblichen Sorglosigkeit aus dem Kreis der Familie - Gattin und Söhne - jedoch überwiegend aus Studenten, frisch Promovierten und jüngeren Kollegen. Von seiner Frau Clara ist bekannt, daß sie bis zum baldigen Ausbruch ihrer Krankheit für ihn in Düsseldorf ein „recht wichtiges Dokument über die Zeiten Richelieus“ und auch in Brüssel „einige Dokumente“ abgeschrieben hat (R. an FR., 2. 9. 52, NBrr 347). In London, 1857, kopiert Luise Ranke, geb. Tiarks, die Schwiegertochter seines Bruders Heinrich, für ihn: „Sie begleitet mich fast täglich ins Museum und kopiert italienisch für mich.“ (an HR, 12. 4. 57, NBrr 377, auch bereits in Briefen an CvR, 26. u. 29. 3., 4. 4. 57, SW 53/54, 385, 389, 392). Wahrscheinlich ist es zu begrüßen, daß sich schließlich ein Italiener fand, der diese Arbeit übernahm (R. an CvR, 16. 4. 57, NBrr 379). 1862 gibt man Ranke im Londoner Archiv „einige junge Leute“ zur Hilfe bei, denn während er in Frankreich „die besten Reinschriften zu lesen hatte“, hat er hier die „unleserlichsten Concepte zu entziffern. Zuweilen ist das ganze Archiv über ein Wort - nämlich, wie es zu lesen sei - in Entzweiung.“ (An CvR, [Aug.] 1862, 418). Auch Rankes Söhne werden bei Auslandseinsätzen zum Kopieren mitgeführt. Mit dem älteren Sohn Otto (1844-1928) unternahm Ranke Archivreisen nach Venedig (Okt. 1863) und Wien (Okt. 1873, OvR/1923), wo er ihm im Kaiserlich Königlichen Staatsarchiv „so manches zum Abschreiben“ überließ (OvR 47/48, 1923, 17). Der jüngere, Friduhelm (1847-1917), berichtet ausführlich über die aufgrund der Knauserigkeit seines Vaters entbehrungsreiche gemeinsame Archivreise von Mai bis August 1865 nach Paris, London, Windsor, Dublin, Cheltenham, Den Haag (FvR/1903, 189194). In Paris oblag ihm bereits die Aufgabe - der Siebzehnjährige hatte gerade sein Abiturexamen bestanden -, Abschriften in verschiedenen Bibliotheken (R. an ER, 22. 5. 65, SW 53/54, 442f.), dann auch täglich, vor- und nachmittags, Abschriften aus den Akten des Kriegsministeriums zu fertigen, die später in den Analekten der ‚Englischen Geschichte‘ Aufnahme fanden. Weitere Abschriften nahm Friduhelm im British Museum. Dort hatte es, wie Ranke berichtet „viel Schwierigkeit“ gegeben, für seinen Sohn „die Erlaubnis zu erlangen, mit mir zu arbeiten und für mich zu schreiben“ (an CvR, London, 19. 6. 65, NBrr 446). Auch fand dieser „das bloße Abschreiben der alten Berichte doch recht öde“ (FvR/1903, 192). Im Schloß Windsor erhielt er Gelegenheit, aus den Stuart-Papers „sogleich einiges“ abzuschreiben (R. an CvR, 19. 6. 65, NBrr 447). Bedenklich ist daran nicht nur die mangelnde Bildung und Reife, sondern auch die Handschrift Friduhelms, über den Ranke schrieb, er wetteifere mit seinem Vater „in undeutlicher Schreiberei“ (R an seine Tochter Maximiliane, 25. 7. 65, NBrr 451). - 40 -
I/1.3 Atelier und Amanuensen
Bei der Vielzahl und dem gewaltigen Umfang der von Ranke visitierten Archivalien war der Einsatz von Kopisten nicht zu vermeiden, aber auch nicht unproblematisch und wohl gelegentlich, zumal wenn es ans Exzerpieren ging, kaum zu verantworten. Weitere Archivhelfer, freilich wesentlich qualifiziertere und z. T. von erstaunlich weitreichendem, in anderer Hinsicht wenn nicht bedenklichem, so doch bedenkenswertem Einfluß, gewann Ranke aufgrund seiner hohen Reputation allerorten. Aus Paris berichtet Hans Heinrich Vögeli (1810-1874) in einem Brief an Ferdinand Meyer, 20. 10. 39: „Herr Professor Ranke, der gestern von Paris abreiste, beauftragte mich, Sie bestens zu grüßen: wir arbeiteten während seines Aufenthaltes in hier zusammen; auch gab ich ihm meine Exzerpten aus den Depeschen der französischen Gesandten des 16. Jahrhunderts.“ (Vischer/1953, 391, A. 15). In England traf Reinhold Pauli (1823-1882) 1852 Ranke, „mit dem und für den ich viel gearbeitet habe“ (Pauli/1895, 179). In Wien ist es im Oktober 1873 (nicht 1883!) August Fournier (1850-1920), der ihm von Ottokar Lorenz (1832-1904) für Archivarbeiten empfohlen wird (Fournier/1923, 106f., 130f.). Er sollte für Ranke „Extracte“ machen (R. an A. v. Arneth, 12. 11. 73, Henz/1972, 315). Ranke wußte sich auch der Beihilfe von Archivaren zu versichern: Ein häufig beschäftigter Dr. Carl Platner, Bibliothekar und Archivar, liest im Sept. 1868 mit Korrektur (Geibel/1886, 7), d. h., er kann „die Citate nachsehen und verificiren“. Er wird in der Korrespondenz Rankes mit seinem Verleger auch noch 1869 (15), 1870 (20, 23), 1871 (26) und 1872 (37) genannt. Ein Archivar Dr. Sudendorf kollationiert für die Ausgabe der Briefe der Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orléans, die Druckbogen mit dem hannoverschen Archivmaterial (11f.). Zu den qualifizierteren gelegentlichen Helfern zählen auch Rankes wissenschaftlich tätige Brüder Ferdinand (1802-1876) und Ernst Constantin (1814-1888) - dieser Professor der Theologie, jener Philologe. Ferdinand unternahm, während Ranke in Paris und London weilte, die „beschwerliche Korrektur“ von Bd. V der ‚Deutschen Geschichte‘, (R an FR, 8. 7. 43, NBrr 298). Auch bei anderen Auslandsreisen Rankes, so 1857 (London) und 1858 (Venedig) war Ferdinand in der Heimat korrigierend tätig. Seine Mühe war Ranke „unschätzbar“ (an FR, 10. 10. 58, NBrr 395). Zudem war Ferdinand an der „Verbesserung“ von Bd. II der DtG, 5. Aufl. und bei den PÄPSTEN I, 6. Aufl. beteiligt (Ranke an Geibel, 6. 2. 73, Geibel/1886, 45). „Ranke ist jedoch hierin“, wie sein Amanuense Wiedemann wußte, „auch von andern unterstützt worden, wie denn der dritte Band der ‚Deutschen Geschichte‘ (für die fünfte Auflage) und der erste Band der römischen Päpste (behufs der sechsten Auflage) von seinem Bruder Ferdinand, der zweite dieses letzteren Werkes von Fräulein Henriette Michaelis, der Herausgeberin eines italienischen und portugiesischen Wörterbuches, durchgesehen worden sind.“ (Wiedemann II/1891, 326f.). Vermutlich ist sie das „gelehrte Fräulein“, das nicht nur Korrektur las, denn Ranke bemerkt alsdann: „Ich hoffe nun doch zu einem leidlich lesbaren Text zu gelangen.“ (an seinen Verleger, 21. 10. 77, Geibel/ 1886, 109). Diese unbegreiflich qualifizierte Hilfe muß für ihn, der als lebenslanger Verehrer jugendlich schöner Weiblichkeit strikt gegen Frauenbildung war - für die eigene Tochter wollte er „gar nichts von der Schule wissen“ (FvR, 1903, 9) -, eine besondere Irritation dargestellt haben. Sein Bruder Ernst Constantin diente ihm 1847 bei Arbeiten im Wolfenbütteler Archiv als Kopist und Exzerpierer friderizianischer Briefe und Gesandtschaftsberichte (ER an HR, 28. 11. 47, Hitzig/1906, 206), unterstützte ihn später bei der ‚Weltge- 41 -
I/1.3 Atelier und Amanuensen
schichte‘ auch in den Analekten zur alttestamentlichen Literatur (in WG III/2), wozu aufschlußreicher Briefwechsel vorliegt (von Anfang Mai, 31. 8. u. 1. 9. 81 sowie 22. 12. 81 bei Hitzig/1906, 335-337, 341). Generalkonsul Georg Rosen in Belgrad unterzog die Bogen von ‚Serbien und die Türkei‘ einer Revision (Geibel/1886, 123f.). Der mit Ranke befreundete Edwin von Manteuffel (1809-1885), zeitweilig Flügeladjutant des Königs, erhielt, wie aus der Korrespondenz ersichtlich, Einfluß auf die Darstellung Friedrich Wilhelms IV. (s. I, 72). Auch von Rankes ‚Ansicht des siebenjährigen Krieges‘ (in: ‚Zur Geschichte von Oesterreich und Preußen zwischen den Friedensschlüssen zu Aachen und Hubertusburg‘, 1875, 271-383) hat Manteuffel die Druckfahnen zur Korrektur erhalten, und dies gewiß nicht zur Behebung von Setzerfehlern. (Siehe dazu seinen Brief an Ranke vom 3. 8. 75 bei Dove: Schriftchen/1898, 271). Hierhin gehört auch die Hilfe oder der Rat Alfred von Reumonts (1808-1887) bei Rankes Aufsatz über ‚Savonarola und die florentinische Republik gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts‘, der erweitert in die ‚Historisch-biographischen Studien’ aufgenommen werden sollte. Dies machte „eingreifende Untersuchungen erforderlich, die einen wiederholten Gedankenaustausch mit Alfred von Reumont begleiteten.“ (Helmolt/1921, 57f.,143f.). Sie hatten 1830 in Florenz eine Reihe gemeinsamer Tage verbracht. - Ranke erhoffte sich aus Reumonts Kenntnis der „Localitäten und Familien … einige Verbesserungen“ (R an seinen Verleger, 28. 6. u. 29. 8. 77, Geibel/1886, 105, 107f.), und dieser erklärte sich bereit, die Korrekturbogen zu lesen. Einen weiten Kreis wechselnder Helfer bildeten Rankes Amanuensen, ein von Ranke geschätzter Begriff, da er ja wörtlich nicht mehr als ‚Handlanger‘ bedeutet. Höher qualifizierte Bezeichnungen, wie ‚Assistent‘, lehnte er wegen der damit verbundenen „unerträglichen Anmaßung“ entschieden ab (Wiedemann II/1891, 325). Entsprechend seiner bereits betrachteten familiär geübten extremen Dominanz erwartete er von ihnen eine „rege, ungeschmälerte, in gewissem Grade selbstlose Hingebung an das jedesmalige Object seiner Studien“ (Wiedemann IV/1892, 212), eine „unbedingte Hingabe an sich und an seine Arbeit“ (P[aul] B[ailleu]: Leopold v. Ranke/1895, 1). Sein gesondert zu betrachtender Hauptamanuense Theodor Wiedemann führte den Beginn des regelmäßigen Einsatzes dieser Kräfte spätestens auf die Mitte der 1850er Jahre zurück, ja, er vermutete, diese Dienstverhältnisse könnten schon seit 1831 bestanden haben (Wiedemann II/1891, 324). Sie sind wohl noch früher anzusetzen. Schon bei den ersten, voritalienischen Vorlesungen Rankes war einer seiner Frankfurter Schüler bei ihm als Amanuense tätig (s. II/5.1). Formen wissenschaftlicher Dienstbarkeit waren Ranke schon seit seiner Schulzeit vertraut. Nicht allein das in der Klosterschule Pforta unter den Schülern als Unter-, Mittel- und Obergesellen hart praktizierte Dienst- und Lehrverhältnis dürfte - gelegentlich leidvoll - prägend gewesen sein, besonders in seiner Famulatur bei Prof. J. G. Schmidt hatte Ranke sich in der ehrenvollen Nachfolge Fichtes sehen dürfen (HR/21886, 37f.). Ein Anonymus, der auch Rankes Vorlesung vom Wintersemester 1857/58 besuchte, berichtete in einem Artikel über ‚Die Berliner Universität‘ öffentlich von Rankes Praktiken wie folgt: „Ranke hat geringere dienstbare Geister in seinem Solde, die für ihn die Bibliotheken nach alten Chroniken, und diese wieder nach besonders angedeuteten Stellen durchforschen: so sieht man in dem Lesezimmer der königlichen Bibliothek oft einen alten, kümmerlichen Doctor in einem Rock, der recht fadenscheinig ist, und man hört ihn leise als einen derer bezeichnen, die für Ranke arbeiten. Es hat dies Aehnlichkeit mit der Art der - 42 -
I/1.3 Atelier und Amanuensen
großen Meister, die den kleinen herabgekommenen Proletarier in halbem Handwerkersolde stehen haben. Man wagt das nicht zu tadeln, Angesichts einer so ungeheuren Thätigkeit, wie sie Ranke in der raschen Folge seiner Bände entwickelt...“ ([Anonym] in: Berliner Revue/1858, 321). Seit Herbst 1871, also seit dem Tod der Gattin und dem Ende seiner Vorlesungstätigkeit, beschleunigte Ranke - wieder zum Junggesellen geworden und mit dreiköpfigem Aufwartungspersonal versehen - die Produktion und hielt zwei Amanuensen gleichzeitig (Wiedemann V/1892, 350). Einige dieser Hilfskräfte erlangten später eine nicht geringe eigene Bedeutung. Zu nennen sind - in ihren späteren Funktionen - v. a.: der Direktor der preußischen Staatsarchive, Paul Bailleu (1853-1922), der Kgl. Archivdirektor Georg Winter (1856-1912) von April 1877 bis Sept. 1879, der spätere Prof. Wilhelm Pfeifer (1880/81, nicht ADB/NDB), Anton Hagedorn, Ignaz Jastrow (18561937), Prof. für Nationalökonomie, von Okt. 1879 bis 1880, Prof. Wilhelm Altmann, der Hg. der Dt. Literaturzeitung, Paul Hinneberg (1862-1934), Georg Gäbel und Max Handloike (Wiedemann II/1891, 323; Hoeft/1937, 8ff.), auch kurze Zeit der Historiker Prof. Max Lehmann (1845-1929, [Selbstdarstellung]/1925). Einige haben interessante Erinnerungen über ihre Tätigkeit in Rankes Atelier hinterlassen, neben den ausführlichsten und wichtigsten von Theodor Wiedemann sind es die von Bailleu, Winter und Jastrow. Die Erinnerungen Paul Bailleus - in seiner Studienzeit war er von Sommer 1873 bis 1876 als Amanuensis tätig - gelten v. a. der Arbeitsweise Rankes und der Entstehung der Werke dieses Zeitraums, der ‚Genesis des Preußischen Staates‘ und den ‚Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg‘. 1876 war Bailleu zeitweilig mit der Abschrift der Dokumente zu ‚Hardenberg‘ beschäftigt (an Geibel, 13. 9. 76, Geibel/1886, 93) - in erster Linie aber war er bei dem ‚Ursprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792‘, 1875 erschienen, tätig. (Siehe dazu in Abt. II/1 unter ‚Ursprung ...‘ 1875 und II/7, 1873). Die Erinnerungen von Georg Winter, als Student von April 1877 bis Sept. 1879 Amanuense, später Direktor des Staatsarchivs Magdeburg (Winter: Erinnerungen an Leopold von Ranke/1886), bilden eine beachtenswerte Quelle v. a. zur Arbeitsweise und zur Bibliothek Rankes, zur Entstehung der Biographien Friedrich Wilhelms IV. und Friedrichs d. Gr. sowie der ‚Weltgeschichte‘. Nach Rankes Tod war Winter an der Herausgabe der ‚Weltgeschichte‘, Bd. VIII u. IX beteiligt (s. II/2.1.1). - Seine Schrift ‚Ranke und die Entstehung seiner Weltgeschichte‘ (1889) stellt im wesentlichen eine gestraffte Fassung der ‚Erinnerungen‘ dar. Der spätere Professor für Nationalökonomie Ignaz Jastrow, der von Okt. 1879-1880 Amanuensis Rankes war, berichtet aus Anlaß von Rankes Tod über „einige kleine Irrthümer“ der Ranke-Biographik, wobei er u. a. den Beginn der Arbeiten an der ‚Weltgeschichte‘, Rankes Arbeitsstil und Manuskripte behandelt. (In: Jastrow: Leopold von Ranke†/1886 u. [Jastrow: Zuschrift]/1886). Unter den zahlreichen Amanuensen Rankes ist Dr. phil. Theodor Wiedemann (1833?-1901?), Hörer Rankescher Vorlesungen der Jahre 1854 bis 1856 und Teilnehmer an seinen historischen Übungen, mit weitem Abstand der für Ranke wichtigste geworden. Wiedemann zufolge hat Ranke ihm gegenüber bei Beginn seiner Amanuensentätigkeit im Oktober 1870, wenige Monate vor dem Tod seiner schon lange schwer leidenden Frau, geäußert, „ihm liege ... die Ausführung noch mancher litterarischen Entwürfe am Herzen, dabei wünsche er meine Unterstützung zu haben, er - 43 -
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beabsichtige eine Art geistiger Vermählung mit mir einzugehen“ (Wiedemann I/1891, 167). Die heute selten herangezogenen Erinnerungen des Privatgelehrten (Wiedemann I/1891-XV/1893) stellen eine Quelle ersten Ranges für nahezu alle Bereiche der Ranke-Forschung dar und sind unter den ihn berührenden zeitgenössischen Memoiren von einmaliger Reichhaltigkeit. Ihr Wert liegt nicht zuletzt darin, daß sie vorwiegend eine Zeit betreffen, die von den autobiographischen Diktaten Rankes (in SW 53/54) nicht mehr abgedeckt ist. Sie berühren u. a. den Tod Clarissa v. Rankes, die Herausgabe von ‚Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen‘ (1873), Rankes Korrekturverhalten [I], die Herausgabe der ‚Zwölf Bücher Preußischer Geschichte‘ (1874) [I-II] und des ‚Ursprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792‘ (1875), sodann Rankes sonstige Amanuensen [II], die Stilistik seines Werks [III], die ‚Weltgeschichte‘, besonders deren römischen Teil, die Vorlesungen (für den Nachlaß von Bedeutung) [IV-V]. - Enthalten ist auch die Wiedergabe von Äußerungen Rankes über einzelne Persönlichkeiten: Ancillon, Chr. D. Beck, Bismarck (s. u.), Bunsen, Friedrich Wilhelm III. u. Friedrich Wilhelm IV., Gentz, L. v. Gerlach, Karl XII., E. v. Manteuffel (s. u.), O. v. Manteuffel, Napoleon I., J. v. Radowitz, Roon, Varnhagen v. Ense, E. K. Wieland [VI]. - Sodann berichtet Wiedemann über Rankes ‚Historischpolitische Zeitschrift‘ und, in Form einer die eigentlichen Erinnerungen sprengenden Abhandlung, ausführlich über die politischen Denkschriften Rankes und seine Stellung zu den politischen Ereignissen [VI ff.]. - Ferner über Harry Gf. v. Arnim, nochmals Bismarck, Judenfrage [XIII], erneut E. v. Manteuffel [XIII-XIV], die ‚Weltgeschichte‘, Rankes Religiosität und Selbstgefühl, Gf. Friedrich zu Dohna, Lepsius, Plato, Treitschke, Waitz, K. W. Nitzsch, W. A. Schmidt, Papencordt, Maurenbrecher [XIV]. Besuche des Kronprinzen Friedrich. Über Rankes Bibliothek; Vortragsstil; Hegel, Schelling, Heinrich Ritter, Eugen Dühring, Ed. v. Hartmann, Goethe, Schiller, Wildenbruch, Schlosser, Schröckh, Droysen, Friedrich v. Raumer, Boeckh, Mommsen, Letzte Tage, Tod [XV]. Für Wiedemann, der „recht eigentlich seine ausschließliche Lebensaufgabe darin zu sehen schien, mit Ranke und für ihn zu arbeiten“ (Winter: Erinnerungen/1886, 216), war neben dem vormittags von etwa 9.30 bis 14 Uhr tätigen jeweiligen Sekundäramanuensen abends von etwa 19 Uhr bis Mitternacht oder darüber hinaus, auch an Sonn- und Feiertagen, gemeinsam mit Ranke bei der Arbeit. Wiedemann war ein ausgedehntes, selbst produktives Arbeitsgebiet reserviert, das er in seinen Erinnerungen an die sechzehnjährige Zusammenarbeit so beschreibt: „Das Aufspüren litterarischer Notizen, die Zusammenstellung bibliographischer Nachweisungen, die Anfertigung von Exzerpten, die von Ranke für seine Darstellung benutzt wurden, die Durchsicht der ersten Korrekturbogen und wenn nicht dieser, so der zweiten nach Elimination der Druckfehler, falls Ranke nicht die einen oder die andern sich sogleich vorlesen ließ; endlich die Revision der zuletzt eingehenden sind vorwiegend und fast ausschließlich mir übertragen worden. Zum größten Teil lag mir auch die Vorbereitung für die neuen Ausgaben, die als solche letzter Hand in die sämtlichen Werke aufgenommen sind, ob.“ (Wiedemann II/1891, 326f.). - „Es geschah auch, daß Ranke mir die Beantwortung scientifischer Spezialanfragen, mit denen man sich an ihn gewandt hatte, oder die Erwiderung auf briefliche Einwendungen gegen seine Darstellung in Bezug auf Einzelheiten überließ, oder von mir die Einholung von Informationen durch Gespräch mit wissenschaftlichen Autoritäten erheischte.“ (Ebd., 327). All dies wird von Georg - 44 -
I/1.3 Atelier und Amanuensen
Winter bestätigt, der neben der umfassenden Korrekturtätigkeit Wiedemanns hervorhebt: „außerdem aber leistete er Ranke unschätzbare Dienste dadurch, daß er, unterstützt von einer außerordentlichen bibliographischen Kenntniß, auf den Bibliotheken die Bücher heraussuchte, die den jeweiligen Studienkreis Rankes betrafen, und ihm dann hie und da selbständig lange Auszüge über Fragen, die ihn besonders interessirten, machte.“ (Winter: Erinnerungen/1886, 217). Die Bedeutung der Wiedemannschen Tätigkeit ist neben seinen Werkstatterinnerungen zumindest ansatzweise auch aus Rankes Briefen an seinen Verleger Carl Geibel ersichtlich. Dort heißt es nicht allein: „...die Correcturen, die immer unmittelbar an ihn gegangen sind“ (R. an Geibel, 21. 12. 1878, Geibel/1886, 118), sondern auch, zu den Arbeiten an der ‚Weltgeschichte‘ (Erster Theil und Zweiter Theil, 3. Aufl. 1883): „Doctor Wiedemann wird die Bände durchsehen und einige leichte Verbesserungen beibringen“ (21. 12. 82, ebd., 148). - „Doctor Wiedemann ist bereits beschäftigt, die wenigen, zum zweiten Theil gemachten Einwendungen zusammenzutragen und zu prüfen.“ (26. 12. 82, ebd., 149). - „Wiedemann sagt mir aber, dass trotz des kurzen Zeitraums, der seit der Ausgabe verlaufen ist, doch ein und das andere Werk erschienen ist, worin sich möglicherweise Berichtigungen finden können.“ (28. 3. 83, ebd., 149f.). Die posthum veröffentlichten Analekten zu Bd. VIII der Weltgeschichte (625-655) waren 1885 noch von Ranke Wiedemann „dictirt und mit ihm erwogen worden“ (Dove auf p. XII des Vorworts), und Wiedemann schien auch später qualifiziert genug, „dem Schlusse beider Erörterungen die noch mangelnde in sich zusammenhängende Redaction angedeihen“ zu lassen (Dove ebd.). Bereits 1877 war die Abhängigkeit des Greises so groß, daß er über seinen Helfer schrieb: „ich wüsste Niemand, der ihn ersetzen könnte“ (28. 6. 77, Geibel/1886, 105). Er war schlechthin „ganz unentbehrlich“, fand auch Rankes Sohn Friduhelm (FvR/1903, 198). Man darf ohne Übertreibung feststellen: Wiedemann hat mit seinen vielfältigen Hilfestellungen das Alterswerk Rankes nebst Revisionen früherer Werke im gegebenen ungeheuren Umfang erst ermöglicht. Seine Beihilfe ist in erster Linie anzunehmen für die in den letzten sechzehn Lebensjahren Rankes neu erscheinenden Werke, vor allem die durch die Reichsgründung hervorgerufenen ‚preußisch-deutschen‘ Werke, zunächst ‚Die deutschen Mächte und der Fürstenbund‘ (1871/72). Für das Werk ‚Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen‘ (1873) suchte Wiedemann aus der „einschlagenden Literatur ... die in Betracht kommenden Stellen bereits im voraus“ auf (Wiedemann I/1891, 175). Ähnlich bei der ‚Genesis des preußischen Staates‘ (1874), wo Wiedemann aus Droysens ‚Geschichte der preußischen Politik‘ (14 Bde in 5 Teilen, 1855-1881) das „für Ranke brauchbare Material“ heraussuchte (ebd., II, 322). Sodann seine Hilfe bei den folgenden Werken: ‚Zwölf Bücher Preußischer Geschichte‘ (1874), ‚Ursprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792‘ (1875), ‚Zur Geschichte von Oesterreich und Preußen‘ (1875), ‚Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg‘ (1877), ‚Historisch-biographische Studien‘ (1877), ‚Friedrich der Große. Friedrich Wilhelm der Vierte. Zwei Biographien‘ (1878), ‚Zur Venezianischen Geschichte‘ (1878), ‚Serbien und die Türkei im neunzehnten Jahrhundert‘ (1879), letztlich bei der ‚Weltgeschichte‘ (1881-1886). Für diese hatte Wiedemann u. a. eine wahrhaft gigantische Sammlung von Exzerpten angelegt, man bedenke: 62 Konvolute, zumeist in Quart. Sie bezogen sich auf „byzantinische und islamitische Geschichte“ sowie „besonders auf die griechische Geschichte seit der Zeit des jüngeren Cyrus, auf die römische seit Constantin, auf die Beilage: Zur Chronologie des Eusebius ... auf dessen Leben Constantins ... und auf die Darstellung der Geschichte des Moses in den Antiquitäten - 45 -
I/1.3 Atelier und Amanuensen
des Flavius Josephus“ (Wiedemann V/1892, 347, A. 3). Dabei waren auch „vorläufige, zusammenfassende, bisweilen recht ausführliche Bearbeitungen einzelner Themata, wie beispielsweise eine solche, die auf die pseudo-isidorischen Dekretalen sich bezog“. Neben einer „von Ranke selbst fortgeführten Materialsammlung“ bildeten sie „das wesentlichste Fundament seiner Darstellung“ (ebd., 346). - Nicht gering einzuschätzen ist, wie bemerkt, nach Wiedemanns und Rankes Äußerungen die Beihilfe bei den Revisionen bereits früher erschienener Werke. Insgesamt handelte es sich bei Neuschöpfungen und Revisionen um nicht weniger als einhundert Bände, die in der Wiedemann-Phase, den letzten sechzehn Lebensjahren Rankes, das Atelier verließen. Diese für Ranke höchst wertvollen Zuarbeitungen sind in vielfacher Hinsicht bedenklich: Zum einen ist der Einfluß auf sein Werk offensichtlich nicht nur formaler Art gewesen, sondern hat sich über die Vermittlung des von ihm nicht mehr ausreichend verfolgten Forschungsganges hinaus auch strukturell für Auswahl und Aufarbeitung einzelner thematischer Komplexe geltend gemacht. Dies mag in manchen Teilen vielleicht aus dem Nachlaß ersichtlich werden, dürfte jedoch überwiegend nicht abzuschätzen sein, zumal ohnedies nicht immer klar sein wird, ob Ranke diktierend als Urheber für die fremdhändigen Niederschriften im Spät-Nachlaß anzusehen ist, oder ob der jeweilige Schreiber mehr oder minder Eigenes formuliert hat. Als eine der von Wiedemann gefertigten zahlreichen Ausarbeitungen für Ranke könnte z. B. das von Vierhaus (Soz. Welt/1957, 50 m. A. 28) im Nachlaß erwähnte Folioheft „Literatur über die neuere Geschichte seit dem Tode Friedrichs des Großen“ (Fasz.35) gelten. - Hinzu kommt die bei aller intensiven Zuwendung und Detailliebe durchschimmernde Flüchtigkeit des eifrigen, von seinem stets ungeduldigen und gelegentlich aufbrausenden Meister getriebenen Amanuensen, zumindest in dem, was der Ranke-Forscher Hans F. Helmolt überprüfen konnte. Er spricht von „Flüchtigkeitsfehlern, von denen die Wiedemannschen Veröffentlichungen leider so reich sind.“ (Helmolt/1921, 168, A. 28). „Wo ich in der Lage war, seine Kopistentätigkeit zu kontrollieren, bin ich stets auf bedauerliche Unzulänglichkeit gestoßen.“ (ebd., 201, A. 228). Ja, nach „gewissenhafter Kollationierung“ der Wiedemannschen Briefausgaben (Dt. Revue 20, Bd. 2, Apr. Juni 1895, 56-71, in den Biogr. Bll. 1, 1895, 435-447 u. in der Beil. z. AZ, 19. 12. 1895, Nr. 351, Beil. Nr. 293, 1-5) mit den Originalen kam Helmolt zu dem vernichtenden Urteil: „direkt lüderlich, um nicht zu sagen: miserabel ... Auslassungen und Zusätze, namentlich aber Verlesungen, die bei dem langjährigen Amanuensis doppelt bedauerlich sind und einen für manche Stellen in der ‚Weltgeschichte‘ recht mißtrauisch machen können, jagen sich förmlich.“ (Helmolt, Verschollener politischer Aufsatz/1907, 549, A. 1). - Zu den Nachlässigkeiten Wiedemanns äußerte sich auch Hermann Oncken in massiver Weise: „die Art und Weise, wie Wiedemann den Abdruck von Briefen besorgt hat, ist über alle Maßen nachlässig und fehlerhaft. Sie wirft auf die Exaktheit des langjährigen Rankeschen Gehilfen kein erfreuliches Licht.“ (Oncken/1922, 45, Anm). Diese Informationen sind beunruhigend und müssen wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Wiedemanns gesamtes Engagement bezogen werden. Sein Einsatz reichte bekanntlich über Rankes Tod hinaus. Er war bei der Ausgabe der posthumen Teile der ‚Sämmtlichen Werke‘ ebenso beteiligt wie bei der fremdhändigen Abrundung der ‚Weltgeschichte‘. Über Rankes Tod hinaus verfaßte er auch für dessen nach Syracuse veräußerte Bibliothek und die damit verbundenen Relationen eine ungewöhnlich detaillierte und umfangreiche Ausarbeitung, die den dortigen Bemühungen um Übersicht und Einblick sehr zugute gekommen ist und ihren Wert noch bei weitem nicht verloren hat (s. II/8). - 46 -
I/1.3 Atelier und Amanuensen
Zusammenfassend darf man feststellen, daß Ranke sich seit jeher, jedoch in der zweiten Lebenshälfte durchgehend und ausgedehnt einer Vielzahl von Helfern bedient hat, die es ihm zunächst wenigstens erleichterten, später gar erst ermöglichten, sein umfangreiches Werk quellenmäßig vorzubereiten und darstellerisch nebst permanenten Revisionen in kürzester Zeit hervorzubringen. Dabei sind altersbedingt zunehmand fremde formale und materiale Elemente in das Werk ‚eingedrungen‘, die seinen Charakter nicht alteriert haben können, jedoch die Beurteilung seiner bleibend herausragenden Leistung als Forscher und Darsteller erschweren. Dies gilt nicht allein für seine Leistung in ihren quantitativen Dimensionen, sondern auch für Bereiche der eigentlichen Werkstruktur, zumindest soweit diese durch Literaturauswahl bestimmt ist. Nicht zuletzt ist die Präzision der seinen Darstellungen zugrunde liegenden Quellenabschriften und seiner der Forschung kaum vor Augen stehenden Fülle an helfergestützten Editionen permanent in Zweifel zu ziehen sowie die Authentizität der seit dem Eintritt Wiedemanns durchgeführten Revisionsmaßnahmen seiner Darstellungen infrage zu stellen.
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4. Kapitel (I/1.4) BUCHGESTALTER UND VERLEGER Die Titelgebung seiner Werke war - wie sich schon bei seinem Erstling zeigte - für Ranke von außerordentlicher Bedeutung: „Dem Beginn der Ausarbeitung voraus ging fast immer die Wahl des Titels für das neue Werk; noch bevor eine einzige Zeile von diesem geschrieben war, wurde derselbe oft unmittelbar hinter einander ein halbdutzend Mal geändert...“, wußte sein wissenschaftlicher Hauptgehilfe Theodor Wiedemann (II/1891, 334) zu berichten. Es wurden oben bereits die editorischen Anfänge der ‚Fürsten und Völker‘ mit ihrer Verbindung von Reihen- und Werktitel betrachtet, eine Verbindung, die durch die Inkohärenz des darin Untergebrachten zu Problemen führen mußte. Dabei wurde das Schicksal des sogenannten „ersten“ und einzigen wirklichen Bandes der ‚Fürsten und Völker‘ aus den Augen verloren: Das Werk erhielt überraschenderweise in der dritten Auflage einen völlig neuen Titel: ‚Die Osmanen und die spanische Monarchie im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert‘, wobei jedoch der bisherige Werktitel, der ja bereits bei den ‚Päpsten‘ als Reihentitel fungierte, hier die Funktion eines Obertitels oder auch Reihentitels annahm. Erst 1877 entfiel die verwirrende und peinliche Bandzählung ‚Erster Band‘, und der zeitweilige Reihentitel der ‚Fürsten und Völker‘ verschwand bei dieser Aktion zwar nicht ganz, wurde aber auf das Niveau eines Untertitels herabgestuft. Der Titel ‚Fürsten und Völker‘ tritt also im Laufe von Jahrzehnten insgesamt auf drei bibliographischen Ebenen auf: als Werktitel, als Reihentitel und als Untertitel. So hat es denn 50 Jahre gedauert, bis die nicht ausgereifte Planung von 1827 und die gescheiterte Kaschierung des Abbruchs durch Einbringung der ‚Päpste‘ auf Irrwegen bibliographisch einigermaßen korrigiert war. Noch 1875, bei den Vorbereitungen zur vierten Auflage, hatte Ranke seinem Verleger gegenüber in einem gewissen Starrsinn auf diesem Titel beharrt: „diesen Titel ‚F. u. V. ‘ wünsche ich festzuhalten“ (an Geibel, 3. 9. 75, Geibel/1886, 79). Wegen der ‚Römischen Päpste‘ haben wir die zuvor, 1829, erschiene ‚Serbische Revolution. Aus serbischen Papieren und Mittheilungen‘ übersprungen. Eine zweite Auflage erschien erst 15 Jahre später im Zusammenhang mit einem Verlagswechsel unter der Bezeichnung „Zweite Ausgabe“ und verlor später ihren Charakter als selbständige Schrift, da Ranke sie, ebenfalls 50 Jahre nach der Erstauflage, in sein Werk ‚Serbien und die Türkei im neunzehnten Jahrhundert‘ aufnahm, (= SW 43/44), nicht ohne zuvor den Titel geändert zu haben. Das Werk bzw. Teilwerk hieß nun ‚Geschichte Serbiens bis 1842‘. Gleichwohl wurde es dort als „Dritte Auflage“ bezeichnet, in einer Schrift also, die ihrerseits als 1. Auflage anzusehen war. Auch das 1831 erscheinende Werk ‚Ueber die Verschwörung gegen Venedig, im Jahre 1618‘ verlor später seine Selbständigkeit. Es wurde mit leichter Titeländerung (Fortfall des ‚Über …‘), als „Zweite Abtheilung“ des Werkes „Zur Venezianischen Geschichte“ (= SW 42), allerdings anders als etwa beim Drittdruck der ‚Serbischen Revolution‘, nicht als ‚Auflage‘ bezeichnet. Der Fülle seiner rasch wechselnden Einfälle entsprach auch im August 1870 der Gedanke, den Titel seines Werkes ‚Der Ursprung des Siebenjährigen Krieges‘ mit dem Zusatz ‚Das zehnte Buch der preußischen Geschichte‘ zu versehen (an Geibel, 2. 8. 70, Geibel/1886, 19), was - und dies wurde nicht bedacht - später Probleme bei den - 48 -
I/1.4 Buchgestalter und Verleger
‚Zwölf Büchern preußischer Geschichte‘ aufgeworfen hätte. Das Jahr war noch nicht beendet, da sollte es einen anderen Reihen- oder Untertitel führen „Zur preußischen Geschichte I[.] Heft“ (an Geibel, 1. 12. 70, ebd., 23). „Es würde dann“, so verhieß Ranke dem Verlag, „ein zweites ähnlichen Inhalts, auf den Ursprung des Revolutionskrieges bezügliches folgen können.“ (ebd.). Diese Konzeption kam jedoch weder in dem einen noch in dem anderen Fall zum Tragen. Mit einer solchen selbstverpflichtenden Reihen-Konzeption war Ranke schon früher gescheitert. Auch seine publikumsorientierte Erwägung, den 1884 erscheinenden 5. Teil der ‚Weltgeschichte‘ mit dem Titel ‚Mahomet und Karl der Große‘ zu versehen, hatte nur kurzen Bestand. Schon nach drei Tagen zog er ihn der Druckerei gegenüber zurück. Ein besonderes verwirrendes Modell schuf Ranke durch die Kombination folgender Phänomene: Da ist zunächst seine lebenslange Vorliebe für die Aufteilung der Werke in ‚Bücher‘, dem antiken liber-Modell folgend, wie man es etwa aus Livius kennt und wofür auch Johannes von Müller mit seinen ‚Vier und zwanzig Büchern Allgemeiner Geschichten, besonders der europäischen Menschheit‘, zuerst Tübingen 1810, verbreitetes Vorbild sein konnte, dies um so mehr, als kein Geringerer als Friedrich Christoph Schlosser, freilich anonym, Ranke in den Kreis der „auf Stelzen einhergehenden Sprache der Müller nachahmenden Schriftsteller“ aufgenommen hatte (‚Ueber die neusten Bereicherungen der Literatur der deutschen Geschichte‘, 1831, 300f.). Bei Müller waren auch ‚Geschichten‘ statt ‚Geschichte‘ zu finden. Das von ihm und anderen vorgegebene Bücher-Modell wollte Ranke bereits im Titel seines Erstlings zum Einsatz bringen, kam dann jedoch nicht früher als während des Druckes davon ab. Im Inneren jedoch blieb es bei zwei ‚Büchern‘. Auch dies ein Hinweis auf mehrfache Planänderungen, denn ein Buchtitel „Das erste Buch einer Geschichte der Romanischen und Germanischen Nationen seit 1494. Nebst einer Kritik der Geschichtschreiber“ konnte, wie bereits bemerkt, schwerlich zu zwei Büchern im Inneren passen. - Problematisch wird das Bücher-Modell besonders, wenn sich dieses inhaltliche Gliederungsprinzip mit einem speziellen äußerlichen, buchbinderischen Prinzip verbindet: der Einrichtung von Doppelbänden. Die von Ranke und Verlag favorisierte Doppelband-Zählung führt, zumal bei der Ausgabe ‚sämtlicher Werke‘, schnell zu hohen Bandzahlen, was die Imposanz des Gesamtwerkes erheblich steigert. Mit der Ausgabe der ‚Zwölf Bücher Preußischer Geschichte‘ war dieses Verfahren eingeführt worden. 1873 wies ein anonymer Rezensent der Londoner ‚Academy‘ auf das Ungewöhnliche der Bandzählung hin. Er sah in Doppelband 25/26 „a unique specimen even in the German book trade“ (15. 11. 1873, 436). Statt 44 Bänden gewann man auf diese Weise bei gleichem Inhalt 10 Nummern dazu und kam so auf 54. - Tritt nun zum inhaltlichen ‚Bücher‘-Modell nicht nur die buchbinderische Doppelbandform hinzu, sondern es werden vom Autor auch Erweiterungen des Werkes vorgenommen, die überdies zu Titeländerungen führen, dann ist eine hochgradig verwirrende Form erreicht. In der Entwicklung der ‚Preußischen Geschichte‘ Rankes gestaltet sich dies auf folgende Weise: Da begegnen nicht nur ‚Vier Bücher preußischer Geschichte‘, sondern auch ‚Neun Bücher‘ und später gar ‚Zwölf Bücher‘. Doch zurück zu den ‚Vier Büchern‘: Gab es diese in einem Band, so traten die Neun Bücher in drei Bänden auf. Nun aber die 12 Bücher: Diese erschienen in gezählten fünf, jedoch gebundenen drei Bänden der Doppelbände Bd. 25/26, 27/28, und des Einzelbandes 29 der ‚Sämmtlichen Werke‘. Da ist es nützlich zu wissen, daß die ‚Vier Bücher preußischer Geschichte‘ eigentlich nur irgendwo als Untertitel auftreten, und zwar in der ‚Genesis des preußischen Staates‘, - 49 -
I/1.4 Buchgestalter und Verleger
doch das nicht ständig, denn diese ‚Genesis‘ erschien gleichzeitig in drei Ausgaben: in den ‚Sämmtlichen Werken‘, sodann als Separatabdruck derselben und darüber hinaus als eigenständige Publikation in Form eines Separatabdrucks des Separatabdrucks. Der Titel ‚Vier Bücher preußischer Geschichte‘ findet sich eben dort als Untertitel. - Führte Ranke hier mehrere ‚Bücher‘ in einem Band zusammen, so war es in den ‚Jahrbüchern des Deutschen Reichs unter dem Sächsischen Hause‘ geradezu umgekehrt. Hier wurden unter dem Oberbegriff ‚Bücher‘ mehrere Bände zusammengefaßt, die allerdings ihrerseits als ‚Abtheilungen‘ bezeichnet werden. In deren Titelseiten findet sich überhaupt eine Besonderheit. Bei der Verteilung der Haupttitel- und Reihentitelplätze hat sich Ranke mit dem Reihentitel der ‚Jahrbücher‘ und in persona als Herausgeber jeweils auf die (rechte) Haupttitelseite gesetzt und dem Werktitel und Verfasser lediglich das (gegenüberliegende, linke) Reihentitelblatt überlassen, was eine korrekte bibliographische Erfassung im Grunde undurchführbar macht. Ranke hatte die ungeduldige, freilich nicht gar so seltene Gewohnheit, stets schon den ersten Band seiner meist mehrbändigen Werke in Verlag und Druckerei zu geben, wenn der große Rest noch nicht geschrieben war, ja seine Quellenrecherchen noch in den Anfängen standen. Sein hektischer Drang, mit Büchern an die Öffentlichkeit zu treten, war größer als die Einsicht, in Ruhe und mit weiterem Überblick und gereifter Konzeption zu stärker gesicherten Erkenntnissen zu gelangen. Bedenken wegen dieses permanent geübten Verfahrens findet man von Ranke nicht geäußert, obgleich damit das zweifache Problem der eingeschränkten Kenntnis des noch Darzustellenden und nach weiteren Bänden - der Unveränderbarkeit des bereits Dargestellten verbunden war. Da er sich in gewohnheitsmäßiger Selbstüberschätzung häufig auch hinsichtlich der Arbeits- und Werkumfänge sowie der sich daraus ergebenden Schaffens- und Herstellungszeiträume massiv täuschte - nicht eingerechnet Dauer und unabsehbare Ergiebigkeit seiner ausgedehnten in- und ausländischen Archivreisen -, kam es zu unangenehmen Überdehnungen des Gesamterscheinungszeitraums mancher Werke und zum Vergriffensein erster Bände, wenn die letzten noch nicht erschienen waren. Nahezu chaotische Erscheinungen treten vor allem auf, wenn sich langgezogene Mehrbändigkeit mit einem bandweise unterschiedlichen Abverkauf und einer verzögerten Überarbeitung einzelner Bände verbindet. Seine ‚Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation‘, zunächst völlig irrig auf drei Bände eingeschätzt, die er „im künftigen Winter, wo möglich zusammen erscheinen lassen“ wollte - so hatte er noch ein Jahr vor Erscheinen des ersten Bandes Johann Georg von Cotta (1796-1863) voreilig mitgeteilt (1. 5. 38, Henz/1972, 300f.), der freilich nicht den Zuschlag erhielt - zog sich dann aber mit ihren sechs Bänden über acht Jahre hin. Dies wäre noch verhältnismäßig unproblematisch gewesen. Doch der VI. Bd. der 1. Auflage erschien erst, als die Bände I bis III schon in die 2. Auflage gegangen waren. Die Bände IV bis VI indes erschienen nie in zweiter Auflage, später allerdings in 3. und 4. Da wurde mit einem Teil des Werkes einfach eine Auflage übersprungen. Anders wußte man sich nicht zu helfen. Bei genauerer Betrachtung erkennt man zudem, daß die sechs Bände in der 3. Auflage auf fünf Bände reduziert wurden, was in der folgenden Auflage allerdings wieder rückgängig gemacht wurde. Die Gründe werden an anderer Stelle betrachtet. - Ähnlich der ‚Deutschen Geschichte‘ gestalteten sich die Dinge bei seiner ‚Französischen Geschichte‘. Bei der überwiegend unveröffentlichten Korrespondenz Rankes mit Cotta (NL Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N., s. II/3.3, Pos. 97) befindet sich auch der entsprechende Verlagsvertrag - 50 -
I/1.4 Buchgestalter und Verleger
(datiert vom 29. 9. 51). Er sah für das Werk nicht fünf, sondern lediglich zwei Bände vor. Aus der Korrespondenz wird auch der interessante, freilich nicht verwirklichte Gedanke Rankes sichtbar, „der französischen Geschichte den ihr noch mangelnden Theil über die Revolutionsepoche hinzuzufügen“ (R an C., 23. 7. 58 bei Henz/1972, 303). Sowohl die Erstauflage seiner ‚Französische Geschichte‘ mit ihren fünf Bänden als auch die seiner ‚Englische Geschichte‘ mit ihren sieben Bänden zogen sich über jeweils neun Erscheinungsjahre hin. So erschienen bei der ‚Englischen Geschichte‘ die Bde III-IX der 2. Auflage erst mit einem Abstand von acht bis zehn Jahren auf die Bände I u. II. Kein Wunder, daß im Jahre 1870 bei diesem Werk Sonderbares geschah: Leser, die mit dem Erwerb erst bei der 2. Auflage eingesetzt hatten und von dieser gerade einmal die Bände I-IV, nicht jedoch bereits die Bände V bis IX hatten beziehen können, mußten erleben, daß noch vor deren Erscheinen die Bände I und II einer dritten Auflage erschienen und diese darüber hinaus noch eine Titeländerung aufwies, aus der ‚Englischen Geschichte vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert‘ war überraschend eine ‚Englische Geschichte vornehmlich im 17. Jahrhundert‘ geworden - so daß sie sich im Besitz eines in mehrfacher Hinsicht veralteten Werkes sahen, das überdies noch weit davon entfernt war, abgeschlossen zu sein. Die Verwirrung wurde noch gesteigert durch eine 1865 unter Beibehaltung der Normalausgabe erscheinende partielle Separatausgabe unter dem Titel ‚Geschichte der Restauration und der Revolution in England‘, die überdies nicht zu Ende geführt wurde (s. II/1.1). Verwirrend dürfte auch in der 4. Auflage der ‚Französischen Geschichte‘ das Auftreten von Band VI mit dem Titel ‚Briefe der Herzogin von Orléans‘ als „zweite Auflage“ gewirkt haben. Das heißt, dieser Band gehörte einer 4. Auflage an, in seinem Inhalt jedoch stellte er eine zweite Auflage dar. - Verschlimmert wurde das Problem durch das im Laufe seines Lebens mehr und mehr sich häufende bandweise Überkreuzen verschiedener Neu- und Alt-Werke und Auflagenteile, wodurch sich weitere Verzögerungen und Verwirrungen geltend machten. Der Verdacht, Ranke sei zu vielen minder vernünftigen Entscheidungen, gerade auch zu der unglaublichen Produktionshektik der späteren Jahre (s. u.), durch seine Verleger getrieben worden, ist völlig unbegründet. Im Gegenteil war es so, daß Ranke nicht nur die Rolle des Autors innehatte, sondern mehr und mehr auch die des Verlegers und Buchgestalters in maßgeblicher Weise übernahm, in jedem Fall druckvoll auszuüben versuchte, - ein im Hinblick auf seine geschilderten wirren und verwirrenden Eigenheiten nur zum geringen Teil sinnvolles Unterfangen. Kurzum, auf seine Verleger hatte er, der auch im häuslichen Kreis, Feststellungen seiner Verwandten zufolge, den „grand tyran“ gab (unveröff., NL WR, Rep. 92 NL Geschw. Ranke, GStA PK.), - „Im Hause war sein Wort absolutes Gesetz“ (FvR/1903, 8), und schon sein Vater war „ein gar gestrenger Herrscher“ gewesen (EvR/1966, 128), - einen durchaus starken Einfluß. Ranke suchte und fand die Verbindung zu einigen der angesehensten Verleger Deutschlands, es kam jedoch durch seine unmäßigen Korrekturen und seine zum Teil nicht eingehaltenen großsprecherischen und unrealistischen Pläne und Voreiligkeiten erst spät zu einer dauerhaften und ausschließlichen Bindung, die dann um so fruchtbarer wurde. Seinen ersten Verleger Georg Andreas Reimer quälte er durch eine Vielzahl wirrer Unternehmungen im Zusammenhang mit seinem Erstlings-Doppelwerk (siehe i. e. - 51 -
I/1.4 Buchgestalter und Verleger
II/1.1). Schließlich hatte er Reimer so weit gebracht, daß dieser „zu allem“, was er wünschte, „bereit“ war (An HR, 8. 10. 24, SW 53/54, 135). - Aus den komplizierten Verhältnissen, in denen Ranke zu seinem zweiten Verleger, Friedrich Perthes, stand, sei hier nur Folgendes mitgeteilt: Bei seinen ‚Fürsten und Völkern‘ suchte er nach weit fortgeschrittenen Satzarbeiten die Planung über den Haufen zu werfen, sprach überraschend von drei Bänden, die dann nie erschienen, „indessen im Kauf nicht getrennt werden dürfen“, wovon indes der 1. und 3. Band bereits „zu Ostern“ erscheinen sollten (an Perthes, „Jan. 27“, Oncken/1922, 100). Über eine zweite Auflage des allein erschienenen „ersten“ Bandes wurde zwischen Ranke und Perthes in den Jahren 1828 bis 1831 - nicht gerade einvernehmlich und auch nicht eindeutig korrespondiert. Für eine etwaige Neuauflage hatte Ranke vor, sich „an dem großen Publicum ein wenig zu versuchen“. Dazu sollten Fußnoten entfallen und durch engeren Satz eine geringere Bogenzahl und damit eine „wohlfeile Ausgabe“ erreicht werden. Dazu schlug er dann auch sogleich eine Titeländerung vor: „Osmanen und Spanier im 16. u. 17. Jahrh.“ (An Perthes, 25. 2. 28, Oncken/1922, 111). - Für seine ‚Verschwörung gegen Venedig‘ hatte er anläßlich des Manuskriptangebots an Perthes bereits genaueste Vorstellungen: „Ich wünschte“, so schrieb er, „daß diese Schrift, bey der die wichtigeren Urkunden anzuhängen sind, so daß sie ungefähr 10 Bogen betragen kann, unmittelbar gedruckt würde. Auf eine zweite Auflage ist nicht voraus zu denken, da der Stoff keine Vermehrung zuläßt, und daher würde ich für 750 Exemplare seyn“, die sich „auf die letzt sämmtlich absetzen werden.“ ([5. 2. 31], Oncken/1925, 227f.). Ranke konnte seinen verlegerischen Weitblick nicht unter Beweis stellen, denn es kam mit Perthes zu keinem Vertragsabschluß, und Ranke wandte sich dem Berliner Verlag Duncker und Humblot zu. Außerordentlich starken Einfluß hatte Ranke, etwa ab 1866, auf den jungen und rechtschaffenen, zudem bald kränkelnden Carl Geibel (1842-1910), den Inhaber des Verlages, im Ton zumeist verbindlich-freundlich, aber in der Sache nahezu überwältigend. Rankes Einfluß reichte, wie der von Geibel zusammengestellten Ausgabe von Briefen Rankes an ihn bzw. den Verlag (Geibel/1886, s. auch II/3.1.4) zu entnehmen ist, die leider erst mit dem Jahre 1867 einsetzt und auch den einzigen bekanntgewordenen Gegenbrief enthält, von den zu bestimmenden Auflagenhöhen über die Abfolge der Erscheinungen bis hinab zur Größe der in den Werken zu verwendenden Lettern. Besonders im Zusammenhang mit der Ausgabe seiner ‚Sämmtlichen Werke‘ waren viele Entscheidungen hinsichtlich der Revisionen, der Abfolge und der äußeren Aufmachung der Werke erforderlich, wozu noch unnötige, aber drängende Terminprobleme bei der ‚Weltgeschichte‘ traten. 1874 schreibt er: „Ich denke, dass wir im nächsten Jahre den 30, 31, 32ten, sowie den 35 und 36ten Band dem Publicum werden darbieten können.“ (22. 12. 74, Geibel/1886, 68). All dies gab Ranke Gelegenheit in Fülle, eigene Vorstellungen für die Buchgestaltung, aber auch für jede andere verlegerische Aufgabe und Verantwortung immer stärker geltend zu machen und seine hohe wissenschaftiche Reputation und öffentliche Stellung dem noch nicht vierundzwanzigjährigen Verleger gegenüber ohne große Rücksichten auszunutzen. Ihm trägt er u. a. Folgendes auf: Bei der ‚Genesis des preußischen Staates‘ könne er eine Auflage von „750 Exemplaren ... besonders drucken lassen“ (24. 10. 72, ebd., 44). Für seinen noch nicht beendeten, vermeintlich wenig umfangreichen ‚Wallenstein‘ verlangt er schon vorab zum Erreichen einer gewissen Stattlichkeit „besonders starkes Papier“ (10. 9. 68, ebd., 7). Das angeblich „kleine Werk“ erschien dann im folgenden - 52 -
I/1.4 Buchgestalter und Verleger
Jahr mit überraschend ansehnlichen 532 Seiten. - Bei seinem Werk ‚Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen‘ fordert er: „das Papier müßte das beste sein, das sich in Deutschland finden läßt, nicht sehr glänzend, aber stark“ (20. 5. 72, ebd., 34f.). Bei der Ausgabe der Briefe der Hzgn. von Orléans (FranzG 5, 2. Aufl. 1870) soll es sein: „compresser, aber lesbarer Druck“ (12. 6. 69, ebd., 11). Die Analekten der ‚Päpste‘ in 6. Auflage wünscht er „mit besonderer Paginirung gedruckt“ zu sehen (21. 4. 74, ebd. 58). In ‚Wallensteins‘ Inhaltsverzeichnis sollen „die Beilagen in kleinerer Schrift erscheinen“ (18. 9. 69, ebd., 17). Doch gelegentlich findet er auch - so beim Anhang des siebenten Bandes der ‚Englischen Geschichte‘ den Druck „zu eng ... und die Lettern zu klein“ (29. 6. 67, ebd., 3). Seinen ‚Hardenberg‘ wünscht er als Vierbänder, schließt dann jedoch noch einen fünften Band an. Er ist es auch, der in seinem unstillbaren Publizitätsdrang Tempo und Termine bestimmt, ungeachtet der von ihm verursachten technischen Probleme - Erscheinungstermine sind nicht durch technische und kaufmännische Möglichkeiten, sondern allein durch seine permanente Ungeduld bestimmt, haben sich auch an Feiertagen wie dem Weihnachtsfest und an fürstlichen Geburtstagen auszurichten, damit in besonders sinnvoller Weise Dedikationen vorgenommen werden können. Die zweite Auflage seiner ‚Kritik neuerer Geschichtschreiber‘ gibt er im August 1874 in Satz. Dazu nötigt er den Verlag: „Ich wünsche, daß das ganze Werk bis gegen Ende October fertig werde; dann werden gerade 50 Jahre seines ersten Erscheinens um sein.“ (6. 8. [74]), doch wird noch im September peinlicherweise erkennbar, daß sich das Manuskript in erheblicher Unordnung befindet (an Geibel, 22. 9. 74, Geibel/1886, 62).
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5. Kapitel (I/1.5) OHNE „SYSTEM UND REGEL“ Nachrichten über die innere und äußere Entstehungsgeschichte seiner Werke sind selten. Ranke machte gern ein Geheimnis daraus, falls er nicht in seinen Anfangsjahren, besonders Perthes gegenüber, großsprecherisch vielfältige Pläne offenlegte. Weder äußert er sich später darüber detailliert oder zusammenhängend in Autobiographica, noch auch brieflich und mündlich konkret gegenüber Dritten, wie dies zuweilen unter Kollegen der Fall sein mag. Als gelegentliche Ausnahme könnte man Waitz gelten lassen, seltener noch Alfred von Reumont. Ranke hat aus verständlichen Beweggründen seine archivgestützten neuen Erkenntnisse nicht vorzeitig preisgegeben, und mit den Jahren sah er sich wohl auch der Kollegenschaft gegenüber als zu hochstehend an, um sich wissenschaftlich auszutauschen. Mit dem Nicht-Kollegen Edwin von Manteuffel hielt er sich trotz des extremen Größenunterschieds auf Augenhöhe und überdies war der General-Feldmarschall ein gern genutzter Zeitzeuge, was im einzelnen Friedrich Wilhelm IV. und Militaria im allgemeinen anging. Im wesentlichen ist man auf Rankes nur andeutende Werkvorreden, auf ein wenig Archivkorrespondenz und die Erinnerungen seiner Amanuensen angewiesen. Nahe an den jeweiligen Beginn von Rankes operativer Arbeit führen Erinnerungen seines Amanuensen Georg Winter. Da gab es ein „Collectanenbuch“. In dieses „für die Sammlung der Quellen bestimmte Buch“ mußte der Amanuense „hie und da eine Stelle ... abschreiben“. Oder Ranke diktierte ihm ein Exzerpt „und fügte alsbald einige kritische Bemerkungen hinzu, die dann im Verein mit den aufgezeichneten Quellenstellen später immer wieder gelesen wurden und schließlich zur Grundlage der Darstellung dienten.“ (Winter: Erinnerungen/1886, 214). Eine höhere Stufe scheinen Rankes „Hyle“ gebildet zu haben. Über diese berichtet Winter (ebd., 221), es habe sich dabei um „besondere große Foliobücher“ gehandelt, in denen „quellenkritische Bemerkungen mit den Quellenauszügen selbst“, also der „Rohstoff“ der Darstellung zusammengestellt worden seien (ebd. 221). Auch die später ungenutzt gebliebenen Erinnerungen eines anderen Amanuensen (vermutlich Ignaz Jastrow/1886, Seite L, bzw. 11) wissen davon: „Ranke pflegte die ersten Ergebnisse seiner Forschung in große Foliobücher zu diktiren, welche er ‚Hyle‘ nannte; sei es, daß er in Aristotelischem Sinne in diesen Thatsachen das ‚Material‘ erblickte, dem die Form fehle, oder wie er zuweilen scherzweise bemerkte, den dichten ‚Urwald‘, durch den man so schwer hindurch finde. Diese ‚Hyle‘ bildete für sich eine kleine Bibliothek von Folio-Manuscripten.“ (11). Nach Auskunft des Nachlaßordners Dr. Siegfried Baur ist dieser Bestand noch heute im Ranke-Nachlaß der Staatsbibliothek vorhanden. ‚Hyle‘ ist der Gattung nach verwandt mit den späteren, von Wiedemann für die ‚Weltgeschichte‘ angelegten zweiundsechzig Konvoluten, enthaltend „Auszüge aus Schriftstellern oder auch vorläufige, zusammenfassende, bisweilen recht ausführliche Bearbeitungen einzelner Themata“ (Wiedemann V/1892, 346f. mit A. 3. Näheres in I/1.3). Ein grundsätzlicheres Instrument konzeptioneller Art bildeten Rankes ‚Regulative‘. Es war dies etwas, das sich „zwischen formaler Disposition, leitenden Ideen, Entwurf einer Ausarbeitung im Umriß hielt, ... war die Fassung kurz, allgemein und von Spezialien völlig freigehalten, so hatte Ranke dafür die Bezeichnung ‚Regulativ‘“ (Wiedemann II/1891, 332). Ein solches wurde von Wiedemann (in SW 51/52, 18, - 54 -
I/1.5 Ohne „System und Regel“
Anm.) genutzt, ein anderes von Schulin (1958, 318f.) aus dem Nachlaß veröffentlicht (Regulativ zur Vorrede der ‚Weltgeschichte‘, vermutlich nach Ende 1880 bis Anfang 1881 abgefaßt, s. II/2.3). Dies erweckt den Eindruck einer geordneten Arbeitsorganisation. Doch der Eindruck täuscht. Zur Charakteristik Rankes als Autor gehört bei aller Genialität und fachlicher Professionalität doch auch ein Aufweis seiner tiefgreifenden Schwächen. Es sind Wesenszüge seiner Persönlichkeit, die in einem offenkundigen Wirkungs-Zusammenhang stehen, der einmal aufgewiesen werden muß, da sie für die organisatorische und darstellerische Bewältigung seiner Aufgaben als Autor, Vortragender und Briefschreiber von beträchtlichem Nachteil und entsprechender Auswirkung waren und insofern für die Benutzung und Beurteilung seines Werkes und seiner sonstigen Lebensäußerungen von Bedeutung sind. Ranke selbst schrieb: „Ich mache an mir die Bemerkung, dass die Eigenschaften, die man übrigens hat, die uns in Haus und Stube vielleicht selbst lästig fallen, wie man sich auch anstellen mag, in litterarischen Dingen immer hervortreten.“ (an Varnhagen, 9. 6. 29, Wiedemann: Briefe L. v. R.s an Varnhagen von Ense und Rahel aus der Zeit seines Aufenthaltes in Italien/1895, 440). Man darf erweitern: Sie treten im Lebensganzen auf. Als harte Hauptaussage Wiedemanns kann gelten: In Rankes „Arbeitsmethode“ gab es „System und Regel“ nicht (Wiedemann III/1892, 100). Dies scheint auch anzuklingen im freilich noch weiter reichenden, unbeachteten Urteil der wohl geistvollsten Frau im Leben Rankes, Rahel Varnhagens. An ihren Mann Karl August schreibt sie am 23. 8. 27: „Ranke kam, bis 10; Gespräch über Ehe. Geschichte. Was sie ist: warum er sie treibt. Alles gedankenvoll. Er liebt sie aber nur als Einfall, die Gedanken; und zu k u r z e m [i. T.] Gebrauch; nicht zu anhaltendem noch schärfstem Gebrauch; ward mir gestern ganz klar.“ (Aus dem Nachlaß Varnhagen’s v. Ense. Briefwechsel zw. Varnhagen u. Rahel, VI/1875, 105.) Und wenig später nochmals:„Er liebt Geist, und bedarf Geist: er findet Gedanken, und nimmt sie auf: aber ‚zu kurzem, nicht strengem Gebrauch‘“. (15. 9. 27, ebd., 173). Auch der Freund seiner frühen Jahre, Heinrich Ritter, kam auffallend zu der Einsicht: daß Rankes „Gefühl noch mehr an der Mannigfaltigkeit der Persönlichkeiten haftet, als in die Tiefe dringt; es ist mehr regsam, als die letzten Gründe erforschend. Dies kann sich jedoch noch mit seiner weiteren Ausbildung finden. Dagegen fürchte ich, daß es an eigentlich philosophischem Geist ihm fehle, wenn auch nicht gänzlich“ (Ritter an R.s Verleger Perthes, 26. 11. 28, Schreiber/1932, 622). Ritter kannte auch bereits die Jahrzehnte später von Wiedemann konstatierten Ordnungs- und Planungsmängel Rankes. Anläßlich der scheiternden ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ korrespondierte er mit Perthes, der sich nicht an die „wenige Ordnung, an die Nachlässigkeit und Flüchtigkeit, auch Übereiltheit Rankes in seiner Geschäftsführung“ gewöhnen konnte, die ihm Ritter freilich prophezeit hatte (Ritter an Perthes, 12. 4. 33, ebd., 626). Daß mit dieser System-, Regel- und Konsequenzlosigkeit auch sein geringes fachliches Theorie-Vermögen oder -Bedürfnis, sein Zurückhalten mit einem eigenen ausgearbeiteten System der Historik zusammenhängen, darf wohl angenommen werden. Auch Theodor Wiedemann berichtet: „…dem Schematischen, Systematischen und Konstruktiven“ sei Ranke „an sich abgeneigt“ gewesen (Wiedemann: L. v. R. über die Eintheilung der Geschichte/1896, 5). Und über ihre Zusammenarbeit: „In den kurzen Unterhaltungen, durch welche das Studium bisweilen unterbrochen wurde, oder vielmehr an dasselbe anknüpften, war von den allgemeinen Problemen der Geschichts- 55 -
I/1.5 Ohne „System und Regel“
wissenschaft fast nie die Rede“ (Wiedemann V/1892, 352). Diese Zurückhaltung oder Kargheit hat Ranke zeitlebens auch jedem anderen Zeitgenossen gegenüber geübt. Hinzu kommt ein Drittes: seine mangelnde Kraft, angesichts einer bewegten Phantasie mit ihren bedrängenden und erregenden Bildern, die besonders bei seiner Vorlesungstätigkeit körperlich zur Erscheinung gelangten, in Kürze und auf Dauer erkenntnismäßige Entscheidungen zu treffen. Seinem mangelnden systematischen Denken und Handeln entspricht im Gegensatz zu der enormen assoziativen, imaginativen und memorativen Kraft - sein Amanuense Winter spricht von einem „phänomenalen Gedächtniß“ (Winter: Erinnerungen/1886, 214) - jedenfalls ein „nicht eben sehr“ entwickelter Ordnungssinn, wie Wiedemann schonend berichtet (Wiedemann III/1892, 101). Ja, Ranke befand sich mit seiner „quecksilberartigen Natur“ ([Ungern-]Sternberg/1919, 232) in der beständigen Gefahr, äußerlich wie innerlich in Konfusion zu verfallen: „Gab man ihm etwa ein Dutzend Bätter in die Hand, so konnte man sicher sein, daß er sie durch unwillkürliches Wenden und Umlegen in wenigen Sekunden in eine ganz andere Folge gebracht haben würde, in der er sich dann nicht zurechtfand.“ (Wiedemann III/1892, 100). Sein Ordnungsschwäche, die ihn hinderte, Überblick über was auch immer zu behalten, äußerte sich für jedermann augenfällig bereits in der geringen Ordnung von Arbeitszimmer und Bibliothek (s. II/8.1), worüber nicht nur seine Amanuensen bei vergeblicher Büchersuche klagten (siehe auch Helmolt/1921, 201, A. 228). Es ging so weit, daß einer seiner Helfer mehrere Tage vergebens nach dem Teil eines neunundzwanzigbändigen Werkes fahndete (hsl. Bericht Wiedemanns, 73. Syracuse Library, Zitat Hoeft/1937, 13). Die Unordnung in Rankes ‚Atelier‘ war so arg, daß sogar der ihn gelegentlich aufsuchende Kronprinz Friedrich huldvolle Höflichkeit fallen ließ und sein „Mißfallen“ äußerte (Wiedemann XV/1893, 253). Auch über Rankes sorglosen Umgang mit den ihm aus dem Staatsarchiv häuslich anvertrauten eigenhändigen Denkwürdigkeiten Hardenbergs - von Bismarck entsiegelt - hat sich Kronprinz Friedrich gegenüber Dritten „mit nachdrücklichem Tadel“ ausgesprochen (ebd., 253f.). So konnte es nicht ausbleiben, daß zumindest kleinere Verluste der Hardenbergschen Korrespondenz eintraten, deren Rückgabe nach mehrmaligen Anfragen Sophie von Hardenberg schließlich bei Rankes Nachlaßverwalter und Sohn Otto anmahnen mußte (Brief vom 3. 6. 1886, unveröff., Ranke-Museum, Wiehe). Gerade an Rankes großem Hardenberg-Werk wird auch wieder sein übliches Verfahren sichtbar, einerseits schon sehr konkrete Planungen durchzuführen, ohne einen ausreichenden Überblick über die Quellenlage zu besitzen, und andererseits später immer noch archivlich zu forschen, während die Druckerei bereits dem Ende zuarbeitete. Seine Ordnungsschwäche machte sich neben der Büchersammlung (s. II/8), auch bei seinen epistolarischen Gewohnheiten (s. II/3.1), in seinen Manuskripten, besonders seinen Vorlesungsskripten bemerkbar (s. II/5.1). Diese, als gleichsam iterative Schriftzeugnisse editionstypologisch von besonderem Interesse, entwickelten sich unter seinen zerschneidenden und überklebenden Händen über die Jahrzehnte hin zu einer interpretatorisch und editorisch hochproblematischen Zeitschicht-Masse, in der Neues in Altes und Altes in Neues transferiert, auch Sichtbares in Unsichtbares verwandelt war. Seine System- und Regellosigkeit, sein mangelnder Ordnungssinn waren verbunden mit Hektik und Ungeduld, mit einer unruhigen, sprunghaften geistigen Beweglichkeit, Eigenheiten, welche das höhere, abstrakte Analogon seiner körperlichen Beweglichkeit und instabilitas loci darstellten. Auf das höchst unruhige und befremdende Verhalten in - 56 -
I/1.5 Ohne „System und Regel“
Mimik und Gestik beim Vortrag seiner schwer verständlichen Vorlesungen ist an anderer Stelle näher einzugehen (s. II/5). Doch auch außerhalb der Vorlesungen konnte sein Verhalten anstößig wirken: Während einer Sitzung der Kgl. Akademie saß Ranke neben Friedrich Wilhelm IV. „Ranke was not understood by many, but seemed to endeavour to be distinct, and Steffens [als Sekretär der Akademie] pulled his coat-tail whenever he hurried too much.“ (Pertz an Waitz, 30. 1. 43. Pertz/[1894], 107). Auch Wiedemann bestätigt Rankes „innere Regsamkeit, die sich auch äußerlich in körperlicher Beweglichkeit bezeigte“ (Wiedemann III/1892, 100). Man könnte auf seine ein Leben lang durchgehaltenen täglichen Laufschritt-Spaziergänge abheben, doch wenigstens sollte auf sein Lebens-Itinerar hingewiesen werden, das zwar in seinen großen Zügen archivlich bedingt ist, jedoch im Detail eine unglaubliche Fülle von Einzelstationen, Bewegungen, Begegnungen und Unternehmungen aufweist. Auf unangemessenes Verhalten in den späteren Amtsgeschäften deuten Äußerungen Alfred von Arneths hin, der 1865 in München an der jährlichen Zusammenkunft der Historischen Kommission teilnahm: Ranke präsidierte in einer Weise, die nach Arneth „selbst bescheidenen Erwartungen kaum genügt“ (v. Arneth/1892, 235f, s. II/6.5). - Da Ranke „bisweilen sein lebhaftes Temperament nicht beherrschen“ konnte, kam es anderwärts auch zu „Aufwallungen“, die den Charakter des „Aufbrausens“ an sich trugen (Wiedemann/1892, III, 101). Darin war er seinem verehrten und von ihm historiographisch sehr nachsichtig behandelten gleichaltrigen Gönner Friedrich Wilhelm IV. sehr ähnlich, dessen aufbrausende Heftigkeit und mangelnder Ordnungssinn von Ancillon beanstandet worden waren. (Haake/1920). Bettina von Arnim gar schilderte ihren zeitweiligen Verehrer so: „R. war bei mir ... und war artig in seiner gränzenlosen Unart, wo er springt wie ein H ä n s p e r (dies ist ein preußisches Thier, welches ich nur dem Namen nach kenne) und statt zu sprechen j ö e l t er (dies ist ein Ton, welchen ein Thier von sich giebt, welches ich auch nicht kenne) ...“ (an Rahel, 5. 6. 27, Sperr. u. Klammern i. T., Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense/1865, 277). Sein Vortrag konnte schlimmer kaum sein. War er doch nicht nur inhaltlich ungeordnet. Rankes bereits betrachtete dialektgefärbte Aussprache war undeutlich und verlief in den unterschiedlichsten Tempi. Dies ist nun von unerwarteter Bedeutung. Denn Rankes inhaltlich wie artikulatorisch problematische Kundgebungen sollten sich noch unheilvoll bei seinen Vorlesungen, auch bei seinen Diktaten, der vorrangigen Äußerungsform seines Alters, auswirken. So hatte sein Amanuense Georg Winter erhebliche Schwierigkeiten, seinem Diktat zu folgen: „Mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit sprudelte er dann die Worte förmlich hervor, und da er leise und zuweilen in Folge der mangelnden Vorderzähne sehr undeutlich sprach, so war es oft unmöglich, ihm zu folgen.“ (Winter: Erinnerungen/1886, 212). Wir haben es also mit einem geistig stark angeregten und erregten Menschen zu tun, einem „von momentanen Eindrücken und Stimmungen sehr erregten Mann...“ (Noorden an Maurenbrecher, 8. 8. 67. Philippsborn/1963, 113), dessen sich überstürzendes „Wirbelgestöber von Gedanken“ (Dahn: Erinnerungen, II/1891, 456) eher inspirativ und visionär als systematisch und deduziert zu entstehen schien und sich auch entsprechend äußerte. Höchst selten findet sich eine direkte Selbst-Äußerung über diese innerlich wie äußerlich versatilen, kontroversen, auseinanderstrebenden, ja geradezu explosiven Wesenszüge: „Ich bin jetzt zum Sammler geworden...“, schreibt Ranke einmal inmitten von Archivalien aus seinem ersten Wiener Aufenthalt, „Oft fühle ich das Bedürfniß, mich auch selber zu sammeln.“ (an HR, 10. 7. 28, SW 53/54, 205). - 57 -
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Daß bei den geschilderten persönlichen Voraussetzungen eine schwierige, oft unleserliche Handschrift zu erwarten war, scheint selbstverständlich. Sie machte den Umgang mit ihm als Autor zu Lebzeiten, aber auch noch heute außerordentlich schwierig. Die Ausgabe von Texten seiner Hand stellt sich denn auch als eine nur gelegentlich unterbrochene Kette von Peinlichkeiten dar (s. bes. II/2.1.5). Ranke selbst wußte um seine „unglückliche Handschrift“, nahm sie aber bezeichnenderweise als gegeben hin. Seinem Wiener Förderer Bartholomäus Kopitar schrieb er mit Bezug auf seinen Aufsatz ‚Zur Geschichte des Don Carlos‘ am 24. 4. 30: „Einige Druckfehler waren bey meiner unglücklichen Handschrift nicht zu vermeiden.“ (Valjavec/1935, 17). Auch seinem Freund Heinrich Ritter mußte er in einem Brief vom 27. 3. 29 über seine ‚Serbische Revolution‘ zugeben: „es ist sehr möglich, daß meine Schriftzüge, wie in den Namen, so auch in anderen Dingen Unkorrektheiten veranlaßt haben.“ (SW 53/54, 218). In späteren Jahren schrieb er aus England gar an die Familie: „Solltet Ihr mein Gekritzel nicht lesen können, so legt es bei Seite.“ (an CvR, 29. 3. [57], SW 53/54, 389). Nur bei Schriftstücken, die ihm besonders wichtig erschienen, wie etwa Briefen an Kg. Maximilian II. von Bayern, gab er sich Mühe. Doch auch darin kommt es, wie Briefausgaben zeigen, noch leicht zu Fehlentzifferungen. So wurde, um das Schlimmste zu verhindern, später permanent ein seiner Handschrift „einigermaßen kundiger Setzer“ benötigt (Geibel/1886, 20). Doch war selbst dieser überfordert, denn Ranke bot nicht nur eine gelegentlich ans Unleserliche streifende Handschrift, er bot dem Setzer auch ein exorbitantes Korrekturaufkommen. Bei Rankes Werk ‚Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen‘ (1873) erlaubte sich der solcherart Geschundene auf den Korrekturabzügen des 7. Durchgangs die aufständische Bemerkung: „In diesem Chaos kann ich mich nicht zurecht finden“ (Wiedemann I/1891, 177, A. 1.). Darüber klagte sogar Rankes sonst duldsamer Bruder Carl Ferdinand (ebd. II/1891, 337). Rankes Korrekturen betrafen „außer der Veränderung von Worten, Ausdrucksweisen, Redewendungen, Konstruktionen, Satzteilen und Sätzen“ auch „Umstellungen nicht nur von einzelnen Perioden, sondern ganzer Abschnitte, Versetzung derselben aus einem in das andere Kapitel ... völlige Tilgung seitenlanger Ausführungen oder deren Ersetzung durch andere Fassungen, neue Hinzufügungen“, wobei selbst die für die Post fertiggemachten Sendungen „drei bis viermal nach einander wieder geöffnet“ wurden (Wiedemann II/1891, 336). Daß Wiedemann sich dabei keiner Übertreibungen schuldig machte, darf angenommen werden, denn seine Erinnerungen erschienen noch zu Lebzeiten der Söhne Rankes, von denen zumindest Otto aufmerksam die Veröffentlichungen über seinen Vater verfolgte (s. z. B. Ranke, [Otto] v./1912). Aus der einschlägigen Korrespondenz Rankes mit seinem Verleger Geibel hier nur ein korrekturbezogener Satz zu seinem Werk ‚Zur deutschen Geschichte‘: „In den beiliegenden Foliobogen findet sich neben vielem Anderen, was wegfallen kann, an den bezeichneten Stellen das, was aufgenommen werden muß. Mir thut es leid...“ (11. 10. 68, Geibel/1886, 8). Wichtig Wiedemanns Feststellung, daß durch Rankes Korrekturen im Manuskript auch seine „ursprüngliche Konzeption sehr wesentliche Umgestaltungen erfuhr“ (Wiedemann II/1891, 336.). Sein entsagungsvoller Hauptamanuense hatte in sechzehn Jahren nahezu täglich Gelegenheit, der Entstehung von Werken Rankes fördernd beizuwohnen: „Die Werke Ranke’s, wie sie vorliegen, sind nicht in einem Zuge entstanden, nicht die Produktionen seines Geistes in der ersten und urprünglichen Form, sie gelangten im Prozeß man- 58 -
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nigfacher Metamorphosen, die den Charakter fortschreitender Weiterentwickelung an sich trugen, zur Reife und definitiven Gestaltung.“ (Wiedemann II/1891, 338). Rankes zeit-, kosten- und für alle Beteiligten nervenaufreibendes Korrekturverhalten ist für sein gesamtes literarisches Leben bezeugt. Die Verbindung mit seinem ersten Verleger, Georg Andreas Reimer (1776-1842), der „wohl markantesten deutschen Verlegerpersönlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (Kraus/2003, 338f.), der sich auch dem von Ranke zunächst bewunderten Niebuhr widmete, überdauerte das Erstlingswerk nicht. Ranke mußte ihm bekennen: „Es hängt mir aber eine besondere Neigung an, Alles was ich gemacht habe, zehnmal verbessern zu wollen.“ (Brief vom 13. 11. 24, Helmolt/1921, 21). Und Johann Georg von Cotta, seinem fünften Verleger, mußte er gestehen: „Ich weiß nicht, welcher französische Autor - oder ist es ein italiänischer - gesagt hat, ein Buch sey erst halb fertig, wenn man es der Druckerei übergebe. Es ist viel wahres daran ...“ (Brief vom 9. 8. 38, Henz/1972, 301f.). Wenn er seinem letzten Verleger, Carl Geibel, gegenüber zu Beginn ihrer Beziehung noch bedauernd geäußert hatte: „Leider muß ich noch neue recht beschwerliche Correcturen für die nächsten Bogen … in Aussicht stellen. Aber es ist nun einmal nicht anders. Solche Schwierigkeiten sind mit dem Verlag meiner Arbeiten und zwar selbst gegen meinen Wunsch immer verknüpft gewesen.“ (17. 11. 67, Geibel/1886, 4), so ist sein Auftreten 1880 entschieden selbstbewusster geworden: „das lässt sich bei einem Ranke’schen Manuscript nun einmal nicht ändern“, heißt es lapidar in einem Brief vom 12. 9. 80 (ebd., 132). Welche Ausmaße diese mit Rücksichtslosigkeit gepaarte Skrupulosität annahm, wird erst voll sichtbar, wenn man die in der Regel fünfmaligen Durchgänge des Manuskripts hinzunimmt, die den vielmaligen Korrekturarbeiten des Setzers erst vorausgingen (Wiedemann/1891, II, 336). Auch sein Spätschüler und späterer Nachlaßherausgeber Alfred Dove wußte um diese Dinge, er kannte die „unzähligen, wieder und wieder umwälzenden stilistischen Correcturen bei der ersten Drucklegung seiner Schriften“ (D[ove]/(1888) 1898, 178). Selbst Rankes Sohn Friduhelm kam nicht umhin zu erklären: „Jedes einzelne Kapitel, fast jeder einzelne Satz wurde wiederholentlich umgeschrieben, ehe das Manuskript in die Druckerei kam. Auch nachher beschränkten sich die Korrekturen keineswegs auf die Druckfehler: alles wurde noch einmal auf Inhalt und Form geprüft; vier-, fünfmal gingen die Druckbogen hin und her. Wie mögen die Verleger gestöhnt haben ...“ (FvR/1903, 190). Doch sind, trotz Rankes hoch entwickeltem Stilempfinden, selbst in höheren Auflagen noch einige wenige Absonderlichkeiten stehen geblieben. Dazu als Beispiel ein Satzteil aus der immerhin vierten Auflage des ‚Wallenstein‘ (1880): „... der nach dem durch die Erhebung ...“ (170). Dabei konnte nicht ausbleiben, daß auch Konfusionen etwa folgender Art auftraten: Anläßlich der zweiten Auflage seines Erstlingswerkes musste er seinem Verleger im September 1874 mitteilen: „Die Bogen des Heftes zur Kritik sind dadurch in eine große Unordnung gerathen, dass das Manuscript, das in den vierten Bogen gehörte, irrthümlich an das Ende geworfen ist, was dann eine durchgreifende Umstellung nothwendig macht.“ (Geibel/1886, 62). Doch es kam im Zusammenhang mit seiner durch die Ausgabe der ‚Sämmtlichen Werke‘ immer höher drehenden Hektik auch gelegentlich zu Nachlässigkeiten, die noch zu betrachten sein werden. Es war wohl nicht allein die unsystematisch sich ergießende Überfülle seiner Gedanken, bildhaften Vorstellungen und Einfälle, die ihn an einer unmittelbaren geordneten, stilistisch befriedigenden textlichen Gestaltung seiner Werke hinderten. - 59 -
I/1.5 Ohne „System und Regel“
Hier stießen auch hektische Impulsivität und Spontaneität zusammen mit lähmender Skrupulosität, Unsicherheit, Unschlüssigkeit. Das Gefühl körperlicher Geringwertigkeit und innerer Unsicherheit im Verein mit einem schwach ausgebildeten System- und Ordnungssinn wird versuchsweise ausgeglichen oder verdeckt durch die Gegenextreme von Extrovertiertheit und Selbstüberschätzung, wobei seine unkoordiniert wirkende hyperaktive Motilität, seine nicht minder extreme Sprechweise, gepaart mit greller Gestik und Mimik, seine ans Unleserliche grenzende Schrift, sein ausuferndes Korrekturverhalten, seine Dominanz Abhängigen und seine Devotion gesellschaftlich höher Stehenden gegenüber als nach außen hin untaugliche, befremdende Mittel eingesetzt werden. In einem höchst seltenen wirklichen ‚Selbstzeugnis‘ spricht er von „Unbestimmtheiten“, in denen er sich befindet, „die von dem Gleichgewicht dessen, was sich dafür, und dessen, was sich dagegen sagen läßt, herrühren“ (an FR, 9. 7. 34, NBrr 188f.). Dies weist hin auf tiefere, psychische Gründe seiner historiographisch erstrebten ‚Unparteilichkeit‘. Gleichwohl ist er geleitet von höchsten Ansprüchen an die zu erreichende „Wahrheit“ und literarische End-Gestalt und überdies angetrieben von den Katalysatoren Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis. Bei dem gewaltigen Abstand von quecksilbriger Gedankenfülle und zu erreichender fester Textgestalt mußte so ein ungeheuer komplizierter und langwieriger Objektivierungsprozeß im Sinne einer über viele Manuskriptstufen, Satzkorrekturen und auch Auflagenrevisionen sich hinziehenden Versuchs- und Entwicklungsreihe entstehen, durch eine ans Unleserliche grenzende Handschrift zeitlich und nervlich bereits vorbelastet, im Grunde wohl nie endend, doch zumeist vollauf gelungen erscheinend, eine Entwicklung, die seinen Lesern und späteren fachlichen Beurteilern gänzlich verborgen blieb, die vielmehr einen Text vorfanden, den man den höchsten Leistungen der Literatur zurechnete. Wenn Ranke in seinen Vorlesungen den Grundsatz vertrat und in seinen Werken betätigte, die Historie müsse „zugleich Wissenschaft und Kunst“ sein (WuN IV, 73), so wußte sich Herman Grimm auch einer Äußerung zu erinnern, und dies mußte kein Widerspruch sein, „die Dauer eines Geschichtsbuches hänge allein ab von der Schönheit des Stiles.“ (Grimm: Heinrich von Treitschke’s Deutsche Geschichte/(1896), 1897, 27). Es sind jedoch, wie sich zeigte, nicht allein ästhetische Momente, welche den Gestaltungsprozess derart umständlich und langwierig werden ließen, sondern auch das Bändigen einer allzu stark belebten Phantasie, das Ringen um gedankliche Ordnung und um die Kraft zur Entscheidung, auch der Wunsch, einer für wahr gehaltenen Erkenntnis die angemessene Gestalt zu verleihen. Für seinen Arbeits- und Forschungsstil ist bezeichnend, daß er wohl nie zu einer wenn auch nur geringen konsekutiven Gliederung der Phasen aus Materialbeschaffung, kritischer Sonderung, Verstehen der Zusammenhänge und Gestaltung der Erkenntnisse innerhalb eines einzelnen Werkes gelangte, wohl nur selten eine ruhige Phase längerer Besinnung und Selbstbesinnung suchte oder gar zustande brachte. Auch seine Tagebuchblätter sind ja nicht nur unzusammenhängend, sondern auch mehr zeitgeschichtlich historiographischer als persönlich reflektierender Natur. Die Suche nach Kenntnis des Neuen, Unerhörten, wie es nur unbekannte Quellen und allenfalls eine durchgreifende Kritik der bekannten bieten können, sowie ein ausgeprägter literarischer Hervorbringungstrieb sind die wechselseitigen Katalysatoren seiner getriebenen Existenz. Stets wird mit heißer Feder geschrieben. „Bin ich nicht im Flug und Feuer der Arbeit, so fühle ich, ich will es nicht leugnen, etwas Unbefriedigtes, liege es worin es wolle, in meiner Existenz.“ (an Heinrich Ritter [Apr./Mai 1835], SW 53/54, 275). - 60 -
I/1.5 Ohne „System und Regel“
Stets war er noch körperlich oder in Gedanken im Archiv, wenn sein Manuskript sich schon in der Druckerei befand und noch „alle Tage etwas Neues zum Vorschein“ kam (an Geibel, 13. 9. 76, Geibel/1886, 93). Stets war er schon in neuen Werken tätig, wenn alte noch nicht beendet waren. Einige Beispiele von vielen mögen genügen: Während der Satzarbeiten an seinem Werk ‚Zur deutschen Geschichte‘ fand er in Wien und München „so wichtige Materialien“, daß eine Unterbrechung erforderlich wurde (an Geibel, 11. 10. 68, Geibel/1886, 8). „Der Satz des Werkes ‚Die deutschen Mächte und der Fürstenbund‘, dessen Manuskript Ranke der Verlagsbuchhandlung durch ein Schreiben vom 26. April 1870 angetragen hatte, war nicht allein begonnen, sondern bereits ziemlich weit vorgeschritten; das Manuskript des Buches: Ursprung des siebenjährigen Krieges, welches ebenfalls bereits nach Leipzig geschickt worden war, das aber Ranke auf Anlaß neuerdings (im Sommer 1870) im Staatsarchiv zu Wien vorgenommener Ermittelungen sich hatte zurücksenden lassen, befand sich in seinem ganzen Umfang in Berlin.“ (Wiedemann I/1891, 167f.), vor allem aber war wohl problematisch das Durch- und Nebeneinander verschiedener Produktionen: Neben der Ausarbeitung von Akademievorträgen und Universitätsvorlesungen hatte er etwa im Jahre 1844 mit den Abschlußarbeiten seiner ‚Deutschen Geschichte‘ zu tun, verschob jedoch „den Druck des sechsten Bandes der deutschen Geschichte bis nach Vollendung des serbischen Buches“, um zugleich „in der Geschichte des 18. Jahrhunderts...“ zu arbeiten (an Georg Waitz, 5. 6. 44, SW 53/54, 327). - Nicht allzu fern dem achtzigsten Lebensjahr schrieb er an seinen Bruder Heinrich: „ich bewege mich noch in unaufhörlicher drangvoller Thätigkeit“ (28. 11. 73, SW 53/54, 510). Man muß diesen von Planungsfehlern, exzessiven Manuskript- und Satz-Korrekturen, Werkabbrüchen, Titeländerungen geprägten, mit monatelangen Archivreisen, Amusements, Begegnungen, Anregungen durchsetzten Schaffensprozess kennen, um auf die schwere Zugänglichkeit seines Nachlasses, die Unterschiede der Auflagen, die bibliographischen Kompliziertheiten und Überraschungen seiner Werke, auch seinen Vortragsstil zumindest allgemein eingestellt zu sein. Auch sollte man sich nicht der Täuschung hingeben, einer seiner Briefentwürfe könne identisch sein mit der abgesandten Ausfertigung, sofern eine solche existiert, oder ein Redemanuskript mit der gehaltenen Rede, ein Vorlesungsmanuskript mit der gehaltenen Vorlesung.
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6. Kapitel (I/1.6) FACHLICHE MÄNGEL UND FACHLICHE SÜNDEN Ranke ging bei seinen Publikationen, was nie in systematisch-kritischen Untersuchungen behandelt wurde, in der Kennzeichnung und formalen Verwertung von Quellen und Literatur häufig nachlässig, jedoch auch konsequent zurückhaltend vor. Eberhard Kessel hat dies, allerdings ohne dem Problem weiter nachzugehen, sehr freundlich und pauschal so formuliert: „Das Verhältnis Rankes zu seinen Quellen, das bisher noch nicht ausreichend untersucht worden ist, war ja ein sehr freies.“ (1962, 27). Häufig liefern seine Quellenangaben keinen Hinweis, ob es sich um bislang unveröffentlichte Archivmaterialien oder um gedrucktes Material handelt, zuweilen ist ein und dieselbe Quelle in unterschiedlicher Weise benannt, gelegentlich nur vage angedeutet. Da finden sich Wendungen folgender Art: „Fr. Vettori sagt…“ (DtG II, 1. Aufl., 1839, 323, A. 2). - „Vettori: Sacco di Roma, scritto in dialogi ...“ (394, A. 1). – „Vettori Storia d’Italia erzählt ...“ (395, A. 2). - „Francesco Vettori Storia d’Italia MS fügt hinzu ...“ (397, A. 1). Hier ist zumindest die erste Angabe unbestimmt. Von noch abstrakterer Art sind folgende Formulierungen: „Wie eine venezianische Relation ausführt“ (DtG II, 6. Aufl. 1881, 299, A. 2), „wie ein italienisches Manuscript sagt“ (FranzG I, 1. Aufl. 1852, 537), „wie ein Venetianer sagt“ (EnglG V, 1. Aufl. 1865, 383). Das hat in seinen Narrationen vielleicht literarisch-athmosphärische Bedeutung, eine quellenbelegende hat es nicht. Auch Aussteller oder Empfänger von Schreiben werden gelegentlich nicht genannt. In FranzG III, 1. Aufl. 1855, 185 (und in allen weiteren) benutzt er die Relation Nanis von 1660. Doch handelt es sich um Agostino, Battista, Bernardo, um einen der beiden Giacomos oder gar um Zuanne? Man muß zumindest die Lebensdaten aller kennen, um sich hier vielleicht für den letzten entscheiden zu können. Auch ein Hinweis der Art: „wie der Venetianer Ziane sich ausdrückt, Disp[accio]. 29 Martio“ (DtG II/1839, 137, A. 137) ist wenig hilfreich, und woher das Schreiben „Erasmus an Herzog Georg von Sochsen [!] 1524 12 Dez.“ (DtG I/1839, 318, A. 1) stammt, bleibt ebenso ungesagt wie die des „Schreibens von Minkwitz: Leipzig Sonntag nach Francisci“ (DtG II/1839, 479, A. 1). Auch der Hinweis „Richard Pace erzählte dem Venezianer Suriano...“ (DtG II, 1839, 300, A. 1) bietet keinen Nachweis. Vermutlich stammt das Zitat aus der „Relatio n. v. Antonii Suriani de legatione Florentina 1529“, die Ranke, freilich ohne Herkunftsangabe, in Bd. III/1840, 212, A 2) zitiert. Nicht selten verwertet er auch Quellen, ohne sie im Fluß der Darstellung überhaupt nur andeutungsweise zu benennen. In seiner ‚Französischen Geschichte‘, Bd. II heißt es immerhin von den sogenannten ‚Memoiren‘ Richelieus „auf die ich mich meistens gründe, auch ohne sie zu citiren“. - Als eine der Quellen seines Bosnien-Aufsatzes (1834/1879), wo er von den Konversionen bosnischer Landesbewohner zum Islam handelt, nennt Ranke die ‚Mémoires‘ des Ibrahim Manzour, allerdings ohne die Belegstelle genauer zu bezeichnen (wie Grimm/1971, 24f. bemerkt). Für die längeren Ausführungen über Mustapha Pascha von Skutari wird auf Quellenhinweise gänzlich verzichtet (ebd., 25). Auch zeitgenössisch blieb nicht verborgen, daß in seiner ‚Deutschen Geschichte‘ aus den „Berichten der Gesandten, aus den Reichstagsacten, aus der Correspondenz des Kaisers [Karls V.] ... oft mit, oft ohne Anführungszeichen charakteristische Worte und Wendungen herausgehoben, in die Erzählung verflochten“ werden (Rettberg/1845, 201). - 62 -
I/1.6 Fachliche Mängel und fachliche Sünden
Das aus heutiger Sicht befremdliche Nachweis-Verhalten Rankes ist indes nicht stets als Nachlässigkeit zu werten. Es ist wohl auch gelegentlich Ausdruck fehlgeleiteter fachlicher Souveränität, Stilmittel einer literarisch geprägten, vergegenwärtigenden Darstellungsweise, die zuweilen phantasievoll über das historiographische Ziel hinausschießt, und dürfte vereinzelt auch von forschungstaktischen Gründen bewußten Verdeckens bestimmt gewesen sein. Überdies ist zu berücksichtigen, daß die heutigen Zitier- und Nachweis-Standards zu Rankes Zeiten noch nicht allenthalben angewandt wurden. Diese Gegebenheiten, welche heute jede Seminararbeit in den Abgrund reißen würden, stellen indes an eine wissenschaftliche Benutzung und gar an einen historischkritischen Werk-Editor hohe und nicht in vollem Umfang zu erfüllende Anforderungen. Selbst das erfreuliche Überdauern der Rankeschen Bibliotheks-Bestände in Syracuse/ USA mitsamt einer Vielzahl von ihm gesammelter, für seine Veröffentlichungen genutzter historischer Manuskripte, die ja bei weitem nicht sein gesamtes gewaltiges Quellen-Repertoire bilden, kann da nur wenige Probleme lösen. Nachweis-Mängel gehören allerdings nicht zu den gravierenden Fehlleistungen in Rankes Quellen- und Literaturbenutzung. Bereits Heinrich Leo hatte in seiner legendären Kritik des Rankeschen Erstlings von einigen angeblich auf Pirkheimer beruhenden lebendigen Schilderungen in seiner eigenen Ausgabe (Frankfurt 1610) „keine Sylbe“ gefunden (Manin, H. L. [d. i. Heinrich Leo]/1928, 136). Es traf auch, wie Leo (ebd.) zeigte, auf andere dargestellte „poetische Zusätze“ „sentimentaler“ Art zu. Dies mußte schmerzhaft sein, hatte Ranke sich doch programmatisch in seinem Erstlingswerk vorgenommen: „nur kein Erdichten, auch nicht im Kleinsten, nur kein Hirngespinst.“ (ZKritik/(1824) 21874, 24*). - Zeitgenossen warfen ihm in den ‚Päpsten‘ auch eine unkritische Benutzung der venezianischen Relationen und deren ungenaues Zitieren vor (so z. B. der Vf. E. in: L’Ami de la religion, Paris 1838). Später beurteilte Paul Fridolin Kehr (1860-1944), der es wahrlich wissen mußte, Rankes ‚Päpste‘ als ein „durch keine neue Forschung zerstörbares Kunstwerk, aber die quellenmäßige Grundlegung ist unzureichend“ [aufgrund der Unzugänglichkeit des Vatikanischen Archivs]. (Dok. 10 in: Blanke: Transformation/1994, 254). Massiv sind auch die Beanstandungen einiger Schüler. Einer der frühesten, Felix Papencordt (1811-1841), hatte gerade einen Preis der Pariser Akademie erlangt und war auf dem Wege zu einer a. o. Professur in Bonn, als er 1838 in einer Besprechung der Rankeschen ‚Päpste‘ einzelne Momente der Darstellung wie auch allgemeine Anschauungen einer deutlichen Kritik unterzog. So beanstandete er die Begründung für den Rückzug des Konzils von Trient nach Bologna ([Papencordt:] Ranke’s History of the Popes/1838, 39), vermißte die Benutzung der von Mansi in den beiden letzten Bänden zu ‚Stephani Baluzii Miscellanea‘ (4 Bde. 1761-1764) herausgegebenen Materialien (44), warf Ranke eine unkritische Einschätzung der generellen Bedeutung seiner bevorzugten Quellengattung, der Relationen, vor (43f.) und gestand anhand von Beispielen, es sei ihm nicht gelungen, zu ergründen, weshalb Ranke manche Gegenstände ausführlich darstelle und andere vernachlässige (44. Weiteres I, 221f.). Von noch robusterer Art ist die nicht öffentliche Kritik der Ranke-Schüler und Freunde Carl von Noorden (1833-1883) und Wilhelm Maurenbrecher (1838-1892) an der Oberflächlichkeit und Einseitigkeit der Forschung ihres Lehrers. Dies konnte Maurenbrecher bei seinen Archivarbeiten in Simancas feststellen, als er zu den von Ranke benutzten Relationen nun das entsprechende Aktenmaterial heranzog und oft über Rankes „Sachen wirklich laut lachen“ mußte. So habe Ranke über das Konklave - 63 -
I/1.6 Fachliche Mängel und fachliche Sünden
von 1559 „statt aller Berichte darüber ... eine ... nichtssagende Anekdote“ gegeben (an Noorden, 28. 8. 62 bei Philippsborn/1963, 102). Ihm schwand „die Achtung vor Rankeschen Büchern; er trifft das Allgemeinste wohl, aber schief oft jede nähere Bezeichnung...“ (ebd.). Maurenbrecher erschienen bei seinen Archivforschungen überhaupt „die spanische Monarchie und die Venezianer in Morea in einem ganz anderen Lichte ... als in Rankes Darstellung“ (ebd., 103). Im fünften Band von Rankes ‚Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ gerät er „oft in Verzweiflung, weil Ursache und Wirkung, Vorhergehendes und Nachherkommendes durcheinander geworfen ist, dass einem die Haare zu Berge stehen.“ (an Noorden, 26. 7. 63, ebd., 102). Ähnliches stellte später Peter Hanns Reill in Rankes ‚Französischer Geschichte‘ fest: „it is fascinating to see how often Ranke consciously ignored chronology, violated the already established rules of evidence, and avoided specification. Important developments seem to take place by themselves, often without direct connection to specific occurences.“ Weiterhin bemerkte er unbestimmte Angaben und den Gebrauch von Anachronismen (Reill/1990, 33). Doch Reill interessierte dies vornehmlich im Hinblick auf Rankes Darstellungskunst und allgemeine Geschichtsanschauung. Überhaupt muß man in Rankes Beiseitelassen des höchst bedeutenden ‚Archivo General de Simancas‘ eine beträchtliche Schwäche seiner ansonsten ausgedehnten Archiv-Forschungs-Reisen sehen. Er verzichtete auf Material, das nahezu für jede seiner Arbeiten zum sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert von großer Bedeutung gewesen wäre. Sie wurden nicht nur von Maurenbrecher, sondern unter anderem auch von seinem Schüler Bergenroth (1813-1869) durchgeführt. Von Rankes Lieblingsschüler Ernst Dümmler (1830-1902) werden 1886 bei der ‚Weltgeschichte‘ Mängel in Quellen- und Literaturbenutzung beanstandet (s. I, 349f.), findet er doch manches vor, das „mindestens in den Urtheilen der [quellenerzeugenden] Zeitgenossen keine Stütze“ hat (52), ja, die Rankesche Schilderung historischer Gestalten falle „vielfach günstiger aus, als es die von der Einseitigkeit der Quellen beherrschte landläufige Auffassung zugeben möchte“ (54), wozu einige Beispiele gegeben werden. Kennzeichnend für diese mit leiser Ironie vorgebrachte Kritik ist auch die Bemerkung, Ranke schienen die Jahrbücher Ottos von der Hand Doenniges’ lieber zu sein als deren neuere Bearbeitung (55). Ferner überzeugen ihn einige Schuldminderungen und Inschutznahmen historischer Gestalten nicht (55). Dem späteren MGH-Direktor können auch unzutreffende oder inkonsequente Beurteilungen und Nutzungen bestimmter Quellen nicht entgehen, z. B. Liudprand, Widukind von Corvey, Benedikt vom Sorakte, die Chronik von Salerno (56). Nicht minder werden Mängel in der Berücksichtigung der Forschungsliteratur vermerkt. Abweichungen von den Ansichten der Vorgänger würden von Ranke „bisweilen eigens bekannt, viel häufiger mit Stillschweigen übergangen oder nur angedeutet“ (ebd.): Die Benutzung der Göttinger Dissertation von Johannes Moltmann über ‚Theophano, die Gemahlin Ottos II. in ihrer Bedeutung für die Politik Ottos I. und Ottos II.‘ (Schwerin: Bärensprung 1878) und von Ferdinand Hirschs ‚Byzantinischen Studien‘ (Lpz.: Hirzel 1876) beispielsweise würde „vielleicht wenig an den Sachen, aber manches an den Citaten geändert haben“ (57). Auch Josef Edmund Jörg (s. I/2.1.5.2) kritisierte in seinem „aus den diplomatischen Correspondenzen und Original-Akten bayrischer Archive erarbeiteten“ Werk über ‚Deutschland in der Revolutions-Periode von 1522 bis 1526‘, im Jahre 1851 erschienen, einige Stellen in Rankes Darstellung ‚Deutscher Geschichte‘, die quellenmäßig unbelegt seien (85) oder „die der Wahrheit wenig“ entsprächen (83, ähnlich 88, 91, 93, - 64 -
I/1.6 Fachliche Mängel und fachliche Sünden
95, 602). Auch ein mutiger Rezensent von Rankes ‚Französischer Geschichte‘ fand: „Manchem Leser würde er einen guten Dienst erweisen, wenn er sich die Quellencitate etwas mehr, etwas genauer und etwas sorgfältiger angelegen sein lassen wollte.“ (E.: [Bespr. von FranzG I u. II]. In: Kathol. Lit.-Ztg./16. 4. 1855, 123). - Harry Bresslau (1848-1926), dem quellenbezogene Professionalität nicht abzusprechen ist, erblickte in Rankes Studie über Fredegar und die Gesta Francorum in ihrem Verhältnis zu Gregor von Tours, behandelt in den Analekten zu Band IV der ‚Weltgeschichte‘, gar „eine Abkehr von ... Grundsätzen gesunder Quellenkritik“, gegen die Waitz sogleich „Verwahrung“ eingelegt habe (1890, 292). Hinzu kommen Mängel, über die Johannes Janssen 1873 an Onno Klopp schrieb: „Sie können kaum glauben, auf welchen Dingen ich Ranke attrappiert habe. Unter seinen Zitaten aus dem hiesigen Archiv [Frankfurt/M] ist fast kein einziges richtig!“ (Johannes Janssens Briefe I/1920, 440). Ähnlich sein Brief an Klopp aus dem Jahre 1875: „Über Ranke urteile ich wie Sie. Ich kann ihm furchtbare Verstöße nachweisen.“ (ebd, II, 29). Auch Pastor, dessen defensorisches Gegen- und Lebenswerk ganz im Banne der Rankeschen ‚Päpste‘ stand, blieb da nicht untätig. An Klopp, 1877: „Ich habe deshalb in Berlin die betreffenden Handschriften, die Ranke benutzt hat, verglichen und gefunden, wie liederlich und ungenau, zum Teil auch wie parteiisch Ranke dieselben benützt hat.“ (Klopp, W./1934, 31, s. auch I/2.1.5.2). Zu diesem Thema gehört auch die gelegentlich dokumentierte Geschwindigkeit, ja Flüchtigkeit, mit der Ranke ganze Berge von Akten mit offensichtlich überwiegend vorgefaßten Suchzielen visitierte, was nicht illegitim ist, aber die Bereitschaft nicht ausschließen sollte, Unerwartetes wie Umfassendes in Ruhe zu prüfen. August Fournier erinnerte sich, 1873 im Wiener Staatsarchiv für Ranke tätig gewesen zu sein: „Ich habe denn auch redlich und mit begreiflicher Liebe für den großen Geschichtsforscher auf dem Staatsarchiv kopiert, was er mit einer imponierenden Schnelligkeit in ganzen Stößen von Akten an einem Vormittag ausgewählt und als Exzerpt bezeichnet hatte.“ (Fournier/1923, 106). Auch seinen Amanuensen Georg Winter hat anfangs „die großartige Schnelligkeit, mit der er aus dem bloßen Vorlesen aus dicken Convoluten die einzigen Stellen, die für ihn von Erheblichkeit waren, herausfand, in bedenkliche Unruhe“ versetzt (Winter: Erinnerungen/1886, 214). Otto Hintze charakterisierte später den Unterschied Rankescher und Droysenscher Archivarbeit so, als sei Ranke „gleichsam nur mit spitzen Fingern“ in Berichten über die Geschäfte tätig geworden, wohingegen Droysen sich mit Hilfe der in den Akten vorliegenden geschichtlichen Überreste „an die Geschäfte selbst“ gemacht habe (Hintze: Drosen, Johann Gustav. In: ADB 490 48 (1904), 82-114, u. in: Hintze/1982, 453-499, hier 490.). - Skepsis hinsichtlich Rankes archivalischen Studien ist also nicht unbegründet. John Lord Dalberg Acton vermutete, daß Ranke für Band VI seiner ‚Englischen Geschichte‘ die Manuskripte des British Museum, darunter die Berichte Melforts, wohl nur „rather hastingly“ konsultiert habe. Auch die Heinsius-Papiere böten erheblich mehr, als Ranke herausgeholt habe ([Acton, John Lord Dalberg:] Ranke/1867, 393, 395), und Pastor schreibt zum 31. 7. 79 über Rankes Benutzung der römischen Handschriften in sein Tagebuch: „Ungenauigkeiten, Fehler und sogar ... eine Fälschung.“ - „ ... seine Auswahl sehr willkürlich und unvollständig“ (Pastor, Tagebücher/1950, 135). Hingegen biete die Darstellung Johannes Janssens für die Zeit von 1525-1555 „weitaus mehr“ als Ranke, besonders über das von diesem „arg - 65 -
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vernachlässigte innere Leben der Nation“, zudem sei er besonders in archivalischen Angaben viel genauer (Pastor: Johannes Janssen/1892, 92). Janssen, Klopp und Pastor (s. I/2.1.5.2) mögen als ultramontane Historiker nicht ganz vorurteilsfrei erscheinen, doch nach näherer Betrachtung des allgemeinen Rankeschen Arbeitsstils und der Art seiner Archivarbeit kann man ihre Äußerungen für glaubhaft halten, zumal sich auch Stimmen vernehmen ließen und lassen, denen man keine Missgunst nachsagen würde. So hat Vuk Stefanović Karadžić in einem Schreiben vom 12. 1. 45 an Ranke (Vukova prepiska, V/1910, 668-670), bereits auf sachliche Fehler, mangelnde Vollständigkeit und Deutlichkeit der 2. Auflage der ‚Serbischen Revolution‘ hingewiesen. Selbst der Ranke mehr als gewogene Bibliograph und Biograph Hans F. Helmolt mochte Mängel im Werk nicht ganz verschweigen, lastete sie aber Rankes Helfern an oder verbrachte sie in seine Anmerkungen. Zur ‚Französischen Geschichte‘ bemerkt er als fehlgeleiteter Bewunderer „rankischer Akribie und Zuverlässigkeit“, der Briefwechsel der Herzogin von Orléans mit der Kurfürstin Sophie sei „von bezahlten Hilfskräften kollationiert worden und nur mit Vorsicht zu benutzen“ (Helmolt/1921, 140). An anderer Stelle spricht er von „einer Zahl grober Fehler“ (ebd., 161.). Ranke hingegen - und darauf kam es an - hatte ausdrücklich einen „buchstäblich genauen Abdruck der Originale“ in Aussicht gestellt (FranzG V, 1861, 281). Ähnlicher Herkunft mögen Fehler in der Ausgabe des Briefwechsels Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen (1. Aufl. 1873) sein. Über das ihr pflichtgemäß vorgelegte Manuskript urteilte die Königinwitwe Elisabeth (1801-1873) in einem Brief vom 11. 1. 72 an Alfred von Reumont: „Er hat es diktiert, wahrscheinlich sehr schnell mit seiner undeutlichen Aussprache; daher ist er wohl nicht immer von seinem Schreiber verstanden worden. Es ist unbegreiflich schwer zu lesen, dabei auch sehr nachlässig geschrieben, man kann es die meiste Zeit nur erraten“ (Hüffer/1904, 213f.). Eine Bestätigung dazu mag man einem Brief Alfred Doves an Heinrich von Treitschke entnehmen. Bei Neuausgabe des Briefwechsels nach Rankes Tod in Bd. 49/50 der ‚Sämmtlichen Werke‘ habe er „eine Anzahl unzweifelhafter Lesefehler in den Briefen des Königs … kurzerhand verbessert.“ (Stadler-Labhart/2008, 67f.). „Kurzerhand“ dürfte bedeuten: ohne Rückgriff auf die Originalvorlagen. Nun sind es nicht allein Mängel in Nachweis, Benutzung und Wiedergabe seiner Quellen. Ranke hat, und auch dies ist in größerem Umfang nicht untersucht worden, weder stets den jeweils neuesten Forschungsstand in ausreichender Weise in seine Arbeit einbezogen, noch stets notwendige persönliche Voraussetzungen für die Behandlung bestimmter Themata geschaffen. Mit Recht empfand er bei der Ausarbeitung der ‚Fürsten und Völker von Süd-Europa im 16. und 17. Jahrhundert‘ (1827) seine Unzulänglichkeit in Hinsicht spanischer und gar arabischer Sprachkenntnisse (an Perthes, 12. [Paulsen/1922, 58f.] Juni 1825, Oncken/1925, 218), setzte sich jedoch darüber ebenso hinweg wie über seine Unkenntnis des Serbischen. Es war auch - wie bereits bemerkt Rankes „Pech, daß Maurenbrecher in Simancas zu den venezianischen Relationen auch das einschlägige Aktenmaterial fand, durch das die spanische Monarchie und die Venezianer in Morea in einem ganz anderen Lichte erscheinen als in Rankes Darstellung“ (Philippsborn/1963, 103). Dies hat natürlich über die Bedenken hinsichtlich der ‚Vollständigkeit‘ bzw. Auswahl seines Quellenmaterials und der Angemessenheit seiner Interpretation hinaus grundsätzliche Bedeutung: Ranke verfügt gelegentlich über die Bereitschaft, sein hohes Wissenschaftsethos und die Schärfe seiner Kritik in praxi preiszugeben, wenn anders eine Veröffentlichung nicht zu verwirklichen ist. - Doch sollte - 66 -
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man ihm immerhin zugute halten, daß er sich nachdrücklich für eine entsprechende Förderung Wilhelm Maurenbrechers eingesetzt hatte (Brief R.s an den preuß. Minister der Geistlichen, Unterrichts- u. Medizinalangelegenheiten, Heinrich v. Mühler, 11. 2. 63 (NBrr 430), betr. die Förderung seines Schülers Wilhelm Maurenbrecher, i. b. von dessen Projekt einer ‚Publikation der in Simancas befindlichen Aktenstücke zur Deutschen Geschichte aus der Zeit Philipps II.‘ (s. II/4.1). Bei Rankes mehrbändigen Werken sei „die neueste Literatur zu verschiedenen Zeiten ungleich benutzt worden“, weiß Wiedemann (III/1892, 98). Bei Neuauflagen seien „sehr bedeutende Werke gar nicht oder doch nicht genügend berücksichtigt worden“, z. T. wegen „Zeitmangels und zufälliger Verhältnisse“ (ebd.). Wiedemann weiß noch mehr darüber. Die Rankesche Chaotik und Produktionshektik habe bei ‚Wallenstein‘ dazu geführt, und Ranke glaubte, hier sei es ihm „zuerst“ [!] begegnet, daß er „einige für dieses Werk nutzbare Bücher, von denen er sehr wohl wußte, im Grunde bloß aus Zufall nicht eingesehen“ hatte, „was ihm äußert unlieb war“ (ebd. XIV/1893, 353). Zu einem weiter reichenden Ergebnis kam Josef Pekař in seinem Werk ‚Wallenstein 1630-1634. Tragödie einer Verschwörung‘ (1937), v. a. in Bd. I, 149 mit einer „Einführung in das Problem und dessen Literatur“, worin er feststellt, Ranke habe „das seinerzeit zugängliche Material“ - z. B. die Arbeiten Karl Helbigs „nicht ausreichend benutzt“ (33f. Weiteres 303, 708f. u. ö. in Bd. II, Anm.-Bd.). Ähnlich hatte auch John Lord Dalberg Acton über Ranke - anonym - geurteilt: „He devines much that he does not prove; and the weight of his own opinion makes him careless of his authorities.“ (Acton/1867, 393). Vielleicht spielt auch ein wenig mit, daß der weitaus größte Teil der neueren Erscheinungen in Rankes Bibliothek nicht vorhanden war (Hoeft/1937, 20), was auch für sich genommen als bezeichnend angesehen werden kann. Freilich wurde für ihn manches aus der Königlichen Bibliothek herbeigeschafft. Einige Mängel dürften darauf zurückzuführen sein, daß Ranke neben fortschreitender Schwerhörigkeit durch Sehbehinderung - von einer Erblindung kann allerdings keineswegs die Rede sein - auf eine vorwiegend verbal-akustische Zusammenarbeit mit seinen Amanuensen angewiesen war. Dove führt darauf zurück, daß „zumal in den Analekten - selbst erhebliche Irrthümer zutage“ traten (D[ove]/(1888), 1898, 184). Selbst Rankes Verehrer Hans Delbrück kam in seinen Berliner weltgeschichtlichen Vorlesungen nicht umhin, zu bemerken: „Vieles war sogar schon veraltet in dem Augenblick, als Ranke es veröffentlichte“ (Delbrück: Weltgeschichte I/1923, 8f.). Auf ungleichmäßige und unzureichende Aktualisierungen der Analekten in Rankes ‚Päpsten‘ machte Alfred von Reumont 1884 noch zu Lebzeiten Rankes aufmerksam. Auch habe Ranke in den fünf Auflagen von 1834 bis 1874 in seiner Darstellung die „außerordentlich reiche neuere Literatur“ für die Zeit des Tridentinum und „die deutschen Religionsangelegenheiten ... unberücksichtigt gelassen“ (Reumont/1884, 633). - Rodolphe Ernest Reuss gewann bei der Lektüre von Rankes ‚Wallenstein‘ den Eindruck, daß fast die gesamte voraufgehende Forschung, so von Förster, Helbig und Opel ignoriert worden sei, wozu er den Begriff der „inaperception“ benutzte (1870, 95, s. I, 307). Bedenklicher noch erscheine der dadurch hervorgerufene Eindruck, die meisten der von Ranke geschilderten Tatsachen seien vor ihm nicht bekannt gewesen, während doch nur wenige Resultate wirklich neu seien. Grete Freitag hat in ihrer kaum beachteten Dissertation ‚Leopold von Ranke und die Römische Geschichte‘ einen Blick auf „Rankes Arbeit mit der ‚modernen‘ Forschung“ - 67 -
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geworfen. Immerhin fand sie Nachweise für „zunächst rund 250 Titel..., welche er für den römischen Teil der ‚Weltgeschichte‘ benutzt hat; doch sprechen diese nicht für eine gleichmäßige und systematische Sichtung der Forschung.“ (Freitag/1966, 39). Gleichwohl habe, wie Freitag betont, bei diesem Werk eine gewollte Orientierung an der neuesten Forschung stattgefunden. Allerdings wurde schon zeitgenössisch u. a. beanstandet, daß Ranke in Band I seiner ‚Weltgeschichte‘ nicht die Resultate kenne, zu welchen die Bibelforschung durch Julius Wellhausen (1844-1918) gelangt sei (Floigl/ 1881, 286). Auch Heinrich Holtzmann wies darauf hin, daß für Ranke „eine eigentliche Kritik der neutestamentlichen Geschichtsquellen einfach nicht“ existiere (Holtzmann/ 1883, 266). * Schwerer noch als der teils nachlässige, teils altersbehinderte Umgang mit Quellen und Forschungsliteratur wiegt das bewußte Verschweigen von Vorgängern und Vorbildern, von Hilfen und Übernahmen, schwerer wohl noch das Verschweigen oder Verfälschen historischer Tatsachen. Schon sehr früh fiel Zeitgenossen der verdeckende Umgang Rankes mit seinen Quellen und Informationsmitteln auf. Ein anonymer Rezensent seiner ‚Päpste‘ bemerkte darin die „umfangreichsten Studien gedruckter, zugänglicher Werke, von welchen der Verf. freilich kein Wort sagt, die man aber doch überall durchmerkt...“ ([Rez. Nr.] 74/1836, 911). Auch Rodolphe Ernest Reuss (1841-1924) wußte später: „rien n’est plus rare que de le voir citer un des nombreux historiens qui, depuis d’un demi-siècle, ont suivi ses traces“ (Reuss/1878, 147). Während John Lord Dalberg Acton in einem vor 1864 verfaßten Rezensionsentwurf zu Rankes ‚Englischer Geschichte‘ lapidar bemerkte, „Ranke deceives ... by selection“ (Papers in: Butterfield/1955, 222), fand der Ranke-Verehrer Alfred Stern (1846-1936) in seiner Gedächtnisrede die verunglückte diplomatische Formel: „Es kommt öfter vor, daß er durch Verschweigen fehlt, aber viel seltener fehlt er durch Behaupten.“ (Stern 1887, 1914, 49). - Von unbestimmter Art sind auch folgende Beanstandungen bzw. Bemerkungen. Jacob Burckhardt lobt während seines Studiums bei Ranke dessen „herrliche Darstellung“, sie gehe jedoch z. T. auf Kosten der Wahrheit (an H. Schreiber, 2. 10. 42, Burckhardt, Jacob: Briefe I/1949, 216f.). Der bereits herangezogene Wilhelm Maurenbrecher muß bei Archivarbeiten erfahren und liefert dafür J. L. Fr. Weizsäcker, Mitarbeiter der Historischen Kommission und Verehrer Rankes, „den Nachweis schlagend ..., wie Ranke gearbeitet hat. Die Dokumente, die ich vorhatte, hatte Ranke ebenfalls gelesen, da er sie zitiert, und es steht geradezu das Gegenteil von dem darin, wie er die Dinge darstellt ...“ (Maurenbrecher an Noorden, 13. 9. 63, bei Philippsborn/1963, 102.). Nach diesen allgemeinen Bemerkungen darf man unter den konkreteren Feststellungen zunächst eine geringfügige Manipulation heute noch wissenschaftsüblicher Natur, die Behandlung Johannes Janssens anläßlich einer am 30. September 1868 gehaltenen Rede Rankes zur Eröffnung der IX. Plenarversammlung der Historischen Kommission, verbuchen: „Ranke besprach in dem Vortrag das dreibändige Werk Janssens über Böhmer, wobei er das Kunststück ausführte, den Namen des Verfassers auch nicht einmal zu nennen!“ (Briefe von Onno Klopp an Johannes Janssen [hg.] von Ludwig Freiherrn von Pastor/ 1919, 396). Der Katholik Janssen hatte sich damals im wesentlichen erst mit einer Edition der „Frankfurts Reichskorrespondenz“ (2 Bde., 1863) hervorgetan. Später wurde er Ranke gefährlicher. - 68 -
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Von ernsterer Art ist die Behandlung eines Ranke näherstehenden Verfassers: Vuk Stefanović Karadžić. Seine Mitwirkung bzw. Verfasserschaft an der allein unter dem Namen Rankes 1829 erschienenen ‚Serbischen Revolution‘ wurde von diesem karrierebewußt unterdrückt, obgleich der Serbe - wie die Forschung immer deutlicher herausarbeiten konnte - einen Platz auf dem Titelblatt verdient hätte. Jelesijević (2007) geht so weit, zu erklären: „Nur das zwölfte Kapitel hat Leopold Ranke selbst verfaßt.“ (144f. - Siehe dazu i. e. II/1.1). Bartholomäus Kopitar, der Anreger des Werkes, fand nicht einmal im Vorwort eine Erwähnung. So ist es auch - wie bereits Selesković (1941) nachweisen konnte -, Čedomil Mijatović und Djordje Popović ergangen, deren Ausarbeitungen von Ranke in seinem ‚Fürstentum Serbien‘ benutzt, aber nicht genannt wurden. Sehr früh hätte zu denken geben müssen, wie Ranke die im Untertitel ‚Aus serbischen Papieren und Mittheilungen‘ genannten ‚Papiere‘ hatte benutzen können, da er doch der serbischen Sprache nicht mächtig war, was auch sein Amanuense Georg Winter bestätigt (W[inter]/1879, 361-363), überhaupt, welche ‚Papiere‘ im einzelnen herangezogen wurden, denn darüber schweigt sich Ranke aus. Und hinsichtlich der dort ebenfalls hervorgehobenen „Mittheilungen“ steht es kaum besser: Schon Heinrich Wuttke (1818-1876), Schüler Stenzels und Rankes und 1839 über dessen Vorbild Thukydides promoviert, wies 1848 darauf hin, daß Ranke die in seiner Vorrede (IV) genannten „bejahrten, wohlbewanderten Leute“, seine Gewährsmänner, denen die „Mittheilungen“ zu verdanken seien, nicht persönlich vernommen hatte: „Nur aus dritter Hand empfing er, was er wieder gab ... Nicht auf dem Worte der zwölf Genannten[,] sondern auf dem, was Wuk ihren Berichten entnahm[,] ruht die Glaubwürdigkeit der Ranke’schen Erzählung.“ (Wuttke/1848, 230). Bemerkenswert an Wuttkes Kritik, die v. a. die Glaubwürdigkeit Vuks in Zweifel zieht, ist neben der Tatsache, daß er RankeSchüler war, auch: Sie erschien in der von Rankes Schüler Wilhelm Adolph Schmidt begründeten und von Ranke nominell mitherausgegebenen ‚Allgemeinen Zeitschrift für Geschichte‘, wenn auch im letzten ihrer Bände. Erstaunlich, daß Wuttke später noch eine Professur in Leipzig erhielt. Inhaltlich beanstandete der liberale Wuttke (s. MüllerFrankenstein, Georg in ADB 44/1898, 569-572), daß Rankes damals meinungsbestimmendes Werk durch die einseitige Fundierung durch Vuk, „um es kurz zu sagen, eine Lobschrift auf den Fürsten Milosch“ darstelle und damit „den Ruhm eines Despoten enthalte“ (229). Zu bedenken ist auch, daß das von Goethe gelobte Werk - „ein verdienstliches Büchlein“ (WW, Sophien-Ausg., III. Abt., 12. Bd./1901, 39) - in seiner farbigen, lebendigen Darstellung Ranke auch in dieser Hinsicht nicht eigentlich angehört, sondern, wie Kopitar am 4. 2. 29 an Jakob Grimm schrieb, „ex ore Vukii“ herrührte: „Sie werden es gerne lesen.“ (Vasmer: Kopitars Briefwechsel mit Jakob Grimm/1938, 61). Kein Wunder, daß auch Niebuhr, der mit Rankes Verleger befreundet war, das Werk unwissentlich in seiner geborgten Eigenart loben konnte (s. I/2.1.1). Beide Stimmen erwiesen sich für Ranke als sehr nützlich, obgleich sie im Grunde einer Täuschung erlagen. Er selbst, der es besser wußte, fühlte sich jedenfalls bestärkt und erhoben: „Ich habe über diese Schrift eine Stimme gehört, die mich wider alle Afterreden waffnet“, schrieb er aus Rom an seinen tiefgläubigen Bruder Heinrich, 15. 11. 29 (SW 53/54, 228). Der bereits herangezogene Carl von Noorden stellte nach Archivarbeiten und Begegnungen mit Ranke zu dessen ‚Englischer Geschichte‘ fest: „Er verdankt dem preußischen Residenten in London das meiste Neue, von Macaulay abweichende im 6ten Bande [EnglG VI 11866] weit mehr als in den Noten angegeben.“ (an Sybel, 8. 12. - 69 -
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66, Philippsborn/1963, 111). Ein Rezensent des ‚Literarischen Centralblatts‘ hielt das Urteil Macaulays über Charles I. und Cromwell für richtiger als das von Parteilichkeit geprägte Rankes. Charles‘ „Zweizüngigkeit“ werde von Ranke „vertuscht, entschuldigt“ (Anonym: Bespr. von EnglG III/1862, 185) und mitunter geradezu verschwiegen (ebd.), die ganze Charakteristik sei „offenbar viel zu günstig“ (186). In gemäßigter Form wird verschwiegen bei der Untersuchung des bereits von Voltaire in seiner Echtheit bestrittenen ‚Politischen Testaments‘ Richelieus. Rankes nicht ganz vorurteilsfreier, aber historisch versierter beständiger Leser Varnhagen von Ense notierte dazu am 7. 11. 54: „...die nähere Prüfung zeigte, daß Voltaire’s kritischer Scharfblick durch dies [von Claude Bernard Petitot: Collection des mémoires relatifs a l’histoire de France: depuis l’avènement de Henri IV jusqu’ à la paix de Paris conclue en 1763. T. 25: Mémoires de Richelieu, Paris: Foucault 1823] vermehrte Material nur gerechtfertigt werde. Ranke hat dies überzeugend dargethan, durch eindringende Prüfung, bei der es ihm doch nicht beliebte, Voltaire’s in verdienten Ehren zu gedenken.“ (Aus dem Nachl. Varnhagen’s v. Ense. Tgbb. XI/1869, 303). Ob das Verschweigen sich im Folgendem mit ‚Täuschung‘ verbindet, oder ob man nur von fehlgeleiteter Begeisterung reden sollte, mag hier unentschieden bleiben. Der angesehene Wallenstein-Forscher Anton Gindelý (1829-1892) jedenfalls hat mit Bezug auf Rankes ‚Französische Geschichte‘ 1861 geäußert, die Flachheit seiner Studien sei erstaunlich, die Quellenzitate seien mehr durch Zufall zusammengefügte Brocken, dazu bestimmt, den Eindruck zu erwecken, sie seien das Ergebnis systematischer Studien, während überdies die Kenntnis der gesamten Literatur fehle. Auch von der des öfteren durch Ranke genannten Simancas-Sammlung habe dieser nie ein Dutzend Bände gesehen (bei Dickens/1982, 575). - Der englische Reformationshistoriker Arthur Geoffrey Dickens (1910-2001) vertrat später ergänzend die begründete Auffassung, daß Ranke in wesentlich geringerem Maße, als in der anschaulichen Entdeckungsgeschichte seiner Vorrede geschildert, in der ‚Deutschen Geschichte‘ archivalische Quellen benutzt habe, vielmehr in weitem Umfang auf gedruckten Quellen zahlreicher Vorgänger beruhe (1982, 574): „...his enthusiasm for manuscript sources, and his desire to excel as a practioner in this sphere, do tend to obscure his immense debts to other workers, and even to exaggerate the novelty of his own discoveries.“ (1982/576). Auch habe er, wie Dickens aus eigener Erfahrung weiß, von den angeblich durchforsteten wände- und raumfüllenden Bestandsmassen in der zur Verfügung stehenden Zeit überhaupt nur einen winzigen Teil benutzen können (575). Verschwiegen wird manches auch in Rankes ‚Weltgeschichte‘. Von seiner intensiven Benutzung der Schlosserschen ‚Weltgeschichte für das deutsche Volk‘ (zuerst 19 Bde., 1844-57), zumindest des Mittelalter-Teils, sind lediglich fünf Stellen sichtbar geworden, obgleich Ranke Wert darauf legte, „daß die auf den jedesmal in Bearbeitung befindlichen Zeitraum bezüglichen Bände derselben stets zu unmittelbarer Verfügung bereit standen.“ (Wiedemann, XV/1893, 260). Daneben wurde, „sobald ein kirchenhistorischer Abschnitt zu behandeln war“, die ‚Christliche Kirchengeschichte‘ von Johann Matthias Schröckh (1733-1808, 45 Bde, 1768-1812) „am häufigsten“ benutzt (ebd. 261). Das Register weist allerdings nur zwei Stellen auf. Ob es sinnvoll ist, Abhängigkeiten dieser Art im einzelnen nachzugehen, sei dahingestellt. Für den römischen Teil hingegen - und dies ist der Präsenz seines fachdominanten Berliner Kollegen und Akademie-Sekretärs zu danken - ging Rankes Bestreben dahin, „die Schriften, Abhandlungen und einzelnen Erörterungen Mommsen’s ... soviel als - 70 -
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möglich vollständig und sorgfältig zu benutzen, so oft er sich auch in Bezug auf einzelne Fragen mit ihm in Dissens befand“ (ebd., 263). Eine Untersuchung zu einem Teilbereich von Rankes ‚Deutscher Geschichte‘, dem Täuferreich zu Münster, führte zu dem Ergebnis, daß Ranke „zwar bei der Verwendung archivalischer Quellen stark selektiv“ verfahren sei, aber „zeitgenössische Drucke oder edierte Quellen in bemerkenswertem Umfang herangezogen“ habe (Vogler/1997, 277). Ranke habe sich „erkennbar um eine unparteiische Darstellung“ bemüht, doch diesen Standpunkt spätestens verlassen, als er darzustellen hatte, „wie die täuferischen Lehren in Münster zur gewaltsamen Neuordnung des Lebens führten.“ (279). Das Verschweigen nimmt besonders in Rankes preußischen Werken andere Züge an und verbindet sich mit einem beschönigenden Bemänteln: In seinem Benutzungsantrag an Archivdirektor Georg Wilhelm von Raumer vom 11. 11. 47 (NBrr 325f.) für die Materialien zu seinen ‚Neun Büchern Preußischer Geschichte‘ hatte er sich beeilt zu versichern, daß er das ihm „geschenkte Vertrauen durch möglichste Diskretion zu erwidern suchen werde.“ Das wurde nicht sogleich ruchbar. Zunächst hatte der liberale Karl August Varnhagen von Ense - wie die meisten Zeitgenossen - anderes auszusetzen. So wird von ihm die mangelnde offene Beachtung der Vorarbeiten von Förster und vor allem Preuß, „ohne dessen vorarbeitenden Fleiß das Buch von Ranke wohl nie geschrieben worden wäre“ (zum 11. 8. 47: Aus dem Nachl. Varnhagen’s v. Ense. Tgbb. IV/1862, 130), zu Recht beanstandet. - Julian Schmidt äußerte Ähnliches öffentlich: Ranke sei „zu vornehm“, sich in seinen Schriften über das Verhältnis zu Vorgängern auszusprechen, so auch in seiner ‚Preußischen Geschichte‘ im Hinblick auf die Arbeiten Stenzels (S[chmidt], J[ulian]/1847, 448). Auch die folgenden anonymen Beanstandungen Johann Gustav Droysens dürften eher in den Bereich der fachlichen Sünden als in den der bloßen Mängel fallen, wobei nun Rankes spezielle Archivarbeit zum Thema wird. Jedenfalls habe Ranke in seinen ‚Neun Büchern preußischer Geschichte‘ nicht nur wissenschaftliche Literatur selbstgefällig unbeachtet gelassen - Schlosser, Stenzel und Preuß behandele er „wie nicht dagewesen“ -, sondern habe beispielsweise auch die zahlreichen Aktenstücke im Prozeß gegen den jungen Friedrich nicht angemessen gedeutet (* [Droysen:] Aus Preußen/ 1847, 2276). - Noch genauer befaßt mit Rankes preußischen Geschichten hat sich Eduard Reimann (1820-1900), Verfasser einer ‚Neueren Geschichte des preussischen Staates vom Hubertusburger Frieden bis zum Wiener Kongress‘ (2 Bde, Gotha 1882, 1888). Ranke hielt ihn für einen „sehr gründlichen Forscher“, der ihm auch „ein sehr werther Freund und Studiengenosse“ war (an Geibel, [Nov. 1868], Geibel/186, 9). Reimann hat sich erst nach Rankes Tod in einem Vortrag ‚Ueber die Stellung Friedrichs des Grossen zur Religion und Philosophie in den Jahren 1736-1738‘ vor der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur sehr kritisch über Rankes Friedrich-Darstellung geäußert: „Nun hat Ranke, der hochberühmte Geschichtschreiber, eine ganz vorzügliche Schilderung der späteren Jugendjahre Friedrichs II. gegeben, die ich früher mit dem grössten Entzücken gelesen; aber als ich an die Quellen selbst heranging, da bemerkte ich zu meinem schmerzlichen Erstaunen, dass er durch kleine Wendungen und indem er viele Stellen der Briefe ganz ausser acht liess, den Kronprinzen gläubiger gemacht hat, als er gewesen ist. Man stösst hier auf die nämliche Absichtlichkeit wie bei dem, was der Altmeister über den Ursprung der ersten polnischen Theilung geschrieben“ (Reimann/1891, 54). - Dem Urteil schlossen sich später u. a. Georg Küntzel (1936), Stefan Skalweit (1951) und Walter Bußmann (1951) - 71 -
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an. Auch in der Darstellung Friedrich Wilhelms IV. bemerkte selbst Friedrich Meinecke in der Nachfolge Georg Kaufmanns (Kaufmann/1902) eine „gar zu sehr glättende Auffassung Rankes“ (Meinecke: Friedrich Wilhelm IV. u. Dtld./(1902), 1918, 218). Daß Rankes Werk ‚Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen‘ von 1873 sowohl inhaltlich wie formal nur mit Vorsicht zu benutzen ist, ergibt sich nicht zuletzt aus Rankes Brief an Geh.-Rat Heinrich v. Obstfelder, ca. Febr. 1872 (FvR V/ 1904, 55. Dort auch weitere aufschlußreiche Korrespondenz zum Werk), worin er erklärt: „Ich habe, wie sich versteht, alles zu vermeiden gesucht, was begründeten Anstoß erregen könnte.“ - Rankes „unbedingte persönliche Verehrung“ Friedrich Wilhelms (Wiedemann I/1891, 172), führte u. a. dazu, daß er sich in manchen Fällen „statt der Anführung der Thatsachen, auf die Bezug genommen wird, auf bloße Verweisungen beschränkt“ hat (ebd., 177). Auf dieser Linie liegt auch seine spätere biographische Darstellung Friedrich Wilhelms IV. von 1878, zu der sich Ks. Victoria nach Rankes Tod mit Verachtung geäußert haben soll (s. I/1.9). Die Rankesche ‚Objektivität‘ wird bei dieser Edition nicht zuletzt an dem zu messen sein, was er an Korrespondenz ausließ oder in eigenes, milderndes Referat umsetzte. In der Korrespondenz wird nicht zuletzt der Einfluß Edwin von Manteuffels auf Rankes Darstellungen Friedrich Wilhelms IV. sichtbar. Aufs ganze gesehen ging es Manteuffel darum, die günstige Darstellung Rankes noch günstiger zu gestalten. (Siehe dazu die in der RankeForschung kaum einmal herangezogene wertvolle, von Friedrich Meinecke angeregte empirische Dissertation von Elisabeth Schmitz mit dem Titel ‚Edwin von Manteuffel als Quelle zur Geschichte Friedrich Wilhelms IV.‘ aus dem Jahre 1921). Auch in der Edition der ‚Eigenhändigen Memoiren des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg‘ (Denkwürdigkeiten II/1877) machte Ranke unprofessionelle Zugeständnisse. Sein Textverhalten entspricht dem bei der Ausgabe des Briefwechsels Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen (1873) geübten Verfahren: Er selbst bekennt: „In dem Ausdruck konnte man nur hie und da einige kleine Mängel, die dem Autor entschlüpft waren und den Leser unangenehm berührt haben würden, verwischen“ (VIII). Beiläufig ist auch nicht ersichtlich, ob Aktenstücke ganz oder teilweise entfallen sind. Heinrich von Treitschke schrieb über das Werk an Heinrich Hirzel, 2. Juni 1877: „Den Ranke’schen Hardenberg halte ich ... [Auslassung i. T.]. Alles so hübsch abgeleckt und angepinselt und so durch und durch unwahr.“ (2. 6. 77, Briefe III/1920, 367). Zumindest ungewöhnlich ist der Versuch Hermann Barges, an Beispielen nachzuweisen, daß Ranke durch seine „geschichtsphilosophischen Voraussetzungen teils dazu geführt“ worden sei, „gewichtige Charakterzüge“ der dargestellten Persönlichkeiten „zu verschweigen“ (Barge/1898, 15). Zusammenfassend ist festzustellen: Ranke begeht gelegentlich nahezu jede Art von Sünde, die ein Historiker begehen kann. Art und Intensität seiner Verfahren deuten auf das Bestehen grundsätzlicher flexibler bis ambivalenter Einstellungen hin. Sie mögen zwar über eine Grundprägung von Wahrheitswillen und Unparteilichkeit verfügen, sind jedoch nicht selten begleitet oder überlagert von eintrübenden oder völlig abträglichen Momenten. Dazu gehören mangelnde Gründlichkeit und Organisation der Arbeit mit selektiver und flüchtiger Quellenbenutzung, fachliche Überheblichkeit mit Mißachten oder Verschweigen von Forschungsliteratur und Zuarbeitungen, mangelnde Selbstkritik, ohne die historische Kritik nicht durchführbar ist, politische und religiöse Oboedienz mit dem Entstellen oder Unterdrücken einer quellenmäßig nahegelegten Fakti- 72 -
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zität. Nicht unbedenklich ist auch bisweilen ein Mangel in der Grundbegabung historiographischer Profession, im Authentizitätssinn, zumal, wenn eine Poetisierung der Darstellung im Vordergrund steht, wie dies beim Umgang mit wörtlichen Reden, bei der Konstruktion von Anachronismen und anderen Kunstgriffen in dramaturgischer Absicht, gar, wie sich noch zeigen wird, bei künstlich patinierenden Angleichungen an die Stilistik von Vorauflagen der Fall ist.
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7. Kapitel (I/1.7) WIDERSPRÜCHLICHKEITEN Mit den Kategorien des Alten und des Neuen hatte Ranke sich forschend und darstellend in mehrfacher Hinsicht auseinanderzusetzen. Er war, seine unbändige lebenslange Quellensuche zeigt es, in außerordentlich starkem Maße an der Erarbeitung von Neuem interessiert, wollte er doch nicht nur sagen, „wie es eigentlich gewesen“ (GRGV/1824, VI), sondern nicht minder, „was zuvor nicht gesagt worden“ (ZKritik/ 1824, VIII). Dies wirkte sich zunächst in besonderer Weise auf das in seiner Historiographie auftretende Verhältnis eigener Forschung zum allgemeinen, als gesichert geltenden und verbreiteten Forschungs- und Wissensstand aus. Ranke verlieh darin dem selbstgefundenen, archivgeborenen Neuen eine Dominanz, welche das bereits Bekannte, für gesichert Gehaltene, das zumeist auf der großen Linie des Geschehens lag, zurücktreten ließ. Dies wäre kaum bedenklich gewesen, hätte er lediglich forschungsbezogene ‚Studien‘ zu den von ihm behandelten Themen, Zeiten und Gebieten geliefert. Doch er hatte stets große Ganzheiten im Sinn: die ‚Römischen Päpste‘, die ‚Französische Geschichte im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert‘, die ‚Englische Geschichte im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert‘ usw., und dies nicht nur aus ideellen Gründen. Nur so glaubte er das ‚große‘ Publikum erreichen zu können. Auf diese Weise entstand seine tiefste darstellerische Widersprüchlichkeit, die ‚versagte Vollständigkeit‘ (Begriff spätestens bei Schaedel/1886, 740), ein Grundproblem in mehrfacher Hinsicht, das von seinen Zeitgenossen, besonders den Literaten, sogleich erkannt, beanstandet und zu einem vielfach angewandten Topos der Kritik erhoben wurde (s. I/2.1.3). In der versagten Vollständigkeit führte die Dominanz, ja die weitreichende Exklusivität des Selbstgefundenen zu einer Verzerrung der Proportionen des Geschehenen, ein grundsätzliches, schwerwiegendes Problem, auf das bereits Rodolphe-Ernest Reuss aufmerksam gemacht hat: „On dirait qu’il dédaigne de passer là où d’autres ont passé avant lui, et cette façon d’agir a le grave inconvénient de modifier les proportions réelles des événements qui se passent devant nos yeux.“ (Reuss/1870, 94). - Neben dieser strukturellen historiographischen Fehlstellung zeigt sich in der versagten Vollständigkeit auch eine von Ranke nicht mit Konsequenz bedachte publizistische Widersprüchlichkeit. Mußte doch die Zurückstellung des Bekannten gegenüber dem selbst erforschten Neuen beim großem Publikum, das er doch zu erreichen strebte, zu Schwierigkeiten des Verständnisses führen. Ein anonymer Rezensent der ‚Grenzboten‘ bemerkte, es sei unklar, ob Ranke für ein allgemein gebildetes Publikum oder für die Fachwelt geschrieben habe (1881, 48). Julian Schmidt sah das Problem deutlicher: Zwar unterhalte Ranke den Leser so, „als wenn man einen Roman läse“ (S, J./1857, 317), doch erliege das auf diesen Umstand gerichtete Interesse einer „gewissen Selbsttäuschung“, denn Ranke setze „eine ziemlich weitgehende Kenntniß voraus“ und vermeide „geflissentlich, zu sagen, was jedermann weiß“ (318. Näheres in I/1.8 u. I/2.1.3). Die Kategorien des Alten und des Neuen, mit denen Ranke sich in Forschung und Darstellung auseinanderzusetzen hatte, betrafen ihn mit der Zeit auch persönlich, - in seinem eigenen wie im Alterungsprozeß seiner Werke. Er stand, je mehr er hervorbrachte, und dies geschah - ganz ungewöhnlich - in über sechzig produktiven Lebensjahren, immer deutlicher vor dem Problem des Veraltens seiner Werke. In zweifacher - 74 -
I/1.7 Widersprüchlichkeiten
Hinsicht: Zum einen ergab sich da die Konfrontierung seiner vorlängst veröffentlichten Werke mit dem allgemeinen Fortschreiten der Wissenschaft, zum anderen die Weiterentwicklung eigener An- und Einsichten. Verständlicherweise war er, wie bemerkt, in außerordentlich starkem Maße an der Erarbeitung von Neuem interessiert, weniger an der Überarbeitung von Altem. Bei diesem quellengeborenen Neuen sollte es sich denn auch weniger um solches handeln, das Altes, von ihm bereits Dargestelltes ergänzte oder gar wesentlich umgestaltete, letzteres hätte ihn nicht nur im Fluß seiner Neuproduktionen behindert, gar bloßgestellt, sondern um solches, das die unablässige Hervorbringung thematisch neuer Werke ermöglichte. Hier wäre nun ein Konflikt der unbändigen Lust des Neuen mit der wachsenden Last des Alten zu erwarten gewesen. Denn Ranke mußte sich bei jeder neuen Auflage und in besonders auffallender und grundsätzlicher Weise bei der Herausgabe seiner 1867 einsetzenden ‚Sämmtlichen Werke‘ dieser Revisions-Entscheidung stellen, vor der es kein Ausweichen zu geben schien. Ein allgemeiner, objektiver Konflikt ist damit natürlich nicht bezeichnet, da jeder Wissenschaftler den Standpunkt der Forschungsaktualität einnehmen wird oder sollte, sofern innere und äußere Möglichkeiten dazu gegeben sind. Nicht so Ranke. Er verfolgt zunächst eine Verschleierungstendenz, hat eher die Neigung, seine Revisionen herunterzuspielen als sie, wie dies andere tun würden, hervorzuheben. Schon Eugen Guglia, sein erster Buch-Biograph, konnte feststellen: „Überhaupt sind die Änderungen, die Ranke an seinen Erstlingswerken vornahm, keineswegs so gering, als man nach den Vorreden glauben möchte. Sachlich freilich sind sie unverändert, aber das Charakteristische liegt bei Ranke nicht bloß im Stoff.“ (Guglia/1893, 68, Anm.). Neben den Vorreden dienten auch seine Titelblätter dazu, den Eindruck des Unveränderten hervorzurufen. Ihnen fehlen fast durchgängig Zusätze wie ‚durchgesehen‘, ‚revidiert‘, ‚verändert‘, ‚vermehrt‘ usw. Nur in seiner ‚Französischen Geschichte‘ [3D-Auflage] 5. Bd. 1870 findet sich einmal der TitelblattHinweis „Umgearbeitet und vermehrt“. Dies dürfte ihm kaum schwer gefallen sein, denn es handelte sich dabei nicht um eigene Darstellung, sondern lediglich um „Analecten der französischen Geschichte vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert“ (1-374). Indes sind auch seine Vorreden nicht stets entschieden in der Frage, wie mit dem Problem der Forschungsaktualität umgegangen wird. Häufig schweigen sie sich gänzlich darüber aus, ob der Leser in einer Neuauflage auch Neues erwarten könne. Seine Vorrede zum Wallenstein-Werk von 1869 druckt er ungerührt und unverändert in jeder der folgenden eigenhändigen Auflagen (1870, 1872, 1880) ab, ohne Hinweis auf die Hereinnahme neuer Literatur oder sonstiger Änderungen. Besonders aufschlußreich jedoch ist seine ‚Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation‘. In deren Auflagenverlauf scheint Ranke zunächst bemüht, so viel wie möglich an neuer Forschung zu berücksichtigen. Heißt es doch in der Vorrede zu Band I der dritten Ausgabe: „Forschungen und Publicationen dieser Art sind seit der ersten Ausgabe der beiden ersten Bände dieses Buches im J. 1839 fortgegangen: ich habe sie bei der zweiten und dritten, so viel möglich, benutzt. Auch habe ich nicht versäumt dasjenige einzutragen, was sich mir selbst in Brüssel und Paris zur Ergänzung dargeboten hat.“ (XI, Anm.). Nun aber zur 4. Auflage. Da schreibt er 1868 (Bd. III, S. 3, A. 1): „Nur da habe ich wesentliche Veränderungen vorgenommen, wo urkundliche Publicationen zum Vorschein gekommen sind, welche ich benutzt haben würde, wenn sie mir bei der ersten Abfassung vorgelegen hätten“, also 1840. Das scheint bizarr und logisch wie wissenschaftlich kaum nachvollziehbar. - 75 -
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In der 2. Auflage der ‚Osmanen‘ vom Jahre 1837 heißt es hingegen: „Ich bitte es auch in Zukunft als eine Arbeit des Jahres 1827 anzusehen.“ (Vorrede, XVIII [Fußnote]. Dieser Standpunkt wird jedoch in der 3. Auflage von 1857 aufgegeben, wo man liest: „Ich habe … nur solche Zusätze und Verbesserungen aufgenommen, welche unerläßlich schienen, um den heutigen Standpunkt der Wissenschaft zu erreichen, oder die einmal angeregte Wißbegier zu befriedigen.“ In der 4. Auflage desselben Werkes, 1877, erfährt der Leser dann aber völlig überraschend: „Bei dem Wiederabdruck der voranstehenden Capitel über die spanische Monarchie habe ich vermieden, irgendwie nennenswerthe Veränderungen in denselben vorzunehmen; sie sollen als eine Arbeit des Jahres 1827, in welchem sie zuerst erschienen, angesehen werden“ (336), ein Widerspruch, der sich wohl nicht auflösen läßt. In seiner ‚Französischen Geschichte‘ heißt es einmal: „Dennoch habe ich auch an dieser Stelle nichts ändern wollen, um nicht die Zeiten der Hervorbringung zu verwischen“ (FranzG V, 3D-Aufl. 1870, 107f. A. 3). Seine ‚Bemerkung über Capefigue: histoire de la réforme, de la ligue et de Henri IV, besonders über die Darstellung der Bartholomäusnacht in diesem Buche‘, zuerst 1835 in seiner ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ erschienen, wiederholt er unverändert und ungerührt 1870 in Bd. V seiner ‚Französischen Geschichte‘ ([3D]-Aufl.) „nach dem Standpunkt der Forschung jener Jahre und mit Bezug auf die damaligen Zustände“ (97). - Beim Wiederabdruck seiner erst posthum berühmt gewordenen Abhandlung ‚Die großen Mächte. (Fragment.)‘ sah er die Dinge dann entgegengesetzt. Da hielt er es „für geboten am Schlusse einige Sätze wegzulassen, die dem Streite des Momentes, in dem der Aufsatz erschien, angehören.“ (AuV, 1. Slg/1872, 3, A. 1). - Während seine HPZ-Abhandlung ‚Ueber die Zeiten Ferdinands I. und Maximilians II.‘ von 1832 bei ihrem Zweitdruck in ursprünglicher Gestalt weiterbestehen soll: „Sie bleibe zugleich ein Denkmal jener Jahre“ (‚Zur Deutschen Geschichte‘, 1869, 4, A. 2), da denkt er nicht daran, die zweite Auflage seiner ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ „als bloße Antiquität … vorzulegen“. Er findet, daß man die Mängel wegräumen könne, ohne dem ursprünglichen Gepräge des Buches zu nahe zu treten …“ (GRGV. Aus der „Vorrede zur zweiten Ausgabe. October 1874.“, X). Doch gegen Ende seiner Beilage ‚Zur Kritik‘ bemerkt er: „... ich lasse den vorliegenden Abschnitt absichtlich so, wie er ursprünglich lautete. Der Standpunkt der Studien, wie er in jenem Momente lag, tritt darin unmittelbarer hervor. Alles das, was seitdem an das Licht getreten, oder was sich sonst vielleicht erreichen ließ, herbeizuziehen, würde ... ein neues Buch gegeben haben und den Gang der Studien, die nicht bloß persönliche sind, verdunkeln.“ (Zusatz der neuen Ausgabe. In: ZKritik 21874, 150*). In diesen widersprüchlichen Beispielen, welche so deutlich dem schwankenden Wesen Rankes entsprechen, werden zunächst keine festen Grundsätze sichtbar. Ranke war eben kein Mensch, der Probleme oder gar Konflikte in ihrer Schärfe empfand, empfinden wollte oder gar darstellte. Dies erschwert die Klärung seiner Einstellung. Auch hat er sich mit dem in allem Fortschreiten verfangenen fundamentalen Vergänglichkeitsproblem der Wissenschaft in ausführlicher Weise, soweit publiziert, nicht auseinandergesetzt. Er scheint von Fall zu Fall zu entscheiden, wobei innere Gründe, aber auch einfach sein durch Werkvielzahl und sich verkürzende Lebenserwartung immer prekärer werdender Zeitmangel eine Rolle gespielt haben dürften. Indes gibt die weitgehend beibehaltene inhaltliche und formale Struktur seiner Werke bis hin zu den kleinsten Gliederungseinheiten einen Hinweis auf eine gleichwohl wirkende Grund- 76 -
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tendenz: Oberhalb seines Schwankens mit unterschiedlichen, in der Regel kleineren Änderungsentscheidungen dominiert als nicht stets verwirklichte, auch gelegentlich von ihm selbst verworfene Einstellung, doch der Vorrang von Werk-Historizität gegenüber Forschungsaktualität. Das ursprüngliche, in außergewöhnlichem Maße durch eigene Archivforschungen erarbeitete und ästhetisch gestaltete Werk soll nach Möglichkeit unangetastet bleiben, und dies in zweifacher Hinsicht. Es soll zum einen ganz sein eigenes bleiben, nicht durch die Hereinnahme fremder, vielleicht zweifelhafter ‚Ergebnisse‘ - ohnedies hätte er kaum Zeit der Überprüfung gefunden - in Eigenart und Verdienst alteriert werden. Zum anderen soll es als ein Monument seines Urhebers und seiner Zeit auch von eigenen späteren Änderungen möglichst frei bleiben. Von einigen Zeitgenossen wurde sein zwar stilistisch, allerdings kaum inhaltlich und forschungsbezogen eingreifendes Revisions-Verhalten gelegentlich konträr gesehen. Während John Lord Dalberg Acton 1867 anonym über Rankes ‚Päpste‘ urteilte, heute, in seiner fünften Auflage, könne das Werk nicht mehr, wie bei seinem ersten Erscheinen, als Klassiker gelten, stehe doch diese letzte Ausgabe auf dem Stand des Wissens, den die Kenntnis des 16. Jahrhunderts in ihren Kindertagen besessen habe (Acton/1867, 393), und auch Rodolphe-Ernest Reuss feststellen mußte: „M. de R. soit négligence, soit dédain, a depuis longtemps renoncé à revoir en détail les nouvelles éditions de ses ouvrages afin de les tenir au courant de la science historique. On se tait respectueusement en Allemagne sur ce fait qui de la part de tout autre soulèverait de vives clameurs“ (Reuss/1870, 94), und gleichwohl Ferdinand Hirsch (1843-1915) öffentlich bedauerte, daß Ranke sich auch bei der vierten Auflage seiner ‚Osmanen‘ wieder nicht zu einer Umarbeitung der gesamten Darstellung veranlaßt gesehen habe (Hirsch/1878), da fand vermutlich Rankes Schüler oder nur Hörer Martin Philippson (1846-1916) anläßlich der sechsten Auflage der ‚Päpste‘, an „klassischen Werken, wie die Rankens sind“, müsse „auch so wenig wie möglich geändert werden; wie sie waren, sind sie Gemeingut des deutschen Volkes geworden.“ (P. M./1874, 343). - Auf dieser Linie lag auch die Ansicht eines anonymen Rezensenten, Ranke hätte besser von einer Überarbeitung seiner Werke für die Gesamtausgabe abgesehen, um sie als „literarische Denkmale“ in der Form zu belassen, „wie sie auf ihre Zeit und die Wissenschaft gewirkt haben.“ (ων/1872, 311). Theodor Wiedemann, dem ein Großteil der Revisionsarbeit an Rankes Werk zufiel, bemerkt dazu in höchst aufschlußreicher Weise, wobei eine bedenkliche Einstellung seines Meisters sichtbar wird: „Es konnte nicht die Absicht sein, die bereits schon einmal erschienenen Schriften einer eigentlichen Umarbeitung zu unterziehen, sie dem jedesmaligen Standpunkt der Forschung gemäß umzuformen. Ranke betrachtete es vielmehr und gewiß mit Recht als eine Art litteraturgeschichtlicher Verpflichtung, wie er dies auch ausgesprochen hat, dieselben im wesentlichen in der Gestalt zu lassen, wie sie zuerst in die Öffentlichkeit getreten und litterarisches Gemeingut geworden waren. Änderungen im einzelnen wurden dadurch an sich nicht ausgeschlossen; sie sollten aber doch die Ausnahme sein. Und bei dem Versuch, sie anzubringen, ergaben sich in Beziehung auf den Text, da dieser dem Inhalt und der stilistischen Form nach in der bisherigen Komposition ein einheitliches Ganzes bildete, dessen harmonischer Aufbau nicht zerstört werden durfte, meist sehr erhebliche Schwierigkeiten. Es war mühsam und zeitraubend, die für Einfügung von ergänzenden Zusätzen oder für Berichtigungen passende Stelle zu ermitteln und einen der alten Konzeption angemessenen Ausdruck dafür zu treffen.“ (Wiedemann III/1892, 97). - 77 -
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Jetzt wird die oben zitierte bizarre Bemerkung Rankes aus der vierten Auflage seiner ‚Deutschen Geschichte‘ vom Jahre 1868 verständlich, er habe nur da wesentliche Veränderungen vorgenommen, „wo urkundliche Publicationen zum Vorschein gekommen sind, welche ich benutzt haben würde, wenn sie mir bei der ersten Abfassung vorgelegen hätten“, also 1840. Dies entspricht genauestens den Wiedemannschen Feststellungen, und es ergibt sich daraus, daß Ranke die wissenschaftlich sich stellende Alternative von Werk-Historizität und Forschungsaktualität bei Dominanz der ersteren nicht allein durch Mischlösungen glaubte umgehen oder bewältigen zu können, er unternahm es überdies bewußt, die vorgeblich historische Werk-Gestalt durch spätere Einbringung pseudo-synchroner und pseudo-homogener Elemente zu verfälschen und damit in diesen Teilen die „Zeiten der Hervorbringung“ lediglich vorzuspiegeln. Vergleichbares geschieht auch in der Beilage zu seinem Erstlingswerk ‚Zur Kritik‘. Hier lassen sich in der Vorrede des Jahres 1824 nachträgliche unauffällige Eingriffe des Jahres 1874 aufspüren. Dies wäre nicht unbedingt verwerflich, doch Ranke unterschrieb sie trotz dieser Änderungen wieder mit: „Geschrieben Frankfurt a. d. O., im October 1824.“ (ZKritik 21874, V). Dies weist auf ein nicht so feines Gefühl für Authentizität hin, wie man es ihm bisher gern zugetraut hat. Da ist es auch sehr befremdend, gerade bei seiner Kritik der Authentizität wörtlicher Reden (darüber bes. ZKritik. 2. Aufl., 1874, *19-21), daß er solche mit literarischem Impetus und begleitender Sorglosigkeit zum Einsatz bringt, nicht allein in seinen überreich mit direkter und indirekter Rede versehenen ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘. Da heißt es ohne Unterlass: „Der Doge sagte...“ (GRGV ²1874 u. ³1884, 50), „... sprach der Doge...“ (51) „doch Karl sagte mit gutem Bedacht...“ (ebd., 52). Neben der Redeform ist nicht minder der auf das Innere einer Figur abzielende Zusatz bedenklich. Ja, Ranke läßt solche Reden überdies nicht selten gänzlich unbelegt, so unter vielen möglichen Beispielen eine wörtliche Rede Lodovicos („Ich will Euer Fürst...“) (127). Dort auch Maximilians indirekte Rede: „in ihrem Bunde mit dem französischen Könige...“ (128), Maximilians direkte Rede: „Man hätte uns gern entsetzt ...“ (132). Im vierten Kapitel des zweiten Buches (276) findet sich gar völlig uneingeschränkt die Übernahme einer den Grundsätzen der Authentizität geradezu spottenden mehrteiligen wörtlichen Wechselrede aus „L’histoire du bon chevalier Bayard 310, 311.“ Selbst sein im Verhältnis zum Frühwerk ein wenig trockener und unanschaulicher geschriebener ‚Wallenstein‘ bietet dazu - wie überhaupt jedes seiner Werke - Beispiele (u. a. Friedland: „So lieb mir meiner Seele Seligkeit ist...“, 41880, 169). Völlig verwerflich dort der unbelegte tiefe Einblick in das Innerste eines Groß-Kollektivs, der evangelischen Truppen, 1633: „das Herz schlug ihnen vor Freude...“ (ebd., 195). Ein letztes Beispiel verminderten Authentizitätssinns aus einem ganz anderen historischen Bereich sei noch angeführt, um die unterschiedliche Art und weitläufige Verbreitung im Werk anzudeuten. Im fünften Band seines ‚Hardenberg‘ bringt Ranke in die Edition der von Hardenberg persönlich zusammengestellten Aktenstücke, zumeist Denkschriften und Briefe der politisch und militärisch Handelnden - neben Hardenberg vor allem Haugwitz, Hzg. Karl Wilhelm Ferdinand v. Braunschweig, Friedrich Wilhelm II. u. Friedrich Wilhelm III., Zar Alexander - auch Aktenstücke unter, die in Hardenbergs eigener Zusammenstellung und Hinterlassenschaft nicht vorhanden waren, die Ranke vielmehr selbst - mit Hilfe von Alfred von Arneth - im Wiener Archiv gefunden hatte, wie z. B. eine Depesche Metternichs vom 22. November 1805 - 78 -
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(HARD V, 571). So wird also eine Hardenberg-Edition, bei der Ranke sich im übrigen nicht enthalten konnte, sie bandmäßig in eine eigene Darstellung einzufügen, auf diese Weise um einen weiteren Schritt entindividualisiert. Erschwerend kommt hinzu, daß Ranke in dieser Darstellung Akten, welche in Hardenbergs Denkwürdigkeiten mitgeteilt werden, gelegentlich nach anderen Ausgaben zitiert. Dies fiel bereits Arnold Schaefer auf (Schaefer/1878, 131), der dazu ein Beispiel gab (HARD IV, 47). - Im übrigen mag die Hardenberg-Forschung auch der Frage nachgehen, ob etwa die in der Sammlung enthaltenen Briefe Friedrich Wilhelms III. an Gustav IV. von Schweden oder an Alexander v. Rußland anders als in Konzept oder Abschrift zur Verfügung standen (s. Werk ‚Hardenberg‘ in II/1). Zu den tieferen Widersprüchlichkeiten muß man ferner seine im Erstlingswerk als Grundthese vorgetragene, unzählige Male zitierte Anschauung der Einheit der romanischen und germanischen Völker zählen („Als Einleitung, Umriß einer Abhandlung von der Einheit der romanischen und germanischen Völker und von ihrer gemeinschaftlichen Entwickelung“, GRGV, p. XVII-XL). Sie war schon bald nach Erscheinen des Werkes als „mehr in der Phantasie als in Wahrheit begründet“ angesehen worden ([Anonym: Bespr. von GRGV und ZKritik]/1828, Sp.185), was nicht beunruhigend wäre, wenn nicht Ranke sich in demselben Werk zugleich zum Gegenteil seiner Grundthese bekannt hätte. Im 2. Kapitel des 1. Buches heißt es unbedacht und unbeachtet: „Es ist das Leben und das Glück der germanisch-romanischen Völker, daß sie nie zur Einheit gelangen.“ (S. 63 der 1. Aufl. 1824, S. 51 der 2. u. 3. Aufl. 1874 u. 1885). Zurückkehrend zur Alternative von Werk-Historizität und Forschungsaktualität, die sich bei Ranke auch als eine Frage der Selbstauthentizität betrachten läßt, ging es da, wie er selbst bemerkt, nicht darum, seine Werke als bloße „Antiquität“ zu konservieren und in der Werkhistorizität allein eine Position der Wissenschaftsgeschichte zu deklarieren. Eine Selbsthistorisierung Rankes, von der in Teilen - etwa bei seinen autobiographischen Diktaten und Äußerungen zu besonderen Anlässen - mit Recht die Rede sein mag, ging doch nicht so weit, sich und sein Werk einfach der Vergangenheit, ja der Vergänglichkeit anheimzugeben. Hier sollte vielmehr - wie seine noch zu behandelnden außerordentlichen Selbstüberhöhungen (Plato-Identifikation, Priestertum) zeigen, im Werk-Monument das über allen Wandel hinaus Bleibende, Unvergängliche seines Wirkens dokumentiert werden. So hat er denn durch eine aktive Selbsthistorisierung nicht nur eine überzeitliche Selbst-Monumentalisierung zu erreichen gesucht, sondern beiläufig auch das kleinere Problem seiner Revisionen einer Scheinlösung zugeführt. Er nimmt dabei nicht in erster Linie die Position eines weiterarbeitenden Forschers ein, sondern eher die eines zurückhaltenden, gleichsam posthumen SelbstHerausgebers. Aufs Ganze gesehen hat er sich später wenig geschert um die in den ‚Jahrbüchern des Deutschen Reiches‘ von ihm festgestellte Notwendigkeit einer „fortlaufenden Sichtung des Ueberlieferten“ und die Notwendigkeit permanenter Revisionen historischen Wissens (Jbb. I/1: Waitz/1837, Vorrede R.s, VIII). Der Rankesche Problemkomplex ‚Selbsthistorisierung versus Forschungsaktualität‘ steht in Zusammenhang mit einem weiteren, vor allem editorisch bedeutsamen Phänomen (dem hier eine kurze Digression eingeräumt wird). Es ist die Zeitschichtung seiner Werke. Dabei muß, was naheliegend ist, zunächst an die Unterschiedlichkeit der Auflagen seiner Werke gedacht werden, die ‚Auflagenzeitschichtung‘, bis hin zu den Ausgaben letzter Hand. Daß Ranke diese als gewollte Endgestalt ansah, ist angesichts seiner permanenten Detail-Korrekturneigung nicht anzunehmen. Selbst die mit beson- 79 -
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deren Revisions-Maßnahmen verbundene Aufnahme seiner Werke in die Ausgabe der ‚Sämmtlichen Werke‘ hat diese bei später stattfindenden Neuauflagen nicht vor Veränderungen bewahrt, so daß Rankes Ausgaben letzter Hand per se nicht als gewolltes wirkliches Endprodukt, sondern als je letztes Glied einer durch den Tod ihres Verfassers an dieser Stelle abgerissenen Revisions-Kette anzusehen sind. Ob und welche Bedeutung dieser Gesichtspunkt für die Ranke-Editorik in historisch-kritischer Absicht hat, ist allerdings schwer einzuschätzen. Es wäre wohl sinnvoll, alle Auflagen bzw. Fassungen seiner Werke aus einer zweifachen Perspektive zu betrachten. Zum einen könnten sie in gewisser Weise als gleichwertig, als ‚unmittelbar zu Ranke‘ angesehen werden, gleichwertig in der jeweiligen Lebensphase ihrer Entstehung. Doch zugleich sollten sie in ihrem aufgehäuften Modifikationsbestand und in ihrer Modifikationsmotivation betrachtet werden. Ob dazu editorisch eine von der Ausgabe letzter Hand ausgehende retrospektive oder von der Erstausgabe ausgehende prospektive Darbietungsform zu wählen ist, dürfte von weiteren Gesichtspunkten abhängen. Steht nicht die Historizität, sondern wie in der von Paul Joachimsen 1925/26 edierten ‚Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ die Forschungsaktualität und Gültigkeit der Rankeschen Darstellung des Werkes im Vordergrund, so dürfte eine retrospektive Edition in Betracht kommen. Stehen hingegen, wie bei Rankes Erstlingswerk, die (vermeintliche) Wirkung auf die damalige Zeitgenossenschaft und die Beziehungen zur vorgängigen und gleichzeitigen historischen Forschung etc. im Vordergrund und sind zudem die weiteren Auflagen erst mit einem Abstand von 50 und mehr Jahren erschienen, so ist man wohl geneigt, prospektiv von der Erstausgabe auszugehen. Bei Überlegungen dieser Art dürfte auch eine Rolle spielen, ob ein Werk eher als bloße Vorstufe zu einer erheblich ausgereifteren und vielleicht auch wesentlich umfangreicheren Fassung anzusehen ist, wobei auch retrospektiv vorzugehen wäre, so bei seiner ‚Preussischen Geschichte‘. Man könnte allerdings mit Blick auf die irgendwann digital gegebene textliche Gesamtverfügbarkeit und die Möglichkeiten des Datenabgleichs nebst Entwicklung einer selbst-layoutenden editionstechnischen Software überhaupt geneigt sein, den Gedanken an traditionell handwerkliche historisch-kritische Editionen seines und anderer Werke zumindest teilweise aufzugeben bzw. einzuschränken. Von haltbarerem Sinn und Interesse dürfte ohnedies die editorische Zusammenführung einzelner Werke Rankes mit ihren vorbereitenden Manuskripten sein. Die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens liegen indes nicht im Mangel des Materials, vielmehr in seiner Fülle und in der erforderlichen Spezialkompetenz. Der zweite Bereich von Zeitschichtung liegt im Einzelwerk selbst. Es geht dabei weniger um die bei Rankes Arbeitsstil wohl nicht durchführbare Aufklärung eines im wesentlichen fortschreitenden Niederschriftverlaufs mit den mehr oder minder komplizierten Erscheinungen einer Manuskript- und Drucksatzerstellung, sondern um textliche Schichtungen größeren Ausmaßes und weiterer zeitlicher Distanz. Als Beispiele seien hier nur Rankes ‚Weltgeschichte‘ und seine Vorlesungsskripten genannt. Erstere stellt nicht allein in ihren von Dove zusammengefügten posthumen Teilen VII bis IX, sondern auch in Rankes eigenhändigen Bänden ein Kompositum dar, in dem, wie Sybel (Sybel: Gedächtnisrede/1886, HZ-Fassung, 480) schrieb, „Ausarbeitungen der Jugendund Mannesjahre der Erzählung zu Grunde gelegt sind.“ Diese diachrone Schichtung ist natürlich nicht chaotisch zu nennen, aber doch ein editorisch und interpretatorisch beunruhigendes Phänomen der innersten Struktur seiner Werke, zumal in ihrem Zusammenhang mit Rankes fließend veränderten Vorlesungen, die in einer mehr oder - 80 -
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minder engen geistigen Wechsel-, ja wörtlichen Import-Exportbeziehung zum gedruckten Werk stehen. Es gibt in dieser iterativen Quellenform mit unter Umständen jahrzehntelangen Modifikationen - Ranke ist kein Ausnahmefall, aber doch wohl ein auffallender - Inhomogenitäten oder Diskontinuitäten, die, falls man sie überhaupt ergründen möchte, nur in dem einen oder anderen Fall aus dem Nachlaß aufzuklären sein werden. Ranke hat zum Beispiel seine Mittelaltervorlesung während 35 Jahren (WS 1834/35-WS 1869/70) an die fünfzehnmal gehalten. Schwierig ist auch die Situation in seinen Notizheften (s. II/2), soweit die Eintragungen einen dem Heftkontinuum nicht entsprechenden chronologischen Verlauf nehmen und neben der sprunghaften Vielfalt seiner Einfälle auch wieder seinen mangelnden Ordnungssinn bezeugen, der wenig Gefühl zu haben scheint für persönliche Kontinuitäten und ihre eigene spätere Betrachtung. In noch erheblich kompliziertere Verhältnisse würde man geführt, wenn editorisch die Frage aufgeworfen würde, welche Textanteile der ‚Serbischen Revolution‘ Ranke, Vuk Karadžić und ungenannten Dritten zuzuweisen wären. Im Zusammenhang mit Rankes Widersprüchlichkeiten, Unbestimmtheiten und Verdeckungen bleibt ferner zu betrachten, wieweit er sich der Wissenschaft und ihrem Fortschreiten überhaupt verbunden und verpflichtet fühlte. In der Tat verstand er sich kaum als mitwirkend empfangenden und geprägten, vielmehr als führend gestaltenden und schöpferisch gebenden Teil ihres Entwicklungsprozesses. Dabei nahm er in seiner exzeptionellen und transzendierten Position gelegentlich für sich in Anspruch, in der Wissenschaft nicht allein Konzessionen und Abschläge zu machen, wenn damit ein Mehr an Popularität zu erhoffen war (s. I/1.8), sondern auch sozusagen außerhalb der fachlichen Gesetze der Zunft zu agieren. Denn neben dem Übersehen, Nicht-Benennen und gezielten Beiseitelassen von Forschung brachte Ranke es auch durchaus fertig, Forschung aus einer Art hybriden Übermuts zu ignorieren. Als typisch darf eine Geschichte gelten, welche Dilthey (1833-1911) 1883 dem Grafen Yorck von Wartenburg (1835-1897) von Ranke erzählte, der gerade den vierten Band seiner ‚Weltgeschichte‘ diktierte: „Waitz ging zu ihm ihn zu bitten, er möge seine kritischen Beilagen zum neusten Band über Gregor v. Tours nicht veröffentlichen. Die Sachen seien ganz unhaltbar. Er müßte ihm darauf antworten. Es fehle ihnen die exakte, kritische sc - Sie kennen das. Worauf der Alte es zwar versprach zu unterdrücken, dann aber konnte er das Druckenlassen sich nicht versagen [WG IV/Analekten] und meinte vergnüglich: ‚ich kann mir schon so was erlauben‘.“ (Briefwechsel Dilthey/Yorck v. Wartenburg/ 1923, 37). Auf Eigenwilligkeit dieser Art traf auch Walther Schultze beim Studium von Bd. VII der ‚Weltgeschichte‘, deren Charakter einer posthumen Zusammenstellung allerdings zu bedenken ist. Schultze sah darin durch Ranke eine Notiz des ‚Chronicon Cavense‘ übernommen, obgleich „dessen Unechtheit auch von ihm anerkannt wird.“ (Schultze: [Bespr. von WG VII/1888], 125, s. I, 362f.). Auch gründe Ranke die Darstellung der Ereignisse von 1075-1080 „so gut wie ausschließlich auf Berthold“ und erkläre ausdrücklich, „von Lambert absehen zu wollen, was ihn freilich nicht hindert, gerade recht anfechtbare Nachrichten aus diesem aufzunehmen“ (ebd.). Auf der Linie einer - man weiß nicht, durch Starrsinn, Übermut oder Zeitmangel geprägten - Scheinsouveränität liegt auch Rankes Behandlung seiner „Analecten zu der Abhandlung über die Staatsinquisitoren“ aus dem Jahre 1827. 1878 übergeht er skrupellos fünfzig Jahre Wissenschaftsentwicklung, als er den Beitrag in seinen Sammelband ‚Zur Venezianischen Geschichte‘ (114-133) aufnimmt, mit der Bemerkung, er sei „zwar durch spätere Forschungen der Venezianer, namentlich Romanins [Samuele Romanin: Storia - 81 -
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documentata di Venezia, 10 Bde, Venedig 1853-1861] überholt worden …, den ich aber doch noch zu publiciren mich entschließe, wie er damals niedergeschrieben worden ist.“ (114). - Recht widersprüchlich erschien auch Hans Delbrück eine nicht unwesentliche Partie in Rankes ‚Weltgeschichte‘, da, wo er über Israeliten und ihre Urgeschichte schreibt: „Ich wage nicht das alles für geschichtlich zu erklären“, dann aber doch „die Geschichte von Abraham und den Erzvätern, die er selber für Sagen erklärt [...] in einem Ton“ erzählt, „als ob es sich um Historisches handelt“ (I, 1923, 94f.). Fraglos war Ranke durch einen fortwährend starken Erkenntnisoptimismus geleitet, der zwar von entschiedener, jedoch nicht von gänzlich bestimmter Natur war. Zuweilen glaubte er - so bei seiner ‚Deutschen Geschichte‘ - in den „Grundwahrnehmungen“ über die Wahrheit zu verfügen. Nicht ganz logisch schlußfolgernd war er „muthig an die Ausarbeitung“ geschritten, „überzeugt, daß wenn man nur mit ernstem und wahrheitsbeflissenem Sinne in den ächten Denkmalen einigermaßen umfassende Forschungen angestellt hat, spätere Entdeckungen zwar wohl das Einzelne näher bestimmen werden, aber die Grundwahrnehmungen doch zuletzt bestätigen müssen. Denn die Wahrheit kann nur Eine sein.“ (DtG I/1839, X). Doch gelegentlich gab er sich auch damit zufrieden, die Ereignisse seiner ‚Neun Bücher Preußischer Geschichte‘ nur „zu so viel möglich objectiver Anschauung zu vergegenwärtigen.“ (9BPreußG I/1847, XII). Rückhaltloser äußerte er sich Maximilian II. gegenüber. Da erblickte er in der Objektivität lediglich ein „Streben“, ein „Ziel“, das der Historiker sich „um so mehr setzen“ müsse, „da persönliche Beschränktheit ihn doch hindert, es zu erreichen: das Subjective giebt sich von selbst.“ (26. 11. 59, SW 53/54, 404). Der Zusammenhang von Objektivität und Unparteilichkeit, der sich teilweise in seinem Diktum äußert: „Objectivität ist zugleich Unparteilichkeit“ (Die deutschen Mächte und der Fürstenbund I/1871, III) erscheint bei ihm nur angedacht, zumindest nicht differenziert dargelegt. Beide beginnen bekanntlich nicht erst in der Darstellung, wie man bei Ranke schließen muß, beschränken sich nicht auf Urteile und Wertungen, sondern sind bereits vor und in der Quellensuche und Auswahl allseitig wirksam, was gerade bei Rankes Verhältnis zu bestimmten Quellenarten - so den Relationen und Reichstagsakten - von Bedeutung ist. Daß Unparteilichkeit nicht unbedingt zur Objektivität führt und diese mehr darstellt als jene, überhaupt ein ganzheitliches Bemühen ist, wurde von ihm wohl nicht deutlich gesehen. Überdies können beide Begriffe auch unabhängig voneinander gedacht werden. Finden sich doch Darstellungsbereiche und Themen, die nicht unter einen selbst weit gefaßten Begriff von ‚Partei‘ fallen. Ranke geht in seiner Parteilichkeitsvorstellung indes wohl allzu sehr von einer durchgängigen Sicht dualistischer geschichtlicher Auseinandersetzungen aus. Dieser Dualismus wird in vielen von ihm geschilderten Konflikten sichtbar. So sieht er einen „Kampf zwischen dem orientalischen und okzidentalen Prinzip“ (Stenogramm in WuN II, 103), auch den die damalige ‚moderne‘ Welt bestimmenden Konflikt von Monarchie und Volkssouveränität (ebd., 158): „Diese beiden Ideen bilden den Kampf“, und wo er von den alten Ständen und den konstitutionellen Ständen handelt, glaubt er feststellen zu können: „Diese beiden Prinzipien stehen einander gegenüber wie zwei Welten. Und die moderne Welt besteht aus nichts als aus einem Konflikt zwischen beiden.“ (Ebd., 418). Seine nicht nur historiographische, auch im allgemeinen Leben geübte Zurückhaltung im Urteil, die er als Unparteilichkeit verstand, dürfte nicht zuletzt mit der in der eigenen Psyche befindlichen Angst, zumindest Sorge, Fehler zu begehen, anstößig zu wirken, unliebsam zu sein zusam- 82 -
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menhängen, wohl auch mit seinem das Häßliche und Böse meidenden ästhetischen Darstellungsprinzip. * Der Problemkomplex ‚Objektivität und Unparteilichkeit‘ ist noch in anderen Zusammenhängen zu betrachten. Zu den tieferen Widersprüchlichkeiten Rankes gehört nicht die mangelnde Entschiedenheit zwischen einem publikumsorientierten, poetisch ausgerichteten Literatentum und einer forschungsgebundenen Wissenschaftlichkeit, sondern der Glaube an ihre Vereinbarkeit. Rankes zwangsläufiges Mißlingen in diesem Punkt zeigt sich an der vom Publikum nicht geschätzten versagten Vollständigkeit ebenso wie in der von diesem oft empfundenen Unklarheit der ins Auge gefaßten Zielgruppe. Äußerlich macht sich der ihm verborgen bleibende Zwiespalt seiner Konzeption auch in der Ausgrenzung von Forschungsdetails aus der Erzählung mithilfe dennoch vorhandener beigebundener Analekten geltend. Ranke erstrebte nicht nur eine künstlerische Form seiner Geschichtswerke, er suchte auch permanent seiner Darstellung Elemente dichterischer Vergegenwärtigung des Geschehenen als Geschehen zu verleihen. Diese Elemente, zumeist augenfällige physische Details in Kostüm und Kulisse, doch auch Reden, darunter vom Leser gleichsam mitgehörte wörtliche (s. I, 78), dürften zwar weitgehend den Quellen entnommen und mit entsprechender Detailfreude am Gefundenen vorgetragen worden sein, daß sie in allen Fällen einer quellenkritischen Betrachtung standhalten, ist freilich kaum anzunehmen (s. I/1.6). Diese sinnenhaften Elemente sind denn auch der Darstellung in einer Weise eingebunden, welche das Geschichtswerk zu denaturieren droht, dienen sie doch nicht nur - oder nicht - dazu, das ‚wie es eigentlich gewesen‘ funktional zu bereichern, sondern es auch in die Richtung eines sich ‚jetzt Ereignenden‘ zu leiten. Über das Alterieren und Reduzieren der Realität hinaus wird bei Ranke ein besonderer Zusammenhang von Ästhetik, Unparteilichkeit und Objektivität sichtbar. Das „Wesen der Unparteilichkeit“ bestand für ihn, seinen eigenen bereits vernommenen Worten (s. I, 163) zufolge eben „nur darin, daß man die agirenden Mächte in ihrer Stellung anerkennt, und die einer jeden eigenthümlichen Beziehungen würdigt. Man sieht [!] sie in ihrem besonderen Selbst erscheinen, einander gegenübertreten, und mit einander ringen; in diesem Gegensatz vollziehen sich die Begebenheiten und die weltbeherrschenden Geschicke. Objectivität ist zugleich Unparteilichkeit“ (DtMächte I/1871, III). Anders als bei einer aus vermeintlich interesseloser oder unentschiedener Unparteilichkeit des Schreibenden herrührenden Schein-Objektivität vermag ein ästhetisch ausgerichtetes und poetisch angelegtes Darstellen und Zeigen eine Form von Objektivität zu fördern, welche in den ‚Dingen‘ selbst - ein von Ranke allenthalben genutzter Unbestimmtheitsbegriff - begründet zu sein scheint. Sich selbst darstellende und sich damit als solche begrifflich aufhebende Objekte bewegen und begegnen sich auf seinen Buchseiten - zumeist kämpferisch -, sie sind da, doch wie könnten sie sich beurteilen! Sie besitzen verständlicherweise nicht die Perspektive oder etwaige Parteilichkeit ihres Erzählers, sondern lediglich das Eigeninteresse und die Motorik ihres Handelns, sie sind selbst ‚Partei‘. Aus historiographischer Sicht erliegt der Darsteller damit seiner eigenen darstellerischen Illusion: Die von ihm ohnedies eingeschränkt erzeugten ‚Dinge‘ verlieren den Charakter des Geschaffenoder Erkanntseins, sie treten vielmehr selbständig dinglich-persönlich auf: „man sieht - 83 -
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sie erscheinen“. Ranke schildert nicht einmal das, was er ‚sieht‘, sondern er sieht, wie etwas geschieht. Mit dem Leser gemeinsam betrachtet er das gegenwärtig ‚Erscheinende‘ als Wirklichkeit. Jenseits der papierenen Buch-Empirie wird beiden eine mitlebende Empirie inmitten der Ereignisse vergönnt. Die dichterische Phantasie geht hier zwar, wie Ranke sich schon 1824 vorgenommen hatte, nicht so weit, ein NichtGewesenes zu erzeugen, doch wird ein Nicht-mehr-Anwesendes in eine sinnenhafte und beiläufig damit auch nicht mehr zu bestreitende und zu diskutierende Gegenwart überführt. - Unparteilichkeit ist in Rankes Auffassung nicht der bewußte Verzicht auf ein Urteilen, sondern ein stummes, jedoch in angenehmer bis erschauernder Weise sich vollziehendes Betrachten des Erscheinenden: „die Vergangenheit wie ein Gegenwärtiges gleichsam mit eigenen Augen zu sehen“, ist der Zweck der modernen Historie (Analekten zur EnglG, SW 21, 113). Schon in seinen frühen Werkstudien hatte er in romantischem Schwärmen gestanden: „Das ist gar so süß, schwelgen im Reichthum aller Jahrhunderte, all die Helden zu sehn von Aug zu Aug, mitzuleben noch einmal, und gedrängter fast, lebendiger fast: es ist so gar süß, und es ist so gar verführerisch.“ (an HR, Ende März 1820, SW 53/54, 89). - Der historiographische Fach-Erzähler hat dem Poeten Platz gemacht und mischt sich unter das betrachtende Publikum, dem eine Beurteilung, wenn sie denn sein soll, anheimgegeben wird. Dies blieb auch seinen Zeitgenossen nicht verborgen. Er habe, so hieß es in den ‚Philosophischen Monatsheften‘ des Jahres 1872, das „geschichtliche Werden g e s e h e n “ (Hülsmann/1872, 106. Sperr. i. T.). Der mit ihm vertraute Wilhelm Giesebrecht wußte von Rankes „wunderbarer Kraft der Intuition“ zu berichten, „womit er zeitlich oder örtlich weit Entferntes sich vollständig vergegenwärtigen konnte, ... Männer, die Jahrhunderte lang im Grabe ruhten“, habe er „wie Mitlebende vor sich“ gesehen (Giesebrecht: Gedächtnisrede/ 1887, 15). Man könnte geneigt sein, auch das bei Ranke auftretende Verhältnis von Geschichte und Politik zu seinen Widersprüchlichkeiten zu zählen. Max Lehmann schien diese Auffassung zu vertreten, als er bei einer Betrachtung der posthum herausgegebenen, kontrovers beurteilten politischen Denkschriften Rankes der Jahre 1848 bis 1851 urteilte: „Merkwürdig, daß Ranke, der doch sonst so nachdrücklich die Scheidung von Politik und Historie gefordert hat, sich verführen ließ, fremdes Gebiet zu betreten“ (Lehmann/1890, 286). Dabei dürfte jedoch zu berücksichtigen sein, daß Ranke nach dem Ende der von ihm herausgegebenen ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ (1836) unter seinem Namen wohl keine weiteren öffentlichen Ausflüge in die Politik unternommen hat. Eines der schwierigsten Probleme rankebezogener Forschung besteht in der Ergründung des Zusammenhangs von persönlicher Religiosität und ihrer Wirksamkeit im Werk. Die Betrachtung dieses fundamentalen Problemkomplexes wird erschwert durch die mangelnde Entschiedenheit, Schärfe und Klarheit, mit der Ranke sich auch darüber nur höchst gelegentlich ausgesprochen hat, und durch die von seiten der Forschung überwiegend unbeachtete Notwendigkeit, seine Einstellungen nicht allein in der Jugendzeit, sondern nicht minder in dem sich entwickelnden Lebensganzen zu betrachten. Dies bedarf freilich einer gründlicheren und ausführlicheren Untersuchung, die auch hier nicht geleistet werden kann. Kurze Hinweise mögen genügen, zumindest die Schwierigkeit und Notwendigkeit einer umfassenden Behandlung des Themas anzudeuten und dem vorliegenden Zweck entsprechend auf Widersprüchlichkeiten im Werk hinzudeuten (s. v. a. I/1.9 u. I/2.5.5). - 84 -
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Auch hier sind schwankende Einstellungen Rankes zu bemerken. Hatte er noch wie eingangs zitiert, in seinen jüngeren Jahren die Erkenntnis Gottes in der Welt als Aufgabe seiner Wissenschaft betrachtet, - „... zur Erkenntniß des lebendigen Gottes, des Gottes unsrer Nationen und der Welt sollen alle meine Sachen gereichen“ (SW 53/54, 140) - , so scheint seine Sicht in den mittleren Jahren realistischer zu werden, ohne daß jedoch transzendente Prämissen gänzlich aufgegeben worden wären. In der Tat konnte man nachweisen, daß die sogenannten ‚Finger Gottes-Stellen‘ seines Erstlingswerkes bei dessen fünfzig Jahre später vollzogener Aufnahme in die ‚Sämmtlichen Werke‘ abgeschwächt worden waren (Backs/1985, 277-279). Eberhard Kessel hatte bereits 1954 darauf hingewiesen, daß in Rankes Werken von den 1830er Jahren an „vom ‚Finger Gottes‘ im konkreten Fall ... nicht mehr die Rede“ sei (Kessel/1954, 278). Ganz auf die Seite einer religionsfreien, unabhängigen Wissenschaft scheint Ranke sich zu schlagen mit einem Ausspruch vom Sommersemester 1855, den ein Teilnehmer anläßlich der Verleihung des Ehrenbürgerrechts der Stadt Berlin in der ‚Vossischen Zeitung‘ preisgab, und dem nicht widersprochen wurde: „der Historiker braucht keinen bestimmten Glauben zu besitzen, er glaubt an die Wahrheit“ ([Anonym:] Leopold von Ranke’s Verdienst um Berlin/1885, unpag.). Es ist auch zu denken an sein sehr weltliches, wiederum nicht öffentliches Wort von der Ausbreitung des romanisch-germanischen Geistes, der sich „nicht mehr durch die Kirchenform gefesselt … frei als Kultur ausbreitet.“ (WuN II/1971, 443, Stenogr.). Während also ein innerweltlich waltender oder nur gegenwärtiger und als solcher erkennbarer Gott aus seiner Historiographie mählich entschwindet, scheint es so, als sei ihm nurmehr der jenseitig geglaubte Gott erhalten geblieben. Öfter spricht er distanziert und weniger personal von der ‚Gottheit‘. Dennoch betrachtet er sein eigenes Leben vorsehungsgläubig, ohne den Providenzgedanken in teleologischer Weise in seinen Darstellungen greifbar oder gar strukturell zum Ausdruck zu bringen. In diesen späteren Jahren spricht er auch - wiederum nicht öffentlich - sein berühmtes Diktum von der Unmittelbarkeit einer jeden Epoche zu Gott aus, das in seiner hochgelagerten spekulativen visio Dei die Erkenntnisfähigkeit des Historikers bei weitem übersteigt und in eklatantem Widerspruch zu seiner professionellen Forderung steht, nur die realen Ergebnisse der Forschung zu berücksichtigen, nach den ersten und echtesten Quellen zu arbeiten und sich an das zu halten, was historisch nachweisbar ist. Dies scheint seine tiefste fachliche Widersprüchlichkeit. Sie stellt sich im versuchten Nachweis göttlichen Waltens, Wirkens oder nur Schauens ebenso dar wie im allgemeinen historiographischen Objektivitätsbemühen, - als zugelassenes Nebeneinander einer durch priesterlichen, geradezu missionarischen Auftrag überkommenen höheren, vorsehungsgeleiteten Erkenntnisfähigkeit und einer gelegentlich bewußt werdenden professionellen Beschränkung, die er vielleicht weniger auf seiner Seite als auf der einer ungenügenden Quellensituation sieht. (s. I, 105-107).
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8. Kapitel (I/1.8) DIE GUNST DES PUBLIKUMS Das Publikum hat Ranke bei allem, was er schreibt, im Sinn und führt es oft im Munde: Stets kommt es darauf an, dem Publicum etwas „darbieten“ zu können (an Geibel, 22. 12. 74, Geibel/1886, 68). Es ist ihm wichtig, „…dass das Publikum befriedigt wird“ (an Geibel, 17. 11. 67, ebd., 4), und dabei handelt es sich nicht um das gelehrte Publikum, um seine Fachgenossen, nicht einmal um das gebildete, es geht um das „große Publicum“ (an Geibel, 17. 10. 72, ebd., 43). Denn nur das große Publikum verheißt eine große Wirkung. Schon von seinem frühen Verleger Perthes wünschte er zu hören, ob dieser erachte, daß sein Buch über ‚Fürsten und Völker‘ „für ein größeres oder blos [!] für das gelehrte Publicum gedruckt werde“ (18. 9. 26, Oncken/1922, 94). Er legt großen Wert auf die äußere Gestaltung des Buches und möchte nicht, daß es „gleich beym ersten Anblick als ein rein gelehrtes erscheine, was ihm denn nicht eben förderlich seyn könne“ (an Perthes, 25. 10. 26, ebd., 95). Seine Werke sollen auch äußerlich handlich, „dem Publicum bequem und angenehm“ sein (an Geibel, 16. 9. 79, Geibel/ 1886, 127) und, so auch die ‚Serbische Revolution‘, „von jedermann gekauft werden“ (an Perthes, 22. 1. 29, NBrr 118). Für ihn ist eine literarische oder wissenschaftliche Hervorbringung nicht in erster Linie ein Gefäß der Erkenntnis, sondern ein „Denkmal“ der Bekanntheit, und ein „schlechtes Denkmal“ bestimmt sich in seinen Augen nicht durch seinen Inhalt, sondern daraus, daß es nur „fünf, sechs vielleicht lesen“ (an HR, 1. 9. [1822] SW 53/43, 99). Eine neue Ausgabe der ‚Osmanen‘ unternimmt er nicht aus wissenschaftlichen Gründen, sondern „allein“, um der vorausgesetzten „Nachfrage des Publicums“ entgegenzukommen (FuV, 2. Aufl., 1837, XVIII). Gelegentlich fürchtet er, das Publikum „allzusehr“ zu „überhäufen“ (an Geibel, 21. 10. 70, Geibel/1886, 22), ein andermal fürchtet er, das Publikum werde „eher ungeduldig“ (an Geibel, 2. 5. 73, ebd., 48). In aufklärerischer Attitüde hofft er, „auch für das Publicum ist es besser, dass ich meine Ansicht darüber ausspreche“, wobei das Papsttum gemeint ist (an Geibel, 21. 4. 74, ebd., 58). Schon in der Frühzeit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war Ranke bestrebt, Wirkung beim großen Publikum hervorzurufen. Bei einer zweiten Auflage des „ersten“ Bandes der ‚Fürsten und Völker‘ beabsichtigte er, sich „an dem großen Publicum ein wenig zu versuchen“. Dazu sollten Fußnoten entfallen und durch engeren Satz eine geringere Bogenzahl und damit eine „wohlfeile Ausgabe“ erreicht werden. Als Titel schlug er vor „Osmanen und Spanier im 16. u. 17. Jahrh.“ (An Perthes, 25. 2. 28, Oncken/1922, 110f.). Doch dazu kam es nicht. Auch sein nicht realisiertes Projekt einer Sammlung von „kritischen Untersuchungen über causes célèbres der neueren Geschichte“ (s. I, 36) ging in diese populäre Richtung. - Selbst in seinen bedeutenden, aber staubtrockenen ‚Jahrbüchern des Deutschen Reichs unter dem Sächsischen Hause‘ beschließt er die Vorrede zum ersten Band mit dem Wunsch: „Möge uns ... die Gunst des Publicums nicht fehlen“ (1837, XII). - Da das Publikum von der zweiten Auflage der ‚Deutschen Geschichte‘ lediglich die Bände I bis III angenommen hatte, für die weiteren Bände, besonders für die in Band VI mitgeteilten Analekten, bestand offenbar kaum Interesse, versuchte man es 1852 mit einer Popularisierung. Ungeachtet bisher geltender wissenschaftlicher Grundsätze oder nur Gesichtspunkte wurden 540 Seiten mit ‚Urkunden, Auszügen und kritischen Bemerkungen‘ über Bord geworfen. Das somit auf fünf Bände reduzierte Unternehmen erwies sich jedoch nicht als erfolgreich, - 86 -
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und man kehrte in der folgenden, vierten Auflage zu den alten Grundsätzen und Bandzahlen zurück. Stets gilt es, Entscheidungen und Vorkehrungen zu treffen, die „den Käufern gewiß willkommen“ sind (an Geibel, 23. 6. 72, Geibel/1886, 35). So wird denn auch bei dem Werk ‚Ueber den Briefwechsel Friedrich des Großen mit dem Prinzen Wilhelm IV. von Oranien und mit dessen Gemahlin Anna, geb. Prinzeß Royal von England‘ die Sammlung der Briefe anläßlich des Drittdrucks von Ranke entgegen wissenschaftlichen Belangen gekürzt, „weil sie für das große [!] Publikum wenig Interesse darbieten“ (an Geibel, 25. 4. 72, ebd., 33). Eine wohl aus Friedrich Christoph Dahlmanns Erfolg bei seiner ‚Geschichte der englischen Revolution‘ gewonnene Anregung - davon waren allein im Jahre 1844 beneidenswerte drei Auflagen nötig geworden und bis 1848 insgesamt fünf. (Springer: Friedrich Christoph Dahlmann, II, 1872, 147) - führte dazu, daß 1865 unter Beibehaltung der Normalausgabe ein passender Teil der ‚Englischen Geschichte‘ Rankes flugs zur ‚Geschichte der Restauration und der Revolution in England‘ umgetitelt wurde, welche ein interessanteres, in sich kontrastives Angebot darzustellen schien. Doch ein Erfolg war auch diesem Popularisierungsversuch nicht beschieden. Das vermeintlich attraktive Separat-Unternehmen wurde nicht nur nicht in weiteren Auflagen fortgeführt, sondern nach zwei der thematisch eigentlich erforderlichen drei Bände abgebrochen und die Leser mit einer Teildarstellung düpiert, die vor dem 19. Buch, der erwarteten ‚Durchführung der Revolution in den drei Reichen 1688-1691‘, abbrach, wo sie nicht hätte abbrechen dürfen. Die Vermutung, Rankes Werk sei bei diesen Popularisierungsversuchen Opfer verlegerischer Unvernunft oder unangemessenen Gewinnstrebens geworden, ist, wie sich aus seiner bereits dargestellten starken Einflußnahme auf Verlage zeigte, unbegründet. Im Gegenteil: Der Gedanke, seinen Aufsatz ‚Ansicht des siebenjährigen Krieges‘ auch in selbständiger Buchform „nicht in sieben, sondern etwa in vierzehn Bogen, elegant gedruckt … besonders ins Publicum zu bringen“ (Brief vom 18. 10. 75, Geibel/1886, 81), stammte von ihm selbst. Zu seinen Popularisierungstendenzen gehörte auch der Wunsch, sein Analekten-Stück ‚Analyse der Traditionen über die Eroberung Roms durch die Gallier‘, das er seiner ‚Weltgeschichte‘ (III/2, 1883, 151-168) beigegeben hatte, zurückzuziehen, weil es für das Publikum „viel zu abstrus“ sei und daher einer anderen Publikation zugewiesen werden sollte. Sein allzu später Einfall kam nicht zum Tragen: Der Druck war schon zu weit fortgeschritten (an Geibel, 30. 8. 82, ebd., 145f.). Unter den zahlreichen gescheiterten Versuchen war natürlich der eine oder andere verlegerische Vorschlag dabei, so etwa die bereits erwähnte, nicht sehr erfolgreiche Buchausgabe der ADB-Artikel über Friedrich d. Gr. und Friedrich Wilhelm IV., so auch 1878 eine Textausgabe der ‚Päpste‘. Zu deren 7. Auflage, besonders zur Textausgabe, ist Rankes Brief an Geibel vom 8. 6. 78 nachzulesen (ebd., 115 mit A. 1). Die Erwartung des Verlegers, mit dieser Ausgabe in einer Auflage von 1000 Exemplaren dem ermüdeten Werk neue Leserkreise zu gewinnen, erwies sich als irrig, vielmehr blieb die Ausgabe zu einem großen Teil unverkauft. Rankes gesuchtes Publikum ist die deutsche Nation und mehr noch die Welt. Sie bedürfen seiner als eines mit reichstem Wissen ausgestatteten ‚praeceptor Germaniae‘, ein Titel, den ihm bei seinem Tod die ‚Times‘ verlieh ([Anonym:] Death of Leopold von Ranke/1886, 9). - „ ... was ich Neues und Wahres über ein so wichtiges Ereigniß [die deutsche Reformation] gefunden zu haben glaube, nun der Nation ohne längeren - 87 -
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Verzug mitzutheilen, ist doch wohl die höhere Pflicht“, schreibt er in dieser Attitüde anläßlich der unbesucht gelassenen Hochzeit seines Bruders Ernst an den Vater der Braut, den bedeutenden Bonner Mediziner Christian Friedrich Nasse (10. 9. [42], SW 53/54, 320). Der Nation legt er 1871 mit seinem Werk ‚Die deutschen Mächte und der Fürstenbund‘, Bd. I, „ein Stück ihrer Geschichte vor …“ (Vorw., V) und im selben Jahr „der Welt“ den ‚Ursprung des Siebenjährigen Krieges‘ (Vorw., V). Im Jahre 1873 bringt er mit der Herausgabe des Briefwechsels Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen nicht nur „dem Vaterlande“, sondern wiederum „der Welt eine Gabe von hohem Werte“ dar (Vorw., V), was manche Zeitgenossen indes ganz anders sahen, so auch K. W. Nitzsch am 23. 6. 73 an Maurenbrecher: „Ich habe ein Grauen vor dem Buch und begreife, daß der Kaiser gar nicht damit zufrieden ist.“ (Briefe von K. W. Nitzsch an W. Maurenbrecher/1910, 333). Bei seinem ‚Fürstentum Serbien‘ ist Ranke besorgt und „weit entfernt davon zu glauben, daß die Welt die neue Production so günstig ansehen wird als die frühere“ (an Reumont, 15. 4. 79, Or. UB Bonn, Autographenslg. S 1065, mit kleinen Fehlern: Hüffer/1904, 204). Letztlich will er in seinen Werken „das lange Verborgne“ gar „zum Gemeingut der Welt“ machen (an ER, 21. 5. 62, Hitzig/1906, 253). Noch in seinen letzten Lebenstagen äußert er in ungebrochener Maßlosigkeit: „Ich hoffte, der Welt noch über die größten, weltbewegenden Ereignisse etwas sagen zu können“ (OvR: Die letzten Lebenstage/1886, 11). Das von ihm dargestellte ‚Neue‘ und ‚Wahre‘ genügte nun, wie er wohl häufiger erfahren haben dürfte, nicht, um das Interesse des großen Publikums zu wecken. Es bedurfte darüber hinaus zumindest der Eigenschaft des ‚Angenehmen‘. Sogar seine „päpstlichen Historien“, so schreibt er am 29. 8. 33 ebenso demaskierend wie irritierend an seinen theologischen Bruder Heinrich (NBrr 180), sollen „mit Vergnügen“ gelesen werden. Und mit frühem Blick auf seine ‚Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ hat er den Wunsch: „Geb es Gott, dann will ich der Welt wieder ein wahres und auch angenehmes Buch über die wichtigste Epoche der deutschen Geschichte schreiben. Unendlich freue ich mich darauf.“ (an FR, 23. 10. 36, NBrr 225). Hier tritt das der antiken Literatur-Theorie entstammende ‚prodesse aut delectare‘, bzw. ‚docere, movere, delectare‘ deutlich hervor, das sich in dem von Ranke aufgestellten Postulat der Einheit von wahrer Wissenschaft und Kunst idealisiert widerspiegelt. Das so gern in seinem gesellschaftlichen Auftreten an den Tag gelegte Gefallen-Wollen erstrebt er auch in seinem Werk. Ranke hat - wie angedeutet - in seinen Anfängen keine historisch fachliche, vielmehr eine allgemeinere, weit ausgreifende Einstellung gehabt, welche von vielerlei altphilologischen, ästhetischen, kunsthistorischen, theologischen, religionsgeschichtlichen, poetischen und poetologischen Interessen geprägt war - er selbst spricht von „incohärenten“ (SW 53/54, 60), d. h. wohl auch: wenig zielgerichteten Studien - an anderer Stelle von deren „unbestimmten Tendenzen“ (an ER, 5. 9. 76, SW 53/54, 525). Jedenfalls drängten sie alle zu konkreter öffentlicher Hervorbringung. Sein Nachlaß der Frühzeit bezeugt dies in vielfältiger Weise (s. II/2.3). Ob ihn tatsächlich ein Zuviel an ungeschichtlicher Phantasie bei den zunächst begeistert gelesenen Poeten Walter Scottscher Art abgehalten oder doch nur ein Mangel an eigener dichterischer Phantasie gehindert hat, sich der ‚reinen‘ Poesie zuzuwenden und sich unter Wahrung seiner vielfältigen Neigungen ersatzweise den Quellen der Historie zu nähern, mag dahingestellt sein. Auch nach den Arbeiten an seinem geschichtswissenschaftlichen Erstlingswerk hat er zunächst noch den Gedanken aufrechterhalten, die Wissenschaft - 88 -
I/1.8 Die Gunst des Publikums
einmal beiseite zu lassen und sich wieder an Literarischem zu versuchen: „Hätte ich in Kurzem Musse und glückliche Stunden, so schriebe ich etwas Anderes, nichts Historisches, wenigstens nicht geradezu...“, bekennt er Varnhagen (10. 10. 29, Wiedemann: Briefe an V. u. Rahel/1895, 443) „Ich hoffe noch einmal ein Werk zu schreiben, welches jedermann lesen kann, und welches doch die Fülle des geistigen Lebens der Geschichte enthält“ (an HR, 5. 5. 27, SW 53/54, 166). Das „jedermann lesen“ dürfte nicht zufällig an erster Stelle stehen. Noch nach seiner Italienischen Reise möchte er in seinem bezeichnenden Totalitätsdrang alles, was die Welt „Schönes und Großes hervorgebracht hat“ an sich „heranziehen“, sich „aneignen und den Gang der ewigen Geschicke mit ungeirrtem Auge ansehen, in diesem Geiste auch selbst edle und schöne Werke hervorbringen“ (an Heinrich Ranke, 30. 11. 32 SW 53/54, 261). Ranke selbst nimmt damit das Wort des Grafen Paul Yorck von Wartenburgs vorweg, der ihn als „ein großes Okular“ deutete (Y. an D., 6. 7. 86, Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg/1923, 60). Den tieferen Gründen konnte sich bereits Theodor Wiedemann aus jahrelangem Umgang mit Ranke in einer seiner wesentlichsten Einsichten nähern: „Die schriftstellerische Ambition auf Grund einer angeborenen Neigung und ungemeiner Befähigung zu litterarischer Gestaltung bildete bei Ranke den ursprünglichen und vornehmsten Antrieb, … nicht oder doch keineswegs ausschließlich das theoretische Bedürfnis des Erkennens an sich oder die durch umfassende Lektüre erworbene Fülle des Wissens.“ (Wiedemann VI/1892, 102f., A 5). - Rankes persönliches Streben und wissenschaftliches Suchen - gerade auch seine Quellensuche - stehen im Dienst darstellenden Zeigens. Er will zwar suchen und finden, wie es wirklich gewesen; doch er will es vor allem sagen, einen Schritt genauer noch - so 1874 in der zweiten Auflage seiner ‚Geschichten‘ - er will es „zeigen“. Er ‚präzisiert‘ seine Formulierung von 1824, indem er das beschreibende und deutende Sagen revidierend zum vorstellenden, vergegenwärtigenden Zeigen erhebt. Was er zeigen will, ist neben der Wahrheit vor allem das „Schöne und Große“. Bei der Besprechung der ‚Annalen des Einhard‘ von 1854/55 fühlte er sich bemüßigt zu erklären: „Überhaupt suchen wir in der Geschichte nicht allein Schönheit und Form, sondern die exakte Wahrheit...“ (SW 51/52, 97). Seine Ästhetik stellt sich damit in den Dienst des Publikums. Er will, seinem verengten Wirklichkeitsbegriff entsprechend, dies in „edlen und schönen“, nicht in „gelehrten“ Werken vorweisen. Das Häßliche, Niedrige wird, soweit es nicht überhaupt übersehen ist, übergangen, jedenfalls wird es weitgehend als unangemessen, anstößig, nicht darstellungswürdig empfunden. So gehen in Rankes gewollt „edler und schöner“ Darstellung nicht allein bestimmte Charakterzüge, Verhaltensweisen und Äußerungen mehrerer preußischer und anderer Monarchen verloren - darunter ‚litten‘ neben Heinrich VIII. auch Cromwell und Luther -, sondern in Volksschichten und ganzen Völkern auch große Bewegungen, Bedrängnisse und Bedürfnisse. Zu einer weiteren Behinderung seiner Realitätssicht tritt neben der Ästhetik seiner Betrachtung überhöhend eine nicht rationale Einstellung hinzu, die ihn in der Geschichte eine nicht vorhandene „Erhabenheit der Entwicklung“ (SW 53/43, 278) sehen läßt. Wo der bevorzugte Blick auf das Publikum zu einer Schwächung der Sicht wissenschaftlicher Notwendigkeiten führt, da ist es nur konsequent, auch das Urteil des Publikums über das der Fachwelt zu stellen. Fach-Rezensenten als Richter über sein Werk schätzte Ranke nicht: Über „beschränkte und von Eifersucht eingegebene Recensionen“ ist er schon lange belehrt, - da vertraut er lieber auf das Publikum, in dem er - 89 -
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schon „immer einen gewissen Instinct [!] für das Echte und Gute wahrgenommen“ hat (an Geibel, 21. 3. 79, ebd., 120). „Wenn ich es bloß mit den Gelehrten zu thun hätte“, äußerte er einmal, „könnte ich mein Buch zumachen; aber ich habe das Publikum für mich“ (Wiedemann V/1892, 348). - Wo das ‚Buch‘ schlechthin Karriereinstrument ist, da vermag das populäre Buch zum Vehikel des Ruhmes zu werden. ‚Buch‘ und ‚Ruhm‘ sind für Ranke ein Leben lang eng verbundene Begriffe (s. I/1.1). „Das ist der Vorteil, wenn man viel geschrieben hat, daß man von jedermann gekannt ist und manche sich beeifern, einem Freundlichkeiten zu erweisen“, schreibt er seinem Bruder Ferdinand ([31. 8. 39], NBrr 268f.). Gern hört er sich später in Paris Schmeicheleien an, die er seiner Frau nach Berlin mitteilt: „que je suis le plus grand historien de l’Allemagne et peutêtre de l’Europe...“ (15. 8. 55, SW 53/54, 376). Es ist ein nachhaltiger, gern empfangener Eindruck: „jedermann kennt mich“, schreibt er nach neuen Bekanntschaften, die er in Paris oder Versailles gemacht hat ([Ende Aug. 1855], SW 53/54, 380). Auch in Cambridge 1857 fühlte er sich „glücklich, jedermann bekannt zu sein. Was hat man mir alles gesagt!“ (an CvR, 4. 4. 57, SW 53/54, 391). - „Wohlbekannt meine Feder, wohlaufgenommen von vielen...“, so befindet er sich sehr wohl in London (an CvR, 7. 6. 57, SW 53/54, 396). Doch seine Ruhmsucht braucht ständig neue Nahrung, entbehrt eine beständige Erfüllung, denn „erst im höheren Alter“ sei Ranke „zu der allgemeinen Anerkennung gelangt ..., deren er sich gegenwärtig“ erfreue, schrieb August Kluckhohn 1885 (435), und nicht einmal dies war uneingeschränkt zutreffend. - Alfred Dove vermag beizusteuern, Ranke habe die „Huldigungen gelehrter Körperschaften und Vereine, die Ehrenbezeigungen deutscher und fremder Staatsoberhäupter ... mit Wohlgefallen“ betrachtet. „... für den Reiz des Ruhmes war er nicht unempfänglich“ (D[ove]: Ranke, Leopold v. (1888)/1898, 185). Dies kann Theodor Wiedemann nach langen Jahren der Zusammenarbeit in freundlicher Form bestätigen: „Es war ihm schon an sich lieb, daß man sich mit seiner Person beschäftigte“ (Wiedemann XIV/1893, 347), „Er kam oft darauf zu sprechen, daß es mehr große Dichter gegeben habe als wahrhaft große Geschichtschreiber. Im Grunde seines Herzens lebte die feste Überzeugung, wenn auch bisweilen durch seine Äußerungen ein andrer Anschein erweckt werden konnte, daß er als solcher von der Nachwelt anerkannt und dauernden Nachruhms teilhaftig werden würde“ (ebd., 346f.). Schon früher scheint ihm die seinen Werken hier und da entgegengebrachte Anerkennung zu Kopfe gestiegen zu sein, denn Varnhagen vertraute am 13. 10. 41 [nicht wie bei Wiedemann irrtümlich: 1831] seinem Tagebuch an, Bettina v. Arnim habe über Ranke geäußert, „er liege in seinem Ruhme wie ein Schwein in seinem Fette“ (Wiedemann/1901, 356). In seiner unveröffentlichten, außerhalb des Einflußbereichs von Rankes Erben erhalten gebliebenen biographischen Skizze stellte Rankes Bruder Wilhelm fest: „Sich selbst ein Ebenmaß zu verleihen und seine herrlichen Gaben von Humanität durchgeistigen zu lassen, dafür hat er keinen Sinn. Man decke die grünen Ranken seiner Ruhmsucht auf; nichts wird man darunter finden, als nackte Selbstliebe“ und „in ihm ist die Ich- und Ruhm-Sucht zu höchster Macht gelangt“ (NL WR, Rep. 92 NL Geschw. Ranke, GStA PK). Diese Äußerung wird ergänzt durch eine unabhängige Stimme: „12. Mai 1855. Besuch von Frau v. Treskow. Sie ergießt sich in Unwillen und Verachtung über Ranke ... Züge seiner dünkelhaften Eitelkeit“ (Tagebuchblätter Varnhagens bei Wiedemann: L. v. R. u. V. v. E./1901, 364). Seine Ruhmsucht ist nicht allein mitbestimmend für die Thematik und in späteren Jahren für die fast unglaublich dichte Erscheinungsfrequenz seiner Werke; sie steht - 90 -
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auch auf ungeahnte Weise in Zusammenhang mit seiner Auffassung von Wahrheit. Nicht nur sein Objektivitätsbegriff ist ästhetisch und publizitätsorientiert, auch sein Wahrheitsbegriff ist aus dieser Richtung angegriffen: „Der allgemeine Consensus: das ist die Wahrheit“ (nachgelassene Aufzeichnung, SW 53/54, 570), eine äußerlich quantifizierende, substanzlose Begriffsbestimmung, die in ihrer Gefährlichkeit kaum zu überbieten ist. In Rankes an Ehrungen reichem Professoren- und Autorenleben sind neben glänzenden Erfolgen auch immer wieder Misserfolge aufgetreten. Sie begleiten ihn wie ein Schatten, den er selbst - und in seiner Folge die spätere Forschung - nicht wahrzunehmen scheint. Erstaunlich bleibt, mit welch tatsächlicher oder scheinbarer Ungerührtheit er über den Zusammenbruch seiner ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ hinwegzusehen vermochte. Wenn sein Amanuense Wiedemann bemerkt, bei Ranke habe, „wie in der Geschichtsbetrachtung, so auch im wirklichen Leben die Neigung“ vorgewaltet, „in Verhältnissen und Persönlichkeiten das Günstige und Positive wahrzunehmen, über das Gegenteilige hinwegzusehen...“ (Wiedemann III/1892, 102), so dürfte er dies auch sich selbst gegenüber erreicht haben. Als Mißerfolge sind nicht allein die seinem Werk und seiner Persönlichkeit geltenden kritischen Stimmen und die jeden anderen schwer belastenden Werkabbrüche anzusehen, auch die Verbreitung und Beurteilung seiner Werke war nicht stets zufriedenstellend. Auf Rankes ungeheuren, geradezu leidenschaftlichen Arbeitsdrang, verbunden mit dem Willen, nicht allein die Universalität, sondern auch die Totalität der Geschichte zumindest aus dem Zentrum der romanischen und germanischen Völker heraus zu erfassen und darzustellen, auf diese ohnedies schon sehr hoch drehende Imagination und Produktivität haben drei, seine beiden letzten Lebensjahrzehnte bestimmende Ereignisse wie Katalysatoren gewirkt: Die Einrichtung seiner ‚Sämmtlichen Werke‘, die Reichsgründung, und letztlich der Plan einer ‚Weltgeschichte‘. All dies stand zudem unter der fortwährenden unerlösten Spannung von Erfolg und Mißerfolg seiner Werke und einem langsamen Sinken seines wissenschaftlichen Ansehens. In den auf seine großen, bis zu neunbändigen religionsgeschichtlichen und nationalgeschichtlichen Werke folgenden Zeiten beschleunigte sich der Ausstoß neuer Produktionen, welche nun auch von wesentlich geringerem Umfang sind, beträchtlich. Hatte es früher einmal ein sozusagen ‚buchleeres‘ Jahr gegeben, so machte sich mit Beginn seiner ‚Sämmtlichen Werke‘ ein immer schneller erfolgender Ausstoß geltend. Der Wunsch, das Publikum publizistisch beständig unter Feuer zu halten, wird jetzt überdeutlich. Schon 1852 hatte er sich darüber gefreut, „in einem Jahr in sechs Bänden“ zu erscheinen (an FR, 6. 10. 52, NBrr 351). Im Jahre des Beginns seiner ‚Sämmtlichen Werke‘, 1867, hatte er 5 Bände aus zwei Werken als Verfasser bzw. Neuausgaben-Herausgeber bearbeitend und korrigierend zu betreuen. Im Jahre 1874 waren es bereits 14 Bände aus 7 Werken und im Jahre 1877 23 Bände aus 8 Werken. Man stelle sich vor: In zwölf Monaten waren 23 Bände an Neuerscheinungen und Neuauflagen zu bearbeiten, wobei zwei überanstrengte Amanuensen in zwei Tagesschichten mitwirkten. Rankes Schüler K. W. Nitzsch, bereits Ordinarius in Berlin, der den „großen Meister“ gelegentlich aufsuchte, schrieb am 8. 1. 76 an Wilhelm Maurenbrecher: „Rankes Amanuensis, der seit 3 Jahren bei ihm, meint, er verändere sich allmälig, werde flüchtiger im Arbeiten und haste, möglichst viel fertig zu machen.“ (Briefe von K. W. Nitzsch an W. Maurenbrecher/1910, 362). Auch Rankes Spätschüler Alfred Dove sprach aus persönlicher Kenntnis von „leidenschaftlich erhöhter Arbeitsamkeit“ in diesen spätesten Jahren - 91 -
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(Vorrede zu SW 53/54, VIII). Dies wurde wohl auch in Rankes Familie so empfunden: „kein Tag genügte ihm; immer legte er sich mit dem Bewußtsein schlafen, die beabsichtigte Tagesarbeit sei unvollendet geblieben...“ (FvR/1904, I, 77). Rankes Produktionshektik begann in dieser Zeit manische Züge anzunehmen. Er selbst sprach gelegentlich von der Gefahr einer Überreizung (an Geibel, 11. 3. 82, Geibel/1886, 143). Dies konnte keinen guten Einfluß auf die Präzision seiner Arbeit haben, zumal sein getreuer und gehetzter Wiedemann, wie sich später zeigen sollte, bei allem Eifer und großen Kenntnissen nicht ganz unliederlich war. Insgesamt hat Ranke in den verschiedenen Auflagen seiner Werke bis zu seinem Tod die ungeheure Zahl von annähernd 200 Bänden verfaßt oder revidiert, wobei noch deren nicht seltener besonders arbeitsaufwendiger editorischer Charakter zu berücksichtigen ist. Ranke suchte nicht nur die Aufmerksamkeit des Publikums, er suchte natürlich auch dessen ‚Beistimmung‘. Unter dem Titel „Beifall“ vertraute er seinen Tagebuchbättern an: „Inwiefern ist deine Zeit in dir, oder bist du selber? Ist die Produktion so recht eine Produktion des Allgemeinen, so wird die Beistimmung ungeheuer, unermeßlich sein. Je weniger jenes, desto minder kann dieses der Fall sein.“ (SW 53/54, 571). Sein Werk zu einer Produktion des Allgemeinen zu machen, sah er nach 1870 eine glänzende Möglichkeit. Dabei ging es darum, sein Werk thematisch mit der ruhmvollen Gegenwart - früher hatte es keinen Reiz gehabt und wenig Sinn gemacht - in Verbindung zu bringen. Doch die Reichsgründung hatte ihn „ganz in Feuer und Flammen“ zu dem Ausruf veranlaßt: „Das deutsche Imperium ist die größeste That der Menschheit!“ (Gregorovius: Röm. Tgbb., 21893, 354: Tgb. 2. 12. 71). Da ward es ihm „zum Bedürfniß“, schrieb Alfred Dove in seiner nach Rankes Tod zunächst grundlegenden biographischen Skizze, „seine eigenen Werke, deren innerer Ursprung doch so fern von jeder Rücksicht auf die Fragen des Tages zu suchen ist, wenigstens in Bezug auf ihr äußeres Erscheinen in eine gewisse Verbindung mit so eingreifenden Erlebnissen zu setzen.“ (D[ove]: Ranke, Leopold v./1888. Unter dem Titel ‚Ranke’s Leben im Umriß‘ in: Dove: Ausgewählte Schriftchen/1898, 181). Dies geschah nicht nur in Bezug auf ihr äußeres Erscheinen, es geschah auch in Bezug auf ihre Thematik. Ranke, der ansonsten seine Werke gern vorgeblich als unwandelbare Monumente der Wissenschaftsgeschichte bestehen ließ, entschloß sich doch, drei seiner ‚Altwerke‘ an die Zeit seiner eigenen Gegenwart heranzuführen: Er aktualisierte die ‚Päpste‘, die ‚Serbische Revolution‘, die ‚Preußische Geschichte‘. Auffallender noch und erheblich näher am äußeren Anlaß: Bei seinen ‚Neuwerken‘ ließ er sich durch die von Preußen/Deutschland erlangte Weltstellung dazu bestimmen, gänzlich von den bisher behandelten Jahrhunderten und Nationen Abschied zu nehmen und sich ausschließlich den letzten hundert Jahren und dabei vorzugsweise der preußischen Geschichte zuzuwenden, in der Tat ein markanter, nicht stets erkannter Wendepunkt in seinem Schaffen. Die Ausgabe seiner ‚Sämmtlichen Werke‘ rief allerdings nur ein mäßiges Echo hervor, und die siebziger Jahre mit ihrem preußisch-deutschen Spätwerk wurden, trotz großer publizistischer Bemühungen und der Beihilfe zweier Amanuensen, kein rechter Erfolg, bis auf das stets interessierende Wallenstein-Thema mit vier Auflagen zwischen 1869 und 1880. Hinzu kam: „Unser alter Ranke kränkelt dieser Zeit viel“, ist „immer noch leidend“, wie K. W. Nitzsch seinem Freund W. Maurenbrecher im Dezember 1873 berichtete (Briefe von K. W. Nitzsch an W. Maurenbrecher/1910, 341). Schon länger war das öffentliche und studentische Interesse an seinen Vorlesungen geschwunden. Das thematisch durchaus anziehende Kolleg vom Sommersemester 1871 - 92 -
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über ‚Geschichte der neuesten Zeit‘, er hatte sich darauf besonders vorbereitet, brach er wegen der deprimierenden fünf Hörer, die sich eingetragen hatten, ab. So fehlte nun auch die Möglichkeit, durch Vorlesungen und Übungen öffentlich zu wirken. Dies schloß den Kreis, denn mit ähnlich wenigen Hörern hatte er 1825 begonnen. Auch sein direkter Einfluß auf die Historische Kommission als deren Präsident war im Abnehmen begriffen, und von ihm angesichts der Reichsgründung erneut betriebene hochfliegende Pläne zur Errichtung einer ‚Akademie für deutsche Geschichte und Sprache‘, welche de facto das substanzielle Ende der Kommission bedeutet hätten, kamen nicht zum Tragen (s. II/6.5). Der Plenarversammlung von 1872 hatte er aus gesundheitlichen Gründen nicht präsidieren können. So wurde die Rede zur Eröffnung der 14. Plenarversammlung am 20. Okt. 1873 aus eben diesen Gründen seine letzte. Und am 2. Dez. 1872 hatte er zum letzten Mal in der Kgl. Preussischen Akademie der Wissenschaften gelesen. In diesen Jahren ging manches zu Ende: Auch seine Frau Clarissa war im April 1871 nach langen Leiden gestorben, - Leiden, in denen sie schließlich ein körperlich nicht mehr bewegliches Gegenbild - selbst das Umblättern einer Buchseite war ihr nicht mehr möglich - zu der ruhelosen Beweglichkeit ihres dominanten Mannes erreicht hatte. Es mußte eine neue literarische Sensation geschaffen werden, zumal vor dem nicht fernen Lebensende, eine letzte und entscheidende Maßnahme, ein Werk von großartiger Natur, ein Wunderwerk, das zunächst geheimzuhalten war. Thematisch ebenso auffallend wie bedeutend mußte es sein, monumental im Auftritt und damit attraktiv für das breite Publikum, das Ranke stets im Auge, aber nie so recht erreicht hatte. Es gab für ihn keine größere Sensation als das Verfassen einer Geschichte mit thematisch vorgeblicher Totalität, eine ‚Weltgeschichte‘. Beiläufig mußte das Werk für seinen greisen und sehbehinderten Verfasser auch altersgerecht sein, zu verwirklichen ohne Archiv- und mit nur mäßiger Literaturarbeit. Auf einer Äußerung Rankes, Giesebrecht gegenüber, beruht angeblich die Mitteilung, daß zum Entschluß, eine Weltgeschichte zu schreiben, als „äusserer Grund“ auch die altersbedingte Unfähigkeit zu weiteren Archivarbeiten mitgewirkt habe (Giesebrecht: Gedächtnisrede/1887, 24). Das Nebeneinander seiner ‚Sämmtlichen Werke‘ und der ‚Weltgeschichte‘ führte schon quantitativ zu einem über den Abnehmerkreis der Wissenschaft hinausgehenden Aufsehen. Doch es stellten sich noch entscheidende weitere Umstände ein: Zum Wunder der Menge seiner ‚Sämmtlichen Werke‘, deren Bandzahl vermehrt wurde durch die Einführung von gezählten Doppelbänden, und der durch technische Kunstgriffe in ihrem Umfang gehobenen ‚Weltgeschichts‘-Bände - es wurde ein lediglich dreißigzeiliger Satzspiegel mit großen Lettern eingesetzt - kam mehr und mehr das Wunder des Alters ihres Verfassers hinzu, der bereits im 87. Lebensjahr stand, als er 1881 den ersten ‚Theil‘ seiner ‚Weltgeschichte‘ herausbrachte. Ein weiteres Wunder wurde mit der unglaublich kurzen Regelmäßigkeit der Produktion und ihrer Anbindung an ein herausragendes, alle Schichten und Zwistigkeiten der Nation überragendes, emotional geprägtes Ereignis erzeugt, mit dem jährlich zu rechnen war, dem vertrieblich höchst ergiebigen Weihnachtsfest: Die einzelnen Bände der ‚Weltgeschichte‘ wurden, so bezeichnete Ranke sie selbst, zur jährlichen „Weihnachtsgabe an das deutsche Volk“ (s. II/1.1). Schon 1826, bei seinem zweiten Werk, hatte nicht sein Verleger, sondern er selbst, Weihnachten als günstigen Erscheinungstermin im Sinn, wo sein Werk als „Weihnachtsgeschenk“ versandt werden könne (an Perthes, 2. 7. 26, Oncken/1922, 92). Natürlich lag die Bedeutung des Weihnachtstermins nicht allein in seinem Anlaß zum Bücherkauf, sondern steigerte die Aufmerksamkeit, welche die Nation und ihre - 93 -
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Presse dem Unternehmen des vor aller Augen scheinbar unsterblich schöpferischen greisen historiographischen Nationalheros schenkte, noch ungemein. Doch wurde dieser Erfolg teuer erkauft, denn dem vertrieblichen Primat wurde in Rankes Atelier alles untergeordnet. Ganz undenkbar, daß etwa aus wissenschaftlicher Notwendigkeit dieser Erscheinungstermin wäre geändert worden. Nicht die Wissenschaft, nicht die historische Erkenntnis bestimmte die Termine, der vorgefaßte Erscheinungstermin bestimmte die Wissenschaft und die Darstellung ihrer Ergebnisse. Es ging ihm nicht darum, das wissenschaftlich beste Ergebnis zu erzielen, es ging darum, seine Buchproduktion zu steigern: „Wollte ich den Stoff vollkommen so behandeln, wie er es verdient, so würde ich Jahre lang brauchen. Aber diese Jahre habe ich eben nicht, und ob ich es später besser machen würde als jetzt, steht doch sehr dahin.“, so äußerte er sich in bezeichnend unbefriedigender Logik und mangelnder wissenschaftlicher Verantwortung anläßlich des vierten Bandes (an Geibel, 28. 3. 83, Geibel/1886, 150). In der Tat „gelang es Ranke nicht, die einzelnen Teile der Weltgeschichte ordnungsmäßig und der gefaßten Absicht entsprechend jedesmal innerhalb des bestimmten Zeitraums zum Abschluß zu bringen“, wie sich sein Hauptmitarbeiter dieser Jahre erinnert (Wiedemann V/1892, 347). Er hatte sich auch und gerade bei diesem Unternehmen überschätzt. Es mußte zu Kompromissen, wie Ausscheidungen bereits hereingenommener Ausarbeitungen, Verkürzungen etc, Beiseitelassen aktueller Forschunsgliteratur kommen. An der Hektik der jährlichen ‚Weltgeschichts‘-Ausgaben mußten auch innerhalb seiner beiläufigen Gesamtausgabe Neuauflagen älterer Werke leiden: Hierzu hatte Ranke am 28. 12. 83, mitten in den wichtiger erscheinenden Arbeiten an Band V der ‚Weltgeschichte‘, seinem Verleger geschrieben: „Nur die allernothwendigsten Ergänzungen können bei der neuen Ausgabe [der GRGV] erwartet werden“ (Geibel/1886, 154). Mit Blick auf den Weihnachts-Erscheinungstermin stößt er auch ursprüngliche Bandkonzeptionen seiner ‚Weltgeschichte‘ um: Im November 1883 zieht er den noch änderungsbedürftigen ‚Paulus Diaconus‘ zurück, um den Erscheinungstermin zu Weihnachten zu gewährleisten (an Geibel, 8. 11. 83, ebd., 153). In den Jahren 1884 und 1885 zieht er wiederum bereits gesetzte korrekturbedürftige Kapitel, diesmal der Bände V und VI zurück, um den Weihnachtstermin nicht zu gefährden (an Geibel, 15. 11. 85, ebd., 161), übrigens nicht einmal auf Bitten des Verlegers. Seine ‚Weltgeschichte‘ wurde zu einer besonders in ihren allgemeineren Betrachtungen qualitätvollen, aber - als der Vorsprung seiner Vorarbeiten eingeholt war - im Grunde von Fortsetzungszwängen beherrschten Terminarbeit. Und dabei nahm der niemals nur sachorientierte Forscher immer mehr Züge eines publikumsorientierten Literaten an. Pointiert: Die ‚Geschichte‘ ist nicht Zweck, sondern Mittel der Darstellung geworden. Zweck ist nicht die historische Erkenntnis in ideeller Zusammenarbeit mit der historischen Gesamtwissenschaft, sondern die durch extrem gehäufte und auffallende Buchproduktion erreichte Selbstdarstellung vor einem breiten Publikum. Nicht das Suchen der Vergangenheit, nicht das lediglich rhetorisch eingesetzte AuslöschenWollen des eigenen Selbst: Hauptzweck ist geradezu das Zeigen des eigenen Selbst in seiner Schöpferkraft und Genialität geworden. So sehr ihm zunächst seine ‚Weltgeschichte‘ „auch dadurch zu einer unversiegbaren Quelle der Genugthuung geworden“ war, „daß sie ihn zu einer volkstümlichen Persönlichkeit gemacht“ hatte, wie seine Söhne Friduhelm und Otto zu berichten wußten (FvR/1903, 201; OvR/1912, 1), so wenig nachhaltig ist sie doch in das große Publikum gedrungen, wie hingegen manch andere ‚Weltgeschichte‘, so Karl von Rottecks ‚Allgemeine Geschichte vom Anfang - 94 -
I/1.8 Die Gunst des Publikums
der historischen Kenntnis bis auf unsere Zeiten‘, 9 Bde (1812-27), von der bis 1866/67 25 Auflagen erschienen waren, vor allem die auch von Ranke intensiv herangezogene, 1844 begonnene 19bändige Schlossersche ‚Weltgeschichte für das deutsche Volk‘, wovon 1909 die 27. Auflage erschien, oder das zuerst 1846 erschienene ‚Lehrbuch der Weltgeschichte mit besonderer Rücksicht auf Cultur, Literatur und Religionswesen‘ von Georg Weber, wovon 1879 die 18. Auflage erschienen war. Rankes ‚Weltgeschichte‘ wurde zunächst in ihren ersten Bänden stark nachgefragt. Dann jedoch ging das Interesse zurück und bald verloren, - ein schnell abbrennendes Strohfeuer, was nicht gegen wissenschaftliche Qualitäten spricht. Daß sie nicht die Popularität erreichte, die Ranke sich von ihr versprochen hatte, hing u. a. mit ihrer geringen empirischen Anschaulichkeit und nicht zuletzt mit der Unbestimmtheit ihrer Zielgruppe zusammen. Man fand, es sei keineswegs leicht, seine Erwägungen zu erkennen, besonders, an welche Leser er eigentlich gedacht habe. Er hätte gut daran getan (wie er auch tatsächlich ähnliches erwogen hat), „seinem Werke einen anderen Titel zu geben, der annähernd durch ‚Ideen zu einer Weltgeschichte‘ ausgedrückt werden könnte“ (Pantenius/1881, 495). Die Tragik: Er hat ein Leben lang wissenschaftlich unter dem Drang seines Öffentlichkeitstriebes gearbeitet, in seiner frühen Sehnsucht „nach dem Öffentlichen“ (s. I, 31) und seinem Wunsch, Wahres und zugleich Angenehmes für „jedermann“ zu bieten, hat zeitlebens die Nähe des Publikums gesucht und dafür wissenschaftlich manches preisgegeben, doch in seiner Breite erreicht hat er es nicht. „… populär kann man ihn eigentlich nicht nennen“, hieß es unter zahlreichen ähnlichen Stimmen in der ‚Deutschen Vierteljahrs Schrift‘ von 1855 (Anonym/1855, 116f.). Und schließlich sah man auch in seiner ‚Weltgeschichte‘ vor allem ein Werk für die „höchstgebildete Welt“ (Horawitz/1881, 102, s. auch I/2.1.3). Bei aller Bewunderung für Rankes Altersleistung lässt sich in diesem mehr als reifen, mit Erfahrungen gesättigten Alter die mit einem guten Quantum Selbstüberschätzung und mangelnder Voraussicht gepaarte Unmäßigkeit seines selbstdarstellenden Publizitätsdranges kaum übersehen. Immerhin stand er bereits im 91. Lebensjahr, als er den sechsten Band der ‚Weltgeschichte‘ beendete, der lediglich bis zur Zeit Ottos d. Gr. reichte, gleichwohl spielte der Greis noch mit dem Gedanken, sein Werk in weiteren Bänden bis zur Reichsgründung hinaufzuführen. Doch damit nicht genug: Als Neunzigjähriger hatte er noch eine Fülle weiterer Pläne. Er beabsichtigte, über seinen ersten italienischen Aufenthalt „künftig einen näheren Bericht zu erstatten“ (4. autobiogr. Diktat, Nov. 1885, SW 53/54, 64). Und nach einer Mitteilung, die Georg Winter von Ernst Ranke erhielt, trug er sich ferner mit dem Gedanken, „im Anschluß an seine Weltgeschichte eine besondere Philosophie der Geschichte zu schreiben, in welcher er die Ideen, welche sich ihm bei der Erforschung der ersteren über das der weltgeschichtlichen Bewegung zu Grunde liegende Princip aufgedrängt hätten, in systematischer Form darzustellen beabsichtigte.“ (Winter: Erinnerungen/1886, 206). Nach dem Abfassen einer vorgeblichen ‚Weltgeschichte‘ ein problematischer Gedanke, denn hätte dies nicht gerade grundsätzliche Mängel letzterer bezeugt! Ja, er hatte gar den kaum nachvollziehbaren Vorsatz gefaßt, wie die Söhne nach seinem Tod anläßlich der üblichen Ordensrückgabe in einer Audienz Kaiser Wilhelm I. zu berichten wußten, seiner ‚Weltgeschichte‘ als - bezeichnenden - Lebensabschluß eine Selbstdarstellung folgen zu lassen, die zweifellos erst nach seinem 100. Lebensjahr erschienen wäre. (FvR. an seine Schwester Maximiliane, unveröff., Archiv Wiehe).
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9. Kapitel (I/1.9) DIE GUNST DER IRDISCHEN UND DER HIMMLISCHEN GEWALTEN Ranke suchte zeitlebens die Nähe zu den beiden höchsten Instanzen, die er zu erkennen und zu kennen glaubte: zur weltlichen und zur himmlischen Herrschaft. Er suchte die persönliche Unmittelbarkeit zu den gesellschaftlich, politisch und staatlich Herrschenden oder zumindest Einflußreichen - und zu Gott. Schon sehr früh erreicht es der aus kleinen Verhältnissen stammende, vor kurzem noch im Stande eines Oberlehrers befindliche, in Körperlichkeit und Auftreten wenig gewinnende Ranke, der „zur Historie die Gunst der Menschen“, und er „ganz besonders“, zu benötigen glaubte (an HR, 29. 1. 29, SW 53/43, 21), in die Nähe der kulturell Einflußreichen und der politisch Mächtigen zu gelangen. Während seiner Frankfurter Oberlehrerzeit hatte er als lebhaft geistreicher Gesellschafter Zutritt zu den großen gastlichen Häusern des Präsidenten von der Reck und des Präsidenten von Wißmann erlangt (s. II,457). In Berlin sodann befindet er sich ohne Verzug im Salon der Rahel Varnhagen und des dort verkehrenden vorwiegend adeligen, ja gelegentlich fürstlichen Kreises, hat Umgang mit Bettina von Arnim und erhält für seine erste große Archivreise Empfehlungen für Friedrich von Gentz, der ihn Metternich vorstellt. Doch ist all dies von minderer Bedeutung im Vergleich zu dem, was ihm durch glücklichen Zufall zweifach zuteil wird. 1829 und 1831 begegnet er den beiden später in Politik und Wissenschaft eine Weile einflußreichsten Persönlichkeiten Deutschlands, den Kronprinzen Preußens und Bayerns, und es gelingt ihm, mehr oder minder, ihre Sympathie zu gewinnen. Kronprinz Friedrich Wilhelm, dem er im November 1828 in der Biblioteca Marciana in Venedig begegnet, behandelt ihn „sehr gnädig“ (an Heinrich Ritter, 29. 1. 29, SW 53/54, 216). Sein Bild hat seitdem seine „Seele sehr erfüllt“ (an Varnhagen, Dez. 1828, Wiedemann: Briefe/1895, 438). „Er war unser aller Meister“, urteilt er später über ihn (Borries/1961, 566). Doch die in Venedig jäh aufsteigende Sorge ist, wie auch Friedrich von Gentz gegenüber, daß seine gerade im Erscheinen begriffene ‚Serbische Revolution‘ als liberales, ja verdeckt aufrührerisches, zumindest politisch inopportunes Machwerk mißverstanden wird: „Gott gebe, daß ihn mein neues Buch nicht disgustirt, weder ihn noch einen andern Wohlwollenden“ (an Heinrich Ritter, 29. 1. 29, SW 53/43, 216). Die Sorge war - zumal auch frühere Kontakte zu Jahn hätten ins Spiel gebracht werden können - nicht unbegründet. Sein Bruder Wilhelm bemerkte in dieser Hinsicht einen deutlichen Wandel, und auch Rankes Protestantismus - in Berlin war das höchst gefährliche Gerücht eines Übertritts zum Katholizismus aufgekommen schien in Wien und Rom tatsächlich gelitten zu haben. Wilhelm schrieb in einer unveröffentlichten biographischen Skizze: „Mit Unterstützung von Seiten des preußischen Ministeriums reiste Leopold auf lange Zeit nach Italien, um alte Archive auszubeuten. Als vollendeter Reaktionair kam er zurück. Bei seinem ersten Besuch in Wiehe sagte er: ‚Die Reformation war ein Raub.‘ Das nahm ihm mein Vater, ein redlicher Protestant, sehr übel.“ (NL WR Rep. 92, NL Geschw. Ranke GStA PK). Nach seiner Rückkehr aus Italien, 1831, hält Ranke Fühlung mit dem preußischen Außenminister Christian Günther Gf. v. Bernstorff und speist dann nicht selten mit dessen Nachfolger Johann Peter Friedrich Ancillon, dem „vornehmsten seiner damaligen Protektoren“ (Wiedemann VI/1892, 108f.): Den Erzieher des preußischen Kron- 96 -
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prinzen hatte er bereits in Italien als dessen Begleiter kennengelernt. Ranke trat somit „in ein sehr nahes und geradezu freundschaftliches Verhältnis zu einigen Spitzen der preußischen Büreaukratie“, dabei v. a. zu dem Direktor im Außenministerium und späteren (seit 1840) Kultusminister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (1779-1856), der zu seiner „täglichen Gesellschaft“ gehörte (SW 53/54, 50). Für ihn war er „von der ersten Begegnung an“, die ebenfalls in Venedig stattfand, „mit Bewunderung und enthusiastischer Verehrung erfüllt.“ (Wiedemann: L. v. R. und Varnhagen/1901, 355). Rankes Bruder Wilhelm weiß davon, wohl mit einiger Übertreibung, zu berichten: „Leopolds Einfluß stand am Höchsten in den 10 Jahren vor 1848. Mit dem Minister Eichhorn war er innig befreundet; Eichhorn that nichts ohne Leopolds Rath; alle die frommen Künste, welche Eichhorn ausheckte - die Freiheit der Forschung, aber nur innerhalb des Katechismus - die Unterdrückung Diesterwegs - die Maßregelung der Seminarlehrer - die Anstellung reaktionairer, sonst unbrauchbarer oder unbedeutender Universitätslehrer - waren Leopolds Werk“ (unveröff., NL WR, Rep. 92, NL Geschw. Ranke, GStA PK). Schon 1836 war Varnhagen aufgefallen, daß Ranke „eine große Schwäche gegen hergebrachte, herrschende, in Glanz und Macht auftretende Meinungen“ zeigte. Er fand: „ ... die politischen und religiösen Ansichten, welche hier am kronprinzlichen Hofe gelten, imponieren ihm unwiderstehlich!“ (Tgb. vom 26. 3. 36 bei (Wiedemann: L. v. R. und Varnhagen/1901, 221). Auch pflegte Ranke den Kontakt zu Leopold von Gerlach (1790-1861), der seinerseits nahezu täglichen Umgang mit dem Kronprinzen hatte (Schoeps/1964), ferner zu dem Sekretär des Kronprinzen und späteren einflußreichen Berater Friedrich Wilhelms IV., Carl Graf v. Voss-Buch (1786-1864), bei dem er im Rahmen des „Klubs in der Wilhelmstraße“ dinierte, sowie mit Joseph von Radowitz, militärischer Lehrer Prinz Albrechts von Preußen und kurzzeitig preußischer Außenminister (Holtz/2003), also wohl der sogenannten ‚Camarilla‘ (Schoeps/1964), jedoch auch mit General Ludwig Gustav v. Thile (Wiedemann: L. v. R. u. Varnhagen/ 1901, 355). Mit Prinz Albrecht verband ihn überhaupt eine „intime“, von Edwin v. Manteuffel vermittelte Bekanntschaft. Der Prinz hat ihn noch im Alter „oft besucht“ (SW 53/54, 634), wobei die Gespräche nicht nur um wissenschaftliche, auch um politische Themen kreisten. Bei ihm war Ranke 1848 zusammengekommen mit Justizminister Karl Albrecht Alexander v. Uhden und Rudolf Maria Bernhard v. StillfriedRattonitz ([v. Müller:] Tagebuchdiktate/1935, 334f.). Ranke hatte sich also vielfältige Verbindungen zu den einflußreichsten Beratern des zur Königswürde aufgestiegenen Friedrich Wilhelm geschaffen. „Die Intentionen, von denen die Regierung auf kirchlichem und politischem Gebiete geleitet wurde, die allgemeine Direktion, die sie einschlug, hatten in der Hauptsache und im Wesentlichen seinen Beifall.“ (Wiedemann: L. v. R. u. Varnhagen/1901, 355). Es läßt sich nicht sagen, daß Ranke später mit seinen politischen Denkschriften großen Einfluß auf Friedrich Wilhelm ausgeübt hätte, doch hat stets ein gewisser Umgang stattgefunden, der sich durch gelegentliche abendliche Lesungen am Hofe und die Übersendung von Dedikationsexemplaren aufrecht erhielt und auch durch Rankes Beziehungen zu König Maximilian und das - seltene - Überbringen vertraulicher Mitteilungen gefördert wurde. Ranke habe „für seine politische Ausbildung das größte Gewicht auf diese seine Beziehungen zu den an ersten Stellen im Staatsdienst, vornehmlich im auswärtigen Ministerium wirksamen Persönlichkeiten“ gelegt, so bemerkt Wiedemann (VI/1892, - 97 -
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108), was sich auch in gelegentlichen Diners bei Justus von Gruner jr. - 1847 bis 1851 vortragender Rat im Ministerium des Äußeren - zeigte. Durch diese Kontakte habe Ranke „Einblick in die Thätigkeit der praktischen Politik, insbesondere in Natur und Wesen der Diplomatie gewonnen, wodurch dann seine spätere historiographische Richtung in ihrem Unterschied von der früheren bestimmt worden sei.“ (Ebd.). Er hat dadurch, wie man hinzufügen muß, nicht nur Einblick erhalten, sondern auch Einfluß, wie etwa seine gutachtende Tätigkeit und seine Gespräche zeigen, und nicht zuletzt einen gewissen Schutz vor öffentlicher Beschädigung von Amt und Werk. Letzteres muß Ranke bewußt gewesen sein, denn Wiedemann zufolge sprach er davon, „daß die zu seinen Lebzeiten aus einer gewissen Scheu zurückgehaltenen Ausstellungen in bezug auf die Weltgeschichte und seine andern Werke nach seinem Tode offen hervortreten, daß dann viel ungünstigere Urteile über seine Geschichtschreibung verlauten würden. Die eben nicht erfreuliche Perspektive ließ indes keinen Mißmut und Arbeitsüberdruß in ihm aufkommen“ (Wiedemann V/1892, 348). Auffallend ist bei der großen Zahl der seinen Werken nicht im einzelnen, aber insgesamt gewidmeten Besprechungen der geringe Anteil fachlich qualifizierter Rezensenten: Führende Historiker haben sich, wohl aufgrund der Gefährdung, der sie sich beruflich oder gesellschaftlich aussetzten, weithin zurückgehalten, nicht so in ihren privaten Lebenszeugnissen. Der zu inniger Servilität neigende und nach Berufung und Reise zu tiefer Dankbarkeit sich verpflichtet fühlende Ranke wurde als williges Instrument geschätzt und eingesetzt, zunächst nach seiner aufwendigen Italienischen Reise als von Heinrich Heine verhöhnter Herausgeber der staatstragenden ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘, sodann eher unwillig als Herausgeber des Briefwechsels Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen - Sybel wußte zu berichten, die Ausgabe sei Ranke „durch die Königin-Witwe nach langem Widerstreben abgepreßt worden“ (an Baumgarten, 11. 4. 73. Deutscher Liberalismus II/1926,77f.) - schließlich als Herausgeber der Denkwürdigkeiten Hardenbergs. Ranke ließ keine Gelegenheit aus, sich zu besonderen Anlässen bei den Mächtigen brieflich bemerkbar zu machen, sei es, daß er Bezug nahm auf Fest- und Memorialtage im Leben der Herrscher, sei es, daß er seine neuesten Werke übersandte oder beides verband. Für seine ‚Serbische Revolution‘ erteilte er aus Venedig zumutende VersandAufträge an die Varnhagens, unter anderem für den Russischen Hof. Doch ist dies vielleicht nicht gelungen. Karl August Varnhagen an Rahel, 12. 2. 29: „Sind die Ranke’schen Exemplare angekommen, so thue damit, wie Du schon vorhattest; durch Herrn von Massow das an den Kronprinzen, das an Herrn Geheimrath Ancillon durch ein Billet; das für Herrn von Humboldt in seine eigne Hand, und der soll auch das für den König besorgen, und den Brief dazu schreiben lassen, wenn er es für gut findet, daß letzterer von fremder Hand sei. Da ich die russische Sendung nicht besorgen kann, so lasse, der anderen Bestimmung nach, das eine Exemplar der Frau von Zilinski [Zielinski, L. W. A. v., spätere v. Treskow], das andere Herrn von Savigny abgeben. Ein nach Paris bestimmtes [wohl für Karl Benedikt Hase, s. SW 53/54, 163 und von Hase/1978] soll noch bei mir liegen bleiben, und eines bleibt ohnehin für mich. Das wären ja die sämmtlichen acht. Für diese Bemühungen soll er Dir ganz besonders danken, oder er ist trotz aller seiner Kenntnisse und Redlichkeit doch ein ...“ (Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense. Briefwechsel zw. Varnhagen u. Rahel, VI/1875, 234f. Auslassung i. T.). - 98 -
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Von seinem 1835 erschienenen einhundertseitigen Aufsatz über ‚Die Venezianer in Morea 1685-1715‘ ließ Ranke Sonderdrucke herstellen, die er an nicht Geringere als Kg. Ludwig I. von Bayern und Kg. Otto I. von Griechenland sandte (s. II, 152). Später trägt ihm sein konsequent geübter Versand von Dedikationsexemplaren allein wenigstens vierzig Dankesbriefe von Kaiser Wilhelm und Kaiserin Augusta ein. Denn es hat einen „ganz besonderen Wert“ für ihn, wenn die Persönlichkeiten, „welche die höchste Stelle in der Gesellschaft einnehmen“, den Beifall der Zeitgenossen teilen (an Ksn. Augusta, [Ende Febr. 1877] (NBrr 642). Groß ist sein Entsetzen, als 1848 das politische System, dem er sich nicht allein durch seine Stellung als ‚Historiograph des preußischen Staates‘ im vollen Wortsinn ‚verschrieben‘ hatte, revolutionär gefährdet wird. Da sieht er sogleich seine eigene Existenz bedroht. Schon zwanzig Jahre zuvor hatte er sich durch die Kritik Heinrich Leos nicht allein wissenschaftlich, sondern auch in seiner bürgerlichen Existenz als gefährdet betrachtet. Um wieviel mehr mußte dies bei den revolutionären Berliner Ereignissen der Fall sein. Er war als „Höfling“ bekannt und so nicht allein von Heine (WW IV, 374f. und V, 377f.), Burckhardt (Schulenburg/1926, 42) und Stenzel (Stenzel, K. G. W./1897, 449) apostrophiert, - hätte, wie er wohl glaubte, bei einem Umsturz Stellung und vielleicht sein Leben gelassen. Zum 28. März 1848 trägt Varnhagen Äußerungen Minna v. Treskows, Rankes Schwarm der Frankfurter Zeit, in sein Tagebuch ein, die dieser, da sie noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden, nicht gern gelesen haben wird: „Ranke ist vollends unsinnig geworden, jammert und wüthet, hält alles für verloren und auf immer, glaubt an völligen Untergang der gebildeten Welt, an Barbarei der wilden Gewalt, so was sei noch nie gewesen. (Der Alfanz will ein Historiker sein!). ‚Bösewichter bewachen den König, der Pöbel herrscht nach Willkür, alle Sittlichkeit, alle Religion ist dahin!‘ (Wegen Eichhorn und Savigny?) Er möchte fliehen, aber weiß nicht wohin! - Feigheit, wie verbreitet ist sie doch!“ (Tgbb. von K. A. Varnhagen v. Ense IV/1862, 355). Bei Wiedemann, der auch unterdrückte Stellen aus Varnhagens Nachlass bringt, schließt der Eintrag mit „Elender Schächer!“ (Wiedemann: L. v. R. u. Varnhagen/1901, 362). Auch Sybel fand ihn „tief erschüttert und gebeugt“ (Gedächtnisrede auf Leopold von Ranke/1886, 478). Ranke ist freilich nicht der Einzige vorübergehend aus der Bahn Geworfene. Auch sein Kollege Schelling, verwöhnt durch noch weit engere Beziehungen zu König Maximilian, „hat alle Fassung verloren; alle Stützen der Gunst und Macht, die ihn hielten, sind zerbrochen“. Varnhagen schildert ihn „so blindwütend, daß er schon lange zu sagen pflegte, das Volk müßte man mit Kartätschen zusammenschießen! Ganz erbärmlich hat auch Ranke sich gezeigt. Solche Stürme prüfen Herz und Sinn! (Varnhagen an Troxler, 5. 4. 48. Der Briefwechsel zwischen I. P. V. Troxler u. K. A. Varnhagen v. Ense/1953, 337). Währenddessen hält Rankes Lieblings-Bruder Heinrich, Konsistorialrat in Erlangen, Predigten, welche von der Überzeugung getragen waren, „daß das Heil des deutschen Volkes nicht in der Revolution, sondern allein in Christo zu finden, und daß der Geist der Revolution mit dem Geiste des Abfalls von Gott ein und derselbe sei.“ (HR/1849, III). Nach dem Scheitern der Revolution zeigt Rankes Umgang mit den Brüdern Gerlach, mit Hans Hugo von Kleist-Retzow und mit Adolf von Senfft-Pilsach, auch die permanente bevorzugte Lektüre sowie höchstwahrscheinlich gelegentliche Mitarbeit, seine Nähe zu der 1848 gegründeten christlich-konservativen ‚Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung und zu der sogenannten ‚Kreuzzeitungpartei‘. Georg Beseler (1809- 99 -
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1888) schildert in seinem ‚Erlebten und Erstrebten‘ (1884, 96) ein entsprechendes Mittagessen bei Otto Frhr. von Manteuffel (1805-1882), damals preußischer Innenminister und kurz vor seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten stehend (Grünthal, G. in: NDB 16/1990), im engeren Familienkreise (1849), an dem außer Beseler Bismarck, v. Kleist-Retzow, Eduard von Simson (1810-99) und außerdem „als Besänftiger Leopold Ranke“ teilnahmen. Ranke findet sich auch, wohl zwischen 1847 und 1850, zu Gesellschaften des konservativen russischen Barons Peter von Meyendorff (17961863) ein, zeitweilig Gesandter in Berlin, später Botschafter in Wien (Hartmann, St. in: NDB 17/1994), versagt sich in ferneren Jahren nicht einer ‚Cour‘ bei Prinz Friedrich Wilhelm v. Preußen, dem späteren Kaiser Friedrich III. (1858), noch weniger einem Diner der Königin-Witwe Elisabeth in Anwesenheit Kg. Wilhelms I. von Preußen (1866). Zu den späteren Bekanntschaften Rankes gehört auch August Graf v. Itzenplitz, an dessen Gesellschaft Ranke (1866) gemeinsam mit dem preußischen Finanzminister Karl v. Bodelschwingh und dem preußischen Innenminister Friedrich Graf zu Eulenburg teilnimmt (E. L. v. Gerlach. Aufzeichnungen II/1903, 290). Wohl ab 1871 genießt er die Tafelrunde des Prinzen Friedrich Karl von Preußen. Unter den deutschen Fürsten pflegt Ranke Beziehungen zu Ghzg. Karl Friedrich und Ghzgn. Maria (Pawlowna) v. Sachsen-Weimar-Eisenach und nimmt in späteren Jahren Tee mit Ghzg. Karl Alexander und Ghzgn. Sophie v. Sachsen-Weimar-Eisenach. Auch von Kg. Georg V. von Hannover wird er empfangen. In die günstige Lage, den bayerischen Kronprinzen Maximilian kennenzulernen, war Ranke, wie bemerkt, bereits unmittelbar nach der Rückkehr aus Italien gelangt, als er unverhofft, wie andere seiner Kollegen, dem bayerischen Thronfolger einige wenige Vorlesungen halten durfte, woraus sich eine in Korrespondenz und längeren Begegnungen immer weiter wachsende persönliche und wissenschaftsfördernde Beziehung ergab, die sich vor allem in der Gründung der Historischen Kommission, in Gutachten zu Lehrstuhlbesetzungen, aber auch im Einfluß auf die historisch-politische Bildung des Monarchen, in geringerem Maße auf sein politisches Handeln auswirkte (s. II/4 u. II/6.5). Rankes Lohn bestand nicht nur in der Möglichkeit der Einflußnahme wissenschaftspolitischer Art, in vielfältigen Vergünstigungen durch Ordensverleihungen und materielle Zuwendungen. Der Monarch zeichnete ihn auch durch besondere Gesten persönlicher Wertschätzung gegenüber den Mitgliedern der Historischen Kommission aus, ja, übernahm die Patenschaft von Rankes Tochter Maximiliane. Zu den ausländischen Kontakten Rankes gehören Gespräche und Vorstellungen bei Kg. Leopold I. von Belgien, eine Vorstellung bei Kgn. Victoria von England und ein Gespräch mit Prinzgemahl Albert, Audienzen bei Ks. Napoleon III., bei Ksn. Eugénie, Ks. Dom Pedro II. von Brasilien, mehrere Begegnungen und vertrauliche Gespräche mit der von ihm ungemein verehrten Kgn. Sophie der Niederlande. Treffen mit dem österreichischen Ministerpräsidenten Friedrich Ferdinand Gf. v. Beust, dem englischen Prime Minister Lord Palmerston, dem italienischen Ministerpräsidenten Carlo Minghetti, dem serbischen Ministerpräsidenten Jovan Ristić und engere Beziehungen zu dem französischen Ministerpräsidenten Thiers seien am Rande erwähnt. Die Bevorzugung und mehr und mehr Ausschließlichkeit, mit der Ranke als Wissenschaftler den Umgang mit dem Adel, mit der Ministerialbürokratie und den Angehörigen der regierenden Häuser suchte und fand, dürfte in solchem Ausmaß ungewöhnlich sein. Zum Bedürfnis wird ihm dies durch eine „natürliche [!] Hingebung gegen die Obern“ (an HR, 12. 10. 32, NBrr 173). „Das Verhältniß also der Unterordnung unter - 100 -
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eine höchste Gewalt - oder das, was die Älteren die Obrigkeit nannten - besteht, freilich mit lebendigem persönlichen Gefühl durchwoben.“ (SW 53/54, 643). Über seine „entschiedene Vorliebe für die ... legitime Monarchie, das starke Königtum“ konnte man anläßlich seines 50jährigen Doktorjubiläums auch öffentlich, in der ‚Gartenlaube‘ lesen ([Giesebrecht?:] Eine goldene Hochzeit mit der Wissenschaft/1867, 102), eine Haltung, die auch im Ausland hinlänglich bekannt war. Adolphe de Circourt sah Ranke mehrmals im März des Jahres 1848 in Berlin und beschrieb ihn so: „il adhérait de cœur à toutes les bases de la monarchie prussienne, convaincu, disait-il, que dans une administration éclairée, telle que l’Etat en avait la possession, la liberté pratique et les lumières de la civilisation trouvaient des garanties complètement suffisantes“ (Circourt I/1908, 131ff.). Diese kulturtragenden - man vergleiche auch seinen Brief an Kg. Wilhelm I. v. Pr., (1. 1. 67, SW 53/54, 472) über den Schutz der Gelehrten - und ihm besonders zugute kommenden Gründe werden auch sichtbar, wenn er im hohen Alter seinem Tagebuch anvertraut: „Meine Sympathien gehörten von jeher der Monarchie an, welche der Kultur eine sichere Grundlage giebt und in die Weltbegebenheiten selbständig eingreift.“ (Betrachtung, Januar 1877, SW53/54, 613). Doch es ist nicht allein dieses Sicherheits- und damit gepaarte Erfolgsdenken, das ihn in die Nähe der Mächtigen treibt. Er hat, so schrieb er schon aus seiner Italienischen Reise an Varnhagen über Kronprinz Friedrich Wilhelm „gute Anlage, ein Anbeter von ihm zu werden“ (Dez. 1828, Wiedemann: Briefe/1895, 438). Varnhagen macht sich denn auch Gedanken um Rankes Servilität, wenn er schreibt: „der vornehme Beifall nimmt ihn ganz gefangen; er macht sich für den Augenblick so servil als möglich. Da er sich doch nie ganz und dauernd servil machen kann, wogegen seine bessere Natur streitet“ - die Varnhagen später weiter zum Schlechten gewandelt sah -, „so wird auch der Erfolg nie vollkommen sein, und die Befriedigung der Eitelkeit schwerlich eine Befriedigung des Ehrgeizes werden.“ (Varnhagen an Bettina v. Arnim, 11. 2. 33, Wiedemann: L. v. R. und Varnhagen/1901, 219). Rankes servile Haltung bleibt auch anderen nicht verborgen: Eduard von Simson hat er einmal anvertraut, „wie besonders genehm ihm immer der Verkehr mit hochgestellten Persönlichkeiten gewesen“ sei (Spiero/1929, 63), was sich auch deutlich in seinem Briefwechsel ausspricht (s. II/3.1. Frau von Treskow ergießt sich Varnhagen gegenüber „in Unwillen und Verachtung über Ranke“, verurteilt die „Züge seiner unterwürfigsten Anbetung der Vornehmen, auch der dümmsten und verächtlichsten“ (12. 5. 55, Wiedemann/1901, 364). Es ist der auf ihn selbst herniederfallende sakrale Glanz vermeintlich gottverliehener, geschichtlich tief verwurzelter Legitimität und irdischer ‚Allmacht‘, der ihn anzieht und fesselt, und der er gerade in der Person seines verehrten Königs in besonderem Maße begegnet, verfügte dieser doch über „ein deutliches, nicht ohne Überheblichkeit sich äußerndes Bewußtsein seines hohen, von Gott ihm verliehenen Amtes“ (Borries: NDB 5/1961), ein Bewußtsein, das auch Maximilian II. nicht fremd war: Noch zwei Tage vor Rankes Eintreffen zu einer Einladung nach Berchtesgaden hatte Maximilian eine sorgsam selbstbestätigende Niederschrift verfaßt: „Ueber die Bezeichnung ‚von Gottes Gnaden‘, in der ihm „klar geworden, daß eine Autorität seyn muß und von Gott eingesetzt ist“ (unveröff., GHAM Kabinettsakten Maximilians II. 36a), ein Thema, das Ranke in seinem Vortrag vor Maximilian aufgriff (St in WuN II, 417f.). Verehrungswürdiges Gottesgnadentum wird auch in der sakrosankten Leiblichkeit ihrer hohen Träger faßbar. Ein erwähnenswertes, gewiß beglückendes Erlebnis vermel- 101 -
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det Ranke im Herbst des Jahres 1854 aus Berchtesgaden nach Hause: „Ich berührte die Hand der Großherzogin von Mecklenburg-Schwerin“ (an CvR, 6. 10. 54, SW 53/54, 369). Dies mag einer Segnung gleichgekommen sein. Mehr noch: Maximilian legt ihm - in der Tat ungewöhnlich auszeichnend - im Gebirge bei Berchtesgaden seinen eigenen Mantel um (an CvR, 22. 9. 54, SW 53/54, 363), reicht ihm eine „späte Alpenrose“ (an CvR, 27. 9. 59, SW 53/54, 402). Der Berührte hofft, sie nach Berlin verbringen zu können. Dort, während eines Spaziergangs im Tiergarten, führt er im Beisein von Großherzog Friedrich I. von Baden und Gemahlin Luise mit Kaiserin Augusta in teilnahmsvoller Zugehörigkeit ein Gespräch über das Befinden Kaiser Wilhelms nach dem Nobilingschen Mordversuch und läßt in seinem Tagebuch nicht unerwähnt, daß Augusta ihm die Hand gereicht habe (16. 6. 78, SW 53/54, 620), erwähnt dies auch in einem Brief an seine Tochter (hier zunächst über die begleitende Großherzogin von Baden: „Sie reichte mir die Hand, wie auch die Kaiserin“. ‚Darf auch ich Ihnen die Hand reichen?‘, habe der Begleiter beider Damen sich vorstellend gebeten: ‚Großherzog von Baden‘. Eine liebenswürdig bescheidene Geste, die wohl ein Erschauern bewirkt haben dürfte (NBrr 662). Diese ‚Handreichungen‘ fürstlichen Umgangs sind nicht die einzigen Formen von Gnade und Gunst. Durch seine Ernennung zum ‚Historiographen des preußischen Staates‘, seine Mitgliedschaft im preußischen Staatsrat, seine vielfältigen Beziehungen zu Hof und hohem Beamtentum, seine Wahl zum Mitglied des Ordens ‚Pour le mérite‘, seine Nobilitierung, die Ernennung zum Geheimrat und die Verleihung des Titels ‚Exzellenz‘ ist Ranke über seine - nach Ablehnung des Münchener Rufes - in exorbitanter Höhe dotierte Professur und seine Akademiemitgliedschaft hinaus ein Teil Preussens, des herrschenden Systems und der herrschenden Klasse geworden. Mit der Verleihung des Titels ‚Exzellenz‘ wurde Ranke, wie er dankend Kaiser Wilhelm I. gegenüber fomulierte, „in die höchste Rangklasse“ erhoben, „die der Civildienst überhaupt darbietet.“ (13. 2. 82, SW 53/54, 549). Da konnte er es sich nicht versagen, Teile des persönlichen Glückwunschschreibens Kaiser Wilhelms zur Verleihung des Titels ‚Exzellenz‘ ohne die Genehmigung des Hofes an die Presse zu geben, wofür er sich in einem Brief vom 13. 2. 82 - unentschuldbar - zu entschuldigen versuchte (SW 53/54, 550). Er hatte nun alles erreicht, was er als einfacher Untertan hatte erreichen können, zugleich manches, was er als Historiker hätte meiden müssen, um seine Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu bewahren. Alfred Dove hat Rankes Einstellung in einer feinsinnig kritischen Charakterisierung gewürdigt: „... auf der Höhe fürstlichen Umgangs fühlte er sich durch den Standpunkt seiner Geschichtschreibung gewissermaßen heimisch.“ (D[ove]: Ranke, Leopold v. (1888)/1898, 185). Schon mit seinen ‚Fürsten und Völkern‘ hatte Ranke in dieser Hinsicht kritische Stimmen heraufbeschworen, die in dem Werk des „Hofmannes“ nach dem Verbleib der im Titel neben den ‚Fürsten‘ genannten ‚Völker‘ gefragt hatten ([Köppen]/1841, Sp. 432). Einen „Hofmann“ hatte ihn auch Stenzel genannt (Stenzel/ 1897, 449), und Karl Gutzkow sah ihn als „Hofmann der Historie“ an (Gutzkow/1857, 399). Im Leben wie in der Historie finden die Herrschenden sein vorrangiges, ja fast ausschließliches Interesse. So auch in seiner mehrfach herangezogenen ‚Preußischen Geschichte‘, deren erster Band nach der 1841 erfolgten Ernennung zum ‚Historiographen des preußischen Staates‘ 1847 erschien. Sie verdiene, wie Theodor Mundt empfand, als „preußische Kabinettsgeschichte“ nicht den Namen einer „preußischen Staatsgeschichte“ (Mundt/1847,688), und selbst dies wäre zu wenig gewesen. - 102 -
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Zum Historiographen des preußischen Staates war Ranke von Friedrich Wilhelm IV. bei dessen Regierungsantritt ernannt worden „unter der Bedingung, daß derselbe Uns und Unserm Königlichen Hause jederzeit treu und eifrig ergeben bleibe, und die Pflichten seines Amtes mit Sorgfalt und Fleiß, rein und gewissenhaft zu erfüllen suche, überhaupt aber, so viel er vermag, zum Wohl des Staats, Unsers Königlichen Hauses und unsrer getreuen Unterthanen beitrage.“ (Unveröff., s. II, 204, Rudolstadt). Da konnten sich leicht Konflikte einstellen. Ob und wie tief sie für Ranke fühlbar wurden, bleibt wohl ungewiß. Erstaunlich ist die von einem bereits herangezogenen anonymen, gut informierten Teilnehmer an Rankes ‚Historischer Gesellschaft‘ - also nicht in einer öffentlichen Vorlesung - in ihrer Art ansonsten nicht überlieferte Äußerung Rankes, „es ist oft eine verzweifelte Sache, in einer Monarchie Geschichte zu schreiben“ ([Anonym:] Leopold von Ranke’s Verdienst um Berlin/1885, unpag.). Seinen Darstellungen ist diese Verzweiflung jedenfalls nicht anzumerken. Julian Schmidt sprach wohl eine allgemeine Empfindung aus, als er in seiner ‚Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert‘ urteilte: „Noch schlimmer hat seine Pietät ihm bei der Preußischen Geschichte mitgespielt“, 379). Selbst dort, wo Ranke „Streben nach Objectivität“ zugebilligt wurde, empfand man in seiner ‚Preußischen Geschichte‘ auch von fachlicher Seite doch ein unverhohlenes Zurschaustellen „streng altpreußischer, streng hohenzollernscher, streng königlicher Gesinnung“ (Prutz: R über die Genesis/1875, 214). - Auch David Friedrich Strauß kam nach der Lektüre des Werkes zu dem lapidaren Befund: „Ranke ist ein Hofhistoriograph geworden“ (Strauß an Ernst Rapp, 11. 11. 49. Ausgew. Briefe/1897, 251f.). Da nimmt es nicht wunder, daß der Gescholtene in diesem Punkt eine gewisse Dünnhäutigkeit an den Tag legte, denn daß zwischen seiner Ernennung zum Historiographen des preußischen Staates und seinen ‚Neun Büchern preußischer Geschichte‘ „irgendein Zusammenhang bestände“, habe Ranke, so erinnerte sich sein Amanuense Ignatz Jastrow, „auf das Entschiedenste bestritten“ (Jastrow: Leopold von Ranke†/1886, 490). Auch den gelegentlich laut werdenden Vorwurf, „er schreibe Geschichte zu gunsten der Fürsten und Höfe“, wies Ranke sogar in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1864 in „heftiger Erregung“ zurück (Lindner/1896, 1). Tatsächlich aber ging es in seiner ‚Preußischen Geschichte‘ auch darum, wie Ranke selbst mit Genugtuung äußerte, den „übel berufenen“ Friedrich Wilhelm I. „von einer würdigen und bewunderungswerthen Seite“ zu zeigen. Dies jedoch äußerte er lediglich in einem unveröffentlichten autobiographischen Diktat (Nov. 1885, SW 53/54, 74). Und er schmeichelte sich in einem Dedikationsbrief an Ks. Wilhelm I. vom 4. 12. 71, „die Geschichte der Politik weiland Sr. Majestät König Friedrich Wilhelms des Zweiten besser in das Licht gestellt zu haben, als es bisher geschehen war. Ich folge damit der mir einst von Ew. Majestät zuteil gewordenen ehrenvollen Aufforderung, meine Kräfte wieder der vaterländischen Geschichte zu widmen“ (NBrr 568). Kein anderer bedeutender deutscher Historiker des 19. Jahrhunderts dürfte sich in einem derart starken Maße den Herrschenden ‚an-gedient‘ haben wie Ranke. Er hat die Nähe und Gunst gesucht, und er hat sich in den erreichten Verbindungen und Bindungen teils behauptet, teils behaglich verfangen. Die damit gegebenen Möglichkeiten hat er genutzt, die Gefahren und Zwänge entweder nicht gesehen oder zumindest doch unterschätzt, so besonders seine Verpflichtung als Historiograph des preußischen Staates. Bei Varnhagen von Ense ist von der negativen Seite des Verhältnisses die Rede, wenn er schon 1850 über Raumer, Ranke, Schlosser den Stab bricht: „sie taugen alle - 103 -
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nichts, sind Knechte, wie unsre meisten Gelehrten. Die letzten dreißig Jahre waren eine schlechte Schule für sie, alle die emporkamen, die Namen, Titel, Gunst erlangten, mußten heucheln und schmeicheln, und sie lernten es leicht. Preußen besonders war eine Kastrieranstalt; wer einige Mannheit bewahren wollte, mußte ausscheiden, so Wilhelm v. Humboldt, Boyen, Grollmann, Beyme, und ich darf auch mich hier nennen.“ (Tgb. Varnhagens zum 20. 1. 50 bei Wiedemann: L. v. R. und Varnhagen/1901, 363). - Ranke empfand dies ganz anders: Im neunzigsten Lebensjahr verlieh er rückblickend seiner Begeisterung Ausdruck: „Wie blühte hier Alles auf unter dem Schutz der Hohenzollern! Es war eine Lust zu leben!“ (Anonyme Notiz betr. die Verleihung des Ehrenbürgerbriefes. In: 3. Beil. z. Voss. Ztg., Nr. 153, 1. 4. 1885, keine Pag.). Zwischen Ranke und den weltlichen Mächten war eine Symbiose entstanden. Die Gunst, die er historiographisch und gesellschaftlich gesucht hatte, war ihm gewährt worden, denn er hatte monarchie- und staatserhaltend gewirkt, wie Reinhold Pauli erkannte: „In fact, the Hohenzollern dynasty, among other pieces of good luck, has reason to rejoice in the possession of its historiographer royal.“ (Pauli/1872, 195). Rankes „natürliche [!] Hingebung gegen die Obern“, mit der er auch seinem Karrierismus eine höhere Deutung zu geben suchte, hat sich ausgeprägt in seinen der Aristokratie zugewandten Lebensformen, seinen stark konservativen Anschauungen, in der Wahl seiner Themen, in der Art seiner aus der Perspektive der Herrschenden gestalteten machtorientierten und überhaupt politiklastigen Darstellung. Sein grundsätzliches Streben nach Objektivität soll nicht in Abrede gestellt werden. Doch hält es sich besonders in seinen preußischen Werken nicht auf größerer Höhe. Dort wurde auch bewußt und in noch stärkerem Maße als in seiner ‚Deutschen Geschichte‘ und den ‚Päpsten‘ (s. o.) manches beschönigt und beschwiegen. Letztlich hat er sich den Einflüssen des Systems nicht entgegengesetzt oder innerlich entzogen, sie vielmehr geradezu verinnerlicht. Wie sehr dies für sein Preußentum und seinen Monarchismus gilt, wird aus einer Ansprache seines Sohnes Otto am Sarg Rankes „in der Wohnung des Verewigten vor einem kleinen Kreise der Verwandten und Freunde“ noch einmal besonders sichtbar: Hier wird „seine Liebe, seine Verehrung zu unserem Herrscherhause“ über alle Maßen gerühmt: „einen königstreueren Unterthan konnte es nicht geben! Mit ganzer Seele war er der Historiograph des preußischen Staates.“ (Zu Leopold von Ranke’s Heimgang/1886, 25). Es entbehrt nicht einer traurigen Ironie, daß Rankes Dienstbarkeit gerade bei den Mächtigen, so bei Kaiserin Victoria, Verachtung hervorrief. An Friedrich Nippold schrieb sie nach Rankes Tod: „Prof. Ranke hat das Leben Friedrich Wilhelms IV. behandelt - wie der hiesige Hof es w ü n s c h t e . Ähnliche Bücher sind nun mit Autorisation über den Kaiser Wilhelm erschienen ... Alle diese Darsteller sind aber streng konservativ und kirchlich orthodox - darum e i n s e i t i g ...“ (an Friedr. Nippold, 22. 1. 98, Nippold/1906, 427f., Sperr. i. T.). Nicht gänzlich unrealistisch, wenn auch kaum von modestas geprägt, war Rankes Selbsteinschätzung hinsichtlich seines Ranges unter den Zunft- und Zeitgenossen. „Ranke wohnte das Bewußtsein inne, in die erste Reihe der großen Schriftsteller aller Zeiten und Nationen, insbesondere der Geschichtschreiber zu gehören“ (Wiedemann XIV/1893, 346). Wiedemann hat seine Aussage indes gesteigert präzisiert: „Daran ist nicht zu denken, dass Ranke einen Geschichtschreiber der Gegenwart, insbesondere einen Deutschen, als ihm selbst ebenbürtig oder irgendwie auch nur mit ihm in Vergleich zu stellen angesehen, neben sich als dem Goethe der historischen Muse der Deutschen einen Schiller der deutschen Geschichtschreibung wahrzunehmen geglaubt - 104 -
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habe“ (ebd., 348). Daß der stets zu Scherzen aufgelegte Ranke sich am 31. März 1885 vor einer Berliner städtischen Deputation unter Hinweis auf den ihm von Serbien verliehenen Orden des Hl. Sabbas als „Homer der Serben“ bezeichnete ([Anonym:] L. v. R. und die Stadt Berlin/1895), mag mit einer Prise Selbstironie einhergegangen sein, doch war die Vorstellung in seinem Kopf. Seine zu allen Zeiten, mit besonderer Deutlichkeit bei seiner ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘, aufgetretene Selbstüberschätzung ließ ihn auch und gerade im Alter nicht los: So soll er über ‚Ursprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792‘ seinem Gehilfen Paul Bailleu gegenüber maßlos geäußert haben: „Das Buch ist von einer Importanz, daß dadurch die ganze Auffassung der neueren Geschichte umgestaltet wird.“ (B[ailleu]: L. v. R./1895, 2), eine Ansicht, die man freilich nicht teilte. Bailleu, der von Rankes ‚Hardenberg‘ „zuletzt ausschließlich in Anspruch“ genommen war, weiß ferner zu berichten, Ranke habe die Bedeutung auch dieses Werkes hoch angeschlagen und gemeint, „daß schwerlich je eine Veröffentlichung erschienen sei, die so viel neues enthalte.“ (Ebd., 2). Die Hochschätzung seiner Hervorbringungen, welche überhaupt ein ungutes Licht auf sein nicht selten zum übertreibend Superlativischen neigendes historiographisches Urteil wirft, hatte nicht allein wissenschaftliche Gründe. Sein „Selbstgefühl, das er lebendig in sich trug...“ (Wiedemann XIV/1893, 347), seine Arbeit als Historiker und zugleich seine Sicht der Geschichte waren vielmehr getragen von im einzelnen freilich kaum zu bestimmenden transzendenten Einstellungen. Jedenfalls hatte die Herausgabe seiner Werke für ihn „auch ein höheres, an die göttlichen Dinge streifendes Interesse“, wie er sich nicht scheute, seinem Verleger mitzuteilen (Brief an Geibel, 2. 11. 77, SW 53/54, 538, bei Geibel/1886, 108: 2. 10. 77). Er faßte, so wird von seinen Amanuensen bezeugt, „seine wissenschaftliche Arbeit ... als eine Art religiöser Mission“ auf (Winter: Erinnerungen/1886, 204). Das bestätigt auch Paul Bailleu: „Denn wie er seine eigene wissenschaftliche Arbeit als eine Art religiöser Mission immer auffaßte, so erschien ihm auch unsere Unterstützung dabei, insofern sie ihm unentbehrlich war, im Lichte einer hohen sittlichen fast religiösen Pflichterfüllung.“ (B[ailleu]: L. v. R./1895, 1). Es entspricht nicht ausschließlich einem Sich-Einstellen auf das Priestertum seines Sohnes Otto, wenn er diesem schreibt: „Die historische Wissenschaft und Darstellung ist ein Amt, das sich nur mit dem priesterlichen vergleichen läßt, so weltlich auch die Gegenstände sein mögen, mit denen sie sich eben beschäftigt“ (an OvR, 25. 5. 73, Dove: Erinnerungen/1895, 874). Diese hohe Vorstellung eines priesterlichen Historikers hatte er schon in frühen Jahren gehegt, als er an seinen Bruder Heinrich schrieb: „Wohlan! Wie es auch gehe und gelinge, nur daran, daß wir an unserm Theil diese heil’ge Hieroglyphe enthüllen! Auch so dienen wir Gott, auch so sind wir Priester, auch so Lehrer.“ (Ende März 1820, SW 53/54, 90). Das zu etwas Bestimmtsein, Erwähltsein, sein Priestertum ist eine von ihm mehr und mehr vorgenommene sakralisierende Selbst-Auszeichnung höchster Art, Rechtfertigung und Krönung seiner Hybris und Beglaubigung seiner Forschungsergebnisse und der verkündeten ‚Wahrheit‘. Trotz gelegentlich auftretender einschränkender Bemerkungen (s. I/1.7) glaubt er sie wohl doch überwiegend zu besitzen, denn er sieht seinen wissenschaftlichen Werdegang, sein Leben getragen von der göttlichen Vorsehung. So kann Ranke, der Historiker, als „Priester“, als Berufener, zumal von der Vorsehung Geleiteter, nur frei von Irrtum sein und findet sich durch die Gunst der weltlichen und der himmlischen Gewalten nach allen Seiten hin, existenziell wie erkenntnismäßig, gesichert, herausgehoben, transzendiert, obgleich er, wie sein Bruder - 105 -
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Wilhelm urteilte, der als Regierungsrat in Breslau Schriften über ‚Die Verirrungen der christlichen Kunst‘ (Breslau 1855, 2. verm. Aufl. Breslau 1855, 3., verm. Aufl. Lpz. 1856) und ‚Die Verirrungen der christlichen Welt‘, (Lpz. 1857) verfaßt hatte, „niemals in die Kirche gegangen“ sei und „niemals Sinn für Religion gehabt“ habe: „Aber von anderen Leuten verlangte er Pietismus“ (unveröff. NL WR. Rep. 92, NL Geschw. Ranke, GStA PK). Göttliches Walten nimmt Ranke in sich selbst als fördernd und leitend wirksam wahr, zunächst auch im Weltgeschehen: In seinen frühen Studien glaubte er „das unmittelbare Walten, sichtbare Handeln Gottes wenigstens von fern gesehen“ zu haben (Brief an Heinrich Ranke, 18. 2. 24, SW 53/54, 122). „...zur Erkenntniß des lebendigen Gottes, des Gottes unsrer Nationen und der Welt sollen alle meine Sachen gereichen“ (an HR, 17. 2. 25, SW 53/43, 140). Hier stellt er seine Werke gar in den Dienst einer missionierenden Verbreitung. Er ist „der Allgegenwart Gottes gewiß“ und meint, „man könnte ihn bestimmt mit Händen greifen“ (ebd., 139). In seiner Historiographie ist davon später weniger die Rede. Sich selbst jedoch sieht er auch fürderhin unter dem Einfluß der göttlichen Vorsehung, auch wenn er einem Irrtum erliegt: „Gott hat mich eigens zum Cölibat bestimmt“, schreibt er ein Jahr vor seiner Hochzeit an Bruder Ernst (1. 9. 42, Hitzig/1906, 185). Die bestimmte Aussicht auf eine außerordentliche Professur an der Berliner Universität veranlaßt ihn zu der Aussage: „Laß mich denn glauben, daß auch in dem ersten glücklichen Beginn meines Eintrittes in die Welt Gottes Hand ist“ (an HR, 17. 2. 25, SW 53/54, 139). Jedenfalls weiß er sich auf dem Wege, den Gott ihm „vorgeschrieben“ hat (an HR, [20. u. 21. 11. 28], SW 53/54, 211). Auch lebt er in der sich als allzu eingeschränkt erweisenden Überzeugung, „für deutsche Geschichte geboren“ zu sein...“ (an Varnhagen, 9. 12. 27, Helmolt/1921, 40), ja, sie ist ihm als „Aufgabe ... schon angewiesen“, teilt er ungescheut dem Direktor im preußischen Außenministerium, Johann Albrecht Friedrich Eichhorn, mit (13. 3. 38, Helmolt: Verschollener polit. Aufs./1907, 563). Nach Erlangung des Ordinariats und der Akademie-Mitgliedschaft sieht er sich durch „himmlischen Auftrag“ in eine „wichtige Stellung in Literatur und Unterweisung“ versetzt. Diese „ganz auszufüllen und die Idee, die mir als ein himmlischer Auftrag und Besitz gegeben worden, rein auszuarbeiten, das allein soll mein Ehrgeiz sein.“ (An HR, 15. 12. 33, NBrr 184). „Ich danke Gott täglich, daß er mich an diese Stelle geführt, mir diesen Beruf angewiesen hat“ (an HR, 26. 11. 35, SW 53/54, 277). Er kann es nicht oft genug beteuern: „...mein ganzer Ehrgeiz geht dahin, die Stelle auszufüllen, wohin mich Gott gestellt hat.“ (an HR, 24. 11. 39, ebd., 310). Für seine Buchproduktion ist viel „Segen himmlischer Gewalten ... vonnöten“, zumal, damit es gelinge, „in einem Jahr in sechs Bänden“ zu erscheinen (an FR, 6. 10. 52, NBrr 351). Auch später ist Gottes Segen bei neuen Werken erwünscht (an Geibel, 19. 1. 74, Geibel/1886, 57). Über die zur Vollendung seiner ‚Weltgeschichte‘ noch erforderlichen Lebensjahre hat er gar „einen Pact mit Gott gemacht“, wie er wiederholt sagt (Dove/1888, Zitate nach Dove/1898, 183). Dies erinnert über das noch zu betrachtende Moses-Vorbild hinaus an die Umgangs- und Vertragsformen einer zu beiderseitigem Nutzen abgeschlossenen Partnerschaft und entspricht wiederum der theologisch hochproblematischen, „unerschütterlich“ festgehaltenen Auffassung, die in einer ausschließlich persönliche Vorteile gewährenden Vorsehung die „Summe alles Glaubens“ erblickt (an OvR, 25. 5. 73, Dove: Erinnerungen/1895, 874). Dieses Gefühl nicht nur einer Unmittelbarkeit seiner Person zu Gott, nicht nur eines noch engeren Geleitetseins, gar eines Beauftragtseins, ja einer Partnerschaft ist Aus- 106 -
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druck einer ins Religiöse hinein zugleich gesteigerten wie sublimierten Ichbezogenheit und Selbstüberschätzung. Sie ist gleichwohl nicht allein von religiöser, sondern auch von allgemein geistiger und geistesgeschichtlicher Natur: Hatte Ranke sich in seinen frühen Jahren mit Columbus und Cook verglichen, so im Alter mit dem einzigen Philosophen, den er schätzte und den er für den bedeutendsten hielt, mit Plato. Das versichert nicht allein Theodor Wiedemann (Wiedemann/1893, XIV, 346; s. auch WG I/2, 80). Rankes Amanuense Paul Bailleu attestierte Rankes Geist im Alter „...gewiß noch die Kraft des Verständnisses, der Erkenntniß und der Anschauung in dem höchsten Maße, das dem Menschen überhaupt beschieden ist. Er verglich sich hierin gern mit Plato, in dem er die höchste Intellektualität des Alterthums verehrte.“ (B[ailleu]: L. v. R./1895, 1). Dies trug nicht nur hybride Züge, sondern stellte zugleich eine exzessive geistesgeschichtliche Blasphemie dar, die jedoch noch weiter reichte: „Eine der Lieblingsvorstellungen Ranke’s war es..., daß er im Jenseits mit den auserlesensten Geistern aller Epochen in Gedankenaustausch treten, von ihnen ihrer Gemeinschaft gewürdigt und als ihresgleichen betrachtet werden würde.“ (Wiedemann XIV/1893, 346f.). Auch König Maximilian II. von Bayern, über dessen geheimem ‚Sanctuarium‘ in der Münchener Residenz, seinem wertvolleren Charakter entsprechend, der wesentlich bescheidenere diesseitige Spruch stand Vivere cum immortalibus (Kohut, Adolf: König Maximilian II. von Bayern und der Philosoph F. W. J. Schelling. Lpz. 1914, 34), glaubte er im Jenseits wieder zu begegnen (SW 53/43, 427). Ranke jedenfalls erstrebte Unsterblichkeit auf höchstem Niveau, ein nicht endendes Fortwirken im Jenseits, eine unio mystica nicht mit Gott oder der Gottheit, davon war keine Rede, sondern eine unio intellectualis et spiritualis im Olymp der großen Geister aller Zeiten. Doch Rankes Hybris war noch einer weiteren, fachbezogenen Steigerung fähig. Bei seinem fünfzigjährigen Doktorjubiläum, am 20. Februar 1867, sah er sich in einer Ansprache nicht allein als große, sondern als entscheidende wissenschaftliche Führerpersönlichkeit: „Ich blicke wie Moses in das gelobte Land einer zukünftigen deutschen Historiographie, wenn ich es auch nicht sehen sollte, in der sich das vollenden wird, wonach ich zeitlebens gestrebt, und was ich auf andere zu übertragen gesucht habe.“ (SW 51/52, 591). So ist er auch zum Seher geworden. Moriz Ritter hat es erlebt: „Blitzartig durchleuchtete er all|tägliche Gegenstände mit bedeutenden, oft nur halb ausgedachten Gedanken, und wenn sich das Gespräch zu idealer Höhe erhob, so redete er wohl wie ein Seher, über den die Inspiration kommt.“ (Ritter, Moriz/1896, 12f.). In seiner ‚Deutschen Geschichte‘ kannte er noch „die Geschicke Gottes in der Welt“ (DtG I/1839, 81). Sein Sehertum macht sich in den Berchtesgadener Vorträgen vor Maximilian II. von 1854 desgleichen unhaltbar, doch nunmehr verheißungsvoll mystifiziert, universell geltend: Er sieht die Menschheit, der eine „unendliche Mannigfaltigkeit von Entwickelungen“ innewohne, die „nach und nach zum Vorschein kommen nach Gesetzen, die uns unbekannt sind, viel geheimnisvoller und größer, als man denkt, weit entfernt von einem Ende.“ (St in WuN II, 67). Der unwissend Wissende weiß um diese Gesetze, zumindest um ihr Bestehen, ihr Geheimnis und ihre Größe. - Als „letztes Resultat“ historischer Forschung sah er in einer nachgelassenen Aufzeichnung an: „Mitwissenschaft des Alls“ (SW 53, 569), was sich in gnoseologischer Gottgleichheit als höchste Stufe geschichtswissenschaftlicher Hybris deuten läßt.
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2. Teil RANKE IN DEUTUNG UND SELBSTBESINNUNG DES GESCHICHTSDENKENS (I/2)
EINFÜHRUNG (I/2.0) Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Ranke in seiner und in späterer Zeit kann weithin Neuland betreten werden, da über seine Wirkungsgeschichte außer einigen im Folgenden betrachteten stark eingeschränkten, überwiegend auslandsbezogenen Darstellungen häufig realitätsferne Betrachtungen angestellt wurden. Man mutmaßte, Rankes „lebendige Wirkungsgeschichte“ habe bei seinem Tod „kaum mehr als ihren Anfang genommen“ (Hansen/1986, 6), ja hinsichtlich der „Rankeliteratur“ überhaupt war man der völlig unbegründeten Meinung, sie habe erst „Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre“ eingesetzt (Berthold/1989, 599). Die Hochschätzung Rankes, so glaubte man im Gegensatz dazu dramatisch feststellen zu sollen, sei nach seinem Tod so weit gegangen, „daß eine ausführlichere Beschäftigung mit seinem Werk überhaupt ganz unnötig erschien (ja, überspitzt formuliert, dies sogar gefährlich, zumindest dysfunktional gewesen wäre - denn Mythen kann man bekanntlich nicht mehr diskutieren, ohne sie zu zerstören). Die Ausklammerung Rankes war gewissermaßen Programm (so bei Meinecke).“ (Blanke: Entstehung/1994, 63). Dies mag zurückgehen auf eine Äußerung des Ranke-Forschers Hans Ferdinand Helmolt, der geurteilt hatte, die Kritik an Ranke habe „ungefähr seit 1860 auch im Auslande nahezu stillgeschwiegen: sie beugte sich vor der anerkannten Meisterschaft des Doyens der Geschichtswissenschaft. Und nach seinem Tode verharrte man dabei“ (Helmolt/1921, 161), ein - wie vorliegendes Werk zeigt - krasses verbreitetes Fehlurteil. Ein wiederum anderes Urteil lautete: „die Enkelgeneration wandte sich seit 1890 wieder bewußter Ranke zu“ (Kupisch: Hieroglyphe/1949, 190, A. 1). Doch man mutmaßte auch, in den zwanziger Jahren habe die „deutsche Historikerzunft“ sich seiner Wirkung „immer wieder zu entziehen versucht, „zunächst vereinzelt und weitgehend folgenlos“ (Hardtwig/1996, 27). Gänzlich unzutreffend ist auch die ‚Feststellung‘, Ranke sei „im Dritten Reich alles andere als populär“ gewesen (so Schleier/1994, 71. Siehe dazu I/2.4). Die Gründe der Wissensdefizite und -unterschiede bei durchaus vorhandenem Interesse an der Geschichte der Geschichtswissenschaft und des allgemeinen historischen Denkens liegen vor allem in seiner höchst theoretischen Ausrichtung und damit geringen empirischen Ausstattung, das heißt, in der geringen Kenntnis des entsprechenden Schrifttums in seinen vielfältigen Facetten. Suche und Auswertung wurden bisher nur ansatzweise durchgeführt. Symptomatisch für die deutende Behandlung des Themas ‚Ranke‘ ist die permanent gepflogene extreme Bevorzugung der von allgemeinen Eindrücken und besonderen Anlässen getragenen Gattungen ‚Essai‘ und ‚Rede‘, wodurch oft nicht nur eindringlichere, nachweisende Untersuchungen entfallen, sondern häufig auch unangemessene Zu- und Überspitzungen, metaphorische Unbestimmtheiten und emphatische Bestimmtheiten zum Ausdruck kommen. Bei der nach seinem Tod fortgeführten Auseinandersetzung ist festzustellen, daß die kühnsten und entschiedensten Urteile und Theorien - wie üblich - überwiegend von Autoren gefällt bzw. aufgestellt werden - und dies gilt auch für Fachhistoriker -, welche nicht der geringen Zahl der unmittelbar an seinem Werk tätigen oder orientierten Forscher zuzurechnen sind. Insofern geht es dabei seltener um die Erkenntnis Rankes als um seine Hilfe bei der - durchaus legitimen - Eigen-Orientierung und bei der Deutung der Historiographie- und allgemeinen Geistesgeschichte, nicht selten wohl auch um eine pauschale Instrumentalisierung zum Zwecke der Selbstdarstellung und der Selbstbestätigung bzw. Kritikabweisung. - 111 -
I/2.0 Deutung und Selbstbesinnung - Einführung
Lediglich zu einer geringen Entschuldigung dient der extrem lückenhafte Zustand der vor über hundert Jahren erschienenen, damals für vollständig gehaltenen (Fueter: Bespr./1910) Ranke-Bibliographie des Ranke-Forschers Hans Ferdinand Helmolt. Bezeichnend für das dort geschaffene geringe Fundament ist: Den fünfzehn von Helmolt nachgewiesenen zeitgenössischen Besprechungen stehen in vorliegendem Werk fünfhundert gegenüber (s. II/9.1). Ähnliches gilt für andere wirkungsempfängliche und -dokumentierende Gattungen, wie Diaristik und Korrespondenz. Eine tatsächliche Schwierigkeit ergibt sich aus dem Umstand, daß von Ranke vieles beschwiegen oder uneindeutig zurückgelassen wurde, zudem sein Werk in Ausdehnung und Zeitschichtung nur schwer zu erfassen oder gar zu durchdringen ist. Auch hat er sein eigenes Verhältnis zum zeitgenössischen Geschichtsdenken lediglich in sehr geringem Maße direkt angesprochen. Äußerungen über die Entwicklung der Geschichtswissenschaft seiner Zeit, über Schüler und Kollegen und die ihm entgegengebrachte Bewunderung oder Ablehnung sind selten. Rankes Bruder Wilhelm war diese Haltung bekannt: „Leopold aber hatte Scheu vor der Öffentlichkeit; außer seinen Büchern war nichts von ihm herauszukriegen. Oft wurde er in öffentlichen Blättern angegriffen, aber er antwortete nie“ (unveröff. NL WR. Rep. 92, NL Geschw. Ranke, GStA PK). Ähnlich äußerte sich Varnhagen in einem Brief vom 18. 12. 32 an Bettina: „...er hütet sich wohl, jemanden zu loben, anzuerkennen.“ (Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense/1865, 304). * Die sachverständige Darstellung der zeitgenössischen Kritik eines einzelnen Werkes, der ‚Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation‘, durch Paul Joachimsen war aufgrund einer allzu kleinen Materialbasis doch nicht aussagekräftig genug (DtG/ed. Joachimsen I/1925). Dies galt letztlich auch für die maschinenschriftliche Dissertation des Fuchs-Schülers Rainald Stromeyer aus dem Jahre 1950, betitelt ‚Ranke und sein Werk im Spiegel der Kritik‘. Sie gehört zwar zu den informationsreicheren der RankeForschung, kann jedoch aufgrund immer noch stark erweiterungsbedürftiger Materialbasis und einseitiger Orientierung an prominenten Namen und negativer Kritik - überdies wird aus der posthumen Zeit auf wenigen Seiten (217-226) nur wenig Konkretes geboten - keinen Eindruck der Gesamtauseinandersetzung vermitteln. - Der unvoreingenommenen Untersuchung des Ranke-Urenkels Dr. Gisbert Bäcker-von Ranke über ‚Rankes Geschichtschreibung im Urteil der deutschen Öffentlichkeit‘ mußte aufgrund ihres Status einer 1952 vorgelegten Examensarbeit eine Wirkung versagt bleiben. Sie ist u. a. bemerkenswert ob einiger von ihrem Verfasser zum Thema ‚Ranke‘ erhaltener Zuschriften und geführter Gespräche mit Persönlichkeiten wie Hubert Jedin, dem ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning und dem ersten Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, D. Heinrich Held (Kopie im Archiv Wiehe). Vom Einfluß Rankes auf englische Historiker handelte Klaus Dockhorn in seiner 1950 erweitert erschienenen Habilitationsschrift ‚Der deutsche Historismus in England. Ein Beitrag zur Englischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts‘. Hierin versuchte er einen Überblick über Einflüsse des deutschen ‚Historismus‘ auf England in den Disziplinen Altertumswissenschaft, Historische Theologie, Volks- u. Verfassungsgeschichte, Rechts- u. Wirtschaftsgeschichte zu geben, - Wirkungen, die er um 1900 enden sieht. Dockhorn gibt auch einige Informationen über Rankes hoch angesehene erste Übersetzerin in England, Sarah Austin (141). - 1990 nahm Doris S. Goldstein - 112 -
I/2.0 Deutung und Selbstbesinnung - Einführung
Dockhorns Thema auf in einem kleinen Beitrag ‚History at Oxford and Cambridge. Professionalization and the influence of Ranke‘ (141-153). Über einige der bei Dockhorn genannten Historiker hinaus (s. I, 289) betrachtete sie John Robert Seeley, Frederick York Powell, Adolphus William Ward und Frederic William Maitland, doch scheint ihr, bei Vertrautheit mit der Primärliteratur, die Arbeit Dockhorns nicht bekannt gewesen zu sein. Die aus dem 19. Jahrhundert überkommene einseitige Verehrung Rankescher Objektivität in den ‚Vereinigten Staaten‘ schränkte sich in den folgenden Jahrzehnten so weit ein, daß Theodore Clarke Smith (1870-1960) in der ‚American Historical Review‘ des Jahres 1935 schließlich von einem tiefen Graben sprach, der sich aufgetan habe zwischen den im Rankeschen Sinne um eine unparteiische, objektive Darstellung historischer Wahrheit bemühten bzw. darüber verfügenden Historikern - ein Ideal, auf das sich die ‚American Historical Association‘ gründe - und solchen, die teils voreingenommen oder doktrinär, teils besonders aus wirtschaftswissenschaftlichem Interesse tätig seien. - Charles Austin Beard (1874-1948), angesehener Verfasser u. a. eines höchst erfolgreichen Werkes über ‚The Rise of American Civilization‘ (2 Bde, New York 1927) hielt einen in der ‚American Historical Review‘ von Oktober 1935 veröffentlichten Vortrag vor der von ihm präsidierten ‚American Historical Association‘ mit dem plakativ geflügelten Titel ‚That noble dream‘. Er war nicht nur gegen T. C. Smith gewandt, sondern hatte überhaupt großen Einfluß auf das amerikanische Geschichtsdenken. Es geht hier um den edlen Traum von der Wahrheit, - um die allerdings bereits zu Lebzeiten Rankes mehrfach aufgeworfene Frage -, ob die von ihm in Anspruch genommene, aber nach Beard keineswegs verwirklichte ‚Unparteilichkeit’ in sich selbst Gültigkeit besitze. So wie Ranke in Wirklichkeit einer der parteiischsten Historiker des 19. Jahrhunderts gewesen sei, so sei auch sein Anspruch ganz allgemein unhaltbar und von modernen Denkern wie Croce und Heussi zurückgewiesen worden. Die Rankesche Formel des ‚zeigen, wie es eigentlich gewesen’ habe, entgegen der Meinung von Smith, nie das offizielle Glaubensbekenntnis der ‚American Historical Association‘ dargestellt. - Schon im Vorjahr hatte Beard in einem appellativen Beitrag der ‚American Historical Review‘ mit dem Titel ‚Written history as an act of faith‘ Ranke mit seiner kalten Neutralität (?) ganz im Dienst der Herrschenden gesehen: „His formula of history has been discarded and laid away in the museum of antiquities“ (221). Beard stand übrigens der Person und Kritik Croces nahe, veröffentlichte im Anhang (229-231) einen Brief Croces mit grundsätzlichen Aussagen über „la vita del pensiero storico“. - Mit Beards Ablehnung von Rankes keineswegs uneingeschränktem Glauben an die Möglichkeit objektiver Geschichtserkenntnis und der nachfolgenden Diskussion, u. a. von Samuel Eliot Morison, befaßte sich Fritz Fischer 1954 unter dem Titel ‚Objektivität und Subjektivität - Ein Prinzipienstreit in der amerikanischen Geschichtsschreibung‘ (170ff.) sowie 1960 Fritz Wagner in seinem Werk ‚Moderne Geschichtsschreibung. Ausblick auf eine Philosophie der Geschichtswissenschaft‘ (bes. 74ff.). - Einem ahnungslosen Irrtum ins genaue Gegenteil der Realität hinein erlag Allan Nevins (1890-1971) mit der Ansicht, daß Ranke als Repräsentant der „scientific school“, welche der Genauigkeit der Tatsachen ein überwältigendes Gewicht beigelegt habe, den zu fordernden formalen literarischen Qualitäten der Geschichtsschreibung keine besondere Mühe zugewandt habe (The Gateway to History, Boston 1938, 350). Zutreffender sind andere Feststellungen: Ranke bleibe das große Muster politischer Geschichtsschreibung: „even his studies in church history were essentially studies in - 113 -
I/2.0 Deutung und Selbstbesinnung - Einführung
statecraft and state-organization“ (267). Als führendem Exponenten unparteiischer Geschichtsschreibung sei es ihm doch nicht gelungen, völlig objektiv zu sein; vieles aus seinem Werk sei unbewußt vom Standpunkt der konservativen Reaktion seiner Zeit in Preussen geschrieben (43). - James Westfall Thompson (1869-1941), Professor für europäische Geschichte in Berkeley, erarbeitete 1942 mit vergleichsweise guter Literaturkenntnis zwei rankebezogene Kapitel seines Werkes ‚A history of historical writing‘, zum einen ‚Niebuhr and Ranke‘, zum anderen ‚The Ranke School‘ und gelangte zu einem nur scheinbar abgewogenen, tatsächlich übertreibenden und undifferenzierten, auf den Versuch einer Vernichtung hinauslaufenden Gesamturteil: „Ranke’s great contribution to historiography lay in his whole-hearted devotion to history as a science per se ... Hence his efforts to develop a method which would lead to ‚objective‘ truth in history, his rejection of all that was unproven or unprovable, his refusal to enter mystical or speculative realms. Nevertheless, despite worldwide recognition, Ranke was not a ‚scientist‘ and was not ‚objective‘. His method, his sole use of diplomatic documents, his purely political approach - all these were but the shadow of history, not history, and certainly not ‚truth‘. Ranke misled a whole generation into believing that he was writing ‚objective‘ history, that he was at last approximating the truth. Actually, the most that can be said for his method is that it led to greater detachment, finer poise, and a broader outlook than had been customary before him, and this should be glory enough.“ (186). Der aus dem Jahr 1952 stammende Beitrag des amerikanischen Historikers Ferdinand Schevill (1868-1954) zum ‚Journal of Modern History‘ mit dem Titel ‚Ranke: Rise, Decline, and Persistence of a Reputation‘ bringt zu dem umfangreichen Thema überaus wenig bei: Der Bereich des „rise of reputation“ wird eigentlich nur durch die Überschrift abgedeckt, der des „decline“ konzentriert sich auf die immer wieder bemühte Ranke-Kritik Charles Beards in den 1930er Jahren. Der von Schevill behauptete parallele Niedergang der Reputation Rankes in Deutschland konnte aus einer kurzen allgemeinen Historismus-Diskussion nicht deutlich hervorgehen, selbst wenn er eingetreten wäre. Die sich anschließende „re-examination of his work to the end of setting forth its leading characteristics and evaluating the total achievment“ (216-234) ist geprägt von unbekümmerter Literaturlosigkeit. Bemerkenswert und von nachhaltigem Eindruck war ein Beitrag des nicht allein um die Ranke-Thematik im weiten Umfang, auch um die Entwicklung, Vertiefung und Revision des deutsch-amerikanischen Ranke-Dialogs verdienten Georg G. Iggers (geb. 1926), Professor emeritus der University of Buffalo: ‚The Image of Ranke in American and German Historical Thought‘ der Zeitschrift ‚History and Theory‘ des Jahres 1962. Hierin vertrat er die allgemein historiographiegeschichtlich bemerkenswerte Ansicht, daß Ranke in den USA einerseits und Deutschland andererseits, entsprechend den beiden, wie er glaubt, sehr unterschiedlichen Seiten seines Geschichtsdenkens, auch zwei diametral entgegengesetzte Rollen gespielt habe: hier als Quelle der Inspiration für neo-idealistische Historiker gegen eine rationalistische und positivistische Auffassung der Geschichte, dort hingegen gerade als der geistige Vater eines im wesentlichen positivistischen Zugangs zur Geschichte. Iggers versuchte dies in einem räumlich leider etwas eingeschränkten Überblick über Äußerungen u. a. von C. K. Adams, H. B. Adams, E. G. Bourne, E. Emerton, H. E. Barnes, E. W. Dow, C. L. Becker, C. Beard, T. C. Smith, J. W. Thompson, A. Nevins einerseits und v. a. Sybel, C. Rößler, W. Dilthey, E. Fueter, Fr. Meinecke, W. Hofer andererseits zu dokumen- 114 -
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tieren. Iggers hat hier das traditionelle, zunächst naive US-amerikanische Ranke-Bild (hauptsächlich entstanden aus Unkenntnis des sich zur Formel ‚wie es eigentlich gewesen‘ verkürzenden Werks) wohl treffend gekennzeichnet, auf der deutschen Seite jedoch allzu sehr den bloßen Gegensatz, nämlich die idealistischen Interpretationsansätze gesucht. Besonders das 19. Jahrhundert kommt hier erheblich zu kurz (Stromeyer/1950, der als Maschinenschrift vermutlich nicht zur Verfügung stand, wäre dem Beitrag bereits differenzierend zugute gekommen). Mit dem Einfluß Rankes auf das amerikanische Geschichtsdenken befaßten sich außer Iggers u. a. Jürgen Herbst, Dorothy Ross, Peter Novick, David S. Potter und Gabriele Lingelbach. Auf Selbstbesinnung in der Art einer splendid isolation hatte es Jürgen Herbst in seinem Werk ‚The German Historical School in American Scholarship‘ (1965) abgesehen, der eine Loslösung der geistesgeschichtlichen Beziehung forderte, indem er verkannte, daß zwar nicht einzelne Ideen, doch eine historische Ideenlehre, sofern sie überhaupt Gültigkeit beanspruchen kann, allgemeingültig ist. Er bot einige unbestimmte und zumeist nicht belegte Bemerkungen über Einflüsse Rankes als „the patron saint of German-trained American historians of the 1870’s and 1880’s“ (103, 108-111), denen er vorwarf: „Had they really grasped the Ideengeschichte of Humboldt and Ranke, they would have realized that not only the facts but the ideas of American history had to come from American sources. When they mixed American facts with German ideas, they could not but founder upon the shoals of cultural diversity.“ (128). - Ross, Professorin für Geschichte an der Universität von Virginia, suchte in einem Artikel ‚On the misunderstanding of Ranke and the origins of the historical profession in America‘ des 1988 erschienenen Syracuse-Sonderhefts (Zweitdr. 1990) nachzuweisen, daß die von Iggers vertretene Auffassung, die meisten amerikanischen Historiker der Frühzeit hätten Rankes ‚Methodologie‘ getrennt von seinen idealistischen Voraussetzungen vertreten und ihn insofern als Unterstützer ihres eigenen nominalistischen Positivismus benutzt, nicht für das ‚Goldene Zeitalter‘ gelte. Dessen Historiker hätten Geschichte nicht als ein eigenes Studiengebiet betrachtet, sondern als Teil eines verbundenen ‚historisch-politischen‘ Bereichs. - Im selben Jahr wandte sich auch Peter Novick (1934-2012), Geschichtsprofessor an der Universität Chicago, in einem umfangreichen Werk, betitelt ‚That Noble Dream: The ‚Objectivity Question‘ and the American Historical Profession‘ (21-46: ‚The European legacy: Ranke, Bacon, Flaubert‘), dem Thema zu. Er allerdings behandelte wiederum die Auffassung Iggers eines amerikanischen Mißverständnisses Rankes als „unphilosophical empiricist“ (30), wozu nicht zuletzt unzutreffende Übersetzungen der Dicta des ‚eigentlich gewesen‘ und des ‚Selbst auslöschen‘ beigetragen hätten (31). - ‚Literary texts and the Roman historian‘, erschienen London 1999, ist ein Werk des US-amerikanischen Althistorikers David S. Potter. Im Hinblick auf das Kapitel ‚Ranke‘ (122127) ist der Werktitel gänzlich irreführend. Potter arbeitet dabei weder mit literaturwissenschaftlicher Begrifflichkeit noch geht es um einen römischen Historiker. Betrachtet werden hauptsächlich einige Erscheinungen der US-amerikanischen RankeRezeption bzw. Gegnerschaft, wie wiederum der unvermeidliche Charles Beard. - Über die Ergebnisse Novicks gelangte auch Gabriele Lingelbach in ihrer 2003 erschienenen Arbeit ‚Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts‘ nicht wesentlich hinaus: Während Ranke in Frankreich als „Vertreter eines faktologischen Positivismus“ (396) gegolten habe, sei in den USA nach 1870 und 1880 ein „regelrechter Ranke- 115 -
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Mythos“ entstanden, in dem er als „Inkarnation eines unphilosophischen Empirismus“ angesehen worden sei: „Die geschichtsphilosophischen, idealistischen Implikationen des Rankeschen Historismus wurden genausowenig wahrgenommen wie dessen politische, ideologische und religiöse Ausrichtung. Auch die Hypostasierug des Staats in Rankes Geschichtsschreibung blieb zumindest unkritisiert, wenn nicht gar unbemerkt. Auffallend häufig erwähnte man hingegen die öffentliche Rolle der deutschen Historiker, ihr hohes Prestige und ihren politischen Einfluß.“ (Ebd.). Beate Gödde-Baumanns behandelte 1971 in ihrer Dissertation ‚Deutsche Geschichte in französischer Sicht‘ in knapper Form Begegnung oder Auseinandersetzung - gelegentlich im Zusammenhang mit der Darstellung Friedrichs d. Gr. - folgender französischer Historiker mit Ranke: Auguste Himly (65, Hörer R.s), Ernest Lavisse (73), Georges Pariset (88f.), Charles Seignobos (228, Hörer R.s), Arsène Legrelle (240, 329), Ernest Denis (244), Rodolphe Reuss (247, 337), Charles Andler (376). - Karl Heinz Metz fügte seiner 1979 erschienenen Dissertation über ‚Grundformen historiographischen Denkens. Wissenschaftsgeschichte als Methodologie. Dargestellt an Ranke, Treitschke und Lamprecht‘ Abschnitte über ‚Ranke im Lichte aktueller Erörterungen‘ und ‚Standpunkte der zeitgenössischen Ranke-Kritik‘ bei. - Wolfgang [E. J.] Weber, Direktor des Instituts für europäische Kulturgeschichte in Augsburg, hat in seinem 1984 erschienenen wichtigen Werk über ‚Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800-1970‘ einen wesentlichen Abschnitt dem Thema ‚Leopold von Ranke und seine Erben‘ gewidmet (210ff.). Dabei werden zutreffende kritische Blicke auf die bisherige Darstellung von Rankes frühem Werdegang gerichtet, Hinweise für seine schülerbezogene Wissenschaftspolitik gegeben und die für die allgemeine Historiographiegeschichte aufschlußreiche Entwicklung seiner Enkelschüler bis in die fünfte Generation hinein verfolgt. Die Jahre 1987 und 1988 waren im Zusammenhang mit Rankes hundertstem Todestag von vielfältiger Ergiebigkeit. Andrzej F. Grabski verfaßte 1987 einen Beitrag über ‚Historiografia polska wobec Leopolda von Ranke‘, worin er u. a. auf die RankeInteressen von Jósef Kazimierz Plebański, Klemens Kantecki, Tadeusz Korzon und Fryderyk Hendryk Lewestam einging. - Im selben Jahr wandte sich der damals noch an der Universität Leipzig tätige Historiker Lutz-Dieter Behrendt der Bewertung Rankes durch sowjetische Historiker zu, - eine erste kurze Aufarbeitung der russischen RankeRezeption. Obgleich Ranke in den 1880er Jahren für russische Studenten eine „große Autorität“ gewesen sei (121), habe er in der umfangreichen sowjetischen Literatur „zur Auseinandersetzung mit der nichtmarxistischen Historiographie ... keinen Schwerpunkt“ gebildet (120). Die Zahl seiner Anhänger sei sehr gering gewesen: M. N. Petrov, E. N. Ščepkin, V. I. Ger’e und V. P. Buzeskul (s. Bibl. 1926). Bei seiner Beurteilung hätten „eindeutig die kritischen Äußerungen, u. a. von T. N. Granovskij, S. V. Eševskij, M. S. Kutorgi und V. V. Bauer“ überwogen (121). „Auf Ablehnung stießen vor allem Rankes ‚Objektivität‘, seine konservative Haltung, seine Geringschätzung der Slawen und seine Mißachtung der inneren Entwicklung der von ihm untersuchten Staaten.“ (121). Anfang der 1960er Jahre habe „eine breitere Beschäftigung der sowjetischen Historiker mit Leopold von Ranke“ begonnen (123), wozu folgende Namen genannt werden: O. L. Vajnštejn, E. A. Kosminskij, B. G. Veber und das „von A. I. Danilov begründete Forschungskollektiv an der Tomsker Universität, aus dem sich in erster Linie N. I. Smolenskij auf die Erforschung des Wirkens Rankes - 116 -
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spezialisierte“ (123). Behrendt erklärt diese Hinwendung einleuchtend durch die Notwendigkeit, die rankegeprägte bürgerliche Geschichtsschreibung der frühen BRD aus ihren Wurzeln heraus zu verstehen (124). - Einem DDR-Historiker ist auch ein weiterer kurzer ‚Länderüberblick‘ zu verdanken. Konrad Irmschler veröffentlichte 1986/87 einen Kurzbeitrag ‚Zu den Einflüssen der Geschichtsauffassung Leopold von Rankes auf die Entwicklung der britischen Historiographie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts‘, nachdem er 1983 über ‚Analyse und Kritik einiger theoretischmethodologischer Entwicklungstendenzen in der bürgerlichen Historiographie Großbritanniens vom Ende des 2. Weltkrieges bis zum Anfang der 80er Jahre‘ veröffentlicht hatte. Später schrieb er passend ein Werk über ‚Historismus und Positivismus in der britischen Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts‘ (1991). In seinem thesenartigen Kurzbeitrag von 1986/87 deutet er Wirkungen Rankes auf William Stubbs, Charles Firth, John Seeley, George Prothero, Lord Acton, John Bagnall Bury an. Dabei kann als Hauptaussage gelten, die Rezeption der Rankeschen Geschichtsanschauung habe sich bei den genannten britischen Historikern „fast völlig auf die von ihm entwickelte Methode der kritischen Quellenerschließung“ beschränkt. „Deren Durchsetzung“ sei „auch in Großbritannien epochemachend“ gewesen (111). Bemerkenswert die Vermutung Irmschlers, daß es durch die dortige „partielle Rezeption ... weder zu einer Verabsolutierung der idiographischen Geschichtsmethodologie noch zu einer massiven Kritik an Rankes historiographischer Theorie und Praxis gekommen“ sei (112). - Knappe Einblicke in die Ranke-Befassung von Karl Marx und Franz Mehring und in Urteile von DDR-Historikern nach 1945 mit Hinweisen auf einige Erscheinungen der westlichen Literatur gab auf wenigen Seiten Hans Schleier in einem ZfGAufsatz von 1987 mit dem Titel ‚Leistungen und Grenzen des idealistischen deutschen Historismus: Leopold v. Ranke‘. - Rankes Einfluß auf Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken in Ungarn ging 1988 Attila Pók bei Henrik Marczali, Dávid Angyal, Gyula Szekfű, Bálint Hóman, István Dékány, József Szigeti, Ágnes R Várkonyi und Lajos Elekes nach. - Der kanadischen Ranke-Forscherin Helen Liebel-Weckowicz verdankt man einen Beitrag von 1988 zu ‚Ranke’s theory of history and the German modernist school‘, in dem u. a. Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang Mommsen, Thomas Nipperdey, Gerhard Schulz, Theodor Schieder genannt werden, vor allem aber Reinhart Koselleck, Hans Michael Baumgartner, Karl-Georg Faber und Jörn Rüsen Berücksichtigung finden, in deren Revision der modernistischen Theorie anstatt eines Bruchs mit Ranke eine Kontinuität sichtbar werde. - Thomas Brechenmacher betrachtete in seiner bemerkenswerten Dissertation von 1996 die Ranke-Kritik der großdeutschen Katholiken oder Konvertierten Böhmer, Hurter, Klopp, Döllinger, Höfler und Pastor (465-475). - Einen anderen, zwar schmalen, doch nach dem Vorgang Joachimsens für die ‚Deutsche Geschichte‘ allzu selten freigelegten Strang der EinzelWerk-Rezeptionsgeschichte führte im Jahre 2003 Holger Mannigel (1969-2012) in seiner beachtenswerten Tübinger Dissertation vor Augen. Er skizzierte in knapper Form Teile der zeitgenössischen Rezeption des Rankeschen Wallenstein-Bildes anhand der Publikationen von Arnold Gaedeke, Hermann Hallwich, Georg Irmer, Karl Wittich, Anton Gindelý, Edmund Schebek, Onno Klopp, Moriz Ritter, Max Lenz und später Heinrich Ritter von Srbik. - Neuerdings hat sich Philipp Müller in einem sechsseitigen Abschnitt seiner 2008 erschienenen Dissertation über ‚Erkenntnis und Erzählung‘ (98103) die in dieser Form unlösbare Aufgabe gestellt, „Eigen- und Fremdwahrnehmung Rankes um die Jahrhundertmitte“ zu skizzieren, wobei eine Handvoll prominenter Rezipienten betrachtet wird. - 117 -
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Mit Rankes Einflüssen auf die serbische Geschichtsschreibung zwischen den Jahren 1892 und 2002 befaßte sich Bojan Mitrović in Beiträgen der Jahre 2006 und 2011. Behandelt werden Stojan Novaković (1892), Svetozar Marković (1969), Miodrag Popović (1963) und Radoš Ljušić (1992). Die politisch unterschiedlich ausgerichteten Deutungen, welche Ranke teils als konservativ und nationalistisch, teils als sozialistisch, demokratisch oder pro-jugoslawisch einschätzen, spielen in der sonstigen Ranke-Literatur bisher keine Rolle. Einen dankenswerten Überblick über Teile der Ranke-Forschung in Japan gab Prof. Shinichi Sato/Tokyo in einem Vortrag auf dem Ranke-Symposium in Wiehe am 23. Mai 2009 (Ms. im Archiv des Ranke-Vereins Wiehe). Sato, der sich seit dem Jahre 2000 in einer Vielzahl von Beiträgen (s. II/9.5) selbst beträchtliche Verdienste um Ranke-Forschung und Kulturaustausch erworben hat, wies dabei vor allem auf Ludwig Rieß (1861-1928, s. auch I,359f.) hin, der in den Jahren 1887 bis 1902 an der Reichsuniversität Tokyo als Verbreiter Rankescher Quellenkritik mit Gründung eines ‚Quellenforschungsinstituts‘ im Jahre 1888 und der bedeutenden geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift ‚Shigakukaizasshi‘ vielseitig tätig war. Als Ergänzung seines Hinweises auf Akira Muraoka (1959 u. 1983) sind rankebezogene Schriften von Naritaka Suzuki (1939), Katsumi Nishii (1947, 1948 u. 1965), Senroku Uehara (1954), Akira Muraoka 1956, Tatsuya Kishida (1958) und Editionen der Jahre 1950 bis 1998 zu nennen (s. II, 605). * Es geht darum, oft allzu allgemein und unpersonalistisch verfahrende historiographiegeschichtliche Reflexionen empirisch weiter zu fundieren. So werden - wie angedeutet - in allzu vielen Darstellungen bei differenzierter oder klischeehafter Theorie auffallend wenige, jedoch prominente, vermeintlich exemplarische oder meilensteinbildende Fachvertreter, auch wenige Textbelege aufgeführt, wodurch risikoreichen Konstruktionen Vorschub geleistet wird. Auch auf Seiten Rankes werden nur höchst selten ausgreifende Textuntersuchungen unternommen, vielmehr bis zum Überdruß einige einsätzige Deutungs-dicta herangezogen. Beispiele bieten sich in der Nachfolge oder Art Diltheys und Meineckes in Fülle. Unter den Ausnahmen mit Sicht auf die Fachvertreter ist der verdienstvolle, reichhaltige Überblick von Georg G. Iggers aus dem Jahre 1965 mit dem Titel ‚The dissolution of German historism‘ zu nennen, der auch Positionen der Fachphilosophie berücksichtigt, aufgrund seines Aufsatzcharakters allerdings Wesentliches nur in knappster Form vermitteln konnte und die große Zahl kleinerer Geister beiseite lassen mußte. Ihm folgte 1968 Iggers’ einflußreiches Werk ‚The German Conception of History. The national tradition of historical thought from Herder to the present‘, auf das noch zurückzukommen ist. Zu kurz kommt generell, so auch bei vorliegendem Werk, eine schwer durchführbare ausgreifende Betrachtung der Hervorbringungen spezialisierter fachhistorischer Praxis und ihrer gegebenenfalls von Ranke abhängigen oder abweichenden fußnotenplazierten Forschungsdetails. Mit Recht bemerkte Eduard Fueter in seiner ‚Geschichte der neueren Historiographie‘ bereits im Jahre 1911: „Die Literatur über Ranke ist sehr umfangreich; doch ist der Geschichtschreiber verhältnismäßig wenig behandelt worden. Die meisten Arbeiten befassen sich mit dem Geschichtstheoretiker“ (1911, 473). Dieser Satz hat bis heute Gültigkeit. Die Betrachtungen des vorliegenden Werkteils gelten auch, wie sein Titel besagt, vor allem der allgemeinen Deutung des Rankeschen Geschichtsdenkens sowie - 118 -
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der auf Ranke bezogenen Selbstbesinnung. Anderes Schrifttum ist in der Regel eigenen Abteilungen zugeordnet. Obgleich Rankes Wirken und Wirkung dem Gesamt des Geschichtsdenkens in einer unvergleichlichen Weise inhärent sind, ergibt die Darstellung der Auseinandersetzung mit ihm natürlich - dies wäre ohnedies ein verfehlter Ansatz - keine allgemeine Historiographiegeschichte. Auch kann bei der Vorstellung einzelner für Deutung und Selbstbesinnung aussagefähiger Schriften nicht der Anspruch erhoben werden, deren Bedeutung oder gar die ihrer zum Teil geistesgeschichtlich hochstehenden Autoren gänzlich zu erfassen, eine Bedeutung, die ja in aller Regel nicht in ihrer Eigenschaft als Ranke-Deuter oder gar Ranke-Forscher begründet ist. Andererseits können bei ihrer Beurteilung Erkenntnisse späterer Forschung, Übersicht und Einsicht nicht unberücksichtigt bleiben, wodurch indes gelegentlich sichtbar wird, daß sich Ranke-Deutungen auch beträchtlich unterhalb des hohen allgemeinen Niveaus geistesgeschichtlich herausragender Persönlichkeiten vollziehen können. Rankes Wirkung war anfänglich schwach und die seine wachsende Verehrung stets begleitende Kritik beträchtlich. Beides wird von der Forschung unzureichend eingeschätzt. Schon zu späteren Lebzeiten Rankes werden wesentliche Argumente der zuvor eingetretenen Kritik verharmlost, umgedeutet, beiseitegeschoben und Ranke in seinen letzten Jahren weithin zu einem wissenschaftlichen Nationalheros erhoben. Man darf annehmen, daß Unkenntnis oder Nicht-Sehen-Wollen der zeitgenössischen Kritik posthumer Bewunderung zugute gekommen sind. Auch hat sich der Mangel unter anderem in einer späteren Vernachlässigung der Eigen-Sicht der in Rede stehenden Zeiten und Personen ausgewirkt. Doch es bestehen noch andere Gefahren der Fehleinschätzung. Überhaupt haben sich famae unterschiedlichster Art gebildet, deren Abbau nun erleichtert wird. Manches, was nach Rankes Tod und heute im Mittelpunkt der Interpretation steht, hat zu seinen Lebzeiten keine Wirkung gezeigt oder war unbekannt. Sein als grundlegend für die Entwicklung der ‚Historischen Schule‘ angesehenes Werk ‚Zur Kritik‘, 1824 erschienen, wird im 19. Jahrhundert zwar gelegentlich pauschal lobend erwähnt, doch hat sich damals kaum jemand im Detail mit dieser erst nach fünfzig Jahren verlegerisch wieder hervorgeholten Schrift befaßt. Das später hochberühmte ‚Politische Gespräch‘, Rankes Schlußbeitrag seiner ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ (II/4, 1836, 775-807), nach Meinecke - wohl nicht nach Ranke - „das Höchste und Bedeutendste dessen, was er als Politiker und Publizist je geboten hat“ (Meinecke WW VII/1968, 74), ist - wie eingangs bemerkt - nach Erscheinen in der kaum verbreiteten Zeitschrift zu Rankes Lebzeiten von ihm nie mehr für einen Zweitdruck in einem seiner Sammelbände oder anderweitig freigegeben worden (unv. Zweitdr.: SW 49/50 (ZGDF 1887), 314-339). Dies gilt annähernd auch für ‚Die großen Mächte‘ (HPZ II,1/1833, 1-51). Ein veränderter Zweitdruck erschien erst nahezu vierzig Jahre später, 1872 in Band 24 seiner ‚Sämmtlichen Werke‘. Es ist eine Trivialität, festzustellen, daß eines der international bekanntesten Erzeugnisse Rankeschen Denkens, die 1854 vor Maximilian gehaltenen Berchtesgadener Vorträge, nicht zu seinen Lebzeiten erschienen ist, sondern - übrigens in nicht authentischer Gestalt - erst 1888 von Alfred Dove herausgegeben wurde. Gleichwohl ist dieser Umstand von Interesse, denn seine Vorträge, das Hauptdokument jeglicher rankebezogener Philosophie-Betrachtung, konnten insofern bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts keinerlei öffentliche Wirkung hervorrufen. Dies scheint gelegentlich übersehen worden zu sein, worauf auch Formulierungen des ehemaligen Vor- 119 -
I/2.0 Deutung und Selbstbesinnung - Einführung
sitzenden der Ranke-Gesellschaft, Michael Salewski, hindeuten: Nicht zuletzt seine nicht öffentlichen! - Vorträge vor Maximilian von 1854 hätten „Ranke der Welt bekannt gemacht. Es war schon atemberaubend, wie er in diesen knappen historischen Skizzen den Fortschrittsgläubigen und den Ungläubigen, den Aufgeklärten und den Mystikern, vor allem aber Georg Wilhelm Friedrich Hegel sein eigenes Bild vom Gang der Weltgeschichte entgegenstellte.“ (Salewski/1996, 17). Hier kann es schnell zu völlig falschen Projektionen kommen, wenn aus heutiger Sicht über Historismus, im besonderen über Ideenlehre, Idealismus- und Hegelkritik oder den Fortschrittsbegriff im 19. Jahrhundert geschrieben wird. Auch dies bezeugt die Notwendigkeit detaillierten bibliographischen Wissens. Allgemeinhistorische Strukturierungs-, im besonderen Periodisierungsprobleme treten bekanntlich nicht minder in der Historiographiegeschichte auf. Man ist geneigt, sie nicht allein für die Stadien Rankeschen Schaffens und der Auseinandersetzung mit ihm lösen zu wollen, sondern daraus auch Lösungshilfen für den allgemeinen Gang des Geschichtsdenkens zu gewinnen. Hier wie da sind es indes vor allem große politischsoziale, nationale wie internationale Entwicklungen und Ereignisse, welche mehr oder minder periodenbildenden Einfluß auf Geschichtswissenschaft und Geschichtsdenken ausüben. Für die Rankesche und Nachrankesche Zeit sind es die Revolutionen von 1789, 1830, 1848, der Krieg von 1866, der die großdeutschen Pläne und Positionen vorübergehend beendete, der Krieg von 1870/71, der mit dem Ereignis der Reichsgründung die Aufgabe der kleindeutschen Richtung erfüllte und zugleich weit ausgreifende machtstaatliche und schließlich hegemoniale Perspektiven eröffnete, der Erste Weltkrieg mit seinem national-martialischen Überschwang und der folgenden Depression sowie der Auseinandersetzung nationaler, konservativer, liberaler und revolutionärer, sozialistischer und demokratischer Kräfte, der Nationalsozialismus mit dem Zweiten Weltkrieg. Dabei spielt stets das Auftreten höchst unterschiedlicher wirkmächtiger Persönlichkeiten und Ideen in Politik und Geschichtsdenken eine große Rolle, welche das Entstehen, Aufdecken oder Beenden kohärenter Entwicklungslinien beeinflussen. Der inhaltlich wie zeitlich bis zur Unbrauchbarkeit hin unterschiedlich definierte und damit der Auflösung nahegebrachte Begriff ‚Historismus‘, als dessen Hauptvertreter Ranke allgemein angesehen wird, findet in vorliegendem Werk keine Verwendung - ohne bereits der isolierten Auffassung Franz Schnabels von einem „Zeitalter ungeschichtlichen Denkens“ (Schnabel/1936, [2]) für das 19. Jahrhundert nähertreten zu wollen -, zum einen, da aufgrund der auffallenden Unterschiedlichkeit sowohl von Historiographen als auch von Geschichtsdenkern im weiteren Sinne von einem für das 19. Jahrhundert oder darüber hinaus geltenden Einheitsbegriff ‚Historismus‘ in ergiebiger Weise nicht gesprochen werden kann, was so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Schlosser, Sybel, Waitz, Droysen, Burckhardt, Janssen und zahlreiche andere unterstreichen. Zum anderen erscheint der Begriff in seinen von Meinecke auf die Prinzipien von ‚Entwicklung‘ und ‚Individualität‘ gestellten Charakteristika als zu unspezifisch, ist insofern ebenfalls auf einzelne frühere Epochen, Persönlichkeiten, Haltungen und Phänomene bis hin zur Antike anwendbar, gehört schlechterdings auch nicht zum vorrangigen Selbstverständnis des Geschichtsdenkens Rankescher Zeit. Die These eines Historismus mit den Grundprinzipien von ‚Individualität‘ und ‚Entwicklung‘ ergibt keine Epochenbeschreibung, sondern lediglich eine inhaltlich-darstellerische Teilbeschreibung dieser oder jener Geschichtsanschauung. Als Detail mag man gelten lassen, daß bereits Rankes im Objektivitätsglauben kulminierendes Wort vom - 120 -
I/2.0 Deutung und Selbstbesinnung - Einführung
‚Selbst-Auslöschen‘ im Widerspruch oder Gegensatz zum unterstellten Individualitätsgedanken steht, zumindest was die nicht zu vernachlässigende Seite des historiographischen Subjekts angeht. Doch auch Rankes Darstellungs-‚Objekten‘ wurde, neben durchaus positiven Urteilen (s. I, 200f.), gelegentlich jede Individualität abgesprochen. Ludwig Häusser konnte sich „nicht überzeugen, daß etwas besonders Hohes damit erreicht“ sei, wenn bei Ranke „die theilnahmslose Reflexion den Menschen und das was ihn bewegt völlig erdrückt“ habe (Bespr. DtG I-III/1842, zitiert nach Häusser I/1869, 147). Ferdinand Gregorovius sah Rankes Gestalten wie auf einem „anatomischen Theater“ agieren (28. 4. 67, Gregorovius/1893, 239f.). Gustav Bergenroth sprach sehr deutlich von „hazy phantoms, rather shadowy embodiments of general ideas than living men ...“ (G. B./1866, 496), ein Urteil, dem sich Acton 1867 mit dem Wort „They are effigies, but they are not men“ recht ähnlich anschloß ([Acton:] Ranke/ 1867, 394). Karl Frenzel warf Ranke vor, wegen seines Absehens „von den Persönlichkeiten … in gewisser Weise an den Menschen sowohl wie an den Thatsachen“ zu sündigen (1861, 1f., s. I, 283), George Strachey sah in Rankes Friedrich d. Gr. 1878 lediglich eine „abstraction“ (s. I, 336), und Wilhelm Kiesselbach schrieb 1861 zu Rankes ‚Englischer Geschichte‘: „man sehnt sich dabei förmlich nach Individualität, nach Fleisch und Blut …“ (Kiesselbach/21. 7. 1861, 230). Von ihm wurde auch einmal der Zusammenhang von historiographischem Subjekt und Objekt gesehen: „Wenn der Verfasser … wünscht, sein ‚Ich‘ völlig zu vergessen, um nur die durch einander wogenden Kräfte in seinem Werke darzustellen, so hat er mit seinem Ich auch vergessen, daß die Menschen, auf die er stößt, doch ein Ich besitzen.“ (231). Martin Philippson hat diesen Mangel ebenfalls empfunden. Rankes ‚Geschichte des Don Carlos‘ ließ ihn die aufbegehrende Frage stellen: „Ist die Verschiedenheit der individuellen Anlage und Persönlichkeit nichts?“ (Bespr. HBS/1879, 169). Die Individualität der Persönlichkeitsschilderung, im besonderen aus der biographisch zurückhaltenden Feder Rankes, bestimmt sich bekanntlich nicht allein aus Aspekten der Porträtierungskunst, sondern auch aus der grundsätzlicheren Frage nach einem geschichtlichen und anthropologischen Determinismus, welcher individuelle Regungen beschränkt. Und was damit zusammenhängend den Begriff der Entwicklung anbelangt, so wurde er Ranke nicht erst von Karl Lamprecht und Kurt Breysig abgesprochen. Letzterer fand, Rankes ‚Weltgeschichte‘ sei von dem „entwickelnden“, „vergleichenden“, „wirklich Welt und Menschheit umspannenden Sinn“ Herders, Meiners’ und K. F. Eichhorns weit entfernt (Breysig/1932, 61, s. I, 482). Bereits 1845 hatte wohl Jacques de Mas Latrie das Fehlen von „développements suffisants“ beanstandet (s. I, 136f.). Statt des verbrauchten ‚Historismus‘-Begriffs werden für die infragestehenden Zeiten andere, schon damals benannte Kriterien wieder sichtbar. Nicht ein mit den Gedanken von Individualität und Entwicklung definierter ‚Historismus‘ erscheint als die prägende Kraft der Geschichtsanschauung des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus, ist nicht die signatura temporis - es gab in dieser Zeit kein entsprechend ausgeprägtes Selbstverständnis -, sondern das empirisch-sachlogisch, auch ethisch gegründete, zu starker fachlicher und öffentlicher Bewußtheit ausgebildete Prinzip der Objektivität, wie es sich mit besonderer Deutlichkeit in Gervinus’ Schrift ‚Ueber Börne’s Briefe aus Paris‘ vom Jahre 1835 ausspricht. Hier wird das 19. Jahrhundert - allerdings kritisch gekennzeichnet als „die mit diesem Jahrhundert allgemein werdende Epoche der Objectivität“ (320). Dazu gehörte neben der Weiterentwicklung methodologischer und darstellerischer Fähigkeiten, Absichten oder nur Anforderungen ein wachsendes - 121 -
I/2.0 Deutung und Selbstbesinnung - Einführung
wissenschaftliches und gesellschaftliches Selbstbewußtsein der sich glanzvoll eine Weile zur begünstigten ‚Leitwissenschaft‘ entwickelnden Disziplin, auch die durch nationalpolitisches Einheits- oder Machtstreben in materieller Abhängigkeit und dienstrechtlicher Oboedienz geprägte Staatsorientiertheit der Historiker, mehr oder weniger verfangen im Spannungsfeld von Obrigkeit und Objektivität, gelegentlich auch ihre geistige, politische und gesellschaftliche Lager fördernde Konfessionsgebundenheit. Ranke steht teils mitten in diesen Bewegungen, teils darüber, wobei sein enormer Faktizitätsertrag weniger gewürdigt wird als sein Darstellungsvermögen. Dieses und seine erstrebte Objektivität haben in besonderer Weise auf Zeitgenossenschaft und Nachwelt - anziehend oder abstoßend - gewirkt. Doch sollte er nicht, wie es permanent zu seinem und zahlreicher Zunftgenossen Nachteil geschieht, als typischer oder exemplarischer Repräsentant der vielfältigen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts angesehen werden. Er tritt vielmehr als eine herausragende Ausnahmeerscheinung auf, über die ein vielleicht Gustav Freytag zuzuschreibender Beitrag der ‚Grenzboten‘ von 1856, betitelt ‚Deutsche Geschichtschreiber‘, zu einem treffenden Urteil gelangt sein dürfte: „Gewiß müssen uns alle Nationen um einen Künstler wie Ranke beneiden; aber ein eigentliches Vorbild kann er nicht sein. Die Richtung seines Geistes ist zu eigenthümlich, und selbst seine Schönheiten sind zu individueller Natur.“ (43f.). Bei der im Folgenden vorgelegten Darstellung wird sich aufgrund erweiterter Materialbasis auch zeigen, daß spätere Periodisierungen und Klassifizierungen wie ‚RankeRenaissance‘, ‚Jung‘- oder ‚Neurankianer‘ und ‚Ranke-Epigonen‘ usw. in der Auseinandersetzung mit ihm bei weitem nicht die signifikante Rolle spielen, die man nach dem späteren häufigen Gebrauch der Begriffe hätte erwarten sollen. Bei beständiger Zustimmung oder Ablehnung handelt es sich mit größerer Berechtigung um eine nie abgebrochene, bis heute reichende wissenschaftliche und populäre Ranke-Permanenz.
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1. Abteilung
RANKE IM
GESCHICHTSDENKEN SEINER
ZEIT
(I/2.1)
VORBEMERKUNG (I/2.1.0) Die durch Persönlichkeit und Werk Rankes seit dem Erstling der ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ von 1824 hervorgerufenen Beurteilungen seiner Zeitgenossen wie auch der Nachwelt reichen zu allen Zeiten in ihren Extremen von verächtlicher Ablehnung bis hin zu euphorischer Jüngerschaft - Urteile aus verschiedenster fachlicher, politischer, philosophischer, literarischer, ästhetischer, religiöser und nicht zuletzt menschlich-charakterlicher Motivation. Die Auseinandersetzung oder nur Kenntnisnahme vollzieht sich in der Öffentlichkeit, in den Höhen wissenschaftlicher Untersuchung und Betrachtung, bei Werken der Historiographie, Historik sowie der Historiographie- und Literaturgeschichte, Werken der Philosophie oder in weiteren Kreisen, die sich teils feuilletonistisch, teils als Lesepublikum im persönlichen, privaten Bereich äußern, wie eine Vielzahl von Lebenserinnerungen, Tagebüchern und Briefwechseln der Zeitgenossenschaft hier erstmals zeigt, schließlich in der Literatur zu besonderen lebensgeschichtlichen Anlässen Rankes, ausführlicher in den nach Vielzahl und Ausrichtung bisher weitgehend unbekannten in- und ausländischen Besprechungen seiner Werke. Die Auseinandersetzung scheint durch ihre Vielstimmigkeit aus Hegelianismus, Liberalismus, Konservativismus, Borussismus, Kleindeutschtum, Großdeutschtum, Protestantismus und Katholizismus und deren verschiedene Mischungen zunächst einen kaleidoskopischen Charakter aufzuweisen, verfügt jedoch durch die häufige Gebundenheit an das jeweilige Auftreten seiner Werke, durch bestimmte Leitthemen und Medien sowie die anhaltende Hingabe bestimmter Kritiker über gewisse Strukturen. Dabei wird die Zugehörigkeit zu bestimmten fachlichen ‚Schulen‘, politischen Richtungen und literarischen Strömungen selten so deutlich wie persönliche und konfessionelle Voreingenommenheit. Die protestantische, wie überhaupt die hochkonservative preußische Presse steht im allgemeinen auf seiner Seite. Gegen sich hat er die subdominante katholische Presse, die gelegentlich eine gewisse Simplicität und Aggressivität nicht verleugnen kann. Zeittypisch ist das Auftreten nicht weniger nahezu oder völlig Konvertierter, wie Ignaz Döllinger, Karl Ernst Jarcke, Wilhelm Volk, Onno Klopp, Julius Langbehn und anderer. Nicht selten handelt es sich bei seinen Kritikern um Personen mit einem politisch oder konfessionell verursachten Sonderschicksal: Liberale bis Revolutionäre, zum Teil mit Festungshaft, wie Heinrich Heine, Georg Gottfried Gervinus, Johannes Scherr, Heinrich Kurz. Es gab eine offene, publizierte Auseinandersetzung mit Ranke und eine stille. Wie Georg von Below treffend bemerkte, wurde zu Rankes Lebzeiten auch ein „stiller Kampf“ gegen ihn ausgetragen (Below/1921, 27). Es war wohl aufgrund der weitreichenden wissenschaftspolitischen Machtposition Rankes, wobei besonders seine Nähe zum preußischen und bayerischen Hof bedacht werden mußte, nicht ohne Risiko, gegen ihn aufzutreten: Der preußenfeindliche, ultramontane Historiker Onno Klopp (1822-1903) gab gegenüber Franz von Löher in einem Brief vom 3. Oktober 1858 zu bedenken: „Wie dürfte ich auf einer prot. Universität [Göttingen] das Werk von Ranke über die Reformation eine Advokatenschrift nennen?“ (Briefe Onno Klopp’s an Franz von Löher/1923, 341), und gegenüber Johannes Janssen bekannte er in einem Brief vom 2. Sept. 1861: „Ich wage jetzt nicht einmal eine Kritik der Rankeschen Geschichte zu schreiben. Man würde mich erkennen und dann wäre der Sturm unausbleiblich.“ (Briefe von Onno Klopp an Johannes Janssen/1919, 249). So flüchtete sich der Archivar Ernst Friedländer (1841-1903), wie viele, in das reine Referieren, denn angesichts - 125 -
I/2.1.0 Geschichtsdenken seiner Zeit - Vorbemerkung der hervorragenden Bedeutung Rankes könne nichts ferner liegen, „als ein einem Urtheile nahe kommendes Wort“ über seine historische Darstellung sprechen zu wollen (Friedländer/1877, 134). Auch ist zu berücksichtigen, daß manche Besprechung und Replik von RankeSchülern, Ranke-Schüler-Schülern und Ranke-Amanuensen stammt. In einigen Fällen befand sich auch die Schriftleitung eines Rezensionsorgans in den Händen von RankeSchülern: Alfred Dove war vorübergehend bei der ‚Allgemeinen Zeitung‘ tätig, später gab er die Zeitschrift ‚Im neuen Reich‘ heraus. Siegfried Hirsch schrieb für die konservative ‚Literarische Zeitung‘, die unter Regierungs-Einfluß stand. Sybel gab die ‚Historische Zeitschrift‘ heraus, der bekanntlich noch eine Reihe anderer führender Historiker nahestand, Maurenbrecher das ‚Historische Taschenbuch‘. Ranke selbst war - zumindest formell - Mitherausgeber der ‚Zeitschrift für Geschichtswissenschaft‘ und der ‚Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde‘. Auch auf ‚seine‘ Verlage dürfte hin und wieder Rücksicht genommen worden sein. Die bedeutende ‚Allgemeine Zeitung‘ erschien im Cotta-Verlag, der Rankes ‚Französische Geschichte‘ unter Vertrag hatte. All dies hat jedoch nicht vermocht, die Kritik an Person und Werk aufs Ganze zurückzudrängen.
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1. Kapitel (I/2.1.1) DAS FRÜHWERK 1824-1831 UND DIE GRÜNDUNGSSAGE DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT Rankes Verdienste um die Geschichtswissenschaft werden vor allem auf sein Erstlingsdoppelwerk von 1824, die ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535‘ nebst Beilage ‚Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber‘ bezogen. Ernst Bernheim schrieb in seinem bekannten ‚Lehrbuch der Historischen Methode mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hülfsmittel zum Studium der Geschichte‘ (Lpz. 1889), Ranke habe mit den ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ „die Geschichte als Wissenschaft im modernen Sinne eigentlich inauguriert“ (144), und die Beilage ‚Zur Kritik‘ sei „von epochemachender Bedeutung für die Entwickelung der Methodik“ (145). „Der Erfolg seines ersten Werkes ist außergewöhnlich“, schrieb Hans Hofmann in einer zu ihrer Zeit bekannten Ranke-Ausgabe ‚Geschichte und Politik‘ (1942, XII). Auch Jörn Rüsen urteilte, „Rankes Schrift Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber“ sei „damals als epochemachender Schritt zur Verwissenschaftlichung der Neueren Geschichte angesehen“ worden (Rüsen: Die vier Typen/1982, 576). Die weite Ausbreitung dieses Einflusses geschah angeblich, ehe man sich dessen versah: „Im Dezember 1824 lag das Buch vor und war sogleich ein großer Erfolg“, wußte später eine Veröffentlichung der ‚Historischen Kommission zu Berlin‘ (Escher/ 1989, 113). Auch Felix Gilbert glaubte über Rankes Beilage ‚Zur Kritik‘ vermelden zu können: „Bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung war dieser Ergänzungsband Gegenstand großen wissenschaftlichen Interesses ...“ (Gilbert/1992, 22). Das stand nicht minder für Ulrich Muhlack fest: „Die Zeitgenossen haben Rankes Anspruch und Leistung von vornherein erkannt und anerkannt und niemals in Frage gestellt. Gleich die kritische Abhandlung von 1824 erregte größtes Aufsehen und erfüllte alle Erwartungen, die Ranke in sie gesetzt hatte“ (Muhlack/2003, HMR, 24). Nach weitreichender Auffassung gehört Rankes Erstlingsschrift zu den „Büchern, die die Welt verändern“ (Bücher…/1968). Und: „If any single piece of writing influenced the worldwide development of professional history, it was the introduction to Ranke’s first book the 1824 History of the Latin and Teutonic Nations“ (Curtoys, Docker/2005, 56). So ist also mit seinem Erstling verbunden die Rolle, die man ihm zuwies als Gründer seiner Wissenschaft. Nach seinem Tod wurde Ranke bezeichnet als „Begründer der deutschen Geschichtswissenschaft“ (Salomon/1888), als „Begründer der modernen Geschichtswissenschaft“ (H. Lehmann/1970), als „Begründer der bürgerlichen Geschichtswissenschaft“ (Lozek/1986), als „Begründer des Historismus“ (Hofmann/1995), schließlich als „Begründer der modernen Historiographie“ (Stolzenau/1996). - Diesen Aussagen ist gemein ihre mangelnde Gültigkeit. Über Albrecht von Roon äußerte Ranke einmal, sein Verdienst bei der preußischen Militärreorganisation sei „das der Ausführung, nicht der Erfindung“ gewesen (SW 53/54, 627). Dies galt auch für Rankes Beziehung zur historischen Kritik. In der Tat wurde er zunächst weder als Begründer historischer Übungen oder Seminare angesehen (s. II/5), noch erblickte man in ihm den Erfinder der in Werk und Übungen vermittelten historischen Kritik im Sinne einer gänzlich neuen oder so noch nie geübten Technik. - 127 -
I/2.1.1 Geschichtsdenken seiner Zeit - Frühwerk und Gründungssage
Ranke galt überwiegend als eindrucksvoller historiographischer Darsteller, als wirkungsvoller Anwender und Verbreiter, zunächst keineswegs als Erfinder historischer Kritik oder gar als Begründer der Geschichtswissenschaft. Sein angeblich epochemachendes Erstlings-Werk wurde nur sehr vereinzelt als erwähnenswert betrachtet, geriet vielmehr der Zunft weithin für Jahrzehnte aus den Augen und war auch verlegerisch geradezu ein Mißerfolg (s. u.). Nach Rankes Erstlingswerk wurde historische Kritik Instrument und Hauptthema seiner ab dem Wintersemester 1825/26 abgehaltenen nicht öffentlichen Historischen Übungen (s. II/5.2). Sie setzte sich auch deutlich in den dezidiert quellenkritischen, anfangs nahezu Jahr für Jahr erscheinenden Dissertationen seiner frühen Schüler fort: Wilhelm Adolph Schmidt (1834), Roger Wilmans (1835), Georg Waitz (1836), Heinrich von Sybel (1838), Siegfried Hirsch (1839), Rudolf Anastasius Köpke (1841) behandelten allesamt mit auffallenden neuen Ergebnissen eine oder mehrere historische Quellen des Mittelalters, zumeist unter der Formel ‚de fontibus‘. Historische Kritik steht auch bei der einzigen von Ranke je herausgegebenen Buchreihe, den forschungsgeschichtlich bedeutenden ‚Jahrbüchern des deutschen Reiches unter dem sächsischen Hause‘ (1837-1840) im Vordergrund. Später begegnet sie in der großen Zahl seiner Akademie-Lesungen und Werk-Analekten. Fraglos hätte all dies schon bald den Eindruck eines programmatisch und konsequent schulebildenden Vorgehens und Vorgangs, einer Art quellenkritischer Aufklärung in breiter Front hervorrufen können. Doch es läßt sich nicht sagen, daß ein solcher forschungsgeschichtlich bedeutender Vorgang damals schon von vielen Zeitgenossen wahrgenommen oder vorwiegend mit Ranke in Verbindung gebracht worden wäre. Zu den ersten überlieferten nichtöffentlichen Beurteilungen Rankes gehören einige wenige Würdigungen und Empfehlungen angesehener und einflußreicher Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Dichtung und Gesellschaft, die jedoch fast durchweg zu Beginn der 1830er Jahre aufgrund ihres Ablebens verstummten und Ranke insofern eine weitere direkte Förderung nicht mehr zuteil werden lassen konnten. Letzteres galt nicht für seinen baldigen Berliner Kollegen Friedrich von Raumer (1781-1873), der nach einem Forschungsaufenthalt in Rom (1816/17, Jordan, Stefan: Raumer, Friedrich Ludwig Georg. In: NDB 21/2003, 201f.) gerade durch seine sechsbändige ‚Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit‘ (1823-1825) Aufsehen erregte. Veranlaßt durch eine Aufforderung des preußischen Kultusministeriums gab er am 20. Januar 1825 das erste bisher bekanntgewordene förmliche Urteil über Rankes Werk ab. Es hieß darin unter anderem: „Dem Wesentlichen nach darf ich behaupten: Herr Ranke zeigt eine, für seine Jahre und seine Lage ganz ungemeine Gelehrsamkeit, in der Prüfung der Quellen Scharfsinn und Genauigkeit, und nicht minderes Lob verdient die Sinnesart und der Charakter. Nur gegen die Anordnung der Theile ließen sich einige Erinnerungen machen, und die Sprache ist noch ungelenk, zerschnitten und unkünstlerisch. Auf jeden Fall bleibt das vorliegende Werk ein specimen, wogegen die meisten Dissertationen und Probeschriften ganz unbedeutend erscheinen...“ (GStA PK, I. HA Rep. 76 .V. f. Lit. R., Nr. 10, auch bei Lenz IV/1910, 460). Dem war ein ähnlich lautender Brief Raumers an Ranke vorausgegangen (2. 1. 25, bei Varrentrapp/1910, 111f.). Bei allem Lob wird weder hier noch da auf die Anwendung einer neuen, historisch-kritischen Methode abgestellt. Sodann ist es der Reichsfreiherr Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein (1757-1831), der sich zu Rankes Erstlingsschrift äußerte. Er schrieb an den für die Monumenta tätigen Georg Heinrich Pertz, 17. Okt. 1825: „Kennen Sie Rankes - 128 -
I/2.1.1 Geschichtsdenken seiner Zeit - Frühwerk und Gründungssage
in Frankfurt an der Oder historische Arbeiten, sie fallen in eine spätere Periode, zeigen aber Scharfsinn und Gründlichkeit.“ (Briefwechsel VI, [1937?], 311). Und an den ersten Herausgeber des 1820 begonnenen ‚Archivs der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde‘, Lambert Büchler (1785-1858), schrieb er am 23. März 1829: „Ranke ist ein vortrefflicher geistvoller Geschichtsschreiber, kennen E. H. seine Fürsten und Völker?“ [FuV I, 1827] (Briefwechsel VII/[1937?], 19). Epochemachend Neues wird auch bei diesem Lob an Ranke nicht entdeckt, und der Begriff der ‚historischen Kritik‘ scheint ein Fremdwort zu sein. Als erste der wenigen Stimmen, die sich publizistisch, also öffentlich, zu Rankes frühen Werken einfanden, ist die Karl August Varnhagen von Enses (1785-1858) zu nennen. Varnhagen hat in der ‚Spenerschen Zeitung‘ vom 12. Febr. 1825 die erste und für Rankes wissenschaftliche Laufbahn wichtigste Besprechung geschrieben, nicht mit der Qualifikation eines Fachhistorikers, doch aus der Position eines hochgebildeten und weltläufigen Allgemeinschriftstellers. Es heißt dort u. a.: „Wir begrüßen in ihm einen neuen Geschichtsforscher vom ersten Range“ (Varnhagen v. Ense/1825, Zitate nach 1833, 597). „Die Grundlage seiner Arbeit ist eine durchaus neue, umfassende Erforschung der Quellen, deren genaue Nachweisung im Einzelnen bei einem Werke dieser Art mit Recht geschehn ist. Diese Quellen sind aber selbst wieder der Gegenstand einer besondern Untersuchung geworden, und dieser Theil der Arbeit ist von vorzüglicher Wichtigkeit.“ (598) .... „Was dürfen wir von Hrn. Dr. Ranke nicht erst erwarten, wenn ihm vergönnt wird, ein so ergiebiges Quellenstudium ... durch Benutzung so vieler noch unerforscht liegender Schätze der Vorzeit in den Ländern selbst, welche hierzunächst in Betracht kommen, zu erweitern.“ (599. - Siehe dazu v. a. Wiedemann: L. v. R. und V. v. Ense vor R.s ital. Reise/1896, 197ff. und V. v. E.: Bll. aus d. preuß. Gesch. III/1868, 237f. - Äußerungen R.s über die Bespr. in Brief vom 19., nach Helmolt/1921,169, A. 41 nicht: 2. Febr. 1825 bei Wiedemann, Dt. Revue, Aug. 1896, 198). Der Neuigkeitshinweis Varnhagens mag hinsichtlich der Rankeschen Quellenobjekte zutreffend sein, hinsichtlich der angewandten Methode ist er unzutreffend, wurde auch von der damaligen Fachwelt nicht aufgegriffen. Varnhagens privates Urteil ist differenzierter. In einem Brief an Carl von Rotteck (1775-1840), 28. Juli 1825, heißt es erstaunlich weitsichtig: „Dieser junge Mann wird [!] in der Wissenschaft Epoche machen. Doch in der Wissenschaft genügt hier vielleicht am wenigsten, in der Welt bei weitem nöthiger! Die Geschichte steht in dem Anspruch auf allgemeine Theilnahme am nächsten der Poesie, in beiden haben gelehrte esoterische Werke nur einen halben Werth“ (Rotteck/1843, 249f.). - Vermutlich Christian Daniel Beck (1757-1832), bei dem Ranke in Leipzig altphilologische Vorlesungen gehört hatte, verfaßte in dem von ihm herausgegebenen ‚Allgemeinen Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1825‘, das nicht nur in Leipzig, sondern auch in Wien erschien, eine wohlwollende Besprechung des Doppelwerkes, in der er die mit „Umsicht“ durchgeführte, lehrreiche „strenge Musterung“ der Quellen lobte (341). Auch sei Ranke eine „strenge Darstellung der Thatsachen ... erstes Gesetz“ gewesen, „ein zweites die Entwickelung der Einheit und des Fortgangs der Begebenheiten“, der Vortrag sei „meist gedrängt“ und habe „eigene Wendungen“, sei aber „gehaltvoll und kräftig“ (339). Zwar hält Beck Rankes Werk für geeignet, „manche schöne Erwartungen für die Zukunft“ zu erregen (338), doch ist keine Rede von einer wissenschaftlichen Sensation oder gar einer Begründung der längst begründeten Geschichtswissenschaft.
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Auch das Jahr 1826 brachte positive fachliche Stimmen hervor. In den ‚Wiener Jahrbüchern der Literatur‘ war es wohl Josef von Hormayr (1781-1848), der eine sehr ausführliche, zumeist nacherzählende und zitierende Besprechung des Rankeschen Erstlings verfaßte: „Werke ... wie das vorliegende Rankes, wie [Karl Adolf] Menzels Geschichte der Deutschen, wie Raumers Hohenstauffen, halten den Glauben an deutsche Kraft und deutschen Fleiß mächtig aufrecht.“ (Hormayr/1826,1). Hormayr widmete sich v. a. der Rankeschen Darstellung Maximilians, die er ausdrücklich mit der Hormayrs, vermutlich seiner eigenen, verglich („... treffen in den Grundzügen haarscharf zusammen“, 16). Mit gleicher Ausführlichkeit würdigt der Rezensent den Anhang ‚Zur Kritik‘, der nach der „wahren Historiographie“ der voraufgehenden ‚Geschichten‘ eine „wahre Historiomathie“ darstelle (26). - Einige Ausstellungen („Gar zu wenig finden wir bey Ranke über die Angelegenheiten Ungerns“, „...hätte auch Maxens Stellung zum deutschen Ritterorden in Preußen ... erwähnt werden sollen“, 39) vermochten nicht das Gesamturteil zu beeinträchtigen, daß es sich bei Rankes Werk um „eine der erfreulichsten Erscheinungen des letzten Jahrzehnds“ [!] handele (ebd.). - Der erfahrene Breslauer Literatur- und Historiographiehistoriker Johann Friedrich Ludwig Wachler (1767-1838) nahm im selben Jahr 1826 in die vierte Auflage seines ‚Lehrbuchs der Geschichte zum Gebrauche in höheren Unterrichtsanstalten‘ folgenden allgemeinen Satz auf: „Das vollständige Studium (der neueren Geschichte) wird sehr erleichtert und gefördert werden, wenn mehrere den von dem wackeren Leopold Ranke betretenen Weg verfolgen.“ (p. VIII, nach Wiedemann VI/1891, 103). Doch nun regte sich auch bereits der später zu massiver Kritik schreitende streitbare Heinrich Leo (1799-1878) in seiner Ausgabe der ‚Briefe des Florentinischen Kanzlers und Geschichtschreibers Niccolo di Bernardo dei Machiavelli an seine Freunde‘ (Bln. 1826). Leo war, wie Ranke, 1825 ein Geschichts-Extraordinariat in Berlin zuteil geworden. Seine Briefausgabe enthält in dem der Charakteristik Machiavellis und Guiccardinis geltenden Vorwort Anspielungen auf Rankes Beurteilung Machiavellis in der Beilage ‚Zur Kritik‘ und ist damit Vorläufer der in seiner Besprechung verdeutlichten und ausgeweiteten Kritik; u. a. liest man in der Briefausgabe Folgendes: Wie Machiavelli „früher wegen Eigenschaften, die er nie besaß, oft heftig getadelt worden ist, so ist er neuerdings wegen anderer angedichteter Eigenschaften meiner Ansicht nach eben so unpassend gelobt worden“ (p. IV). - Des weiteren direkt nur noch: „Eine Vergleichung bestimmter einzelner Stellen aus der Politik des Aristoteles mit Stellen aus dem Buche vom Fürsten, hat ganz kürzlich Herr Professor Ranke in seinem Werke ‚Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber‘, S. 195 angestellt.“ (p. XX, Fn.). Dazu ist Rankes Brief an Leo vom 21. Apr. 1826 (SW 53/54, 155-157) zu vergleichen. - Eine Besprechung der Schlosserschen ‚Universalhistorischen Uebersicht der Geschichte der alten Welt und ihrer Kultur‘, die Leo 1827 in den ‚Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik‘ verfaßte, nannte Ranke zwar nicht, doch enthielt sie ausführliche, schon Droysen und Dilthey nahe stehende Reflexionen über das Problem der „Wahrheit des Geschehenen“ - „ ... nicht die Bestimmtheit des Geschehenen als eines bloß Geschehenen“ sei „das geistig Interessante daran ... sondern dieses andere, daß das Geschehene ein geistig reflectirtes, ein vom Geist durchdrungenes und von ihm Zeugniß ablegendes sei“ (Sp. 355) - welche wiederum als Vorgriff auf seine direkte RankeKritik von Bedeutung sind. Zunächst konnte sich Ranke noch in Sicherheit wiegen, denn Leos später berühmte Besprechung des Doppelwerks von 1824 erschien erst 1828 unter der von Herausgeberseite erzwungenen Anonymität bzw. Pseudonymität ‚H. L. - 130 -
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Manin‘ (dazu Leo: Replik/1828, Sp. 352) in den Ergänzungsblättern der ‚Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‘. Sie hätte bei einem früheren Erscheinen eine ernste Gefahr für Rankes Karriere dargestellt, denn es hieß darin nach Heranziehung zahlreicher, zumeist überzeugender Beispiele: „Fassen wir Alles, was wir über dieses Werk zu sagen haben, in Ein Urtheil zusammen: so ist es folgendes. Die Quellen, woraus Hr. R. zu schöpfen hatte, hat er fleissig, aber ungenau gelesen - sein politisches Räsonnement ruht nirgends auf einem festen Grund vorausgegangener, staatswissenschaftlicher Studien; nirgends weiss er das politisch Wichtige von dem Unwichtigen zu unterscheiden. - Sein Urtheil ist die Aeusserung eines nicht zu klarer Einsicht durchgebildeten Gefühles - sein ganzer wissenschaftlicher Charakter ist mehr der eines Dilettanten, als eines ernst Forschenden, und sein Buch daher für jeden unbrauchbar, der etwas Anderes darin sucht, als das, was eben Hn. R. an der Geschichte der Zeit von 1494-1535 subjectiv interessirt hat. - Dieses Einmischen seiner Subjectivität geht bis auf den Grad, daß er zuweilen ausdrücklich (wie z. B. S. 310), zuweilen ohne es zu sagen, seine Leser ǀ nicht mit der Geschichte, sondern bloss mit seinen Phantasieen unterhält. Wessen Bildung nun eine ähnlich subjective Wendung genommen hat, der mag sich an dem Buche erfreuen; Rec. prophezeyt desshalb Hn. R. besonders bey gelehrten Weibern viel Beyfall. [Gewiß eine Anspielung auf Rankes Umgang mit Bettina von Arnim und Rahel Varnhagen] - Nutzen kann niemand daraus schöpfen, denn für den minder Gelehrten, der aber gründliche, historische und politische Belehrung sucht, ist das Buch zu leichtferig und durch die kauderwelsche Sprache zu unverständlich; den eigentlich Gelehrten überhebt es aber auch durch keine Zeile der Mühe, selbst an die Quellen zu gehen, da nirgends in dem Werke ein zuversichtliches Vertrauen erweckt wird.“ (Sp. 139f.). Leo spricht in überzogener Weise und destruktiver Tendenz auch von „jugendlicher Verirrung“ (Sp.129) „weinerlicher Menschenliebe“ (Sp. 133), „weibisch abergläubischen Beobachtungen“ (Sp. 137), vor allem aber seien die Urteile Rankes „ohne philosophische Bildung und überhaupt ohne eigentliche Wissenschaft“ (ebd.). Ranke, den diese während seiner archivbedingten Abwesenheit von Berlin erschienene „teuflische Recension“ (an HR, 16. [bis Ende] Apr. 1828, SW 53/54, 196) schwer erschütterte, replizierte seinem „Feind und bösen Schulmeister“ (Ranke: Replik/1928, Sp. 196), der „sehr viel Böses“ von seinem Werk gesagt habe (Sp. 193), im Mai in der ‚Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ auf eigene Kosten und auf eher unbeholfene Weise, die manche angeblich „kleinmeisterlichen und gehässigen Wortklaubereien“ seines Kritikers überging (Sp. 196). Vor allem ist die Zurückweisung der durch Hegel geschulten Kritik Leos (H. L. Manin/1828, 137) an der leichtfertig und unnötig hochgreifenden Sentenz „In dem entscheidenden Augenblick tritt allemal ein, was wir Zufall oder Geschick nennen, und was Gottes Finger ist“, wobei ihm Ranke letztlich als „sentimentaler Abergläubischer“ erschien (H. L. Manin/1828, Sp. 137), wenig überzeugend (Ranke: Replik/1928, Sp. 198). Leo wiederum - diesmal mit seinem Namen - kündigte dort noch am 31. Mai eine Replik, eigentlich Duplik, an, welche bereits im Folgemonat im Intelligenzblatt der ‚Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ erschien. Nachdem er auf die Punkte von Rankes Replik eingegangen war, bemerkte er (Sp. 311:) „... was soll ich nun, nachdem ich gezeigt, wie Alles, was er unter No. I und II gegen meine Recension sagt, völlig schiefes und nichtswürdiges Geschreibsel ist, zu No. III sagen, in welcher Partie seiner Antikritik er abermals an den Rändern und auf den Rainen der Philosophie herum - 131 -
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taumelt, und den Stellen meiner Recension, die ihn aufmerksam machen sollten, doch ein wenig klarer sich über seine Gedanken Rechenschaft zu geben, ehe er sie niederschreibt, und die zugleich das Publicum warnen sollten, sich durch den gemüthlich religiösen Anstrich des Buches nicht [Sp. 312:] beschleichen zu lassen, eine Deutung unterlegt, als hätte ich es gewissermassen auf seinen bürgerlichen Ruin abgesehen, ihn verketzern, Verläumdungen und Insinuationen gegen ihn ausstreuen wollen? Alles, was ich gegen ihn gesagt habe, bezieht sich bloss auf sein Buch, Alles habe ich urkundlich belegt aus seinem Buche selbst - ...“ [Kursivierungen i. T.]. Leo gab sich später versöhnlich. In der Vorrede seiner ‚Geschichte der italienischen Staaten‘, Fünfter Theil [und Fünfter Band]. Vom Jahre 1492 bis 1830‘, 1832 erschienen, brachte er einen wohlwollenden Hinweis auf Ranke: „Da nun überdies die neuere Geschichte Italiens ganz im Argen gelegen hat, bis sich Ranke ihrer annahm...“, und er weist darauf hin, für sein eigenes Werk „einzelne Beiträge zur Geschichte dieser Zeit von Ranke und von Raumer...“ (IX) benutzt zu haben. Dabei handelt es sich um Rankes doppelbändiges Erstlingswerk, um die ‚Fürsten und Völker‘ I und um ‚Ueber die Verschwörung gegen Venedig‘, und dies geschieht ohne die Geringschätzung seiner voraufgehenden Rezension. Zurück ins Jahr 1828. Auch die gänzlich unpolemische Besprechung des ErstlingsDoppelwerkes durch einen Anonymus der ‚Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ vom Februar 1828 war für Ranke nicht durchweg erfreulich. Der Rezensent lobte zwar mehrfach die unbedingte Wahrheitssuche des Forschers Ranke, widersprach ihm jedoch in einem wesentlichen, in der Tat problematischen Punkt, dessen vergleichsweise differenzierte Erörterung auch den Schwerpunkt der Besprechung bildet: die von Ranke angenommene und nach seinem Tod häufig unreflektiert übernommene These von der Einheit der romanischen und germanischen Völker. Diese sah der Rezensent zu Recht „mehr in der Phantasie als in Wahrheit begründet“ an ([Anonym: Bespr. von GRGV und ZKritik]/1828, Sp.185). Zudem bleibe Ranke bei der Ausführung des Gedankens selbst „nicht getreu seiner Idee“, denn es mangele an einer Darstellung des Gemeinschaftlichen und Zusammenhängenden (188). Damit verbunden wurde auch die zwar klarer als bisher gezeichnete, jedoch unangemessen übergewichtige Darstellung Italiens gegenüber den anderen unter den Begriff fallenden romanischen und germanischen Völkern beanstandet (ebd.). Rankes Erstlingswerk konnte auch verlegerisch keineswegs als erfolgreich gelten. Vielmehr ist es recht befremdlich, daß gerade dieses Werk über lange Zeit buchhändlerisch gesehen gänzlich entschwand. Reimer, der Verleger der Erstauflage, bat in einem Brief an Ranke vom 10. 12. 39 um ein neues Werk für seinen Verlag und befaßte sich zugleich mit der zwischen ihnen eingetretenen Entfremdung, wobei er bemerkte: „...Rührt es vielleicht daher, dass Ihr erstes Buch, womit Sie sich Bahn in der Literatur brachen und Ihren Ruf begründeten, nicht den gewünschten Erfolg gehabt hat? Ich habe das wenigstens nicht verschuldet und darf ehrlich und treu versichern, dass ich bisher noch weniger Genuss davon gehabt habe als Sie, indem der bisherige Absatz nicht einmal zur Deckung der Kosten gedient hat...“ (Schwarz/1923, 119, A. 3). Das Werk erlebte erst nach 50 Jahren eine zweite Auflage, und dies nicht aufgrund einer über die Jahrzehnte hin aufgestauten, sich verstärkt bemerkbar machenden allgemeinen Nachfrage, sondern aus Gründen der Vollständigkeit innerhalb der ‚Sämmtlichen Werke‘. Die Genehmigung des Erstverlages Reimer zur Aufnahme in die bei Duncker und Humblot erscheinende Gesamtausgabe wurde 1866 ohne jeden Wider- 132 -
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stand erteilt, denn, wie man Ranke in einer Unterredung eröffnete, werde das Buch „fast gar nicht mehr gekauft“ (R. an G. Reimer, 20. 11. 66, unveröff., SBB/PK Archiv Walter de Gruyter). Woraus auch ersichtlich ist, daß die geringe erste Auflage selbst nach über vierzig Jahren nicht zur Gänze abgesetzt war. Einen weiteren Hinweis auf die schwache bzw. nicht existente internationale Wirkung des Werkes bietet auch die Tatsache, daß zu Rankes Lebzeiten keine Übersetzung erschienen ist. Sein in der Vorrede des Erstlingswerkes enthaltenes Diktum - „... bloß sagen, wie es eigentlich gewesen“ (GRGV/1824, VI) -, „the most famous statement in all historiography“ (Krieger/1979, 4) kam, was für die Historiographiegeschichte des 19. Jahrhunderts zu denken gibt, erst im 20. Jahrhundert zu dieser Wirkung. Zu den verlegerischen Misserfolgen sind neben Rankes Erstlingswerk, den beiden folgenden Werken und der ‚Historisch-politischen Zeitschrift zunächst seine 18471848 in drei Bänden erschienenen ‚Neun Bücher Preußischer Geschichte‘ zu zählen, wovon lediglich der erste Band in eine zweite Auflage gelangte. Das Werk ist, wie sich zeigen wird, ohnedies sein am meisten verurteiltes, und das geschah nahezu einhellig. Bedeutende Erfolge als Autor erzielte Ranke mit keinem seiner frühen Werke. Nicht sein Erstlings-Doppelwerk hat ihn bekannt gemacht, sondern seine ‚Römischen Päpste‘. Dieses Werk war auch das einzige, das im Ausland erfolgreich in Erscheinung trat, freilich nur in England. Das Jahr 1828 hielt für den archivreisenden Ranke noch weiteres Ungemach bereit. Nicht nur war in Berlin das seine Karriere in Preußen gefährdende „boshafte Gerücht“ entstanden, er sei in Wien katholisch geworden, so schrieb Bettina am 5. Mai an Achim von Arnim, (Briefwechsel II/1961,728), auch eine seinem Ansehen abträgliche Bloßstellung aus dem Munde höchster philosophischer Autorität traf ihn. Während Hegel seinem ehemaligen Hörer Leo einige Förderung zukommen ließ (Maltzahn, Christoph Freiherr von: Leo, Heinrich. In: NDB 14/1985, 243-245), durfte sich Ranke dieses Wohlwollens nicht erfreuen. Vielmehr stellte der Philosoph ihn während einer Vorlesung bloß. Bei der kommunikativen Dichte der Berliner Verhältnisse darf man annehmen, daß sie dem Kritisierten alsbald zugetragen wurde. Bisher war freilich nicht ganz klar, wann Hegel Ranke vorgeführt hat, denn Hegel hielt seine Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte vom Wintersemester 1822/23 an in zweijährigem Turnus, jeweils wöchentlich vierstündig, also fünfmal, das letzte Mal im Wintersemester 1830/31, wie Johannes Hoffmeister in seiner „neuen kritischen“ Ausgabe der Sämtlichen Werke Hegels erklärt (Bd. XVIII A, I. Teilbd./1955). Auch Heinrich Leo hatte sie in ihrer frühen Form gehört (Maltzahn, 243). Den ersten Entwurf u. d. T. „Arten der Geschichtsschreibung“ hielt Hegel 1822 und 1828. Laut Hoffmeister (15, Anm. g) ist es die einzige Stelle in Hegels Werken, wo der Name Rankes erwähnt ist, also auch nicht in der erheblich veränderten Fortführung der Vorlesung im WS 1830/31. Da 1822 nicht in Betracht kommt, ist anzunehmen, daß nicht nur Rankes Name, sondern der, wie zu vermuten ist, erst durch ihn veranlaßte ganze Abschnitt, 1828 in den Vorlesungstext gelangte, als Ranke fern von der Berliner Universität in Italien weilte. - (Klammern beiderlei Art und Sperrungen sind der Edition entnommen:) „Gegen d[iese] allgemeine Weise [versuchen gewisse Geschichtschreiber,] wenigstens, wenn nicht diese Lebendigkeit der Empfindung, doch [die] der Anschauung, der Vorstellung dadurch [zu gewinnen,] daß [sie] a l l e e i n z e l n e n Z ü g e gerecht, lebendig darstellen, nicht durch eigene V e r a r b e i t u n g die alte Zeit reproduzieren wollen, sondern durch s o r g f ä l t i g e T r e u e ein Bild derselben geben. [Sie] lesen diese allent- 133 -
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halben her zusammen (Ranke). Die bunte Menge von Detail, k l e i n l i c h e n I n t e r e s s e n , Handlungen der Soldaten, P r i v a t sachen, die auf die p o l i t i s c h e n Interessen keinen Einfluß haben, - unfähig, ein Ganzes, einen allgemeinen Zweck [zu erkennen]. [Eine] Reihe von Zügen - wie in einem Walter Scott’schen Roman - überall her aufzulesen, f l e i ß i g und mü h s e l i g zusammenzulesen, - dergleichen Züge kommen in den Geschichtschreibern, Korrespondenzen und Chronikenschreibern vor, - solche Manier verwickelt uns in die vielen zufälligen Einzelheiten, [die] historisch w o h l r i c h t i g [sind]; aber das H a u p t i n t e r e s s e [wird durch sie] um nichts klarer, im Gegenteil verworren...“ „[Man sollte] dies den Walter S c o t t ’ s c h e n R o m a n e n überlassen, diese A u s ma l e r e i im Detail mit den kleinen Zügen der Zeit, wo die Taten, Schicksale eines einz[elnen] Individuums das mü ß i g e Interesse ausmachen, auch das g a n z P a r t i k u l ä r e | von dem g l e i c h e n I n t e r e s s e ; aber i n G e mä l d e n v o n d e n g r o ß e n I n t e r e s s e n d e r S t a a t e n , in diesen verschwinden jene Partikularitäten der Individuen. Die Züge sollen charakteristisch, b e d e u t e n d für den Geist der Z e i t sein, - dies ist zu leisten auf eine höhere, würdigere Weise, [nämlich dadurch, daß] die p o l i t i s c h e n Taten, Handlungen, Situationen selbst zur Geltung kommen, daß das A l l g e me i n e der Interessen in ihrer Bestimmtheit [dargestellt wird].“ (15f.). Daß Hegel in Ranke keinen bedeutenden Neuerer sah, auch keinen Blick auf das grundlegende, zukunftsträchtige empiristische Phänomen der historischen Kritik warf, nimmt nicht Wunder, kann aber als beiderseitig bezeichnend vermerkt werden. Auch August Wilhelm v. Schlegel (1767-1845), den Ranke im Hause des Verlegers Andreas Reimer kennengelernt hatte (s. II, 460), verspottete ihn. Allerdings kennt man die Gründe nicht. Varnhagen schrieb am 4. März 1829 an Rahel: „Ueber Ranke spottet Schlegel wie über einen Schuljungen“ (Briefw. Varnhagen/Rahel VI/1875, 317). * Die Freude an seinem zweiten Werk, den 1827 erschienenen ‚Fürsten und Völkern von Süd-Europa‘, hatte Ranke noch in Berlin mit den Arnims, vornehmlich mit der bereits zitierten Bettina, geteilt, bevor er zu seiner ersten großen Archivreise in den Süden aufbrach: In einem Brief von Ende Juli 1827 schrieb sie - Ranke damals noch gewogen - darüber an ihren Mann Achim von Arnim (1781-1831): „Meine treuherzigste, wohlwollendste Gesellschaft ist Ranke, er kömmt die Woche ein paar Mal, sein Buch was eben herausgekommen, Fürsten und Völker von Süd-Europa im 16ten und 17ten Jahrhundert, hat er mir für Dich geschenkt; es liest sich vortrefflich und ist so eingerichtet, daß auch der Zerstreuteste, Unteilnehmendste eingeführt wird, es wird Dir gewiß gefallen.“ (Achim und Bettina in ihren Briefen II/1961, 691). Auch Rahel Varnhagen (1771-1833) sah darin wohl zuallererst ein Werk der Literatur. In einem Brief an die Fürstin [Lucie] von Pückler-Muskau (1776-1854) schrieb sie am 6. Dez. 1828: „Ich werde mich eilen, Fürsten und Völker von Südeuropa im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert von Ranke auszulesen - wunderschön - um es Ihnen zu schicken.“ (Rahel III/1834, 350). Ein Urteil, das bei den Verbindungen, die sie in Salon und Korrespondenz bis hin zu Goethe und Gentz pflegte, und dem Ansehen, das sie genoß, nicht ohne Belang war. Besprechungen zu ‚Fürsten und Völkern‘ - wie überhaupt zu Rankes Frühwerken konnten indes nur wenige, und auch nur solche mit geringer Bedeutung oder Eigentümlichkeit nachgewiesen werden. Die Besprechung eines Anonymus der ‚Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ vom Februar 1828 enthält wenig Charakteristisches und noch weni- 134 -
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ger Sachkundiges. Gelobt werden an diesem Werk eines „jungen, fleißigen Forschers“ (Sp. 177) neben der Heranziehung von Gesandtschaftsberichten (Sp. 178) die „vorzüglich gelungenen Schilderungen“ Karls V., Philipps II., Philipps III., Albas und Lermas (Sp. 179f.), allgemein: seine Klarheit und Gründlichkeit. Der offensichtlich liberale Rezensent betrachtet mit großer Emotion die angeblich das ganze Werk durchziehende „Schilderung des Fluches, welcher auf despotisch beherrschten Ländern und Völkern, ja auf den Despoten selbst und ihren Häusern liegt“ (Sp. 179). Auch über die „unerträgliche Last einer übermüthigen Aristokratie“ breche Ranke „bloß durch Erzählungen der Thatsachen ... den Stab.“ (Sp. 182). Diese beruflich und gesellschaftlich schädigende Sicht der Dinge dürfte Ranke kaum zugesagt haben. Beiläufig ist in der Besprechung nicht die Rede von historischer Kritik oder gar von der Begründung der oder einer neuen Geschichtswissenschaft. Mag sein, daß der liberale Freiburger Historiker Carl von Rotteck durch seine Korrespondenz mit Varnhagen zu einer Besprechung des Rankeschen Zweitwerkes ‚Fürsten und Völker‘ angeregt worden war. Für seine Verfasserschaft des anonym in den ‚Jahrbüchern der Geschichte und Staatskunst‘ vom Jahre 1828 erschienenen Beitrags spricht neben seinem Auftreten in der Mitarbeiterliste der Zeitschrift besonders das neuerliche Hervorkehren ‚freisinniger‘, antidespotischer Ranke-Zitate. Hier ist der Schluß erlaubt, daß Ranke in seinem vor Übernahme der ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ erschienenen Frühwerk, nicht nur, wie naheliegend, in seiner ‚Serbischen Revolution‘, sondern auch in den ‚Fürsten und Völkern‘ (I), als ein dem Liberalismus nicht gänzlich fernstehender Historiker angesehen werden konnte, dies allerdings nicht wollte, denn er war dieser Bemerkungen „mit Erschrecken ansichtig geworden“. „Wie der Recensent denkt, ist der Sinn jenes Buches schlechterdings nicht“, schrieb Ranke abstoßend besorgt an Heinrich Ritter, „vielmehr eher das Gegentheil und lauter Loyalität“ (22. 3. 28, SW 53/54, 193). - Der Rezensent betont die frühe Reife des Historikers Ranke und lobt Darstellung und Quellenarbeit. Doch unmittelbar auf seine Besprechung von Rankes ‚Fürsten und Völker‘, Bd. I folgt eine solche von G. A. H. Stenzels ‚Geschichte Teutschlands unter den fränkischen Kaisern‘, Bd. I., Leipzig 1827, und an deren Ende mußte Ranke lesen: „Ein Werk dieser Art zeigt die Kraft des Einzelnen, und sichert seinem Namen den Ehrenplatz in den Reihen der ausgezeichneten Geschichtsschreiber des teutschen Volkes und Reiches.“ (221f.). Der in Rottecks genannter Besprechung über Ranke erhobene Gustav Adolf Harald Stenzel (1792-1854), erster professioneller, stark quellenkritisch orientierter Historiker, mit dem Ranke während seiner Leipziger Studienzeit in belehrende Berührung gekommen war, hatte in eben dieses Werk auch eine Anspielung auf Rankes ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ und deren Beilage eingebracht, indem er schrieb: „Es durfte ferner nicht alles mühsam Erforschte gegeben, vielmehr mußte die Untersuchung unterdrückt, nur das Ergebnis mitgetheilt und immer der falsche Schimmer der Gelehrsamkeit vermieden werden, welcher das Lesen vieler Deutschen Geschichtswerke so beschwerlich macht.“ (Stenzel I/1827, p. VIIIsq.). In Band II (1828, 3) jedoch lobte der mittlerweile in Breslau zum Ordinariat Aufgestiegene die von Ranke in ‚Zur Kritik‘ vollzogene „…meisterhafte Beurtheilung der Glaubwürdigkeit einzelner Schriftsteller…“ Über die später zwischen ihm und Ranke aufgetretenen Spannungen wird im Zusammenhang mit der ‚Preußischen Geschichte‘ zu sprechen sein. Eine in Nordamerikas erster Literatur-Zeitschrift, der ‚North American Review‘, im Oktober 1830 anonym erschienene Besprechung der ‚Fürsten und Völker‘ ist doch nicht - 135 -
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so ertragreich, wie man gern gesehen hätte. Aus Rankes und zwei Werken von Joseph von Hammer stellte sie einen kurzen Überblick über die Gründe des Niedergangs des Osmanischen Reiches zusammen. Ranke wird nur einmal - wohl zum ersten Mal auf dem amerikanischen Kontinent - kurz erwähnt mit einer auf die venezianischen Relationen bezüglichen Bemerkung: „Several modern authors have availed themselves of these historical treasures; and in the valuable work of Mr. Ranke, Professor of History at Berlin, the title of which is placed at the head of this article, we see the fortunate result of a diligent and judicious study of them.“ (293). Rankes ‚Fürsten und Völker‘ wurden erst nach 10 Jahren wieder aufgelegt, vermutlich, um die zu dieser Zeit erscheinenden Bände II-III, die freilich keine wirkliche Fortsetzung von Bd. I bildeten, äußerlich angebotsmäßig abzurunden. So wurden sie denn auch zusammen mit dem ersten, 1834 erschienenen Band der ‚Päpste‘ in den ‚Ergänzungsblättern zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ (A. H. L. [Heeren?] und A. Schr./1837) besprochen. Indes verdient die Besprechung des ersteren Werkes diesen Namen nicht, da sie sich in einer nahezu stichwortartigen ‚Inhaltsangabe‘ erschöpft. Auch die ‚Observations sur la marche, le caractère et l’état actuel des études historiques en Allemagne‘, die Rotteck im September und Oktober 1840 in der Pariser ‚Académie des sciences morales et politiques‘ las und die im Folgejahr sowohl in deren ‚Mémoires‘ als auch in deutscher Fassung in ‚Dr. Carl von Rotteck’s gesammelten und nachgelassenen Schriften‘ erschien, sagt über Ranke wenig aus. Hier ist nicht von etwaigen Verdiensten um die historische Kritik, auch von keiner neuen Methode, nicht einmal von Darstellungskunst die Rede. Rotteck sieht in seiner sehr summarischen Skizze, beginnend mit dem 15. Jahrhundert, die Entwicklung der historischen Literatur vornehmlich in Zusammenhang mit der des Freiheitsgedankens, nennt in enzyklopädischer Manier eine große Zahl deutscher Historiker, erwähnt Ranke nur sehr beiläufig und einschränkend als Verfasser der falsch zitierten und v. a. datierten ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘: „Une période un peu postérieure, et qui touche aux temps modernes, a été explorée par L. Ranke, dans son Histoire des peuples romans et germains des XVIe et XVIIe siècles (1827).“ (Rotteck: Observations/1841, 657). Im Jahre 1840 waren jedoch bereits erschienen: ‚Zur Kritik‘, ‚Fürsten und Völker‘ I, ‚Päpste‘ I-III und ‚Deutsche Geschichte‘ I-III. Die deutsche Fassung der ‚Observations‘ ist um ein Werk ausführlicher: „Eine etwas spätere, den Anfang der neuen Zeit umfassende, Periode bearbeitete L. Ranke, gleichfalls aus von ihm sorgfältig erforschten, zum Theil bisher noch unbenützten Quellen in seiner ‚Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494-1535 (1824), und in dem Werke ‚Fürsten und Völker des sechzehnten und siebenzehnten Jahrhunderts‘ (1827)“, - kein Wort über Rankes ‚Zur Kritik‘ (Rotteck: Betrachtungen/1841, 392). - Pascal Duprat wartete in seinen ‚Études critiques sur les historiens allemands contemporains‘ in der Pariser ‚Revue indépendante‘ von 1843 mit einer nicht ganz abzuweisenden weitreichenden fachlichen Kritik auf: Ihm erschien es unverständlich, weshalb Ranke in seinen ‚Fürsten und Völkern‘ nicht - Hammer und anderen folgend - tiefer in orientalische Quellen eingedrungen war (Duprat/1843, 379). Der noch weiterhin zu betrachtende Frühmarxist Karl Friedrich Köppen konnte über die von Ranke bei seiner ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ der Jahre 1832 bis 1836 eingenommene ‚Haltung‘ nicht hinwegsehen und warf 1841 für das Werk ‚Fürsten und Völker‘ des „ Hofmannes“ Ranke die nicht zu beantwortende Frage auf: „Wo sind die Völker geblieben?“ ([Köppen]/1841, Sp. 432). - Eine wohl von Jacques de Mas Latrie (1815-1897), damals Secrétaire der ‚Société de l’Ecole des Chartes‘, stammende Bespre- 136 -
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chung einer in Frankreich erschienenen Übersetzung stieß sich daran nicht. Das lobende Kurzreferat des ‚ausgezeichneten‘ Werkes schloß mit einem einzigen, auch in Deutschland häufig zu vernehmenden Vorwurf: „c’est de manquer de développements suffisants“. Diesen Mangel des Rankeschen „laconisme“ habe der Übersetzer [!] erfreulicherweise durch lektüreerleichternde Anmerkungen zu beheben gesucht (J. M./1844, 477). Spätere Anzeigen von Neuauflagen des Werkes haben nur noch nichtssagenden Routinestatus. Dies gilt jedenfalls für die kurze wohlwollende Anzeige des „most valuable sketch, well worthy of the hand of the veteran, whose store of knowledge appears to be inexhaustible“ in einem Heft von 1878 der Londoner ‚The Academy’ ([Anonym:] [Bespr. von FuV I,4]/1878, 164), gilt auch für die Besprechung, welche Rodolphe Ernest Reuss 1878 in der Pariser ‚Revue historique‘ erscheinen ließ. - Eine erste Übersetzung des Werkes war 1839 in Frankreich erschienen. Eine erste englische Übersetzung trat 1843 hervor, eine spanische 1857, schließlich eine türkische im Jahre 1971. * Zu den bedeutenden frühen, nichtöffentlichen Stimmen gehört die Goethes, der sich aufgrund eines Dedikationsexemplars von Rankes 1829 erschienenem dritten Werk, der ‚Serbischen Revolution‘ äußerte, - wenn auch nicht Ranke, sondern dessen Verleger Friedrich Christoph Perthes gegenüber. Der vorgebliche Allein-Verfasser des ‚Büchleins‘ durfte sich eines ersehnten persönlichen Kontakts mit dem Dichterfürsten allerdings nicht erfreuen, wohl vor allem, da Goethe bereits ein Jahr nach Rankes Rückkehr aus Italien starb. Am 15. März 1829 hatte er einen Tagebucheintrag verfaßt: „Ich las nachher Professor Ranke Serbische Revolution, ein verdienstliches Büchlein, das ich so eben von Perthes erhalten hatte.“ (Goethes Tgbb., XII/1901, 39). Schon am folgenden Tag „endigte“ er „gedachtes Werk“ (ebd.). An Perthes schrieb er: „Weimar [etwa 16.] März 1829“, „[Concept] Ew. Wohlgeboren gefällige Vermittelung hat mich abermals mit einem angenehmen Büchlein bereichert, welches über die serbischen Zustände hinlängliche Auskunft gibt. Des Verfassers beygelegter Brief ist aus Venedig datirt; mein Dank wird ihn durch Ihre Geneigtheit wohl eher zu treffen wissen, als es unmittelbar von mir geschehen könnte.| Eine frühere, auch in Ihrem Verlag herausgekommene Schrift [FuV I] kenn ich nur dem Titel nach, allein die gegenwärtige gibt mir auch für seine Person besonderes Interesse. Er unterschreibt sich [in seinem Brief vom 22. 1. 29, Goethe-Jb. 9, 1888, 74f.] als außerordentlicher Professor an der Universität von Berlin … Mögen Sie mir etwas Näheres von ihm, von seiner Herkunft, so wie von seinen nächsten Studien und Absichten mittheilen, so werden Sie mir eine besondere Gefälligkeit erweisen.“ (Goethes Briefe, 45. Bd./1908, 199f.). Goethe ist nicht der einzige getäuschte Bewunderer von Rankes ‚Serbischer Revolution‘. Auch Friedrich von Gentz wußte Ranke das Werk, nicht ohne Bedenken, näher zu bringen. Dieser schrieb am 28. April 1829 in sein durchweg höchst karges Tagebuch „ ... las den größten Teil einer neuen Schrift von Ranke über die Serbische Revoluzion“ (Tgbb. V/1920, 52) und am nächsten Tag: „ ... Die Lectüre von Ranke’s Buch vollendet.“ (Ebd.). Letztlich ist Barthold Georg Niebuhr (1776-1831) zu nennen, mit dem Ranke für kurze Zeit in einem geringen, wenn auch noch nicht ausreichend erfaßten Briefwechsel stand. Niebuhr erwähnte seinen jungen Kollegen in Briefen an den Historiker Jakob Philipp Fallmerayer (1790-1861), 14. Nov. 1828 (Niebuhr: Briefe III/1983, 396), an den Rechtshistoriker Friedrich Bluhme (1797-1874), 13. März 1829 (ebd., 433) und vor allem an den Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772-1843), 21. Juni 1829. In - 137 -
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Niebuhrs Brief an Perthes heißt es: „Ich wünsche Ihnen grosses Glück zu Rankes Serbien, welches ich laut anpreise, wie Ihr Haus an den hier abgesezten Exemplaren | spüren wird. Es steht mir zu, zu sagen, dass dies kleine Buch, als Historie, das vortrefflichste ist was wir in unsrer Litteratur besizen. Ranke hat alles abgestreift was früher an seiner Manier störte. Ich habe das Buch auch nach England und Frankreich empfohlen.“ (ebd., 445f.). Überdies hat Niebuhr in der 39. Vorlesung an der Bonner Universität - über das Zeitalter der Revolution - geäußert: „Rankes Schrift über den servischen Aufstand ist die einzige vortreffliche Geschichte gleichzeitiger Ereignisse unserer Zeit; ein Werk, auf das wir Deutschen stolz sein können“. (Ebd, 446). - Es entbehrt nicht einer gewissen traurigen Ironie, daß das Abstreifen dessen, was früher an Rankes Manier gestört hatte, in der ‚Serbischen Revolution‘ vor allem Vuk Stefanović Karadžić zu danken war, der nicht nur die Faktizität, sondern unter Beihilfe von Kopitar weithin auch deren Anschauung und gelobte Darstellung geliefert hatte (s. II/1.1). Zu den prominenten Getäuschten gehörten neben Goethe, Gentz und Niebuhr später auch Johannes Scherr und Gustav Freytag. Scherr hielt die ‚Serbische Revolution‘ für Rankes vorzüglichstes Werk, bei dem dieser „das Volk schlechterdings nicht ignoriren“ konnte (Scherr/(1862) 1864, 177). Das entsprach dem frühen Ranke-Artikel des ‚Conversations-Lexikons der neuesten Zeit und Literatur‘ von 1833, dessen Anonymus gefunden hatte, Ranke habe im Vergleich mit seiner ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ in seiner ‚Serbischen Revolution‘ „vielleicht unwillkürlich eine bei weitem freiere und liberalere politische Ansicht an den Tag gelegt“ (III/1833, 686). - Gustav Freytag (1816-1895) sah darin gar „das liebenswürdigste Buch Rankes“ (Gustav Freytags Briefe an Albrecht von Stosch/1913, 190. Brief vom 28. 3. 87). Im übrigen hat das Werkchen mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen durchweg eine freundliche, aufgrund der kaum bekannten Thematik kenntnisarme und wenig besagende Aufnahme gefunden, schon früh auch in London, wo im Jahr des Erscheinens die ‚Foreign review and continental miscellany‘ ein bedeutungsarmes Referat hervorbrachte, welches gerade die - damals nicht zu klärende -„accuracy and authenticity“ der Tatsachen lobt (231). - Eine anonyme Besprechung der ‚Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ brachte ein Referat des „auf gutem Papier gut gedruckten Werkchens“ ([Anonym: Bespr. von SerbRev]/Okt. 1830, Sp. 246) mit Bemerkungen über die wesentlichen Unterschiede der serbischen und der griechischen Revolution. Daß eine mit K. gezeichnete Besprechung in den ‚Ergänzungsblättern zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ aus dem Jahre 1830 von Bartholomäus Kopitar stammt, ist eher unwahrscheinlich. Kopitar verfaßte zwar tatsächlich eine Besprechung - sie ist in einem Brief Rankes vom 24. April 1830 an seinen Wiener Förderer erwähnt (Brief bei Valjavec/1935, 17-19) -, Kopitar ist jedoch von allzu großer geistiger und sprachlicher - auch charakteristisch sprachmischender - Beweglichkeit, um den schlichten, überwiegend referierenden Text verfaßt haben zu können. Der Rezensent sieht die beiden Revolutionen „in der Hauptsache“ als gleich an (K./1830, 373) und schließt mit einem Lob der Sprache des Verfassers: „... kurz und kräftig, wie es die erzählten Thaten der Serbier selbst heischen, und lebendig genug, um das Interesse selbst an der Darstellung lebendig zu erhalten.“ (376). - Wesentlich später findet sich noch einmal eine Bemerkung zur Erstauflage des Werkes. Sie stammt aus Pascal Duprats bereits genannten ‚Études critiques sur les historiens allemands contemporains‘ in der Pariser ‚Revue indépendante‘ von 1843. Man schulde Ranke Dank, doch sei sein Werk aus einem rein militärischen Gesichtspunkt aufgefaßt: „Pourquoi ne nous a-t-il pas donné un livre plus complet sur ces peuples ...?“ (Duprat/1843, 385). Duprat wirft auch die - 138 -
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Frage auf, wie Ranke sich im Hinblick auf die Rolle des Milosch und den Tod des Georg Tserni bei den von ihm benutzen Dokumenten aus der Anhängerschaft des Milosch einseitig den für diesen in Deutschland gehegten Sympathien habe anschließen können (386). - Anläßlich der zweiten, erst nach 15 Jahren, 1844 erschienenen Auflage des Werkes gab ein Anonymus der ‚Literarischen Zeitung‘ den bedenkenswerten Hinweis, daß Rankes Schrift von 1829 eine „doppelte Bedeutung“ gehabt habe, „denn sie hat nicht allein über die bis dahin vielfach mißverstandenen oder unbekannten politischen und historischen Verhältnisse Serbiens in anziehender Weise aufgeklärt und die allgemeine Aufmerksamkeit auf einen wichtigen Punkt der orientalischen Frage gelenkt, - sondern sie hat selbst auf die innere Entwickelung der serbischen Verhältnisse, auf die seitdem gemachten Versuche einer Organisation anregend und fördernd hingewirkt.“ ([Anonym: Bespr. SerbRev 2. Aufl.]/1844, Sp. 1498). - Anonyme Besprechungen der englischen Übersetzung des Werkes in den Londoner Zeitschriften ‚Athenæum. Journal of English and Foreign Literature, Science, and the Fine Arts‘ und ‚Westminster and Foreign Quarterly Review‘ des Jahres 1847 boten überwiegend Referat und Auszüge des „opportune and important“ Buches (Athenæum, Nr. 1031, 31. Juli 1847, 807) oder des „excellent work“ (Westminster and Foreign Quarterly Review, Bd. 48, Nr. 94, Okt. 1847, 233). Letzteres mit dem Hinweis „In England, especially, less is known of Servia and its people than of almost any other portion of the world.“ (Ebd.). - Massive Kritik stellte sich nach Erscheinen der zweiten Auflage wohl nur von Seiten des Ranke-Schülers Heinrich Wuttke ein (Wuttke/1848, s. I, 69). Nachdem 1879 ein Drittdruck des Werkes von 1829 erschienen war, entselbständigt als Teil von ‚Serbien und die Türkei im neunzehnten Jahrhundert‘, traten noch einige minder qualifizierte, beurteilungsarme Besprechungen auf, wie die der ‚Neuen Evangelischen Kirchenzeitung‘ (14. 8. 1880) oder des ‚Literarischen Centralblatts‘ (2. 9. 1882). Dies gilt auch für eine kurze Anzeige der ‚Revue historique‘ von 1881 aus der Feder des Slavisten Louis Léger (1843-1923), der immerhin auf serbische und russische Übersetzungen sowie auf die Arbeit des an Ranke sehr interessierten Saint-René Taillandier (1817-1879): La Serbie, Kara-George et Milosch (Paris 1872) aufmerksam machte. Dessen Werk beruht in weiten Teilen (u. a. 4, 14, 17, 23f., 30, 35, 46-48, 59f., 62, 72ff. usw.) auf Ranke (s. I, 146f.). - Hervorzuheben sind zwei Besprechungen: Georg Winter, zeitweilig Amanuense Rankes, verfaßte eine solche für die Berliner Wochenschrift ‚Die Gegenwart‘: Ranke habe zur Wiederaufnahme seiner serbischen Studien keinen geeigneteren Zeitpunkt wählen können als den jetzigen, wo die Emanzipation der Serben eine „vollendete Thatsache“ sei (Winter/1879, 361). Winter gibt eine allgemeine Einführung in die vier entstehungsgeschichtlich disparaten Schichten des Werkes und die von Ranke - „ohne selbst der serbischen Sprache mächtig zu sein“ verwendeten Quellen, wobei die Berichte Meronis besonders gewürdigt werden. Winters Sachkenntnis ist jedoch offensichtlich nicht ausreichend, um eine detaillierte Beurteilung zu bewerkstelligen. - Eine Besprechung der ‚Historischen Zeitschrift‘ von 1880 des Rezensenten G. H. erblickt in Rankes Werk „das bedeutendste“ unter den zahlreichen Erscheinungen seit dem letzten Krieg zwischen Rußland und der Pforte. Der Hinweis auf den Zusammenhang der inneren Zustände Serbiens mit der sie stärker beeinflussenden „jedesmaligen Konstellation der großen europäischen Politik“, der orientalischen Frage, stellt die Hauptaussage der Besprechung des Werkes dar, das sich durch eine „eben so geschmackvolle wie spannende und fesselnde Darstellung“ auszeichne (557). - 139 -
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Unter den Übersetzungen Rankescher Werke kann seine ‚Serbische Revolution‘ als vergleichsweise erfolgreich angesehen werden. Es sind englische (1847), russische (1857), serbische (1864) und türkische (1890), gelegentlich mit Folgeausgaben nachweisbar (s. II/9.3). - Auch die Forschungsliteratur der Nach-Ranke-Zeit ist nicht gering und hinsichtlich der Verfasserschaft des Werkes zu weitreichend beunruhigenden, jedoch noch nicht eindeutig ‚abschließenden‘ Ergebnissen gelangt (s. II/1.1). * Außerordentlich gering war das Echo auf Rankes 1831 erschienenes Werkchen über ‚Die Verschwörung gegen Venedig‘. Ein anonymer Rezensent der ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ des Jahres 1832 kam nach einem kenntnisreichen Referat - wobei anerkannt wurde, daß es einem jungen deutschen Gelehrten nunmehr gelungen sei, „das völlig Willkürliche und Unhaltbare in Daru’s Hypothese aus Urkunden zu beweisen“ ([Rez. Nr.] 34./1832, 293) - zu dem Schluß: „So wahr es nun auch ist, daß diese ganze Begebenheit unbedeutend und gleichgültig im Vergleich zu Dem erscheinen mag, was täglich unter unsern Augen geschieht; so ist doch auch wahr, daß die Gegenwart trübe ist, die Durchforschung der Vergangenheit aber uns mit den klaren Augen reiner Wissenschaftlichkeit anblickt. Dank daher dem Verf. dieser wichtigen und anziehenden Schrift für das Licht über ein dunkles Ereigniß eben jener Vergangenheit, das sein Fleiß und seine mühevolle Forschung uns endlich völlig klar und übersichtlich gemacht hat.“ (296). - Ein anonymer Rezensent der ‚Foreign Quarterly Review‘, lieferte dazu 1832 eine der frühesten ausländischen Besprechungen eines Ranke-Werkes. Er sah das Interesse englischer Leser vor allem in der Beziehung zum „drama of Otway, and the recollection of Pierre and Belvidera“ [‚Venice preserv’d‘] und hielt, wie sein englischer Kollege, Rankes Schrift für eine triumphale Zurückweisung der Darstellung Darus. - Der Schriftsteller und zeitweilige Theaterdirektor Karl Immermann (17961840) war an der Historie und im besonderen an Rankes Werk sehr interessiert, wie auch sein später noch einmal heranzuziehender Briefwechsel mit Amalie von Sybel, der Mutter Heinrich von Sybels, zeigt. Immermann notierte am 27. April 1832 in sein Tagebuch: „Ich lese das Buch von Ranke über die Verschwörung gegen Venedig im Jahre 1618. Die Untersuchung lebhaft kritisch, an Lessing erinnernd. Auch darin Aehnlichkeit mit ihm, daß das eigentliche Resultat im Grunde unbedeutend ist, und die Hauptsache die Sachen sind, die sich so auf dem Wege dahin ergeben. Schöne und lebhafte Darstellung.“ (Immermann I/1870, 349). Wenige Monate später las ein anderer Literat, der Ranke seit ihrer Begegnung in Italien nahestand (s. II/7, 1829), August Graf von Platen, in Rankes ‚Verschwörung‘. Er fand sie, lakonisch, „sehr interessant“ (Platen: Tagebücher II/1900, 942). Das Werkchen erlebte erst nach 47 Jahren, und dies mit Aufgabe seiner Selbständigkeit, eine zweite Auflage. Doch war bereits 1834 in der Schweiz eine italienische Übersetzung erschienen, die erste, die überhaupt einem Werk Rankes zuteil wurde. Allerdings blieb es auch weltweit die einzige des Werkes. * Der Marburger Historiker Friedrich Rehm (1792-1847) soll Rankes Werke nicht für würdig befunden haben, in der Universitätsbibliothek aufgenommen zu werden (Guglia/1893, 319). Es nimmt daher nicht Wunder, daß er in seinem 1830 erschienenen bekannten, aber geistig bescheiden zugeschnittenen ‚Lehrbuch der historischen Pro- 140 -
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pädeutik und Grundriß der allgemeinen Geschichte. Zum Gebrauche bei academischen Vorlesungen entworfen‘, Ranke an keiner einzigen der in Betracht kommenden Stellen erwähnt, seine Vorrede vielmehr so beginnen läßt: „Die großen Fortschritte, welche die zu historischer Forschung und Kritik unentbehrlichen Elementar- und Hülfswissenschaften in den neueren Zeiten, besonders durch Kopp, Ideler und Ritter gemacht haben...“ (III). Doch er hatte als Anspielung auf Rankes ‚Fürsten und Völker‘ einen Seitenhieb parat: „Mit so vollem Rechte auch diejenigen Geschichtschreiber getadelt werden, welche statt der Völker nur die Regenten derselben, statt der Verhältnisse des öffentlichen Lebens nur die der hohen Familien berücksichtigen, und alle historische Erinnerung an berühmter Personen Namen knüpfen...“ (39). Dies blieb auch in der von Sybel bearbeiteten 2. Auflage von 1850 so stehen. Einige Werktitel Rankes wurden von ihm zwar den Literaturangaben dieser Auflage in nicht gerade akribischer Weise eingefügt, doch ist da die Nichtnennung der 1827 erschienenen ‚Fürsten und Völker von Süd-Europa‘, Bd. I bereits auffallend und die Unterschlagung der ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ nebst ihrer Beilage ‚Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber‘ fast verstörend. Hier wie da wurde Ranke jedenfalls völlig unter Wert behandelt. Selbst Friedrich Christoph Schlosser (1776-1861), dem man im Vergleich mit Rehm einen erheblich größeren Weitblick zubilligen muß, nahm die kritische Leistung in Rankes Erstlingswerk, auf die doch alles ankam, nicht zur Kenntnis. ([Schlosser]/1831, 240-318). Desgleichen wird in dem erstaunlich wohlunterrichteten anonymen RankeArtikel des ‚Conversations-Lexikons der neuesten Zeit und Literatur‘ von 1833 (III, 685687) die kritische Beilage seines Erstlingswerkes nicht erwähnt und überhaupt von seinen Leistungen im Bereich der historischen Kritik nichts vermeldet, indes die aus den Gesandtschaftsberichten gewonnene Lebendigkeit seiner Figuren gewürdigt. Auch Georg Gottfried Gervinus (1805-1871), überzeugter Schlosser-Schüler und in dieser Hinsicht noch zu betrachten, nimmt Ranke längere Zeit nicht zur Kenntnis. In den 1838 erscheinenden, früh ‚Gesammelten kleinen historischen Schriften‘ des Göttinger Professors, mit Beiträgen der Jahre 1831 bis 1838, wird Ranke ebensowenig genannt wie in den 1837 erschienenen ‚Gründzügen der Historik‘, immerhin dreizehn Jahre nach Rankes angeblich epochemachenden Erstlingsschriften. - In seiner ‚Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen‘ (VIII/1866, 71f.) hat Gervinus Ranke recht positiv dargestellt, jedoch lediglich „die Eröffnung neuer Quellen und die Kunst der formalen Verarbeitung“ gelobt. Dabei kennt auch er die Titel der ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ wie auch der ‚Fürsten und Völker‘ nicht genau, nennt Rankes Beilage ‚Zur Kritik‘ nicht und läßt überhaupt dessen Verdienste um die historische Kritik wie auch eine mögliche wissenschaftsgründende und schulebildende Rolle gänzlich beiseite. Immer wieder auffallend der Unterschied in der öffentlich und privat geäußerten Beurteilung. In einer Gesellschaft in Rom, April 1867, zusammen mit Ferdinand Gregorovius, erklärte er, „die Bewunderung der Ranke’schen Geschichtschreibung nicht begreifen“ zu können (Gregorovius/1893, 239). Gewiß wäre Rankes vermeintlich epochemachende Leistung auch würdiger Gegenstand eines Artikels der gerade (1838) gegründeten ambitionierten ‚Deutschen Vierteljahrs Schrift‘ gewesen, dessen Titel lautete ‚Auf welchem Standpunkt steht die vaterländische Geschichtsforschung?‘, doch wurde Ranke in dieser Übersicht nur einmal kurz gestreift mit einer seine ‚Päpste‘ betreffenden Bemerkung (s. I, 219). - 141 -
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Stenzel immerhin vermerkte 1842 in einer Besprechung des Werkes von Heinrich von Sybel, ‚Geschichte des ersten Kreuzzugs‘ (Düsseldorf 1841), nachdem er sich einleitend mit allgemeinen Fragen der historischen Kritik und ihrer Entwicklung befaßt hatte, zu der in neuerer Zeit v. a. Dahlmann, Palacky und Ranke, ferner Kries, Loebell und Jacobi, Aschbach, Papencordt und Lappenberg Beispiele geliefert hätten, mit Einschränkungen, bezeichnend für das gespannte Verhältnis: „Auch Rancke [! Stenzel kannte aufgrund seines frühen Umgangs mit Ranke diese genealogisch korrekte Schreibweise und verwendet sie hier provokativ] hat den in seiner Schrift zur Kritik neuerer Geschichtschreiber im J. 1824 mit so glücklichem Erfolg eingeschlagenen Weg seitdem nicht ganz [!] verlassen. Er hat wenigstens [!] einen Kreis studirender Jünglinge um sich versammelt, welche dann im Lauf der Jahre schätzbare Beweise ihrer Thätigkeit und Kenntnisse gegeben haben.“ (Stenzel/1842, 541). Auch hier wird Ranke keine herausragende Rolle beigemessen. Der spät und schwach entfachte Funke historiographiegeschichtlichen Interesses war mittlerweile auf einige ‚Schulmänner‘ übergesprungen, doch wurde Ranke, dessen ‚Päpste‘ unübersehbar bereits in zweiter Auflage vorlagen, in den ‚Andeutungen über den Entwickelungsgang der deutschen Geschichtschreibung‘ aus der Feder des am königlichen katholischen Gymnasium in Gleiwitz tätigen historiographiegeschichtlich interessierten Theodor Liedtki völlig übergangen. In dieser Abhandlung zum Osterprogramm 1842 - später äußerte er sich in dieser Reihe noch ‚Ueber die philosophische Auffassung der Weltgeschichte seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts‘ (1856) - nannte er stattdessen u. a. Friedrich von Raumer und Josef von Hormayr. Nach Auffassung Liedtkis und „nach dem Urtheile der Einsichtvollen“ gebührte Johannes von Müller „die erste Stelle unter den neuern deutschen Geschichtschreibern. So Glänzendes und Preiswürdiges auch nach seinem Hinscheiden auf dem historischen Felde erwachsen ist; durch dasselbe sind die ‚Geschichte schweizerischer Eidgenossenschaft‘ und die ‚24 Bücher der allgemeinen Weltgeschichte‘ nicht verdunkelt worden.“ (Liedtki/1842, 23f.). - Liedtkis Kollege am Stiftsgymnasium zu Zeitz, der Oberlehrer und Hegelianer Karl Friedrich Rinne, wandte sich in einem Kapitel ‚Von der objectiven Prosa überhaupt und der oratorischen und historischen insbesondere‘ seines Werkes ‚Innere Geschichte der Entwickelung der deutschen National-Litteratur. Ein methodisches Handbuch für den Vortrag und zum Selbststudium‘ zunächst der Betrachtung zu, „wie sich der subjectiv-objective oder der Charakter des realen Bewußtseins, der das 19te Jahrh. auszeichnet, an der eigentlichen Geschichtschreibung zeigt“ (Rinne, 2. Theil/1843, 607) und stellte fest, daß „ohne eine deutliche Idee der Freiheit ... eine Kunst der Geschichtschreibung nicht möglich“ sei (608), mußte allerdings konstatieren, daß diese Prinzipien bei den sodann aufgeführten Werken nicht nachzuweisen seien (609). Es folgt ein Überblick über eine Vielzahl von Historikern des 19. Jahrhunderts mit jeweils kurzen, v. a. bibliographischen Einträgen. - Bei Ranke (611) ist von Interesse, daß auch hier sein Erstlings-Doppelwerk nicht genannt wird, sondern lediglich ‚Fürsten und Völker‘ (I), ‚Päpste‘ (I-III) und die ‚Deutsche Geschichte‘ (I u. II). Der - sofern man von Besprechungen absieht - vielleicht erste ausführliche Rankemonographische Zeitschriften-Artikel überhaupt, die ‚Études critiques sur les historiens allemands contemporains. I. Léopold Ranke‘ in der Pariser ‚Revue indépendante‘ von 1843, aus der Feder von Pascal Duprat (1815-1885), später Minister der Dritten Republik, erwähnt weder ‚Zur Kritik‘ noch Rankes besondere Verdienste in diesem Bereich - 142 -
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und billigt im Gegensatz zu ‚Fürsten und Völkern‘ dem „essai“ der ‚Geschichten‘ keine „travail approfondi“ - lediglich eine „médiocre importance“ zu (373). Auch ziehe Ranke nicht die allgemeine Geschichte in ihrer Entwicklung an, ihn interessierten, wie zutreffend bemerkt wird, vorzugsweise die „époques les plus vives et les plus emportées“ (ebd.). Nicht genannt, so Ranke überhaupt, ist sein Werk auch in einem Vortrag von W. A. Schickedanz, ‚Ideen über Studium und Vortrag der Geschichte‘ (Vorgetragen im historischen Verein zu Münster, am 7. März 1843), 1844 erschienen, immerhin in der ‚Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde‘ (7/1844, 1-38). - Der dänische Historiker Frederik Schiern (1816-1882) war noch 1845 der übertriebenen Meinung, es gebe in Deutschland zwar „nicht wenige historische Forscher..., aber vielleicht mit alleiniger Ausnahme des Schweizers Johannes Müller - keine ächte[n] Geschichtschreiber“ (Schiern, F.: Ueber die Entwickelung und den gegenwärtigen Standpunkt der Geschichtschreibung. [Aus dem Dän. übers.] In: Archiv für Geschichte, Statistik, Kunde der Verwaltung und Landesrechte, Kiel, Jg. 4. 1845, H. 2, 274-316, hier 275). - August Arnold (1789-1860), Schulmann und Redakteur mit starker Hinneigung zur Philosophie (s. [?] Richter: Arnold, August. In: ADB 1/1875, 584), der 1828 ein Schriftchen ‚Ueber den Begriff und das Wesen der Geschichte so wie ueber den Unterricht in derselben‘ (Gotha) verfaßt hatte, schenkte auch in seinem 1847 erschienenen Werk ‚Ueber die Idee, das Wesen, die Bedeutung, die Darstellung und das Erlernen der Geschichte nebst den Grundzügen des Entwicklungsganges der Menschheit‘ Ranke und seinem kritischen Werk und Wirken keine Beachtung, äußerte sich jedoch ausführlich über historische Kritik, wobei er Niebuhrs gedachte. Arnold versuchte bereits ein tieferes Verständnis von Kritik zu entwickeln, indem er formulierte: „Dasselbe Verhältniß, welches die Dialektik zu Philosophie, als ihr Zweck und Ziel, z. B. von Aristoteles, angewiesen wird, hat die Kritik auch zur Geschichtsdarstellung.“ (69). Der später von Droysen in seiner ‚Historik‘ als Vorgänger gern gescholtene Leipziger Geschichtsordinarius Wilhelm Wachsmuth (1787-1866) hatte (Halle) 1820 den ‚Entwurf einer Theorie der Geschichte‘ verfaßt und hielt nun 1856 in der ‚Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig‘ einen eigenwilligen Vortrag mit ungewöhnlicher Thematik, ‚Über die Quellen der Geschichtsfälschung‘. Darin nimmt er den Begriff ‚Fälschung‘ eng und zugleich sehr weit und grundsätzlich bis hin zur bloßen Subjektivität. Auch an dieser passenden Stelle wird Rankes oder seiner Kritik nicht gedacht, und es ist auch nicht zwingend anzunehmen, daß es sich im Folgenden um eine Anspielung auf ihn handelt: „Wenn endlich sich die Zahl der Zweifelnden und Prüfenden ansehnlich vermehrt hat, so wird wiederum die Glaubensfähigkeit in Versuchung geführt durch die Phantasiespiele historischer Hyperkritiker und durch die philosophirende Construction der Geschichte, die mit der Aufstellung kühner Hypothesen und Systeme zu einer sehr gewagten Wanderung aus dem Gebiet des Zweifels in das des Glaubens anleiten.“ (127). Dabei stand Wachsmuth der Arbeit Rankes nicht allzu fern, wie sich an seinen ‚Darstellungen aus der Geschichte des Reformationszeitalters mit Zugaben aus der Quellenforschung‘ (Lpz.1834) und seinen peinlich nachgetitelten ‚Fürsten und Völkern Europa’s‘ (4 Bde. Bln. 1846-48) andeutet. Die ersten Impulse zu einer Würdigung der historischen Kritik Rankes und ihrer Wirkungen auf die Zunft rühren wohl von Hörern bzw. Schülern her. Julian Schmidt als Ranke-Hörer war 1847 in einem Artikel der von ihm neben Gustav Freytag - 143 -
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demnächst redigierten höchst einflußreichen ‚Grenzboten‘ jene Beilage ‚Zur Kritik‘ „bei weitem wichtiger, als das Werk selbst, dem sie nur als Anhang dienen sollte“ (J. Schmidt/1847, 403). Er scheint die Bedeutung der sich verstärkenden und ausbreitenden kritischen Bewegung verspürt zu haben, als er in einem Beitrag mit dem Titel ‚Moderne Historiker. Leopold Ranke‘ schrieb: „So war uns der Boden unter den Füßen entzogen; die Kette der Tradition war gebrochen, und es galt nun, aus eigenen Kräften, mit sparsamem, aber zuverlässigem Material, den Grund zu dem eingerissenen Gebäude von Neuem zu legen.“ (404). - Rankes „jahrelange Einführung jüngerer Talente in das Studium der Geschichte“ wird auch anläßlich einer Besprechung von Rankes ‚Zur Kritik fränkisch-deutscher Reichsannalisten‘ (s. II/6.2) und der Schrift des RankeSchülers Hartwig (nicht Heinrich!) Floto ‚Kaiser Heinrich IV. und sein Zeitalter‘ (Teil 1, 1855), von einem Anonymus der Augsburger ‚Allgemeinen Zeitung‘ des Jahres 1855 anerkannt. Ranke habe, wie irrtümlich bemerkt wird, „eine gewisse Technik der Kritik geschaffen“. Dabei bilde die Grundlage seiner „Behandlungsweise“ eine „möglichst objective Darlegung der Thatsachen und Verhältnisse nach vorausgehender allgemeiner Richtung der Quellen und Vergleichung ihrer einzelnen Nachrichten“ ([Anonym:] Zur deutschen Geschichtsforschung/1855, S. 4617). Doch selbst in den 1850er und 1860er Jahren bildete sich noch kein überwiegend positives Urteil über Rankes historiographiegeschichtliche Verdienste. Im Gegenteil: Man sieht sein noch nicht allenthalben gewonnenes Ansehen bereits schwinden. Schon 1854 wird seine Geschichtsschreibung in Deutschland als Hervorbringung einer vergangenen „Epoche“ betrachtet, der gegenüber jetzt „in Leben und Literatur sich ein bestimmtes Streben nach Herstellung allgemeinerer, umfassender Grundlagen nationaler Bildung und Entwicklung“ zeige, wie ein kecker anonymer Rezensent des ‚Literarischen Centralblatts für Deutschland‘ glaubte feststellen zu sollen (Anonym in: LCD, 30. 12. 1854, 836). Dies mag zunächst als singuläre Ahnung angesehen werden, einer allgemeinen Ansicht entsprach es damals nicht. Doch 1859 tritt bereits ein ausländischer Beobachter der deutschen historiographischen Szene auf, Saint-René Taillandier. In einem Beitrag zur ‚Revue des deux mondes‘ über die deutsche Literatur der Gegenwart sieht er Ranke und seine Schule in einem Vorgang der Entthronung begriffen: „cette vaillante école d’historiens, les Mommsen, les Sybel, les Häusser, qui détrônent en ce moment l’école studieuse, subtile, mais trop froide et trop diplomatique, de M. Léopold Ranke“ (395). Der Franzose dachte dabei wohl weniger an die Kategorien von ‚kleindeutsch‘, ‚national‘ und ‚liberal‘, die in den Genannten doch recht unterschiedlich gemischt und ausgeprägt waren, als an einen erwünschten emotionalen Impetus politischen Einwirkens auf das Publikum. Erstaunlich, daß der Rektor der ‚Ludewigs-Universität‘ Gießen und ‚Ordentliche Professor der Geschichte‘, Heinrich Schäfer (1794-1869), in einer 1864 gehaltenen Akademischen Festrede mit dem Titel ‚Ueber heutige Aufgaben der Geschichtschreibung‘ Ranke weder nannte, noch auf ihn anspielte. Schäfer befaßte sich vielmehr überwiegend mit Historiographie zur römischen Geschichte, i. b. mit Niebuhr und Mommsen (Heinrich Schäfer/1864). - Heinrich Wuttke, Verfasser einer 1848 erschienenen scharfen Kritik an Rankes ‚Serbien‘ (s. I/1.6), ließ 1865 eine Abhandlung mit dem Thema ‚Über die Gewißheit der Geschichte‘ erscheinen. Auch hier hätte man eine Berücksichtigung Rankes erwarten dürfen, doch trat sie nicht ein. In größeren kultur- und literaturgeschichtlichen oder lexikalischen Darstellungen seines letzten Lebensdrittels wird Ranke, wie sich später noch zeigen wird, sehr - 144 -
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unterschiedlich behandelt. Der politisch tätige, mit einer Schwäche für bildhaft kräftige Formulierungen versehene Literatur- und Kulturhistoriker Johannes Scherr (18171886) wies 1851 in seiner ‚Allgemeinen Geschichte der Literatur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart‘ Raumer, Ranke und Dahlmann einen „hohen Rang unter den historischen Forschern und Stylisten“ zu, wobei Ranke, wie auch andere Historiker der Zeit, nur kurz gestreift wird unter Nennung einiger Werke (490f.: GRGV, FuV, SerbRev, DtG). ‚Zur Kritik‘ scheint nicht bekannt zu sein. Wenige Jahre später wird Ranke in Scherrs ‚Geschichte Deutscher Cultur und Sitte‘ bei einem sehr pauschalen Überblick über „unsere vaterländische Historik“ nur kurz erwähnt als „das Haupt der diplomatisch-kritischen Schule“ (Scherr/1854, 557). Was Scherr darunter verstand, wird klar aus einem noch mehrfach heranzuziehenden Beitrag zu den ‚Deutschen Jahrbüchern für Politik und Literatur‘ der Jahre 1861 und 1862 über ‚Geschichtschreibung und Geschichtschreiber der Gegenwart‘. Ranke habe, so Scherr dort, zwar „ganze Perioden der mittelalterlichen und modernen Geschichte in eine neue und richtigere Beleuchtung gerückt“ (Scherr 1861/62, Zitate nach 1864, 173), obgleich er nie eine ausführliche Darstellung gebe, sondern vor allem danach strebe, „dem Gegenstande neue Seiten abzugewinnen“ (181), doch habe sein „Lieblingswerkzeug, ... die diplomatische Korrespondenz“ (173), zur Einseitigkeit einer „diplomatisirenden Auffassung der historischen Erscheinungen“ (175) geführt, - ein „aristokrätelnd-exklusives Nichtwissenwollen vom Volke“ (174), wie der Republikaner Scherr bemerkt - welche auch seine Darstellungsweise bestimmt habe (175). „Die Weltgeschichte ist keineswegs das Weltgericht - dummer Schnack! - sondern sie ist vielmehr ein eleganter Diplomatensalon ...“ (176). Der anonyme Verfasser eines Artikels der ‚Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft‘ des Jahres 1859 kannte Rankes erste Werke so schlecht, daß er nicht nur deren Titel verschandelte („Völker und Fürsten von Südeuropa im sechszehnten Jahrhundert“ und „Geschichte der romanischen und germanischen Völkerschaften“), sondern auch dem Irrtum erlag, Ranke habe seine „scharfe Kritik des Guiccardini und anderer für mustergiltig gehaltener Geschichtsschreiber“ in den ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ nebst Beilage aus venezianischen Relationen und Briefen verfaßt ([Anonym:] Gesch. d. sechszehnten Jahrhunderts/1859, 150), die Ranke jedoch erst später kennengelernt hatte. - Wilhelm Kiesselbach, der anläßlich von Rankes ‚Englischer Geschichte‘ näher zu betrachten sein wird, sah in einem Beitrag mit dem Titel ‚Ranke und die Geschichtschreibung‘ dessen Verdienst weder im Bereich der Methode noch in dem der Darstellung, sondern völlig singulär darin, „daß er zuerst in Deutschland … wenigstens den allgemeinen politischen Mächten und Gesetzen Rechnung trägt und somit einer objectiven Geschichtsbetrachtung die Bahn eröffnet.“ (Kiesselbach/14. Juli 1861, 222). - Zwar wünschte ein Anonymus des ‚Allgemeinen literarischen Anzeigers für das evangelische Deutschland‘ 1868, Ranke möge „der Lehrer Vieler, der Lehrer des deutschen Volkes werden“ (561), doch mußte er zugeben, daß Ranke noch „nicht in weiten Kreisen eine Popularität“ gewonnen hatte (562). In der 1881 erschienenen ‚Geschichte der deutschen Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts‘ aus der Feder von Ludwig Salomon (1844-1911) wird Ranke in einer Reihe mit Karl von Rotteck, Friedrich Christoph Schlosser, Friedrich von Raumer u. a. in keineswegs herausragender Weise kurz behandelt und sein Erstlingswerk in entlarvender Unkenntnis sogar ins 14. Jahrhundert zurückversetzt: Ranke, „der in seiner ‚Geschichte der romanischen und germanischen Völkerschaften des 14. und 15. - 145 -
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Jahrhunderts‘, seiner ‚Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ und seinem bedeutendsten Werke ‚Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im 16. und 17. Jahrhundert‘ sich besonders durch geistvolle Charakteristik auszeichnet, während sein Urtheil oft zu vorsichtig und unbestimmt bleibt.“ (Salomon/1881, 222). Von Forschung, gar von historischer Kritik, ist auch hier keine Rede. Der Verfasser des 1882 erschienenen ‚Lexikons der deutschen Nationallitteratur. Die deutschen Dichter und Prosaiker aller Zeiten, mit Berücksichtigung der hervorragendsten dichterisch behandelten Stoffe und Motive‘, Adolf Stern (1835-1907), Professor der Literaturgeschichte am Kgl. Polytechnikum in Dresden, führt in seinem Artikel. „Ranke. Leopold von“ (285f.) nahezu alle Werke Rankes vor, nennt jedoch nicht die ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ und die Beilage ‚Zur Kritik‘. Ranke wird als „Bahnbrecher einer neuen, namentlich auf die kritische Benutzung der ungedruckten Berichte gestützten Geschichtsforschung“ bezeichnet (285) und zugleich jenen zugezählt, welche „die Geschichtsdarstellung als eine ebensowohl künstlerische als wissenschaftliche Aufgabe erfassen.“ (Ebd.). Seinen Darstellungen eigne eine „plastische Form von hoher Vollendung.“ (Ebd.). Seinem „universalhistorischen Gesichtspunkt“ entspreche eine „von nationalen und religiösen Gefühlen und Stimmungen beinahe freie, kühle Objektivität...“ (285f.). Unerwähnt ist Ranke in Sterns Werk ‚Die Deutsche Nationallitteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart‘ (Elwert, Marburg und Leipzig 1886). Stern verfaßte 1891 anonym in den ‚Grenzboten‘ noch eine schlichte Besprechung von Rankes Selbstbiographie und Briefen (SW 53/54 s. u.). Unter Rankes „bedeutendsten Werken“ werden im ‚Handbuch zur Einführung in die deutsche Litteratur mit Proben aus Poesie und Prosa‘, das zunächst 1884, sodann in zweiter Auflage 1895 erschien, u. a. nicht genannt die ‚Geschichten‘ sowie ‚Zur Kritik‘, doch auch die ‚Weltgeschichte‘. - Unerwähnt blieb Rankes ErstlingsDoppelwerk auch in ‚Payne’s Biographischem Lexikon. Nach den neuesten Quellen bearbeitet‘ (Anonym/1884, 350). Und Oscar de Watteville (s. I, 275) sprach von Rankes ‚Päpsten‘ als von dessen erstem Werk (Watteville/1853 401). Selbst Rankes Sohn Friduhelm, der mit zwei wichtigen Veröffentlichungen zur Kenntnis seines Vaters beitrug, hielt - und dies darf man als besonders aufschlußreich, nicht nur innerhalb der Familie, ansehen - ‚Fürsten und Völker‘ für Rankes „Erstlingswerk“ (FvR VIII/1906, 328). Man mag daraus schließen, daß Rankes Abstand zu seinem problematischen Erstlingswerk so groß geworden war, daß er es nicht nur auf einen ferneren Platz seiner ‚Sämmtlichen Werke‘ verschob, sondern auch in dem tyrannisch beherrschten Familienkreis nicht erörterte. Frankreich, wo man die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft aufmerksam zu verfolgen begonnen hatte, zeigte sich erst spät und sodann keineswegs einheitlich in der Würdigung der kritischen Leistung und des Erstlingswerks Rankes, der seit 1841 korrespondierendes Mitglied der Pariser ‚Académie des sciences morales et politiques‘ war (s. II/6.4). Der bereits herangezogene französische Literaturhistoriker Saint-René Taillandier verfaßte 1854, entsprechend dem Beitrag von Julian Schmidt aus dem Jahre 1847, - wie dieser Ranke-Hörer - für die ‚Revue des deux mondes‘ einen Beitrag mit dem Titel ‚Historiens modernes‘, eine der umfassendsten, auch biographisch informierten Gesamtwürdigungen Rankes in seiner Zeit: „... quel judicieux contrôle des témoignages, quel sentiment de la méthode! comme on voit bien que M. Ranke ... veut que l’histoire ait la précision de la science.“ (48). In den 1870er Jahren stützte er übrigens zwei seiner Veröffentlichungen auf Vorarbeiten Rankes: zum einen - 146 -
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‚La Serbie. Kara George et Milosch‘ (1872), das in weiten Teilen auf Ranke, „un des rénovateurs de la science historique du dix-neuvième siècle“ (4) beruhte, zum anderen ‚Dix ans de l’histoire d’Allemagne. Origines du nouvel empire d’après la correspondance de Frédéric-Guillaume IV et du baron de Bunsen, 1847-1857‘ (1875), das neben den Bunsenschen Memoiren die Briefwechsel-Ausgabe des nunmehr als „froid et sec“ gedeuteten Léopold de Ranke (7) benutzte (s. auch II/2.2.3, Dt. Literaturarchiv Marbach). - 1857 billigte Ernest Grégoire, obgleich er resumierend feststellte „Ses idées fondamentales sont fausses“ (688), Ranke bei einer Betrachtung der kritischen Beilage sogar zu: „Le procédé de contrôle sûr et systématique employé par M. Ranke est l’opposé du pyrrhonisme superficiel de Voltaire“ (661), und auch Jules Grenier fand 1859 in einer bedeutenden allgemeinen Würdigung nicht nur anerkennende Worte für Rankes universelle Sicht - „Sous sa plume, toute autre histoire particulière devient européenne“ (308) -, sondern auch lobende Worte für die „critique pénétrante“ (ebd.) seines Erstlingswerks. - Der Philosoph und Kulturkritiker Hippolyte Taine (18281893) bemerkte 1864 in einem Beitrag ‚L’histoire, son présent et son avenir’ der in Paris erscheinenden ‚Revue germanique et française‘, die Geschichtswissenschaft habe sich in Deutschland seit hundert [!] Jahren gewandelt, in Frankreich seit sechzig Jahren, und zwar durch das Studium der Literaturen (Taine/1864, 625): „ ... depuis ce temps on voit tout changer en histoire: l’objet, la méthode, les instruments, la conception des lois et des causes.“ (626). Hier wird Ranke, inzwischen zum ordentlichen Mitglied der ‚Académie‘ avanciert und in Frankreich auch durch eine Übersetzung seiner ‚Französischen Geschichte‘ vertreten, nicht genannt, geschweige denn sein Erstlingswerk als epochemachend angesehen, zumal der von Taine angenommene Wandel diesem deutlich vorausliegt. Rodolphe-Ernest Reuss gab dafür eine Erklärung in der ‚Revue critique d’histoire et de littérature‘ des Jahres 1870 mit der noch heute gültigen Bemerkung, „les ouvrages de R. sont très-peu connus en France“ (92). Fustel de Coulanges (1830-1889), der bis zur Eingliederung Elsass-Lothringens in das Deutsche Reich, 1871, eine Geschichtsprofessur in Straßburg innegehabt hatte, verfaßte im Folgejahr für die ‚Revue des Deux Mondes‘ einen Artikel ‚De la manière d’écrire l’histoire en France et en Allemagne depuis cinquante ans‘. Mag sein, daß er darin aus politischen Gründen Ranke nicht nannte. Doch verkündete er ein allgemeines Lob der Unparteilichkeit: „Assurément il serait préférable que l’histoire eût toujours une allure plus pacifique, qu’elle restât une science pure et absolument désintéressée. Nous voudrions la voir planer dans | cette région sereine où il n’y a ni passions, ni rancunes, ni désirs de vengeance. Nous lui demandons ce charme d’impartialité qui est la chasteté de l’histoire. Nous continuons à professer, en dépit des Allemands, que l’érudition n’a pas de patrie.“ (Fustel de Coulanges/1872. Zitat nach 1893, 15f.). Gabriel Monod (1844-1912) sah dies genauer. In seinem zugleich rückblickenden wie programmatischen Eröffnungsbeitrag zu der von ihm herausgegebenen ‚Revue historique‘, betitelt ‚Du progrès des études historiques en France depuis le XVIe siècle‘, gab er nicht zuletzt eine erstaunlich unbefangene Würdigung der Leistungen der deutschen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts: „C’est l’Allemagne qui a contribué pour la plus forte part au travail historique de notre siècle.“ (Monod/1876, 27). Monod stellte Ranke dabei nicht sonderlich in den Vordergrund, nannte ihn vielmehr in der Reihe der Christian Lassen, Boeckh, Niebuhr, Mommsen, Savigny, K. F. Eichhorn, Waitz, Pertz und Gervinus (28). Der von ihm der Zeitschrift gewiesene Weg - „Nous prétendons rester indépendants de toute opinion politique et religieuse“ (36) -, die - 147 -
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Anerkennung der „rigueur scientifique“, die Deutschland den historischen Studien verliehen habe, das hier aufgestellte Ideal des Historikers der „sympathie respectueuse, mais indépendante“, der „impartialité scientifique“ (37), all dies weist nicht ausdrücklich, doch ganz deutlich auf die Wissenschaftskonzeption Rankes hin. - Interessant, daß der in Deutschland stark hervorgehobene Niebuhr in Frankreich keine auffallende Rolle zu spielen schien. * Bedeutende wissenschaftliche Zeitgenossen, darunter Teilnehmer seiner Übungen, sahen nicht Ranke, sondern geradezu pointiert Barthold Georg Niebuhr als führenden Vertreter des Forschungsprinzips der historischen Kritik wie ihrer Wissenschaft überhaupt an. Man steht hier an den Anfängen einer in sich widersprüchlichen Doppelfama, denn weder Niebuhr noch Ranke kommt das Verdienst zu, Begründer einer quellenbezogenen historischen Kritik zu sein. Beide hatten eine nicht geringe Zahl - wenn auch unterschiedlicher - Vorgänger. Doch am Ende ihres Schaffens oder Lebens stand jeder von ihnen eine Weile als Begründer nicht allein der Methode, sondern auch der Geschichtwissenschaft schlechthin da. - Der Bonner Geschichtsordinarius Johann Wilhelm Loebell (1786-1863) schrieb in seiner Skizze ‚Ueber die Epochen der Geschichtschreibung und ihr Verhältniß zur Poesie‘ Niebuhr - bei mancher Beanstandung - das bleibende Verdienst zu, „der historischen Kritik das belehrendste und anregendste Muster“ gegeben zu haben (Loebell/1841, 368): „Auch sind nach seinem Vorgang und Beispiel schon in der Bearbeitung anderer Perioden schöne Früchte gebrochen worden, mehr als die Meisten wahrnehmen oder zugeben, ja an sich selbst bemerken. Denn das ist eben das Siegreiche einer großen Methode, daß man sie sich theilweise, ohne es selbst zu bemerken, aneignet, ja wider den eignen Willen aneignen muß. Ein solcher Grad von Scharfsinn in der Sonderung und Prüfung der Quellen, von steter Beleuchtung des zeugenden Autors, von Eindringen in seine Kenntnisse und Stimmung, von Zurückführung der Zeugnisse auf ihren genauen Werth, ehe sie gebraucht werden, ist vor Niebuhr nicht da gewesen ...“ (ebd.). - Georg Weber (18081888), Professor der Geschichte und deutschen Sprache und Literatur bei der höheren Bürgerschule in Heidelberg, behandelte in der 1850 in zweiter Auflage aktualisierten ‚Geschichte der deutschen Literatur nach ihrer organischen Entwickelung in einem leicht überschaulichen Grundriß‘ nach Möser, Schlözer, Spittler v. a. Johannes v. Müller ausführlicher, von Raumer und Ranke nur kurz: „Leopold Ranke suchte das bewegte Leben und die verwickelten Zustände der Reformationszeit durch neue Forschungen aufzuhellen und durch lichtvolle und gewandte Darstellung anschaulich zu machen.“ (Weber/1850, 51). Kein Wort über epochemachende kritische Leistungen. Stattdessen folgt ausführlich Niebuhr - mit Hinweis auf die „Fackel der historischen Kritik“, mit der er die Geschichte des alten Roms beleuchtet habe (ebd.) - sodann Schlosser, Rotteck, Leo, Heeren, Wachsmuth und Dahlmann (51f.). Hermann Bischof befaßte sich 1857 eindringlicher mit der Thematik. In einem Beitrag für das ‚Deutsche Museum‘ über ‚Die Regeln der Geschichtschreibung und Deutschlands Historiker im 19. Jahrhundert‘ stellte er ab auf das Bestehen zweier Arten historischer Kritik: „Die eine wurde in allen Zeiten und unter allen Nationen angewendet; letztere ist das Product unsers Jahrhunderts und bildet den Charakter der sogenannten historisch-kritischen Schule.“ (Bischof/1857, 759). In seiner Auffassung gründet erstere „die erzielte Wahrheit des geschichtlichen Bildes auf die formelle Prüfung des überlieferten historischen Materials; während letztere durch die historisch-kritische - 148 -
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Schule als nicht genügend befunden, vielmehr der Einklang ihrer Resultate mit der Natur der Dinge gefo[r]dert wird.“ (ebd.). Niebuhr komme das Verdienst zu, „uns das Wesen und die Bedeutung der modernen kritischen Methode in ihrer Anwendung auf die Geschichte zum ersten male erschlossen zu haben.“ (ebd.), einer Methode, die dann auch von Böckh und Otfried Müller geübt, von Ranke jedoch „mit siegreichem Erfolge auf die moderne Geschichte angewandt“ worden sei. (760). Ähnlich sah dies John Lord Dalberg Acton, als er im April 1858 zu Ranke seinem Notizbuch anvertraute: „The critical tendency is due to Niebuhr entirely” (Butterfield/1955, 210). Wilhelm Giesebrecht (1814-1889) einer der ältesten und bedeutendsten Schüler Rankes, konnte in seiner eben damals erschienenen Habilitationsrede über ‚Die Entwicklung der modernen deutschen Geschichtswissenschaft‘ Niebuhr in überdeutlicher und ausführlicher Weise als „den vorzüglichsten Begründer unserer modernen deutschen Geschichtswissenschaft“ feiern (Giesebrecht/(1858), 1859, 9). Die „Kunst der historischen Kritik“ sei „vor Allem durch Niebuhr feiner und schärfer ausgebildet“ worden (ebd., 12). Ranke wird da nur kurz mit einem allgemeinen Kompliment gestreift: „Unser erster lebender Geschichtschreiber ist zugleich der scharfsinnigste, der am meisten kritische Forscher unserer Tage“ (ebd.). Es folgt noch ein Vergleich Rankes - und dabei fällt dessen Name zum ersten und letzten Mal - mit Schlosser, denen beiden bei aller Verschiedenheit doch „das Trachten nach der Wahrheit der Geschichte“ (ebd.) zugeschrieben werden müsse. Auffallend, daß bei dieser kargen Würdigung keinerlei Wirkungen Rankes sichtbar gemacht werden, stattdessen lenkt Giesebrecht die Aufmerksamkeit auf die Monumenta Germaniae historica: „Ein tieferes Studium unserer Geschichte, wie es den jetzigen Anforderungen der Wissenschaft entspricht, hat sich erst [!] an den Monumenta Germaniae entzündet.“ (Ebd., 15). Mit diesen hatte Ranke freilich wenig zu tun. In Giesebrechts Gedächtnisrede auf Ranke werden sich die Akzente allerdings ein wenig verschieben (s. u.). - Auch Rankes Schüler Reinhold Pauli, damals Professor in Tübingen - Ranke hatte ihm dringend zur Annahme des Rufes geraten - zeigte sich in einem 1860 erschienenen Beitrag für die ‚Preußischen Jahrbücher‘ mit dem Titel ‚Unsere Historiker‘ nicht sehr freundlich. Wie Sybel und Burckhardt hatte er, später eifriger Rezensent von Werken Rankes, ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Lehrer (s. II, 238). Der Beitrag erschien anonym. Von Verdiensten Rankes um die historische Kritik ist da ebenso wenig die Rede wie in Paulis gleichzeitigem Aufsatz über ‚Heinrich VIII und seine neuesten Beurtheiler‘. Auch von seinem Schüler Heinrich von Sybel (1817-1895) hatte Ranke - wie schon in dessen Dissertation zu bemerken war - wenig gleichgestimmte Dankbarkeit zu erwarten. Bei einer Festrede in der Universitäts-Aula zu Bonn, am 3. August 1864, mit dem Titel ‚Ueber die Gesetze des Historischen Wissens‘ bestimmte Sybel, in Fragen der Theorie weniger begabt, zunächst „die beiden Operationen der historischen Kritik“ in karger Äußerlichkeit so: „die Prüfung der Berichterstatter nach dem Wesen ihrer Persönlichkeit - und die Prüfung der Thatsachen nach ihrem Zusammenhang in Zeit und Raum und Causalverkettung“ (Sybel: Vortrr. u. Aufsätze/1874, 12), um sich dann dem Lob Niebuhrs hinzugeben, „der wie kein Anderer dieses Jahrhunderts für die Bethätigung der kritischen Grundsätze, für die Entwickelung ächten Wissens schöpferisch gewirkt“ habe (ebd., 20). Über Ranke verlor Sybel kein Wort. (Dazu R in Brief an Sybel, 1. 9. 64, SW 53/54, 430). - Noch deutlicher als in seiner Bonner Festrede von 1864 wurde Sybel in seiner Bonner Rektoratsrede von 1867. Auch in dieser Würdigung Niebuhrs, Loebells und Dahlmanns wird Ranke bewußt herabgesetzt, wie an der fast - 149 -
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verächtlichen Formulierung kenntlich wird: „Niebuhr hat hier in höchstem Maße epochemachend gewirkt, und Ranke’s Kritik so wie die seiner Schule ist nichts als Entwickelung der durch Niebuhr für immer festgestellten Technik.“ (ebd, 26). Man gewinnt nahezu den Eindruck, Sybel habe sich dieser Schule nicht zugehörig gefühlt. Ganz extrem wurde das - nicht öffentliche - Urteil Sybels in Rankes letzten Lebensjahren, - möglicherweise im Zusammenhang mit der ‚Weltgeschichte‘. Im Oktober 1883 berichtet Dilthey an Yorck von Wartenburg von einer Sitzung der Verdunpreis-Kommission: „Treitschke wird den historischen Preis erhalten: eine schöne Satisfaktion für ihn. Und denken Sie, es kam dabei in der Sitzung zu lebhaften Debatten, in denen Sybel und Duncker sich sehr scharf gegen Ranke erklärten, wollten ihn nur als historischen Essayisten gelten lassen. So ändern sich die Zeiten.“ (Dilthey/Yorck v. Wartenburg Briefwechsel/1923, 35). Damit wurde Ranke an seinem Ende das abgesprochen, was ihm seit seinen mittleren Jahren vermehrt zugesprochen worden war, die Anwendung der Kernmethode seiner Wissenschaft, der ‚historischen Kritik‘. Doch geschah dies nicht öffentlich und nicht durchgängig. Öffentlich suchte Sybel seinen Lehrer gerade im Felde der praktischen historischen Kritik zu übertrumpfen. In einem 1879 erscheinenden Beitrag über ‚Die karolingischen Annalen‘ versuchte er in Auseinandersetzung mit der umfangreichen Literatur, v. a. mit Waitz, Giesebrecht und Wattenbach, den Nachweis, daß die von Ranke in seiner Akademie-Abhandlung ‚Zur Kritik deutscher Reichsannalisten‘ behauptete offizielle, amtliche Abfassung der ‚Annales Laurissenses‘ im Sinne von ‚Reichsannalen‘ unzutreffend sei (Sybel/1879). 1865 veröffentlichte der junge österreichische Historiker Adalbert Heinrich Horawitz (1840-1888) ein Schriftchen ‚Zur Entwicklungsgeschichte der Deutschen Historiographie‘. In einer Zeit, da „in Deutschland ... die historische Wissenschaft eine Macht geworden“ sei (Horawitz/1865, 2), war dies ein seltener historiographiegeschichtlicher Versuch, „Schülern gereifteren Alters Winke für die Auswahl ihrer geschichtlichen Lektüre und eine Übersicht über die hervorragendsten Erscheinungen unserer historischen Literatur“ zu geben. (2, A. 2) Horawitz ist dabei auf breiter Literaturbasis um ein auffallend differenziertes und vertieftes Urteil bemüht. In Niebuhrs Arbeit mit ihrer „Aufweisung der Gesetze der historischen Kritik“ (10) sieht er „die Grundlegung der modernen Geschichtswissenschaft“ (8), seine „Methode, fortgebildet durch Ranke und dessen Schüler“ (10). Auch das Verhältnis Ranke-Schlosser wird berührt. - Horawitz veröffentlichte später nach Rankeschem Vorbild ‚Analecten zur Geschichte der Reformation und des Humanismus in Schwaben‘ (Wien 1878) sowie eine Besprechung der ‚Weltgeschichte‘ (s. I, 353f.). Indes waren als Vorgänger Rankes noch andere zu nennen: neben August Böckh (1785-1867) mit seiner 1817 erschienenen ‚Staatshaushaltung der Athener‘, Erster Band, Georg Heinrich Pertz mit seiner Dissertation ‚Die Geschichte der merowingischen Hausmeier. Mit einer Vorrede von Hofr. Ritter [Arnold H. L.] Heeren‘ (Hannover 1819) und Otfried Müllers (1797-1840) ‚Orchomenos und die Minyer‘ von 1820 nebst ‚Die Dorier‘ von 1824. August Kluckhohn machte darauf aufmerksam, daß nicht allein Niebuhr für die alte Geschichte, sondern auch Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860) für die mittelalterliche quellenkritisch gearbeitet habe. In dessen 1822 und 1823, also ebenfalls vor Rankes ‚Zur Kritik‘ erschienenen ‚Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte‘ (Altona) habe er u. a. „eine Einleitung in die Kritik der Quellen [im Or.: Geschichte] von Alt-Dänemark“ gegeben. Dahlmann stellt darin z. B. die später typisch Rankesche Frage, welche Schriften Saxo Grammaticus - 150 -
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„wol kennen und benutzen konnte“ (I, 151ff.). „Ranke aber hat“, so fährt Kluckhohn fort, „das eigentümliche und große Verdienst, daß er die Grundsätze der kritischen Methode zum erstenmale auf eine lange Reihe von Quellen der neueren Geschichte angewendet hat ...“ (Kluckhohn/(1885), 1894, 427). - Hermann Wesendonck griff noch weiter zurück. In seiner bekannten Schrift ‚Die Begründung der neueren deutschen Geschichtsschreibung durch Gatterer und Schlözer nebst Einleitung über Gang und Stand derselben vor diesen‘ (Lpz. 1876) datierte er die eigentlich kritische historische Behandlung der Geschichte nicht ab Niebuhr oder Ranke, sondern ab August Ludwig von Schlözer (1735-1809); „das Gebiet eines Jeden dieser drei Männer“ habe „sich in einem jedesmal veränderten Schwerpunkte concentrirt, so bei Ranke in dem der neueren Zeit, vom 15. bis ins 17. Jahrhundert“ (Wesendonck/1876, 195). Hermann Bischof sah, nicht abwegig, in Hermann Conring (1606-1681) für Deutschland den „eigentlichen Vater der kritischen Methode“ (Bischof/1857, 763). Dem entsprach die spätere Darstellung Diltheys, der auf die Entwicklung der historischen Kritik am Beispiel der kritischen Tätigkeit der Philologen und Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts, konkret auch der Urkundenlehre, aufmerksam machte (Dilthey III/1927, 219). In diesem Bereich, obgleich später ansetzend und mit anderer Zielrichtung, sah der Bonner klassische Philologe Hermann Usener (1834-1905) die Anfänge kritischer Geschichtswissenschaft. In seinem 1882 erschienenen Schriftchen über ‚Philologie und Geschichtswissenschaft‘ formulierte er selbstbewußt, jegliche Geschichtsforschung lasse sich auf zwei elementare Operationen zurückführen, recensio und interpretatio, welche in grundlegender Weise von der Philologie ausgeführt würden. Philologie sei damit „die grundlegende Methode der Geschichtswissenschaft“ (Usener/1882, 35). „Philologische methodenlehre und encyklopädie darf ich kurz h i s t o r i k nennen.“ (Sperr. i. T., 34). Der Philologe - wegweisend namentlich Wolf und Boeckh - ist für Usener der „pionier der geschichtswissenschaft.“ (39). Für den im höchsten Alter stehenden Ranke blieb statt einer Anerkennung seiner Verdienste um die historische Kritik nur eine geringschätzige Anspielung: „Aus archivalien allein, und wären es venezianische gesandtschaftsberichte, lässt sich nicht geschichte schreiben; die litteratur ist es welche die treibenden kräfte der zeit kündet.“ (28). - Nicht mehr zu überbieten war die Herleitung des instrumentellen Prinzips oder nur prinzipiellen Instruments der Historie durch Rankes Schüler Hartwig Floto (1825-1881). Er verkündete 1856 in seiner zunächst Burckhardt folgenden, gleichwohl intellektuell sehr schlichten Baseler Antrittsrede mit dem Thema ‚Über historische Kritik‘, bereits „die großen Geschichtschreiber der Alten“ hätten historische Kritik „mit vollkommener Virtuosität geübt“ (Floto/1856, 5). Ranke freilich schrieb sich als Achtzigjähriger nun doch ein ganz entscheidendes, wenn nicht alleiniges Verdienst für die Findung oder Entwicklung der historischen Kritik zu, als er in seinem 3. autobiographischen Diktat in vorgeblicher, akzentuierter Bescheidenheit feststellte: „Das Verfahren ist auf einem eigenen Weg ohne alle Anmaßung, durch eine Art Nothwendigkeit entstanden ...“ (SW 53/54, 62).
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2. Kapitel (I/2.1.2) DIE KRITIK DER HISTORISCHEN KRITIK, OBJEKTIVITÄT UND UNPARTEILICHKEIT Während sich das Prinzip der ‚historischen Kritik‘ in der historiographischen Anwendung seit den 1820er Jahren allgemein auszubreiten schien, Rankes Verdienste jedoch eher in Gebrauch und Verbreitung desselben als in seiner ‚Erfindung‘ wahrgenommen wurden, sah man nicht ohne Ironie von Frankreich aus im Zusammenhang mit einer Besprechung von Rankes ‚Päpsten‘ unter deutschen Historikern den Grundsatz der Unparteilichkeit nahezu im Übermaß herrschen: „Ils ont du dédain, presque de la fureur contre la partialité de l’histoire. Qui ne sait pas juger les évènemens [!] de haut, les comprendre sous toutes leurs faces, apprécier le double mouvement d’action et de réaction, de bien et de mal, d’accroissement et de décadence qui fait osciller les choses humaines, est indigne, selon eux, de tenir la plume.“ ([Anonym]: De l’action/April 1836, 194). Dieser Zustand war indes weder so allgemein wie geschildert, noch hielt er lange Zeit an. Nicht erst im 20. Jahrhundert erhob sich - als Gegenströmung, Mahnung zur Vertiefung oder Korrektiv eine später gern übersehene vielfältige Kritik der historischen Kritik und der damit verbundenen höheren Prinzipien von ‚Objektivität‘ und ‚Unparteilichkeit‘, als Teil einer überhaupt anwachsenden Theorie-Diskussion, - eine erste Krise der sich methodologisch zögernd formierenden Wissenschaft. Damit verbunden ist hier und da eine verständliche Sorge vor den anwachsenden Quellenmassen und ein wider die praktische historische Vernunft laufendes Vorurteil überhaupt gegenüber der Benutzung unveröffentlichter Archivalien, dies auch Ausdruck einer unvertilgbaren überzeitlichen Phobie. In dieser Krise verbinden sich grundsätzliche Kritik und Skepsis von Zeit und Zunft mit keinem Historiker mehr als mit Ranke und seinem je nach Standpunkt teils schwer faßbaren, teils leicht und fundamental angreifbaren Werk. Für Argumentation und Verlauf der sich in der Kritik an seinem Werk ausbreitenden und diffundierenden Diskussion ist von Bedeutung, daß, wie Ranke selbst, so auch kaum einer seiner bekannteren Schüler, eine ausgesprochen geschichtstheoretische Begabung besaß, weder Giesebrecht, noch Waitz, noch Sybel, noch Doenniges, noch später Dove. Sie waren Editoren, spezialisierte Forscher oder passable bis geistreiche Darsteller, von deren Seite eine qualifizierte Teilnahme an der Diskussion zwar gelegentlich versucht, aber kaum ertragreich durchgeführt werden konnte. Hermann Bischof stellte 1857, als die Diskussion schon längst im Gange war, fest: „Man spricht in unsern Tagen, sobald von Geschichtschreibung die Rede ist, über nichts so beredt als über Kritik, kritische Methode und kritische Schule. Dennoch wird das Verständniß gerade dieser Begriffe auch unter den Gebildetern durch die einseitigsten Irrthümer beeinträchtigt“ (Bischof/1857, 759). Dieser Zustand hält noch an. Rankes im allgemeinen wohlwollend duldsamer Berliner Kollege Friedrich von Raumer äußerte in einem Brief an Ludwig Tieck vom 8. März 1840 seine „Abneigung gegen die jetzt herrschende negative, minutiöse, atomistische Kritik“. So auch an dens., 11. März 1841 (v. Raumer II/1869, 192). Ähnlich hatte Schlosser bereits die Methoden von Niebuhr und Otfried Müller als „kritische Mikrologie“ angesehen (Gervinus/1861, 24). - In gelegentlich zwiespältigen Beiträgen der bereits erwähnten ‚Gesammelten kleinen historischen Schriften‘ aus Georg Gottfried Gervinus’ Feder, welche in man- 152 -
I/2.1.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - Kritik der historischen Kritik
chen Punkten zumindest allgemein auf Ranke bezogen werden können, trat eine Kritik der historischen Kritik, Objektivität und Unparteilichkeit keineswegs als Ablehnung, jedoch als Skepsis gegenüber einer Verabsolutierung dieser Prinzipien hervor, verbunden mit der frühzeitigen Warnung vor einem endlosen Sammeln von Quellen - einem immer noch als aktuell empfundenen unausweichlichen Problem. Gervinus’ Aufsatz von 1832 ‚Ueber die historische Grösse‘ (135-160) enthielt zu diesen Fragen bereits Folgendes: „Wir pflegen uns viel auf Gewissenhaftigkeit, auf Unpartheilichkeit und Quellenstudium einzubilden; Dinge, die wir doch bald in dem Maße sollten als selbstverstanden voraussetzen dürfen, daß es vergönnt werde, endlich einmal einen Schritt weiter zu gehen und an jeden fähigern jungen Historiker die Forderung zu stellen, in allgemeiner Bildung von Charakter und Geist, wie in einem gleichmäßig nach den Richtungen der Weite und Tiefe eindringenden Fachstudium, sich so mit dem Wesen der Weltgeschichte einzustimmen, daß er sich mittelst einer freieren Erfassung des Thatsächlichen in der Geschichte vollständiger darüber aufzuklären, sich über den inneren Zusammenhang und Verband der Dinge reiner und gründlicher zu verständigen lerne, als er es jemals über der blos kritischen Sichtung des Factischen lernen kann...“ (137f.). Dies nimmt zu einem nicht geringen Teil Warnungen und Wünsche vorweg, die Rankes ehemaliger Freund, der Philosoph Heinrich Ritter, 1867 in einem offenen Brief zu dessen 50jährigem Doktorjubiläum äußern sollte und die zudem dem Droysenschen ‚sapere aude‘ entprechen. - Auch in der ‚Einleitung in die deutschen Jahrbücher. 1835‘ (313-332) wie in ‚Ueber Börne’s Briefe aus Paris. 1835‘ (383-410) streifte Gervinus das Problem der Objektivität: Sie wurde „ein so verbreitetes Modewort, ein so schreckhaftes Losungswort ... das eine so allmächtige Gewalt erhielt, daß Niemand mehr wagte, sich dagegen aufzulehnen...“ (320). Sodann über „die mit diesem Jahrhundert allgemein werdende Epoche der Objectivität“ (ebd.): „... in der Geschichte“ dürfe „vielleicht der Anfang gemacht werden ..., den ausschließlichen Weg der objectiven Forschung zu verlassen und indem man darstellende Werke gibt, die von Ideen ausgehen, welche die Zeit und ihr Bedürfniß bedingen, die Wissenschaft für die gegenwärtige Umgebung fruchtbar zu machen.“ (322). Das „Versenken unserer Gelehrten in ihr sogenanntes objectives Forschen“ könne „nicht mehr das sein, was hinfort die Literatur allein bestimmen und beherrschen wird.“ (327). „Das ganz rücksichtslose Sammeln, Sichten und kritische Untersuchen muß immer dankenswerth bleiben ..., ohne darum fortwährend das letzte Ziel bleiben zu können...“ (ebd., ähnlich 386). - In Gervinus’ ‚Selbstanzeige der Geschichte der deutschen National-Literatur. 1835‘ (573592) trifft man wieder auf ein kurzes Streifen des bereits 1832 bemühten und auch in Rankes Selbstverständnis wesentlichen Prinzips der „Unpartheilichkeit, die des Geschichtsschreibers erste Tugend ist. Es ist keine angenehme Tugend, diese Unpartheilichkeit, so wie es keine angenehme Pflicht ist, Recht zu sprechen. Sie stört so unwohlthätig das Gefühl und den Genuß mit der dürren Wahrheit und dem trocknen Verstande...“ (587). Die mit dem Begriff verbundene Problematik wurde anläßlich einer Besprechung von Rankes ‚Deutscher Geschichte‘ in den ‚Blättern für literarische Unterhaltung‘ des Jahres 1840 angerissen. Auch hier wird gefordert, der Historiker solle „völlig unparteilich“ sein, allerdings nur „im Durchforschen des Stoffes, im Eruiren seines Inhalts ...; aber in der Beurtheilung desselben soll er sich ganz parteiisch für alles Heilige, Wahre und Schöne eingenommen zeigen und immer der Idee, nicht der gemeinen indifferenten Wirklichkeit, oder gar noch etwas Schlimmern, äußern Rücksichten und - 153 -
I/2.1.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - Kritik der historischen Kritik
Verhältnissen, die Ehre geben.“ Insofern dürfe man vom Historiker Charakter, „sittlichreligiösen Charakter“, fordern. Dies scheint wiederum spätere Gedankengänge Droysens (Historik ed. Hübner/41960, 287, ed. Leyh/1977, 235f.; s. I, 179) vorwegzunehmen. In Rankes ‚Deutscher Geschichte‘ nehme man, fährt der Anonymus fort, im Gegensatz zu seinen früheren Werken einen „bedeutenden Fortschritt zu diesem höchsten Ziele der Wissenschaft wahr“ ([Vf. Nr.] 43/1840, 818). - Der praktische Nutzen dieser idealistischen Gedankengänge war zweifelhaft, denn gerade im Umgang mit dem „Heiligen, Wahren und Schönen“ äußern sich Subjektivität und Parteilichkeit bekanntlich am stärksten. Von ähnlicher Natur waren Gedanken des Rezensenten zur „historischen Methode“, denen zumindest in der Intention das Verdienst zukommt, eine ungewöhnliche, frühe, hochabstrakte, wenn auch für die Praxis untaugliche Betrachtung der „historischen Methode“ Rankes versucht zu haben: „Letztere könnte man füglich eine Dialektik der historischen Thatsache nennen, welche sie, ganz wie die philosophische Dialektik den Gedanken, immanent sich aus ihrer innersten Natur entwickeln läßt und so die sich ergebenden einzelnen Erscheinungen in ihrer innern Nothwendigkeit zur Anschauung bringt. Dabei ergibt sich dasselbe Spiel der nothwendigen Entfaltung zu Gegensätzen und deren gegenseitigen Überschlagens, wie bei der begrifflichen Dialektik; nur freilich mit dem Unterschiede, daß Alles durchaus concret gehalten ist, wie es dem echten Historiker geziemt, und nirgend der abstracte Begriff, sondern überall die historische Thatsache das Bestimmende und Formgebende ist. Viele Anhänger der neuern Philosophie, die sich niemals ihres starren Formalismus entäußern können, werden freilich in diesem Mangel des abstract Begrifflichen einen Grund finden, das Buch unwissenschaftlich zu schelten: wir würden ihnen beistimmen, wenn der Verf. eine Philosophie der Geschichte hätte geben wollen; da er aber Geschichte selbst schreiben will, können wir darin nur einen Vorzug erblicken, weil er damit ein Beispiel geliefert hat, wie man den empirischen Stoff durchaus philosophisch durchdringen und dennoch seinen Inhalt in ganz historisch-objectiver Form zur Darstellung bringen kann.“ (822). Dies eine Distinktion, die später selbst von Benedetto Croce nicht völlig mitvollzogen wurde. Auf den rankekritischen Spuren Droysens (s. I, 168ff.) wandelte sein kulturhistorisch ausgerichteter und nicht minder an geschichtstheoretischen Fragen interessierter Hörer Alexander Brückner (1834-1896), der auch Vorlesungen Rankes besucht hatte, später Professor der russischen Geschichte an der Universität Dorpat wurde (s. Richard Hausmann: Brückner, Alexander. In: ADB 55/1910, 688-691). Er verfaßte 1869 einen Aufsatz für die ‚Baltische Monatsschrift‘ mit dem Titel ‚Zur Geschichte der Geschichte‘. Der erste Teil dieses schlichten, gleichwohl anregenden Beitrags ist der Frage nach Wesen und Aufgabe der Geschichte als Wissenschaft gewidmet, eine Frage, die vor allem aus der Kritik Schopenhauers heraus aufgeworfen wird, und auf welche, so Brückner, die Historiker selbst, weder historiographiegeschichtlich noch theoretisch, eine genügende Auskunft gegeben hätten. Man habe es versäumt, an Humboldts Gedanken (‚Über die Aufgabe des Geschichtschreibers‘) anzuknüpfen, und - wie überzogen ausgeführt wird - v. a. die Rankesche Schule, insbesondere Sybel in seiner Festrede ‚Ueber die Gesetze des Historischen Wissens‘ von 1864 habe „die Technik der Beschäftigung mit den Quellen verwechselt mit den Aufgaben der Geschichtswissenschaft überhaupt.“ (Brückner/1869, 331). Hier scheint ganz deutlich Droysen durch. Andererseits: „Ranke’s Schule thut selbst natürlich viel mehr, als sie verspricht. Ihre Praxis ist viel weiter als ihre Theorie.“ (336). Doch in ihrer „unbedingten Herr- 154 -
I/2.1.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - Kritik der historischen Kritik
schaft über das Material, in der reichen Fülle desselben“ habe sie nicht vermocht, „das Wesen der Geschichte zu bestimmen“ (338). In einem 1886 gehaltenen Vortrag vertrat Brückner die Auffassung, „die als Hauptaufgabe der Geschichte hingestellte Forderung, zu sagen, wie es eigentlich gewesen, gebe allenfalls das Gerippe der Begebenheiten, nicht aber die Geschichte selbst; erst durch die Emancipation von dem Besonderen wird die Geschichte zur Wissenschaft“ (Hausmann a. a. O). Auch dies beruht auf einem Mißverständnis, denn die genannte Rankesche Forderung beschränkt sich nicht auf das Besondere. Vielmehr war Ranke stets und vor allem bemüht, dieses im Zusammenhang mit dem Allgemeinen zu betrachten. In seiner 1886 gehaltenen Festrede ‚Ueber Thatsachenreihen in der Geschichte‘ sprach Brückner sogar von einer „Quasiwissenschaft“, die „nichts lehren, nichts beweisen und nur zeigen“ wolle, „wie die Dinge waren und wie Alles gekommen ist.“ (Dazu Kolde/1890, 6f.). Die Skepsis hinsichtlich einer Vereinseitigung oder einer allerdings nur schwer vorstellbaren Verabsolutierung der historischen Kritik und deren Folgen führte unter Historikern nur selten zu einer letztlich in die Selbstaufgabe führenden völligen Aufgabe jeglichen Objektivitätsglaubens. - 1860 erschien anonym eine Schrift mit dem Titel ‚Die moderne Geschichtswissenschaft und ihre Bundesgenossen, Skepticismus und akatholischer Confessionalismus im Kampfe mit der Kirche, als Beitrag zur Erwägung einer der wichtigsten Zeitfragen von einem „Dilettanten“‘, Schaffhausen 1860 (62 S.). Als Dilettant im abträglichen Sinne war ihr Verfasser freilich nicht anzusehen. Karl Heinrich Roth von Schreckenstein (1823-1894), um den es sich handelte, war 1859 als Mediävist zum zweiten Direktor des ‚Germanischen Museums‘ in Nürnberg berufen worden und erlangte später die Leitung des großherzoglich badischen General-Landesarchivs in Karlsruhe (Frankhauser: Schreckenstein, Karl Heinrich. In: ADB 54/1908, 184f.). Seine Ernsthaftigkeit geht auch aus dem 1864 erschienenen, nicht alltäglichen Schriftchen hervor ‚Wie soll man Urkunden ediren? Ein Versuch‘ (Tüb.: Laupp, 54 S.). Die Schrift über die moderne Geschichtswissenschaft nun wendet sich gegen die „nichtige“ „Voraussetzungslosigkeit der modernen Wissenschaft“ (8), die eine „Fiktion“ sei. Insbesondere sei „die behauptete Unparteilichkeit und Voraussetzungslosigkeit der modernen Schule eine völlige Fiktion“ (21) „Man hat sich aus Eitelkeit ein Ideal der Geschichtschreibung construirt, dem man aber durchaus nicht zu genügen vermag, denn wie sollte es dem Historiker möglich sein, völlige Objektivität gewähren zu können?“ (30). Auch die offenkundige Flüchtigkeit eines bestimmten vielschreibenden Historikers wird getadelt: „Ein Menschenleben wäre zu kurz, um alle gedruckten Urkunden der Hohenstaufenzeit in gründlicher Weise kennen zu lernen, aber in einigen Decennien beurtheilt man das Papstthum, schreibt eine deutsche, eine französische und eine englische Geschichte, und nebenher noch Abhandlungen und Denkschriften, treibt auch wohl noch zur Abwechslung etwas Politik und lebt nicht etwa in der Studierstube, sondern inmitten der geselligen Pflichten der Residenz. Da liegt es denn doch auf der Hand, daß man in der Quellenbenützung wenigstens nicht scrupulös gewesen ist, und wohl auch manches Wichtige übersehen hat.“ (47) Dies war ganz deutlich und auch bei Inrechnungstellung der prononcierten Katholizität des Verfassers mit ausreichender Berechtigung auf Ranke gemünzt. Von allzu schlichtem Realitätssinn war die Einstellung des neben Ranke in Berlin wirkenden theorieschwachen, mit einem eher problematischen Verhältnis zur historischen Kritik belasteten (s. o.) Friedrich von Raumer zum Thema ‚Objektivität‘ geprägt. Brachte er doch die überhaupt fragliche Wahrheit der Historie mit der womög- 155 -
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lich eher erreichbaren Wahrheit der Kunst allzu simpel in Eins. In seinem ‚Handbuch zur Geschichte der Litteratur‘ bemerkte er: „Man hat behauptet: der Geschichtschreiber solle durchaus objektiv seyn; das heißt man müsse von seinen persönlichen Ansichten, Grundsätzen, Charakter, Schreibart u. s. w. gar nichts merken; die Ereignisse müßten durch seinen Geist ganz unverändert hindurchlaufen, wie Wasser durch einen Trichter. - Ich halte diese Forderung für unverständig, für unausführbar. Bei gleicher Wahrheitsliebe unterscheiden sich die größten Geschichtschreiber am Bestimmtesten durch ihre persönliche Auffassung und Behandlungsweise, sie sind gar nicht zu verwechseln. Und warum soll das, was man z. B. an Malern und Musikern anerkennt und rühmt, nicht auch für begabte Geschichtschreiber gelten.“ (v. Raumer IV/1866, 115). Kaum wiederzuerkennen ist der 1870 auf traditionellen Wissenschaftspfaden wandelnde Verfasser von ‚Beiträgen zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes‘, welcher damals in der dritten Klasse des Pädagogiums zu Basel ‚Griechische Sprache‘ unterrichtete, in dem Verfasser der 1874 erschienenen ungeheuer aufsehenerregenden ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‘. In Friedrich Nietzsches (1844-1900) letzterer Schrift ist Ranke nicht genannt, aber die übersättigte historische Bildung seiner Zeit - von der freilich nicht in allen Volksschichten gesprochen werden konnte, was man dramatisierend übersah sollte hier einmal als „Schaden, Gebreste und Mangel“ verstanden werden. (V). „Dass das Leben … den Dienst der Historie brauche, muss eben so deutlich begriffen werden als der Satz … dass ein Uebermaass der Historie dem Lebendigen schade.“ (19). Ähnliches war u. a. schon bei Barthold Georg Niebuhr zur Sprache gekommen, der „im Gegensatz zur deutschen Romantik“ davor gewarnt hatte, „daß man sich durch träumerische Betrachtung der Vergangenheit um alle Gegenwart bringe“ (W. Mommsen/1952, 415). Angeklungen war das Erschrecken vor dem Massenhaften von Quellen, Geschichte und Historie auch bereits bei Varnhagen von Ense, der 1837 bemerkt hatte: „ ... In diesem Kunstbestreben liegt allein die Gewähr einer vollständigern und dauernden Aneignung des unermeßlichen Gebietes der Geschichte, in ihm allein das aushelfende Maß für die Auffassung … so wird die Kunst jetzt hauptsächlich dahin streben müssen, dem ausgedehnten Stoffe vermittelst jener Eigenschaft überlegen zu bleiben, und sie daher aufs äußerste zu steigern. Wir bedürfen neuer Darstellungsarten, die Geschichtschreibung erwartet eine neue Wendung. Ohne vorgreifend bestimmen zu wollen, bis zu welcher Kürze der Formeln oder Einfachheit der Bilder die ungeheuren Massen künftig zu epitomisiren sein dürften, wagen wir nur die Andeutung, dass die neue und fruchtbare Weise, wie Ranke die Geschichtsquellen, selbst indem er sie reichlicher öffnet, doch nur enger zusammenzieht, uns ein großer Vorschritt in jener Richtung dünkt...“ (Varnhagen v. Ense/1837, Sp. 525f.). - Bekanntlich unterscheidet Nietzsche drei Arten der Historie: „Wenn der Mensch, der Grosses schaffen will, überhaupt die Vergangenheit braucht, so bemächtigt er sich ihrer vermittelst der monumentalischen Historie; wer dagegen im Gewohnten und Altverehrten beharren mag, pflegt das Vergangene als antiquarischer Historiker; und nur der, dem eine gegenwärtige Noth die Brust beklemmt und der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will, hat ein Bedürfniss zur kritischen, das heisst richtenden und verurtheilenden Historie.“ (27). - Auch Letzteres war ja keineswegs neu und dabei zugleich schon überholt. Es entsprach dem überwundenen Schlosserschen Standpunkt. Wohl deutlicher noch auf Ranke bezogen sind Nietzsches, wie so oft von emotional übersteigerter Metaphorik belastete Gedankenspäne zur Objektivität: „Oder sollte als Wächter - 156 -
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des grossen geschichtlichen Welt-Harem ein Geschlecht von Eunuchen nöthig sein? Denen steht freilich die reine Objectivität schön zu Gesichte. Scheint es doch fast, als wäre es die Aufgabe, die Geschichte zu bewachen, dass nichts aus ihr heraus komme als eben Geschichten, aber ja kein Geschehen!“ (47). Das Eunuchen-Bild war beiläufig schon in Droysens Historik-Vorlesung von 1857 aufgestellt worden (ed. Leyh/1977, 236). Auch die Vorstellung vom „historischen Virtuosen der Gegenwart“ zielt in Rankes Richtung - „er ist zum nachtönenden Passivum geworden“ (55f.) -, läßt an das Selbst-Auslöschen-Diktum denken - oder die polemischen Bemerkungen zur historischen „Methode“ (70). In die Tiefe von Geschichtsanschauung und Wesen Rankes zielt weniger Nietzsches Vorwurf vom „klügsten aller klugen ‚Thatsächlichen‘“ (‚Zur Genealogie der Moral‘. Nietzsche’s Werke, 1. Abt., Bd. VII/1921, 454) und vom „‚Objektiven‘ mit schwachem Willen“ (‚Der Wille zur Macht‘. Nietzsche’s Werke. 2. Abt., Bd. XV/1922, 235), als vielmehr sein unmittelbar nach Rankes Tod formulierter Ranke-Aphorismus vom „gebornen klassischen advocatus jeder causa fortior“ (1887, ‚Zur Genealogie der Moral‘, 454), in dem auch vielfach geäußerte ältere CharakterVorwürfe anzuklingen scheinen. Ranke, dem zwar keineswegs der Wille zur geistigen Macht abging, stand in der Tat stets auf der Seite und unter dem Schutz der gesellschaftlichen und politischen Macht, er war auch, wie seine Schrift ‚Die großen Mächte‘ zeigt, ein Freund des Heraklit-Satzes vom Krieg als dem Vater aller Dinge und sah aus ihm weitgehend moralfrei „die neuen Entwicklungen am entschiedensten“ hervorgehen (s. u. Max Lenz, I, 452), woraus sich sogar eine gewisse Nähe zu Nietzsche begründen ließe. Georg Kaufmann hat Nietzsches causa fortior-Wort treffend so formuliert: „Das Gewordene erscheint hier regelmäßig als das besser Berechtigte“ (Kaufmann/1889, 275). - Bei Nietzsches Anklage wird übrigens nicht selten übersehen, daß sie sich in ihrer Übermaß-Kritik nicht gegen die Historie schlechthin wendet. Immerhin spricht er noch von der Notwendigkeit und Möglichkeit, sich der „Vergangenheit“ zu „bemächtigen“. - Zu Nietzsches „leidenschaftlicher Anklage wider den Historismus“ äußerte sich später vor allem Friedrich Meinecke (Persönlichkeit u. geschichtl. Welt, WW IV, ²1965, 50ff.). - Der liberale Essayist Karl Hillebrand (18291884) unternahm 1874 unter dem Titel ‚Über historisches Wissen und historischen Sinn‘ eine Besprechung von Nietzsches Schrift. Aus seinen allgemeinen zeitkritischen Bemerkungen verdient zumindest folgende im Zusammenhang mit Ranke Beachtung: „Die Herren Professoren mögen sich noch so viele Illusionen über ihre Objectivität machen, über ihre wissenschaftliche Unbestechlichkeit und Gewissenhaftigkeit, über die Unfehlbarkeit ihrer wunderbaren Methode - und ich glaube wirklich, käme heute Thukydides vor’s Publikum, ein Privatdocent aus Leipzig oder Göttingen würde dem unglücklichen Historiker, der nicht aus dem Ranke’schen oder Waitz’schen Seminar hervorgegangen, in irgend einem ‚literarischen Centralblatt‘ schon seinen Mangel an Methode recht gründlich auseinanderzusetzen wissen - unsere akademischen Lehrer der Geschichte mögen sich noch so sehr über die Unsicherheit alles historischen Wissens und über die Unmöglichkeit aller Feststellung anderer als der gröbsten, summarischesten Thatsachen zu täuschen suchen - sie haben, ohne es zu wollen und zu wissen, den protestantischen und nationalen Interessen gedient, ihnen zuliebe die Geschichte gebeugt, in diesem Sinne die Thatsachen gesichtet und zusammengestellt.“ (K. Hillebrand 1874/1875, 317f., weiteres 319f.). Zur Kritik der historischen Kritik gehört im weiteren Sinne die Aufforderung bzw. das Streben, sie wirkungsvoller zu gestalten und auch allgemeiner auszurichten. Das Bedürfnis ergab sich hier und da aus der Einsicht, daß ihr als bloßem Wort-Werkzeug - 157 -
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nicht Genüge getan werde, eine Auffassung, der allerdings Droysen mit seinem vergröbernden Spruch vom Chronisten als „armen Teufel“ nicht beigetreten war. Die Abhandlung des bedeutenden, Niebuhr und besonders Hegel verpflichteten protestantischen Kirchenhistorikers Ferdinand Christian Baur (1792-1860), betitelt ‚Kritische Beiträge zur Kirchengeschichte der ersten Jahrhunderte, mit besonderer Rücksicht auf die Werke von Neander und Gieseler‘ (Baur/1845) nennt Ranke nicht, ist jedoch in seinem Zusammenhang von Interesse, da sie mit bemerkenswerten Überlegungen zu einem vertieften Begriff von historischer Kritik beginnt (207-209). Diese geht nach Baur über bloße Quellenkritik weit hinaus und hat „die höhere Aufgabe des geschichtlichen Begreifens überhaupt“ (217). Auch wirft Baur die unbeantwortete Frage auf nach der Möglichkeit, „eine Theorie der historischen Kritik aufzustellen.“ (219). Nach Eduard Fueters plakativer Auffassung wandte Baur „zum ersten Male systematisch Rankes kritische Grundsätze auf die neutestamentlichen Schriften an“ (Fueter: Geschichte/1911, 441), ob bewußt rankebezogen, oder ob dies bereits im Zug der Zeit lag, sei dahingestellt. - Gerade in der historischen Kritik erblickte der Theologe Otto Zöckler noch Jahrzehnte später eine Gefahr. Er betrachtete 1883 ‚Die Person des Herrn in der Weltgeschichte von Ranke‘ und gelangte in dem zwar „auf edler sittlicher Grundlage ruhenden Werke“ doch zur Wahrnehmung eines „modernen Geist[es], dem es einmal unmöglich ist, Wunder und Weissagung zu glauben.“ (201f.). Dies sei „die Tiefe der Noth unserer Zeit“. „Das Historisch-Kritische beherrscht uns und - entleert uns.“ (202). Hier war mit Recht und mit Rückfall in vorreformatorische Zeiten die zerstörerische Bedrohung erkannt, welche nicht nur von Seiten der Naturwissenschaft, sondern auch durch die philologisch und allgemein historisch arbeitende Geschichtswissenschaft dem Glauben bei Untersuchung seiner zeit- und phantasiegebundenen Hervorbringungen erwuchs. Allerdings läßt sich nicht sagen, daß Ranke hinsichtlich der testamentlichen Geschichtsquellen sein volles kritisches Rüstzeug eingesetzt hätte (s. u. Bespr. der WG durch Holtzmann, I, 366). Gegenüber Baur vertrat Hartwig Floto in seiner bereits herangezogenen Antrittsrede von 1856 ‚Über historische Kritik‘ die nicht eben bestärkende Auffassung, „eine Theorie, ... bestimmte Grundsätze, Regeln und Rezepte über historische Kritik“ ließen sich nicht aufstellen“ (Floto/1856, 13). Dem widersprachen später indirekt u. a. Sybel in seiner Bonner Festrede ‚Ueber die Gesetze des Historischen Wissens‘ vom Jahre 1864 und Adolf Rhomberg (1851-1921) in einer Schrift mit dem prätentiösen Titel ‚Die Erhebung der Geschichte zum Range einer Wissenschaft oder die historische Gewißheit und ihre Gesetze‘ von 1883. Rhomberg, der hiermit den Titel eines Aufsatzes von Droysen (HZ 9, 1863, 1-22) aufgriff, beabsichtigte - nach einer Einleitung über das „gegenwärtige Stadium [!] der Geschichtswissenschaft“ und nach einem Kapitel über „Begriff und Wesen der Wissenschaftlichkeit“, in denen er sich mit Niebuhr, Droysen, Floto, Wuttke, Sybel, v. a. Buckle kritisch auseinandersetzte - die Aufstellung „historisch-kritischer Axiome von unbedingter Geltung“ (16), welche der Tatsachenfeststellung dienen sollten. Dabei wird Ranke häufig (4, 7-9, 14, 30, 33f., 38-40, 70f., 88, 90, 93) als Ausgangspunkt oder Beweismittel benutzt, so z. B. für das „III. Historisch-kritische Axiom: Es ist für Jeden unmöglich, seine Zeitverhältnisse und seine eigenen Anschauungen und Lebensumstände vollständig zu verleugnen.“ (37). Hierzu werden (39f.) Rückschlüsse Rankes herangezogen, die er aus den Annalen Einhards auf die Lebensumstände ihres Verfassers gezogen hatte. Was Rhombergs sogenanntes III. Axiom anbelangt, so war natürlich an einen Quellenverfasser gedacht und der diesen - 158 -
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deutende Historiker - auch Rhomberg selbst -, für den es ebenfalls gelten mußte, nicht mitbedacht. Rankes Zeitgenossen gingen schon bald seinen Quellen, im besonderen den Gesandtschaftsberichten und den Folgen ihrer Benutzung kritisch nach. Es dürfte sich selbst da, wo Polemik im Spiel war, nicht um billiges Mäkeln, sondern - wie die Vielzahl der Stimmen zeigt - um den Ausdruck eines durchaus ernst zu nehmenden Problembewußtseins gehandelt haben, das, nachdem es später beiseitegestellt und nahezu vergessen worden war, in jüngster Zeit wieder erwachte (s. II/8.2.3). Von Interesse ist, daß sich, wie bereits in der Kritik Heinrich Leos, Rankesche Prinzipien gegen ihn selbst wandten. Als in der ‚Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ bei Lektüre der ‚Päpste‘ noch unbeschwert der „Hauch des unmittelbaren Lebens“ verspürt wurde, „welchen Hn. Ranke aus seinen so aus dem Leben selbst hervorgegangenen Quellen festzuhalten gelungen“ sei, (A. H. L. [Heeren?] und A. Schr./1837, 350), hatte der mehrfach erwähnte Joseph Aschbach bereits eine störende Forderung erhoben. Anläßlich zweier Besprechungen von Rankes ‚Päpsten‘ hatte er verlangt, die Papiere hätten in Hinsicht ihrer Parteilichkeit „einer näheren Prüfung ... unterworfen werden müssen“ (Aschbach/1835, Sp. 629). Aschbach versuchte sich sodann aus eigener Kenntnis der Relationen-Sammlung der Frankfurter/M. Stadtbibliothek an einer inneren Typologie, wobei er auf Ergänzungsmöglichkeiten durch die Glauburgsche Sammlung italienischer Handschriften hinwies (Aschbach/1836, 917). Es folgte der auch aus anderen Besprechungen geläufige Vorwurf, auf „das Bekannte, Gedruckte, Abgehandelte“ werde von Ranke „nicht häufig Rücksicht genommen“ (Aschbach/1835, Sp. 635), und vor allem der damals noch seltene Hinweis, daß - bei aller Wertschätzung dieser Gattung - aus Relationen allein die Geschichte eines Landes nicht vollständig und richtig geschrieben werden könne (Aschbach/1835, Sp. 633). - Auch der zwanzigjährige Gustav Freytag fand an Rankes ‚Päpsten‘ keinen rechten Gefallen. Während seines Studiums an der Berliner Universität, [um 1836], habe ihn - so liest man in seinen ‚Erinnerungen‘ - von Ranke dessen Geschichte der Päpste ferngehalten: „das gefeierte Werk jener Jahre, in welchem seine Methode, die Charaktere so darzustellen, wie sie etwa einem vornehmen Italiener aus der Zeit Macchiavells erschienen wären, meiner teutonischen Empfindung wehe that, weil sie mir die Wahrheit der Schilderungen zu beeinträchtigen schien.“ (Freytag/1887, 136). - Eine uneingeschränkte Wertschätzung der Relationen vermochte auch Rankes Schüler Felix Papencordt nicht recht zu akzeptieren. Er warf seinem Lehrer in einer anonymen Besprechung der ‚Päpste‘ eine unkritische Einschätzung der Bedeutung seiner bevorzugten Quellengattung vor (Papencordt/1838, 43f.). Unangenehm berührte alsbald die in einem Artikel ‚Zur Feier der Thronbesteigung Friedrich’s II.‘ abgesetzte Polemik Karl Friedrich Köppens in den ,Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst’ von 1840 gegen das „buntscheckige“ Zusammenflicken von „diplomatischen Papieren, Gesandtschaftsberichten und Anekdoten, untermischt mit etwas Zeitgeist und Vorsehung“ (1840, 1177). 1841 legte Köppen nach, in einem gelegentlich polemischen, aber durchaus unterrichteten Artikel der Jahrbücher, betitelt ‚Die berliner Historiker‘. Hierin warf er die Frage auf, ob die von Ranke benutzten Aktenstücke und diplomatischen Papiere „überall der letzte Halt und das non plus ultra, ob sie je Alles in Allem sein können, und ob nicht deren ausschließlicher Gebrauch und das Beharren in ihnen zum nüchternsten, einseitigsten, beschränktesten Pragmatismus, ja zu wirklicher Abgeschmacktheit führen müsse.“ - 159 -
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Schließlich sei ja, wie Köppen listig bemerkt, die Geschichte der letzten 25 Jahre auch nicht allein aus Quellen dieser Art zu schreiben ([Köppen]/1841, 431). Dem ähnelte stark die spätere bon-mot-artige Feststellung eines anonymen Rezensenten von Rankes ‚Englischer Geschichte‘ in der Wiener ‚Katholischen Literatur-Zeitung‘ vom 27. Februar 1860: „ ... wie die Gegenwart nicht blos nach gesandtschaftlichen Depeschen beurtheilt werden darf, so bestand die Vergangenheit nicht aus den internationalen Beziehungen der Staaten allein.“ (67). - Ähnlich den Hegelschen Komponenten der Kritik Köppens sah auch dessen Freund Karl Marx (1818-1883) wenig später die Dinge. Er las 1843 in Bad Kreuznach den zweiten Band von Rankes ‚Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ und den Aufsatz ‚Über die Restauration in Frankreich’ aus der ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ (Berthold/1989, 600), besaß jedoch „weder in seiner ersten noch in der Londoner Bibliothek Bücher von Ranke“ (Behrendt/1987 nach Vajnštejn/1961 und Veber/1968). Er nahm ihn nicht ernst, sah das „kleine Rabunzel“ und „tanzende Wurzelmännchen“ nur als „geborenen Kammerdiener der Geschichte“, der seine „spielende Anekdotenkrämerei und die Rückführung aller großen Ereignisse auf Kleinigkeiten und Lausereien“ für Geist halte (an Engels, [London], 7. 9. 64. Marx/Engels, WW 30/1974, 432). Ein Rezensent der ‚Grenzboten‘ von 1847 hält es - in Schlosserscher Sichtweise für einen „Uebelstand“, „aus Archiven vorzugsweise Geschichte zu schreiben“ und „das zu ignoriren, was gleichzeitige Memoirenschreiber und Augenzeugen ausführlich und wiederholt schildern“, wie etwa die von Ranke nicht recht in den Blick genommenen körperlichen Exzesse Friedrich Wilhelms I. ([Anonym:]/Jg. 6, Bd. III, Nr. 33, Lpz. 1847, 307). Die Kritik an Rankes Quellenarbeit und -material bezog sich also nicht allein auf die ‚diplomatischen‘ Gattungen, sondern auch auf den Primat der Archivalien schlechthin, wie dies der Argumentation eines Kritikers von Rankes ‚Preußischer Geschichte‘ zu entnehmen ist, der - unfassbar - vor der Gefahr des „Studiums authentischer Archivalien“ warnt (Zimmermann: Über Ranke’s Auffassung König Friedrichs II./1848, 23). Durch dieses werde zwar „die Fähigkeit zu ursprünglicher Auffassung der Geschichte erhöht und gestärkt“, jedoch sei, „da man aus den Archivalien in überwiegender Masse einzelne kleine Züge zur Bestimmung der Physiognomie eines großen Zeitabschnittes zu sammeln“ habe, die „Uebersicht des Ganzen und Großen“ (ebd.) dabei nur schwer zu bewahren. Ähnlich äußerte sich auch der Rezensent M. der Beilage zur ‚Allgemeinen Zeitung‘ vom 24. Febr. 1848 in einem Artikel über ‚Historik und Dramatik‘: Ranke sei in seiner preußischen Geschichte „so weit gegangen daß eigentlich nur noch das historischen Werth für ihn hat was er in seinen Archiven gefunden, und was sich durch dieselben beglaubigen läßt. Dieß verleitet ihn denn manches andere auch sonst Feststehende in seiner Darstellung zurücktreten zu lassen oder zu ignoriren, und dadurch auf manches charakteristische Element zu verzichten.“ (874). - Auch Rankes mit Undank gestrafter ehemaliger entscheidender Förderer Varnhagen von Ense befaßte sich mit der Thematik. Zum 11. August 1847 schrieb er in sein Tagebuch: „Ranke’s ‚Preußische Geschichten‘ las ich mit Unlust weiter. Seine alten Fehler zeigen sich hier in ganzer Blöße, vor allem der Wahn, die Hauptsache der Geschichte finde sich in dem von ihm zuerst aufgeschlossenen oder benutzten Material“ ([Aus dem Nachlaß Varnhagen’s v. Ense. Tgbb. IV/1862, 128f.). Eine ähnliche Ansicht äußerte er 1848 nach weiterer Lektüre: „Ranken waren alle Archivquellen geöffnet; er hat aber nur Schlamm daraus gezogen! Die amtlichen Aktenstücke allein können überhaupt kein treues Geschichtsbild liefern; sie verschweigen oft das Wich- 160 -
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tigste, das Lebendigste; oft sind sie ganz und gar im Dienste der Lüge zusammengestellt.“ (Briefw. Troxler-Varnhagen/1953, 332). Von Bedeutung war der wissenschaftsgeschichtlich folgenreiche und andernorts noch zu betrachtende Nekrolog auf Schlosser (s. I, 179f.) aus der Feder von Georg Gottfried Gervinus, u. a. weiter behandelt von Johann Wilhelm Loebell in seinen ‚Briefen über den Nekrolog Friedrich Christoph Schlossers von G. G. Gervinus’ (1862). Gervinus vertrat nicht nur die Auffassung, bei Rankes Methode liege immer die Gefahr nahe, daß sie ihre ungedruckten Quellen überschätze, nur weil sie neu seien und desgleichen „ihre diplomatischen Gewährsleute, nur weil sie amtliche Eingeweihte“ seien, er stellte auch den Quellenwert von Gesandtschaftsberichten und ähnlichen Dokumenten grundsätzlich in Frage. Hierzu wird Ranke unterstellt, er messe dem „Wochenbericht“ eines Diplomaten eine höhere Bedeutung bei als den „großen Combinationen eines Machiavelli“, da aus diesem „nichts Neues zu excerpiren und zu registriren“ sei (Gervinus/1861, 26). Überhaupt verstärkte sich diese Kritik seit den 1860er Jahren, nachdem die Bevorzugung der Quellengattung in nahezu allen Werken Rankes auch für weitere Kreise als mehr und mehr aufdringliche Spezialität nachhaltig sichtbar geworden war. Auch im Ausland finden sich kritische Stimmen hinsichtlich seiner Quellen. In der bedeutenden Pariser ‚Biographie générale‘, Bd. 41 von 1862, wird festgestellt, die von Ranke benutzten, einseitig auf Staatsmänner und Diplomaten zurückzuführenden Quellen seien weit entfernt, sichere Führer zu sein (594). Acton stieß sich mehr an der Art der Benutzung. In einem Ranke-Artikel des Chronicle vom 20. Juli 1867 beanstandete er: „The manuscripts served him rather as a magazine of curiosities than as the essential basis of a connected history“ (393. Mit der RankeKritik Actons befaßte sich später Pieter Geyl in seinem Vortrag ‚Ranke in the light of the catastrophe‘, 1952). Ferdinand Gregorovius, nicht der Geringste unter den Rombegeisterten und Romhistorikern, mit so unterschiedlichen Geistern wie Acton und Gervinus in Verbindung stehend, schrieb am 28. April 1867 in sein römisches Tagebuch: „Ranke kennt nur die Diplomatie in der Geschichte - ‚das Volk‘ kennt er nicht“ (Gregorovius/1893, 239). Dem glich auch das Urteil Constantin Frantz’, der in seiner bereits herangezogenen, 1874 erschienenen Schrift ‚Die preußische Intelligenz und ihre Grenzen‘ geschrieben hatte: „Wie für die Diplomatie, [deren Berichte Ranke vorwiegend nutze], so werden auch für ihn die Machtfragen zur Hauptsache. Der moralische und sociale Zustand der Völker kommt dabei nur in soweit in Betracht, als darin selbst Machtmittel für die Staatsgewalten liegen.“ (50, Anm.) ... „Sein Streben nach Objectivität bewegt sich auf der Grenze der Gesinnungslosigkeit.“ (Ebd., s. I, 301). Der noch weiter zu betrachtende Heinrich Ulmann (1841-1931), Professor der Geschichte an der Universität Greifswald, ließ 1874 seine dem Lehrer Georg Waitz gewidmete Antrittsrede erscheinen, mit dem Titel ‚Ueber den Werth diplomatischer Depeschen als Geschichtsquellen‘. Anhand von Beispielen (u. a. über den brandenburgischen Residenten in England, Bonnet, S. 10, der auch in EnglG/Analekten eine Rolle spielt) warnte er vor der Überschätzung des Quellenwertes diplomatischer Depeschen und Gesandtschaftsberichte, „aus denen beispielsweise Ranke die herrlichen Characterköpfe zum guten Theil entlehnt hat, welche seine Werke zieren!“ (5). Die „kritiklose und unvorsichtige Benutzung“ dieser Quellen habe „mancherlei Unheil angerichtet“ (22). Eine Feststellung, welche dem Nekrolog Gervinus’ auf Schlosser (1861, 26) hätte entstammen können. - 161 -
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Auch unter Literaten und Philologen gewann Rankes Archivarbeit nur wenige Freunde. Nachdrücklich wird auf die Folgen einer Einseitigkeit der Quellen hingewiesen. Man erkennt weithin, daß sie nicht nur die Abfassung eindrucksvoller und lebendiger Porträts begünstigen, sondern auch die Gefahr tiefgreifender Einseitigkeit in sich tragen. So sieht es der bereits beachtete Johannes Scherr in seinem Aufsatz über ‚Geschichtschreibung und Geschichtschreiber der Gegenwart‘: Rankes „Lieblingswerkzeug, ... die diplomatische Korrespondenz“ (173), habe zur Einseitigkeit einer „diplomatisirenden Auffassung der historischen Erscheinungen“ (175) geführt (Scherr 1861/62, Zitate nach 1864). Auch der wie Scherr in die Schweiz emigrierte liberale und protestantische Heinrich Kurz (1805-1873) behauptete in seiner erfolgreichen ‚Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller‘, Rankes Werke seien „Geschichte vom Standpunkt ... des kalten Diplomaten“ - „Ranke freut sich am Spiel der Intrigue...“, des weiteren: Ranke gehe oft an der Wahrheit vorbei, ihm sei die geschriebene Urkunde alles, bei ihm herrsche Willkür in der Auswahl der Quellen - „sittliche Weltanschauung“ und „das Streben nach Erforschung der absoluten Wahrheit“ gingen ihm ab. Hingegen zollt Kurz, worauf noch zurückzukommen ist, Rankes Darstellungskunst hohe Bewunderung (Kurz III/1859, 697). Kurz’ Ranke-Kritik forderte eine Besprechung Sybels in der soeben gegründeten ‚Historischen Zeitschrift‘ heraus, wo er dessen historiographiegeschichtliche Abschnitte und v. a. den Versuch einer Charakteristik Rankes entschieden als „dilettantisch“ zurückwies (Sybel/1860). Karl Frenzel, Ranke-Hörer, Poet und Theaterkritiker, lobte in einer ‚Studie‘ mit dem Titel ‚Aufgaben der Geschichtschreibung‘ (1868) zwar die „meisterhaften Züge“, mit denen Ranke die „tiefe Umwandlung“ des Katholizismus im 16. Jahrhundert geschildert habe (334), und die „bewunderungswürdige Weise“ seiner Darstellung Karls V. (352). Über Ranke hinaus tadelte er jedoch an „unserer Geschichtschreibung“, daß sie „die Archive nach halbvermoderten Urkunden“ durchwühle und „die vergilbten Depeschen der Diplomaten“ lese, „als enthielten sie das Weltgeheimnis. Niemand wird den Werth dieser Studien und den Reiz solcher Erzählungen für die Biographie und die Detailgeschichte läugnen, aber Weltgeschichte, wie sie ein immer dringenderes Bedürfniß für das Volk wird, ist es nicht.“ (324). Die Aufgabe der Geschichtsschreibung sei hingegen die Darstellung des „Ganzen“, „eines geschichtlichen Kosmos“. Daher habe auch „die Gewohnheit unserer Historiker ..., nachdem sie den Königen und Ministern Bände gewidmet, auch den Denkern und Dichtern ein kurzes Kapitel zu schenken... etwas Kleinliches und Verkehrtes. Die Anschauungen und Stimmungen einer Zeit, die in ihrer Kunst und Literatur zum vollsten und untrüglichsten Ausdruck kommen, laufen nicht neben oder gar hinter den politischen Erscheinungen her: umgekehrt, sie helfen diese Ereignisse mit erzeugen.“ (367). Der Vorwurf zielte ganz deutlich auch auf Ranke ab, der dieses Verfahren, wie etwa in seiner ‚Französischen Geschichte‘ (I/1852, „Blick auf die Literatur“) oder in seiner ‚Englischen Geschichte‘ (I/1859 „Ein Blick auf die Literatur der Epoche“) mit Vorliebe praktizierte. Theodor Fontane (1819-1898), der sich gerade der Lektüre von Rankes ‚Weltgeschichte‘ gewidmet hatte, ging sogar so weit, sich in einem Schreiben vom 2. 6. 1881 an den Ranke-Verehrer Hermann Wichmann grundsätzlich ablehnend über die Benutzung von Archivmaterial auszulassen (Fontane. Werke, Schrr. u. Briefe III/1980, 134f. Dazu Komm. V/2/1994, 513). - 162 -
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Immer wieder finden sich Stimmen, welche nicht anstehen, eindeutige Befunde zu leugnen und das Gegenteil zu behaupten. In einem Nachruf auf Ranke war es vor allem sein noch zu behandelnder Späthörer Alfred Stern, der ihn in Schutz zu nehmen suchte gegen einige Hauptpunkte der älteren Kritik (s. I, 379f.) und dabei auch die mit der „vorwiegenden Benutzung diplomatischer Zeugnisse“ verbundene Gefahr für Ranke nicht gelten ließ (Stern/1886, 512). Dies dürfte Eduard Fueter nicht überzeugt haben. Er nahm in seiner ‚Geschichte der neueren Historiographie‘ vom Jahre 1911 (Zitate nach dieser Erstaufl.) die ältere Kritik wieder auf: „Erstens verwendet Ranke seine Gesandtschaftsberichte doch wohl zu wenig kritisch...“ - „Schlimmer war eine andere Folge seiner einseitigen Quellenbenutzung. Ranke wurde durch sein Material dazu geführt, geschichtliche Ereignisse in der Hauptsache vom Standpunkte der Regierungen aus zu beurteilen...“ (480f.). Seine Methode könne auch „nur für einen verhältnismäßig kleinen Abschnitt der Geschichte zur Verwendung kommen“. Sie versage, „wo sie sich anderen Quellen als erzählenden“ gegenüber sehe (481). * Zur Unparteilichkeit pragmatischer Historiker hatte Gervinus in seinen ‚Grundzügen der Historik‘ von 1837 bemerkt, sie sei „häufig ... gezwungen, neutral, apathisch, oder absichtlich bezweckt“ und nicht „Ausfluß einer angeborenen und natürlichen Vorurtheilslosigkeit“ (54), wozu sich Carl Hegel in den ‚Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik‘ vom Dezember 1839 (Nr. 115-117) äußerte. Es ist bemerkenswert, daß hingegen Rankes posthum immer wieder zitierte und diskutierte prägnante Hauptaussagen zum Thema ‚Objektivität‘ und ‚Unparteilichkeit‘ in ihrer sodann beigelegten Bedeutung oder gar Brisanz zu seinen Lebzeiten kaum wahrgenommen wurden. Dies gilt vor allem für das Diktum aus der Vorrede seines Erstlingswerkes von 1824 - „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, bey- [GRGV, VI:] gemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen“ -, doch es gilt auch für das im zweiten Band seiner ‚Englischen Geschichte‘ veröffentlichte Diktum „Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen ...“ (EnglG II, 3). Hinsichtlich der kaum feststellbaren zeitgenössischen Wirkung ist auch zu berücksichtigen, daß sein Erstlingswerk fünfzig Jahre lang in Erstauflage brach lag und sein Auslöschungs-Diktum erst im Jahre 1860 veröffentlicht wurde. Das Verhältnis von Unparteilichkeit zu Objektivität ist zudem von Ranke 1871, sehr spät, im Vorwort des ersten Bandes seines Werkes ‚Die deutschen Mächte und der Fürstenbund‘ publiziert angedeutet worden, eine seiner wenigen und stets unausgeführten Hauptaussagen zu diesem Thema: „Unmöglich wäre es, unter allen den Kämpfen der Macht und der Ideen, welche die größten Entscheidungen in sich tragen, keine Meinung darüber zu haben. Dabei kann aber doch das Wesen der Unparteilichkeit gewahrt bleiben. Denn dies besteht nur darin, daß man die agirenden Mächte in ihrer Stellung anerkennt, und die einer jeden eigenthümlichen Beziehungen würdigt. Man sieht sie in ihrem besonderen Selbst erscheinen, einander gegenübertreten, und mit einander ringen; in diesem Gegensatz vollziehen sich die Begebenheiten und die weltbeherrschenden Geschicke. Objectivität ist zugleich Unparteilichkeit“ (III). Darin mag man auch eine seiner Hauptaussagen in Richtung eines später angeklagten amoralistischen Indifferentismus und Relativismus erblicken (s. u. a. I, 449, 453, 547, 554). - 163 -
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Das Verhältnis der Rankeschen Zeitgenossenschaft zur Frage der Objektivität ist ein sehr differenziertes. Ein Teil der Spannungen, welche sich in der zeitgenössischen Objektivitätskritik abzeichnen, ergibt sich schematisiert aus folgenden unterschiedlichen bis gegensätzlichen Positionen: Man hält mit Ranke Objektivität für unabdingbar und möglich. Man hält sie für möglich, jedoch nicht in jeder Weise oder nicht in der Weise Rankes für wünschenswert. Zu anderen Zeiten hält man sie für wünschenswert, jedoch nicht in jeder Weise oder schlechthin für möglich, ja, man hält Parteilichkeit im Sinne moralischen Urteilens geradezu für unbedingt geboten und nicht unbedingt in Widerspruch zur Objektivität stehend. Auffallend ist die völlige Gegensätzlichkeit von Beurteilungen, die Ranke einerseits Objektivität attestieren, andererseits geradezu Subjektivität vorwerfen oder diese fordern. Seine sich in praxi verkürzt als Unparteilichkeit gebende Objektivität ist dabei Urteilen ausgesetzt, die sich teils aus moralischen und konfessionellen, teils aus politischen, im besonderen patriotischen, nationalen, sogar aus literarästhetischen Positionen heraus begründen. Dabei ist völlig kontrovers und in der Regel unreflektiert die Rede von reiner Objektivität, vollkommener Objektivität, absoluter Objektivität, gar von allzu großer Objektivität, auch von falscher Objektivität, blutloser Objektivität, von kalter Unparteilichkeit und zugleich einseitigster Parteilichkeit. Interessant ist vor allem die in der Kritik sich hier und da vollziehende Auflösung der Verbindung von Objektivität und Unparteilichkeit. Noch 1882 beklagte Wilhelm Maurenbrecher, über die Objektivität einer historischen Darstellung werde „lobend sowol als auch tadelnd“ gesprochen (Maurenbrecher/1882, 329). Diese Feststellung ist, wie sich zeigen wird, durchaus zutreffend, und eine von Max Lenz in seiner Rede beim Eintritt in die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften geäußerte Ansicht nur teilweise und sehr bedingt zutreffend: Nach dem Sieg von 1870/71 habe man „mit kälteren Blicken, unbefangener und von einem universalen Standpunkte aus ... auf die Epochen unserer Geschichte zurückblicken“ können, „in denen unsere Lehrer immer nur nach der Mission Preußens ausgeschaut und alle seine Gegner verfolgt hatten. So näherten wir uns wieder den Grundsätzen der Objektivität, welche Ranke in allen Kämpfen der Gegenwart behauptet hatte ...“ (Lenz/1897, 704-708). Dies sah Walter Goetz später auffallend ähnlich. Nachdem die großdeutsche Richtung mit 1866 „erledigt“ gewesen sei und die kleindeutsche mit 1870 „ihre Aufgabe erfüllt“ habe, sei in der Zeit von 1870 an bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Bahn für eine Geschichtsforschung frei“ geworden, „die sich ganz den Grundsätzen Rankescher Objektivität“ habe „widmen und sich von dem Einfluß der Zeitverhältnisse“ habe freimachen können (Goetz: Die dt. Geschichtsschreibung (1919)/1957, 100). Letzteres sicher nicht. Hier hätte bereits Goetz von einer Ranke-Renaissance sprechen können. Doch wäre dies nicht zutreffend gewesen. Denn jahrzehntelang noch steht neben der Forderung nach ‚absoluter Objektivität‘ die Forderung oder nur Praxis einer ethisch und politisch teils gefärbten, teils ausgerichteten ‚Objektivität‘, welche mit dem Rankeschen Verständnis wenig oder nichts gemein hatte. Doch gehen auch nie die Bedenken gegenüber einer uneingeschränkt wirksamen Objektivität verloren, wie sie der protestantische ordentliche Professor der „historischen Theologie“ in Erlangen, Theodor Kolde (1850-1913), in seiner Rede ‚Über Grenzen des historischen Erkennens und der Objectivität des Geschichtsschreibers‘ (Erlangen 1890) äußerte, was mit einer bei Theologen nicht ungewöhnlichen antirationalistischen Einstellung zusammenhängen mochte. Die gegen Ranke - neben vielfachem Lob - gerichteten Vorwürfe mangelnder Objektivität beziehen sich, wie bemerkt, in materialer Hinsicht auf die bevorzugte Be- 164 -
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nutzung diplomatischer Papiere. Diese befördern in der Sicht mancher Zeitgenossen nicht nur eine ungesicherte, sondern auch eo ipso eine unvollständige und überdies diplomatisierende und damit nicht mehr objektive Auffassung. Tiefer reicht der vielfach erhobene Vorwurf einer konfessionell geprägten Parteilichkeit. Tadel wird ihm daher in erster Linie und massiver Form von katholischer Seite zuteil. Dies gilt vor allem für seine beiden ‚Religionswerke‘ und seine beiden ‚Nationalwerke‘. Teils werde die Bedeutung der Reformation, teils die des Papsttums und des Katholizismus nicht angemessen dargestellt. Die Kritik bezieht sich dabei auch auf die je nach Konfession bewundernde oder ‚neutrale‘ Darstellung bestimmter agierender Charaktere. Die Religionskriege schildere Ranke zu Lasten der katholischen und mit Schonung der protestantischen Seite. - Sodann wird ihm soziale und politische Parteilichkeit vorgeworfen, die ihn stets auf der Seite der Stärkeren, der ‚großen‘ Persönlichkeiten, der Führer stehen lasse. Das niedere Volk in seinen Nöten, wie auch die Masse in ihren Wirkungen blieben weithin unbeachtet. Damit zusammenhängend wird seine verehrungsvolle Haltung gegenüber den Herrschenden in Gegenwart und Vergangenheit getadelt, die ihn zur Schönfärberei verführt habe. Auch wird seine Unparteilichkeit, soweit man sie ihm zugesteht, häufig nicht nur als Unentschiedenheit, sondern vor allem als Gleichgültigkeit und Kälte, ja als unethische Partei- und Teilnahmslosigkeit empfunden. Vor allem aber werden charakterliche Dispositionen Rankes als Beeinträchtigungen seiner Objektivität angesehen. Sein schon von Varnhagen als schwächlich beurteilter Charakter, verbunden mit ästhetischen Neigungen, höfischer Subordination und diese ausgleichender aristokratischer Attitüde wird verantwortlich gemacht für einen Mangel, der besonders in der Zurückhaltung gegenüber den menschlichen Unzulänglichkeiten und derberen Persönlichkeitszügen seiner hohen Helden sichtbar wird. Dies gilt besonders für Luther, Heinrich VIII., Cromwell, Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm IV. Ludwig Häusser (1818-1867), hat sich dazu - neben zahlreichen anderen Kritikern - zunächst 1842/43 allgemein und ein wenig verklausuliert, jedoch massiv in einer Besprechung der ‚Deutschen Geschichte‘ geäußert. Ranke dehne „die Objectivität der Alten bis zu einer ängstlichen Gleichgültigkeit aus, die vom Stoff erwärmt zu werden voll scheuer Besorgniß sich hütet...“ (Gesammelte Schrr. I/1869, 144) und „dem großen unbezwinglichen Stoff“ sei „seine ‚objective‘ Kälte und Gleichgültigkeit zum guten Theil unterlegen...“ (145). Dann auch beklagt Häusser, er könne sich „nicht überzeugen, daß etwas besonders Hohes damit erreicht“ sei, „wenn die theilnahmslose Reflexion den Menschen und das was ihn bewegt völlig erdrückt“ habe (147). Deutlicher noch wird er 1849 im Zusammenhang mit der ‚Preußischen Geschichte‘. Dazu äußert er anonym: „Jene Zurückhaltung [,] die Dinge scharf und bestimmt aufzufassen[,] hat indessen der Objectivität bisweilen Eintrag gethan; neben den milden und weichen Contouren vermissen wir oft die harten und kräftigen Striche [,] wie sie der Zeit und den Charakteren entsprechen. Ranke hat eine Neigung [,] die mildeste und günstigste Seite hervorzukehren, die sich mit der wahren Objectivität nicht gut verträgt; das läßt sich an Personen und an Zuständen nachweisen.“ ([Häusser, Ludwig]/1849, I/1869, 182. - Siehe auch I, 197f. u. 238). Tatsächlich wurde Ranke öfter das Fehlen von Subjektivität vorgeworfen als das Fehlen von Objektivität. Zum Thema wird dies auch bei einigen Literaten der Jahrhundertmitte. Seine ‚Unparteilichkeit‘ wird als Gleichgültigkeit gewertet, welche neben den ethischen Aspekten - vornehmlich dem Mangel an sittlichem Urteil - zu ästheti- 165 -
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schen Bedenken, wie dem Mangel an Lebendigkeit der Darstellung, Anlaß gibt, zweifellos ein weiter zu verfolgender Gedanke. Obgleich man Literaten eher eine Hochschätzung des „Unterhaltens“ auf höherem Niveau im Sinne des ‚prodesse aut delectare‘ zutrauen würde, ist es doch so, daß nicht allein Julian Schmidt bei seiner ‚Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert‘ in Rankes „Virtuosität“ der Zeichnung zugleich seinen „Hauptfehler“ erblickte: „In der Freude an den Gegenständen geht er ganz in sie auf und verliert zuweilen jenes feste, der Gegenwart angehörige politisch-sittliche Urtheil, welches wir von dem ächten Historiker, der uns nicht blos unterhalten, sondern erheben und bilden soll, ebenso verlangen, als das Talent der Darstellung.“ (J. Schmidt I/1853, 322). Diese von Ranke kaum gewollte oder gar erreichte Wirkung entsprach der später von Dilthey charakterisierten Forderung Schmidts nach einer Dichtung bzw. Literatur, „welche eine gesündere Entwicklung des nationalen Lebens fördere“ (Dilthey XI ²1960, 234), - eine Forderung, mit der Schmidts Literaturgeschichte damals „wahren Enthusiasmus“ hervorgerufen habe (ebd.). Auch für Hermann Bischof gehörte es in seinem Beitrag über ‚Die Regeln der Geschichtschreibung‘ um diese Zeit zu den Aufgaben des Historikers „das sittliche Gefühl zu bilden, zu stählen und zu begeistern...“ (Bischof/1857, 827f.). Hier zeigen sich ganz deutlich Forderungen an eine als poetische und ethische Hilfskraft mißverstandene Historie. Der Dramatiker und Literarhistoriker Rudolph Gottschall (1823-1909, 1877 geadelt), der zeitlich unbestimmt (vermutlich um 1844) bei Ranke „hospitiert“ hatte (Gottschall/1898, 163f.), brachte in seinem 1855 erschienenen Werk über ‚Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt‘ nach Nennung der bis dahin erschienenen Hauptwerke Rankes, wobei sein Erstlingswerk wiederum falsch als „Geschichte der romanischen und germanischen Völkerschaften von 1494-1535“ zitiert wird (Gottschall I/1855, 416), eine Julian Schmidt verwandte, scharfe, verhältnismäßig ausführliche Kritik, in der es unter anderem hieß: Ranke „berührt nie Gleichgültiges, aber Alles in gleichgültiger Weise. Diese Gleichgültigkeit erscheint als vollendete Objectivität der Darstellung; aber diese Objectivität ist ein subjectiver Mangel, der Mangel am vollen, warmen Herzschlage der Ueberzeugung und einer großen, sittlichen Gesinnung, ohne welche es keinen Tacitus und keinen Thukydides giebt.“ (417) ... „Wir meinen damit nicht die aufdringliche Tendenz, sondern die latente Wärme, welche auch der objectivsten Darstellung erst intensive Kraft verleiht...“ (418). - Diesem Urteil Gottschalls entsprach auch die Einschätzung Gustav Freytags, der 1856 in einem anonymen Artikel der ‚Grenzboten‘ über ‚Deutsche Geschichtschreiber. Heinrich v. Sybel‘ bemerkte, bis jetzt sei „die deutsche Geschichtschreibung nur zu oft und gerade in ihrem glänzendsten Repräsentanten, Ranke, am meisten in Gefahr“ gewesen, „aus überverfeinerter Humanität gewissenlos zu werden, und das eigne moralische Urtheil einer falschen Objectivität zu opfern“ (243). „Sybel hat nicht die kalte Glätte Rankes, welche den Leser empören kann, wenn eine kunstvolle Phrase da eintritt, wo wir den warmen Ausdruck von Liebe und Haß erwarten, er ist nie ohne Gesinnung ...“ (247). - Gottschall griff das Thema in einem bereits herangezogenen Beitrag der von ihm herausgegebenen ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ des Jahres 1869 wieder auf mit der Frage, ob nicht „die höchste Objectivität und Unparteilichkeit, welche allerdings als ein Vorzug der Geschichtschreibung angesehen“ werde, „nicht auch ... ihre Grenzen“ habe (545f.). „Soll die Geschichtschreibung nicht über die blos verstandesmäßige Erwägung des Zu- 166 -
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sammenhangs der Dinge hinausgehen zu einer Prüfung der Charaktere nach ihrem innern Werth?“... „‚Kühl bis ans Herz hinan‘ - das ist allerdings der Eindruck der Ranke’schen Geschichtschreibung.“ (546). Doch liegt die eigentliche Bedeutung des Beitrags in dem seltenen Verdienst, auf die Zusammenhänge von Quellenbehandlung, Darstellungskunst, allgemeiner Geschichtsanschauung und historischer ‚Wahrheit‘ in vergleichsweise subtiler und überzeugender Art hingewiesen zu haben, - Erkenntnisse, die auch in neueren Betrachtungen aufgegriffen zu werden verdienten: „Die feinere Kunst der Geschichtschreibung“, so stellte Gottschall fest, „wurde durch Ranke erst in unsere Nationalliteratur eingeführt“. Hierdurch sei die „ganze Physiognomie der Geschichte selbst ... verändert, freilich auch ihr Verständniß wesentlich erschwert worden. ... Was ... in großen Zügen und festen Umrissen im Bewußtsein des Volks lebt: das wird durch die Ranke’sche Darstellung wieder schwankend gemacht. Denn diese im Pragmatismus der Motive und im Detail der archivarischen Actenstücke heimische Darstellung gefällt sich vorzugsweise darin, jene vermittelnden Linien hervorzuheben, welche zwischen den schroffen Gegensätzen hin- und hergehen ... Tritt aber eine derartige Auffassung und Darstellung in den Vordergrund, so erscheint die Geschichte trotz der sorgfältigsten Motivirung und gerade wegen derselben, nicht als ein Product der N o t h w e n d i g k e i t [i. T.], sondern mehr als ein Erzeugniß der O p p o r t u n i t ä t [i. T.]. Die unendliche Biegsamkeit und Bestimmbarkeit der Ereignisse theilt sich auch den Charakteren mit und eine ausnehmend elastische Dialektik der Darstellung läßt uns zuletzt in dem beständigen Fluß der Dinge alles Feste vermissen.“ (545). Hinzu komme, daß Rankes Geschichtsschreibung, wie Gottschall erneut betont, „in erster und letzter Linie auf den Pragmatismus der Motive“ gehe „und die Schilderung der Ereignisse“ verschmähe. „Sie gibt gleichsam nur die feine, geistige Seele der Geschichte, nicht ihren Leib.“ (546). Der umtriebige, zunächst freisinnig, später eher vaterländisch eingestellte Poet und Herausgeber Arnold Schloenbach (1807-1866, s. A. Beck: Schlönbach, Karl Arnold. In: ADB 31/1890, 526f.) hatte 1863/64 eine Anthologie der Roman- und Novellendichter der Neuzeit, begleitet von biographisch-kritischen Skizzen herausgegeben, denen schon 1864 eine ähnlich angelegte Anthologie der ‚Denker und Forscher der Neuzeit‘ folgte. In diesem Band der ‚Bibliothek der Deutschen Klassiker‘ hatte er auch Ranke einen Platz eingeräumt mit einigen ‚Historischen Charakterbildern‘, einer für Ranke später immer wieder gern verwendeten personalistischen Editions-Gattung. In der Einleitung äußerte sich Schloenbach allerdings überraschend kritisch: Ranke sei „objektiv bis zum Gefrierpunk; er experimentirt mehr, als er schöpferisch schafft, und er herrscht und richtet nicht mit der olympischen Ruhe eines historischen Zeus, sondern mit der marmorglatten Ruhe eines innerlich theilnahmlosen gewaltigen Verstandes, im Haupte eines ebenso kühnen als feinen Diplomaten. Es fehlt der göttliche Funke, der auch den Historiker entzünden muß, wenn er Andere begeistern will. - Er ist sehr groß, wo er im Kleinen schildert; aber das wahrhaft Große und Gewaltige macht ihn selbst nicht größer. Seine Darstellungen sind Maschinenwerke der bewundernswerthesten Technik und Wirkung; offene Uhrgehäuse, in denen man den Gang der weltgeschichtlichen Zeichen deutlich verfolgen kann; aber es fehlt ihnen das organische Leben.“ (607). - Zu einem kaum minder harten Urteil kam Heinrich von Sybel in seiner 1856 gehaltenen Rede ‚Über den Stand der neueren deutschen Geschichtschreibung‘. Hierin heißt es: „Denn so gewiß der echte Historiker nicht ohne sittliche Gesinnung heranreifen kann, so gewiß gibt es keine echte Gesinnung ohne ein bestimmtes Verhältniß zu - 167 -
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den großen weltbewegenden Fragen der Religion, der Politik, der Nationalität. Der Historiker,| der sich hier in vornehme Neutralität zu ziehen sucht, wird ohne Rettung entweder seelenlos oder affectirt, und so gründlich und weit er dann etwa zu forschen, oder so sententiös und geschmückt er zu reden vermöchte, nimmermehr wird er sich zu der Fülle, der Wärme und der Freiheit der wahren Natur erheben.“ (355f.). Diese Äußerungen nehmen nicht wunder, sind sie doch bereits in Sybels Dissertation von 1838 ausgedrückt. Dort hatte er zwar seine Vorlesungen und Übungen bei Ranke erwähnt, jedoch im Gegensatz zu anderen Schülern jedes Wort des Dankes vermieden, stattdessen konfrontativ gegen Tacitus und Ranke die These „Historiae scriptor scribat cum ira et studio“ vertreten. Auch seine später kaum praktizierte These: „Sine philosophia non potest effici historiae scriptor“ - war eher im Gegensatz zu Ranke formuliert (De fontibus libri Jordanis: De origine actuque Getarum. Dissertatio inauguralis ..., unpag. 48). - Später wird Paul Graf Yorck von Wartenburg an Wilhelm Dilthey schreiben: „Das ist doch das Wesentliche, daß ein Charakter sich ganz ausspricht, daß sonach nicht eine Rankeske Schilderung gleichsam einer natürlichen Abwandelung gegeben wird, sondern eine ethische Wertung. Alle wahrhaft lebendige und nicht nur Leben schillernde“ [!] „Historie ist Kritik“ (9. 5. 81, Briefw. Dilthey-Wartenburg/1923, 19). Auch hier hat sich historische Kritik vom Quellenboden erhoben, steht auch nicht in direktem Zusammenhang mit einem höheren Begreifen, hat also überhaupt ihre Bedeutung als Instrument der Erkenntnis verloren, gilt nunmehr - und dies vor allem erwartet man von Ranke - als ein Sprachrohr ethischer, zumeist politischer Beurteilung. Dem damit verbundenen Problem einer Einschränkung von Objektivität und Unparteilichkeit hat sich Yorck von Wartenburg hier nicht gestellt. In einem bereits erwähnten anonymen Beitrag der ‚Preußischen Jahrbücher‘ von 1860 über ‚Unsere Historiker‘ warf Reinhold Pauli die bezeichnende Frage nach dem Wert der zeitgenössischen deutschen Geschichtsschreibung für die „nationale Kräftigung“ auf, wobei er außer Ranke Mommsen, Duncker, Sybel, Häusser und Droysen betrachtete. Rankes historiographische Streiflichter lassen ihn dort jedoch „kalt“ „wie die Sonnenstrahlen an hellen Frosttagen“ ([Pauli]/1860, 535). Pauli sah, wie viele andere, wohl keinen Widerspruch von Unparteilichkeit und historiographisch manifestiertem nationalem Wollen des Historikers. Untauglich war der von Heinrich Ulmann in seiner bereits herangezogenen Antrittsrede von 1874, betitelt ‚Ueber den Werth diplomatischer Depeschen als Geschichtsquellen‘, versuchte Kompromiß. Das Ende seiner Rede bezog sich deutlich auf Ranke: „Darin, und nicht in dem mißverständlich dem Historiker zugemutheten Verzicht auf selbständiges Urtheil, besteht meines Erachtens jene vielgenannte ‚Objectivität’, daß die Geschichtsforschung gleichsam alle Parteien vorfordert und die Geschichtsschreibung sie alle zu Worte kommen läßt, womöglich mit ihren eigenen Auslassungen.“ (23). Dies allerdings eine zwar dem Rankeschen Grundsatz der Unparteilichkeit folgende, doch nur im Vorfeld historiographischer Deutung und Darstellung verharrende Empfehlung. * Zu den schärfsten Kritikern der Rankeschen ‚Unparteilichkeit‘ zählen neben Sybel vor allem Droysen, Mommsen und Treitschke, mehr oder minder in der unheilvollen Personalunion von Historiker, politischem Publizisten und praktischem Politiker verfangen. Der direkte öffentliche Angriff wird dabei jedoch weitgehend vermieden, um so - 168 -
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schärfer sind die privaten Urteile. Zusammengefaßt sind sie einer Feststellung des ganz anders gearteten Constantin Frantz (s. I, 301) verwandt - woraus wiederum die Gemeinplätzigkeit des Urteils sichtbar wird -, der in seiner 1874 erscheinenden Schrift ‚Die preußische Intelligenz und ihre Grenzen‘ über Ranke schrieb: „Sein Streben nach Objectivität bewegt sich auf der Grenze der Gesinnungslosigkeit.“ (50, Anm.). Johann Gustav Droysen (1808-1884) hatte sich seit Mitte der 1830er Jahre, zunächst nur in privater Form, zu Ranke und der von ihm geübten historischen Kritik und angestrebten Objektivität geäußert. Dies war John Lord Dalberg-Acton nicht verborgen geblieben, der seiner Frau in einem Brief vom 10. Juli 1877 rückblickend anvertraute: „His criticism of Ranke and of Waitz was capital“ (Döllinger-Acton Briefwechsel III/1971, 182). - Zwei Hauptpunkte sind, verkürzt dargestellt, für die Droysensche Ranke-Kritik von Bedeutung, zum einen eine angeblich völlig unzureichende erkenntnistheoretische Vorgehensweise Rankes, zum anderen eine Charakterschwäche, die Ranke hindere, in Historiographie und allgemeinem Wirken angemessene Urteile und Entscheidungen moralischer und politischer Art zu fällen. Zusammen sind sie in den Augen Droysens verantwortlich für Rankes mangelnde Fähigkeit als Historiker und erlauben ihm lediglich, die Rolle eines Literaten einzunehmen. In der ‚Deutschen Geschichte‘ Rankes sah Droysen zwar ein „mit unglaublicher Kunst gemaltes Bild“, doch zugleich „nur die Verwicklungen eines spannenden Romans“ (an seinen Sohn Gustav, 19. 8. 1864, Abschr. aus dem NL Hübner der UB Jena, Stromeyer/1950, 101). Die erkenntnistheoretische Kritik ist ebenso ungewöhnlich wie unhaltbar, die charakterliche verbreitet und nicht gänzlich unbegründet. In der von Droysens Enkel herausgegebenen Briefwechsel-Sammlung sind aus der Frühzeit besonders folgende Passagen von Interesse: an Friedrich Perthes, 30. Okt. 1836: „Ranke oder wenigstens seine Schüler ... haben das an sich, die Sicherheit des Faktums über alles zu stellen, ja für die Tendenz der Historie zu erklären; dann wäre die Arbeit endlos und eines absolut nichtigen, negierenden Resultates gewiß.“ (I/1929, 104). In diesem Sinne ist auch ein Brief an Perthes vom 8. Jan. 1837 gehalten (ebd. 119). Droysens briefliche Äußerungen gehen in ihrem pauschalen und zum Teil maßlos übertreibenden Charakter an Ranke und am Ziel vorbei. So schrieb er am 29. 7. 1856 an Wilhelm Arendt „... der Historiker hat nicht bloß Kritik zu treiben, wie Ranke in seiner Schule voranstellt, sondern ist Interpret, muß verstehen lernen und lehren“ (Briefwechsel II/1929, 424), und am 20. 3. 1857 ebenso amüsant wie simpel: „Wir sind in Deutschland durch die Rankesche Schule und die Pertzischen Arbeiten auf unleidliche Weise in die sogenannte Kritik versunken, deren ganzes Kunststück darin besteht, ob ein armer Teufel von Chronisten aus dem andern abgeschrieben hat.“ (ebd., 442). Auch in seinen von 1857 an gehaltenen Historik-Vorlesungen kommt diese Auffassung in flüchtiger Form zum Ausdruck, wo unterstellt wird, Ranke oder die sogenannte ‚Kritische Schule‘ hätten ihre Arbeit nach Durchführung der bloßen Quellenkritik bereits beendet. Wäre dies zutreffend, so hätte nie ein Werk Rankes entstehen können, vor allem nicht die von Droysen inkonsequent gelobte ‚Deutsche Geschichte‘ (Historik, ed. Hübner/1960, 83; ed. Leyh/1977, 237), der er überdies, nicht nachvollziehbar, gar den Rang einer „ersten Quelle“ zusprach (Historik, ed. Leyh/1977, 154). Von Droysen wurde in seiner Korrespondenz und Historik-Vorlesung völlig übersehen oder aus überstarkem Ressentiment verkannt, daß gerade für den herausragenden Darsteller Ranke historische Kritik letztlich nur Mittel und Vorstufe des ‚Verstehens‘ sein konnte: „Das Geschehende ist nicht das letzte, was wir zu erkennen haben. Es gibt etwas, was darin geschieht. Erst - 169 -
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aus einer geistig kombinierten Reihe von Tatsachen resultiert das Ereignis ... Nach der Arbeit der Kritik ist die Intuition vonnöten.“ (WuN IV/1975, 177). Dies hatte Ranke bereits v o r Droysen in einer Vorlesungseinleitung der 1840er Jahre verkündet. Das krasse Fehlurteil Droysens wird als solches noch um einiges deutlicher, wenn es mit Diltheys späterem Ranke-Urteil verglichen wird. In seinen ‚Erinnerungen an deutsche Geschichtschreiber‘ erschien ihm das Wesen der Rankeschen Darstellung gerade darin zu liegen, daß dieser „den äußersten Moment“ sah „und in jedem Moment ein Allgemeines, das sie alle umfaßt. Denn eben dies, daß sein ungeheures Gedächtnis eine äußerste Mannigfaltigkeit umfaßt und in jeder Erfassung eines Teils im Ganzen lebt, nicht abstrakt, sondern im Bewußtsein seiner Bedeutungsrelationen zu diesem Ganzen, macht das Wesen seiner Darstellung aus.“ (Dilthey: Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins, GS XI/1960 217). - Den Rang eines Vermächtnisses hat in seinem Todesjahr ein Brief Droysens an seinen Sohn Gustav vom 8. März 1884: „Wenn der alte, sehr prätenziöse Böhmer gelehrt hatte, daß das Höchste der Geschichtschreibung eigentlich die Regesten seien, und wenn Ranke das große Wort gesprochen hat, als er den Stuartschen Teil seiner englischen Geschichte begann: ‚ich möchte mein Selbst auslöschen können‘ usw., so ist die jetzige junge Generation mit Schrecken an der Linie angekommen, wo ein nicht ganz Bornierter merkt: daß er auf diesem Wege dazu kommt, allerdings ein Vakuum, eine Rechenmaschine zu werden ... Wer so Geschichte zu reproduzieren glaubt, der hat auf das sapere aude verzichtet...“ (Briefwechsel II/1929, 977). Auch hier ein nicht näher bestimmter Verstehens-Begriff, der dem ebenfalls unbestimmten Objektivitätsbegriff Rankes gegenübergestellt wird. Auffallend die aller Distinktion ausweichende Flucht Droysens in die Metapher und ins geflügelte Wort. Es gehört zu den beunruhigenden Skurrilitäten der Geistesgeschichte: Wo Droysen bei Ranke den Sinn für das ‚Verstehen‘ gänzlich vermißte, da sah später Joachim Wach - in gegensätzlicher und weil übertrieben, verfehlter Weise - bei Ranke geradezu eine bestimmte Verstehens-Konzeption wirksam und schrieb über „Die Lehre vom geschichtlichen Verstehen bei Ranke“. Sie habe besonders auf Dilthey Einfluß ausgeübt (Wach/1933, 94, s. I, 474f.). Droysen verlangte vom Historiker wie von jedermann ein festeres Auftreten von charaktervoller Überzeugung, besonders in nationalpolitischer Hinsicht. Davon ist besonders seine Kritik der ‚Preußischen Geschichte‘ Rankes getragen (s. I, 258-261). Er hielt nicht allein „objektive Unparteilichkeit“ für „unmenschlich“ und war der Überzeugung: „Menschlich ist es vielmehr, parteilich zu sein“ (Historik ed. Leyh/1977, 236) - was gewiß in hohem Maße seiner eigenen Natur und Betätigung sowie seinem persönlichen Verhältnis zu Ranke entsprach -, er verlangte gar „sittlichen Zorn“: Dies liest man vor allem aus seinen Briefen an Wilhelm Arendt. Am 17. Nov. 1855 schrieb er über Ranke: „... weder bin ich für seine kosmopolitische Betrachtungsweise eingenommen, noch gar kann ich ihn als Charakter ausstehn, und pectus facit historicum. Er gehört mit seiner feigen Intelligenz recht in die derzeitige Berlinerei; von sittlichem Zorn, von Erhabenheit der Gesinnung ist in ihm keine Spur“ (Briefwechsel II/1929, 373f.). Dem Wort von der ‚feigen Intelligenz‘ entspricht Treitschkes Wort vom „furchtsamen Ranke“ (an Lina von Schönfels, 22. 7. 86, Heinrich v. Treitschkes Briefe III/1920, 583). Auch die Altliberalen Varnhagen und Alexander von Humboldt hatten sich bereits ähnlich geäußert. Am 8. Mai 1857 schrieb Droysen wiederum an Arendt: „Ranke wird - mit vollem Recht - wegen seiner Feinheit, seiner tiefen Gelehrsamkeit, seines weiten Blickes bewundert; aber man hat kein Herz zu ihm, da er - 170 -
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keins - für niemand außer für sich - hat.“ (ebd., 450). Welchen grundsätzlichen Unterschied Droysen beiläufig zwischen „sittlichem Zorn“ und „moralischem Pauken“ machte, ist nicht bekannt. Bei ihm scheinen auch Verletzungen im persönlichen Umgang eine Rolle zu spielen, die sich im folgenden Jahr noch beträchtlich verschärft haben dürften. Da verfaßte Ranke, der sonst eher zurückhaltend oder gar nicht urteilte, ein vernichtendes Gutachten (s. II/4.1) über Droysens zum Verdunpreis eingereichtes Werk zur ,Geschichte der preußischen Politik‘, ein Urteil, das in Wissenschaftskreisen nicht unbekannt geblieben sein dürfte. Auch Rankes Spätschüler Alfed Dove erklärte das Werk öffentlich als „ungenießbar“ (D[ove], A[lfred] und [Vf.] ξ: Literarischer Festbericht. II/1873, 1019). - Unangenehm war für Droysen auch, in einer Besprechung seiner ‚Geschichte der preußischen Politik‘, die der Preußen-Hasser Onno Klopp 1861 in den ‚Historisch-politischen Blättern‘ veröffentlichte, zu lesen, daß er „dem Herrn Ranke ... nicht bloß in Thatsachen“ folge, sondern ihn „auch in geringen und unbedeutenden Kleinigkeiten des Styls ...“ nachahme (96, s. I, 248). Ranke verurteilte, allerdings im privaten Rahmen, Droysens Abhandlung über das Testament des Großen Kurfürsten „in scharfen Worten und sprach in Beziehung auf dieselbe sogar den Vorwurf einer Fälschung aus“, wie sich Theodor Wiedemann erinnerte (XV/1893, 261). Überhaupt schien er es für selbstverständlich zu halten, daß Droysens „Informationen vielfach unrichtig und mangelhaft seien“ (ebd.). Nicht nur mit der ‚Geschichte der preußischen Politik‘, auch mit Droysens ‚Grundriß der Historik‘ war er „keineswegs einverstanden“ (Hintze 1904/1982, 484). Für Ranke war Droysens Wirken am Ort insgesamt schmerzhaft, denn er schrieb ihm - ohne nähere Begründung - zu, „seine Schule in Berlin vernichtet“ zu haben (Wiedemann XV/1893, 261). Vergebens hatte er sich 1859 mit einer Empfehlung für Ludwig Häusser gegen Droysens Berufung zur Wehr gesetzt (Hintze 1904/1982, 484). In Droysens Aufsatz von 1863 mit dem ebenso grundsätzlich wie polemisch zu verstehenden Titel ‚Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft‘, (HZ 9/1863, 1-22), welche eine Besprechung der positivistischen ‚History of civilisation in England‘ von H. T. Buckle (I u. II 1858?, 1861) darstellt, ist Ranke wohl bewußt nicht mit bedacht. - 1872 tritt der Begriff der „Leisetreterei“ in einem Brief Heinrich von Treitschkes an Droysen auf: „Rankes Geschichte der Jahre 1780-90 [DtMächte] füllt die Lücke wahrhaftig nicht aus. Diese Leisetreterei, die über das Wichtigste gar nichts sagt, ist doch schrecklich. Ranke sollte in England und Italien bleiben, da kann man seine Größe ohne Vorbehalt bewundern. Für die preußische Geschichte fehlt ihm, worauf alles ankommt: der Charakter“ (Briefwechsel II/1929, 905). Ein Gegensatz von objektivitätsorientierter Historie und nationalpolitischem Engagement wird auch hier nicht gesehen, ist vielmehr in seinem - unmöglichen - Verbund völlig erwünscht, ja geradezu wissenschaftskonstitutiv und wissenschaftsethisch unabdingbar. In Rankes ‚Genesis des preußischen Staates‘ stieß Hermann Baumgarten, wie er in einem Brief an Droysen 1873 formulierte, „die höfische Art“ ab, „jedes fürstliche Haupt hübsch zu frisieren, so daß sie in einer gewissen Entfernung alle sehr stattlich aussehn und für die Masse der Leser alle höchst verehrungswürdig werden.“ (908). Hier wurde Ranke also eine im weitesten Sinne politisch geprägte, charakterlich passende Subjektivität des Beschweigens und Beschönigens vorgeworfen. An Treitschke schrieb Droysen 1873 selbst über Ranke ähnlich: „Ich bewundere sein großes literarisches Talent und seine schöne Gabe, alles wie im heiteren Sonnenlicht zu sehn oder doch zu zeigen, als gäbe es in den menschlichen Dingen kein Weh und Ach, keine Schuld und Leidenschaft.“ - 171 -
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(911f.). Der Bewunderer des literarischen Talents bekundete jedoch an anderer Stelle seine Bedenken vor dem im tiefsten Sinn ‚an-schaulichen‘ Darstellungsstil Rankes (Historik ed. Leyh/1977, 239. Siehe auch I, 203f.). Das „heitere Sonnenlicht“ - bei Pauli waren es die „Sonnenstrahlen an hellen Frosttagen“ ([Pauli]/1860, 535) gewesen - wird auch in der Kritik Treitschkes (1834-1896) auftreten, der zunächst 1864 als Dreißigjähriger in einem Brief an seinen Vater Ranke ob seiner „blutlosen Objectivität“ leichthin „den rechten historischen Sinn“ absprach (Briefe II/1913, 351), obgleich er nicht preisgab, worin dieser bestand. Ja, wie Droysen sah er unter dem Einfluß der „allerneuesten Mode der sogenannten vollkommenen Objectivität“ überhaupt den „eigentlichen Sinn der Geschichte und zuweilen ihren thatsächlichen Inhalt verloren“ gehen. Beides blieb wiederum unbestimmt (an Ulmann, 28. 3. 73, Briefe III/1920, 367). Schon 1872 hatte sich ein merkwürdiges Zwischenspiel ereignet, das Treitschke durch die überraschende Zusendung seiner ‚Historischen und politischen Aufsätze‘ (vermutlich in der vierten, vermehrten Auflage von 1871) an Ranke veranstaltet hatte. Dieser erkannte in freundlicher Form lediglich die „außerordentliche schriftstellerische Begabung“ des sich in einer ihm „nicht ganz homogenen Richtung“ bewegenden Absenders an, sah jedoch in der Zuwendung, zu der sich ein Droysen nie hätte hinreißen lassen, den Versuch der Anbahnung eines „freundlichen Verhältnisses“ (Brief vom 27. 3. 72, NBrr 547f.). Karl von Normann (1827-1888) schrieb darüber irritiert an Gustav Freytag, 21. Febr. 1872 (NL Freytag): „Treitschke scheint überhaupt allgemach unter die Mamelucken zu gehn. Neulich hat er seine gesammelten Schriften an Leopold Ranke mit einem Briefe geschickt, in dem er sagt: ‚je mehr er (Treitschke) die Irrtümer seiner liberalen Zeit verurteile, desto höher steige ihm Ranke empor‘.“ (Dt. Liberalismus II/1926, 45). Ob diese Anbahnung aus Überzeugung zustande gekommen war, mag bezweifelt werden, denn Treitschkes Kritik richtete sich, der Annahme konservativerer Züge zum Trotz, weiter und unvermindert, wie die Droysens und Dunckers, gegen Rankes preußische Unternehmungen, doch auch gegen dessen Geschichtsanschauung schlechthin. Ihn überkam, wie er im selben Jahr an Hermann Baumgarten schrieb, „immer ein Schauder“, wenn er „Ranke an die neueste und nun gar an die preußische Geschichte herantreten“ sah. (Briefe Heinrich von Treitschkes an Historiker und Politiker vom Oberrhein/1934, 27. Siehe dazu allg. I/2.1.8). Nun trat er auch in publizierter Form gegen Ranke auf: 1874 veröffentlichte er in den ‚Preußischen Jahrbüchern‘ einen 1875 zugleich selbständig erscheinenden Beitrag, betitelt ‚Der Socialismus und seine Gönner‘, in dem er gegen die objektivitätsmindernden sozialen Defizite der Rankeschen Darstellung vorging: „Denn wer die Geschichte nimmt, wie sie ist, der bemerkt freilich nur selten das milde, kaum durch ein leichtes Gewölk getrübte Sonnenlicht, das in Ranke’s Erzählungen einen zierlichen Kreis vornehmer und satter Menschen bestrahlt ... er darf den Blick nicht scheu abwenden von jener Welt viehischer Leidenschaft, frecher Sünde, herzbrechenden Elends ... Aber er sieht auch nicht ... beständig einen schwarzen, von grellen Blitzen durchzuckten Gewitterhimmel über der historischen Welt. Er kann den holden Aberglauben an die natürliche Harmonie der Interessen nicht theilen, sondern bescheidet sich, in dem natürlichen Kampfe der Interessen das Walten sittlicher Gesetze aufzusuchen.“ (72f.). Auch in den folgenden Jahren scheint sich diese Position nicht geändert zu haben. 1877 bekannte er gegenüber Heinrich Hirzel (1836-1894): „Den Ranke’schen Hardenberg halte ich ... [Auslassung i. T.]. Alles so hübsch abgeleckt und angepinselt und so durch und durch unwahr.“ (Briefe III/1920, 367). - 172 -
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Und als Rudolf Haym ihn 1878 wegen Vergabe des Verdun-Preises um Rat fragte, äußerte er: „Nur um Gotteswillen nicht die lackierten und verlogenen neuesten Bücher von Ranke!!“ (Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms/1930, 309). Damit waren die ‚Genesis des preußischen Staates‘, die ‚Deutschen Mächte‘ und der ‚Hardenberg‘ gemeint. Was Ranke selbst anbetraf, so ließ er sich in späteren Jahren des öfteren aus Treitschkes ‚Deutscher Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert (Lpz. 1879-1894) vorlesen, allerdings ohne sie mehr zu loben als mit den von Theodor Wiedemann überlieferten Worten: „er hat nicht ganz unrecht“ (Wiedemann XIV/1893 348). Erstaunlicherweise begrüßte Ranke die moralisch-politische Wirkung von Treitschkes schließlich konservativ ausgerichteten Vorlesungen „mit Beifall“ (ebd.). In den dritten Band seiner ‚Geschichte‘ hatte Treitschke noch zu Lebzeiten Rankes (1885) eine Würdigung vor allem mit Blick auf das Frühwerk eingebracht, wobei er Rankes Verdienste um die Ausbreitung der Quellenkritik betonte, jedoch auch einschränkend von dessen „neuer diplomatischer Geschichtschreibung“ sprach, welche „wesentlich politisch“ „den Staat stets von oben“ betrachtet habe und dabei zu einer „vornehmen Zurückhaltung“ gelangt sei. Seine „Erzählung“ habe „die ruhige Schönheit des Kunstwerks“ erlangt. Insgesamt schien Treitschke hier um ein ausgewogenes, bleibendes Urteil bemüht, wiederholte jedoch indirekt die Hauptpunkte seiner älteren Kritik, indem er sie nicht nur in einer Möglichkeitsform darbot, sondern auch auf eine Vielheit imaginärer „diplomatischer Historiker“ bezog: „Wohl lag die Gefahr nahe, daß die Stimme des Gewissens ... ganz verstummte, daß der breite Unterbau der Gesellschaft, die Masse des Volks mit ihrer Noth und Sorge, mit ihrer Tapferkeit und ihren dunklen Instinkten nicht genugsam beachtet würde, und auch die Kräfte des Gemüths, deren jede lebenswahre Schilderung des Menschendaseins bedarf ... nicht ganz zu ihrem Rechte kämen“. Aussagen, die nun ihrerseits Fragen charakterologischer Art aufwarfen, wie sich schon in dem scherzhaften Vorwurf „Mameluck“ angedeutet hatte. Man nahm ihm seinen Wandel nicht ab, und er mußte sich bemühen, ihn Erich Marcks (1861-1938) gegenüber glaubhaft zu machen. 1893 schrieb er: „Ich habe in jungen Jahren Rankes kalte, blutlose Weise verabscheut und erst bei reifender Erfahrung seine Weisheit bewundern gelernt. Ich würde mich schämen, wenn ich als junger Mann anders gedacht hätte, und auch heute lerne ich dankbar von ihm, ohne ihm nach zuahmen. Wollen Sie Sich die Mühe nehmen, meine Aufsätze mit der Deutschen Geschichte zu vergleichen, so werden Sie unmöglich leugnen können, daß ich ihm näher getreten bin.“ (Briefe III/1920, 630). Das ist nicht ganz glaubhaft, denn noch 1886 hatte er in einem Nachruf auf Max Duncker diesen Ranke mit den alten Vorwürfen positiv gegenübergestellt: „Mit seiner preußischen Auffassung der neuen deutschen Geschichte trat er sogar in bewußten Gegensatz zu den Ansichten Rankes, die sich von der alten kursächsisch-österreichischen Tradition nicht sehr weit entfernten... Er suchte die Objektivität des Historikers nicht im Verschweigen des eigenen Urteils, sondern in der unerbittlich genauen Feststellung des Tatbestandes. Sparsam mit Betrachtungen, sprach er doch immer unzweideutig aus, auf welcher Seite die treibenden Kräfte der Zeit recht erkannt worden seien. Dies Recht des relativen Urteils, des einzigen, das dem Historiker zusteht, ließ er sich nicht nehmen; die absolute Sonderung der Böcke von den Schafen überließ er als geistreicher Mann den Sittenpredigern und dem Jüngsten Tage.“ (Treitschke: Max Duncker/(1886) 1929, 631f.). Auch lehnte Treitschke trotz großer Bemühungen Alfred Doves die Übernahme einer Besprechung von Rankes posthum herausgegebener Sammlung ‚Zur Geschichte Deutschlands und Frankreichs im neunzehnten Jahrhundert‘ ab (s. I, 403). - Jedenfalls billigte er in seiner ‚Deutschen - 173 -
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Geschichte des Neunzehnten Jahrhunderts‘ Ranke zu, den „festen Grund“ gelegt zu haben, „auf dem sich die deutsche Geschichtsforschung zur Höhe einer gesicherten Fachwissenschaft erheben konnte“ (III/1885, 698). Dies stellte allerdings die schlichte Übernahme einer damals in Umlauf gekommenen Vereinseitigung und Verkürzung der Gesamtleistungen dar, welche die Geschichtswissenschaft vor und neben Ranke erbracht hatte. Was ihn vor allem mit Ranke einte, war sein von hohem Vermögen getragener literarischer Impetus. Was ihn vor allem von ihm trennte, war die Auffassung der Geschichtswissenschaft als - wie Goetz es formulierte - „Mittel zu einem höheren Zweck: zur Erziehung der Nation, zur Erringung des Einheitsstaates, zur Vertiefung des nationalen Bewußtseins.“ (Goetz: Heinrich v. Treitschke/(1934)/1957, 262). Die Ablehnung, welche Ranke durch Theodor Mommsen (1817-1903) erfuhr, ist nur schwach dokumentiert und später noch dürftiger behandelt worden. Von Interesse bei diesem Verhältnis sind auch die Vergleiche, welche schon sehr bald, und bei Rankes ‚Weltgeschichte‘ verstärkt, angestellt wurden (s. I/2.1.9). 1857 verfaßte der auch mit Varnhagen von Ense in Kontakt stehende Literat, Zeitschriftenherausgeber und Hörer Rankes, Karl Gutzkow (1811-78), unter dem Titel ‚Ein gekröntes Geschichtswerk‘ eine Besprechung der ‚Römischen Geschichte‘ Mommsens (I-III, 18541856), in der er einen nicht unpassenden Vergleich anstellte: „Mommsen hat etwas von Demosthenes’ oratorischer Leidenschaft, Vaterlandsliebe, Ranke noch viel mehr von der wunderbaren Biegsamkeit jenes Mazarin, der durch alle Irrfahrten durch nichts als ‚Geist und Politik‘ zum Herrn von Frankreich geworden. Weil Ranke eine künstlerische Natur, nicht mitleidende Seele ist, bleibt er über, neben, vor seinem Werke, jeden Meißelschlag berechnend.“ - „ ... Mommsen lebt in seinem Werke ... er arbeitet sein Urtheil in das Geschehene hinein...“ „Er, der Demagog, wie der Hofmann der Historie, Beide schließen gern mit Sentenzen ... Mommsen legt darin seine tragisch-herbe Ansicht vom Verlauf der Dinge, Ranke seine melancholische Stimmung über ihre Nichtigkeit nieder.“ (399). Ranke mag dieser aufgrund der thematischen Unterschiede nicht gerade naheliegende Vergleich zu Gesicht gekommen sein, jedenfalls kam er Theodor Wiedemann gegenüber auf das Werk zu sprechen. Überhaupt habe Ranke, wie Wiedemann bemerkt, zwar Mommsens Leistungen auf dem Gebiet der „historischen Hilfswissenschaften in weiterem Umfang“ geschätzt, „ausschließlich der Kritik der Überlieferung und der Chronologie“, ihn jedoch nicht als „eigentlichen Geschichtsschreiber, als mit historisch-politischem Verständnis der Begebenheiten begabt“, betrachtet (Wiedemann XV/1893, 263). Der Vorwurf Rankes hinsichtlich der chronologischen Fähigkeiten Mommsens scheint nicht abwegig gewesen zu sein, mußte sich dieser darin doch auch von anderer Seite Versagen vorwerfen lassen. Der Philologe und Archäologe Otto Jahn (1813-1869) unterbreitete Mommsen in einem Brief vom 16. Mai 1867 Äußerungen von dessen Schüler und später bedeutenden Philologen und Althistoriker Heinrich Nissen (1839-1912): „Er sagte mir, offenbar innerlich tief affiziert und wie unter einem Gewissensdruck, er sei in einigen wesentlichen Punkten, namentlich der Chronologie, und rücksichtlich der zu Grunde liegenden Methode, die Quellen zu behandeln zu abweichenden Resultaten von Dir gekommen, er glaube, Deine Versehen in diesen Punkten mit Sicherheit nachweisen zu können und mit Erfolg die Rankesche Methode auf die Quellen anzuwenden.“ (Mommsen/Jahn Briefwechsel/1962, 319). Wenig angenehm für Mommsen waren in den 1880er Jahren die oft zu seinen Ungunsten ausfallenden Vergleiche seiner ‚Römischen Geschichte‘ mit entspre- 174 -
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chenden Partien der Rankeschen ‚Weltgeschichte‘, wobei auch seine Objektivität angegriffen wurde. Doch scheint er überhaupt bei weitem nicht so stark von Ranke berührt worden zu sein wie Treitschke oder gar Droysen. Daß Mommsens Verurteilung der Rankeschen ‚Objektvität‘ sichtbar geworden ist, verdankt man im wesentlichen seiner Aufgabe, als Sekretär der Philosophisch-historischen Klasse der Berliner Akademie bei Ranke-Feiern eine Gratulationsansprache zu halten. Über einen solchen Anlaß berichtet Mommsen am 6. März 1877 in einem Brief an Wilhelm Henzen: „...bei der letzten Ranke-Feier habe ich die Ansprache für die Akademie und den Haupt-Toast gehabt, was mir um so unbequemer war, als ich gegen diese Gattung der Geschichtschreibung bei allem großen Respekt ernstliche moralisch-politische Bedenken habe. Es ist aber ganz gut abgelaufen, besonders deswegen, weil ich so frei war diese in schicklicher Weise anzudeuten; der alte Herr hat mir zum Dank seinen Hardenberg verehrt und ist vergnügt wie ein Wiesel.“ (Wickert III/1969, 430). Bei der (Wickert unbekannten) Feier dürfte es sich um Rankes 60jähriges Doktorjubiläum am 20. Febr. 1877 gehandelt haben. In diesem Jahr erschienen auch die ‚Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg‘. 1882 ergab sich erneut die Notwendigkeit eines Auftritts. Dabei soll, wie Droysen seinem Sohn Gustav am 6. August 1882 berichtete, „der edle Mommsen phrasenhaft wie ein richtiger Journalist“ dem alten Ranke bei festlichem Anlaß eine „‚Lobhudelei‘ an den Kopf geworfen haben“ (III, 30). Es handelte sich dabei wohl um das am 13. Februar gefeierte fünfzigjährige Akademie-Jubiläum Rankes. Bei der letzten Gelegenheit, zu Rankes 90. Geburtstag am 21. Dezember 1885, in Anwesenheit zahlreicher Notabilitäten, steigerte sich Mommsen zu einem maliziösironischen Lob des „seltenen Talents“ Rankes, „an jedem Menschen das Beste zu finden ... so haben auch Sie es verstanden, die Menschen darzustellen, vielleicht nicht immer wie sie waren, sondern wie sie hätten sein können.“ (Toeche/1886, 13. Die Ansprache scheint Wickert unbekannt zu sein.). Dies vielleicht auch eine Anspielung auf das Sagen oder Zeigen des „wie es eigentlich gewesen“. - Der noch zu betrachtende Droysen- und Ranke-Schüler Max Lehmann stand diesem verbreiteten, wenn auch unter den gegebenen Umständen deplazierten Urteil schon länger nahe. Seine bei einer Besprechung der ‚Zwölf Bücher preußischer Geschichte‘ 1874 geäußerte Objektivitätskritik bezieht sich bei Ranke auf den „optimistischen Grundzug seines Wesens“, der Lehmann aus seiner Tätigkeit als Amanuense wohlbekannt war. Dementsprechend habe Ranke sich bei der „Beurtheilung der österreichischen Politik und Libertät bemüht ..., wenn nicht alles zum Guten zu wenden, so doch mindestens die vorhandenen Spitzen und Stacheln abzubrechen“ und verhalte sich „auch gegenüber den Persönlichkeiten der Herrscher meist apologetisch“ (M. L./1874, 150). Droysen, Mommsen, Treitschke gemein ist die Kritik an Rankes zurückhaltendem bis fehlendem historisch-politischen Urteil. Während Droysen ein Leben lang, nicht fern von kollegialem Neid und Hass, vor allem den Charakter Rankes kritisiert, ist Troeltsch in seinen späten Jahren um ein ausgewogenes Urteil bemüht, vermag jedoch seine Augen nicht vor den sozialen Defiziten und der ethischen Emotionslosigkeit in Rankes Geschichtsanschauung zu verschließen. Mommsen schließlich sieht dies ähnlich, doch scheint er Ranke nicht mehr ernst zu nehmen und für abgetan zu halten. Schon Jahrzehnte zuvor hatte Julian Schmidt in einem 1847 in den ‚Grenzboten‘ erschienenen Aufsatz ‚Moderne Historiker. Leopold Ranke‘ die von Mommsen kritisierten harmonisierenden und euphemisierenden Tendenzen in Rankes Darstellung zum Gegenstand seines Spotts gemacht: „Er würde auch in Lucifer positive Seiten auffinden - 175 -
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und ihn als eine interessante, wenn auch etwas barocke Persönlichkeit darzustellen wissen.“ (410). Noch 1875 fand er anläßlich der Besprechung einer Spätauflage der ‚Päpste‘, Ranke nehme in seiner Objektivität „die Distance zu weit“ (Schmidt/1875, 388). Es sei der „Standpunkt der deutschen Renaissance aus dem Ende des 18. Jahrhunderts“ (415), auf dem Ranke hier stehe: „Es ist die Bildung, die sich bemüht in allen Farbenreichen, das Gute zu finden“ (ebd). Hier wurde Ranke eine wohl ästhetisch begründete fehlgeleitete Subjektivität vorgeworfen, die freilich auch mit psychischsozialen Praedispositionen aus Kindheit und Elternhaus zusammenhing. * Vor der Betrachtung des in seinen letzten Jahren überwiegend harmonischen Endes der Diskussion um Rankes Objektivität und Unparteilichkeit ist einer besonderen personalen Kontrastierung zu gedenken, die freilich nicht von einer persönlichen Kontroverse ausging oder zu einer solchen gedieh, jedoch als „Schlosser-Ranke-Streit“ (Eugen Guglia: Leopold von Rankes Leben u. Werke/1893, 320-322) toposhaft in die Literatur eingegangen ist. Der 1839 aufgekommene Plan einer Berufung Rankes nach Heidelberg mag dabei eine kleine rivalitätssteigernde Rolle gespielt haben. Auf Seiten des badischen Ministeriums war man unzufrieden mit der Lehrtätigkeit Friedrich Christoph Schlossers und wünschte, seine Nachfolge zu regeln. Ranke ließ den Plan jedoch an allzu hochgeschraubten Bedingungen scheitern (Bresslau: Versuch/1921). Der überzeitliche Sinn der Kontroverse und ihrer Erörterung, wie auch der späteren Ranke-Lamprecht-Kontrastierung, liegt nicht in der Feststellung eines personalen Vorrangs, sondern in ihrem Beitrag oder nur Versuch zur Klärung von Methodenfragen, die von Ranke in publizierter Form nicht erörtert wurden und jedenfalls über ihn hinausführen. Freilich ging es damals nicht allein um fachliche, sondern auch um politische und konfessionelle Unterschiede, wie etwa die Konstruktion des Gegensatzes einer ‚Heidelberger‘ und einer ‚Ranke-Schule‘ zeigt und die von Georg Waitz 1846 vorgenommene Unterscheidung in eine nördliche und eine „südliche Hälfte deutscher Historiker“ - zu letzterer zählte er v. a. Schlosser, Kortüm, Gervinus, Hagen, Häusser, Hormayr, Hurter, J. E. Kopp, Chmel, Mailath und Höfler (Waitz/1846, 523). Nicht, wie vielfach angenommen, erst nach dem Tod Schlossers im Jahre 1861, sondern bereits Jahrzehnte zuvor war Gegensätzliches vermerkt worden. Schon 1840 hatte ein Anonymus der ‚Blätter für literarische Unterhaltung' bedauert: „Schade ist, daß die Natur nicht Schlossers Charakter und Ranke’s Geist in einem Individuum vereinigt hat.“ ([Vf. Nr.] 43 in: BLU/1840, 818). Dem folgte 1843 Johann Wilhelm Schaefer in seinem ‚Grundriß der Geschichte der deutschen Literatur‘. Jedoch erkannte er Raumer, Ranke und Schlosser in der Darstellung der Entwicklung des europäischen Staatensystems bei „verschiedenen Standpuncten“ noch eine gleiche Bedeutung zu (Schaefer, ³1843, 156). Auch in seinem ‚Handbuch der Geschichte der deutchen Literatur‘ (Aufl. ²1855) urteilte Schaefer sehr gleichgewichtig, die Geschichtsschreibung sei durch „Männer wie Schlosser und Ranke zu der universalhistorischen Klarheit und Vielseitigkeit erhoben“ worden, „welche auf verwandte Wissenschaften überging.“ (539f.). Die ‚Augsburger Allgemeine Zeitung‘ stellte jedoch 1848 anläßlich der in Rankes kompromittierender ‚Preußischer Geschichte‘ auftretenden „Abschwächung und Verdünnung des historischen Stoffs“ eine Kontrastierung in Form eines verdeckt beleidigenden Wunsches her: „Möge der Ruhm edler, gradsinniger, und wahrheitseifriger Geschichtschreibung, in der bisher die Deutschen ausgezeichnet waren, uns in - 176 -
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einer Zeit nicht geschmälert werden wo die Gränzen des freien Wortes sich auf andern Gebieten glücklich erweitern, und wo ein Schlosser, Dahlmann, Gervinus, Raumer und andere fortwährend ein würdiges Beispiel geben!“ (* [Unter der Rubrik] Deutschland. Litterarisches aus Berlin/28. 2. 1848, 937). - Einen völligen Gegensatz sah auch Julian Schmidt in seiner 1853 erschienenen ‚Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert‘. Schlosser bilde, so schrieb er bei seinem Kapitel ‚Die historisch-kritische Schule‘, „in allen Punkten zu Ranke den entschiedensten Gegensatz“ (Schmidt/1853, 331). Schmidt schließt mit dem Wunsch: „In Ranke und Schlosser sehen wir auf diesem Gebiete unsere beiden Pole versinnlicht: unendliche Receptivität und eigensinnige Integrität ...“ (332). Sein Kollege Heinrich Kurz überspitzte in seiner ‚Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller‘ das Verhältnis Ranke-Schlosser allzu sehr auf eine andere Weise, indem er formulierte „Dieser ist ganz Wahrheit, jener ganz Kunst“ (Kurz III/ 1859, 697). Sogar in Berlin gab es einflußreiche Persönlichkeiten, welche - nicht unbedingt aus wissenschaftlichen Motiven - Schlosser bevorzugten. August Boeckh, Mitglied und später Kanzler der Friedensklasse des Ordens pour le mérite, erklärte nach der durch den Tod Schellings (1854) verursachten Vakanz, nicht den von Friedrich Wilhelm IV. gewünschten Ranke wählen zu wollen, sondern „den alten Schlosser“ (Aus dem Nachlaß Varnhagen’s v. Ense. Tgbb. XI/1869, 398). - Heinrich August Lübben (1818-1884), der um 1840 Ranke gehört hatte (Strackerjan, Karl: Lübben, Heinrich August. In: ADB 19/1884, 813-815), veröffentlichte 1855 eine Skizze betitelt ‚Zur Charakteristik dreier deutscher Geschichtschreiber‘. Darin stellte er zum Bauernkrieg des Jahres 1524 und 1525 drei Darstellungen einander gegenüber, die Schlossers, des „Hauptes der moralisirenden Richtung“, die Leos, des „Hauptes der romantischen, absolutistisch gesinnten Geschichtschreibung“ und die Rankes, des „Hauptes einer ... diplomatischen Geschichtschreibung, im edleren Sinne des Wortes“ (Lübben/1855). Ihr schien Lübben - wenn auch nicht ausdrücklich - als der ausgewogeneren den Vorzug zu geben. Damit waren die Klischees verteilt. Mit tieferer Einsicht wurde die Konstellation, nach Austausch von Leo durch Gervinus, behandelt von Karl Hagen. Dieser war bisher vor allem durch sein Ranke nach Möglichkeit ergänzendes Werk ‚Deutschlands religiöse und literarische Verhältnisse im Zeitalter der Reformation‘ (3 Bde, Erlangen 18411844, s. I, 241f.), hervorgetreten. Bei seiner Antrittsrede nun an der Hochschule in Bern, gehalten den 27. Oktober 1855, mit dem Titel ‚Ueber die verschiedenen Richtungen in der Behandlung der Geschichte‘ charakterisierte er mit einigen Sätzen Rankes „historische Kunst“, die keiner „zu einer höhern Vollendung gebracht“ habe (Hagen/ 1861, 14). Hagen verstand darunter allerdings lediglich Rankes „Darstellungstalent“ (15) und behandelte in akzeptabler Weise zusammenfassend Schlosser, Ranke und Gervinus, „die mit Recht zu den Ersten unserer Wissenschaft gerechnet werden“ (13), ja als „Repräsentanten der gegenwärtigen Epoche“ (17) gelten dürfen: „Schlosser, dessen Hauptverdienst in der neuen geistreichen Behandlung der Cultur und Literatur und in der schonungslosen Wahrheitsliebe liegt, mit welcher er die Nachtseite der Geschichte, die Gebrechen und Fehler der Herrschenden aufdeckt, der nun aber durch das Vorwaltenlassen des moralischen Gesichtspunktes einseitig wird und den Anforderungen der historischen Kunst nicht genügt; Ranke, der in letzterer Beziehung zwar das Ausgezeichnetste geleistet hat, aber durch das Vorherrschen des conservativen diplomatischen Gesichtspunktes verhindert wird, den ganzen Inhalt der - 177 -
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Geschichte aufzunehmen; endlich Gervinus, der den Gang der Geschichte, ihre leitenden Principien verfolgt und dabei sich zu den höchsten Gesichtspunkten | hinaufzuschwingen versucht, aber nicht eine gleiche Meisterschaft in der Gestaltung erreicht hat.“ (17f.). Das Thema der Schlosser-Ranke-Gegenüberstellung war bedeutend genug, 1856 auch in den ‚Abend-Unterhaltungen über den Zeitgeist‘, einem von Maximilian II. eingerichteten ‚Symposion‘, behandelt zu werden. Die protokollierende Zusammenfassung, welche zugleich die sonst nicht bekannte Quintessenz der Maximilianeischen Beurteilung Rankes darstellen dürfte, enthält darüber Folgendes: „1. Leop. Ranke, einer der größten Historiker, dem an ausgebreiteten Kenntnissen, gründlichen Quellenund Archivstudien, kritischem Geiste, sowie an der Kunst machtvoll plastischer Darstellung, feiner Charakteristik und geistvoller Zeichnung des geschichtlichen Gewebes wenige Geschichtschreiber der ältern und neuern Zeit gleich stehen. Er verhält sich den historischen Thatsachen und Charakteren gegenüber rein objektiv, läßt Zustände und Persönlichkeiten sich selbst Licht und Schatten geben, bleibt für sich selbst aber immer diplomatisch kühl und offenbart weder Zuneigung noch Abneigung. Es bewegt sich daher sein Stil um so freier und kräftiger, je weiter ihm sein Stoff abliegt. 2. Friedr. Schlosser ist der gerade Gegensatz von Ranke. An tiefen und gründlichen Kenntnissen und an Reichthum der Ideen, an großartig historischem Blick und an Kraft der Sprache steht er ihm gleich, - aber es fehlt ihm die objektive Ruhe und die plastische Darstellung und Gruppirung, welche den ächten Historiker auszeichnet. Während Ranke nur die Quellen kritisirt, kritisirt Schlosser die Thatsachen; Ranke überläßt jedem sich selbst ein Urtheil zu bilden, Schlosser drängt ungestüm jedem sein eigenes auf. Wenn auch jeder Schlossers ehrlichen und streng sittlichen Charakter anerkennen muß, so mag man doch nicht mitten in der Geschichtsdarstellung immer die Leidenschaft und den Zorn dieses Sittenrichters vor sich haben. Ein besonderes Verdienst Schlossers ist, daß er in seinen Werken, namentlich in der Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des Alterthums, die gesammte Kulturgeschichte zur Unterlage der Thatsachen und Persönlichkeiten machte.“ (Unveröff. BSB Cgm 5440/5, fol. 59f.). Interessant ist auch das Ungesagte. So findet sich hier kein Wort über Ranke als Erfinder einer neuen historisch-kritischen Methode, gar als Begründer der Geschichtswissenschaft und Gründer einer historischen Schule. Vielmehr werden in den Aufzeichnungen sowohl Ranke als auch Schlosser zu Vertretern einer „Neueren Schule“ (fol. 58) gezählt, die sich „in zwei Gruppen“ spalte, „je nachdem sie bloß die Thatsachen, oder auch die Ansichten über die Thatsachen sprechen lassen. Man könnte die einen die Objektiven, die anderen die Politischen nennen, im Gegensatze zu den politischen Romantikern gehören die letzteren aber zur liberalen Partei. Die beiden Endpole in dieser Beziehung sind Ranke und Schlosser.“ (fol. 59). Eine weitere Notiz der ‚Abendunterhaltungen‘ bemerkt übrigens zu Varnhagen von Ense: „der feine Biograph mit sorgfältig polirtem Stile, welcher den Ranke’schen häufig noch überbietet.“ (fol. 61). In eben diesem Jahr erhielt Heinrich von Sybel unter Einwirkung und mit Zuspruch Rankes seinen Ruf nach München. In der damaligen Rede ‚Über den Stand der neueren deutschen Geschichtschreibung‘, noch zu Lebzeiten Schlossers, kam er allerdings zu einer das gemäßigte Urteil der ‚Abendunterhaltungen‘ übersteigenden, zumal öffentlich erledigenden Verurteilung Schlossers. Dieser werde, „während Ranke für Jahrhunderte lehrreich“ bleibe, vergessen sein, sobald das deutsche Volk ein gesunderes Verhältniß - 178 -
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zu dem deutschen Staatswesen erreicht“ habe (Sybel 1856, Zitat nach 3. Aufl.1880, 359). - Beidseitig vernichtend sah Droysen die Dinge, war er doch der Auffassung, die „Leisetreterei“ Rankes „so gut wie das unfruchtbare moralische Pauken Schlossers“ seien „ganz verdrängt aus der Teilnahme der Nation“. Bei dieser nichtöffentlichen Äußerung (Brief an Wilhelm Arendt, 8. Mai 1857) dürfte ein Gutteil vergeblichen Wunschdenkens des erbitterten Berliner Konkurrenten Rankes im Spiel gewesen sein. (Droysen Briefwechsel II/1929, 450). „Wir sind“, so äußerte Droysen damals auch in seiner Historik-Vorlesung, „... in die unglückselige Art geraten, es für vortrefflich zu halten, wenn man gar keinen Standpunkt hat, sondern die Dinge, um ja für alle denselben Gesichtwinkel zu bekommen, aus der Vogelperspektive ansieht, was man dann objektiv nennt und als Unparteilichkeit rühmt... Ich danke für diese Art von eunuchischer Objektivität ... Ich will nicht mehr, aber auch nicht weniger zu haben scheinen als die relative Wahrheit m e i n e s [i. T.] Standpunktes, wie mein Vaterland, meine religiöse, meine politische Überzeugung, meine Zeit mir zu haben gestattet. Der Historiker muß den Mut haben, solche Beschränkungen zu bekennen...“ (Historik ed. Leyh/1977, 235f.). Das Wort von der „Vogelperspektive“ findet sich 1861 auch bei Karl Frenzel (s. I, 283f.). - Gerechter urteilte Wilhelm Giesebrecht in seiner 1858 gehaltenen Habilitationsrede über ‚Die Entwicklung der modernen deutschen Geschichtswissenschaft‘. Bei seinem Schlosser-Ranke-Vergleich verkündete er, wohl mit Blick auf die Formulierung von Kurz, versöhnlich, beiden müsse bei aller Verschiedenheit doch „das Trachten nach der Wahrheit der Geschichte“ zugeschrieben werden (Giesebrecht/1859, 12). - Dieser Auffassung war wohl auch der gern zu Harmonisierungen neigende Ranke selbst. Zwar ist der Text seiner Rede zur Eröffnung der III. Plenarversammlung der Münchener Historischen Kommission aus dem Jahre 1861 bisher nicht bekannt geworden (s. II/6.5), in der er seinem allenfalls ideellen Kontrahenten einen Nachruf widmete, doch weiß man aus Erinnerungen seines Amanuensen Wiedemann, daß er die erfolgreiche Schlossersche ‚Weltgeschichte‘ so sehr schätzte, daß er sie bei den Diktaten zu seiner eigenen stets zur Verfügung haben mußte (Wiedemann XV/1893, 260). Ein anderer Nekrolog auf Schlosser ist erhalten, und eben dieser führte nach seinem Erscheinen 1861 zu einer Steigerung der Auseinandersetzung. Der bereits herangezogene Heidelberger Liberale Georg Gottfried Gervinus als einer der ‚Göttinger Sieben‘ und Verfasser einer bedeutenden und erfolgreichen ‚Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen‘ (5 Bde, Lpz. 1835-1842), damals noch befaßt mit einer ,Geschichte des 19. Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen‘ (8 Bde, Lpz. 18531866), politisch und wissenschaftlich eine Berühmtheit, schrieb diesen 86seitigen Nekrolog seinem überaus verehrten Lehrer und „väterlichen Freund“. Er kennt die Schlosser vorgeworfenen Fehler durchaus und legt sie auch offen, fühlt sich hier jedoch zu einer „berichtigten und bereinigten Beurtheilung desselben“ verpflichtet (Gervinus/1861, 12). Dabei stellt er einen wissenschaftsgeschichtlich bedeutenden Vergleich Schlosser-Ranke an - er spricht nur unpersönlich von der „diplomatischen und archivalischen Geschichtschreibung der Ranke’schen Schule“ (24) -, der die Unterschiede, ja Gegensätze beider scharf akzentuiert bzw. übertreibt. Von einem epochemachenden Verdienst Rankes um die historische Kritik und die Entwicklung der Geschichtswissenschaft insgesamt ist auch hier keine Rede, zumal bereits die Methoden von Niebuhr und Otfried Müller, wie bemerkt (s. I, 152), in den Augen Schlossers als „kritische Mikrologie“ gegolten hätten (24), vielmehr wird Rankes Forschungsansatz - 179 -
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und Darstellungsweise als mit wesentlichen Mängeln behaftet dargestellt. Zwar sei Schlosser wie Ranke eine Methode wesentlich kritischer Natur und ähnlich fragmentarischer Art eigen, doch wo Schlosser „die historische Materie in aller umfänglichen Breite“ ergreife, in einer „trockenen annalistischen Darstellung, aber von allen Seiten beleuchtend“ vorführe und „doch das Ganze der Geschichte durch ungleiche, formund kunstlose Behandlung leicht wieder wie in Bruchstücke“ zerstückele, da stelle Ranke „mehr nur einzelne Momente auswählend aus einzelnen Gesichtspuncten“ dar und feile sie „in formgefälliger Memoirenmanier pragmatisch“ aus, suche „umgekehrt aus Bruchstücken zusammenhängende Ganze zu bilden“ (24f.). Schlosser suche angesichts der sich immer unübersehbarer auftürmenden Stoffmassen in „Geist und Kern der Geschichte vorzudringen“ (25), wohingegen Ranke auf der „gründlichen Erforschung des Einzelnen“ bestehe und „das Andere Gott befohlen“ lasse (26). Schlosser achte vorzugsweise auf die Taten in der Geschichte, Ranke auf die Worte. Daher könnten auch „Gesinnung, ethischer Ernst und politisches Urtheil ... unmöglich gleich arten.“ (27). Bei Schlosser lobt er die „Beleuchtung der ideellen Antriebe in der Geschichte, die Heranziehung des offenst liegenden Theiles aller Geschichte, der Literatur“. In deren Gebrauch zur „Erhellung des Geistes der politischen Geschichte“ liege dessen „eigenstes bahnbrechendes Verdienst“ (28). - Ähnliches findet sich auch in Gervinus’ 1893 veröffentlichter Selbstbiographie von 1860. (Gervinus/1893, 163-166, 262, 296). Georg Waitz kam seinem Lehrer, wie bereits in seinem Beitrag über ‚Falsche Richtungen‘ von 1859, nochmals zu Hilfe, indem er 1861, wiederum in Sybels ‚Historischer Zeitschrift‘, in einem Beitrag ‚Zur Würdigung von Ranke’s historischer Kritik‘ unmittelbar nach Erscheinen des Schlosser-Nekrologs, Gervinus in dessen eigenem Werk auf die Benutzung der bei Ranke geschmähten Quellenarten hinwies (Waitz/1861, 351), zugleich Punkte der allgemeinen Ranke-Kritik zurückwies, wie die „Auffassung und Beurtheilung einzelner Charaktere und Begebenheiten“ (350). Durch das Eingreifen von Johann Wilhelm Loebell verschärfte sich die Auseinandersetzung nochmals. Dieser veröffentlichte im Folgejahr anonym eine Broschüre ‚Briefe über den Nekrolog Friedrich Christoph Schlossers von G. G. Gervinus. Ein Beitrag zur Charakteristik Schlossers vom litterarischen Standpunkt‘. Hierin wies er die Hauptvorwürfe gegen Ranke, im besonderen auch bezüglich der Beurteilung Machiavellis und der Benutzung von Gesandtschaftsberichten zurück und sah - vor Meinecke - Ranke im Gegensatz zu Schlosser in innerlicher Beziehung mit der durch Niebuhr, Herder, Möser und Spittler bezeichneten Kette der Entwicklung des deutschen Geistes (Loebell/1862, 28f.). Jedoch steht er Ranke nicht unkritisch gegenüber, wie seine Beurteilung der Rankeschen Darstellungsform zeigt (s. I, 193). Daraufhin ließ sich ein Anonymus der ‚Preußischen Jahrbücher‘ von 1862 vernehmen. In seinem Beitrag, ‚Friedrich Christoph Schlosser‘ betitelt, äußerte er sich teils einschränkend, teils vertiefend positiv über Gervinus’ Nekrolog und gegen die Loebellschen Briefe. Schlosser ist ihm der „Schöpfer der Universalgeschichte“ (432), gleichwohl formuliert er: „Die Concentration eines Zeitalters zu einem Idealbild, die dialektische Construction der Momente, in denen die Geschichte verläuft, welche selbst auf einen so rein historischen Kopf, als Ranke ist, einen bedeutenden vergeistigenden, zum künstlerischen Aufbau der Geschichte ermuthigenden Einfluß geübt hat ... fand in ihm [Schlosser] und seinen Schülern ihre schärfsten Gegner. Je älter desto härter ... stellt er seinen derben und abrupten Realismus jeder durch Abstraction erreichten - 180 -
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Einheit des geschichtlichen Bildes gegenüber.“ (Anonym. PrJbb 9, H. 4, Apr. 1862, 422). - Carl von Noorden, nicht nur Hörer Rankes, sondern mit ihm auch entfernt verschwägert, machte 1856 seine persönliche Bekanntschaft, hörte „mit Begeisterung“ seine Vorlesungen (Noorden/1884, 4*), nahm im Sommersemester 1857 an Rankes Seminar über Nithard teil (Philippsborn/1963. Siehe auch II/5) und sprang nun 1862 dem Lehrer in einem Beitrag der ‚Historischen Zeitschrift‘, ‚Zur Beurtheilung Friedrich Christoph Schlosser’s‘, bei. Er fertigte Schlosser ab mit der Feststellung, Ranke sei bestrebt, „das Ideal der Geschichtsschreibungskunst in einer mit Schlosser schlechterdings nicht mehr vergleichbaren Weise zu verwirklichen.“ (Noorden/1862,139). - Die wesentlichen geistesgeschichtlichen Unterschiede beschrieb, wenn auch in pauschaler Form, Johannes Scherr (s. o.). Er fand, Ranke sei „im Grunde ... nicht weniger subjectiv als Schlosser“ (Scherr [1862]/1864, 172). Gleichwohl seien sie „Gegenpole“: „Schlosser ist ein Kind der Aktion des achtzehnten, Ranke ein Kind der Reaktion des neunzehnten Jahrhunderts. Die schlosser’sche Historik ist ein Produkt des emanzipativen Rationalismus, die ranke’sche ein Produkt der restaurativen Romantik.“ (173. Siehe auch I, 483). Der sogenannte Schlosser-Ranke-Streit klang noch lange, bis in die 1880er Jahre, nach. Zu einem in mehrfacher Hinsicht unerwarteten Ergebnis eines Vergleichs gelangte der bereits betrachtete (s. I, 150) österreichische Historiker Adalbert Heinrich Horawitz in seiner Schrift ‚Zur Entwicklungsgeschichte der Deutschen Historiographie‘ von 1865, die von Sybel einer Besprechung in der ‚Historischen Zeitschrift‘ gewürdigt wurde (Sybel/1866). Wo an Schlosser, so bemerkte Horawitz, die „Popularisierung der gelehrten Arbeit, die Beziehung auf das Leben und vor Allem der sittliche Werth und Gehalt“ zu rühmen sei (19), zeichne Ranke vor allem „das Herbeibringen neuen Materials, die Prüfung dieses, sowie des bereits Bekannten, nicht minder aber die herrliche Darstellung, das feine Verständnis für Entwickelung und Persönlichkeiten“ aus (25), und der ihm immer vorschwebende „universalhistorische Zusammenhang“ leite Rankes „Geist zu den umfassendsten Umblicken, den feinsten Combinationen“ (27). Überraschend ist das von Horawitz gezogene Fazit: „das Höchste“ sei von dem „zwischen Ranke und Schlosser“ (31) stehenden Gervinus erreicht, bei dem „die sorgsamste, auf die eingehendsten Quellenstudien basierte Forschung überall den warmen Antheil des Darstellers am Rechten und Guten, das für sein Volk fühlende Herz aufweist...“ (ebd.). Der bereits herangezogene Essayist Karl Hillebrand brachte anläßlich einer Würdigung Ludwig Häussers in der Pariser ‚Revue moderne‘ von 1867 einen neuen historisch-politischen Gesichtspunkt ins Spiel. Bei Schlosser nehme das moralische Urteil die erste Stelle ein, wohingegen die Helden Rankes für diesen nur wie die Blätter einer Pflanze für den Botaniker seien. Im Gegensatz zu Schlosser seien die Wirkungen Rankes auf den einfachen deutschen Leser gering. Hingegen vermöge Schlosser - ohne die fast unfehlbare kritische Methode Rankes und den hochstehenden Stil seiner Darstellung - dem intellektuellen Leser wenig zu bieten. Dennoch sei der Einfluß des Moralisten und Patrioten Schlosser nach 1813 sehr heilsam gewesen, und es sei der Zukunft vorbehalten, zu entscheiden, ob die Ranke-Schule als Begründerin der neuen historischen Wissenschaft oder der kraftvolle Geist der Schlosser-Schule, der den neuen deutschen Staat gemacht habe, seinem Land und der Menschheit den größeren Dienst erwiesen habe. Hillebrands Achtung vor Schlossers Leistung ging indes nicht so weit, diese auf dessen Schüler und Verehrer Gervinus zu übertragen, in dem jedenfalls - 181 -
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Horawitz das Höchste erreicht sah. In einem 1875 erschienenen - wohl auch schon früher veröffentlichten - Essay über Gervinus brachte Hillebrand eine Analyse von Persönlichkeit und Werk Gervinus’ mit der Intention einer Paralyse, in der auch auf die „provocirende Eitelkeit des Mannes“ verwiesen wird, „der sich ganz naiv als Geschichtschreiber mit einem Ranke, Macaulay oder Thierry ... auf eine Linie stellt.“ (Hillebrand, K.: G. G. Gervinus/1875, 265). Dabei fällt auch ein Blick auf die Rankesche ‚Historische Schule‘: „Man mag zugeben, daß eine gewisse historische Schule Deutschlands den Werth ihrer wissenschaftlichen Methode überschätzt; es mag sogar unbestreitbar scheinen, daß die reconstruirende Phantasie des Geschichtschreibers einen freieren Spielraum haben müsse als ihr in jener Schule gegönnt wird; es mag endlich mit Recht behauptet werden, daß die aller Geschichtsforschung innewohnende Zufälligkeit und Unsicherheit ... von unseren Quellenforschern nicht genugsam gewürdigt wird: es bleibt deßhalb nicht minder gewiß, daß der Historiker ohne Quellenkenntniß ... sich immer in großem Nachtheil befindet ...“ (218f.). - Gervinus’ abfällige Urteile über Guiccardini seien nur Folgen „schwerfälliger Tactlosigkeit und ... Mangels an Perspective“ (221). Noch 1878 nahm sich Ottokar Lorenz, damals Wiener, später Jenaer Geschichtsordinarius, des Schlosser-Ranke-Themas an, in einem Akademie-Vortrag ‚F. Chr. Schlosser und über einige Aufgaben und Principien der Geschichtschreibung‘, der 1886 in überarbeiteter Form seinem bekannten Werk ‚Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben kritisch erörtert‘ eingefügt wurde. Er glaubte mit einem philosophisch zukunftsträchtigen Begriff das Wesentliche zu treffen, doch waren die Unterschiede tiefer und weitreichender: „Was in Wahrheit den größten Unterschied zwischen diesen Geschichtschreibern begründet, liegt weder in dem formalen Prinzip der Darstellung, noch in der Stellung der Aufgabe als solcher, noch in den höchsten Zielen der Wissenschaft, sondern in der Art und Weise der Lösung jenes Problems, welches man als die Werthbeurtheilung in der Geschichte zu bezeichnen hat.“ (Lorenz/1886, 55). Dies war weniger bezeichnend als die Charakteristik, die Gervinus in seinem Nekrolog von 1861 geboten hatte. Das Thema verflachte zusehends und beschränkte sich in den 1880er Jahren im wesentlichen auf einen Vergleich der ‚Weltgeschichten‘ beider, wobei Schlosser stets ins Abseits gestellt wurde (z. B. Evers/1881, Müller-Frauenstein/1882 und 1883). * Ungeachtet der massiven, jedoch überwiegend unpublizierten Kritik führender Historiker erfreute sich Rankes Objektivität, vorbereitet durch einige frühere Stimmen, spätestens seit den 1870er Jahren, freilich zumeist im Verein mit einem nun bei ihm vermeintlich entdeckten sittlichen Urteil, größeren Lobes. So hatte bereits ein Rezensent der ‚Französischen Geschichte‘ bei Rankes „Streben nach leidenschaftsloser Objectivität“ keinen Widerspruch in dessen „edler Wärme des Gefühls“ gesehen, „mit der der Verf. die Geschicke der Bekenner der gereinigten Kirchenlehre berichtet ...“ (Anonym in: LCD, 30. 12. 1854, 837). Ranke habe sich aber „sehr zu hüten“ vor dem Extrem „jener kalten gleichgültigen Objectivität, die so oft als Höhe der Kunst gepriesen wird …“ (ebd.). Denn unter Rankes späteren Zeitgenossen waren einige, welche nicht nur im Grundsatz dasselbe verfehlte Misch-Ideal von Objektivität vertraten, das der ethisch-politisch-national geprägten Kritik Droysens, Troeltschs, Mommsens und vieler anderer zugrunde lag, sondern sie waren auch der verblüffenden Ansicht, - 182 -
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dieses Ideal sei von Ranke tatsächlich verwirklicht. Hier wie da wurde eine Objektivität propagiert, die ihre Vollkommenheit geradezu im Verein mit entschiedener Subjektivität, einer bestimmten Gesinnung oder Ideologie und dem daraus fließenden Gefühl und Urteil zu finden glaubte. - Zu letzteren scheint auch Georg Waitz (1813-1886) gehört zu haben, bekanntlich einer der profiliertesten Schüler und Schildträger Rankes - welch letzterer beiläufig neben Schelling Pate seines Sohnes Friedrich war (E. Waitz/1913, 36) -, wenngleich eher quellenkritisch und editorisch als geschichtstheoretisch begabt. Waitz verfaßte 1859 ein an Heinrich von Sybel, den Herausgeber der soeben gegründeten ‚Historischen Zeitschrift‘, gerichtetes Schreiben, betitelt ‚Falsche Richtungen‘. In diesem auffallenden, wissenschaftsgeschichtlich interessanten Text wird Ranke zwar nicht genannt, doch werden zwei Grundfragen der Historie angesprochen, welche mit ihm in Zusammenhang stehen. Es ist zum einen die Warnung vor dem übertreibenden „Mißbrauch“ des Grundsatzes, die Geschichte solle dazu „dienen, die Gegenwart richtig zu fassen und zu beurtheilen“ (Waitz/1859, 19), der auf dem Hintergrund von Rankes Berliner Antrittsrede von 1836 ‚Oratio de historiae et politices cognatione atque discrimine‘ zu sehen ist. Der Schriftsteller und Politiker Wolfgang Menzel (1798-1873) hatte ein Vierteljahrhundert zuvor noch gewünscht, „unsere gar zu sehr am Schreibtisch in ihren Bibliotheken verhockten Historiker möchten sich mehr der Tagespolitik, dem gegenwärtigen Staatsleben widmen, und in den Leidenschaften und Interessen der heutigen Welt die der Vergangenheit studiren“ (Menzel II/1836, 144). Für Ranke von unmittelbarerer Bedeutung sind Waitz’ in den ‚Falschen Richtungen‘ seinem Meister zu Hilfe eilende Betrachtungen zum Problem der Objektivität, die auch ihre Gegner habe, „die sie farblos, kalt und gleichgültig gegen ewige Güter der Menschheit oder der Nation schelten. Aber sicherlich mit Unrecht. Sie ist wohl vereinbar mit festen Ueberzeugungen in religiösen und staatlichen Fragen, mit sittlicher Klarheit und patriotischer Wärme.“ (Waitz/1859, 27). Dies war freilich ein wenig am Problem vorbeiargumentiert, denn wo die vermeintlichen Objektivitätsgegner geradezu die Notwendigkeit eines Zusammengehens von Objektivität mit ethischen und politischen Emotionen betonten, sah Waitz dies doch lediglich als Möglichkeit an, wobei überdies offenblieb, ob Ranke in seinen Augen davon Gebrauch machte. - Ein Anonymus der ‚Berliner Revue. Social-politische Wochenschrift‘ von 1861 lobte die Rankesche Objektivität ohne Wenn und Aber: Ihr Vorzug sei „um so höher anzuschlagen, da er in der Gegenwart so außerordentlich selten“ sei. „Die Befangenheit und Einseitigkeit der Geschichtsschreiber hat gerade in den letzten Jahrzehnden [!] in so bedauerlicher Weise zugenommen, daß eine Darstellung, welche die Thatsachen selbst sprechen läßt, einer blühenden Oase“ gleiche (147). - Auch Adalbert Heinrich Horawitz gehörte zu der Minderheit, welche Ranke in Schutz nahm. Dazu wagte er den Versuch, die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. In seiner bereits herangezogenen Schrift ‚Zur Entwicklungsgeschichte der Deutschen Historiographie‘ von 1865 stellte er den Versuch einer subtileren Beurteilung der ‚Objektivität‘ Rankes an. Horawitz wendet sich gegen „jene falsche Anschauung, Ranke betrachte die gesammte Weltgeschichte mit dem kalten, blos für das Ästhetische fühlenden Auge des Diplomaten, und lasse das sittliche Urtheil vermissen“ (27), - so hatte sich nicht allein Heinrich Kurz in seiner ‚Geschichte der deutschen Literatur‘ geäußert (Kurz III/1859, 697). Tatsächlich aber zeige sich in Rankes Darstellung trotz Verzicht auf ein bestimmtes „damnatur“ oder „laudatur“ eine „große wahrhaft sittliche Auffassung der Weltbegebenheiten“ (27). „Dadurch, daß Ranke die Genesis jeder Handlung, die Nothwendigkeit, unter der sie sich vermöge der gegebenen Verhältnisse vollzog, den Zwang in der - 183 -
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Entwickelung eines Charakters darlegte, dadurch, daß er das Berechtigte in jeder Auffassung, das E i n e in dem Verschiedenartigen aufwies, ist Ranke der Vater einer ganz neuen, versöhnenden, echt objectiven historischen Darstellungsweise geworden, die geschichtliche Einseitigkeit ist vermieden und wir sehen mit warmer Freude seit Ranke in der Geschichtsschreibung eine Methode vorherrschen, welche es für ihre Pflicht erachtet, auch des Gegners Ansichten und Handeln in ihrer Nothwendigkeit und Vernünftigkeit aufzuweisen.“ (28). Hier wird mit dem zum Scheitern verurteilten Versuch, unter Annahme von Notwendigkeit, allseitiger Vernunft und Berechtigung eines jeden Geschehens eine sittlich orientierte Objektivität zu gewinnen, relativistischen und deterministischen Deutungen Rankes Vorschub geleistet oder diese Wirkung seiner Geschichtsschreibung offengelegt, wie sie auch weit später von so unterschiedlichen Denkern wie Wilhelm Dilthey (s. I, 413ff.) und József Szigeti (s. I, 572f.) gefürchtet oder nur verspürt wurde. Über die Herkunft der beanstandeten ‚Objektivität‘ Rankes machte sich zu dessen fünfzigjährigem Doktorjubiläum im Jahre 1867 ein Anonymus der ‚Gartenlaube‘ Gedanken. Vielleicht handelte es sich um Wilhelm Giesebrecht. Jedenfalls wertete es der Verfasser nicht unbedingt als Charakterlosigkeit, daß, „die bewegliche Seele“ Rankes „an den Felswänden der Ereignisse zu zerrinnen“ scheine und die Begebenheit an uns vorüberrolle „wie eine Naturerscheinung, unbekümmert, ob wir Ja oder Nein dazu sagen“ ([Anonym:] Eine goldene Hochzeit/1867, 102). Die Objektivität Rankes müsse man sich allerdings „nicht durchaus als eine grenzenlose vorstellen“ (ebd.). Diese nun scheint der Verfasser mit Rankes „innerer Religiosität“ und seiner „entschiedenen Vorliebe für die ... legitime Monarchie, das starke Königtum“ (ebd.) - durchaus ohne Vorwurf - in Verbindung zu sehen. Solches wird später auch in Giesebrechts Gedächtnisrede, gehalten in der öffentlichen Sitzung der k. b. Akademie der Wissenschaften zu München zur Feier ihres einhundert und achtundzwanzigsten Stiftungstages am 28. März 1887, anklingen. Hier schilderte er seinen nicht sehr klaren Eindruck, daß es „historische, vielleicht auch religiöse Bedenken“ waren, die Ranke „im sittlichen Urtheil so vorsichtig machten. So oft hat man die Objectivität seiner Darstellung gepriesen, und doch hängt sie wesentlich mit dem zusammen, was man als Mangel an sittlicher Wärme in seinen Schriften gerügt ... hat“ (Giesebrecht/1887, 29f.). Der im Zusammenhang mit der Aufnahme von Rankes ‚Weltgeschichte‘ noch zu betrachtende Gymnasialprofessor Georg Kaufmann verfaßte 1870 einen Beitrag mit der sehr direkt aufgeworfenen Frage ‚In wie weit darf die Geschichtschreibung subjectiv sein?‘ Dem vorwiegend an einem Aufsatz von Bernhard Erdmannsdörffer orientierten Schriftchen mangelt es ein wenig an Systematik und Tiefe, zumal die aufgeworfene Frage eigentlich in der Form ‚In wie weit m u s s die Geschichtschreibung subjectiv sein?‘ behandelt wird. Auch das Urteil über Ranke weist auf Widersprüche oder Fehleinschätzungen hin. Dieser gilt dem Verfasser als „ein wirklich objectiver Geschichtschreiber“. In Rankes ‚Wallenstein‘ werde der Leser „leicht ...eine Anzahl von Stellen finden, welche beweisen, dass die sittliche Würdigung der Personen und Ziele zu der Aufklärung des thatsächlichen Zusammenhangs unentbehrlich ist und dass dies Gefühl von dem Werth der Güter auch ausserdem ein ... bedeutsamer Theil der Gesammtdarstellung ist.“ (10, A. 1). Der liberale Rudolf Doehn (1821-1895) schrieb, ohne dazu eine spezielle fachliche Kompetenz zu besitzen, im Jahre 1871 in den ‚Blättern für literarische Unterhaltung‘ eine Besprechung des ‚Siebenjährigen Krieges‘, worin er bemerkte, Ranke habe „dies- 184 -
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mal entschieden unter dem Eindrucke der Gegenwart geschrieben“ (Doehn/1. 10. 71, 634), ja er habe mit seinem Werk den „großen Ereignissen“ des letzten Jahres „einen schönen Tribut dargebracht“ (638). Dieses Urteil war allerdings durch Ranke selbst in seinem Vorwort (VII) hervorgerufen worden und entsprach nicht unbedingt dem Inhalt des Werkes. Habe man der Rankeschen Geschichtsschreibung, so fuhr Doehn fort, „nicht mit Unrecht den Vorwurf gemacht … daß sie meistens die Objectivität zu weit“ treibe (634), so komme in diesem Werk „der nationale Gedanke und der berechtigte Patriotismus - unbeschadet der thatsächlichen Wahrheit - zu Geltung“, wodurch sich zeige, daß die „deutsche Geschichtschreibung in ihrem innersten Wesen und wahren Werthe nichts verliert, sondern nur gewinnt, wenn sie von der unwiderstehlichen Macht des nationalen Gedankens erfaßt und durchleuchtet wird.“ (ebd.). - Auch die ‚Grenzboten‘ schließen sich in einer sehr anerkennenden Besprechung der ‚Deutschen Mächte und der Fürstenbund‘ (I) dem Urteil an und wenden sich jetzt gegen die weitverbreitete Ansicht, „Ranke’s Objectivität bestehe in dem Mangel oder der Zurückhaltung eines eigenen Urtheiles“ ([Vf.] ων: Ranke’s neueste Werke/1872, 310), ja Jakob Hülsmann (s. I, 313f.) findet ihn „dem landläufigen Urtheil entgegen - wärmer, wahrer, tiefer theilnehmend an dem, was er behandelt, als fast irgend einen unserer Geschichtsschreiber sonst.“ (Hülsmann/1872, 106). Der noch mehrfach heranzuziehende Hans Prutz (1843-1929, der einer Skizze in NDB ermangelt), gelangte bei Rankes ‚Genesis des preußischen Staates‘ sogar zu dem Urteil, daß der neukonzipierte Beginn des Werkes den „schlagendsten Beweis“ dafür liefere, mit welch „warm pulsirendem Herzschlag“ Ranke die Gegenwart mitlebe (Prutz: Ranke über die Genesis/1875, 215). Das bezog sich nun freilich nicht auf Rankes Darstellung, jedoch äußerte sich Prutz dazu später in einer 1877 erscheinenden Besprechung der ‚Denkwürdigkeiten Hardenbergs‘. Bei den in den letzten Jahren erschienenen Werken Rankes sei der nicht selten gemachte Vorwurf „allzu großer Objectivität“ nicht mehr recht am Platze, und gerade das vorliegende Werk sei „subjectiv … im besten Sinne des Wortes, d. h. bei aller Objectivität in der Auffassung und Darstellung tritt uns doch … der Autor selbst … mit seiner Meinung von den Dingen … unmittelbarer nahe“ (520). Dem entsprach dann noch 1886 das Urteil in einem Ranke gewidmeten Essay, in dem Prutz festhielt, das „subjective Moment“ gebe „zusammen mit der universalhistorischen Tendenz der Geschichtschreibung Ranke’s ihr charakteristisches, ihr classisches Gepräge“ (158). Wilhelm Maurenbrecher, hier bereits mehrfach behandelter Sybel- und RankeSchüler, damals Professor in Bonn, lieferte 1882 einen kurzen Beitrag ‚Ueber die Objectivität des Historikers‘ in das gerade von ihm herausgeberisch übernommene ‚Historische Taschenbuch‘. Er sah in Ranke, dem man des öfteren eine kalte oder eingeschränkte oder auch falsche Objektivität vorgeworfen hatte, nun „den Meister der wahren Objectivität“ (338) und definierte - einem Satz Rankes folgend - in schlichter Weise und unter nahezu gänzlicher Nicht-Beachtung passender Literatur anhand einiger Beispiele Objektivität als „das Streben nach Unpartheilichkeit und Gerechtigkeit des Urteils.“ (Ebd.). Dabei glaubte er eine befriedigende Position gefunden zu haben zwischen der „relativen Berechtigung“ einer jeden historischen Erscheinung, etwa der „subjectiven Motivirung“ (337), und der Ansicht, die sich der Historiker „über die Bedeutung und Stellung des von ihm behandelten Gegenstandes innerhalb der ganzen Entwicklungsreihe“ selbst gebildet habe (342). Bemerkenswert ist in jedem Fall, daß Maurenbrecher sich im Zusammenhang mit Ranke deutlich von jeder bewuß- 185 -
I/2.1.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - Kritik der historischen Kritik
ten politischen Parteinahme als Aufgabe des Historikers lossagte (336ff. Siehe auch Maurenbrecher: Gesch. u. Politik/1884), wenn auch nach wie vor von einem „unmännlichen Verzicht auf eigenes Urtheil“ nicht die Rede sein dürfe. Nach Rankes Tod Maurenbrecher hatte auch an der Feier zum 90. Geburtstag teilgenommen - erhob er sich in einem Kondolenzbrief zu der Würdigung: „...Unendliches und Gewaltiges dankt seinem Geiste schon lange die deutsche Nation.“ (Bäcker-Ranke/1967, 37). Sehr ähnlich ist - ebenfalls aus den 1880er Jahren - das coincidentia oppositorum-Urteil Ludwig Oelsners. Er glaubt in der Objektivität Rankes „den vollen Mut der Meinung“ gepaart mit „Unparteilichkeit“ und „erforderlicher Leidenschaftslosigkeit“ (Oelsner/1885, 100f.) zu erblicken. Auch Gottlob Egelhaaf (1848-1934) sah nicht den geringsten Widerspruch im Zusammentreffen kaum zu vereinbarender Gegensätze. An Ranke anklingend veröffentlichte er nicht nur ‚Analekten zur Geschichte‘ (Stg. 1886), denen später eine Fülle zumeist schulbezogener Schriften - von Tacitus bis Bismarck reichend - folgten, in seiner ‚Gekrönten Preisschrift des Allgemeinen Vereins für Deutsche Literatur‘, titelte er Ranke sogar völlig identisch nach: ‚Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ (1885). Im Vorwort nun gesteht er, sicher zutreffend, wieviel er Rankes „staunenswürdigem Werk“ zu verdanken habe, in dem „die Wärme protestantischer Gesinnung“ wirksam sei: „Das taciteische sine ira et studio ist vollkommener und freier von Kälte nie verwirklicht worden.“ (III). Ein Rezensent des ‚Magazins für die Literatur des Auslandes‘ urteilte allerdings genau entgegengesetzt über Rankes Papstwerk lobend: „nirgends möchte man den überzeugungstreuen Protestanten herauserkennen“ (Pn.: Die Päpste/1875, 345). - Wohl nur wenige Stimmen haben die Rankesche Objektivität und Unparteilichkeit in ihrer besonderen Ausprägung vorbehaltlos anerkannt. Dazu gehört jedenfalls der später noch zu betrachtende Historiker Constantin Bulle (1844-1905). Bemerkenswert ist nicht seine anspruchslose allgemeine Würdigung zum 60jährigen Professorenjubiläum Rankes, jedoch die darin enthaltene gewandelte Beurteilung der Rankeschen ‚Unparteilichkeit‘: „Weniger als die meisten Geschichtsschreiber unserer Tage ist Leopold von Ranke der Mann einer Partei. Er verwirklicht in dem ruhigen Gleichmuth seiner Forschung und Darstellung ein Ideal, das der Vergangenheit angehört, aber dem auch die Zukunft wieder gehören wird.“ (Bulle/1885, 391). Die ehedem so kritischen ‚Grenzboten‘ loben in einer uneingeschränkt bewundernden Skizze von Leben und Wirken die Objektivität des Neunzigjährigen nun als „die größtmögliche“ (Anonym/Dez. 1885, 573), wohingegen Franz Mehring sich aus sozialdemokratischer Sicht in einem Nachruf auf Ranke gänzlich für dessen Subjektivität entschied (s. I, 376f.).
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3. Kapitel (I/2.1.3) DAS GESCHICHTSWERK ALS KUNSTWERK? Über die Beschaffenheit eines von ihm erstrebten historiographischen ‚Kunstwerks‘ hat sich Ranke nicht ausführlich geäußert, weshalb offenbleibt, ob darunter eine besondere prae- oder extrapoetische historiographische Kunstform zu verstehen sei - eine solche hatte möglicherweise Paul Joachimsen vor Augen, als er sich in den 1920er Jahren mit Rankes „Reformationsgeschichte als Kunstwerk“ editorisch befaßte - oder ob dabei an ein poetisches Kunstwerk historisch ‚wahren‘ Inhalts zu denken sei. Allgemein wurde die Rankesche Darstellungsweise wegen ihres tatsächlichen oder nur gewollten, ihres vermeintlichen oder bestrittenen künstlerischen Charakters, negativ anhebend mit seinem Erstlingswerk, sogleich als Besonderheit wahrgenommen. Später waren sich so gänzlich unterschiedliche Geister wie Karl Friedrich Köppen und Reinhold Pauli einig in der Feststellung, daß Ranke seinen „großen Namen“ durch die „volle Farbenpracht“ seines „Gemäldes“ erlangt habe (Pauli: Heinrich VIII./(1860) 1869, 105), ja, daß er „wegen seines kritischen Scharfsinns ... nicht so laut gepriesen“ worden sei, „als wegen dieser Kunst zu zeichnen, zu malen, zu portraitiren.“ (Köppen/1841, 432). Die Bedeutung der Thematik ergab sich aus dem zu Zeiten noch engen Zusammenhang von Historie und Literatur im Sinne kunstvoller Poesie, der sich in vielen mehrspurigen Lebensläufen, Werken, vor allem auch Zeitschriften nicht erst des 19. Jahrhunderts manifestiert, auch in späten Ranke-Schülern wie Alfred Dove und Felix Dahn noch lebhaft wirksam war, welche als Historiker nicht minder im Bereich des historischen Romans tätig waren. Zum Thema ‚Historie und Poesie‘ ist um die Jahrhundertmitte von Historikerseite wenigstens die ausdrückliche Abhandlung von Johann Wilhelm Loebell ‚Ueber die Epochen der Geschichtschreibung und ihr Verhältniß zur Poesie‘ vom Jahre 1841 zu nennen, die freilich zum neunzehnten Jahrhundert nur Niebuhr namhaft macht. Lediglich angedeutet ist dort das Verdienst anderer „ausgezeichneter Deutsche“, „die zurückgedrängte Erzählungsform wieder in ihre Rechte einzusetzen“ (370). Dies konnte auf Johannes von Müller, Friedrich Wilken, Friedrich von Raumer, Gustav Adolf Harald Stenzel, doch wohl auch auf Ranke bezogen werden. Schon hier wird sichtbar, daß die Emanzipationproblematik der Geschichtswissenschaft nicht nur in ihrem Verhältnis zu Religion, Philosophie und Politik bzw. Obrigkeit bestand, sondern auch in ihrem Verhältnis zur Poesie, überdies als solche zumeist nicht erkannt wurde und sich verstärkte, indem umgekehrt die Poesie wie alle anderen ‚Künste‘ weithin im Banne der Historie stand. In diesem emanzipatorischen Sinne trat erst Jahrzehnte später, ein Jahr vor Rankes Tod, in ebenso verwegener wie unpopulärer Weise Heinrich Ulmann, Professor der Geschichte in Dorpat und Greifswald, mit einem ungewöhnlichen Beitrag ‚Über wissenschaftliche Geschichtsdarstellung‘ auf, dem die Redaktion der ‚Historischen Zeitschrift‘ gleich zu Beginn die ungnädige und selbstrichtende Bemerkung mit auf den Weg gab, daß ihre „Auffassung zu jener des Hrn. Verfassers in vollständigem Gegensatze“ stehe (Ulmann/1885, 42, A. 1). Der neunzigjährige Ranke blieb in diesem Beitrag namentlich verschont, wie überhaupt kein zeitgenössischer Historiker genannt wird, doch die Grundthese Ulmanns berührt die gerade für das Werk Rankes höchst relevante und von seinen Anfängen an bis in die neueste Zeit behandelte Frage nach dem Geschichtswerk als Kunstwerk: „Es wird durchaus nicht in Abrede gestellt, daß, wie andere Wissen-
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I/2.1.3 Geschichtsdenken seiner Zeit - Geschichtswerk als Kunstwerk?
schaften, auch die Geschichte die Pflicht hat, bei ihren Darstellungen die schöne Form nicht zu vernachlässigen: aber im weiteren müssen sich die Anforderungen an Einheitlichkeit, Durchsichtigkeit, Proportion der Theile in allererster Linie richten nach der wissenschaftlichen Aufgabe und keineswegs nach dem Zweck, einen kunstmäßigen Eindruck hervorzurufen.“ (44). Diese Ansicht blieb auch außerhalb höherer Fachkreise nicht unwidersprochen, - sogleich im Rankeschen Sinne eines zu erstrebenden Ideals von Bruno Gebhardt in seinem Schriftchen ‚Geschichtswerk und Kunstwerk. Eine Frage aus der Historik‘ (Breslau 1885; zu Gebhardt s. I, 371), wurde jedoch wenig später von Ernst Bernheim in seinem ‚Lehrbuch der historischen Methode‘ (1889, 82-96: „Das Verhältnis der Geschichte zur Kunst“) gestützt. Seiner Auffassung nach lassen sich „in den wesentlichsten Punkten ... die wissenschaftlichen Forderungen mit den künstlerischen regelmäßig nicht, nur ganz ausnahmsweise vereinen“ (88). Es sei auch ein Unterschied zu machen zwischen der „Phantasie des Historikers“ und der „rein künstlerischen Phantasie“ (152). Für Ranke selbst bildete die ästhetisch-konstruktive und auch kommunikative Seite seiner Geschichtsschreibung stets ein ganz wesentliches Element (s. I/1.8). Bereits in seinem Erstling war zweierlei beabsichtigt: Zum einen die dichterische Phantasie des Nicht-Gewesenen zu unterdrücken, zum anderen, in der wissenschaftlichen Darbietung des eigentlich Gewesenen eine künstlerische Form zu erreichen. In beidem wurde ihm jedoch neben Lob sogleich schweres Versagen vorgeworfen. Da war der schmerzhafte Hegelsche Vergleich mit Walter Scott (s. o.), da waren Vorwürfe Heinrich Leos, der befand, er unterhalte seine Leser zuweilen „nicht mit der Geschichte, sondern bloss mit seinen Phantasieen“ (Manin/1828, 40), und da war die herbe, sprachbezogene Kritik Schlossers, - Vorwürfe, die noch in Rankes höchstem Alter Bestand zu haben schienen, als Sybel und Duncker ihn nur als historischen Essayisten gelten lassen wollten (s. I, 150). Rankes ästhetischer Impetus erschließt sich bei der Lektüre seiner Werke unmittelbar, ergibt sich auch aus seinen nahezu endlosen, überwiegend kleinformatigen stilistischen Korrekturen (s. I/1.5) und wird durch direkte Äußerungen bezeugt. Die Historie, so hat er in das Manuskript einer Vorlesungseinleitung zur ‚Idee der Universalhistorie‘ von Anfang der dreißiger Jahre eingetragen, „muß [...] zugleich Wissenschaft und Kunst sein. Sie ist nie das eine ohne das andere. Doch kann wohl bald das eine, bald das andre mehr hervortreten...“ (WuN IV/1975, 73). - Im Jahre 1861 hielt er im ‚Eingang‘ des letzten Bandes seiner ‚Französischen Geschichte‘ die bei den dortigen Analekten nicht zu erwartende Sentenz bereit, welche zugleich bezeichnend ist für die mangelnde Tiefe, ja hedonistische Ausprägung seines Kunstbegriffs: „Die Aufgabe des Historikers ... ist zugleich literarisch und gelehrt; die Historie ist zugleich Kunst und Wissenschaft. Sie hat alle Forderungen der Kritik und Gelehrsamkeit so gut zu erfüllen wie etwa eine philologische Arbeit; aber zugleich soll sie dem gebildeten Geiste denselben Genuß gewähren, wie die gelungenste literarische Hervorbringung.“ Allerdings hielt er dies dann doch für ein „Ideal, das kaum jemals erreicht worden und unendlich schwer zu erreichen ist.“ (FranzG V/1861, 6). Der im Hause Ranke verkehrende Herman Grimm glaubte sich später einer Äußerung Rankes zu erinnern, „die Dauer eines Geschichtsbuches hänge allein ab von der Schönheit des Stiles.“ (Grimm: Heinrich von Treitschke’s Deutsche Geschichte/(1896), 1897, 27). Für eine schon bald recht weitreichende Hochschätzung gerade des Literaten Ranke spricht auch seine frühe Beachtung im Unterrichtswesen. Bereits 1843 nahm Wilhelm - 188 -
I/2.1.3 Geschichtsdenken seiner Zeit - Geschichtswerk als Kunstwerk?
Wackernagel einige Seiten aus Rankes ‚Päpsten‘ als Proben deutscher Prosa - nicht: deutscher Geschichtsschreibung - in sein ‚Deutsches Lesebuch‘ auf (Sp. 1471-1486), neben Auszügen aus Werken von Goethe, Hegel, Herder, Kant, Lessing, Johannes von Müller, Niebuhr, Friedrich von Raumer, Savigny, Schelling, Varnhagen von Ense und anderen mehr. Und auch die 1844 erscheinenden ‚Deutschen Aufsätze nebst Anmerkungen und Aufgaben. Für die oberen Classen höherer Bildungsanstalten wie auch zum Selbststudium‘ hatten nichts Geschichtliches im Sinn, als sie aus ‚Fürsten und Völkern‘ Bd. I einen Text über Karl V. aufnahmen (439-444, 635), sondern beabsichtigten, „... zunächst Lehrern der oberen Classen höherer Bildungsanstalten eine Reihe mustergültiger Aufsätze für den deutschen Unterricht an die Hand zu geben. Sie sollen dem Lehrer dazu dienen, sie mit den Schülern ganz oder theilweise in der Unterrichtsstunde durchzugehen, eigne Gedanken aus ihnen entwickeln zu lassen, Geist, Erfindungskraft, Darstellung durch gediegene Muster zu bilden.“ (V). Neben Ranke standen da unter anderem noch W. v. Humboldt, Johannes Müller, Friedrich Schleiermacher, Friedrich Ancillon, Ludwig Wachler, Arnold Hermann und Ludwig Herren. Man darf sich Rankes Darstellungsweise jedoch - so sehr er solches erstrebt hat nicht als durchaus populär vorstellen. Die Wirkung von Thomas Buckles ‚History of civilisation in England, London 2 Bde 1859, 1861 (Dt.: Geschichte der Zivilisation in England. Übers. von A. Ruge, 2 Bde, Lpz. 1860, 1861) sei „durchschlagender“ gewesen, so Alexander Brückner in einem Aufsatz des Jahres 1869 ‚Zur Geschichte der Geschichte‘ (327). Dies galt in noch höherem Maße von Macaulays Erfolgen in Deutschland, wie 1896 Edward Gaylord Bourne bemerkt. Auch er sah - obgleich Ranke-Verehrer - dessen Wirkung so: „The air of Ranke is too rarified for the mass of readers. They need the warmth and glow of national or democratic feeling. But Ranke is still a power in the academic world.“ (Bourne: Leopold von Ranke/1896, 399). Weithin wurde eine allzu große Bildungsdistanz beklagt, welche sich einerseits aus der Höhe Rankescher Betrachtung und Reflexion, andererseits aus der noch zu erörternden versagten Vollständigkeit seiner Darstellung ergab. In den ‚Grenzboten‘ hielt man Ranke vor, daß ihn im Gegensatz zu Macaulay „nur die Aristokratie der Bildung verstehen“ könne, sei er doch „viel zu vornehm, um einfach zu erzählen, um sein eigenes überlegenes Nachdenken mit der gewöhnlichen Fassung unserer Begriffe zu vermitteln ...“ ([Anonym:] Macaulay/1853, 487). Dies war desgleichen die Auffassung eines Anonymus der ‚Deutschen Vierteljahrs Schrift‘ von 1855. Auch in seinen Augen war Ranke „nur für einen auserwählten Kreis von Lesern, welche die Geschichte schon kennen, vollständig genießbar“ ([Anonym:] Der gegenwärtige Stand/1855, 116f.), - ein Punkt, in dem die Kritik der Zeitgenossen nahezu einhellig ist. Ja, vielfach war man der Meinung, Rankes Werke könnten „in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung nur von Fachmännern gehörig gewürdigt“ werden: „die plastische Ruhe, diplomatische Vorsicht und Gelassenheit, der Farbenreichthum seiner Darstellungsweise“ werde „nicht eigentlich populär“, rege aber „doch in weiteren Kreisen zur Beschäftigung mit der Geschichte“ an. (Brückner/1869, 327). Zwar hatte Heinrich Laube (1806-1884) noch 1840 in seiner ‚Geschichte der deutschen Literatur‘ geschrieben: „Dies feine historiographische Talent Ranke’s, was bei genauerem Zusehen scheinbar bekannte Verhältnisse neu und anders für unsere Kenntniß geschaffen, dieser historiographische Takt kann freilich nicht in gewöhnlichem Style der Nachahmung eine Schule werden.“ (IV/1840, 71. Zu Laube siehe weiter unten 192). Doch schon 1849 fand ein anonymer Rezensent von Rankes ‚Preu- 189 -
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ßischer Geschichte‘: „Die schriftstellerischen Eigenschaften des Verfassers bleiben sich gleich, Quellenforschung, Art der Benützung der durch Forschung gewonnenen Resultate, Oekonomie des Ganzen, Styl, Vortrag ist bereits zur stehenden Manier geworden, deren Nachahmung auch bei bedeutenden Schriftstellern nicht ohne Verwunderung wahrzunehmen ist.“ (*: Neun Bücher preußischer Geschichte von Leop. Ranke. In: Beil. zu Nr. 169 der AZ vom 18. 6. 1849, S. 2614). Übrigens glaubte Onno Klopp, nicht ohne Bosheit, dies bei Droysen nachweisen zu können (s. I, 247ff.). Der zitierte Anonymus der ‚Deutschen Vierteljahrs Schrift‘ von 1855 sah nicht nur die Wirkung von Rankes Forschungsstil und Werkthematik in der Zunft angekommen, sondern zugleich die Wirkung seiner Darstellungsweise: „Obgleich nun Ranke einzig in seiner Art dasteht und seine Darstellungsweise nicht nachgeahmt wurde, was auch nur zur Manier hätte führen müssen, so wirkte doch sein Beispiel und seine persönliche Anregung so nachhaltig, daß die Anforderungen an den Geschichtschreiber sich nun bedeutend steigerten und man sich überzeugte, daß ein gründliches Quellenstudium mit künstlerischer Gestaltung des Stoffes wohl zu vereinigen sey. Eine ganze Reihe tüchtiger Historiker verfolgt nun diese Bahn.“ ([Anonym]: Der gegenwärtige Stand/1855, 116f.). Das wurde auch anders gesehen. In einem bereits mehrfach herangezogenen (s. I, 122, 166), vielleicht Gustav Freytag zuzuschreibenden Beitrag der ‚Grenzboten‘ von 1856 über ‚Deutsche Geschichtschreiber‘ wurde dem entgegengehalten: „Gewiß müssen uns alle Nationen um einen Künstler wie Ranke beneiden; aber ein eigentliches Vorbild kann er nicht sein. Die Richtung seines Geistes ist zu eigenthümlich, und selbst seine Schönheiten sind zu individueller Natur.“ (43f.) Das Urteil über Rankes Geschichtswerk als Kunstwerk ist, wie nahezu alles Urteilen über ihn, kontrovers. Neben der Einschätzung seiner Werke als „klassische Kunstwerke“ ist vielen Kritiken gemein der Tadel eines allzu starken Hervortretens reflektierender, konstruierender und stoff-excludierender Subjektivität, doch auch, so etwa Droysen, das Unbehagen an einer im Detail oft allzu forcierten realitätsillusionierenden Poetisierung der Darstellung, andererseits an einer Reflexion, welche der Narration hier und da eingelagert, funktionslos überlagert und oft ohne weitreichende strukturelle Bedeutung dasteht - ähnlich der gelegentlich erwähnten, doch nie wirklich sichtbar gemachten ‚Hand Gottes‘ - insgesamt die Kritik an allzu viel darstellerischer Subjektivität und einer gerade nicht erreichten Harmonie von gewolltem historischliterarischem Kunstwerk und spezialisierter historischer Forschung nebst entsprechender Ausführung. - Die kontroverse Beurteilung seiner Darstellungsweise war nur zu einem geringen Teil dem Wandel zuzuschreiben, dem sie in den sechs Jahrzehnten seines Publizierens unterlag. Nicht selten stand sie, wie bemerkt, im Vordergrund einer Gesamtwürdigung, worin sich auch die Tatsache manifestiert, daß die fachlichen Leistungen Rankes als eines Historikers, der unverkennbar in staunenswürdigem Maße neue Faktizität offenlegte bzw. generierte, nicht stets als vorrangig bemerkenswert oder gar als überragend angesehen wurden, oft sich wohl auch aufgrund mangelnder Sachkenntnis der Kritiker, zumal in Anbetracht bislang unbekannter oder ungenutzter Materialien, einer entsprechenden Beurteilung überhaupt entzogen. Auch tritt, wie in der Beurteilung seiner ‚Objektivität‘, im Rahmen einer generellen Alters-Idolatrisierung gegen sein Lebensende eine überwiegend positivere Beurteilung seines Darstellungsvermögens ein, hier und da auch vorbereitet von einer gewissen Unterwanderung der Meinung durch breitere Übernahme Rankescher Eigentümlichkeiten. * - 190 -
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Schon die gleichsam unterste Werk-Schicht, der sprachliche Ausdruck, wie er sich in Wortwahl und Satzbau manifestiert, ist - überwiegend auf sein Erst- bzw. Frühwerk bezogen - Gegenstand der Kritik, welche nicht von Schulen und Parteiungen bestimmt scheint. In Verbindung mit anderen Phänomenen seiner Darstellung wird sein Stil bisweilen gar als Manier gewertet. Nachdem sogleich Friedrich von Raumer die „ungelenke, zerschnittene und unkünstlerische“ Sprache des Werkes in einem nichtöffentlichen, dienstlichen Gutachten beanstandet hatte (s. I, 128), hielt doch eine 1826 möglicherweise von Josef von Hormayr verfaßte anonyme Besprechung des ErstlingsDoppelwerks in den Wiener ‚Jahrbüchern der Literatur‘ die von Ranke gebotenen „Umrisse“ in zweifelhaftem Lob „nicht unwerth, den Meisterbildern Johannes Müllers zur Seite zu stehen“ (Anonym/1826, 16), doch war ein anderes öffentliches Urteil eingreifender. Die Sprache von Rankes Erstling widerte keinen Geringeren als Friedrich Christoph Schlosser geradezu an. Gelegentlich einer ausführlichen anonymen Besprechung von Stenzels ‚Geschichte Deutschlands unter den Fränkischen Kaisern‘ (1827, 1828) kam er kurz auf Ranke zu sprechen: „Hr. Ranke, dessen erstes Buch, die germanischen und romanischen Stämme [auch er kannte den Titel nicht genau], ebenfalls in dem sonderbaren Deutsch und in der auf Stelzen einhergehenden Sprache der Müller nachahmenden Schriftsteller geschrieben war, scheint sich nachher besonnen zu haben, denn seine letzten Schriften sind in einem natürlichen Styl abgefaßt. Die Sprache der Geschichte der germanischen und romanischen Stämme war dem Verf. dieser Anzeigen so widrig, daß er sich lange nicht entschließen konnte, das Buch zu lesen. Hr. Stenzel ist von dieser Affektation frei.“ ([Schlosser]: Ueber die neusten Bereicherungen/1831, 300f). - Eine im Jahre 1828 anonym im ersten Band der ‚Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst‘ erschienene Besprechung von Rankes zweitem Werk, den ‚Fürsten und Völkern‘, ist möglicherweise dem mit Varnhagen in Kontakt stehenden Karl von Rotteck zuzuschreiben. Hierin wurde - eine erstaunliche Ausnahme - gerade die „Sparsamkeit, fast Kargheit in der Wahl der Wörter, Besonnenheit, Abgemessenheit und Einfachheit im Ausdrucke“ und die „mit keinem andern neuern Geschichtsschreiber vergleichbare Individualität in Hinsicht der Form der Darstellung“ gelobt ([Anonym, Karl von Rotteck?/1828], 217). Das Wohlwollen mag durch den Umstand gefördert sein, daß der Herausgeber der Zeitschrift, Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772-1838), zu Zeiten des Studiums Rankes in Leipzig Professor der sächsischen Geschichte und Statistik gewesen war (Friedrich, Manfred: Pölitz, Karl Heinrich Ludwig. In: NDB 20/2001, 562 f.) und Ranke selbst zu einer Teilnahme an der Zeitschrift aufgefordert hatte (R. an Pölitz, 25. 4. 28, SW 53/54, 197f.). Heinrich Leo beanstandete in seiner berühmten Besprechung von 1828 in Rankes ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ manirierte und durch den Wegfall von Verben und Pronomina sinngetrübte Satzkonstruktionen, kurzum die unverständliche „kauderwelsche Sprache“ (Manin, d. i. H. Leo/1828, Sp. 140). Er hielt dafür, auf jeder Seite Rankes werde „die Sprache aus Nachlässigkeit auf das gräßlichste gemißhandelt“ (129). Dies war richtig und falsch zugleich, denn aus Nachlässigkeit hatte Ranke gewiß nicht formuliert. Die Merkwürdigkeiten, im besonderen „die Constructionen, die Sätze, die Periode“ waren nach der späteren Einsicht Köppens geradezu „mit Fleiß verschränkt und verschroben“ ([Köppen]/1841, 434), entsprangen Rankes damaligem unselbständigen und ungefestigten Stilempfinden, das sich unter anderem bei Aufenthalten im Varnhagenschen Salon besserte. - Wolfgang Menzel, der zu Rankes ‚Päpsten‘ und ‚Französischer Geschichte‘ zu beachten sein wird, gelang in - 191 -
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seinem ‚Literatur-Blatt‘ vom April 1835 nahezu ein Oxymeron-Urteil, als er feststellte: Ranke „überläßt sich aber vielleicht zu sehr der eigenthümlichen Wollust seiner gemäßigten und besonnenen Stylisation, seiner in gewissem Betracht Goetheschen Prosa ...“ (133). - Boshaft originell war das Urteil Alexander von Humboldts. Er hegte, unter anderem aufgrund seiner von Ranke erst spät entdeckten Liberalität, diesem gegenüber eine mehrfach bezeugte durchgängige Abneigung. In einem Gespräch mit Varnhagen, der Liberalität wie Abneigung schon früh geteilt hatte, formulierte er seinen Tadel an Rankes Ausdrucksweise so: es sei, als ob Ranke „eine fremde Sprache ungeschickt nachahmte.“ (Tgb. zum 1. 3. 37. Aus dem Nachlaß Varnhagen’s v. Ense. Tgbb. I/1861, 39). - Der bereits erwähnte Literat Heinrich Laube war Ranke zum ersten Male 1834 ‚Unter den Linden‘ und später „ein paarmal“ auf Gesellschaften begegnet (Erinnerungen/1875, 75). Angeblich war er begeisterter Leser seiner Werke und fand, daß niemand „der Phrase so standhaft aus dem Wege“ gehe wie er (75, weiteres 268), was Laube von sich selbst nicht sagen konnte. In der vierbändigen ‚Geschichte der deutschen Literatur‘, mit der er 1839 und 1840 - wie Hermann Bischof (1857, 804) schrieb, „in seiner schwächsten Stunde“ - hervortrat, gab er eine überwiegend literarische, darin allseits verwendbare und stilistisch ihrerseits eigentümlich palavernde Würdigung, welche in den Sätzen gipfelt: „Viel feiner und sauberer, maßvoller und darum wahrer [als Heinrich Leos] ist die Ranke’sche Art. Von geschichtlicher Kunst in großem architektonischem Verhältnisse, in klarstem, durchgehenden Urtheile kann eine Zeit der Prosa nur Annäherndes leisten, wenn nicht ein Genius überrascht.“ (Laube IV/1840, 70). „... Ranke hat Geist, Talent und Geschmack. Darum lockte schon sein Anfang einer ‚Geschichte [!] der romanischen und germanischen Völkerschaften [!] im 14ten [!] und 15ten Jahrhunderte‘ so lebhaft, und in den ‚Fürsten und Völkern des 16ten und 17ten Jahrhunderts‘ war bereits ein eigenthümlicher, ein rascher, fein pragmatischer Geschichtsstyl entfaltet, der in der ‚serbischen Revolution‘, in der ‚Verschwörung gegen Venedig‘ und in den ‚römischen Päbsten‘ glänzend fortschritt, als bloßer Styl des Satzes oft frappant nachläßig, immer aber knapp lebendig, scharf, tüchtig, immer interessant. Da ist nirgends die erstickende Dicke dessen, was man gern vorzugsweise Pragmatismus nennt, nirgends ermüdender Parallelismus alles Untergeordneten, das Herumschnaufen in ausdruckslosem Detail, und nirgends der vorlaut dogmatische Abschluß, welcher dem Standpunkte unserer Zeit so übel steht.“ Von einem „feinen historiographischen Talent“ Rankes war da noch die Rede (71), beiläufig auch hier kein Wort über historisch-kritische und überhaupt epochale Verdienste Rankes um die Geschichtswissenschaft. Nicht als „fein“, sondern geradezu als „kräftig und kernig“ bezeichnete der „Königl. Consistorialassessor, Archidiakonus an der Nikolaikirche, Professor am Königl. Cadettencorps in Berlin“, Friedrich August Pischon, den Stil Rankes (Pischon/1841, 177). In seinem mehrfach aufgelegten ‚Leitfaden zur Geschichte der deutschen Literatur‘ (Zitate nach der 6. Aufl. 1841), führt er im Abschnitt ‚Geschichtliche Prosa‘ nach Joh. v. Müller, J. W. v. Archenholz, K. L. v. Woltmann, G. J. Planck, J. C. F. Manso, E. M. Arndt, Friedrich v. Raumer schließlich Ranke als „kritischen und gediegenen Historiker“ auf (ebd.). Karl Friedrich Köppen nannte in seinem mehrfach herangezogenen Beitrag über ‚Die berliner Historiker‘ von 1841 Rankes Stil „klein, kurz, selbstgefällig hüpfend und tänzelnd, immer mit sich beschäftigt, rhetorisch hin und her coquettirend, dem alle historische Würde und Haltung fehlt ... Es ist eigentlich gar kein Stil, es ist etwas durch - 192 -
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und durch Absichtliches, Affectirtes, Gemachtes, kurz es ist eine Manier.“ (433). In seinem Erstlingswerk sei sein „Mosaik des Ausdrucks bis zur höchsten Unnatur gesteigert ... Dadurch fällt die Darstellung völlig auseinander, und es entsteht ein Flimmern und Klingeln, daß uns Hören und Sehen vergeht ...“ (ebd.). In seinen späteren Werken trete dies zurück, doch bleibe „noch immer eine bedeutende Affectation übrig“ sowie „viele Reminiscenzen, Expectorationen, Exclamationen und Vorschiebungen des eigenen Ich“ (ebd.), - was sich nicht leugnen läßt. - Doch konnte man wohl nicht so weit gehen wie Anton Gubitz in einer nicht nachvollziehbaren Kritik seines ‚Gesellschafter. Blätter für Geist und Herz‘ vom Jahre 1848. Er glaubte bei Rankes ‚Neun Büchern preußischer Geschichte‘ „Kanzlei- und Beamten-Stil“ vorzufinden (Gubitz: Noch ein paar Worte/1848, 216). Der bereits erwähnte Rudolph (von) Gottschall gab in seinem 1855 erschienenen Werk ‚Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt‘ ein im Ganzen vernichtendes Urteil ab: „…Ranke’s Styl ist der Styl eines Virtuosen, beweglich, glatt, vornehm; aber er hat nicht die Kraft und den Adel, mit dem Klio’s Griffel für die Ewigkeit schreibt“ (I, 418). - Herman Grimm (1828-1901), Sohn Wilhelm Grimms und Schwiegersohn Bettina v. Arnims, der bei Ranke gehört hatte, auch respektlos im Hause Rankes verkehrte (dazu FvR/1903, 13), später Literat und Professor der Kunstgeschichte, hinterläßt den Eindruck, er habe Ressentiments seines Vaters und seines Onkels übernommen, kam Jahrzehnte später zu einem dem Köppenschen ähnelnden Urteil: Rankes Schriften ermüden ihn. Sein Stil lasse „zu sehr die Mühe erkennen, mit der er ihn zu der ihn auszeichnenden Einfachheit“ erhoben habe (H. Grimm: Heinrich von Treitschke/1896, Zitat nach 1897, 38). - Der junge Dilthey ging ins Detail, als er 1861 in sein Tagebuch schrieb: „Merkwürdige Manier bei Ranke, die etwas sehr verlockendes hat. Einen näher erklärenden Satz neben den andern, durch ein Kolon getrennt, zu stellen. Ohne Bindewort, ja so, daß irgend ein Hauptbegriff vorgeschoben wird, damit auch die Verbindung, die in dem Gleichmaß der Sätze liegt, aufgehoben werde. Die Sätze bekommen dadurch etwas Unbedingtes.“ (Der junge Dilthey/1933, 149). Verwandt ist die schlichtere Feststellung Rudolf von Gottschalls (?), Ranke schreibe „in kurzen Sätzen und mit Vorliebe in Hauptsätzen“ (Gottschall?/1879, 102). - An „der Grenze der Manier“ sieht Johann Wilhem Loebell Rankes Sprache (Loebell/1862, 24). ). Seine „ungemeine Kunst, zu gruppiren und zu componiren“ habe sich „in einen einfachen Sprachton nicht fügen“ lassen. „So wurde er Manierist, aber ein höchst geistreicher ...“ (25). Von Manieriertheit ist auch in Schriften von Karl Klüpfel, Tübinger Universitäts-Bibliothekar (1870, 79), und Max Lehmann (?) (1871, 902) die Rede. - Ludwig Freiherr von Pastor scheint auf alte Kritikelemente Hegels und Leos zurückzugreifen, wenn er Ranke mit Janssen vergleicht: „Rankes Stil gleicht etwa einer chinesischen Porzellanoder Detailmalerei, während der Stil Janssens an die altdeutschen Gemälde erinnert, in denen Anmut und Kraft vereinigt sind.“ (Zum 6. Juni 1875. Pastor/1950, 58). Theodor Fontane ist bei der Lektüre von Rankes ‚Weltgeschichte‘„an ihren großen Stellen entzückt, im ganzen aber, namentlich als stilistische Leistung, wenig befriedigt“ (in Tagebucheintragungen vom 1. Jan. bis 28. April und vom 29. April bis 15. Sept. 1886. Das Fontane-Buch/1919, 161-163). Dieses Urteil ist freilich für Rankes Gesamtwerk nicht zu verallgemeinern, da seine ‚Weltgeschichte‘ in stärkerem Maße als zuvor auf Diktate zurückging. - Für Karl Frenzel, der Rankes Geschichtsanschauung gegenüber durchaus Vorbehalte hatte (I, 121 u. ö.), sich in seinem Stil jedoch ihm und - 193 -
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Heine verpflichtet fühlte, blieb Ranke „...einer unserer hervorragendsten Stilisten“ (Frenzel/1912, 47f.). Auch ausländische Stimmen sind von vielfältiger Art, darunter folgende: Rankes Stil sei ein wenig schwer und sogar langweilig, schrieb 1860 Ernest Grégoire im Pariser ‚Correspondant‘ (Grégoire/1860, 102). Sein Landsmann, Rodolphe Ernest Reuss, der 1862 an einer Vorlesung und Übung Rankes teilgenommen hatte (Reuss/1926, 16), hielt Rankes Sprache bei aller Klarheit in ihrer harmonischen Monotonie auf die Dauer für ermüdend. Es sei zu wenig Leben in seinem Stil. Seine Porträts seien wunderbar, doch im allgemeinen gebe er nur Zeichnungen, keine Gemälde (Reuss/1870, 94). Dem ähnelte ein Urteil von Victor Cherbuliez, der in Rankes Todesjahr von einem dem Stoff angemessenen, eleganten und klaren, wenn auch ein wenig blutarmen Stil sprach ([Cherbuliez, V.; Pseudonym:] Valbert, G./1886, 693). In Italien erkannte Angelo de Gubernatis, daß zwischen dem manierierten Stil und der Wahrheit des Historikers kein Widerspruch bestehen müsse: „il suo stile è suppergiù manierato, ma sempre arguto ed evidente; non entusiasma il lettore, ma gli pone innanzi tutta la verità che fu possible rintracciare.“ (De Gubernatis/1879, 860). * Von größerer Bedeutung als der Tadel seines sprachlichen Ausdrucks ist die Kritik der Struktur der Werke Rankes. Davon werden mehrere deutlich auftretende Phänomene berührt, zunächst die am häufigsten beanstandete oder zumindest vermerkte Eigenart: der gestörte oder fehlende Zusammenhang der Erzählung, hervorgerufen durch eine besonders gegründete ‚versagte Vollständigkeit‘, ein Begriff, der spätestens von Ludwig Schaedel in einem Beitrag ‚Zur Würdigung Leopold v. Rankes‘ der ‚Allgemeinen konservativen Monatsschrift für das christliche Deutschland‘ (Jg. 43, Juli 1886, 740) für eine der „auffallendsten Eigentümlichkeiten Rankescher Kunst“ geprägt wurde, aber in der Sache schon längst beanstandet worden war. Auf „das Bekannte, Gedruckte, Abgehandelte“, so fand schon früh der bereits erwähnte Historiker Joseph Aschbach in einer Besprechung der ‚Päpste‘, werde von Ranke „nicht häufig Rücksicht genommen“ (Aschbach/1835, Sp. 635). Aschbach lobte zwar den Ideenreichtum und die „höchst lebendige Darstellung“, „einzelne sehr gelehrte Ausführungen“ des Werkes, „aber ein in sich geschlossenes historisches Ganze“ liefere das Werk nicht (Aschbach/1835, Sp. 640). Des „Raumes wegen“, wie möglicherweise Heeren 1837 allzu gutmütig in den ‚Ergänzungsblättern zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ vermutete, ließ Ranke es an einer vollständigeren Erzählung fehlen: „Wenn sich Rec. auch öfter durch das mitunter Desultorische und Abgerissene des Stils und der Darstellung gestört sah, wenn er Mangel an Vollständigkeit und oft Berücksichtigung der wichtigsten Puncte vermisste: so hält er diess doch Hn. Ranke zu gut, und erklärt es sich am wahrscheinlichsten aus dem Streben, das Gewöhnliche und allgemein Bekannte nicht in seine Darstellung des Raumes wegen aufzunehmen, und nur Neues und Bedeutendes zu bieten“ (A. H. L. und A. Schr./1837, 350). - Varnhagen, der in Rankes Wesen und Schriften den von ihm einst gelobten jungen Historiker kaum noch wiederzuerkennen meinte, sah eine strukturelle Schwäche in einem fehlenden „Maß der Behandlung, Kürze und Ausführlichkeit wechseln ohne Grund“ (Tgb. zum 7. 10. 1853: Tagebücher, X/1868, 296). Die sehr subjektiven Gründe wurden von der Zeitgenossenschaft vorwiegend zutreffend beurteilt. Das von einer „Gesellschaft deutscher Gelehrten“ bearbeitete ‚Con- 194 -
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versations-Lexikon der neuesten Litteratur-, Völker- und Staatengeschichte‘ wußte in seinem 1845 erschienenen zweiten Band über Ranke zu sagen: „er giebt häufig keine erschöpfende Darstellung des ganzen vorhandenen Materials, sondern begnügt sich, das Neue, was er gefunden und erforscht, hervorzuheben, das Bekannte kaum anzudeuten oder ganz bei Seite zu lassen. Hierdurch wird der Eindruck und der Reiz seiner Darstellung erhöht, doch hat dieser Punkt ihn auch am häufigsten dem Tadel seiner Gegner blosgestellt“ (386). - Auch Theodor Mundt glaubte in Rankes ‚Preußischer Geschichte‘ erkannt zu haben, daß dieser in seiner „gänzlich fragmentarischen Manier“ (Mundt/1847, 688) fast alles ignoriere, was außerhalb des selbst bearbeiteten neuen Archivmaterials als feststehend und charakteristisch überliefert sei. Ein anonymer Rezensent der ‚Allgemeinen Zeitung‘ warf Ranke vor, er sei „in seiner preußischen Geschichte so weit gegangen daß eigentlich nur noch das historischen Werth für ihn“ habe, „was er in seinen Archiven gefunden, und was sich durch dieselben beglaubigen“ lasse. Dies verleite „ihn denn manches andere auch sonst Feststehende in seiner Darstellung zurücktreten zu lassen oder zu ignoriren, und dadurch auf manches charakteristische Element zu verzichten.“ (M.: Historik und Dramatik/1848, 874). - Eine der frühesten umfangreicheren Gesamtwürdigungen Rankes findet sich in der ‚Deutschen Vierteljahrs Schrift‘ von 1855 mit dem Titel ‚Der gegenwärtige Stand der deutschen Geschichtsforschung und Geschichtschreibung‘. Hier heißt es: „… populär kann man ihn eigentlich nicht nennen, denn er setzt von dem Thatsächlichen zu viel voraus, als daß ein mit den Einzelheiten des Stoffes noch unbekannter Leser die feinen Anspielungen, die er macht, die Schlaglichter, die er da und dorthin wirft, die geistreichen Ueberblicke, die er gibt, gehörig würdigen könnte ... er ist nur für einen auserwählten Kreis von Lesern, welche die Geschichte schon kennen, vollständig genießbar.“ (Anonym/1855, 116f.). Dem entspricht auch das Urteil Julian Schmidts: Er fand, durch das Vermeiden dessen, ‚was jedermann weiß‘, komme „nicht blos in seine Composition, sondern selbst in seinen Styl ... zuweilen etwas vornehm Fragmentarisches. Es ist kein zusammenhängendes Ganze, aber doch ein abgerundetes Bild ...“ (Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. I/1853, 326). Schmidt wiederholte diese Einsicht mehrfach, war gleichwohl der Ansicht, Ranke sei ein „Schriftsteller ..., auf welchen Deutschland das Recht hat stolz zu sein“ (S[chmidt]/ 1857, 318). - Der Eindruck versagter Vollständigkeit - in grundsätzlicher Weise und in denkbar größtem Maßstab liegt sie in seiner ‚Weltgeschichte‘ vor - wurde auch bei Rankes späteren Werken verspürt. Ein Rezensent der ‚Allgemeinen Zeitung‘ fand bei den ‚Deutschen Mächten‘ von 1871, daß Ranke unter Hintansetzung bzw. Auslassung des bereits Bekannten aus dem, was seine Quellenstudien Neues bieten, den „Eindruck zusammenhängender Geschichte“ erzeuge. Es gebe „keinen andern Geschichtschreiber, dessen Art zu schaffen so verwandt“ sei „mit der des Dichters“ (W. L./1871, 1905). Nun wurden allerdings zunehmend auch die essentiellen Folgen der Versagung benannt. George Strachey wies in der Londoner ‚Academy‘ anläßlich einer ‚Hardenberg‘-Besprechung (s. u.) darauf hin, daß in Rankes Darstellungssystem von Sprüngen und Anspielungen manchmal die Kontinuität der Erzählung verloren gehe (Strachey/ 1877, 79). Die „Sprünge“ und „Lücken“ in Rankes Arbeit über Friedrich Wilhelm IV. hätten keine vollständige Biographie ergeben, doch sei sie - ein Ausnahme-Urteil der ‚Allgemeinen Zeitung‘ - ein „vollendetes Kunstwerk“ (G.: Zwei preußische Könige/ 1878, 51). - Sogar der zu den ältesten Schülern Rankes zählende Wilhelm Giesebrecht erörterte in seiner Gedächtnisrede vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften - 195 -
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Rankes Abneigung, „zu wiederholen, was oftmals von Anderen gesagt war“. Dadurch werde „seine Darstellung ... öfters aphoristisch. So reich sie an dramatischem Leben ist, fehlt ihr die epische Ruhe.“ (Giesebrecht/1887, 29). Dies hatte man schon 1845 empfunden. Das bereits herangezogene ‚Conversations-Lexikon der neuesten Litteratur-, Völker- und Staatengeschichte‘ hatte konstatiert, sein Stil sei „von einer gewissen Unruhe, einer gewissen subjectiven Beweglichkeit nicht frei“ (386). - Doch es gab im Zusammenhang der versagten Vollständigkeit wesentlichere Kritik. Ein Rezensent der ‚Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ lieferte im September 1840 unter dem Autorenkürzel A. Schr. eine Besprechung der ersten beiden Bände der ‚Reformationsgeschichte‘ (s. u.), wobei er Rankes „aphoristische andeutende Manier“ (403) beanstandete und feststellte, daß bei dem „leitenden Grundsatz, ... nach Möglichkeit überall nur Neues... zu geben“ (394), neben versagter Vollständigkeit, doch auch gelegentlich zuviel Detail an der falschen Stelle zu beklagen sei. - Der gewichtigste, überstilistische und überstrukturelle Einwand gegen die versagte Vollständigkeit wurde jedoch 1870 von Rodolphe Ernest Reuss im Sinne einer von Ranke in Kauf genommenen Realitätsverzerrung vorgetragen: „On dirait qu’il dédaigne de passer là où d’autres ont passé avant lui, et cette façon d’agir a le grave inconvénient de modifier les proportions réelles des événements qui se passent devant nos yeux.“ (94). Damit zusammenhängen dürfte Reuss’ Vorwurf einer allzu geringen Erzählung der Fakten gegenüber den eine Epoche bestimmenden Ideen (ebd.). Der Eindruck eines gestörten Zusammenhangs der Erzählung wurde nicht allein durch die versagte Vollständigkeit der Faktizität hervorgerufen, sondern ergab sich auch durch häufige Themen- und Schauplatzwechsel, auch durch eingestreute Sentenzen, Reflexionen und Anspielungen des bisweilen unbescheiden auftretenden historiographischen Subjekts. Maximilian Duncker (1811-1886) bemerkte in seiner bereits genannten anonymen Besprechung des ersten Bandes der ‚Päpste‘, 1834 in der ‚Literarischen Zeitung‘ erschienen, „... Das Einzige was Vielen ... in diesem Buche unangenehm seyn wird, ist der Stil u. die Darstellungsmanier des Verf., die allerdings seine Subjectivität mehr als billig hindurchscheinen läßt.“ ([Duncker]/1834, Sp. 563). Was Duncker dabei nicht bedachte, war die indirekte Wirkung einer sich derart stark geltend machenden Individualität der Gestaltung, daß sie als Subjektivität der Aussage gelten mußte und die gewollte Objektivität der Darstellung äußerlich in Frage stellte. Karl Friedrich Köppen ging noch weiter. Mit Bezug auf Goethes Faust (I: 575-577) formulierte er: Nicht die Zeiten bespiegeln sich in seinem Geiste, „sondern er ist es, der sich im Geiste der Zeiten bespiegelt.“ (Karl Friedrich Köppen/ 1841, 434). Wenn Köppen einen Beitrag ‚Zur Feier der Thronbesteigung Friedrich’s II.‘ von 1840 zum Anlaß eines groben Seitenhiebes auf Ranke nahm, in dem er sich über dessen „buntscheckiges“ Zusammenflicken der Geschichte mokierte (Köppen/1840, 1177), so wurde dies im Grunde von anderer Seite, wenn auch in zurückhaltenderer Form, bestätigt. Der anonyme Rezensent von Rankes ‚Päpsten‘ in der Londoner ‚Saturday Review of Politics, Literature, Science, and Art‘ vom 15. Dez. 1866 fand überhaupt, Ranke habe sich nie fest entschlossen, welche Art von Buch er zu schreiben beabsichtigte. In seinen ‚Päpsten‘ habe er weniger eine fortlaufende Geschichte der Päpste als eine Serie philosophischer Kommentare über die Verbindung ihrer Politik und Geschichte mit dem Fortgang der europäischen Geschichte (735) gegeben. „As a work of historical art and skill it fails to satisfy us, both in its form and its substance. As to its form, it is one of the most uncomfortable books to read that we know. We are - 196 -
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carried on, not continuously, but by a series of jerks. At one moment we are reading general European history, then we are thrown into a chapter of abstract speculation, and thence we pass into the minute and curious intrigues of a conclave, or the domestic habits of a Pope. We have the disjecta membra of a deeply interesting history; but reading Ranke is like reading the excerpta, and most important passages of a course of philosophical lectures, of which the connecting form and arrangement have been dropped...“ (734). Beachtet wurde auch das Verhältnis von Reflexion und Narration. Während Häusser in Rankes ‚Französischer Geschichte‘ „manchmal versucht“ ist, „über der reichen Reflexion ein gewisses Gleichgewicht des thatsächlichen Stoffes zu vermissen“ (1852, I 1869, 194), sah ihn der Verfasser der aufsehenerregenden Schrift ‚Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet‘ (Tüb. 1835) als gänzlich reflexiv an. David Friedrich Strauß (18081874), Philosoph und Züricher Theologieprofessor‚ der sich 1847 in seinem Vortrag ‚Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige‘ (Mannheim 1847), ironisch mit Friedrich Wilhelm IV. befaßt hatte, kam in Briefen an Ernst Rapp zu einer zunächst völlig ungeläufigen Charakteristik des „Hofhistoriographen“ (11. 11. 1849, Strauß/1895, 251f.): „Ranke ist ein lyrischer Geschichtschreiber. Sein Standpunkt ist nicht der des Erzählens, sondern der der Reflexion über den Erzählungsstoff, einer Reflexion mit Empfindung und Phantasie, daher ganz eigentlich lyrisch ... Dem entspricht auch sein Styl...“; „einhüllender Farbenton, eine elegante Glätte“. Strauß wertete dies als ein „Zeichen mehr von unserer blasirten Zeit et senectutis mundi“ (3. 6. 1853, Strauß/1895, 316f.). Nicht ganz fern stand diesem Urteil später Loebell, der in seinen ‚Briefen über den Nekrolog Friedrich Christoph Schlossers‘ von 1862 in Rankes Darstellung eine „stete Verschmelzung der Thatsache mit der Betrachtung“ vorzufinden glaubte, bei der „die Ereignisse oft ganz in ihre Resultate“ aufgelöst seien (23). Damit zusammenhängend wurde von Julian Schmidt anonym ein weiterer, heute nicht mehr beachteter interessanter Kritikansatz bei Rankes ‚Preußischer Geschichte‘ vorgetragen, der unter dem Gesichtspunkt der Rankeschen ‚défauts de ses vertus‘ zu sehen ist: Durch den „Hinblick auf die großen Weltbegebenheiten außerhalb der eigentlichen Sphäre der Darstellung“ werde bei diesem Werk, im Gegensatz zu den ‚Päpsten‘ die „Einheit des Gemäldes nur zerstört“ ([Schmidt, Julian]: Leopold Ranke/1848, 516). - Sehr ähnlich urteilte ein Kritiker des ‚Literarischen Centralblatts für Deutschland‘, der sich 1854 der ‚Französischen Geschichte‘ annahm. Auch er machte den „universalhistorischen Charakter“ als „ hervorragendste Eigenthümlichkeit der Rankeschen Geschichtschreibung“, nicht allein für die meisten „Vorzüge“ in Inhalt und Form verantwortlich, sondern auch für deren „Mängel“ (Anonym in: LCD, 30. 12. 1854/836). Mit der „universalhistorischen Richtung“ gehe eine „fragmentarische Behandlungsweise der Geschichte ... Hand in Hand.“ (Ebd.). Diese habe Ranke „fast zu einer Manier“ ausgebildet, „den Ton seiner Werke möglichst hoch zu spannen. Indem sich Ranke mehr und mehr der Aufgabe, eine gleichmäßige Erzählung und Darstellung der Ereignisse zu geben, entzieht, erhält seine Geschichte viel zu sehr nur den Charakter einer tiefgehenden und umfassenden Betrachtung des Geschehenen...“ (836). Jedem, der die französische Geschichte aus Rankes Werk kennen lernen wolle, „würde es ein Buch mit sieben Siegeln bleiben.“ Darum habe die Rankesche Geschichtsschreibung „doch im Ganzen nur engere Kreise … erfassen können…“ (836). Hier, wie bei Julian Schmidt, wurde Rankes außerordentliche, mit Recht oft gerühmte Begabung einer möglichst allseitigen Verknüpfung des Besonderen mit dem Allgemeinen in ihrer - 197 -
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höchsten, universalhistorischen Ausrichtung als überzogen, unpassend oder mißlungen empfunden. - Eine ähnliche Erfahrung machte später Albert Sorel bei der Lektüre des ‚Hardenberg‘. Er bemerkte eine starke gattungsmäßige und perspektivische Disproportion zwischen dem personalen und dem europäisch-universalen Element, indem sich, ausgehend und wieder zurückkehrend zu Hardenberg, ein sehr enger Säulengang zu einem Werk mit der Gestalt eines Monuments ergebe (Sorel, Albert: [Bespr. Hard IV]/1879, 494). Eine ähnliche Disproportion hatte Alexander von Humboldt in einem Vortrag des gelegentlich zu Übertreibungen neigenden Ranke beanstandet: „Welch eine Albernheit, die pathosreiche Rede von Ranke[,] eine Reise durch die Magellanische Meerenge nach dem Pichelswerder.“ (Briefe A. v. Humboldts an I. v. Olfers/ [1913], 59). * Der Betrachtung einer teilweisen Theorie-Auffälligkeit des Rankeschen Stils steht eine solche seiner empirisch-naturalistisch gefärbten Anschaulichkeit gegenüber. Bedenklich ist nicht Rankes Streben nach künstlerischer Form seiner Geschichtswerke, sondern es ist die Gefahr, bestimmten Versuchungen der Poesie zu erliegen. Dabei spielte nicht nur ein starkes ästhetisches Motiv mit, sondern auch der Wunsch, über die Fachgelehrten hinaus eine Teilnahme des großen Publikums zu erreichen (s. I/1.8). Für Ranke stellen sich diese Versuchungen oder Neigungen in der Manier dar, wo immer möglich, einen geistvollen Einfall, Ungewöhnliches und Pikantes zu bieten, sodann, den Stoff überfordernde dramatisierende Gruppierungen und Strukturierungen vorzunehmen, schließlich, und bedenklicher als alles andere, der Neigung dichterischer Vergegenwärtigung nachzugeben. Einer der frühesten Teilnehmer an seinen ‚Übungen‘, der bereits erwähnte Felix Papencordt, erhob anläßlich einer Besprechung der ‚Päpste‘ in der ‚Dublin Review‘ anonym Einwände. Das Werk sei zwar leichter lesbar als deutsche Werke im allgemeinen, doch störe das Bemühen des Autors, auf jeder Seite einen besonderen Effekt hervorzurufen oder einen glücklichen Einfall preiszugeben. ([Papencordt]/1838, 49). Dies wurde auch als nachteilig für die Einheit des Werkes angesehen. Gustav Freytag (?) vermerkte in einem Beitrag der ‚Grenzboten‘ von 1856 über ‚Deutsche Geschichtschreiber. Georg Waitz‘, Ranke besitze und erwecke „einen großen Sinn für das Originelle und Ungewöhnliche, aber eigentlich nur insofern es ‚Caviar ist fürs Volk‘.“ (43f.). - Karl Gutzkow ([Gutzkow]/1857, 399), Karl von Hase (v. Hase/1920, 64) und Ludwig Geiger (Geiger/1888, 115) waren unter denen, welche Rankes im Alter noch zunehmende Sentenzenhäufung bemerkten. Dem konfessionell voreingenommenen Ludwig Frhr. von Pastor schien in Rankes Interesse weckender Einbringung von „Anekdoten und geistreichen Zügen“ abwegig gar die Absicht verborgen, eine „Ummodelung der Tatsachen weniger bemerkbar“ zu machen (zum 26. 3. 1875, Pastor/1950, 47, s. auch I, 245ff.). Ähnlich sah es jedenfalls ein immer noch beachtenswerter Beitrag der linkshegelianischen und bald als „Gefahr für die öffentliche Gesinnung“ verbotenen ‚Hallischen Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst‘ (s. Obenaus/1973, 79). Unter dem Kürzel …..r. teilte wohl Theodor Echtermeyer (1805-1844), Literarhistoriker und gemeinsam mit Ruge Herausgeber der ‚Jahrbücher‘, 1840 die Zuschrift eines nicht genannten „geistreichen Freundes“ zu Rankes ‚Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ mit: „...Ein wie ganz anderes Werk hätte aus so ausgebreiteten Quellen- 198 -
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studien hervorgehn müssen ... Diese ernsthaften Studien abgerechnet, behandelt er die Geschichte wirklich nicht besser als die Männer der ‚jungen Litteratur‘, in eitler Effectmacherei das Particulärste unmittelbar mit dem Allgemeinsten verknüpfend. - So wird ein Charakterzug, ein Witzwort, eine Schilderung, eine piquante Situation, mit abstracten Reflexionen und der skizzenhaftesten Angabe der allgemeinen Verhältnisse so unmittelbar verflochten und so willkürlich, daß die wahre Wirklichkeit der Geschichte und ihr reicher innerer Organismus völlig verdunkelt wird. Diese Anekdotengeschichte, welche sich an nebelhaften Allgemeinheiten und Halbwahrheiten eine Art vornehmen, philosophischen Hintergrundes zu geben sucht, leidet an einer solchen Unruhe und Zersplitterung, daß der Leser wohl für den Augenblick in Spannung erhalten und immer von neuem angestachelt wird, wenn er aber das Buch aus der Hand legt, so gut wie gar nichts profitirt hat.“ Ranke mit der liberalen Literatur des verbotenen ‚Jungen Deutschland‘ gleichzusetzen, war, ungeachtet der Frage, ob sachlich zu begründen oder nicht, eine für den erzkonservativen Ranke politisch höchst unangenehme Bosheit. Was er von der Bewegung hielt, hat er einer tagebuchartigen Notiz, vermutlich nach 1835, anvertraut: „Auf eine tolle Weise lieben, sich erschießen, verrückt werden, spuken, das sind die Ideen des jungen Deutschland.“ (WuN I/1864, 199. Abweichende Lesung Vierhaus: Soziale Welt/1957, 34). Schwerer als der Pikanterie-Vorwurf wog auch hier wiederum der bereits bei Julian Schmidt und anderen angeklungene Hinweis auf ein allzu forciertes Zusammenbringen von Besonderem und Allgemeinem, schwerer noch wiegen wohl Vorwürfe hinsichtlich einer in künstliche Logik gepreßten Kausalisierung von Ereignisfolgen, eines ästhetischen Gruppierens, kurz eines dramatisierenden Konstruktivismus. - Eindringlich hat sich Ludwig Häusser mit formalen Aspekten einiger Werke Rankes befaßt. Seine Besprechungen, die er in den Jahren zwischen 1842 und 1856 anonym in der ‚Allgemeinen Zeitung‘ über Rankes ‚Deutsche‘, ‚Preußische‘ und ‚Französische Geschichte‘ schrieb, glänzen weniger durch historische Sachkunde als durch einige damals ungewöhnliche Struktur-Betrachtungen. Vor allem machte er aufmerksam auf ein bei Ranke „sehr bedeutend“ vorwaltendes „mächtiges ästhetisches Bewußtsein“: „Aeußere Schönheit des künstlerischen Ganzen wie der kleinsten scheinbar zufälligsten Nuancirung ist ihm von so überwiegender Wichtigkeit, daß sich meistens der Stoff mehr nach der Form bequemen muß, als umgekehrt...“ (Bespr. DtG I-III/(1842) Häusser I/1869, 147). In seinen Besprechungen der ‚Französischen Geschichte‘, welche mehrfach Rankes „feine, elegante Zeichnungen, mit pikanten und fesselnden Zügen“ (1852, I/1869, 194; 1855, I/1869, 230) hervorheben, sieht Häusser bei aller Anerkennung der interessanten und gewichtigen Betrachtungen doch auch eine „Vorliebe des Pragmatisirens, eine Neigung des dramatischen Verknüpfens ..., die dem schlichten natürlichen Verlauf der geschichtlichen Dinge jezuweilen Eintrag thut.“ (1852, I/1869, 194). Mit einem Drama verglich beiläufig auch ein Rezensent des ‚Magazins für die Literatur des Auslandes‘ von 1871 die Darstellung Rankes. Ihr sei der Charakter eines „Kunstwerks“ eigen (I. [oder J.]: [Bespr. von USK], 501f.). - Um wieder zu Häusser zurückzukehren, so fand dieser, wenn überhaupt in der „logischen Verknüpfung der Erscheinungen des Lebens“ bereits „etwas Unhistorisches, Künstliches“ liege, so träten auch bei Ranke „einzelne Partien in etwas gemachter, pragmatisirender Manier hervor; man spürt hier auf einmal einen ganz gefährlichen Einfluß der Subjektivität des Darstellers und der ästhetisch schönen Gruppirung; dem logisch strengen Hervortreten der Gegensätze muß sich bisweilen die geschichtliche Treue und Wahrheit fügen, allein - 199 -
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es sind dieß einzelne Schattenseiten ... Die Entwicklung der religiösen Bewegung, ihre Anfänge, ihre Fortbildung, das allmähliche Gestalten contrastirender Principien, die verschiedenen Phasen, in denen die neue Bewegung in Literatur, Staat und Kirche erscheint - alles das hat Ranke mit kunstreicher, wirklich meisterhafter Gewandtheit zu gruppiren gewußt; es ist eine Art Dialektik drin, die nicht immer sich auf ausschließlich geschichtlichem Boden hält, aber um so schärfer und bestimmter die Entstehungsgeschichte welthistorischer Ideen in die Augen fallen läßt.“ (148f.). Heinrich von Sybel sah als „innersten Grund“ der Geschichtsauffassung Rankes einen „ästhetischen“ an (Gedächtnisrede/1886, 468). In dieser Auffassung war er mit dem Literaturhistoriker Julian Schmidt einig (Schmidt/1886). Doch ist diese vornehmliche Sicht Rankes zugleich stark idealisierend, sowohl hinsichtlich des Objekts, des „Schönen und Großen“, als auch hinsichtlich des Subjekts, seiner Selbst, das sich in „edlen und schönen Werken“ zu verwirklichen sucht, - eine Realitätssicht, welche das allumfassende geschichtliche Seins-Ganze, das sich im „Schönen und Großen“ weder erklärt noch erschöpft, in seiner Faktizität reduziert und in seiner Realität alteriert. Auch auf Ranke trifft der allgemeine Satz zu, den Wilhelm Dilthey anläßlich einer Würdigung Julian Schmidts formulierte: „Der ästhetische Mensch sucht in sich und andern Gleichgewicht und Harmonie der Gefühle zu verwirklichen; von diesem Bedürfnis aus gestaltet er sein Gefühl des Lebens und seine Anschauungen der Welt...“ (Dilthey: Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins. Ges. Schrr., XI, 2., ²1960, 232). Dies gilt nicht zuletzt für Rankes Zurückhalten seines historiographischen Urteils und überhaupt das Meiden des Un-Schönen. Viele lobten Rankes nicht selten relationengestützte Porträtierungskunst. Sie wurde als Mittel der Individualisierung gesehen und blieb in dieser Hinsicht wohl mit Recht unbeanstandet. Allerdings geht die Kunst, wie bemerkt wurde, so weit, daß der Leser gelegentlich Rankes Helden in voller Lebendigkeit vor sich zu sehen meint. Hier befindet man sich zumindest im Vorhof der Poesie. Manche sahen in der anschaulichen Verlebendigung jedoch zunächst nur Positives. Maximilian Duncker bemerkte in seiner bereits genannten anonymen Besprechung des ersten Bandes der ‚Päpste‘ 1834 in der ‚Literarischen Zeitung‘ erschienen, „besonders in der Darstellung der Individualitäten“ bewähre sich Rankes Talent: Durch „scheinbar kleine, aber charakteristische Züge ... werden alle seine Personen lebendig, u. treten uns größtentheils in ganz neuem Lichte entgegen.“ ([Duncker]/1834, Sp. 563). Auch in den Augen eines Rezensenten der ‚Serbischen Revolution‘ in den ‚Blättern für literarische Unterhaltung‘ des Jahres 1848 wuchs das von Ranke allerdings nur mitwirkend hervorgebrachte Werk ob seines „klaren und fließenden Stiles“ „zum Interesse einer romantischen Erzählung auf“ ([Vf.] 16/1848, 208). Im ‚Handbuch der Geschichte der deutschen National-Literatur für Gymnasien und höhere Bildungsanstalten‘ des Franz Biese (1803-1895), damals Professor und erster Oberlehrer am Königlichen Pädagogium zu Putbus, findet sich Ranke in der Nachbarschaft von G. A. H. Stenzel und Heinrich Leo und wird gelobt ob seiner „sorgfältigen Erforschung und Nachweisung der Quellen“ (Biese II/1848, 682). In literarischer Hinsicht bemerkt Biese eine „große Kunst im Schildern und Portraitiren, kleine anekdotenartige Züge hervorzuheben und auf diese Weise die Charaktere bis ins Kleinste zu individualisiren“ (ebd.). „Einer solchen historischen Portraitmalerei ist der scharf pointirte, in kurzen, kleinen Sätzen sich bewegende Stil angemessen“ (ebd.). Dem entsprach das Urteil des Liberalen Theodor Mundt (1808-1861), Hörer Rankes (s. Weber, Johannes: Mundt, Theodor. In: NDB 18/1997, 588-590, hier 588), der auch - 200 -
I/2.1.3 Geschichtsdenken seiner Zeit - Geschichtswerk als Kunstwerk?
thematisch rankenah über ‚Macchiavelli und den Gang der europäischen Politik‘ (Lpz. 1851) gearbeitet hatte, in seiner ‚Geschichte der Literatur der Gegenwart ... Von dem Jahre 1789 bis zur neuesten Zeit‘ (1. Aufl. 1842, 2., neu bearb. Aufl., Lpz. 1853). Mundt, Literat und Literaturhistoriker, war damals Professor und Bibliothekar der Kgl. Universitäts-Bibliothek in Berlin. Nach Gervinus, Johannes v. Müller, Niebuhr, Fr. Chr. Schlosser, K. v. Rotteck, K. Th. Welcker folgt in seiner Darstellung Ranke: „Der künstlerische Charakter der deutschen Geschichtschreibung entwickelte sich in der letzten Zeit am eigenthümlichsten in den Darstellungen von Leopold Ranke ...“ (884). „Dieser Historiker erscheint als Meister in der Kunst, die Geschichte zu individualisiren, und die Persönlichkeiten in einer reizenden Wechselwirkung mit den allgemeinen Verhältnissen zu zeichnen“ (885). - Der bereits erwähnte Literaturhistoriker Heinrich Kurz, der Ranke in seiner erfolgreichen ‚Geschichte der deutschen Literatur‘ nicht weniger als „das Streben nach Erforschung der absoluten Wahrheit“ abgesprochen hatte (III/1859, 697), fühlte sich jedoch hinsichtlich der Darstellungskunst Rankes zu überwiegend positiven Feststellungen bewogen, die er freilich mit einer kleinen Bosheit verband.: Sie mache „beinahe den Eindruck einer von der schaffenden Phantasie gestalteten Dichtung“. Ranke sei ein „vollendeter Meister in der Anordnung des Stoffs“. Kurz lobt seine meisterhaften Charakterschilderungen: Am glücklichsten sei er „in den Zeichnungen derjenigen Charaktere, welche weniger durch sittliche Größe als durch schlaue Gewandtheit sich ausgezeichnet haben“ (ebd.). Doch Rankes häufig gelobte Porträtierungskunst wurde, wie eingangs hervorgehoben (s. I, 121), auch in Frage gestellt. Wo ein Anonymus der ‚Deutschen Vierteljahrs Schrift‘ 1855 in einer der frühesten umfangreicheren Geamtwürdigungen Rankes mit dem Titel ‚Der gegenwärtige Stand der deutschen Geschichtsforschung und Geschichtschreibung‘ von Rankes „nach Anordnung und Ausdruck wahrhaft künstlerischer“ Form sprach und lobend bemerkte, er führe lebendige, aus dem Geiste und der Phantasie wiedergeborene Gestalten“ vor (116), da trug Ferdinand Gregorovius in sein römisches Tagebuch ein: „Er hat die feinste Combinationsgabe und logische Schärfe, aber keine Gestaltungskraft. Seine Menschen und Dinge zeigen ihr inneres Gefaser, aber nur wie auf einem anatomischen Theater. Ranke geht durch die Geschichte wie durch eine Bildergallerie, wozu er geistreiche Noten schreibt. Ich vergleiche ihn als Geschichtsschreiber dem, was Alfieri als Dichter ist.“ (28. 4. 67, Gregorovius/1893, 239f.). - Erstaunlich die bereits 1840 zutage getretene weitgefaßte abstrakte Auffassung von Rankes „Kunst der Individualisierung“. Der anonyme Rezensent der ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ des 21. Juli 1840 bezog sie nicht ausdrücklich auf personale Individuen, sondern begrifflich sehr weit auf die wechselseitige Veranschaulichung von Gedanke und Stoff: „Diese Kunst der Individualisirung besteht ... hauptsächlich darin, die Hauptfactoren der Geschichte mit feiner Hand herauszufühlen und aus der Wechselwirkung ... das concrete Verhältniß sich ergeben zu lassen, in welchem der Grundgedanke jedesmal erscheint.“ Dies aber ist, wie der Rezensent beim Beispiel von Rankes ‚Deutscher Geschichte‘ mit Recht betont, „der nothwendige Gegensatz von nationalem und religiösem Leben“ (Rez. 43/1840, 822). Freilich gab es auch einen beträchtlichen Einwand, den Rudolph (von) Gottschall in seinem 1855 erschienenen Werk ‚Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt‘ gegen Ranke bereit hielt: „Auch die Lebendigkeit seiner Darstellung ist nur eine bedingte; denn er ist nicht zu Hause im Drange der Massenbewegungen und im Feuer der großen Actionen, - 201 -
I/2.1.3 Geschichtsdenken seiner Zeit - Geschichtswerk als Kunstwerk?
nur in lichtvoller Darstellung der Motive, des Calculs, der Interessen.“ (418). Hier war nicht der Verlebendigungstendenzen gedacht, die sich, um einen Begriff der Hegelschen Kritik aufzugreifen, zumeist in Partikularitäten darstellten, hier wurde auf die mangelnde Größe und Dynamik des ganzen Gemäldes abgezielt. Schon Heinrich Leo hatte neben stilistischen Defiziten ein bedeutenderes Moment beanstandet. Es war das Mißverhältnis von größter Ausführlichkeit der „unwesentlichsten Verhältnisse und Begebenheiten“, verbunden mit dem Außerachtlassen des „geistig Größten und Wichtigsten“ (Manin, d. i. H. Leo/1828, Sp. 132), wobei Ranke etwa über eine Gestalt wie Kolumbus allzu leicht hinweggehe und stattdessen „lieber von dem Meergras und dem aufgerichteten Kreuz, von der ersten Nachtigall und den scheuen, guten Menschen“ rede (132) oder an anderer Stelle vermerke, daß „Ferrantin eine Zeitlang den Panzer nur beym Hemdewechseln gelöst habe“ (133). Hier war eben ganz deutlich Rankes originär poetischer Impetus durchgeschlagen, der sowohl seine intime okulare Nähe zu den Agierenden und ihrer Lebenswelt als auch seinen Drang zu ihrer den Leser einbeziehenden Vergegenwärtigung bezeugte. Dabei war Ranke wohl noch kaum bewußt, daß Objektivität, die er durchaus anstrebte, nicht allein eine Frage kritisch erforschter Einzel-Faktizität, sondern auch eine solche gesamtkonzeptioneller, ausgewogener darstellerischer Kompositorik ist. Leo sah wohl die eigentliche Gefahr des Details nicht, wenn auch das dadurch herbeigeführte Ungleichgewicht. Dieses zentrale Problem der Rankeschen Darstellung, bei dem es letztlich um das Verhältnis von Wissenschaft und Dichtung und die damit verbundene Existenz-, Realitäts- und Wahrheitsfrage geht, schien für eine Reihe führender Literaten und Literarhistoriker seines Jahrhunderts kaum zu existieren. Eine Ausnahme bildete der später noch im Zusammenhang mit Rankes Romantik-Verhältnis zu betrachtende LiteraturÄsthetiker und ordentliche Professor der Philosophie an der Universität Gießen, Joseph Hillebrand (1788-1871. Prantl, Carl von: Hillebrand, Joseph. In: ADB 12, 1880, 415417). Er gab in seinem 1845 und 1846 erschienenen Werk ‚Die deutsche Nationalliteratur seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts‘ ein positives Urteil mit einem bemerkenswerten und seltenen Vorbehalt ab. Ranke werde „vor Andern der Ruhm genetischer Anschaulichkeit, innerer Belebung des Gegenstandes, Kunst der Charakteristik und der Schilderung unangefochten bleiben müssen. Ranke sucht die Geschichte auf den Standpunkt künstlerischer Idealität zu erheben, was als ein lobenswerthes Streben anzuerkennen, wofern dabei die objektive Wahrheit der Sache als das unverrückliche Ziel und Princip aller Darstellung festgehalten wird.“ (III/1846, 432f.). - Anderen literaturnahen Zeitgenossen ging es zumeist nicht um eine dem Historiker zu erteilende Zurecht- oder Zurückweisung dichterischer Ambitionen, sondern lediglich um Lob und Tadel eines durch ihn jedenfalls zu gestaltenden Kunstwerks. Auch Rankes ‚Englische Geschichte‘ wird als „geschichtliches Kunstwerk“ gewürdigt, mit „trefflichen Ueberblicken über das Ganze der Englischen Geschichte in ihrem Zusammenhange mit den Weltereignissen ...“, so Karl Klüpfel in seinem ‚Wegweiser durch die Literatur der Deutschen‘ (4. Aufl. 1870, 155). - Julian Schmidt fühlte sich von Rankes ‚Fürsten und Völkern‘ (I) unbedenklich so unterhalten, „als wenn man einen Roman läse“ (S[chmidt]/1857, 317). Überhaupt sah er dieses Werk als „individuelles Kunstwerk“ an (318). Noch höher schätzte er die ‚Päpste‘ ein. Sie erschienen ihm als das „Höchste“, was Ranke geleistet: „Hier haben wir ein vollendetes, classisches Kunstwerk“, schrieb er in den ‚Grenzboten‘ von 1847 (S[chmidt], J[ulian]: Moderne Historiker/1847, 409). Diese lange über Ranke hinaus wirkende Einschätzung - auch - 202 -
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Alfred von Reumont sah damit „das Geschichtsbuch zu einem Kunstwerk“ erhoben (Reumont/1886, 614) - trug Schmidt noch mehrfach vor. In seiner einflußreichen ‚Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert‘ beurteilte er Rankes „Hauptwerk“ als „... ein Kunstwerk, das in der Tendenz mit der herrschenden ästhetischen Theorie Hand in Hand ging, in der Ausführung sie aber weit zurückließ. Ranke’s wunderbare Kunst besteht darin, die Ideen in den einzelnen Individualitäten zu verkörpern.“ (Schmidt/1853, 328). Noch in einer Ranke-Würdigung seiner letzten Lebensmonate bewunderte er es als „das vollendetste historische Kunstwerk“, „das wir in deutscher Sprache besitzen“ (Schmidt/1886, 230). - Die von Droysen aufgewiesene Problematik (s. u.) war Schmidt dabei fremd: Die ideale Einheit von Geschichtswerk und Kunstwerk, wo eines nicht ohne das andere sein konnte oder sein sollte, war bei ihm innerlich nahezu aufgelöst. Das Werk bleibt ihm ein Kunstwerk, auch wenn die darin herrschende Geschichtsanschauung hinsichtlich ihrer Objektivität nicht standhält (Schmidt: Die Päpste/1875, 388). Konkreter war die Beurteilung des „Meisters“, die vermutlich Friedrich Wilhelm Rettberg 1841 in den ‚Göttingischen gelehrten Anzeigen‘ bei Band III des „wahrhaft Epoche machenden Werks für die Geschichte der Reformation“ (1384) vornahm. Die Darstellung Rankes erinnerte ihn - wie bereits Hegel - an Walter Scott, wozu treffende Beispiele gegeben werden. Die Kritik wiederholte sich 1842 in der ‚Allgemeinen Literatur-Zeitung‘, wo Rettberg bei Besprechung des Reformationswerks in der „Colorierung“ und in der detailreichen Schilderung des „Costümes“ nicht nur den „Charakter des Pikanten“, sondern gerade auch den des „Objectiven“ gefördert sah (517). Gleichwohl erschienen bei Ranke, wie Rettberg schließlich doch hellsichtig vermerkt, häufig kleine Zeichnungen lediglich als „Kunstgriff, um dem Gemälde Leben und Anschaulichkeit zu geben“. Solche Beschreibungen streiften „bis dicht an die Grenze, wo die Geschichte aufhört, und der unebenbürtige Bastard derselben, der historische Roman, beginnt“ (518). Dieses Ranke seit Hegels Urteil verfolgende böse Wort tritt auch und gerade in der Kritik Droysens auf. Die Beanstandung des Rankeschen Darstellungsstils dürfte den berechtigten Teil seiner im übrigen unsachlichen Kritik bilden. Wo andere gerade Rankes Anschaulichkeit lobten, da äußerte Droysen in seinen Historik-Vorlesungen „die größte Scheu“ vor der häufig bis in die kleinsten äußerlichen Details getriebenen Darstellung, „so daß man die Menschen wie leibhaftig vor sich zu sehen meint ... Allerdings nähert sich so die Erzählung der Anschaulichkeit eines historischen Romans.“ Droysen kann sich „nicht bekehren zu diesem falschen Realismus, der freilich dem stumpfen Geschmack des großen Publikums zusagt...“ (Historik ed. Leyh/1977, 239). In der Tat sagte er besonders den ‚Blättern für literarische Unterhaltung‘ zu. Ihr Rezensent sah sich bei Rankes ‚Päpsten‘ „gleichsam durch ihn selbst in jener Zeit...“ leben ([Rez. Nr.] 74/1836, 910). Auch die ‚Berliner Revue‘ hatte ihre Freude an der „wahrhaften Meisterschaft“, mit der „Personen und Verhältnisse anschaulich vor die Seele“ geführt wurden, „als ob wir das vollendetste Kunstwerk vor uns hätten“ ([Anonym:] Ranke über England/1859, 100). Davon genug: Droysen wollte es scheinen, „als wenn man nicht anspruchslos und keusch genug in der Darstellung“ sein könne: „und in dem Maße, als der Historiker mehr seine Kunst zu bewundern Anlaß gibt, um so weniger, dünkt mich, erzielt er den starken sachlichen Eindruck, um den es ihm doch allein zu tun sein darf.“ (240). Der Historiker hat seine Forschungen so weit zu führen, bis ihm alle Äußerlichkeiten, „soweit sie bedingend e i n w i r k e n “ (i. T.), vor Augen stehen, - 203 -
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erst dann habe er „das Recht“, sie „in der Erzählung hinwegzulassen, aber sie werden dann wie ein leiser Hauch um die Worte unserer Erzählung spielen ... und die Phantasie des Lesenden wird sie sich sofort ergänzen und plastisch ausbilden.“ (240). - Auch Dilthey hat einen Eindruck empfangen von dieser Art Realismus. Er hielt es für „bezeichnend genug, daß auch unter uns gerade die neuere kritische Schule, Ranke und Mommsen an der Spitze, in der Kühnheit der Veranschaulichung am weitesten gegangen ist“. Zum Problem wurde ihm dies weiterhin nicht. (Zur Geistesgesch. d. 19. Jh.s, GS XVI/1972, 5f.). * Gegen Anfang der 1870er Jahre nehmen die positiven Stimmen über Rankes Darstellungskunst zu und steigern sich im Umfeld des Neunzigjährigen, vor allem aus nichtfachlichem Munde, ins Superlativische. Mancher Rezensent, besonders in der Ranke stets gewogenen ‚Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung‘, „weiß oft nicht, was er höher bewundern soll: ob die unerbittliche Wahrhaftigkeit des bis zur Wurzel der Ereignisse eindringenden Forschers oder die plastische Hand des Künstlers, welche die Thatsachen dergestalt zu gruppiren und ins rechte Licht zu rücken weiß, daß gleichsam das Factum selbst zur feurigen Zunge des Geistes der Geschichte wird.“ (φ: Leopold v. Ranke, 20. 6. 1869). Das ‚Magazin für die Literatur des Auslandes‘ sieht nun in Rankes Werk „eine Zier auf dem Gebiete deutscher Geschichtsdarstellung“, in einer „Feiertagsstimmung“ [1871!] geschrieben (I. [oder J.]: [Bespr. USK]/1871, 501). Es vereinigten sich darin „historische Objectivität mit eigenen Herzenswünschen in schönster Harmonie“ (502). Rankes Berliner Ehrenbürgerbrief kennt ihn als denjenigen, „welcher, um das Geschehene zu erzählen, die Kunst der Griechen in deutscher Sprache erneute“ ([Anonyme Notiz der Nationalztg./31. 3. 1885, 2). - Für Ludwig Oelsner wird er zum „Vater der modernen deutschen Historiographie, er ist ihr Lehrer sowohl in der Forschungsmethode wie in der Darstellungskunst“ (Festvortr., 20. 12. 1885, 103). Rankes 90. Geburtstag inspirierte auch das ‚Berliner Tageblatt‘ am 20. Dezember 1885 zu einer Gesamtwürdigung, welche sein Hauptverdienst nicht in wissenschaftlicher Methode und schulebildendem Wirken, sondern in seiner Darstellungskunst, nunmehr gar gültig für das Gesamtwerk sah: „Ranke’s Hauptverdienst ist, daß er die Geschichte lesbar gemacht hat, indem er sie unerträglich gewordener Langweiligkeit und Trockenheit entzog. Den dürren Schematismus ersetzte er durch prachtvolle Charakterzeichnung und poesiereiche Schilderung der Thatsachen. Minutiöse Genauigkeit versteckt sich hinter einfach schöner Form, und so wurden alle seine Einzelschriften Kunstwerke.“ ([Anonym:] Leopold v. Ranke. In: Berliner Tagebl., Morgen-Ausg. 20. 12. 1885, 1). Nachdem Eugen Guglia, Rankes erster Buch-Biograph, 1893, am Ende seiner Darstellung die überraschende rhetorische Frage gestellt hatte, ob Rankes Lebenswerk „nicht aus einer Kette von Irrtümern zusammengesetzt“ gewesen sei (Guglia/1893, 404), suchte er sich mit dem unbefriedigenden Gedanken zu beruhigen, Rankes Werk sei „schön, schön wie die Geschichten des Herodot und des Thukydides, schön wie Sophokles, wie Homer, wie Goethe. Wäre es ein Schauspiel nur, so ist es ein göttliches“ (406).
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4. Kapitel (I/2.1.4) DAS SCHEITERN DER POLITISCHEN PUBLIZISTIK RANKES Die Aufnahme der ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ 1832-1836 Rankes im Auftrag der preussischen Regierung in den Jahren 1832 bis 1836 herausgegebene ‚Historisch-politische Zeitschrift‘ ist als staatlich gelenkte Reaktion auf die französische Juli-Revolution mit den sich anschließenden Bewegungen in mehreren europäischen und deutschen Staaten zu verstehen. Das Organ ging nach - schließlich veränderten - Ideen von Friedrich Perthes aus Verhandlungen mit Rankes Kollegen und Förderer Savigny, mit Graf Bernstdorff, Eichhorn, und dem gebildeten und sehr interessierten preußischen General und Militärschriftsteller Rühle von Lilienstern hervor. Man war sich einig, daß die „Hefte als wesentlicher Theil der Anstalten zur Leitung öffentlicher Meinung“ eingesetzt werden sollten, wie Perthes an Rühle schrieb. Der preußische Staat könne „an Ranke einen großen Schatz gewinnen, nicht allein für die Wissenschaften, sondern auch als Publicisten, und daß er dies werde, kann die Herausgabe den Lehrcursus machen.“ (12. 11. 1831, Aus den Papieren der Familie von Schleinitz/1905, 238f.). - Savigny stellte den beiden Grimm das Unternehmen vor: „... Nun soll hier eine Zeitschrift herauskommen unter der Leitung unsres Ranke, der ein braver, frischer Mensch ist, und woran auch ich Theil zu nehmen denke ... Ihr Character soll seyn friedlich und versöhnend, das Wahre willig anerkennend selbst in jeder Übertreibung, und nur das Unwesen mit hohlen Worten und Formen abweisend, nur gegen Unterdrückung und Despotismus und Intoleranz soll sie intolerant seyn. Ohne Haß, vielmehr mit Liebe, auch gegen andere Völker, soll sie eine nähere Familienliebe zu allem Deutschen darlegen ... (13. 12. 1831, Stoll II/1929, 441). Im Gegensatz zu ihrer späteren, im besonderen auf zwei ihrer Beiträge gründenden Hochschätzung, wurde sie von zeitgenössischen Lesern weitgehend abgelehnt und dann nahezu vergessen. Bei gelegentlicher Anerkennung geistvoller Betrachtungen bemerkten oder unterstellten die Vorwürfe entweder eine illiberale Haltung oder deren allzu schwache Formulierung oder ein Schwanken, Zweideutigkeit, eine tatsächliche oder vorgebliche Standpunktlosigkeit, Praxisferne. Vielfach herrschten mangelndes Verstehen und Ratlosigkeit, so daß die Zeitschrift - auch wohl aufgrund mangelnder Beiträgervielfalt und des quantitativen wie qualitativen Anspruchs der Beiträge zu wenig Leser fand. Insgesamt ist auch hier in Rankes literarisch-politischem Wirken neben seiner Obrigkeitsverbundenheit das Objektivitätsproblem im Hintergrund wirksam, bei dem aus seiner Sicht Unparteilichkeit notwendig und möglich ist. Denn seine Absicht war, „nach und nach das Wichtigste zu umfassen, was ein denkender Zeitgenosse zu erfahren wünschen kann, um seine Zeit nicht nach irgend einem Begriff, sondern in ihrer Realität zu verstehen und völlig mitzuleben. Dies in dem Geiste eingehender Erforschung zu versuchen, in dem Geiste reiner und unparteiischer Wahrheitsliebe, das ist unser Vorsatz.“ (HPZ I,1/ 1832, 8). Gerade dies wurde bestritten. Das im Februar 1832 erschienene erste Heft rief bereits im Folgemonat entsprechende Reaktionen hervor. Zunächst war es wohl das ebenfalls im Regierungsauftrag tätige ‚Berliner Politische Wochenblatt‘, welches vermutlich durch seinen erzkonservativen Herausgeber Karl Ernst Jarcke (1801-1852) in einer ‚Außerordentlichen Beilage‘ das Schwesterunternehmen nicht ohne einen speziellen Tadel begrüßte. Der Jurist - 205 -
I/2.1.4. Geschichtsdenken seiner Zeit - Scheitern der politischen Publizistik
Jarcke war übrigens, wie Ranke, 1825 in Berlin zu einer außerordentlichen Professur gelangt (Winter, Eduard: Jarcke, Karl Ernst. In: NDB 10/1974, 353 f.) und wie dieser Instrument weitreichender preussischer Kultur- und Indoktrinationspolitik geworden. Gerade einer „Doktrin“ hatte sich Ranke ausdrücklich entschlagen wollen. Dieser Vorsatz wurde ihm nun vorgeworfen. Zieht der Rezensent doch „insbesondere in Zweifel“, daß es „wirklich eine Aufgabe unserer Zeit sey, sich der Doctrin zu entäußern“ ([Anonym, Karl Ernst Jarcke]/3. 3. 1832, 60). Tatsächlich verfüge auch Ranke über eine bewußte oder unbewußte Doctrin, wie sein Aufsatz über einige französische Flugschriften zeige: „In dem was er über die Flugschrift von Thiers ... gesagt, liegt die schärfste Kritik der politischen Lehre des s. g. Juste milieu, deren unsittliche Geistlosigkeit wir uns nicht erinnern in irgend einer anderen Schrift so scharf characterisirt gefunden zu haben.“ (60). Im übrigen gebe es vielleicht „unter allen deutschen Geschichtschreibern wenige“, die wie Ranke die „Gabe der historischen Intuition in so hohem Grade, als angebornes Talent besäßen, wie der Verfasser der Zeitschrift“ (59f.). Lediglich eine von atmosphärischem Wohlwollen umhüllte Inhaltsübersicht gab das von Rankes Leipziger Philologie-Lehrer Christian Daniel Beck redigierte ‚Allgemeine Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1832‘. - Zu den Leipziger Lehrern Rankes gehörte auch der bereits betrachtete Geheime Rath Karl Heinrich Ludwig Pölitz. In seinen ‚Jahrbüchern der Geschichte und Staatskunst‘ verfaßte er nun wohlwollende Besprechungen der ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ und attestierte nicht unzutreffend „Gründlichkeit der Forschung“, „Ruhe und Mäßigung einer - im Ganzen zum Princip der Stabilität sich hinneigenden Politik, ohne doch das, selbst historisch begündete, Recht besonnener Reformen auszuschließen, und dieselbe Würde der stylistischen Darstellung ...“ ([Anonym: Bespr. HPZ II, 1/1833]/1833, 450-462, hier 450) u. (P[ölitz, K. H. L.: Bespr. HPZ I, 4/1833, 91-96]. - Interessanter ist der für Ranke völlig bezeichnende Hinweis, den Pölitz mit der Bemerkung liefert, statt, wie Ranke, „den Wechsel der auswärtigen Verhältnisse“, möchte er selbst mehr die innere Zerrüttung zu den Ursachen der Französischen Revolution rechnen. (455). Anders der am ‚Akademischen Gymnasium‘ in Hamburg tätige Professor der Geschichte, Christian Friedrich Wurm (1803-1859, s. Wohlwill, Adolf: Wurm, Christian Friedrich. In: ADB 44/1898, 326-332). Er redigierte seit ihrer Gründung im Jahre 1830 die ebenda erscheinenden ‚Kritischen Blätter der Börsen-Halle‘. Mit großer Wahrscheinlichkeit (auch Moldenhauer/2008, 554f mit A. 505f. hält ihn für den Vf.) aus der Feder des sich in seinen politischen Artikeln „unumwunden zu liberalen Anschauungen“ bekennenden, doch „aller radicalen Kundgebungen“ sich enthaltenden Wurm (Wohlwill, ebd.), stammen zwei Besprechungen von Rankes Zeitschrift vom März und Juli 1832, die ganz in diesem Sinne geschrieben sind. Auch hier sei - in Rankes Aufsatz ‚Ueber die Trennung und die Einheit von Deutschland‘ (HPZ I/2, 340388) - die „historische Entwickelung ... „sehr anziehend“, und der „doctrinaire Effect meisterhaft berechnet“ (Wurm, 2. 7. 1832, 211). Dies bedeutete nicht weniger als Zweifel an Rankes politischer Tendenzlosigkeit als Entsprechung der in seiner BuchHistoriographie beanspruchten Unparteilichkeit. Der erste Aufsatz Rankes - ‚Ueber die Restauration in Frankreich‘, HPZ I/1, 9-76) - werde „wohl ohne Widerspruch für den belehrendsten erklärt werden, der in deutscher Sprache innerhalb der gesteckten Gränzen versucht worden“ (Wurm, 5. 3. 1832, 75). Jedoch beklagt Wurm „das Behutsame des Ausdrucks“, mit dem Ranke die ständischen Verfassungen - „wie über glühende Kohlen“ gehend - behandele, welche nach dessen Worten „Gefahr fast allenthalben in - 206 -
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unsern Zeiten hervorzurufen g e s c h i e n e n h a b e n “ (76, Sp. i. T.). So hält Wurm es für unentschieden, ob Ranke „das in Deutschland bestehende Repräsentativsystem billigt oder mißbilligt“ (78). Und auch die Bundesverhältnisse würden - selbst da, „wo es unmöglich war sie ganz zu ignoriren“, nämlich in Rankes Aufsatz ‚Ueber die Trennung und die Einheit von Deutschland‘ -, „nur so leise als möglich berührt“ (213). Die im April erscheinenden ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ gingen in einer Folge ihrer ‚Briefe über die Zeit, Ansichten, Begebenheiten und Menschen‘ nicht von allgemeinen Gesichtspunkten der Beurteilung aus, wurden stattdessen bei einem Detail des Eröffnungsbeitrags der Zeitschrift, betitelt ‚Ueber die Restauration in Frankreich‘ (HPZ I/1, 1832, 9-76), deutlicher: Auch Rankes Zeitschrift wird der „in der politischen Literatur Preußens“ verbreitete „Charakter der Unwahrheit“ zugesprochen, indem der Rezensent Ranke einer „Lüge“ überführt zu haben glaubt, die darin bestehe, bei der „Rückkehr Ludwigs XVIII. nach Paris (1813) hätten sowol er als seine Umgebungen, und überhaupt die ehemaligen Ausgewanderten, alle Pläne der Wiederherstellung des alten Frankreichs, wenn sie dieselben überhaupt je gehegt, ganz aufgegeben.“ ([Vf. Nr.] 97/1832, 505f.). - Die ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ führten ihre Kritik am 5. und 6. Mai mit einer anonymen Besprechung von Heft 1 fort. Daß sie tatsächlich von dem Philologen und Altertumsforscher Ludwig Roß (1806-1859) stammt, wie der Rankeforscher H. F. Helmolt ohne Begründung annahm (Helmolt: R.-Bibliogr./1910, 52 u. Helmolt/1921, 183, A. 119), ist m. E. wegen dessen gänzlich abweichender Interessenlage und seinem am 23. Mai vollzogenen Aufbruch nach Griechenland (Baumeister, A.: Roß, Ludwig. In: ADB 29 (1889), 246-253) von geringer Wahrscheinlichkeit. Die unverblümte Besprechung ist jedenfalls beachtenswert. Es heißt darin: „... Herr Ranke hat nun freilich wol einen en ts ch ie den en Standpunkt; es ist der Berolinismus vom Spätjahr 1830; aber statt sich entschieden dazu zu bekennen, was gleich von vorn herein das nöthige Licht in seine Zeitschrift bringen würde, gibt er sich in der Einleitung die Miene, als wolle er einen rein objectiven Standpunkt nehmen ...“ ([Vf. Nr.] 50/1832, 543). Die Tendenz des Aufsatzes ‚Ueber die Restauration in Frankreich.‘ [HPZ I/1, 9-76] sei „mit wenig Worten diese, das ganze Treiben und Streben des französischen Volkes seit 1789 als ein eitles, nichtiges, auf keine Nothwendigkeit gegründetes, keines Zieles sich bewußtes zu verdächtigen. Diese ganze Periode des Ringens nach gesetzmäßiger Freiheit wird unter dem Namen der Revolution kurzhin verdammt ... (544). - „... So wie er sich jetzt gibt, die eine Richtung tadelnd, ohne der andern entschieden das Wort zu reden, verfehlt er alle Wirkung auf den Leser; der Mangel an festem Gehalt, das Ausbleiben eines festen Resultats wird durch das viele Treffliche in der Form und im Einzelnen nicht ersetzt; es bleibt dem Leser sogar ein Zweifel, ob Herr R. seinen Standpunkt aus Ueberzeugung, oder nur nach den Umständen genommen hat.“ (548). - Eine unter dem Kürzel Hn. wohl von A. H. L. Heeren, dem damaligen Redakteur, stammende Besprechung von Band I der Rankeschen Zeitschrift, welche unter dem 1. April 1833 in den ‚Göttingischen gelehrten Anzeigen‘ erschien, hatte, zumeist referierend und weder politisch noch historisch zu nennen, wenig Eigentümliches an sich, es sei denn, daß sie bei ihrem Lob eine deutlich konservative, beschwichtigend versöhnende Haltung an den Tag legte: Die Aufsätze geben nach Auffassung des Rezensenten „immer Stoff zu ruhigem Nachdenken, welches uns bey dem jetzt herrschenden Geiste das erste und größte Bedürfniß scheint“ (522). Auch appelliert er an die loyale Einsicht, „wie wenig Regenten und ihre Minister, auch bey dem besten Willen, auszurichten vermögen, wenn nicht das Volk ihnen entgegen - 207 -
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kommt“ (526). Dabei ist wohl zu berücksichtigen, daß Heeren mit Perthes, dem Verleger der Rankeschen Zeitschrift, befreundet war. Zurück zu den ‚Blättern für literarische Unterhaltung‘. Diese unterzogen sich im Dezember des Jahres 1833 einem starken Wandel. Es ist nun in erster Linie eine „Vertheidigung“ der Zeitschrift Rankes „gegen den ihr gemachten Vorwurf der Unfreiheit“ beabsichtigt ([Vf. Nr.] 204/1833, 1386). Rankes Name gilt als „geachtet und mit Auszeichnung bekannt unter den Historikern Deutschlands“ (ebd.). Es gehört zur unfreiwilligen Ironie des Beitrags, daß er sich in lobender Weise mit zwei heute kaum mehr beachteten staatswirtschaftlichen Beiträgen befaßte (über Handelspolitik von Ranke und über Benutzung und Ertrag der Landgüter von Georg Wilhelm Kessler) und den später bekanntesten und folgenschwersten allgemeinhistorischen Essai aus der Feder Rankes ablehnte. Tatsächlich entspricht der 1833 als Eingang des zweiten und letzten Bandes erschienene Aufsatz ‚Die großen Mächte. Fragment historischer Ansichten‘ „den Erwartungen keineswegs“ (1394). Dieser „Ueberblick des Ganzen der äußern Politik Europas“ sei zwar „meisterhaft geschrieben“, doch die Darstellung bleibe „im Aeußern stehen“, habe „keinen wahren, geistigen Inhalt“ (ebd.). Der Hegel zugeneigte Rezensent verlangt vielmehr die Darstellung eines in jedem Teil der Geschichte waltenden allgemeinen „inneren Princips“, auch in den von Ranke genannten „einzelnen Kräften“. Dies könne nur sein „der menschliche Geist“ in seiner Entwicklung (ebd.). Ein Rezensent der ‚Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ - als Verfasser schlug Helmolt (R.-Bibliogr./1910, 26) Chr. Friedr. Mühlenbruch, Varnhagen von Ense oder Koeppen vor - fand in der programmatischen Einleitung Rankes statt „Klarheit“ vielmehr „Nebelgestalten“ vor, kein „kräftiges, entschiedenes Hervortreten“, sondern ein „verzagtes Hin- und Herschwanken“, vor allem auch hinsichtlich des Verhältnisses von politischer Praxis und der von Ranke stark problematisierten Theorie (En./1833, Sp. 193). Nach insgesamt bemerkenswerten, z. T. auch positiven Feststellungen äußert der Rezensent abschließend die Überzeugung. „daß eine in dem Sinne geschriebene Zeitschrift ... zu den wahren Bedürfnissen unserer Zeit gehört, und daß sie um so nützlicher wirken wird, je mehr sie Klarheit und Sicherheit gewinnt.“ (Sp. 200). - Die ‚Leipziger Literaturzeitung‘ gab sich Mühe in der Betrachtung eines jeden einzelnen Beitrags der vier Hefte des ersten Bandes. Die allgemeinen Feststellungen des Rezensenten sind vor allem folgende: „Ist es auch eine wesentlich antifranzösische Richtung, die hier sich geltend macht, so ist es doch weder das weiland Deutschthum von Arndt und Vater Jahn, noch das Preussenthum Raumers. Beyden, wie dem Treiben der französischen Schule, ist es geistig weit überlegen. Was aber ist es?“ (Ch. U./1833, Sp. 196). „Skepsis ist der Charakter dieser Zeitschrift.“ (Ebd.). „Ueberall Winke, Andeutungen, Fingerzeige, nirgends offenes, männliches Aussprechen.“ (Sp. 197). - „Wir wollen die vielen geistvollen Beobachtungen, die in dieser Zeitschrift niedergelegt sind, dankbar anerkennen. Aber erklären müssen wir uns gegen das Streben, das die Forderungen der Zeit bezweifelt, statt ihr Wesen und ihren Grund oder Ungrund mit Gründen zu entwickeln, das ihre Bestrebungen als nichtig und bedrohlich zu schildern sucht, ohne der Bedrängniss einen sicherern Lösungsweg zu eröffnen. Eine treffliche Taktik, die Gegner des Liberalismus in ihrer Abneigung, die Unentschiedenen gleichgültig zu erhalten.“ (Sp. 203). Eine der letzten Anzeigen - von einer Besprechung kann keine Rede sein - fand sich in der bei Rankes ‚Preußischer Geschichte‘ noch zu betrachtenden regierungsnahen und -abhängigen ‚Literarischen Zeitung‘. Sie erschien - wie das angezeigte Heft - 208 -
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im Verlag Duncker und Humblot, was ohne jeglichen Tadel zu dem Urteil führte: „Hier ist kein leeres politisches Räsonnement; hier ist gründliche Forschung, genaue Kenntniß der Verhältnisse, wohl erwogenes Urtheil“ ([Anonym: Bespr. von HPZ II/4]/10. 8. 1836, Sp. 638). Eine der frühesten lexikalischen Berücksichtigungen Rankes findet sich im ‚Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur‘ von 1833. Die Hauptaussage des recht gut informierten Artikels liegt in der Gegenüberstellung der „ausgezeichneten Darstellungen“ eines der „geistreichsten deutschen Geschichtschreibers“ ([Anonym, Vf. (47) Artikel:] Ranke (Leopold)/1833, 686) mit dessen „weniger erfolgreich zu nennender Theilnahme an der Tagespolitik“ (ebd.) in der ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘. Ranke scheine hierin „über die Zeit und ihre wichtigsten Fragen zu wenig eins mit sich selbst zu sein“ (687). In der Art und Weise, wie er die Partei des ‚Berliner politischen Wochenblatts’ repräsentiert habe, als dessen „Nebenläufer“ seine Zeitschrift ursprünglich bestimmt gewesen sei (686), finde sich „so viel mit Absicht zweideutig Gestelltes, daß für das lesende Publicum nur unangenehme, für die Sache selbst nur schiefe Resultate dabei herauskommen.“ (Ebd.). Der Artikel schließt mit der Bemerkung: „Aus dem Geiste des Mittelalters ist sein ganzer genialer Charakter als Geschichtschreiber hervorgegangen, freilich aber auch die weniger erfreuliche Färbung seiner politischen Ansichten.“ (687). Nichtöffentliche Urteile über Rankes Zeitschrift sind unterschiedlicher als die veröffentlichten. Sein konservativer Förderer Savigny bemühte sich allenthalben um Beiträge. Der bereits erwähnte Einsatz bei den Grimms, seinen Schülern, blieb, trotz mehrmaliger Vorstöße, erfolglos. Jacob antwortete ihm am 24. Juli 1832, er habe „wirklich den guten willen gehabt ... etwas über die hessischen verhältnisse aufzuschreiben und Ihnen für Ranke mitzuteilen. Bei näherer überlegung sammelten sich aber auch immer gründe, die es zu tun widerrieten ... In der zeitschrift finde ich vieles schön und wahr gesagte, es ist darin das meiste sanft und mit bleistift gezeichnet, während auf unser publicum jetzt nur stark aufgetragne farben eindruck machen.“ (Briefe der Brüder Grimm an Savigny/1953, 370f.). Savigny sah ganz andere Dinge als lobenswert an, als er sich werbend an Friedrich Bluhme wandte mit der Empfehlung von Rankes Artikel über Consalvi (I/4), der „ungemein viel gesunden, eindringenden Verstand“ besitze (1. 3. 33. Savigny Briefw. mit Bluhme/1962, 245). Friedrich Christoph Dahlmann hingegen hatte damals „manche Streitzüge ... z. B. gegen Rankes Politische Zeitschrift“ beabsichtigt, aber dann doch aufgegeben, wie noch zu dessen Lebzeiten bekannt wurde (Springer I/1870, 377). In seiner bedeutenden Schrift ‚Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt‘ (Gött. 1835, 2. Aufl 1847. Zitate nach Ausg. 1924) hat sich Dahlmann ebenfalls zurückgenommen. Man trifft lediglich auf kurze Hinweise zum Thema ‚Volkssouveränität‘ (195) in den Aufsätzen Rankes ‚Die großen Mächte‘ und ‚Die Idee der Volkssouveränetät [!] in den Schriften der Jesuiten’, sowie (184ff.) auf Band II der ‚Päpste‘. Auch von Interesse (189f.) ist Dahlmanns dortige Auffassung Machiavellis unter Heranziehung von Gervinus (Histor. Schrr., 1833). Im übrigen enthält die Schrift nur noch Hinweise auf Beiträge Savignys zu Rankes Zeitschrift: ‚Die Preussische Städteordnung’ (212, 217f.) und ‚Wesen und Werth der deutschen Universitäten‘ (253). Zu den wenigen uneingeschränkten Verehrern und eifrigen Lesern Rankes in den Jahren der ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ gehört Karl Leberecht Immermann (1796-1840), Poet und Theatermann. Er vermerkte 1832 [in Ed. nicht genauer datiert] - 209 -
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in seinem Tagebuch: „Ranke’s neue politische Zeitschrift ist eine höchst anregende Erscheinung, seine Ansicht über die Charte [Eine Bemerkung über die Charte von 1830. HPZ I/1/1832, 103-113] ist mir besonders interessant.“ (Immermann. Sein Leben und seine Werke I/1870, 346). Immermanns Briefwechsel zeugt ebenfalls von einem großen anhaltenden Interesse, das er auch bei anderen anzuregen bestrebt war, so bei dem frühverstorbenen jüdischen Dramatiker Michael Beer (1800-1833. Immermann. Briefe II/1979, 34), vor allem aber in seiner Korrespondenz mit Amalie von Sybel. Ihr schrieb er am 8. März 1833: „In beiliegendem Hefte [HPZ I/4] finden Sie einen Aufsatz über Pius 7 u. Consalvi aus dem das Individuell-Historische und Persönliche Sie interessiren wird.“ (II, 151). Auch auf Ranke ‚Päpste‘ machte er lobend aufmerksam (II, 324f.). - An Dieselbe, nach dem 6. Dez. 1834: Ihn erinnert der gerade verstorbene Adolph von Lüzow „immer an Don Juan d’Austria, wie ihn Ranke [in FuV I] gezeichnet hat.“ (II, 367). Ein Einfluß des Immermannschen Ranke-Interesses auf den Sohn Amaliens, den jungen Heinrich v. Sybel, wurde bisher nicht beachtet, ist aber doch anzunehmen. Auch in der Korrespondenz von Friedrich August von Stägemann (1763-1840) mit Friedrich Cramer (1779-1836) ist der Zeitschrift Rankes gedacht. Der Literat und Historiker Cramer, der auch Umgang mit Rankes Bruder Ferdinand hatte, schreibt am 31. Mai 1832 an den preußischen Staatsmann und Dichterkollegen Stägemann: „So vernünftig auch im Ganzen genommen der Inhalt der Ranke’schen Zeitschrift ist, so gestehe ich doch gern, dass er mich nicht sonderlich angezogen hat. Geschichtsforschungen in den Regionen des Mittelalters, scheinen das Fach zu seyn, für welches der Mann mit mehr Talent ausgerüstet ist, als für die gar bewegliche moderne Politik, welche sich nicht gut auf dem Berlinischen Professorenleisten fixiren lässt.“ (Briefe und Aktenstücke III/1902, 503. Siehe dort auch 540). Ranke hatte Heinrich Heine (1797-1856) gegen Ende 1828 in Venedig kennengelernt (s. II/7). Der in nahezu jeder Hinsicht ein Gegenbild darstellende Dichter goß denn auch seinen Spott in einem Aufsatz betitelt ‚Verschiedenartige Geschichtsauffassung‘ über Ranke aus, ein Aufsatz, der von Anfang der 1830er Jahre stammt und noch zu Ranke Lebzeiten und wohl auch Pein im Jahre 1869 veröffentlicht wurde. Er enthält deutliche Anspielungen auf Ranke, dessen italienische Archivreise und die ‚Historisch-politische Zeitschrift‘: „…in der kleinen Chronik von Hoffnungen, Nöten, Mißgeschicken, Schmerzen und Freuden, Irrtümern und Enttäuschungen, womit der einzelne Mensch sein Leben verbringt, in dieser Menschengeschichte sehen sie auch die Geschichte der Menschheit. In Deutschland sind die Weltweisen der Historischen Schule und die Poeten aus der Wolfgang Goetheschen Kunstperiode ganz eigentlich dieser Ansicht zugetan, und letztere pflegen damit einen sentimentalen Indifferentismus gegen alle politischen Angelegenheiten des Vaterlandes allersüßlichst zu beschönigen. Eine zur Genüge wohlbekannte Regierung in Norddeutschland weiß ganz besonders diese Ansicht zu schätzen, sie läßt ordentlich Menschen darauf reisen, die unter den elegischen Ruinen Italiens die gemütlich beschwichtigenden Fatalitätsgedanken in sich ausbilden sollen, um nachher, in Gemeinschaft mit vermittelnden Predigern christlicher Unterwürfigkeit, durch kühle Journalaufschläge das dreitägige Freiheitsfieber des Volkes zu dämpfen. Immerhin, wer nicht durch freie Geisteskraft emporsprießen kann, der mag am Boden ranken; jener Regierung aber wird die Zukunft lehren, wie weit man kommt mit Ranke und Ränken.“ (Heine: Werke u. Briefe V/1961, 377f.). - In der Vorrede seiner ‚Französischen Zustände‘ (Werke Bd. IV, 361-581) - 210 -
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datiert vom 18. Okt. 1832, erschienen 1833, klagt Heine, und wieder hört man ein wenig Hegel und Leo mitreden: „Dieses Preußen! wie es versteht, seine Leute zu gebrauchen!“ (374) … „Wie manch schöner Name, wie manch hübsches Talent wird da zugrunde gerichtet für die nichtswürdigsten Zwecke … Aber nicht bloß die Großen, sondern auch die Kleinen werden ruiniert. Da ist der arme Ranke, den die preußische Regierung einige Zeit auf ihre Kosten hat reisen lassen, ein hübsches Talent, kleine historische Figürchen auszuschnitzeln und pittoresk nebeneinanderzukleben, eine gute Seele, gemütlich wie Hammelfleisch mit Teltower Rübchen, ein unschuldiger Mensch, den ich, wenn ich mal heurate, zu meinem Hausfreunde wähle und der gewiß auch liberal - dieser mußte jüngst in der Staatszeitung eine Apologie der Bundesbeschlüsse [vom 28. 6. u. 5. 7. 1832, s. II/150f.] drucken lassen. Andere Stipendiaten, die ich nicht nennen will, haben Ähnliches tun müssen und sind doch ganz liberale Leute.“ (375). In den laut Herausgeber im einzelnen schwer zu datierenden ‚Aphorismen und Fragmenten‘ Heines (WW VII/1962, 361-432), zuerst 1869 veröffentlicht, findet sich Folgendes zu Ranke: „Ranke - puce travailleuse - Raumer - lederner Hanswurst Johannes von Müller - Vergleich mit Klopstock, den jeder rühmte und keiner las, steiflangweilig, Alpen und keine Idee darauf. Wir glaubten ein Epos und einen Historiker zu haben - Ranke und Johannes von Müller -“ (397). - Der genannte - anonyme Artikel der ‚Allgemeinen Preußischen Staatszeitung‘ (Nr. 220, 9. 8. 1832, 881) erfuhr nicht allein durch Heine eine Zuschreibung, sondern auch durch den mit ihm in Briefverkehr stehenden Varnhagen. Der schrieb, freilich an den Fürsten Hermann von Pückler-Muskau (1785-1871), am 13. August 1832: „In jedem Fall würde ich mir auch, hätte ich in diesen Dingen etwas zu sagen und zu rathen, die schwächliche, kleingehackte Vertheidigung verbeten haben, die durch Professor Ranke in der ‚Staatszeitung’ für jene Beschlüsse versucht worden ist.“ (Briefwechsel u. Tgbb. PücklerMuskau, III/1874, 113. - Auf der Linie Heinescher Ironie lagen auch Bemerkungen über Rankes Zeitschrift in dem mehrfach herangezogenen Aufsatz von Karl Friedrich Köppen in den ‚Hallischen Jahrbüchern‘ über ‚Die berliner Historiker‘. Er wertete das Blatt als „historisches Schellengeklapper“ zur Besänftigung der „guten Deutschen, die nach der Julirevolution etwas unruhig geworden waren“ ([Köppen]/1841, Sp. 435). Dies rief den Widerspruch eines Anonymus der ‚Augsburger Allgemeinen Zeitung‘ hervor, der Ranke als „wissenschaftliche Notabilität“ ([Anonym] 11. 6. 1841) vor diesem Angriff in Schutz zu nehmen suchte, was wiederum von Arnold Ruge (18021880) als Intimus Köppens und Herausgeber der ‚Deutschen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst‘, vormals ‚Hallische Jahrbücher‘, nicht geduldet wurde. Es gehe nicht an, so schrieb er, Ranke, „dies berliner Stadt- und Autoritätskind“ mit dem großen Republikaner Thukydides zu vergleichen (Ruge/1841, 138). Die Resonanz auf Rankes gescheitertes Zeitschrift-Unternehmen wird in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zusehends schwächer. Hin und wieder findet sich noch eine Anspielung in Nachschlagewerken oder Literaturgeschichten. Das von einer „Gesellschaft deutscher Gelehrten“ bearbeitete ‚Conversations-Lexikon der neuesten Litteratur-, Völker- und Staatengeschichte. Ein umfassendes Gemälde der Jahre 1830-1844. Ein unentbehrlicher Supplementband zu jedem Conversationslexikon‘ schrieb in einem nicht gezeichneten Ranke-Artikel auch verteidigend über seine Zeitschrift. Hierin habe Ranke den Nachweis versucht, „daß die liberalen Tendenzen der Zeit den gegebenen Umständen gegenüber zu abstrakt geltend gemacht würden, daß nur eine organischstätige Fortbildung der historischen Grundlagen Bestand und Dauer gewinnen könne. - 211 -
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Es war natürlich, daß eine solche Ansicht vielfache Gegner finden mußte, die den Historiker als einen Feind der Freiheit verketzerten und ihn ohne Weiteres mit dem ‚Berliner politischen Wochenblatt‘ zusammenwarfen, mit jener historischen Politik, die sich historisch nennt und doch alle Historie negirt, die nichts ist, als die reflektirte Rückkehr zur mittelalterlichen Unmittelbarkeit.“ Ranke sei „von solchen Tendenzen stets weit entfernt gewesen“ (Bd. II/1845, 386). Dem mehrfach erwähnten Liberalen Heinrich Kurz konnte nach Festungshaft und anderen von der Obrigkeit bereiteten Unzuträglichkeiten (s. Naundorf, Gert: Kurz, Heinrich. In: NDB 13/1982, 334 f.) Rankes Zeitschrift nicht zusagen. In seiner ‚Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller‘ ließ er die Bemerkung fallen, sie huldige „bei scheinbarer Freisinnigkeit und unter dem Vorwande das Bestehende zu erhalten und organisch fortzubilden, dem Rückschritt“ (III/1859, 697). Der bereits mehrfach herangezogene Demokrat Johannes Scherr, der ähnliche Erfahrungen wie Kurz gemacht hatte, sah in seinem Aufsatz über ‚Geschichtschreibung und Geschichtschreiber der Gegenwart‘ die ‚Historisch-politische Zeitschrift‘ in Nähe zum ‚Berliner politischen Wochenblatt‘, denn Rankes Äußerungen hätten „nicht selten mit den Versumpfungspredigten von Jarcke und Komp. eine sehr bedeutende Ähnlichkeit“ gehabt (Scherr IV/1862, Zitate nach 1864, 171). - Übrigens teilte auch rund 50 Jahre nach dem Ende der Zeitschrift Rankes überaus selbständiger und selbstbewußter Meisterschüler Heinrich von Sybel, sogar in seinem offiziösen Akademie-Nekrolog auf Ranke, mit erstaunlich harten Worten die vielstimmige Einschätzung, die Zeitschrift sei „in keiner Weise zu kräftiger politischer Einwirkung geeigenschaftet“ gewesen und habe „nur die Wirkung“ gehabt, daß Ranke „vor der gesammten liberalen Welt als serviler Anhänger des Alten verklagt“ worden sei (Sybel: Gedächtnisrede/1886, HZ-Fassung, 477). - Gefördert wurde diese Entwicklung durch das Erlebnis der 1848er Revolution, das Ranke in eine „Reaktion“ trieb, „die alles Maß und Ziel überschritt, und sein Haß gegen den Liberalismus, dem er die ganze Schuld jener Unruhen aufbürdete, hat seit dieser Zeit geradezu etwas Krankhaftes ... für Jeden, der sich mit Ranke genauer beschäftigt hat, ist es wol klar, daß er zur Politik keinen Beruf hat.“. Solches vermittelte Julian Schmidt den Lesern der ‚Illustrirten Zeitung‘ im Jahre 1857 (10836 [Schmidt, Julian]/24. 1. 1857, 79).
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5. Kapitel (I/2.1.5) DAS ‚ RELIGION SW ERK ‘ UND SEINE AUFNAH ME ‚Die römischen Päpste‘ - ‚Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ 1834-1847 Vorb emerkung (I/2.1.5.0) ‚Die römischen Päpste im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert‘, dreibändig in den Jahren 1834 bis 1836, und die ‚Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation‘, sechsbändig in den Jahren 1839 bis 1847 erschienen, stellen - in der Mitte seines Lebens - die Höhepunkte im historiographischen Schaffen Rankes dar. Sie wurden und werden, zumal die ‚Päpste‘, weithin als seine Meisterwerke betrachtet. Zu seinen Lebzeiten erreichten sie acht, die ‚Deutsche Geschichte‘ sechs Auflagen und übertrafen damit jedes andere seiner Werke bei weitem. Das große Interesse schlug sich auch in der Zahl der Besprechungen nieder. (Zu den ‚Päpsten‘ konnten etwa 45, zur ‚Deutschen Geschichte‘ etwa 40 ermittelt werden). Neben der konfessionellen Diskussivität begünstigten die weiten zeitlichen Dimensionen und die Internationalität des Päpste-Themas auch das ausländische Interesse. Eine erste Übersetzung erschien bereits 1838 in Frankreich, der man allerdings bereits 1840 in England nachsagte, sie sei „gone to sleep“ ([Anonym: Bespr. PÄPSTE/Übers. Austin I-III in:] The Church of England Quarterly Review IX, 1841, 302). Ganz anders die Situation in England, wo das aus anglikanischer Sicht papale Reizthema zu Rankes Lebzeiten, beginnend 1840, sogar weit mehr Ausgaben und Auflagen als in Deutschland hervorbrachte. Hingegen wurde der 1844 erscheinenden mäßig erfolgreichen Übersetzung der ‚Deutschen Geschichte‘ nie eine französische an die Seite gestellt. Dies im Zusammenhang einer dort noch heute erheblich geringeren Ranke-Beachtung. Auch anderwärts nahm man sie nicht zur Kenntnis. Eine Ausnahme stellt eine türkische Übersetzung von 1953 dar. Beide Werke haben sich bis heute, zumindest beim nichtfachlichen deutschen Lesepublikum, eine gewisse Attraktivität erhalten können. Gemessen an der Gesamtzahl ihrer Ausgaben und Auflagen dürften sie im deutschsprachigen Raum überhaupt zu den meistgelesenen oder -nachgefragten Werken der Geschichtswissenschaft gehören. Die gesteigerte Bedeutung des Protestantismus im allgemein-kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Leben, begleitet von konfessionellen und staatlichkirchlichen (Kölner Wirren) Auseinandersetzungen, von Mischehen, die nicht nur in den Beziehungen Friedrich Wilhelms IV. und Maximilians II. eine auffallende Rolle spielten und von Konversionen, die tief in das persönliche Schicksal manches Autors und Kritikers eingriffen, förderte in ihrer Zeit das Interesse an Rankes beiden Religionswerken erheblich. Ein anonymer Rezensent seiner ‚Deutschen Geschichte‘ sah ihren Verfasser als vom Schicksal besonders begünstigt an, da er, „wie von innerer Ahnung getrieben ... kurz vor dem Ausbruche der religiösen Wirren seine Geschichte der Päpste“ geschrieben habe (Anonym: Bespr. von DtG I u. II]/17. Juli 1839, Sp. 523). Tatsächlich bildete die Ranke schon vor dem Lutherjahr 1817 bewegende Reformation mit ihrem Umfeld, von vielen deutschen Zeitgenossen als wichtigstes Ereignis angesehen, den inneren thematischen Kern seiner Hauptwerke, nicht nur der beiden - 213 -
I/2.1.5.1 Geschichtsdenken seiner Zeit - Die ‚Päpste‘
‚Religionswerke‘, auch der französischen und englischen Nationalgeschichten. Einer der gelegentlich schärfsten Kritiker Rankes, John Lord Dalberg Acton, sah darin eher ein Negativum, eine Begrenzung von Interesse und Kenntnis in zeitlicher wie geographischer Hinsicht: „This is the age to which his whole character is suited to and his style of writing perfectly correponds to a part of the character of these times.” (Acton: Papers ed Butterfield/1955, Appendix VII, 219). Allgemeiner betrachtet und zeitlich weiter gefaßt, stellen sich als Hauptthema Rankes die in der neueren Geschichte auftretenden religiösen und politischen Umwälzungen dar, an deren Anfang die Reformation. Die zeitgenössische Aufnahme der beiden ‚Religionswerke‘ war auf protestantischer Seite ob ihrer vermeintlichen ‚Unparteilichkeit‘ überwiegend positiv, weitgehend wurde ihre überragende historiographiegeschichtliche Sonderstellung wahrgenommen, jedoch mußten sich die venezianischen Relationen oder deren Nutzung heftige Kritik gefallen lassen. Die katholische Kritik an Rankes ‚Parteilichkeit‘, vornehmlich aus Bayern, trug gelegentlich eine hilflos primitive oder aggressive Note, schlug sich auch in einer päpstlichen Indizierung des Werkes nieder (s. u.). Die ausländische Kritik zeigte sich zwiespältig. Auffallend ist die schnelle gegenseitige Wahrnehmung von Urteilen innerhalb der internationalen Presse, welche nicht selten den Eindruck simpler Meinungsübernahme entstehen läßt. - Rankes Reformationswerk hat, wie angedeutet, nicht die Resonanz der ‚Päpste‘ erreicht. Er selbst äußerte sich dazu als Neunzigjähriger in einem autobiographischen Diktat wie folgt: „Man hat später selbst von befreundeter Seite das Werk über die Epoche der Reformation der Geschichte des Papstthums weit nachstehend gefunden. Ich empfand das selbst: es schien mir unmöglich, aus Reichstagsacten und theologischen Ausführungen ein lesbares Buch zusammenzustellen; aber der Stoff brachte die Form mit sich, und der Zweck war ein ganz anderer.“ (SW 53/54, 70). D i e r ö m i s c h e n P ä p s t e , ihre Kirche und ihr Staat im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert (I/2.1.5.1) Nachdem Leopold von Gerlach seinem Bruder Ludwig mitgeteilt hatte: „Ranke schreibt eine Geschichte der Päpste von Leo X. an. Das wird sehr interessant werden.“ (Neue Quellen/1968, 149), wurde der Privatsekretär des vormaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, Carl von Voss-Buch, bei dem Ranke gelegentlich dinierte (s. II/7, 1849), einer der frühesten Leser des Werkes. Er war bei der Lektüre allerdings vorwiegend an national-ökonomischen, monetären Problemen interessiert und schrieb am 16. August 1834 an Leopold von Gerlach, das Werk enthalte für ihn „fast nur Neues und unendlichen Stoff zum Nachdenken, lauter halb gelöste Probleme.“ „Insonderheit“ habe ihn der Abschnitt über die Finanzverwaltung interessiert. (Neue Quellen/1968, 152). Doch er machte auch auf einen ganz wesentlichen, noch heute in allgemeiner Weise diskutierten Punkt aufmerksam: Ranke bemühe sich, die Päpste, „ihrer Individualität ungeachtet [,] den Ideen der Zeit unterliegend darzustellen.“ (153). Von Literaten wurde das Werk privat und öffentlich mit wenigen Ausnahmen hoch geschätzt. Karl Immermann, der bereits Rankes ‚Historisch-politische Zeitschrift‘ Beifall gezollt und diese der Mutter Heinrich von Sybels empfohlen hatte, übersandte nun auch sogleich den vor kurzem erschienenen ersten Band der ‚Päpste‘ mit der - 214 -
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Bemerkung: „An dem mitfolgendem Ranke werden Sie aber gewiß Vergnügen haben; ich erinnre mich nicht, eine so geistvolle Darstellung des Pabstthums, und so viele neue Aufschlüsse über die Umgestaltung des katholischen Wesens durch die Reformation schon gelesen zu haben.“ (28. 9. 34, Immermann. Briefe II/1979, 324f.). Am 13. April 1836 teilte er Ludwig Tieck (1773-1853) mit, daß Peter Friedrich von Uechtritz (18001875) „mit den Vorbereitungen zu einer großen Novelle beschäftigt“ sei: „Sie soll die ersten Zeiten der Reformation u. deren Wirkungen in Italien darstellen, und er ist zu der Arbeit wohl durch Rankes Buch angeregt worden.“ Bei der Novelle handelt es sich laut Kommentar (III,2/1987, 1081) „wahrscheinlich“ um ‚Albrecht Holm. Eine Geschichte aus der Reformationszeit‘ (Bln. 1852/53). Dieser tatsächlich mehrbändige Roman wird andernorts jedoch (Mendheim, Max: Uechtritz, Peter Friedrich von. In: ADB 39/1895, 125f.) auf die Zeit um 1842 und auf Rankes Reformationsgeschichte zurückgeführt. Ranke hatte sich übrigens 1826 in einem Brief an Rahel Varnhagen über das Trauerspiel ‚Alexander und Darius‘ von Friedrich von Uechtritz geäußert (Text bei Wiedemann/1896). - Marianne Immermann führte nach dem Tod ihres Mannes die Korrespondenz mit Tieck fort und gestand, ihr habe „in dieser letzten Zeit ... keine Unterhaltung die Stunden angenehmer verkürzt, als die Lectüre von Rankes Päpsten. Es war das erste Werk dieses Schriftstellers, was ich las, und ich wählte es vorzugsweise, weil es mich in die Zeit führte, die mir durch Ihre Vittoria [‚Vittoria Accorombona. Ein Roman in fünf Büchern‘, Breslau 1840] so nah und anders belebt erscheint als manche sonst.“ (Briefe an Ludwig Tieck II/1864, 115). Der Ranke gegenüber keineswegs unkritische Literarhistoriker Julian Schmidt konnte sich nicht genug tun, Rankes ‚Päpste‘ mehrfach - freilich Jahrzehnte nach dem Ersterscheinen - in außerordentlicher Weise zu loben. Sie seien das „Höchste“, was er geleistet: „Hier haben wir ein vollendetes, classisches Kunstwerk.“ (S[chmidt]/1847, 409; s. I/2.1.3). - Der zwanzigjährige Gustav Freytag hingegen fand an Rankes ‚Päpsten‘ keinen Gefallen (s. I, 159). - Savigny, stets bemüht, Ranke ins rechte Licht zu rücken, schrieb am 30. Dezember 1834 empfehlend an Jacob Grimm, wie bereits bei Rankes ‚Historisch-politischer Zeitschrift‘: „Haben Sie denn Rankes Päpste gelesen? Es ist mir lange kein Buch vorgekommen, was neben dem vielen Neuen und Lehrreichen so sehr durch frische unbefangene Ansicht erfreute, und gerade bey einem Stoff, in welchem man fast nur hergebrachte Parteyurtheile zu lesen gewohnt ist.“ (Stoll II/1929, 480). Savigny lieh das Werk ferner im Bekanntenkreis aus, so an Wilhelmine Bardua (1798-1865), in deren biedermeierlichem Salon auch Ranke verkehrte ([Bardua]/1929, 167). Unter den öffentlichen Kritiken scheint eine anonyme Besprechung von Maximilian Duncker an erster Stelle zu stehen. Er verfaßte sie einen Monat nach Erscheinen seiner Berliner Dissertation mit dem bemerkenswerten Titel ‚De historia ejusque tractandae varia ratione‘ - welche übrigens Ranke, bei dem er ‚Neuere Geschichte‘ gehört hatte, nirgends nennt - unter dem 13. August 1834 in der mehrfach für diesen tätigen regierungsnahen Berliner ‚Literarischen Zeitung‘. Ranke soll später dem 1839 habilitierten Duncker den abweisenden „Wink“ haben zugehen lassen, „er möge sich ganz auf die Staatswissenschaft legen und an Schöns Stelle nach Breslau gehen“ (Haym/ 1891,47). Duncker hat sich in späteren Jahren als Historiker, Politiker und Direktor der preußischen Staatsarchive noch sehr geringschätzig über Ranke geäußert (s. I, 150). Seine Besprechung von 1834, die sich auch kritisch mit Rankes Darstellungskunst befaßt, bietet von fachhistorischer Seite nicht allein eine außerordentlich frühe Forde- 215 -
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rung nach allgemeiner Abkehr von der Schlosserschen Moralisierungs-Manier, sondern auch von der Heeren-Ukertschen Staatengeschichts-Konzeption und verlangt stattdessen nach Hinwendung zu einer tiefgreifenden Ideengeschichte: „ ... in der That bedarf unsre historische Literatur nicht großer prätentiöser Staatsgeschichten ..., sondern Bücher, welche uns das Charakterhafte, Geistige, die Lebensquellen u. Principien der Völker u. Zeiten vorführen ...; es kommt darauf an, nicht mehr Geschichten der Völker u. Staaten, sondern Geschichten der Ideen zu schreiben. Und wir müssen dankbar anerkennen, daß Hr. Ranke uns das Leben des 16ten Jahrhunderts, so weit es von seinem Zwecke berührt wird, fast überall in solcher Weise dargestellt hat, ohne viel sentimentales Moralisiren, ohne theologische Gelehrsamkeit bei den religiösen Streitigkeiten zu exhibiren ...“ ([Duncker, Maximilian]/1834, Sp. 563). - Die zwei Jahre später in der ‚Literarischen Zeitung‘ folgende anonyme Besprechung der Bände II und III des Werkes stammt nicht von Duncker, vertritt sie doch hinsichtlich der ‚Ideen‘ eine vermeintlich abweichende Auffassung und verhält sich auch gegenüber dem Papsttum kritischer. Rankes Erzählung vermittle den [von ihm später zwangsläufig revidierten] Eindruck, daß der Katholizismus in einem „zunehmenden Untergang“ begriffen sei, gegenüber dem Protestantismus, der sich „immer verjüngt“ habe ([Anonym]: Die Päpste/1836, 833). Wie alle protestantischen Beurteiler des Werkes lobt auch dieser Anonymus Rankes Unparteilichkeit. Sein Mißfallen erregt lediglich die mangelnde Übersichtlichkeit und die Zerstückelung der Darstellung in zahlreiche Abschnitte und daß „der Hr. Verf. dem Katholicismus am Anfang des dreißigjährigen Krieges eine vollkommene Einheit“ zugeschrieben habe (835). - Eine spätere anonyme Besprechung dieses Blattes befaßt sich in ähnlicher Weise mit der dritten Auflage von Band I ([Anonym]/4. 6. 1845). Von bescheidenem Zuschnitt ist die anonyme Besprechung, welche 1835 wohl der mehrfach herangezogene Wolfgang Menzel in seinem ‚Literatur-Blatt. Beiblatt zum Morgenblatt für gebildete Leser‘ vom ersten Band der ‚Päpste‘ veröffentlichte. Bei allem Lob eines „unserer ausgezeichnetsten Geschichtschreiber“ hätte Menzel sich bei der Darstellung neuer „Charakterzüge bedeutender Personen“ mehr „Noten“ gewünscht ([Menzel?]/1835, 133). Die zweite Besprechung, welche in demselben Blatt den Bänden II und III gilt, ist nur wenig anspruchsvoller, lobt die Einnahme eines „höheren, dem deutschen Geiste zusagenden Standpunktes“ ([Anonym]/1837, 293) und die „große Mäßigung“ des Urteils (294), wobei dem Leser doch „eine tüchtige, vollständige Unterlage“ gegeben werde, „wie ein Krankenbericht einem entfernten Arzte“ (ebd.). Von der halbwegs positiven Art dieser Äußerungen ist in Menzels ‚Denkwürdigkeiten‘, die noch peinlich zu Rankes Lebzeiten erschienen, nichts zu spüren. Da heißt es: „Dagegen war mir die Ranke’sche Schule in Berlin mit ihren vornehm thuenden Glacéhandschuhen eklig.“ (Menzel/1877, 339). Menzel (?) äußerte sich 1853 noch zu Rankes ‚Französischer Geschichte‘ (s. I, 270). Die folgenden Besprechungen der ‚Göttingischen gelehrten Anzeigen‘ machten mangels Gelehrsamkeit der Zeitschrift wenig Ehre. Der protestantische Kirchenhistoriker Friedrich Wilhelm Rettberg (1805-1849) verfaßte darin eine ausführliche Besprechung des ersten Bandes, die jedoch als im Tenor zustimmende bloße Nacherzählung hinter den Erwartungen weit zurückblieb. Rettberg bemerkte immerhin „des Verfassers Neigung und Gewandtheit zur Klarmachung der Verhältnisse durch nachgewiesene überraschende Aehnlichkeiten und Contraste ...“ (R-g./1835, 830). - Zwei Jahre später brachte die Zeitschrift eine Besprechung des dreibändigen Gesamtwerkes hervor, - 216 -
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diesmal unter dem Kürzel Hvn., die ebenfalls dem Prinzip exzessiven Nacherzählens huldigte, nunmehr schrittweise auf nahezu fünzig Seiten. Einleitende Bemerkungen gelten der „raschen Critik und Auswahl in der Benutzung“ der archivalischen Quellen und der „kurzen, schlagenden Beweisführung des Verfs, seiner Gewandtheit, häufig mit wenigen kecken Strichen die Signatur einer Zeit zu geben ...“ (Hvn./1837, 283). Eine Besprechung des ersten Bandes, die der Herausgeber des Blattes selbst verfaßte, erschien 1835 in der von Karl Heinrich Ritter von Lang (1764-1835), Historiker und Archivar, betreuten ‚Literarisch-historischen Zeitschrift in zwanglosen Heften‘, die beiläufig seinem Biographen (Bernhard Sicken: Lang, Karl Heinrich Ritter von. In: NDB 13/1982, 542 f.) unbekannt geblieben sein dürfte. Lang polemisiert sogleich gegen den Titel des Werkes (‚Die römischen Päpste, i h r e [i. T.] Kirche ...‘) und mahnt aus eigener Tätigkeit als Legationssekretär am Rastatter Kongreß (Sicken, 542), zur Vorsicht im Umgang mit Gesandtschaftsberichten (Lang/1835, 6). Besonders unter den höheren Gesandten seien oft solche, die nicht sehen können, nicht sehen wollen oder nicht sehen sollen (6). Im übrigen würde er auch eine andere Darstellungsform vorgezogen haben, nämlich, entsprechend der Anlage der Quellen, „Monographien der einzelnen Päpste“ (7). Nicht ohne Sachkenntnis fügt er dem Referat einige teils abweichende, teils ergänzende Momente hinzu. Ein durchaus selbständig denkender anonymer Rezensent der ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ (trotz der unterschiedlichen Kryptonyme „74“ und „79“ identisch), verfaßte in den Jahren 1836 und 1837 zwei Besprechungen des Werkes, deren erste besonderes Interesse beanspruchen darf, unternimmt sie doch den seltenen Versuch, auf vergleichsweise eindringliche Weise die Bedeutung Rankes und seines Päpste-Werkes in der Geschichte der Historiographie zu bezeichnen. Dieses erscheine „als eine der bedeutendsten, wenn nicht als die bedeutendste Leistung unserer neuern Historiographie“ ([Rez. Nr.] 74/1836, 910). Seine hohe Bedeutung liege hauptsächlich darin, daß Ranke „ein neuerdings sehr in den Hintergrund geschobenes, fast ganz vernachlässigtes Moment aller Geschichte wieder zu Ehren gebracht“ habe, die „Darstellung des individuellen Lebens welthistorisch eingreifender Menschen.“ ( Ebd.). Das „Ausgezeichnete dieses Buches ..., worin noch keiner der neuern Historiker Ranke gleichgekommen“ sei, bestehe darin, daß er „das ganze geistige Leben und Treiben der Individuen, seinem innersten Gehalte nach ...“ zeige (ebd.). Bei Rankes Darstellung lebe der Leser „gleichsam durch ihn selbst in jener Zeit...“ und spüre in sich selbst die „Kraft und Macht ... göttlicher Gewalt“. „Wahrlich“, beteuert der Rezensent, „es ist uns fast in keinem andern Geschichtsbuche diese historische Nothwendigkeit so klar erschienen als in diesem, in welchem so wenig von ihr die Rede ist!“ (911. - Die Bespr. des Rezensenten 79/1837 ist lediglich referierend). Der u. a. mit Johann Friedrich Böhmer in Briefwechsel stehende Joseph Aschbach (1801-1882), dessen Lebenslauf ein Biograph „eine Art Priesterthum der Wissenschaft, fern von allem Ehrgeiz und jedem falschen Schein“ nachrühmte (Schrauf, Karl: Aschbach, Joseph. In: ADB 46/1902, 59-68, hier 59), und der gerade in Arbeiten am zweiten Band seiner dem Rankeschen Osmanen-Thema nicht allzu fern stehenden ‚Geschichte Spaniens und Portugals zur Zeit der Herrschaft der Almoraviden und Almohaden‘ (1833, 1837) vertieft war, verfaßte in den ‚Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik‘ der Jahre 1835 und 1836 zwei Besprechungen der ‚Päpste‘. Rankes Werk gehöre „unstreitig zu den bedeutendsten Erscheinungen in der historischen Literatur in den letzten Jahren“ (Aschbach/1836, Sp. 905). Außer der „sehr lobens- 217 -
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werthen Unparteilichkeit in der Darstellung der kirchlichen Zustände“ (Sp. 909) hebt er Rankes „lebendige, großartige Darstellung, seine scharfsinnige Auffassungsweise“, seinen „Ideen-Reichthum“ und seine „scharfsinnige Kritik“ hervor (ebd.). Aschbach ist nicht generell gegen den Einsatz von Gesandtschaftspapieren, fügt sogar den Wunsch an, Ranke möge sich ihrer auch für die deutsche, französische und englische Geschichte bedienen, doch hält er dafür, diese Quellen hätten hinsichtlich ihrer Parteilichkeit „einer näheren Prüfung ... unterworfen werden müssen“ (Aschbach/1835, Sp. 629, s. auch I, 157). - Die Einzelkritik ist überwiegend positiv gehalten. Aschbach schließt jedoch mit dem (bereits oben herangezogenen) Urteil: „Auch dieses Buch ist reich an Ideen, zieht an durch eine höchst lebendige Darstellung, giebt einzelne sehr gelehrte Ausführungen, aber ein in sich geschlossenes historische Ganze liefert es nicht“ (Aschbach/1835, Sp. 640). Es ist eher unwahrscheinlich, daß sich der 77jährige Arnold Hermann Ludwig Heeren (1740-1842) hinter den Initialen A. H. L. verbirgt, mit denen ein Rezensent der ‚Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ in Gemeinschaft eines A. Schr. im Jahre 1837 eine Besprechung des ersten Bandes der ‚Päpste‘ zeichnete, eines „trefflichen Werkes“, das „einen wahren Gewinn für die Wissenschaft“ darstelle. „Ruhe, Mässigung, Unparteylichkeit“ werden gelobt, wie auch der „ächt historische Blick und die Kunst..., die Verhältnisse kurz und bündig in das rechte Licht zu stellen“ (1837/350). Ein leichter Tadel fällt auf das „mitunter Desultorische und Abgerissene des Stils und der Darstellung“. Doch erkläre sich dies „am wahrscheinlichsten aus dem Streben“ Rankes, „das Gewöhnliche und allgemein Bekannte nicht in seine Darstellung des Raumes wegen aufzunehmen, und nur Neues und Bedeutendes zu bieten.“ Man fühle sich entschädigt „durch den Hauch des unmittelbaren Lebens, welchen Hn. Ranke aus seinen so aus dem Leben selbst hervorgegangenen Quellen festzuhalten gelungen ist, durch das Frische des Treibens und Drängens der Zeit, die er im Ganzen so ausserordentlich glücklich aufgefasst hat, und durch den Ausdruck der inneren Wahrheit, welchen das Getriebe menschlicher Leidenschaften und die Verwickelung der Verhältnisse gewinnt. Wie klar und besonnen ist meist das Urtheil des Vf.s, wie sehr steht er über diese Masse von Material, welches er aufs glücklichste zu gestalten weiss!“ (1837/350). Die seit 1818 in Wien erscheinenden ‚Jahrbücher der Literatur‘, das „erste, wahrhaft repräsentative, wissenschaftliche Organ des Kaiserstaates“ (Haiböck, Lambert: Die Wiener Jahrbücher der Literatur 1818-1849. Diss. Masch. Wien 1953, 3 bei Obenaus/ 1973, 61) brachte im Jahre 1837 keine Besprechung von Rankes ‚Päpsten‘, jedoch anonym - eine solche von Baptiste Capefigues Werk ‚Richelieu, Mazarin, la Fronde et le Règne de Louis XIV‘ (Paris, 8 Bde, 1835-1836). Mit Capefigue hatte sich Ranke 1835 in seiner ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ auseinandergesetzt, allerdings mit dessen ‚Histoire de la Réforme, de la Ligue et du règne de Henri IV‘ (Paris: Duféy, 8 Bde, 1834-1835). Nun kam der anonyme Wiener Rezensent Capefigues gelegentlich der Schilderung des Zustands der Kirche in Frankreich nach dem Sturz der Liga wenigstens anmerkungsweise auch auf Ranke zu sprechen: „Treffliches enthält hierüber Ranke’s Geschichte der Päpste, ein Werk, das an kolossaler Auffassung, fast durchgängig unbefangener Würdigung jener Zustände und der innern Hebel, so sie ins Leben riefen, und an meisterhafter Darstellung im Gebiete der neueren Literatur kaum seines Gleichen finden dürfte.“ ([Anonym. Bespr. von:] Richelieu .../1837, 149, Anm.). Auch später kann der Rezensent sich „nicht enthalten, nochmals auf die gedrängte Darstel- 218 -
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lung der französischen Zustände jener Zeit“ in den ‚Päpsten‘ aufmerksam zu machen, „eine Darstellung, die, indem sie sich von der Oberfläche der Erscheinung lostrennend, in die inneren Tiefen des Völker- und Staatenlebens hinabsteigt, allerdings eine Schärfe des Blickes und Meisterschaft historischer Schilderung beurkundet [!], mit welcher Hr. Capefigue in keiner Weise den Vergleich bestehen könnte. Dennoch gelangen beyde Schriftsteller mehr oder minder zu denselben Ergebnissen, nur daß sich bey Ranke mehr Tiefe der geistigen Anschauung und größere Verläßlichkeit findet, als bey Capefigue, der zwischen dem Geschichtschreiber und politischen Publicisten häufig die Mitte hält.“ (158, Anm.). - Die in Halle und Leipzig erscheinende ‚Allgemeine Literatur-Zeitung‘ brachte im Januar 1838 eine anonyme, ausführliche Besprechung des „inhaltreichen und anziehenden“ Päpste-Gesamtwerks, die neben einem kapitelweisen Referat nur wenig beurteilende Elemente enthielt, etwa, daß der Rezensent es „unbedenklich zu den bedeutendsten und gelungensten“ rechne, „welche die historische Literatur der letztvergangenen Jahre hervorgebracht“ habe (29). Dabei wird Rankes „Unpartheilichkeit“ gelobt, „ohne die einseitige Vorliebe für das Papstthum, die wir bei so vielen neuern Geschichtschreibern als einen krankhaften Charakterzug der gegenwärtgen Literaturperiode wahrnehmen.“ (4). - Von ähnlicher Art ist eine überwiegend nacherzählende Besprechung der zweiten Auflage des Werkes aus der anonymen Feder des einflußreichen, wie Ranke stark obrigkeitsorientierten protestantischen Theologieprofessors August Tholuck (1799-1877) in seinem ‚Litterarischen Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt‘ des Jahres 1839. Das Werk, das der Rez. besonders Vertretern des geistlichen Standes ans Herz legt, gehöre zu den „allerbedeutendsten Erscheinungen unserer gegenwärtigen Litteratur“ (Nr. 31, Sp. 248), und besitze „lobenswerthe Unpartheilichkeit“ (Nr. 32, Sp. 256). Zwar seien „nicht alle Partieen gleichmäßig ausgeführt“ (Nr. 31, Sp. 248), doch verfüge es über eine „lebendige ansprechende Diktion“ (Nr. 32, 256). - So sah dies auch ein Beiträger der ‚Deutschen Vierteljahrs Schrift‘, der in ihr allererstes Heft einen Aufsatz einbrachte mit dem Titel ‚Auf welchem Standpunkt steht die vaterländische Geschichtsforschung?‘ Ranke spielte darin nur eine untergeordnete Rolle, doch wurde ihm zugestanden: „Das Geistreichste und zugleich Unbefangenste, das über die katholische oder päpstliche Seite der Reformation in jüngster Zeit geschrieben wurde, verdanken wir dem trefflichen Ranke.“ (W. M./1838, 277. Betrifft PÄPSTE, nicht DtG, die noch nicht erschienen war). A u s l ä n d i s c h e S t i m m e n . - Nachdem Rankes ‚Päpste‘ im Jahre 1838 unautorisiert und katholisierend ins Französische übersetzt worden waren, was einen von Ranke verfaßten oder veranlaßten zurückweisenden Artikel der ‚Allgemeinen Preußischen Staatszeitung‘ hervorrief, wurde sein Werk zunehmend Opfer konfessioneller Auseinandersetzung, welche auf katholischer Seite zum Teil von Einfalt und Grobheit geprägt war. Am 20. März 1838 erschien im Würzburger ‚Allgemeinen Religions- und Kirchenfreund und Kirchencorrespondenten‘ folgende anonyme Notiz: „Eine andere interessante Schrift, von Frankreich her in unsere Gegenden gedrungen, macht uns manchen lehrreichen Scherz. Ein gewisser Preuße, Namens Ranke, ein Jesuitenfeind sonder Gleichen, hat ein Werk unter dem Titel: ‚die römischen Päpste‘, das von Geschichtslügen strotzt, herausgegeben und darin, wie es sich von selbst versteht, auch den Dr. Martin Luther (und andere dergleichen Leute) sehr gepriesen als einen wahren Wohlthäter des menschlichen Geschlechts, obgleich die wahre Geschichte ihn als einen Empörer und Verbrecher gegen Kaiser und Reich ansah. - Nun hat ein Pariser den - 219 -
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originellen Einfall gehabt (er nennt sich Alexander de St. Chéron), Ranke’s Opus angeblich in das Französische zu übersetzen; er hat aber das Lutherische und Protestantische darin katholisirt und alles beseitigt, was anstößig ist, und der Wahrheit oft Zeugniß gegeben. Das Merkwürdige ist nun dieß: In der Vorrede wundert sich St. Chéron, wie man in Berlin, wo das Buch fabricirt ward, so gut katholisch denke! - Daß diese Aeußerung in Berlin Aufsehen machte und Protestationen veranlaßte, versteht sich von selbst ... Wer bei der Wahrheit bleibt (und dieß wäre dem Herrn Ranke bei seiner künftigen Schreiberei zu wünschen) hat solche Ereignisse nicht zu befürchten.“ (Sp. 149). - Tatsächlich war die irreführend katholisierte Übersetzung in Frankreich von katholischer Seite zunächst sehr positiv aufgenommen worden. Die in Paris erscheinende ‚L’Université catholique, recueil religieux, philosophique, scientifique et littéraire‘ nahm sich des Werkes mit großem Wohlwollen an. Man attestierte Ranke : „Il parle de la plupart des papes dont il s’occupe avec estime, on dirait quelquefois avec affection.“ (A. Q./ Juni 1837 [!], 433). Ein weiterer Mitarbeiter des Blattes nannte das Werk „un des plus beaux monumens [!] historiques de l’Allemagne moderne“ ([Anonym] Dez. 1837 [!], 463). - Dies stieß nun allerdings in Kreisen des Vatikans auf Unwillen. Augustin Theiner (1804-1874), in Rom wirkender ordinierter Kirchenhistoriker, der Luther als „nichtswürdigsten Schwindler“ bezeichnet hatte und später das Vertrauen Gregors XVI. und Pius’ IX. gewann (Schulte, von [!]: Theiner, Augustin Th. In: ADB 37/1894, 674-677), brachte 1838 ein Werk mit dem bezeichnenden Titel auf den Weg: ‚Versuche und Bemühungen des heiligen Stuhles in den letzten drei Jahrhunderten, die durch Ketzerei und Schisma von ihm getrennten Völker des Nordens wiederum mit der Kirche zu vereinen. Nach geheimen Staatspapieren‘. In der Vorrede äußerte er sich in höchst unseriöser Weise über Ranke: „Auch er hat die kühne Prahlerei gehabt, dem guten Publikum in hochtrabender Marktschreier Weise eine sogenannte Geschichte der Päpste auf die Nase zu binden, die lediglich zusammengestoppelt aus allerlei historischem Auskehrig, den Zwerggeist der protestantischen Kirche recht bekundet, bei Auffassung der großen christlichen Nachwelt der drei letzt verflossenen Jahrhunderte.“ (Theiner: Versuche/1838, p.VI). „ ... Erst in einem der folgenden Bände werde ich ganz Gelegenheit haben, die kalte Maske diesem frostigen Machwerk abzunehmen, und es in seiner Blöße hinzustellen. [Laut Wolf/Burkard/Muhlack/2003, 81f. wurde diese Drohung nicht wahrgemacht.] Befremden muß es, wie die Université Catholique in einem ihrer jüngsten Artikel [Dez. 1837] diesem Werke von Ranke unbefangene Tendenzen zum Katholizismus zumuthen kann, der nun aber anstatt einer gediegenen Kritik nichts als eine abgeschmackte Ausmalerei ohne allen historischen Tiefsinn und Takt enthält. Der Referent (Katholik? -) dieses Artikels verräth unangenehme Anklänge an die moderne Geschichtsschule des teutschen Galimathias, die in Frankreich in blinder Selbstgefälligkeit nun ihr Scepter führt, und mit dem faltenschwulstigen Mantel affektirter und bis zum Eckel [!] hochtrabender Phrasen die schmähliche Hohlheit und Leerheit des eigenen Urtheils bedeckt. Diese sonderbare und dazu schreibselige Schule meint in ihrem blinden Enthusiasmus, jedes teutsche Buch, so nur immer in Berlin, Königsberg und Leipzig vom Stapel lauft, müsse ein vollendetes Kunstwerk seyn, und seiner Natur nach unfehlbar geschaffen, die Urtheilskraft des jungen regenerirten und regenerirenden Frankreichs zu schärfen und zu befruchten.“ (VII). Alexandre de Saint-Chéron (1808-1892) fühlte sich als Herausgeber und Einleiter der Übersetzung bemüßigt, zu der Kritik Stellung zu nehmen. In der Pariser Zeischrift - 220 -
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‚L’Univers, Journal Religieux, Politique, Scientifique et Littéraire‘ äußerte er die Überzeugung, „que l’histoire de M. Ranke, avec toutes ses imperfections et ses erreurs, pouvait encore servir à faire tomber une foule de préjugés qui survivent contre les institutions catholiques et particulièrement contre la papauté. ...Il résulte..., que l’impression générale ... est complètement favorable au catholicisme.“ (Saint-Chéron: Réponse à quelques critiques/Febr. 1838, Sp. 1598). - Trost fand de Saint-Chéron bei Friedrich v. Hurter (1787-1865), dessen großes Innozenz-Werk er zu übersetzen begonnen hatte (‚Histoire du pape Innocent III et de ses contemporains‘, Paris 1838, dt. 4 Bde 1834-1842). Hurter, öffentlich allzu spät zum Katholizismus übertretender k. k. Hofrath und Reichshistoriograph, versicherte ihm in einem Schreiben vom 20. Juli 1838, „dass diese Herren von Berlin, Göttingen und vielen andern Städten nicht läugnen können, selbst die ganze Geschichte, namentlich das Mittelalter, systematisch zu verprotestantisiren, dabei aber Lärm erheben, wenn sich ein Dritter unparteiisch erweist und an der Unfehlbarkeit der deutschen Gelehrten zu zweifeln sich erkühnt.“ (Hurter I/1876, 105). Es war Ignaz von Döllinger (1799-1890), auch eine konfessionell schicksalhaft gezeichnete Gestalt, Professor der Kirchengeschichte in München, 1871 exkommuniziert, der 1838 in den ‚Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland‘ einen kurzen anonymen Beitrag mit ‚Bemerkungen über neuere Geschichtschreibung‘ verfaßte. Darin wandte er sich u. a. - nicht abwegig - gegen die in Rankes ‚Päpsten‘ herrschende „Grundanschauung von der Religion als dem Secundären“ (55f.), verglichen mit dem Staat als dem Primären und stellte den Beitrag zugleich als Einleitung zu einer Reihe von Aufsätzen vor, in denen das Werk des näheren beleuchtet werden sollten. Dazu kam es nicht. Stattdessen wandte sich der Rezensent Rankes Folgewerk, der ‚Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ zu (s. I, 230f.). Kurze Zeit nach de Saint-Chérons Erklärung verfaßte Eugène Lerminier (18031857), über Savigny promovierter Rechtshistoriker, Journalist und Mitglied des ‚Collège de France‘, in der liberalen Pariser ‚Revue des deux mondes‘ einen konfessionell zurückhaltenden Aufsatz mit dem Titel ‚La papauté depuis Luther‘, welcher eine Besprechung der französischen ‚Päpste‘-Ausgabe darstellte. Zwar fand auch er einiges auszusetzen: die Unvollständigkeit der Darstellung, die oberflächliche Einleitung, sodann: Frankreich habe nicht genügend Aufmerksamkeit gefunden, und die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts sei zu schnell abgehandelt (Lerminier/1. 4. 1838, 43). Überhaupt stelle sich Rankes Geschichte als allzu isoliert und fragmentarisch gegenüber den voraufgehenden und folgenden Zeiten dar (56). Doch das Werk Rankes - „esprit ...pénétrant et lucide“ (44) - den er in Berlin persönlich kennengelent hatte, besitze eine wirkliche Bedeutung für die Kenntnis des Papsttums und des Katholizismus seit drei Jahrhunderten: „rapport impartial et lumineux sur des points essentiels, il peut servir de base à une appréciaton raisonnée des intérêts religieux de l’Europe depuis Luther“ (44). Zur Verschärfung der französischen Kritik trug vor allem ein in der katholischen ‚Dublin Review‘ vom Juli 1838 anonym erscheinender Aufsatz des hochbegabten katholischen Ranke-Schülers Felix Papencordt bei. Papencordt hatte Niebuhr wohl näher gestanden und auch einen mehrjährigen Studienaufenthalt in Rom verbracht (s. Wegele, Franz Xaver von: Papencordt, Felix. In: ADB 25/1887, 140f.). Unter dem Titel ‚Ranke’s History of the Popes‘ besprach er sachkundig das deutsche Gesamtwerk, wobei er einzelne Momente der Darstellung wie auch allgemeine Anschauungen einer deutlichen Kritik unterzog (s. im einzelnen I, 63). Ranke betrachte die Geschichte der - 221 -
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Päpste aus einem rein politischen Gesichtswinkel, wovon schon der Titel seines Werkes zeuge („Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat“) zeuge. Daher gelange er u. a. auch zu einer völlig irrigen Auffassung der meisten Ereignisse des Pontifikats Pauls III. (38). Abschließend fand Papencordt in Rankes Werk gleichwohl eine Vielzahl bislang unbekannter Fakten, welche für die Kirche und den Hl. Stuhl „highly creditable“ seien (50). Zum ersten Male habe ein ausgewiesener protestantischer Forscher der Welt seine Anerkennung dargelegt, daß die Päpste der späteren Zeit in ihrem Privatleben ohne Fehl und Tadel gewesen seien und daß der Zusammenbruch von italienischer Nationalität und Freiheit nicht zu ihren Lasten gehe (51). Auffallende Ähnlichkeit hat eine bereits im Mai und Juni erschienene, mit P. gezeichnete Besprechung der Bände II und III des Päpste-Werkes in den Römischen ‚Annali delle scienze religiose‘, die damit Papencordt einigermaßen sicher zuzuweisen sein dürfte. Sie setzte eine mit den Autoren-Intialen C. H. ebenda 1837 erschienene Besprechung von Band I fort, welche dem im Vorjahr aus Rom zurückgekehrten Katholiken Constantin Höfler (1811-1897, Hemmerle, Josef: Höfler, Konstantin Ritter von. In: NDB 9/1972, 313f.), der auch einige Stunden bei Ranke gehört hatte (Berg/1968, 229), zuzusprechen ist. Höfler verfaßte, wie man annehmen darf, unter dem Eindruck des 1834 bis 1836 erschienenen Papst-Werkes Rankes‚ 1839 ein Werk über ‚Die deutschen Päpste nach handschriftlichen und gedruckten Quellen‘ (2 Bde, Regensburg). Als Professor an der Münchener Universität lieferte er 1845 in die ‚Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland‘, welche sich seit ihrer Gründung 1838 zur „meistgelesenen und einflußreichsten Zeitschrift des deutschen Katholizismus“ entwickelten (Albrecht, Weber/1990, 9), einen anonymen Beitrag mit dem Titel ‚Über katholische und protestantische Geschichtschreibung‘. Hierin stellte er Vergleiche an zwischen Schlosser, Raumer, K. A. Menzel und Ranke. Dessen Werke - und mit seinem harten Wort konnten nur die ‚Päpste‘ und die seit 1839 erscheinende ‚Deutsche Geschichte‘ gemeint sein - förderten „die innern Zwistigkeiten der Deutschen“ eher, als sie beizulegen (307). Die vorgenannten ‚Annali‘ ließen 1840 noch eine ‚Notizie scientifico-religiose‘ folgen, in welcher der Redakteur, Abbate Antonio de Luca, Rankes ‚Päpsten‘ nachsagte „Raccozzamento indigesto di fatti ... inesatti, guasti e falsati ...malignità protestante” (so bereits bei Helmolt/1921, 186, A. 130). - Eine Übersetzung des Werkes in italienischer Sprache erschien erst 1862 und wurde überhaupt nur möglich, weil dabei die katholisierende französische Fassung zugrunde gelegt wurde. Die deutsche Ausgabe war 1841 unter Papst Gregor XVI., u. a. aufgrund eines Gutachtens von Augustin Theiner, indiziert worden (s. dazu das auf neuen Bahnen gründlich gearbeitete Werk Wolf, Burkard, Muhlack/2003, worin folgende ‚Notizie scientifico-religiose‘, welche doch u. a. eine treffende allgemeine Sicht bietet, beiseite blieb: „Il sig. Ranke, attenendosi alle massime sovvertitrici del suo maestro Lutero, considerò la dignità pontificia come una semplice istituzione umana, modellata sopra le istituzioni del romano imperio“ (De Luca, Antonio. In: Annali delle scienze religiose, Bd. 11, Nr. 33, Rom, Nov. u. Dez. 1840, 428f., hier 428). Zurück zum Jahre 1838. Unter Beihilfe des Aufsatzes von Papencordt folgte im September im Pariser katholischen ‚L’Ami de la religion, journal ecclésiastique, politique et littéraire‘ eine Besprechung unter der Autoren-Kürzel E. Sie unternahm mit der Absicht einer Totalzerstörung den Versuch, Ranke faktische Unrichtigkeiten, Inkonsequenzen und methodologisch-handwerkliche Fehler nachzuweisen. So habe sich dieser ausdrücklich vorgenommen, der Entwicklung der weltlichen Macht des Papsttums - 222 -
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nachzugehen, doch enthalte sein Werktitel den Begriff ‚Kirche‘. Überdies habe sich diese Macht vom 10. bis zum 14. Jahrhundert entwickelt und nicht während des 16. und 17. Jahrhunderts (530). Auch springe er gegen Ende seines 1. Kapitels unvermittelt vom 10. ins 14. und 15. Jahrhundert (531). Die Darstellung des Konzils von Trient sei „fort triste, fort incomplet et plein d’erreurs et d’inexactitudes.“ (610). Seine Relationen habe er stellenweise nicht genau zitiert, unkritisch benutzt und einen Vergleich mit der Fachliteratur unterlassen, ja ganze Quellenbestände beiseite gelassen (ebd. u. 609, s. I/1.6), so abweichende römische Handschriften über das Pontifikat Clemens’ VII. Auch scheine er nicht die wichtige Dokumentensammlung zur Geschichte des 16. Jahrhunderts zu kennen, die von Gian Domenico Mansi (1692-1769) im Anhang zur Ausgabe der ‚Miscellanea‘ von Etienne Baluze (1761) veröffentlicht worden sei, ebenso wie die wertvollen Nachrichten über die Geschichte der Konklaven in ‚les notices et extraits des manuscrits de la bibliothèque du roi‘ (609). (Rankes erste Parisreise fand erst 1839 statt, FvR/1903, 189). - Eine anonyme redaktionelle Nachschrift suchte, unter Berücksichtigung des letzten Bandes der Übersetzung, dem Artikel noch eine verschärfende Ergänzung mit auf den Weg zu geben: Rankes Werk sei keine Geschichte des Papsttums, denn der Autor übergehe die wichtigsten Tatsachen der Kirchengeschichte. Mehrere Päpste nenne er nicht, so Innozenz XIII., Benedikt XIII. und Clemens XII. Benedikt XIV. erwähne er nur kurz. Das Werk sei „un croquis informe, tracé en courant, et qui n’apprend rien.“ (612). Der französischen Aufnahme der ‚Päpste‘ nahm sich unmittelbar die in Augsburg tätige aufmerksame Redaktion des dreimal wöchentlich erscheinenden ‚Sion. Eine Stimme in der Kirche für unsere Zeit‘ an. Der im Oktober 1838 erscheinende Fortsetzungsartikel war betitelt ‚Beyträge zur Würdigung von L. Ranke’s Leistungen im Gebiete der Geschichte‘. - Rankes Werk, so ist der Grundtenor, sei in Frankreich „über die Gebühr gelobt“ worden (Sp. 937). Dies zu beweisen, werden Briefe aus dem ‚L’Univers‘ zitiert, in denen Ranke vorgeworfen wird, er habe die Behauptung aufgestellt, die Obern der ‚Gesellschaft Jesu‘ seien befugt, Sünden anzubefehlen und habe überhaupt zahlreiche Anschuldigungen gegen den Orden erhoben, im besonderen eine verfälschte Darstellung des Ignatius von Loyola und Francisco de Xavier gegeben. Vor Papencordts Kritik war 1836 in England eine möglicherweise aus der Feder des englischen Poeten und geistlichen Historikers Henry Hart Milman (1791-1868) stammende anonyme Besprechung der ‚Quarterly Review‘ erschienen. Sie war des Lobes voll: „To the high qualifications of profound research, careful accuracy, great fairness and candour, with a constant reference to the genius and spirit of each successive age, common to the historians of Germany, Mr. Ranke adds the charm of a singularly lucid, terse, and agreeable style.“ ([Milman?]1836, 289). Ein leiser Tadel mag anklingen in der „dispassionate and philosophical serenity“, mit welcher der Historiker Wachstum, Fortschritt und Einfluß der päpstlichen Macht betrachte (287). Die im folgenden Jahre anschließende Besprechung der Bände II und III wiederholte ausdrücklich das Urteil über Band I auch für diesen Teil des Werkes und setzte im übrigen die Nacherzählung fort ([Milman?/1837). Zuvor (1836) war in der ‚Revue Britannique ou choix d’articles traduits des meilleurs écrits périodiques‘ eine umgestaltete, mit eigenen Zusätzen versehene Übersetzung von Milmans erstem Artikel erschienen. Milman verfaßte später noch ein Vorwort zur englischen Übersetzung der ‚Päpste‘ (s. II, 597). Nach der gemischten Kritik Papencordts im Jahre 1838 trat 1840 in England zunächst eine kaum erwähnenswerte anonyme Kritik der ‚Päpste‘ in Austinscher - 223 -
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Übersetzung auf: Der Rezensent der ‚Eclectic Review‘ versuchte sich an einer zusammenfassenden Nacherzählung des „higly important and interesting book“. Weder gebe es aus englischer Feder ein Werk dieser Art, noch hätten englische Historiker Zugang zu einer derartigen Fülle von Material gehabt. Der Ruf Rankes, dessen Unparteilichkeit hervorgehoben wird, gewährleiste die Genauigkeit der Darstellung (291f.). - Dem stehen nun doch einige bemerkenswerte Beurteilungen gegenüber, zum einen aus nationalistisch übersteigerter anglikanischer Sicht die anonyme Kritik von J. W. Worthington in der ‚Foreign Quarterly Review‘ von 1840 und eine anonyme Bespr. der ‚Church of England Quarterly Review‘ des folgenden Jahres. Worthington lobt vor allem, daß Ranke Gerechtigkeit gegen Freund und Feind geübt habe. Jedoch sieht er als „leading fault“ Rankes an „a tendency to view Protestantism distinct from Catholicism.“ (1). In der Tat dient denn auch die Besprechung in erster Linie einer Gegenüberstellung von Protestantismus als wahrer Katholizität und ‚Romanismus‘ als römisch-katholische Kirche. Wofür Ranke keine Sensibilität besessen habe, sei die gigantisch machtvolle Stellung Englands: „England alone ... possesses more influence over the political, moral and religious tendencies of the world, than the Roman See ... and we trust she will ever use the proud position of Queen of the seas, and mistress of a mass of subjects ... to the promotion of that spread of intellect, that diffusion of morality and religion...“ (28). - Die ‚Church of England Review‘ hält zwar Rankes ‚Päpste‘ auch für ein Werk von bemerkenswerter Gelehrsamkeit, empfindet jedoch die Notwendigkeit, es lediglich als Ergänzung zu einer vollständigeren, fundamentaleren und weniger parteilichen Geschichte der Ereignisse zu betrachten (321). Der wesentliche Kritikpunkt liegt jedoch in dem Vorwurf, daß in der Darstellung kein grundsätzlicher Unterschied gemacht werde zwischen Protestantismus und Papsttum, „between the comparatively pure Christianity of the reformed creed and the polluted and polluting superstition of Rome“ (303). - Eine weitere englische Besprechung war theologisch weniger interessiert und ist vor allem durch ihre der wachsenden Popularität ihres Verfassers zuzuschreibende Wirkung von Bedeutung. Sie entstammt der Feder Thomas Babington Macaulays (1800-1859) in der ‚Edinburgh Review‘ des Jahres 1840. Macaulay, Poet, Parlamentarier und Historiker, der seine berühmte ‚Englische Geschichte‘ damals noch nicht geschrieben hatte, nahm sich in einem seiner zahlreichen Beiträge zur whigistischen ‚Edinburgh Review‘ 1840 auch Rankes ‚Päpsten‘ in der autorisierten englischen Übersetzung der bedeutenden Schriftstellerin, Übersetzerin und Salonnière Sarah Austin (1793-1867) an. Mit ihr hatte er im Frühjahr 1839 in dieser Angelegenheit bereits korrespondiert (Three Generations/1888, 130f.). Seine in mehreren Ausgaben erschienene Besprechung enthält wohl auch im Interesse dieser Bekanntschaft hohes, doch allgemeinstes Lob: „...this is an excellent book excellently translated. The original work of Professor Ranke is known and esteemed wherever German literature is studied, and has been found interesting even in a most inaccurate and dishonest French version.“ (Tauchnitz-Ausg., 97). Das Werk sei „in einem bewundernswürdigen Geiste geschrieben, gleichweit entfernt von Leichtsinn und Bigotterie, ernsthaft und ernstlich, und doch duldsam und unparteiisch.“ (60 der dt. Übers.). Dies war nun weit enfernt von einer fachlichen Beurteilung, und überhaupt stellte der Beitrag eigentlich einen mehr oder minder selbständigen Essay über die Geschichte des Papsttums dar. Die Bedeutung lag aber darin, daß sie Ranke in England bekannt machte. Noch 1885 erinnerte ein anonymer Beiträger der ‚Times‘ an Macaulays vor 45 Jahren erschienenen Essay, „which first brought the name of Ranke prominently before the people of England ...“ (The Times/22. 12. 1885). So sind in - 224 -
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England zu Lebzeiten Rankes weit mehr Ausgaben der ‚Päpste‘ erschienen als in Deutschland, und sein Sohn Friduhelm hatte bei einer Reise den Eindruck, daß „in Großbritannien der Verfasser der ‚Päpste‘ ein viel berühmterer und populärerer Mann war als in der Heimat“ (FvR/Febr. 1903, 193). Macaulays Artikel trug wohl auch zur Förderung des Rankeschen Ruhmes in Deutschland bei. Sein Sohn Otto glaubte zu wissen: „Erst als Macauley [sic] Rankes Namen unsterblich gemacht hatte, erinnerte man sich in Deutschland, daß dieser Mann ein Deutscher, ein Berliner Professor war“ (OvR/1912/1). Irische katholische Stimmen lauten hingegen außerordentlich kritisch. In der ‚Dublin Review‘ wird 1843 nicht nur die schon 1838 in Frankreich und Deutschland aufgekommene Detail-Kritik an Rankes Jesuiten-Darstellung thematisiert, derzufolge die Oberen der Gesellschaft befugt seien, die Sünde zu befehlen ([Anonym:] Recent charges/Febr. 1843, 47-49, 56.), es wird anläßlich einer Besprechung der ‚Päpste‘ sogar die Frage aufgeworfen „Is Ranke an historian?“ und, metaphorisch durchsetzt, mit ‚Nein!‘ beantwortet. Der nicht unsachverständige Rezensent erblickt „serious defects“ ([Anonym]/1843, 322) und gibt dem Bedauern Ausdruck, daß mit Rankes Werk bei bewunderungswürdiger Erzählung der äußeren Ereignisse die kirchliche und politische Geschichte der Päpste des 16. und 17. Jahrhunderts ungeschrieben geblieben sei. Rankes „theorized facts“ führten den Leser unausweichlich zu irrigen Schlußfolgerungen (323), zumal er mit seinen venezianischen Relationen nicht die reinsten Quellen der Wahrheit benutzt habe (325). Rankes Theorie bestehe in der angenommenen Herkunft von moralischen Wirkungen aus nicht-moralischen Ursachen, und sein Kardinalirrtum liege in der Darstellung der außerordentlichen eingeborenen Kräfte des Papsttums als mächtige Agentien seines Wiederauflebens, auf der Grundlage höchst mangelhafter und verderblicher Grundsätze (326), woraus folge, daß er wichtige Tatsachen in der Geschichte der Päpste unterdrücke (337). Mittlerweile gingen Rankes ‚Päpste‘ auch in die englische Forschung über: Beispielsweise beruht: ‚A History of the Articles of Religion: to which is added a series of documents from A. D. 1536 to A. D. 1615; together with illustrations from contemporary sources‘. Cambridge u. London 1851 aus der Feder von Charles Hardwick (1821-1859), „Fellow of St. Catharine’s Hall, Cambridge, and Whitehall preacher“ in Teilen auf Rankes ‚Päpsten‘, Band I, in der englischen Übersetzung von 1841, v. a. aber auf seiner ‚Deutschen Geschichte‘, Bd. III, ebenfalls von Sarah Austin übersetzt (1847). Dies gilt besonders für Kapitel II, ‚The Augsburg Confession‘ (8, 22-25, 32-37, 41, 91. - Siehe dazu auch Dockhorn/1950, 97). - Die andauernde Wirkung der ‚Päpste‘ auf die öffentliche Meinung in England wird von einem späteren Rezensenten der Londoner ‚Saturday Review of Politics, Literature, Science, and Art‘ anläßlich der vierten englischen Auflage ausdrücklich bezeugt, wobei auch auf den fördernden Einfluß der Besprechung Macaulays hingewiesen wird. Die 1866 mit dem Titel ‚Ranke’s History of the Popes‘ erschienene Besprechung des vorgenannten Anonymus bringt allerdings eine der nachdrücklichsten je veröffentlichten Kritiken, nicht an Rankes Objektivität, denn er sei der erste gewesen, der die Geschichte der Reformationszeit von beiden Seiten betrachtet habe (734), sondern an der unbefriedigenden Form und Substanz seiner Darstellung (s. I, 196f.). - Nicht ganz unähnlich ist die Besprechung des gerade in 5. deutscher Auflage erschienenen Werkes durch John Lord DalbergActon (1834-1902) im Jahre 1867. Dieser hatte Ranke zwölf Jahre zuvor in Berlin mehrere Besuche abgestattet, wobei ihm dessen Ansichten „durchaus oberflächlich“ - 225 -
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erschienen, so teilte er seinem Lehrer Ignaz von Döllinger mit, der dies gern gehört haben dürfte. Auch besuchte er Rankes Vorlesung, aber, so bemerkt Acton, „er leistet gar nichts als Lehrer. Es ist nicht der Mühe werth ihn zu hören“. Ranke habe „in seinem Wesen nichts ernsthaftes oder würdiges“ (14. 3. 55. Döllinger Briefwechsel I/1963, 57). Später schrieb er, Montalembert habe Ranke mit den Worten ‚Grand talent, petit esprit‘ „vortrefflich charakterisirt“ (3. 7. 1855, I/1963, 78). - Zu weiteren Begegnungen kam es in den Jahren 1861 und 1865, zuletzt 1877 (s. II/7.2). Actons Artikel erschien anonym unter dem schlichten Titel ‚Ranke‘ am 20. Juli 1867 im ‚Chronicle‘. Freundlichen allgemeinen Worten - es gebe keinen Historiker, dessen Ruhm auf einer so großen Zahl von Meisterwerken beruhe, und kein anderes Werk seitdem habe einen derartigen Einfluß auf einen bestimmten Wissenschaftszweig ausgeübt - folgt eine unnachsichtige, vor allem methodologische Beurteilung: Im Vergleich mit seinen neueren Darstellungen seien die ‚Päpste‘ in Wahrheit kein Buch von großer Kraft oder Forschung gewesen, wenn auch lehrreich für die kritische Quellenbenutzung. Diese sei von Stenzel auf das Mittelalter angewandt, von Ranke für die moderne Geschichte übernommen worden, wobei die von ihm herangezogenen Handschriften seiner Erzählung mehr „point“ als Solidität gegeben hätten. Insofern seien ihm die benutzten Relationen eher ein „magazine of curiosities“ als „the essential basis of a connected history“ gewesen. Heute könne das Werk nicht mehr, wie damals, als Klassiker gelten, stehe doch die letzte Ausgabe auf dem Stand des Wissens, den die Kenntnis des 16. Jahrhunderts in ihren Kindertagen besessen habe. Ranke versuche diesen Mangel zu ersetzen: „He devines much that he does not prove; and the weight of his own opinion makes him careless of his authorities.“ Seine Methode der Literaturbenutzung bestehe aus der Vorliebe, ein Werk wie das Darus oder Capefigues nach Nutzung eines einzelnen „extracts“ als ansonsten wertlos zu entlassen. Auch ergieße sich kein großer Strom durch sein Werk, der Lauf sei lediglich durch eine Seenkette markiert, und man sehe Scharmützel, nicht jedoch die Hauptschlachtordnung. Ranke sei nicht bereit zuzugeben, daß die moderne Geschichte verborgen sei in Myriaden noch ungesehener Dokumente und daß das Verfassen lebensfähiger Werke vorbereitet sein müsse durch die unterirdische Arbeit einer anderen Generation (393. Zu Actons Kritik der ‚Englischen Geschichte‘ s. I, 292f.). In Frankreich scheint sich das Urteil über Rankes ‚Päpste‘ nach den Kontroversen der ersten Jahre positiv abgeklärt zu haben. Pascal Duprat versicherte in seinen mehrfach genannten ‚Études critiques sur les historiens allemands contemporains. I. Léopold Ranke‘ der ‚Revue indépendante‘ vom 10. August 1843, Die ‚Päpste‘ seien eines der schönsten Bücher dieses Jahrhunderts, und niemals zuvor sei ein so großes und vollständiges Bild Roms in den letzten Jahrhunderten gezeichnet worden (379). Saint-René Taillandier erklärte in einem Artikel der ‚Revue des deux mondes‘ vom 1. April 1854 ausdrücklich nicht die ‚Deutsche Geschichte’, sondern die ‚Päpste’ zum besten Werk Rankes (53). - In der ‚Revue germanique‘ vom November 1859 ließ es sich Jules Grenier besonders angelegen sein, den Eindruck zu verwischen, der sich an die katholisierend-verfälschende französische Übersetzung geknüpft hatte: Ranke besitze die Fähigkeit, das ihm Fremde zu verstehen, er sei frei von Vorliebe oder Haß. Dies verleihe seinen ‚Päpsten‘ den Charakter der Unparteilichkeit (315). D i e s p ä t e r e A u f n a h m e d e s W e r k e s . - Ein Fortgang der Auseinandersetzung um Rankes ‚Päpste‘ in Deutschland ist in den beiden Jahrzehnten nach 1845 kaum noch feststellbar, wo überhaupt, dort wenig anspruchsvoll und vornehmlich durch das - 226 -
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Erscheinen neuer Auflagen geschäftsmäßig hervorgerufen. Eine 1845 in der ‚Literarischen Zeitung‘ erscheinende Besprechung von Band I in dritter Auflage bediente sich hauptsächlich aus Rankes Vorrede und war im Gegensatz zu Acton der Auffassung, die Zeit tue „Ranke’s historischem Urtheil keinen Abbruch“ ([Anonym]/4. 6. 1845, 699). Beiläufig nimmt sich der vierten Auflage eine 1855 in der ‚Katholischen LiteraturZeitung‘ erscheinende Besprechung der ‚Französischen Geschichte‘ an. Ein Rezensent mit dem Kürzel E. glaubt dem Werk gerecht zu werden mit der Bemerkung, Ranke habe bewiesen, daß er „mit seinem anerkennenswerthen Scharfsinne nur die kleinen und schwachen Seiten der Päpste aufzufassen und darzustellen im Stande war, ohne die gewaltige Idee des Papstthums, für die jede unbefangene Forschung begeistern muß, erfassen zu können.“ (121). - 1868 erschien in der ‚Neuen Evangelischen Kirchenzeitung‘, hervorgerufen durch das Erscheinen der fünften Auflage, eine kurze, schon panegyrisch geprägte anonyme Anzeige dieses „klassischen Werks deutscher Geschichtsschreibung“. Abgesehen von seiner „eminenten Bedeutung unter den Vätern der modernen Geschichtsschreibung“ nehme Ranke unbestritten „die hervorragende Stelle unter den Schriftstellern deutscher Nation“ ein. Er verbinde „mit dem klaren und weiten staats- und weltmännischen Blick ein so feines und innerliches Verständniß der religiösen Ideen und ihrer Triebkräfte in der Geschichte“. Seine Darstellung Loyolas und dessen Parallelisierung mit Luther (Bd. I) sei „voll Verständniß der inneren Motive evangelischer und katholischer Reformgedanken“ (334). Gerade diese Parallele war anderen Kritikern ein Dorn im Auge gewesen (u. a. [Anonym:] Beyträge zur Würdigung/1838 und [Anonym:] Is Ranke an historian? /1843). Das Interesse belebte sich ein wenig durch die 1874 dreibändig erschienene, um die Geschichte des Vaticanischen Konzils vermehrte sechste Auflage mit neuer Titelgebung: ‚Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten‘. Nur wenige Besprechungen ließen sich nachweisen, und diese sind von - ohnedies nicht fachlichem bescheidenem, routinehaftem Zuschnitt und auffallend geringem Umfang. Unter dem Kürzel a/D wandte Rankes Spätschüler Alfred Dove in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift ‚Im neuen Reich‘ im Erscheinungsjahr seine Aufmerksamkeit auch lediglich den beiden neuen bis 1870 führenden Schlußkapiteln zu, deren „gedrängte Darstellung“ sich „durch die Klarheit des Ueberblicks über die gleichzeitig einwirkenden Faktoren und durch die Tiefe der historischen Perspektive“ auszeichne (438). Für die kirchliche Entwicklung seit der Revolutionszeit bis zum Pontifikat Pius’ IX. und seiner „geistlichen Ueberhebung“ sei eine „etwas reichlichere“ Schilderung“ wünschenswert (439). - Ein Anonymus der ‚Allgemeinen Zeitung‘ nimmt das Werk des „Altmeisters deutscher Geschichtschreibung“, ohne eigentlich auf dessen Inhalt einzugehen, zum Anlaß einer scharfen Kulturkampfattacke gegen die katholische Kirche, die „den Eindruck eines wieder erneuten Heidenthumes der schlimmsten Art“ mache (zn: Ranke’s Päpste/1874, 4184) und gegen Pius IX., über dessen Pontifikat die Geschichte „nicht milder“ werde urteilen können als über das Alexanders VI.: „nicht ohne Züge von Großartigkeit und doch ein Pontificat des Verbrechens, des Verbrechens wider den Geist ...“ (ebd.). - Eine freundliche, überkonfessionelle, aber vorwiegend referierende oder zitierende Besprechung, welche ausschließlich den in dieser Auflage berücksichtigten neuesten Entwicklungen gilt, liefert ein anonymer Rezensent der ‚Schwäbischen Kronik [!]: Ranke gebe „eine treffliche, durchaus objektiv gehaltene Geschichte des vatikanischen Konzils, dessen Beschlüsse er als ein natürliches Ergebniß der modernen Entwicklung des Papstthums“ ansehe (++/1874). - Vermutlich Martin Philippson - 227 -
I/2.1.5.1 Geschichtsdenken seiner Zeit - Die ‚Päpste‘
schrieb im ‚Magazin für die Literatur des Auslandes‘ zwei Besprechungen der ‚Päpste‘ in 6. Auflage von 1874, welche nur erwähnenswert sind durch die bezeichnende Kürze, mit der das Werk des „so umsichtigen, gerechten und scharfsinnigen Historikers“ zu dieser Zeit abgetan wird (Ph.[ilippson?], M.[artin?]/14. 3. u. 6. 6. 1874. Zu Ph. s. I, 339f.). Auch ein Rezensent mit dem Kürzel Pn. (der Ranke-Hörer Theodor Hermann Pantenius?) beschränkte sich im ‚Magazin für die Literatur des Auslandes‘ auf die erweiterte Darstellung ab 1830 und lobte - in bedenklicher Formulierung - deren Objektivität: „nirgends möchte man den überzeugungstreuen Protestanten herauserkennen“ (Pn.: Die Päpste/1875, 345). Das anerkennende Referat schließt jedoch mit dem überraschenden Tadel, daß man in dieser Darstellung die von Ranke zu erwartenden „eingehenderen Aufschlüsse, großartigen historischen Ideen“ vermisse. Hier hätte man sich etwas weniger „Behutsamkeit und Selbstbeschränkung“ gewünscht (346), ein Wunsch, der auch von Ludwig Salomon in seiner 1881 erscheinenden ‚Geschichte der deutschen Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts‘ geteilt wurde (222). Rankes von ihm so bezeichneter „lieber Freund“, der preußische Generalfeldmarschall Edwin von Manteuffel, einer der eifrigsten Leser Rankescher Werke (s. I, 42, 72), hatte unmittelbar nach Erscheinen der 6. Auflage der ‚Päpste‘ den Einfall, am 11. Sept. 1874 Bismarck, mit dem er sich überwiegend in gespannten Beziehungen befand, einen Band zu übersenden, verbunden mit dem Anerbieten, eine Denkschrift Rankes „über die Behandlung“ der „Tagesfrage“ zu vermitteln (s. II, 345). In eine peinliche Lage versetzte sich Julian Schmidt, der Rankes Hervorbringungen im allgemeinen aufmerksam verfolgte. Er schrieb - im Titel ohne Bezug auf Ranke 1875 für Heinrich von Treitschkes ‚Preußische Jahrbücher‘ einen Beitrag ‚Die Päpste‘, eine gehoben feuilletonistische Skizze mit z. T. polemischen Gedankenspänen zur Geschichte des Papsttums unter dem Eindruck des Kulturkampfes. Einleitend setzt sich Schmidt kritisch mit Rankes ‚Päpsten‘ auseinander, einem Buch, das „eigentlich erst die deutsche Geschichtschreibung im Ausland zu Ehren gebracht“ habe (PrJbb. 36/Okt. 1875, 385). Ein entscheidender Mangel des Beitrags ergibt sich indes aus der Unaufmerksamkeit Schmidts, die ihn lediglich die 5. Auflage, nicht jedoch die gerade auf die neueste Zeit ausgedehnte 6. Auflage (SW 37-39) benutzen ließ, auf die doch mit Blick auf das Vaticanum alles ankam. Das war auch für Ranke ärgerlich, der sogleich mit seinem Verleger über den Beitrag, „der vieles Verkehrte“ enthalte, korrespondierte (18. 10. 75, Geibel/1886, 81). - Zwei Jahre vor Rankes Tod erschien aus der Feder Alfred von Reumonts ein Beitrag im ‚Historischen Jahrbuch‘ mit dem Titel ‚Die Analecten zu Ranke’s Römischen Päpsten‘, worin der Katholik bekennt, daß dieses Werk „ungeachtet der Verschiedenheit mancher Anschauungen“ auf seine „Jugend mächtig eingewirkt“ habe (Reumont/1884, 625). Davon abgesehen hinterlassen die mitgeteilten zahlreichen Ausstellungen und Ergänzungen zu Rankes unsystematischer Revision der Analekten einen für diesen peinlichen Eindruck. Noch 1853 hatte Reumont, mit dem gelegentlich einmal Briefe gewechselt wurden, Ranke seine ‚Beiträge zur italienischen Geschichte‘ (2 Bde, Bln. 1853, s. d. V-IX) gewidmet. Auch Rankes spätere Ausgabe der ‚Päpste‘ mit ihrer Pio Nono-Heranführung von 1874 gibt Reumont in seinem Ranke-Nachruf trotz grundsätzlichen Wohlwollens und weitreichender Anerkennung der allgemeinen Meisterschaft Rankes und seines „Kunstwerks“ Anlaß zu milden kritischen Bemerkungen, welche die bisweilen auftretende skizzenhafte Unfertigkeit des Werkes betreffen; „von welchem dann manches strengere Ausführung vermissen läßt.“ (Reumont/1886, 613). - 228 -
I/2.1.5.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Deutsche Geschichte‘
Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (I/2.1.5.2) Mit der „Aufnahme des Werkes bei der zeitgenössischen Kritik“ hat sich bereits Paul Joachimsen in der Einleitung seiner historisch-kritischen Ausgabe befaßt (Joachimsen I/1925, XCII-CV). Seine noch heute zu beachtende Analyse beruht freilich nicht nur auf einem allzu kleinen Ausschnitt der Stimmen, etwa einem Viertel des hier Nachgewiesenen, wobei ausländische und nicht rezensierende überhaupt unbeachtet blieben, sondern hat auch eine zumindest unterschwellige Tendenz, die Dinge günstiger zu stellen, als sie sind. Sowohl im süddeutsch-katholischen als auch im norddeutsch-protestantischen, im besonderen konservativ preußischen Lager, wird Rankes Reformationsgeschichte gern als Verteidigungsschrift des Protestantismus gesehen, das heißt, von beiden Seiten tritt eine gewisse Instrumentalisierung im Kampf der Konfessionen ein. Während das Werk zweifellos zu einer Förderung des protestantischen, ja nationalen Selbstverständnisses und Selbstbewußtseins beitrug, - man sprach von der „sowohl religiösen als nationalen Berechtigung der Reformation“ in der Sicht Rankes ([Anonym:] Der gegenwärtige Stand/1855, 146) - entstand auf katholischer Seite der ebenfalls nicht unbegründete Eindruck, es vertiefe die bestehende Spaltung in der Nation. Auf einen höheren Standpunkt suchte sich der Politiker, Viel-Literat und glühende Bismarck-Verehrer Hans Blum (1841-1910), Sohn Robert Blums, zu begeben. Er charakterisierte seine Erzählung ‚Die Äbtissin von Säckingen‘ wie folgt: „Und diese Darstellung steht keineswegs auf dem Standpunkt des trennenden Glaubensbekenntnisses. Sie stellt sich vielmehr auf den Standpunkt, den der Altmeister Ranke in seiner Reformationsgeschichte allen Deutschen, Katholiken wie Protestanten, gewonnen hat: der alle Deutschen befähigt, mit gleicher Freude zu erkennen, welche Fülle von Segnungen diese schönste Erhebung des deutschen Gewissens, Gemütes, Glaubens und sittlichen Ernstes in Staat, Sitte, Wissenschaft, Gesellschaft, Kirche, dem Völkerleben der neuen Zeit geschenkt hat.“ (Lebenserinnerungen II/1908, 88). - Dabei sucht die katholische Kritik, deren fachliche und moralische Hilflosigkeit gelegentlich nicht zu übersehen ist, auch bei Rankes ‚Deutscher Geschichte‘ ihr Heil häufig in Insinuationen. Die Kritiken insgesamt verfügen über eine weit größere Vielfalt an Gesichtspunkten und Argumenten als zum Beispiel bei Rankes ‚Preußischer Geschichte‘. Außer Fragen nach dem Verhältnis von Kirche und Staat, der historischen Bedeutung von Protestantismus und Papsttum, der selbst von protestantischer Seite ob ihrer Weichzeichnung nicht stets geschätzten Darstellung Luthers werden Grundfragen der Geschichtsanschauung berührt, dabei Rankes Objektivität und ‚Philosophie‘, ja sein Verhältnis zur Immanenz strittig beurteilt. Daneben steht, wie bereits bei den ‚Päpsten‘, seine Darstellungskunst zur Diskussion. Der Einschätzung Ludwig Häussers zufolge fanden „viele“ den Grund für eine Anerkennung der ‚Reformationsgeschichte‘ Rankes „in der glatten, anziehenden, eleganten Darstellung“ ([Häusser]/(1842),1869, 144), der Häusser allerdings persönlich ein besonderes Interesse entgegenbrachte (s. I, 199). Für eine pauschale Gesamtbeurteilung Rankes mag dieses Urteil zutreffen, bei seiner ‚Deutschen Geschichte‘ wurde indes öfter gerade der mangelnde Zusammenhang der Darstellung beanstandet, so auch, wie einleitend bemerkt, von Ranke selbst. Auch Julian Schmidt fand in seiner ‚Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert‘, Rankes ‚Deutsche Geschichte‘ falle gegenüber den ‚Päpsten‘ ab (Schmidt I/1853, 331). - 229 -
I/2.1.5.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Deutsche Geschichte‘
Wie bei der ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ und den ‚Päpsten‘, so war auch bei der ‚Deutschen Geschichte‘ Friedrich Carl von Savigny des Lobes voll. Am 9. Dezember 1839 schrieb er an Friedrich Perthes: „In dem Lobe über Rankes Buch [DtG] stimme ich ganz mit Ihnen überein. Es hat, neben dem neuen und wichtigen Inhalt, eine Frische und Lebendigkeit, wie man sie in unsrer massenhaften Literatur immer seltener antrifft, und wodurch der Leser in die günstigste Stimmung versezt [!] wird, das Dargebotene auch von seiner Seite lebendig aufzunehmen und zu fruchtbaren Gedanken zu verarbeiten.“ (Stoll II/1929, 518). Die konservative preußische ‚Literarische Zeitung‘ lieferte eine der ersten Besprechungen des Werkes. Fachlich ohne die geringste Bedeutung lobte sie den „freien, genialen Blick“ Rankes, mit dem er ein Werk geschaffen habe, „das uns in die Tiefen des menschlichen Glaubens, Wissens und Meinens“ hinabführe ([Anonym: Bespr. von DtG I u. II/Juli 1839], Sp. 523). Noch nie seien die politischen, literarischen und religiösen Gegensätze der Zeit „so scharf hervorgehoben worden“ (Sp. 524). Der bereits anläßlich seiner Kritik an Rankes ‚Päpsten‘ betrachtete Ignaz von Döllinger hielt auch diesmal nicht mit seinem Urteil zurück. In den ‚Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland‘ des Jahres 1839 vertrat er anonym eine dezidiert katholische theologische Position mit bisweilen predigthaftem Habitus, weit entfernt von quellenbezogenem Forschungsinteresse. Vielmehr begegnet auch hier ein unprofessionelles Archivalien-Vorurteil (s. I/2.1.2). Dazu ist aufschlußreich: „Als ob der Gang und die Bedeutung der Weltgeschichte, als ob die Erklärung der wichtigsten Weltbegebenheiten, als ob der Geist und das Wirken großer Fürsten und Helden aus dem Schutte und Moder zufällig erhaltener Druckschriften oder Pergamentstreifen zu erkennen und zu bemessen wäre!“ ([Döllinger: Bespr. von DtG I u. II]/1839, 660). Rankes Werk sei „eine Apologie der ‚Reformation‘“ (540), „die ganze Basis ... eine irrthümliche und verwerfliche“ (541), und was „über das Verhältniß zwischen Kirche und Staat angedeutet“ werde, müsse „als eine höchst verderbliche Ansicht erscheinen, nach welcher die Wesenheit des auf dem Gehorsame gegen eine überirdische Autorität beruhenden Glaubens zerstört, und die Religion der Politik dienstbar gemacht werden müßte“ (541). Die „ganze Stellung der römischen Kirche“ werde „als eine Usurpation, als Menschenwerk, als Geisteszwang, in Hinsicht auf ihre Verfassung sowohl als auf ihre Lehre, bezeichnet“ (544). In Rankes Darstellung, zumal der Luthers, würden „Dogma und Priesterthum ... als zufällige Formen und Ergebnisse der Scholastik und römischen Bestrebungen, der Gehorsam gegen die höchsten Autoritäten als ein durch die bessere Ueberzeugung des einzelnen Mannes bedingter, der Verstand als der höchste Richter in den wichtigsten Lebensfragen der Christenheit hervorgehoben.“ (552). „Die lange ununterbrochene Reihe der Priester, Bischöfe, Päpste...“ werde in Rankes Auffassung „zu einer Schaar von Götzendienern, von Werkzeugen eines bewußten oder unbewußten Betruges, bei welchem die Kaiser und Könige stattlich mitgeholfen, herabgewürdigt.“ (655). Ranke habe überdies eine „durchaus falsche Ansicht von der eigentlichen Bedeutung der dogmatischen Aussprüche der ... Concilien“. (661). - Die Besprechung endet mit einer Verurteilung jener idealistischen Philosophie, welche „das Absolute zu erfassen sucht in der Unbedingtheit und Ewigkeit des denkenden Geistes.“ (668), - eine Bemerkung, die vermutlich auf den beim bayerischen Kronprinzen Maximilian höchst einflußreichen Schelling gemünzt war. Auf eine nicht minder heftige Ranke-Kritik - „Insinuationen“ - des katholischen Gießener Professors der Kirchengeschichte, Kaspar Riffel (1807-1856, Weis, P. Anton: - 230 -
I/2.1.5.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Deutsche Geschichte‘
Riffel, Kaspar. In: ADB 28/1889, 606f.) wies Rettberg (1845, Sp. 224) hin. Sie findet sich wohl in der Mainzer Zeitschrift ‚Der Katholik‘, die ausdrücklich als Verteidigungsorgan des Katholizismus gelten wollte. Der Kritik der ‚Historisch-politischen Blätter‘ stellte sich die ‚Zeitschrift für Protestantismus und Kirche‘ zunächst anonym kurz in ihrem Dezemberheft von 1839 entgegen. Mit Häme konstatierte sie, die Beurteilung habe sich „hinter dem Ofen vor innerer Angst elephantenmäßig aufgeschwollen“ und „sich plötzlich in Dunst und Nebel“ aufgelöst, im übrigen bewiesen, daß Ranke kein Papist und „über Kirche, Priesterthum, Sakrament ganz anderer Meinung“ sei als das tridentiner Koncilium ([Anonym]: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation/1839, 92, Anm.). Der Rezensent ist vorwiegend an der Frage interessiert, welche Lehren sich aus Rankes Werk hinsichtlich einer „Erkenntniß und Verständniß der deutschen Kirchenerneuerung“ ziehen lassen (92). Eine Frage, in der Menzel und Leo „durch eine Unparteilichkeit, die nicht parteiischer seyn könnte, der Wahrheit und der evangelischen Sache geschadet haben...“ (ebd.). „Wie viel klarer“ sehe dies Ranke (93). - Die Zeitschrift wappnete sich jedoch erst im Mai 1840 zu einer eigentlichen Abwehr des Döllingerschen RankeAngriffs. Dem Aufsatz Döllingers widersprach dabei anonym möglicherweise Johann Christian von Hofmann (1810-1877), einer der frühen Hörer Rankes, „dessen Darstellung des Christentums in seiner weltumfassenden geschichtlichen Bedeutung“ ihn angezogen hatte (Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Hofmann, Johann von. In: NDB 9/1972, 454f., hier 454). Hofmann wurde später in Rostock ordentlicher Professor für Altes und Neues Testament (ebd.). Seinen Verteidigungsbeitrag gegen die „von aller Spur geschichtlicher Kennnisse entblößte Beurtheilung“ Rankes durch Döllinger ([Hofmann?]/1840, 88) brachte er im Mai 1840 mit dem Titel ‚Leopold von Ranke vor dem Richterstuhle der historisch-politischen Blätter‘ passend in der ‚Zeitschrift für Protestantismus und Kirche‘ unter. Dabei wird im wesentlichen nur die Kritik an Rankes Quellenverwertung zurückgewiesen, mit der Bemerkung: „Die historisch-politischen Blätter zeigen sich auch bei geschichtlichen Forschungen gut römisch-katholisch, nämlich der Schrift abhold und der Tradition ergeben.“ (ebd.). Auch der Herausgeber der Zeitschrift, Gottlieb Christoph Adolf (später: von) Harleß, wird als Verfasser angesehen (nach A. Portmann-Tinguely: Görres-Bibliographie 1993, 339. Zur Verfasserschaft siehe auch Merz/1934,107f.). Die ‚Historisch-politischen Blätter‘ ließen nicht ab von Ranke. Der bereits anläßlich der ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ betrachtete Karl Ernst Jarcke hatte - konvertiert - anonym in die ‚Historisch-politischen Blätter‘ eine Artikelserie ‚Studien und Skizzen zur Schilderung der politischen Seite der Glaubensspaltung des sechszehnten Jahrhunderts‘ geliefert, deren elfte, 1841 erschienene Folge von ‚Luther’s Verhalten während des Bauernkriegs‘ handelte. Abschließend konnte er es nicht unterlassen, Rankes Lutherdarstellung mit einer ironisch-abfälligen Bemerkung zu versehen: „Dieß ist die historische Kunst des großen Geschichtschreibers Leopold Ranke, Professors der Geschichte zu Berlin und Mitgliedes der dortigen Akademie der Wissenschaften. Wenn die der Wahrheit abgeneigte Parthei so weit zurückgekommen ist, in einer absichtlichen Oberflächlichkeit ihr Heil suchen, und sich des affectirt leichtfertigen Drüberhinsehens als des letzten Mittels zur Verhüllung der Wahrheit bedienen zu müssen, dann ist die Zeit nicht mehr fern, wo diese wieder in ihre heilige Rechte [!] tritt.“ ([Jarcke]/1841, 192). - 231 -
I/2.1.5.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Deutsche Geschichte‘
Eine tendenziell ähnliche Fortsetzung der Döllingerschen Besprechung von 1839 fand 1843 Platz im 12. Band der ‚Historisch-politischen Blätter‘, mit ‚Bemerkungen über den IV. und V. Band‘ der ‚Reformationsgeschichte‘. Hier heißt es, wieder aus der anonymen Feder Döllingers: „Die ordinäre protestantische Auffassungs- und Darstellungsweise der Geschichte kömmt uns wie eine Art von Gasbeleuchtung vor, in welcher sich, vom neblichten Halbdunkel an bis zur Verklärung durch bengalisches Feuer, eine Menge künstlicher Nuancierungen bemerken lassen; nur Eines fehlt: das helle Sonnenlicht der Wahrheit. Einer der keckesten und gewandtesten Meister in jenen Taschenspielerkünsten ist offenbar der berühmte preußische Historiograph Leopold Ranke...“ (569). 1844 folgte ein Beitrag von Jodocus Stülz (1799-1872) über ‚Charitas Pirkheimer‘, der Ranke bewußte Irreführung in theologischen Fragen vorwarf (wie von Leonhardt/2004, 128f. erläutert). - In ihrer Ranke-Ablehnung gingen die ‚Blätter‘ so weit, den Protestanten und gar Konsistorialrat Karl Adolf Menzel (1784-1855) in beleidigender Weise über Ranke zu erheben. Eine 1847 erscheinende anonyme Besprechung von Band 12 der ‚Neueren Geschichte der Deutschen von der Reformation bis zur Bundes-Acte‘ Menzels (Breslau 1826-1848) erklärte: „Seitdem es bei uns eine Geschichtschreibung gibt, hat es keinen zweiten Meister der historischen Kunst gegeben, wie K. A. Menzel ...“ (HpBll 19/1847, 651). Sein Standpunkt sei „noch keineswegs der katholische ..., auf welchem allein der Historiker den Schlüssel zum Geheimniß der Geschichte und den rechten Einblick in die Wege Gottes auf Erden“ gewinne (651f.). Er stehe aber „an Redlicheit und Adel der Gesinnung eben so hoch über Ranke, wie an Geist und gesundem Urtheil über Friedrich v. Raumer“ (652). Die Begeisterung der ‚Blätter‘ erklärt sich aus einer Mitteilung des Ranke-Schülers Colmar Grünhagen (1828-1911): Ranke habe „sehr recht gehabt mit seinem Urtheil, übertriebenes Gerechtigkeitsgefühl für die Gegner“ habe Menzel „zu Ungerechtigkeiten gegen die Reformation verleitet, ein Vorwurf, der denn auch ganz besonders auf seine Darstellung des 30jährigen Krieges anzuwenden sein dürfte.“ (Grünhagen, Colmar: Menzel, Karl Adolf. In: ADB 21/1885, 380f.). Nach Durchführung seiner Besprechungen macht sich bei Döllinger nun das Bestreben geltend, der vergleichsweise hochqualifizierten protestantischen Geschichtsschreibung möglichst Gewaltiges und zugleich Vernichtendes entgegenzusetzen, eine begreifliche Tendenz, die später in den Werken von Janssen, Klopp und Pastor auf extreme Weise kulminierte. Döllinger, der in Rankes ‚Deutscher Geschichte‘ „nicht bloß ‚eine Apologie der Reformation‘“ sah, „sondern insbesondere den Versuch, den Protestantismus als das Ideal von Kirche darzustellen ...“ (Friedrich, Teil II/1899, 240f.), veröffentlichte sein dreibändiges Gegenwerk ‚Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des lutherischen Bekenntnisses‘ in den Jahren 1846 bis 1848, um „den gewaltigen Eindruck von Rankes Reformationsgeschichte zu verwischen“ (Bornkamm/1955, 52). „Völlig dem Geiste Rankes und der neuen, nach Ursachen und inneren Zusammenhängen forschenden Geschichtsschreibung zuwider, war es kein Werk mit eigentlich historischen, sondern mit rein polemischen Absichten“ (ebd.). Die Spekulation, Ranke habe zu Band I des Werkes in der Berliner ‚Literarischen Zeitung‘ (Nr. 21, 14. 3. 1846), unter dem Titel ‚Die Reformation und des Professors I. Döllingers Ansichten von derselben’ „wahrscheinlich ... selbst“ eine Besprechung verfaßt (Friedrich Teil II/1899, 245), hat keine Wahrscheinlichkeit für sich. - Es berührt seltsam und läßt auf beträchtliche Wandlungen schließen, Döllinger zwar mit Verspätung (s. Ringseis IV/1891, 42), doch seit 1863 neben Ranke in den Sitzungen der ‚Historischen Kommission‘ wiederzufinden. Über Rankes Werk - 232 -
I/2.1.5.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Deutsche Geschichte‘
scheint der Professor der Kirchengeschichte und des Kirchenrechts öffentlich von nun an geschwiegen zu haben, wie er auch 1871 bei einem Treffen mit Giesebrecht, Gregorovius und Ranke schwieg, „stumm und in sich gekehrt, während Ranke vor witziger Rede sprudelte“ (s. II/7.2). In seinen späteren Lebensjahren distanzierte er sich gar von sich selbst und früheren Äußerungen über Ranke, indem er gestand, „viel von ihm gelernt“ zu haben. Ranke urteile „mit der größten Objektivität“ (Gesprächsäußerung, Brechenmacher/1996, 469, A. 141). - Sybel, präsidialer Nachfolger Rankes, bemerkte später in seiner Gedächtnisrede auf Giesebrecht und Döllinger anläßlich der Versammlung der Historischen Kommission im Jahre 1890, daß Döllinger Ranke 1868 angeregt habe, „einen von diesem bereits 1858 gestellten, damals aber als unausführbar zurückgelegten Antrag wieder aufzunehmen, die Herausgabe der Allgemeinen Biographie der Deutschen“ (Sybel: Vortrr. u. Abh./1897, 333). Döllinger stand übrigens mit einigen Ranke-Kritikern in Briefverkehr, so mit seinem Schüler Lord Acton und mit Johann Friedrich Böhmer. Die ‚Göttingischen gelehrten Anzeigen‘ welche sich - vermutlich in der Person Friedrich Wilhelm Rettbergs - 1835 in wenig geistvoller Weise mit Rankes ‚Päpsten‘ befaßt hatten (s. o.), brachten im Mai 1840 und im September 1841 Besprechungen der Bände I und II bzw. III der ‚Deutschen Geschichte‘, jeweils unter dem VerfasserKürzel R.-g., das wohl wiederum als ‚Rettberg‘ gedeutet werden darf. Der Rezensent betont stark den Wert des Werkes für das Verständnis der Gegenwart, lobt die „eindringliche Forschung, die durchaus klare Darstellung“ (Bd. 2/Mai 1840, 850) und die Heranziehung neuen archivalischen Quellenmaterials. Fachhistorische Vergleichs- oder Einordnungsmöglichkeiten fehlen ihm ebenso wie philosophische Fragestellungen. In der „Aufdeckung des Frappanten und Staunenerregenden“ sei die Kunst Rankes „unübertroffen“ (853). Der Rezensent beschränkt sich dann auf die Besprechung eines „besonders interessanten Puncts“, auf „die Frage nach dem Grunde, worauf die Berechtigung der protestantischen Fürsten auf die Gestaltung ihrer Landeskirchen beruht“ (855-859). - Die Beurteilung des „Meisters“, die Rettberg 1841 bei Band III des „wahrhaft Epoche machenden Werks für die Geschichte der Refomation“ (1384) vornimmt, erstreckt sich im wesentlichen auf Rankes Darstellungsweise (s. I, 203). Dem entsprechen auch Rezensionen der in Halle und Leipzig erscheinenden ‚Allgemeinen Literatur-Zeitung‘, die zunächst 1842 anonym für die Bände I-III, sodann offen unter Rettbergs Namen 1845 für die Bände IV und V der Reformationsgeschichte erschienen. (Eine dort im Okt. 1840 erschienene Kurzanzeige der Bände I und II war fünfzeilig und ohne Belang). Rettberg betätigt auch hier wiederum sein starkes Interesse an Rankes Darstellungsstil. Ihm kommt das an anderer Stelle näher zu betrachtende Verdienst zu, auf Stilmittel Rankes, besonders nachdrücklich auf den Zusammenhang von individualisierender Darstellung und Objektivitätsanmutung aufmerksam gemacht zu haben. Auf zeitgebundene reformationshistorische Einwände des von ihm nicht identifizierten Rettberg hat Joachimsen (DtG I/1925, XCIII) aufmerksam gemacht. Die ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ stellten 1840 unter dem Titel ‚Die Reformation in französischer und deutscher Auffassung‘ einen Vergleich der Rankeschen Reformationsgeschichte mit dem 1839 zweibändig in Paris erschienenen Werk von J. M. V. Audin an, betitelt ‚Histoire de la vie, des écrits et des doctrines de Martin Luther‘. Im Heft des 21. Juli wandte sich Rezensent 43 in einer nicht fachhistorischen, doch selbständig und prononciert formulierten, literarisch und philosophisch ausge- 233 -
I/2.1.5.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Deutsche Geschichte‘
richteten Betrachtung dem Rankeschen Werk zu, „einer ebenso erfreulichen Erscheinung im Gebiete der historischen Literatur, als die des französischen obengenannten Werks widerwärtig für uns war“. Ausgehend von nationalistisch boshaften Vergleichen französischer Historiographie, welche „gar zu leicht in feile oder leidenschaftliche, gewissenlose Parteigängerei ausartet“, und deutsche, „der es nur um die Wahrheit an sich ... zu tun ist“, konstatiert der Rezensent doch für letztere wegen der angeblich reinen Sachbezogenheit eine häufige „Gleichgültigkeit gegen den geistigen Inhalt des Stoffes“. Insofern habe man sich in den meisten früheren Werken Rankes, „insbesondere“ seinen ‚Päpsten‘ „des Gefühls einer gewissen Kälte nicht erwehren“ können, „das uns bei allen Werken des menschlichen Geistes befällt, in denen die Kunst die Naturwahrheit überflügelt hat“, welch letztere man bei Ranke „mitunter mehr oder weniger“ vermißt habe. Diese Naturwahrheit erzeuge sich „nur aus einem unmittelbaren Hingeben und Identificiren an und mit dem Inhalt des zur Verarbeitung gegebenen Stoffes, ... aus dem gemüthlichen, reinmenschlichen Verhältniß des Subjects zum Objecte ... Dieses gemüthliche Verhältniß zum Stoff und dessen Inhalt kann bei dem Historiker in nichts Anderm als dem Antheil bestehen, den er der weltgeschichtlichen Idee ... stets bezeigt.“ (817). Der Rezensent schlägt von hier aus einen Bogen zum Problem der eigenwillig betrachteten Unparteilichkeit (s. I, 153f.). - Rankes ‚Reformationsgeschichte‘ stelle auch in dieser Hinsicht einen bedeutenden Fortschritt gegenüber seinen früheren - mitunter diplomatisierend indifferenten - Werken dar, durch „lebendigere Theilnahme an den dargestellten Begebenheiten“, „ausgesprochenere Gesinnung“, „größere Wärme der Darstellung, eine bedeutendere Schärfe des Urtheils und mehre [!] Bestimmtheit der Charakteristik“. So habe Ranke ein Werk geliefert, „das den wichtigsten Abschnitt der deutschen Geschichte ... kunstvoll und doch natürlich, fein und doch klar, mit mannigfaltigem Detail und doch übersichtlich, geistig verarbeitet und doch treu, besonnen und doch lebendig, vorurtheilsfrei und doch nicht charakterlos“ vor Augen führe, „ - wie bis jetzt noch nicht geschehen ist.“ Gleichwohl folgt dann eine manches zurücknehmende Einschränkung: Wäre Ranke „ein tieferer und energischerer Charakter gegeben“, so würde er „unter den Koryphäen der Historiographie überhaupt zählen ... Schade ist, daß die Natur nicht Schlossers Charakter und Ranke’s Geist in einem Individuum vereinigt hat.“ (818; s. auch I, 176). Mittlerweile war nach Döllingers konfessioneller Kritik von ganz anderer Seite ein neuer Angriff auf Rankes Reformationsgeschichte erfolgt. Die linkshegelischen ‚Hallischen Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst‘ lieferten unter dem Kürzel r vermutlich Theodor Echtermeyer - einen Artikel für das Januarheft des Jahres 1840. Er enthielt die verantwortungsabweisende, möglicherweise fiktive briefliche Mitteilung eines nicht genannten „geistreichen Freundes“ zu Rankes ‚Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation‘, bar jeglicher Fachkenntnis, welche auf das herabwürdigende Urteil hinauslief: „Anekdotengeschichte“, - ein Artikel, der vor allem unter dem Gesichtspunkt der Rankeschen Darstellungskunst zu betrachten war (s. I, 198f.). Darüber hinaus kündigte man aus anderer Feder eine fachliche Kritik an. Sie erschien im Herbst desselben Jahres, stammte von dem protestantischen Tübinger UniversitätsBibliothekar Karl August Klüpfel (1810-1894) und dürfte die Auftraggeber schließlich wenig gefreut haben (Siehe dazu Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825 bis 1880, I/1886, 214f. m. A. 2.). Möglicherweise hatte man übersehen, daß Klüpfel vordem auf einer Reise von Ranke in Berlin „freundlich aufgenommen“ worden war (Schneider, Eugen: Klüpfel, Karl August. In: ADB 51/1906, - 234 -
I/2.1.5.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Deutsche Geschichte‘
244f., hier 244). Seitdem ließ ihn das Thema ‚Ranke‘ nicht mehr los. Klüpfels Nähe zum Reformationsthema zeigt u. a. seine Bearbeitung der beiden Bände von der Reformation bis zur französischen Revolution in der ‚Allgemeinen Weltgeschichte für alle Stände mit besondrer Rücksicht auf die Geschichte der Religionen sowie auf das Bedürfniss der gebildeten Jugend beiderlei Geschlechts‘ von Ludwig Amandus Bauer (6 Bde Stg. 1836-1839) sowie seine auf Anregung Rankes unternommenen Studien zur Geschichte des Schwäbischen Bundes (s. II, 466). In seiner aktuellen Besprechung vom September und Oktober 1840 sah Klüpfel - dem Formulierer des „Anekdotengeschichte“-Vorwurfs gleichsam ins Gesicht schlagend - nach Rankes „trefflicher Geschichte des Papstthums“ in der ‚Deutschen Geschichte‘ die Reformation als „wichtige Bewegung deutschen Geistes ohne confessionelle, oder politische Befangenheit, ohne Beigeschmack einer theologischen Schule, mit dem großartigen Sinn, den der Gegenstand fordert, aufgefaßt.“ Rankes Werk stelle keine „politische Geschichte Deutschlands während der Reformation“ dar, sondern eine „eigentliche Reformationsgeschichte“ (Klüpfel/1840, Sp. 1709). Rankes ‚Päpste‘ und seine ‚Reformationsgeschichte‘ werden, wie Klüpfel mit Weitblick vermerkt, „forthin als eigentlich classische in der deutschen Geschichtslitteratur gelten.“ (Sp. 1697). Der Reformationshistoriker und Ranke-Editor Paul Joachimsen hat auf eingeschränkter Grundlage nahezu das Rechte getroffen, als er bemerkte, die Besprechung Klüpfels stelle „die weitaus tiefste und bedeutendste Würdigung der Reformationsgeschichte innerhalb der zeitgenössischen Kritik“ dar (Joachimsen in DtG I/1925, p. C). Dabei ist jedoch eine gewisse Abhängigkeit von der bemerkenswerten Besprechung der ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ vom Juli des Jahres in Anschlag zu bringen, die Joachimsen unbekannt war. Klüpfel hat übrigens seine Ranke-Betrachtungen 1843 und 1844 fortgeführt (s. u.). Klüpfel sieht, und damit tritt er bereits 1840 den Interessen seiner Auftraggeber ein wenig näher, in diesem Werk Rankes eine „sehr fruchtbare Vorarbeit für eine Philosophie der Geschichte“ (Sp. 1698), ja, Ranke verstehe es, „das Leben selbst nach dessen geistigem Gehalt zu fixiren, er läßt uns die Arbeit des Weltgeistes selbst schauen. Die großartigen Begebenheiten und Resultate erscheinen in seiner Darstellung weder als willkürliche Producte menschlicher Thätigkeit, noch als Resultate einer ‚naturwüchsigen‘, mit mechanischer Nothwendigkeit fortschreitenden Entwicklung, sondern als freie Thaten des Weltgeistes, als Dramen, vom göttlichen Geiste gedichtet.“ (ebd.). Anders als die ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ bemerkt Klüpfel bei Ranke „vor Allem ein entschiedenes Bewußtsein von der Immanenz Gottes in der Welt. Die Geschichte ist ihm Offenbarung Gottes, Verwirklichung der Idee...“ (1698). Die Idee der Vorsehung sei für ihn „reale Wahrheit“ (1699), und die Reformation sei ihm „eine aus der Tiefe deutscher Nationalität und des religiösen Lebens hervorbrechende Erscheinung“ (1699). „Der durch das Ganze hindurchgehende Faden“ sei ihm „aber nicht der bloße logische Proceß, jenes reine Denken, in welchem eine einseitige philosophische Richtung den Kern der Welt und Alles Daseins sieht, sondern jenes volle Leben des Geistes, das weit mehr in sich schließt, als das bloße Denken. Dieser Geist ist ihm aber das allein Reale...“ (ebd.). Bemerkenswert, daß auch Klüpfel auf das damals wenig beachtete Prinzip der Individualität hindeutet, doch in konkreterer, auf die Akteure der Geschichte bezogener Weise: „Auf dieser tieferen Weltansicht beruht auch die Anerkennung der Individualitäten“: Die auftretenden Gestalten seien nicht „bloß ... Träger der Ideen“, sondern auch „Persönlichkeiten mit selbständigem Werth“ (ebd.). Rankes Luther-Darstellung gehöre „gewiß zum Besten, was je über ihn gesagt worden“ (1956). Eine ausführlichere Würdigung hätte sich der Re- 235 -
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zensent allerdings von Luthers hochbedeutender Schrift ‚An den christlichen Adel deutscher Nation‘ gewünscht (1964). - Kirche und Staat werden von Klüpfel, anders als in der dialektischen Betrachtung der ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘, primär als „einander ergänzende Offenbarungen oder Verwirklichungen“ des „göttlichen Geistes“ angesehen (1700), und Ranke sei „unter den Neuern der erste“ gewesen, der die „dem Papstthum analoge Beschaffenheit des Kaiserthums“ „klar zum Bewußtsein gebracht“ habe (1707). - Damit sind hier pointiert Themen angesprochen, welche die Diskussion um die Substanz von Rankes Geschichtsanschauung bis heute mitbestimmen. Weitere Besprechungen des Werkes nahmen in schneller Folge ihren Lauf: Das ‚Theologische Literaturblatt‘ zählte am 26. Juni 1840 Rankes Werk unter die „tüchtigsten Vertheidigungsschriften des Protestantismus“ (D. H./1840, Sp. 617). „Ranke hatte in seiner Geschichte der Päpste eine kirchliche Unbefangenheit gezeigt, welche beinahe befürchten lassen mußte, er werde, wenn er an die Geschichte der Reformation selbst komme, wenn auch nicht in die Fußtapfen [!] eines K. A. Menzel, Fr. v. Raumer u. A. treten, doch die Berechtigung des päpstlichen Systems in einem für die Principien der evangelischen Kirche nicht sehr günstigen Sinne durchführen. Aber je näher der Verf. dem Schauplatze der kirchlichen Opposition im sechszehnten Jahrhunderte tritt, je genauer er ihre Gründe verfolgt, je treuer er sich ihre einzelnen Thätigkeiten aus den Quellen selbst vergegenwärtigt, desto beredter wird seine Vertheidigung der Reformation, desto entschiedener seine Verwerfung des römischen Princips.“ (Ebd.) „Die römischen Machinationen gegen die protestantische Kirche überhaupt und gegen Preußen insbesondere hätten, unseres Dafürhaltens, keine treffendere Widerlegung finden können, als durch das vorliegende Werk Ranke’s.“ (Sp. 618). Die ‚Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung‘ lieferte im September 1840, im vorletzten Jahr ihres Bestehens, unter dem Autorenkürzel A. Schr. eine Besprechung der ersten beiden Bände der ‚Reformationsgeschichte‘. Der Verfasser befleißigte sich dabei eines auffallend höflichen Tones gegenüber dem „hochverehrten, trefflichen“ Verfasser (413) und der „historischen Meisterschaft“ (386) dieses „eben so interessanten als gründlichen und geistreichen Buches“ (391), so daß man geneigt ist, an einen Schüler Rankes zu denken. Ranke nehme unter den neueren Historikern „wegen seiner umfassenden Quellengelehrsamkeit und seines hellen geistreichen Blickes ... eine eben so bedeutende als ehrenvolle Stelle ein.“ (385). Dies mag Paul Joachimsen dazu geführt haben, die Besprechung „fast enthusiastisch“ zu nennen und alles Abträgliche beiseite zu lassen (DtG/ed. Joachimsen I/1925, p. XCII). In die überwiegend nacherzählende, positiv gestimmte Besprechung ohne fachhistorischen Charakter und ohne konfessionell aggressive Polemik sind doch einige bemerkenswerte Andeutungen eingestreut, so über Rankes Unparteilichkeit. Er habe die damalige Religiosität „in ihrer Totalität mit ächt historischem Geiste, ohne Liebe und Leid oder Haß“ aufgefaßt (Sp. 393). Doch wisse er „überall den Standpunct der Beurtheilung anzudeuten“ (Sp. 396). Und wo Köppen später nur von „Redensarten“ sprach, da sieht der Rezensent der ‚Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ „Gedankenblitze ein Licht“ anzünden (396). Auch die von fast allen Rezensenten bemerkte Gegenüberstellung des religiösen und politischen Elements in der Reformationsgeschichte wird hier für „trefflich“ erklärt (393). Ein mehrfach geäußerter Vorwurf des Rezensenten betrifft die Proportionen der Darstellung, Rankes „aphoristische andeutende Manier“ (403. Siehe dazu I, 196). Von grundsätzlicherer Bedeutung ist die Feststellung, Rankes Darstellung der „Tendenzen der Bauern dürfte indessen noch mancher Ergänzung und Vervollständigung bedürfen“ - 236 -
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(411), oder in der Darstellung Friedrichs des Weisen seien die „Schattenseiten in seinem Charakter“ übergangen (397) und ein Wunsch, der später bei Gelegenheit von Rankes ‚Französischer‘ und ‚Englischer Geschichte‘ geäußert wird, „weniger ausführlich die auswärtigen Verhältnisse, die Schlangenwindungen der auswärtigen Politik, die Details der französisch italiänischen Kriege und der Schlachten und Feldzüge darzustellen, und sich dagegen noch mehr an seine eigentliche Aufgabe, an die ‚Geschichte der Deutschen im Zeitalter der Reformation‘ zu halten“ (413). Die abschließenden Bemerkungen des Rezensenten über Rankes „philosophische Auffassung und Betrachtung“, die „nicht eine in die Geschichte hineingetragene, sondern unmittelbar und unwillkürlich aus derselben hervorgehende und sich von selbst mit Nothwendigkeit gleichsam aufdrängende ist“ (414), tritt doch mehr als eine Pflichtübung auf, denn der Rezensent zeigt sich sonst nirgends an Fragen interessiert, die zu den bedeutenderen in den Besprechungen der ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ von Juni/Juli 1840 und der Klüpfelschen in den ‚Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst‘ vom Sept./Okt. 1840 zählten. Die auf Hegel zurückgehenden ‚Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik‘ wurden damals immer noch von Seiten des preußischen Kultusministeriums unterstützt, kräftig zensiert und kaum noch gelesen (Obenaus/1973, 72, 75f.). Sie brachten im Oktober 1840 eine Besprechung der ersten beiden Bände von Rankes Reformationsgeschichte aus der Feder eines Rezensenten ‚Binder‘. Ob bei dessen erheblicher Kritik nicht nur der Einfluß des Ministeriums, sondern auch der gemeinsame Verlag (Duncker und Humblot in Berlin) von Besprechungsorgan und Besprechungsgegenstand noch eine mäßigende oder keine Rolle gespielt haben, wird kaum zu entscheiden sein. Bei dem Rezensenten dürfte es sich um den protestantischen „liberalen Theologen und Schulmann“ Gustav von Binder (1807-1885) handeln (s. ‚Ein Liberaler Theologe und Schulmann in Württemberg. Erinnerungen von Dr. Gustav v. Binder 1807-1885‘. Im Auftrag des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins hg. von Max Neunhöffer, Stg. 1975). Binder veröffentlichte, immerhin thematisch passend, 1843 ‚Zwei Ablaßbriefe aus dem Stadtarchiv zu Heidenheim‘ und 1844 eine Abhandlung ‚Über den Nutzen der Geschichte und ihres Unterrichts, besonders auf Gymnasien‘ (Kgl. Gymnasium zu Ulm, Programm). Seine Besprechung bringt in ihren harmlosen Partien gelegentlich ein Lob aus für die „genauere“ oder „sehr lebendige“ Schilderung mancher Einzelheiten, beanstandet auch teils die Korrektheit, teils das Fehlen einzelner Chronologica (612, 620) und eine nicht überzeugende Periodisierung (609f.), erhebt aber im wesentlichen schwerwiegende Vorwürfe, die teils theologisch, teils hegelisch, auch fachhistorisch gegründet sind: zunächst den Vorwurf des „geflissentlichen Vermeidens eines tieferen Eingehens auf die religiösen Fragen“ (Sp. 607), sodann Rankes angebliche Auffassung einer gewissen Inferiorität der Kirche gegenüber dem Staat, auf dessen Seite „alle historischen Ehren“ kämen (Sp. 607). Hieraus leite sich die Ansicht her, „als sei die Reformation wesentlich nur das Product einer sittlich-politischen Erhebung gegen den römischen Katholicismus“ (608). Dabei sei der „innere Gegensatz in der Kirche selbst, die allmählige Befreiung des religiösen Selbstbewußtseins von der harten Knechtschaft des Gesetzes, wodurch allein die Reformation wahrhaft vorbereitet wurde, ... gänzlich übersehen“ (609). Bei seiner Beschäftigung mit Hegels Philosophie der Geschichte, auf die Binder ausdrücklich hinweist, habe sich gezeigt, daß „aus der Betrachtung des politischen Weltlaufs dem Geschichtschreiber das Unendliche nur als unerkannte Macht der Dinge überhaupt, als abstractes Schicksal“ resultiere. Wenn nun - 237 -
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der Historiker sich „nur mit seiner sittlich-politischen Einsicht auf das Feld religiöser Erscheinungen“ begebe, sei zu befürchten, „daß er uns mehr nur unbestimmte Reflexionen, erhabene Sentenzen u. dergl. ... darbieten werde“ (608). Bei Rankes Werk komme zudem sehr viel darauf an, ob die von ihm vorgenommene „Zurückstellung der religiösen Energie, welche in der Reformation sich kundgegeben hat, durch eine um so unbefangenere und liberalere Würdigung ihrer weltlichen Momente ersetzt werde.“ (Ebd). Insofern erscheint dem Rezensenten „die Ansicht des vorliegenden Werkes im Religiösen oft zu nüchtern und kühl, im Politischen bisweilen zu ängstlich“. Darunter habe auch „hie und da“ - nicht jedoch in Rankes zweitem Band mit einzelnen Abschnitten „künstlerischer Vollendung“ - die „Auswahl und Anordnung des geschichtlichen Stoffes ... gelitten“, weswegen man gern auf „eine Anzahl der abstracten, als bloßer Schmuck überflüssigen, als Erklärung unzureichenden Bemerkungen“ verzichten würde. Unter deren Einmischung habe die Darstellung anfangs „eine ungleiche, zerrissene Gestalt erhalten.“ (Ebd.). - Als allzu weit hergeholt erscheinen dem Rezensenten die zu Beginn des 2. Buches vorgeführten orientalischen Religionen: „Auf einem weiteren Umwege, als diesem, ist doch wohl die Nothwendigkeit der Reformation noch selten deducirt worden“ (613. Siehe auch I, 253). Hingegen erscheint die Darstellung des Bauernkrieges nicht umfassend genug (619), und die Darstellung Luthers ermangele der Tiefe, verbunden mit der von Ranke nicht hinreichend beantworteten Frage, „warum hat Ein Subject an die Spitze der ganzen Bewegung treten müssen, und warum ist gerade dieses Subject auf diesem und keinem andern Wege zum reformatorischen herangebildet worden?“ (614). Die ‚Hallischen Jahrbücher‘ glaubten offensichtlich, es sich schuldig zu sein, die vermeintlichen Klüpfelschen Verfehlungen im Sinne Hegels richtigzustellen und zugleich der ‚Jenaischen Allgemeine Literatur-Zeitung‘ vom September 1840 entgegenzutreten: In einem (noch mehrfach heranzuziehenden) anonymen Beitrag vom Mai 1841 über ‚Die berliner Historiker‘ behandelte Karl Friedrich Köppen besonders Gans, Raumer (sehr abwertend), Stuhr, Helwing, Ranke und Doenniges („Möge er sich immer mehr von Ranke emancipiren“, 438f.). Ranke selbst gilt der gelegentlich geistreiche, aber im Ganzen doch unsubtile Versuch einer allseitigen Vernichtung. Im „diplomatischen Pragmatismus“ seiner Geschichtsschreibung träten „substantielle Mächte, ideale Potenzen“ nur als „Redensarten“ auf: von philosophischer Anschauung sei bei ihm „keine Spur“ (431). Die in Wien erscheinenden ‚Jahrbücher der Literatur‘ hatten sich 1837 lobend über Rankes ‚Päpste‘ geäußert. Damit war es nun vorbei. In den Jahren 1841 und fortgeführt 1846 nehmen sie anonym Rankes ‚Deutsche Geschichte‘ vor, zunächst die Bände I bis III, sodann die Bände IV und V. Es handelt sich bei dieser Besprechung im Gesamtumfang von gut 200 Druckseiten um die umfangreichste je einem Werk Rankes zuteil gewordene kritische Studie, die auch - heute noch unverbraucht - zu den bedeutendsten zu zählen ist (Joachimsen in DtG I/1925 nennt sie nicht). Sie steht natürlich auf einem dezidiert katholischen Standpunkt, enthält jedoch keine der auf dieser Seite gelegentlich auftretenden Platitüden und Invektiven. Der noch unbenannte Verfasser dürfte erfahrener Historiker sein. Er zieht Schriften von Bensen, Gfrörer, Karstenbruck, Leo, Menzel, von Müller, Raumer, Rühs, Schroeckh und Voigt heran. So ist auch seine Kritik nicht primär philosophischer, theologischer oder literarischer Natur, jedoch getragen von bemerkenswerten allgemeinen Grundbeobachtungen. Es ist dies vor allem die als „Grundprinzip“ der Rankeschen Darstellung gedeutete „Nothwendigkeit eines - 238 -
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beständigen Kampfes zwischen dem nationalen und kirchlichen Elemente“, ein Prinzip, das der Rezensent aus österreichischer Sicht gänzlich verwirft, denn die Nationalität könne „mit dem religiösen, kirchlichen Prinzip nimmer in Widerspruch gerathen“, da sie „eine unzerstörbare Einheit“ bilden (Bd. 93, Jan./Febr./März 1841, 156). Dies zu stützen, sucht er in der Geschichte des Mittelalters aufzuzeigen, daß es sich „damals fortwährend um ein harmonisches Zusammenwirken beyder Gewalten ... gehandelt“ habe (161). Ranke kenne in der Mittelalter-Darstellung seiner ‚Päpste‘ „diese Meinung einer nationalen Opposition gegen die religiösen Institutionen und Autoritäten durchaus noch nicht“ (162, siehe auch 179). Doch nun sei es ihm darauf angekommen, „die Reformation als eben den Kampf der deutschen Nationalität mit dem religiösen Prinzipe ... nachzuweisen“ (157). Und zwar in der Weise, daß „die nationale Opposition gegen ... die kirchliche Hierarchie“ bereits in den Anfängen des Deutschen Reiches vorhanden gewesen, in der Reformation dann „in ihrer Allgemeinheit“ hervorgetreten sei (163) und „alles, was gegen die katholische Kirche geschehen, eine bloße n a t i o n a l e [i. T.] Bewegung und Fortschritt gewesen“ sei, „die leider durch die künstlichen Reaktionen der Gegner auf das nachtheiligste unterbrochen wurden.“ (Bd. 95, Juli/Aug./Sept. 1841, 28). - Eine weitere Grundthese der Kritik liegt in der Annahme, Ranke habe die Reformation „vorzugsweise als den Ausdruck der neueren Ausbildung des Menschengeistes in wissenschaftlicher und intellectueller Hinsicht“ aufgefaßt. Dieses Moment gelte ihm mehr als das religiöse. „Dadurch aber gewinnt ... jene Ueberzeugung ... immer mehr Raum: die Reformation habe, der Hauptsache nach keine religiöse Restauration bewirken können oder auch nur wollen, sondern dieselbe leitete ... eine bloße geistige Entwicklungsstufe ein“. Es haben also „nicht zwey verschiedene religiöse Elemente gegen einander gekämpft, sondern die Kirche ... führte nur einen Vertheidigungskrieg gegen die neben ihr aufwachsende, neue geistige Macht...“ (Bd. 96, Okt./Nov./Dez.1841, 25). Bemerkenswert auch die Zurückweisung der Rankeschen Auffassung, die Spaltung in der Nation sei erst durch die Gegner der Reformation eingeführt worden (Bd. 95, Juli, Aug., Sept. 1841, 7). Nicht ungefährlich, zumindest unangenehm für Ranke war die Behauptung des Rezensenten, von Ranke sei „bey weitem mehr Verschuldung von Oben her angedeutet“ worden, „dagegen die Opposition von unten herauf durch die Massen als nothwendige Gegenwehr erklärt“ (Bd. 93, Jan./Febr./März 1841, 173), wozu auch Rankes Satz herangezogen wird, daß sich in der Reformation „der nationale Geist nach Jahrhunderten langer innerer Bildung ... gleichsam selber inne“ geworden, „sich von der Ueberlieferung“ losgerissen habe. Da stelle sich die Frage: „Spricht dadurch nicht der Verf. gewisser Weise, ja unverhohlen die Revolution aus?“ (183). Ranke verstehe es auch, „offene Auflehnung gegen die legitime Gewalt und das wahrste anarchische Streben geistreich und künstlich genug zu verkleiden“ (Bd. 94, Apr./Mai/Juni 1841, 296). Zwar findet Rankes Darstellung gelegentlich Lob, so die Schilderung der „Lage der Dinge um die Mitte des funfzehnten Jahrhunderts“ und der vorreformatorischen ständischen Angelegenheiten (Bd. 93, Jan./Febr./März 1841, 163f.), ja es ist die Rede von „hinreißendster Darstellung“, freilich „oft in gefährlichste Dialectik“ ausartend (Bd. 96, Okt./Nov. Dez. 1841, 25), doch es wird auch stellenweise Unkenntnis (Bd. 114, Apr./Mai/Juni 1846, 159) und bewußte Irreführung vorgeworfen (162). In summa sieht der Rezensent Rankes Werk als „eine Tendenzgeschichte des reformatorischen Zeitalters“ an (131), allerdings nicht im gewöhnlichen platten Sinn, sondern insofern die Reformation als „das allein Berechtigte, das vorzugsweise Geltende“ auftrete, als „jenes geistige Fluidum, welches die älteren Zustände überwunden und als das allein Bestimmende des neueren Welt- 239 -
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und Kulturganges anzusehen ist“ (132). Auch suche er „die Moralität und den rechtlichen Moment in diesem großen geschichtlichen Drama möglichst in den Hintergrund zu stellen ... und mehr oder weniger die Zeit und die handelnden Personen als von einer unwiderstehlichen höheren Gewalt getrieben darzustellen.“ (132f.). Der bereits mehrfach bemühte, damals 24jährige, Schlosser nahestehende Heidelberger Privatdozent Ludwig Häusser, versehen mit ausgeprägten journalistischen und preußisch kleindeutschen politischen Neigungen, erhielt 1842/1843 erstaunlicherweise Gelegenheit, die Reformationsgeschichte Rankes - anonym - ausführlich in der Augsburger ‚Allgemeinen Zeitung‘ zu besprechen. Er hatte sich 1839 und 1840 erst nur durch kleinere Arbeiten ausgewiesen, die wenigstens historiographiegeschichtlicher und überlieferungskritischer Natur waren (s. Fuchs, Peter: Häusser, Ludwig. In: NDB 7/1966, 456-459), allerdings der Reformationsgeschichte fern lagen. Doch er trat den Themen Rankes noch näher, obgleich er diesem kaum wesensverwandt war: Durch seine 1845 erscheinende ‚Geschichte der rheinischen Pfalz nach ihren politischen, kirchlichen und literarischen Verhältnissen‘ (2 Bde, Heidelberg 1845) gewann er erstes Ansehen. Seine Ranke-Nähe zeigt sich thematisch später auch in der mehrfach aufgelegten ‚Deutschen Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des deutschen Bundes‘ (4 Bde, 1854-57). Ferner hielt er Vorlesungen zum Reformationsthema, die allerdings Ranke in ausdrücklicher Form nur in kurzen Literatur-Nachweisen berühren (‚Ludwig Häusser’s Geschichte des Zeitalters der Reformation 15171648‘. [Aus dem NL] Hg. von Wilhelm Oncken, Bln. 1868). Außer der Besprechung der ‚Reformationsgeschichte‘ lieferte er in den Jahren 1849 und wiederum 1852 bis 1856 mehrteilige Besprechungen der ‚Preußischen‘ und der ‚Französischen Geschichte‘ Rankes (s. u.). Seit 1858 gehörte Häusser, über den auch Berufungsgutachten Rankes für München und Berlin vorliegen (s. II, 327, 329), zu den Gründungsmitgliedern der ‚Historischen Kommission‘, was ihn als Rezensenten Ranke gegenüber zum Verstummen brachte, wohingegen diesem in seiner Rede zur Eröffnung der VIII. Plenarversammlung am 2. Okt. 1867 die Pflicht eines Nachrufs auf den früh Verstorbenen zufiel (s. II/6.5). - Häussers Besprechung nun von 1842/1843 widmet sich nicht der forschungsgeschichtlichen Bedeutung Rankes, wirft auch kaum philosophische oder theologische Fragen auf, befaßt sich vielmehr, abgesehen von dem üblichen Geschehensreferat, in erster Linie mit der Darstellungsweise Rankes und seiner ‚Objektivität‘. Das Treffende mancher Beobachtungen gerät jedoch in die Gefahr des Zwielichts, denn es ist gelegentlich fast unklar, ob Häussers Urteil aufs Ganze gesehen zu unentschieden oder gar widersprüchlich ausfällt oder ob er lediglich einzelne de facto uneinheitliche Befunde formuliert und daraus kein angemessenes Gesamturteil bildet. Doch kann letztlich kein Zweifel sein, daß in seinen emotionalisierten Verklausuierungen eine massive Objektivitätskritik vorgetragen wird (s. I, 165). Karl August Klüpfel wandte sich nach seiner positiven Besprechung in den ‚Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst‘ von September und Oktober 1840 im Jahre 1843 der ‚Deutschen Vierteljahrs Schrift‘ zu, mit einer Abhandlung über ‚Das philosophische Prinzip in der Geschichtschreibung‘, in der er wiederum das Thema der Rankeschen Reformationsgeschichte aufgriff, verbunden mit der in seiner Besprechung von 1840 bereits vorgebildeten allgemeinen Forderung einer Ideendarstellung. In den ‚Jahrbüchern der Gegenwart‘ veröffentlichte er im Folgejahr einen Beitrag über ‚Nationale Bestrebungen in der neuesten deutschen Geschichtschreibung‘. Auch hierin nahm er Bezug auf Rankes ‚Deutsche Geschichte‘: „Ranke - 240 -
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hat die Reformation als eine wesentlich deutsche Bewegung dargestellt. Die Beschäftigung mit kirchlichen und religiösen Dingen ist ihm ein charakteristisches Moment des deutschen Nationallebens und die Epoche der Reformation diejenige unserer Geschichte, in welcher die Lebensthätigkeit des Volkes in seinen kraftvollsten, productivsten Trieben stand. Die in Folge der Reformation eingetretene Trennung in zwei feindliche Parteien leitet er davon ab, daß der eine Theil durch fremden Einfluß der volksthümlichen Bewegung abtrünnig gemacht wurde, und daß ein Kaiser an der Spitze stand, welcher den deutschen Interessen fremd war. Es ist ... eine entgegengesetzte, aber gewiß viel wahrere, auf richtigerem Verständniß des Volksgeistes beruhende Ansicht, als diejenige, welche uns glauben machen will, der Protestantismus sei eine willkührliche Störung der nationalen Entwicklung. Auch in anderer Beziehung ist Ranke’s Werk für die nationale Geschichtschreibung von Wichtigkeit, es giebt ein Beispiel, wie das geistige Leben eines Volkes, dessen politische, religiöse, sociale und litterarische Seite als ein Ganzes aufgefaßt werden muß. Eine Geschichte von Deutschland, in dieser Art geschrieben, müßte der Idee entsprechen, welche wir oben davon aufgestellt haben.“ (650f.). - Später stellte er in dem mit Gustav Schwab erarbeiteten ‚Wegweiser durch die Literatur der Deutschen. Ein Handbuch für Gebildete‘, Rankes ‚Deutscher Geschichte‘ das Werk von Karl Hagen gegenüber: ‚Deutschlands literarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter. Mit besonderer Rücksicht auf Wilibald Pirkheimer (3 Bde, Erlangen 1841-1844): Dieses Werk kehre „eine früher vernachlässigte Seite der Reformation hervor“ und bilde „eine sehr wichtige Ergänzung zu Ranke.“ (Klüpfel/1870, 103). Klüpfel war es auch, der Hagen (1810-1868) einen biographischen Artikel widmete (ADB 10/1879, 341-343). In den Jahren 1841, 1843 und 1844 war Hagen, damals noch Heidelberger Privatdozent, mit seinem dreibändigen Werk hervorgetreten, das in mehrfacher Beziehung unter dem Eindruck von Rankes ‚Reformationsgeschichte‘ stand, doch nicht, wie das baldige Döllingersche Reformationswerk, polemischen, sondern in erster Linie ergänzenden Charakter hatte, wie sich schon im Titel zeigte. Zum einen hatte sich Hagen darin gleichzeitige Flugschriften aus der Windsheimer Stadtbibliothek zunutze gemacht (Klüpfel/341), eine Gattung, die auch Ranke nicht verachtete, zum anderen war es ihm darauf angekommen, gerade im Gegensatz zu diesem, wie er glaubte, nicht die äußeren Begebenheiten zu schildern, sondern „die geistige Bewegung, welche damals die Gemüther ergriffen hatte, zu schildern, darzuthun, wie sich die neue öffentliche Meinung gebildet...“ Die „äusseren Begebenheiten“ kenne man „hinlänglich aus den früheren Bearbeitungen, neuerdings aus der Ranke’s“ (Hagen II/1843, p. VII), dieser habe „die politische Seite“ der Reformationszeit behandelt (XII). „Ich glaube“, so schrieb er im Vorwort zu Band I, „daß meine Arbeit auch neben dem ausgezeichneten Werke Leopold Rankes nicht überflüssig ist, da ich ein viel spezielleres Ziel verfolge.“ (VI). Der Hauptzweck seines dritten Bandes bestand in dem Nachweis, „wie die protestantische Kirche ... schon in dem dritten Decennium des 16ten Jahrhunderts von dem Prinzipe der Reformation abfiel ... und daß hingegen die ächt reformatorischen Ideen von den ketzerischen Sekten und Parteien vertreten wurden ... Jene ketzerischen Sekten sind bisher viel zu wenig beachtet worden...“ (Hagen III/1844, p. VIII). „Neuerdings erst hat man auf sie aufmerksam gemacht, wie z. B. Ranke im dritten Bande seiner deutschen Geschichte.“ (IX, A. 1). - Es liegt auf der Hand, daß Ranke diesem Werk und seiner „demokratischen Richtung“ (Klüpfel/1879, 341), ja Modernität, nichts abgewinnen konnte, und Georg Waitz, der - 241 -
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sich stets zu seiner Verteidigung berufen fühlte, verfaßte 1846 in Briefform einen Beitrag betitelt ‚Deutsche Historiker der Gegenwart‘, in dem er darzulegen suchte, daß sich in Rankes Darstellung die Reformation „zu einem grossen Ziel, zu unvergänglichem Heil für das deutsche Volk und die Menschheit überhaupt“ hin bewegt habe, wohingegen Hagen mit der Behauptung hervorgetreten sei, „dass die Reformation ihre Absicht verfehlt, die Erwartungen der Zeitgenossen getäuscht, für die Nachkommen kaum etwas Segensreiches, Grosses und dauernder Anerkennung Würdiges geschaffen habe.“ (Waitz/1846, 16). Im Gegensatz zu früheren kritikarmen Beurteilungen der regierungsgestützten ‚Literarischen Zeitung‘ ist eine (von Joachimsen DtG/I/1925 wiederum übersehene) 1844 erschienene anonyme Besprechung der nunmehr in fünf Bänden vorliegenden ‚Deutschen Geschichte‘ bei allem vorgeblichen Bemühen, dem Werk Rankes nichts von seiner Bedeutung zu nehmen, doch von der Absicht einer Fundamentalkritik getragen, die man als überwiegend treffend bezeichnen muß. Ranke habe der „Reformationsepoche die Stellung gegeben, welche ihr in der Weltgeschichte zukommt, er hat die positive Bedeutung, welche sie hat, gefaßt und auf überzeugende Weise im Einzelnen dargelegt.“ (1078). Die ganze reformatorische und nachreformatorische Geschichte könne „nur vom protestantischen Prinzip aus richtig ... aufgefaßt werden“, und Ranke habe die Betrachtung auf diesen Standpunkt gehoben, „der vielleicht noch tiefer begründet, aber nie wieder umgestoßen werden kann. Von dieser Seite ist sein Werk gewiß klassisch zu nennen.“ (1079). Doch der Rezensent hätte erwartet, daß Ranke, der eine „Neigung zur philosophischen Betrachtung“ habe, sich dieser auch „ganz“ hingegeben hätte: „Unterdrücken läßt sich dieselbe doch nicht, wenn er ihr also nicht ganz folgt, so wird sie sich so äußern, wie wir es bei R. finden, nämlich in allgemeinen Sätzen, welche mit feinem Takte aus dem geschichtlichen Stoff abstrahirt oder ganz richtig auf denselben angewendet werden, denen aber in den meisten Fällen die letzte Bestimmtheit und Gewißheit fehlt“ (920). Auch habe eine „gründliche Durchführung“ des von Ranke betonten Gedankens einer Wechselbeziehung von Kirche und Staat nicht stattgefunden (921). „Wenig Auskunft“ werde man daher aus Rankes Werk über die Tatsache erhalten, daß die Reformation „ein ganz bestimmtes Moment, eine eigene Stufe“ in der Geschichte der „Ideen von Kirche und Staat“ repräsentiere (ebd.), und erschöpfend seien auch nicht Natur und Geist „der deutschen Nation in Bezug auf ihre Stellung innerhalb der christlichen Welt“ erforscht worden. (ebd.). Die Schilderung der religiösen Stellung des Papsttums sei lediglich gekennzeichnet durch eine Besprechung der „praktischen Mängel der Kirche“. Es hätte indes auch gezeigt werden müssen, „daß die Natur des Papstthums in religiöser Hinsicht kein Genüge leistete.“ Man habe hier ein „Beispiel davon, daß sich R. auf jene letzten Gedanken, welche den Grund der Dinge enthalten, nicht gern einläßt, während er allerdings die in der Geschichte unmittelbar liegenden allgemeinen Gedanken recht gut herauszuheben weiß“ (1083). Von Interesse ist auch die Verbindung, die der Rezensent in Rankes diplomatischer Quellenbenutzung und Darstellungsweise sieht. Ranke gerate bei der „unleugbar meisterhaften Dialektik“, mit der er „die Wendungen der Diplomatie“ verfolge, „so tief in dieses Netz hinein, daß er den anderweitigen Stoff nicht immer gehörig verarbeiten“ könne. Dies führe zu dessen äußerlicher Einbringung, in der Art: „da war es nun merkwürdig“ (1080) oder durch allgemeine Gedanken. Daher rühre auch seine Eigentümlichkeit, „unzählige, meist kleine Abschnitte“ zu bilden: „er theilt ins Unendliche, setzt die Theile zusammen, und kaum ist er in diesem Geschäft - 242 -
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begriffen, so unterbricht er sich wieder ...“ (1080). Dies eine Kritik, die mehrfach erhoben wurde, so auch bereits von Acton zu Rankes Papstwerk. Zwar sei Ranke darin „Meister, Uebersichten zu geben“, doch seien diese „in der Regel zu kurz, erstrecken sich meist nur über ein beschränkteres Gebiet, und ihre Anzahl ist daher zu groß“ (1080). Nach Erscheinen des fünften Bandes, im Jahre 1843, war der darstellerische Teil der Reformationsgeschichte an ein Ende gelangt. Der nicht unbedingt noch erwartete sechste Band mit ‚Urkunden, Auszügen und kritischen Bemerkungen‘ erschien erst 1847. Ranke wurde daher die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Marburg bereits im Mai 1844 zuteil. Theodor Brieger hat 1883 in einer Festrede bei der Luther-Feier der Universität Marburg dieser Verleihung gedacht und Ranke gerühmt als einen Mann, „welcher, der überzeugteste Protestant, seine historische Forschung frei von allen Einflüssen der Tagesströmungen betrieben“ habe, und Brieger fährt fort: „Die folgenden Jahrzehnte haben es glänzend bewährt, daß dieses Vertrauen begründet war. Denn wie gewaltig hat doch gerade durch seine strenge und freie Arbeit Leopold Ranke auf das Leben des deutschen Volkes, der protestantischen Welt gewirkt!“ (Brieger/1883, 24. Siehe dazu R.s Brief an Brieger, 18. 11. 83). Im Übergang vom vierten auf das fünfte Jahrzehnt scheinen auch die Besprechungen des Werkes zunächst ein Ende zu nehmen. Beiläufige Urteile finden sich nun jedoch in den unterschiedlichsten Veröffentlichungen. In Franz Bieses ‚Handbuch der Geschichte der deutschen National-Literatur für Gymnasien und höhere Bildungsanstalten‘ von 1848 wird vor allem die „genetische Anschaulichkeit“ der kunstvollen Darstellung Rankes hervorgehoben (683). - Ganz anders der Döllinger-Schüler Joseph Edmund Jörg (1819-1901), Mitarbeiter und bald Herausgeber der ‚Historisch-politischen Blätter‘. In seinem 1851 erschienenen Werk, provokativ katholisch betitelt ‚Deutschland in der Revolutions-Periode von 1522 bis 1526, aus den diplomatischen Correspondenzen und Original-Akten bayrischer Archive dargestellt‘ (Freiburg i. Br.), das ohne Rankes Vorbild nie entstanden wäre, nutzt er dessen ‚Reformationsgeschichte‘ an einigen Stellen (6, 13, 16, 17, 60, 67, 68), kritisiert jedoch an anderen die Darstellung, welche dort quellenmäßig unbelegt sei (85) oder „die der Wahrheit wenig“ entspreche (83, ähnlich 88, 91, 93, 95, 602). Seine schärfste Kritik lautet: „Für die künstlichen Täuschungen und absichtlichen Dementi’s, welche sich dieser Historiker zu Schulden kommen läßt, um in einem sehr kurzen Ueberblick die Haltung Luthers im Bauernkrieg zu verunschuldigen, hat ihn der Verfasser der ‚Studien und Skizzen‘ [s. o. Karl Ernst Jarcke/1846] ... nach Verdienst gegeißelt.“ (289, A. 12). - In dieses Fahrwasser begab sich auch Wilhelm Volk (1804-1869), der unter dem Pseudonym Ludwig Clarus publizierte. Er stand mit den Herausgebern der ‚Historisch-politischen Blätter‘ in enger Verbindung, verkehrte neben Vater und Sohn Görres mit dem konvertierten Georg Phillips, konvertierte selbst (s. Fränkel, Ludwig: Volk, Wilhelm. In: ADB 40/1896, 227-230) und verfaßte in missionarischem Eifer u. a. ein dreibändiges Werk mit dem Titel ‚Wanderungen und Heimkehr eines christlichen Forschers‘ (Schaffhausen Bd. I u. II 1862; Bd. III, 1863). In Band II (98-146) richtete er ein eigenes barock betiteltes Kapitel ein: ‚VIII. Capitel. Ranke’s deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, ein Muster, wie man nicht Geschichte schreiben soll, und wie empfindlich sich die Vernachlässigung des Grundsatzes: sine ira et studio et sine praejudicio namentlich in kirchlichen Dingen rächt. - Betrachtungen über diese geistvolle, fleißige und doch verkehrte Weise der historischen Forschung und Darstellung. - Die Fehler- 243 -
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haftigkeit dieser Weise wird auch in Raumers Auffassung Friedrichs des Großen speciell nachgewiesen.‘ - Mit Rankes Luther-Darstellung war man gelegentlich auch auf protestantischer Seite nicht ganz zufrieden. Häusser fand die derberen Züge in Luthers Natur nicht dargestellt (Häusser (1842)/1869, 164, s. I, 165). Sein Urteil wurde noch 1853 in der von Gustav Kühne herausgegebenen Zeitschrift ‚Europa. Chronik der gebildeten Welt‘ zustimmend aufgegriffen ([Anonym:] Ranke’s Luther/1853, 424, siehe auch ebd. 447f. mit weiteren Urteilen über Ranke und die Charakteristik Huttens). - Dem entsprach, wenn auch in bildhaft übertreibender Manier, das Urteil des Demokraten Johannes Scherr. Er fand, Rankes „diplomatische Schablone“ passe nicht auf Kolosse wie Luther, Cromwell und Friedrich Wilhelm I. von Preußen. Aus Luther habe er einen „diplomatischen Waschlappen“ gemacht (Scherr (1862)/1864, 176f.). Ferdinand Christian Baur hat in seinem 1852 erschienenen Werk über ‚Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung‘ sein bedeutendes geistiges Potential nicht hinsichtlich einer tiefer gehenden Beurteilung Rankes ausgeschöpft. Er vergleicht darin lediglich den „subjektiven Pragmatismus“ Gottlieb Jakob Plancks (1751-1833) mit der „objektiv gehaltenen und ebendarum auch weit einfacheren und durchsichtigeren Geschichtschreibung“ Rankes. Für einen weiteren Vergleich empfiehlt Baur „besonders die bei den beiden Historikern wesentlich verschiedene Schilderung Carls V. und die ganze Periode vom Reichstag in Augsburg ... bis zum Ausbruch des schmalkaldischen Kriegs“ (176, s. I, 158: Baur, Kritische Beiträge zur Kirchengeschichte 1845). Bei seiner Übersicht über die geschichtswissenschaftlichen Institutionen und Fachrichtungen, über die Arbeiten an größeren Bereichen der deutschen „Gesammtgeschichte“ und der Landesgeschichte betrachtete ein anonymer Verfasser der ‚Deutschen Vierteljahrs Schrift‘ von 1855 in einem bemerkenswerten eigenständigen Beitrag, betitelt ‚Der gegenwärtige Stand der deutschen Geschichtsforschung und Geschichtschreibung‘ besonders auch die ‚Deutsche Geschichte‘ und die ‚Neun Bücher preußischer Geschichte‘. In ersterer habe Ranke die Reformationszeit „zuerst wieder in Verbindung mit der deutschen Reichsgeschichte gebracht, und die ganze politische Reformbewegung ... gleichsam neu entdeckt“. Die Dinge seien hier „von hoher Warte aus ... welthistorisch und staatsmännisch betrachtet, und die sowohl religiöse als nationale Berechtigung der Reformation mit aller Entschiedenheit ...“ vertreten ([Anonym:] Der gegenwärtige Stand/1855, 146). Mit dem Jahre 1867 belebte sich das Interesse an Ranke und an seiner ‚Deutschen Geschichte‘ wieder ein wenig, bildete diese doch den Auftakt der Ausgabe seiner ‚Sämmtlichen Werke‘, den man geschickt mit der Feier des 50jährigen Doktorjubiläums und damit auch dem 350jährigen Reformationsjubiläum zusammengelegt hatte. Doch fällt der Umgang mit seinem Werk ganz anders aus als bei dem ersten Erscheinen vor nahezu drei Jahrzehnten. Überwiegend wird auf den Inhalt dieser vierten Auflage nicht mehr eingegangen, das Erscheinen lediglich zum Anlaß klischeehaft euphorischer ‚Gesamtwürdigungen‘ Rankes oder knapper formaler Hinweise genommen, die gelegentlich gerade das Gegenteil von dem preisen, was in früheren Zeiten mehrheitlich geurteilt worden war. Auch ließ sich kein ausgewiesener Historiker finden, der eine ausführliche zusammenfassende Bewertung und historiographiegeschichtliche Einordnung des Werkes abgegeben hätte. Konfessionell geprägte Äußerungen finden sich kaum noch. Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, daß - zum Teil mit beträchtlicher Verspätung - Pflichtübungen vorgenommen werden. Letzteres gilt für eine mit dem Kürzel pp. gezeichnete, außerordentlich nüchterne Besprechung, eher Anzeige des - 244 -
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Werkes, in Band 18, 1867, der ‚Historischen Zeitschrift‘, von der mancher anderes erwartet haben dürfte, die jedoch kein beurteilendes Wort, keine allgemeinen Gesichtspunkte bot, sich vielmehr auf formale Hinweise zu den Änderungen gegenüber der Vorauflage beschränkte. Dies entsprach einer Haltung, welche Sybels Zeitschrift auch gegenüber Rankes ‚Französischer Geschichte‘ einnahm (s. u.). Zu den interessanteren Würdigungen gehören hier einmal zwei Besprechungen des ‚Literarischen Centralblatts für Deutschland‘ vom Mai 1867 und Januar 1869. Ranke stehe neben Niebuhr als „zweiter moderner Classiker“ der deutschen Nation. Erst das „jetzt heranwachsende Geschlecht“, das „wieder nach den großen und eisernen Menschen“ suche und geneigt sei, „sich einer starken Leitung willig unterzuordnen“ - und solche Gestalten habe Ranke „in die Lichthöhe seiner Darstellung gerückt“ - werde ihm Popularität „voll und wirklich und wohl für lange Dauer zollen“ (Sp. 542). Die des öfteren geübte Kritik an Rankes schwächlicher Darstellung großer ‚Charaktere‘ von Luther über Heinrich VIII. bis zu Friedrich Wilhelm I. ist hier vergessen. Obgleich der Rezensent des ‚Centralblatts‘ bei dieser Neuauflage einige veraltete Zitate zu monieren hat, sind ihm doch Rankes „Resultate ... von dauernder und gemeingültiger Wahrheit.“ (Sp. 542). - Das ‚Centralblatt‘ vom 16. Januar 1869 fährt in dieser Art fort: Vorzugsweise an der ‚Deutschen Geschichte‘ Rankes habe „die jüngere Generation der Geschichtsforscher die methodische Arbeit gelernt“, habe sie „den künstlerischen Aufbau als ein unerreichbares Vorbild studiert“, - den Ranke bei diesem Werk selbst ganz anders beurteilte (s. I, 214) -, „ ... Tausende von gebildeten Laien sind durch dieses Werk Freunde einer ernsten geschichtlichen Wissenschaft geworden“ (Sp. 84). Auf eine inhaltliche Beurteilung verzichtet der Rezensent und hält nur noch einige mehr äußerliche Beobachtungen zu den Abweichungen der neuen Auflage fest. - Eine laienhafte und unkritische ‚Besprechung‘ lieferte auch das ‚Magazin für die Literatur des Auslandes‘ 1867 in seinem 36. Jahrgang unter dem Autorenkürzel E. M. Worin Ranke „epochemachend in der Historiographie“ dastehe, sei seine Methode. Die Ergebnisse seiner Forschungen seien „längst Gemeingut“ geworden, seine Schriften würden „wegen ihres einfach [!] klaren Inhaltes und ihrer ansprechenden Form immer gern gelesen werden.“ (505). So hatte das bisher wohl kaum jemand gesehen, vielmehr war die allgemeine Meinung die gewesen, man könne ihn „populär ...eigentlich nicht nennen“, denn er setze „von dem Thatsächlichen zu viel voraus, als daß ein mit den Einzelheiten des Stoffes noch unbekannter Leser die feinen Anspielungen, die er macht, die Schlaglichter, die er da und dorthin wirft, die geistreichen Ueberblicke, die er gibt, gehörig würdigen könnte“ ([Anonym:] Der gegenwärtige Stand der deutschen Geschichtsforschung/1855, 116. Siehe ferner I, 189f.). - Auch der anonyme Rezensent des ‚Allgemeinen literarischen Anzeigers für das evangelische Deutschland‘ von April 1868 dürfte nur über geringe Lektürekenntnisse verfügt haben. Er urteilte entsprechend: „... sind seine Gedanken und Darstellungen ursprünglich, tiefsinnig und dabei wunderbar einfach, ja oft lieblich. Seine maßvolle Schönheit erinnert an Sophocles.“ (361). Da waren denn auch die zahlreichen gegen Ranke erhobenen ManierismusVorwürfe vergessen. - Von uneingeschränkter Bewunderung für den „Stifter der neuen historischen Schule“, „einen der ersten Historiker aller Zeiten“ und seine Darstellungskunst und Objektivität ist nun auch eine Kurzbesprechung der ersten elf Bände der ‚Sämmtlichen Werke‘ geprägt, die unter dem Kürzel φ am 20. Juni 1869 in der ‚Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung‘ erscheint, aber wie ihre Vorgänger die ‚Deutsche Geschichte‘ nicht beachtet. - 245 -
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Rudolph von Gottschall, bereits mehrfach behandelt, nahm das Erscheinen der ‚Sämmtlichen Werke‘ zum Anlaß einer Besprechung der ersten zwölf Bände und des ‚Wallenstein‘, von vier Werken also, die er in den von ihm herausgegebenen ‚Blättern für literarische Unterhaltung‘ des Jahres 1869 unter dem Titel ‚Leopold von Ranke‘ zusammenfaßte. Auf den Inhalt der ersten sechs Bände, der ‚Deutschen Geschichte‘ also, ging er dabei nicht ein, denn im Falle ‚Ranke‘ hieße es, „Eulen nach Athen tragen, über seine großen Hauptwerke, welche der Nationalliteratur angehören, Neues sagen zu wollen“ (546). Vielmehr bietet Gottschall bemerkenswerte Darlegungen zu Rankes Darstellungskunst und Objektivitätsstreben im allgemeinen (s. I, 166f., 193, 201f.). Auch Rankes Schüler Reinhold Pauli faßte bei seiner Besprechung in der ‚Academy‘ vom 15. Mai 1872, fünf Jahre nach Beginn des Unternehmens, mehrere Werke Rankes, diesmal gleich sieben, zusammen. Wie Gottschall geht Pauli auf den Inhalt der ‚Deutschen Geschichte‘ nicht mehr ein, macht vielmehr aufmerksam auf Rankes Übernahme der vermeintlich von F. A. Wolf für die Philologie und von Niebuhr für die Geschichte geschaffenen systematischen Forschungsmethode, die von Ranke als feste Grundlage für jede Abteilung der Geschichte verallgemeinert worden sei. (193). Und wie Gottschall gibt er sich Betrachtungen über die Kritik an Rankes Darstellungsweise und ‚Objektivität‘ hin (s. auch I, 168). Nicht minder lassen die gleichfalls verspäteten ‚Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen‘ vom Juni 1873 den Inhalt des Werkes beiseite, nehmen vielmehr das „Nationalwerk“ der ‚Sämmtlichen Werke‘ zum Anlaß einer Gesamtwürdigung, in der Ranke „weite Universalität des Blickes, glänzende Darstellung im Lichte klarer Wahrhaftigkeit“, ja sogar „frische männliche und nationale Kraft“ zugesprochen wird (54). Hier, wie bereits bei Gottschall, wird eine Tendenz sichtbar, Rankes ‚Deutsche Geschichte‘ nicht mehr zu analysieren, doch jedenfalls zu nationalisieren, eine Tendenz, welche mit einer stellenweise auftretenden Heroisierung Rankes einhergeht, die auch möglicherweise Wilhelm von Giesebrecht zu Rankes 50jährigem Doktorjubiläum im Jahre 1867 ausgesprochen hatte: Die ‚Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ sei „eine wahrhaft nationale That“, und er wies zugleich den Vorwurf zurück, daß Ranke „von den tiefen Bewegungen des eigentlichen Volksgeistes keine rechte Anschauung habe oder gebe“ ([Giesebrecht?:] Eine goldene Hochzeit/1867, 102). Neu war die Verteidigung freilich nicht, schon 1844 hatte Karl August Klüpfel in einem Beitrag über ‚Nationale Bestrebungen in der neuesten deutschen Geschichtschreibung‘ sehr ähnlich über die Themen ‚Volksgeist‘ und nationale Bedeutung geurteilt (s. I, 241). Ähnlich sah es August Kluckhohn anläßlich Rankes neunzigstem Geburtstag im Dezember 1885: Das Werk erscheint ihm als „das wichtigste Stück vaterländischer Geschichte“ (Kluckhohn (1885)/1894, 432). Dem pflichtete auch Hans Prutz bei, der die Bedeutung Rankes für die deutsche Nation in einem im August 1886 erschienenen Essay des Blattes ‚Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart‘, nicht abwegig, wenn auch übertrieben vor allem darin sah, daß die „Grundlage unsers nationalen Lebens, die deutsche Reformation ... doch eigentlich durch Ranke entdeckt und in ihr Recht eingesetzt worden“ sei (Prutz/1886, 158). Nun gab auch Sybel seine Zurückhaltung auf und erklärte im Überschwang seiner Gedächtnisrede auf Ranke, dessen ‚Deutsche Geschichte‘ sei „durchtränkt von der Begeisterung des deutschen Patrioten für die höchste That des deutschen Geistes“ (HZ 56/1886, 473). - Nur Rankes Bekanntschaft aus den Tagen seiner ersten Italien-Reise, der ihm gegenüber stets mit leichter Skepsis auftretende Katholik Alfred von Reumont, - 246 -
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hatte sich noch etwas Distanz bewahrt: „Man wird nicht behaupten können“, so ließ er sich über die ‚Deutsche Geschichte‘ in seinem Nachruf auf Ranke im Jahre 1886 vernehmen, „daß diese Darstellung ein völlig wahres Bild der deutschen Zustände gebe: dazu sind auch die inneren Verhältnisse und Regungen des Protestantismus und seiner verschiedenen Richtungen nicht scharf genug charakterisiert.“ (HJb 7/1886, 616), ein wohl treffendes Urteil. Wie ganz anders erschien gerade dies später - in der üblich verallgemeinernden Weise - Wilhelm Dilthey. Er schrieb in den nachgelassenen ‚Erinnerungen an deutsche Geschichtschreiber‘: „Rankes Geschichte der Reformation zeigt, wie erst der universale Überblick über ein Zeitalter den Z u s a m m e n h a n g [i. T.] in demselben aufschließt.“ (GS XI/²1960, 218). * D i e K r i t i k e i n e r k a t h o l i s c h e n T r i a s . - Von besonderer, wenn nicht Bedeutung, so doch Auffälligkeit ist die in den 1860er Jahren einsetzende Kritik einer in der Geschichte der Auseinandersetzung mit Ranke einmaligen Trias von Historikern, welche mehr in konfessioneller als politischer Hinsicht einander nahe standen, jedenfalls als verbündete Gegner Rankes anzusehen sind: Onno Klopp (1822-1903), Johannes Janssen (1829-1891) und Ludwig Freiherr von Pastor (1854-1928), denen Hurter und Döllinger vorausgegangen waren, Persönlichkeiten, welche in Glaubensdingen von tiefgreifenden bis extremen Überzeugungen, zum Teil mit kämpferischer Ausprägung, getragen oder getrieben waren. Klopps fast manisch zu nennende Ranke-Fixierung ist destruktiv ausgerichtet. Pastors früh angelegte Fixierung ist wohl in erster Linie von dem lebenslangen Wunsch bestimmt, Ranke zu übertreffen. Janssen nimmt Ranke gegenüber eine freiere Position ein, sein Urteil zeigt sich sachlich an Details interessiert. Die in diesem Kreis geäußerte Kritik richtet sich sowohl auf Ranke ad personam als auch auf die von ihm repräsentierte preußische, protestantische, vermeintlich kleindeutsche Geschichtsschreibung. Schon 1839 hatte Johann Friedrich Böhmer (1795-1863), legendärer Historiker und Archivar, welcher dem katholischen Glauben nicht allzu fern stand (Opitz, Gottfried: Böhmer, Johann Friedrich. In: NDB 2/1955, 393 f.), in einem Brief an Clemens Brentano geklagt: „Möchten doch von katholischer Seite auch auf dem Gebiete der Geschichte mehr Leute erstehen, die gründliche Kenntnisse mit richtigem Urtheil und einigem Talent in der Darstellung verbinden, damit die Andern, ich meine Ranke und Consorten, deren Einwirkung bedeutend ist, das Wort nicht allein behalten.“ (Böhmers Leben II/1868, 286). Dies galt auch noch einige Zeit für Bayern, wie die späteren headhunter-artigen Bemühungen Maximilians II. unter Beihilfe Rankes zeigen (s. II/4.1.2). In Österreich standen die Dinge nicht besser. Der Kunsthistoriker Anton Springer (1825-1891) schildert in seinen Lebenserinnerungen Eindrücke vom Stand der Geschichtswissenschaft in Österreich gegen Ende der 1840er Jahre, die dort „heimatlos“ gewesen sei: „Kein Studium lag so tief zu Boden“ - „Niebuhr, Ranke waren unbekannte Namen, ihre Bücher geradezu unauffindbar“ (Springer/1892, 99f.). Dem standen in Norddeutschland, nicht nur aus der Feder Rankes, bekanntlich bemerkenswerte Leistungen gegenüber. Ob sie stets von dem Selbstverständnis und Selbstbewußtsein des Ranke-Schülers Hartwig Floto getragen waren, möchte man nicht glauben. Er war der Überzeugung, „daß der Protestant, der in der Freiheit und in der Zucht des Evangelii aufwächst, vorzugsweise dazu berufen ist, historische Kritik zu üben, weil er am wenigsten Ursache hat, die Wahrheit zu verhüllen.“ (Floto/1856, 19). - 247 -
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Klopp, Janssen und Pastor suchten nach den umfangreichen Werken des späteren k. k. Hofraths und Reichshistoriographen Friedrich (v.) Hurter (‚Geschichte Papst Innocenz des Dritten und seiner Zeitgenossen‘, 4 Bde., Hmbg. 1834-42), und Ignaz (v.) Döllinger (‚Die Reformation...‘, 3 Bde, 1846-48, s. o.) dem von Böhmer geschilderten Mangel in Gegnerschaft zu Ranke mit größter Hingabe, betont exzessiver Archivarbeit und kodikologischem Monumentalismus abzuhelfen. Bevor der ursprünglich lutherische, 1873 konvertierte Onno Klopp zu einem entsprechenden vierzehnbändigen Werk ansetzte, verfaßte er 1861/1862 nach Beendigung einer dreibändigen antipreußischen Geschichte Ostfrieslands (1854-1858) in den ‚Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland‘ anonym einen Beitrag betitelt ‚Kleindeutsche GeschichtsBaumeister‘, welcher 1863 leicht verändert und um einen Beitrag über J. C. Bluntschli vermehrt wieder erschien. Hierin behandelt der Friedrich-, Bismarck- und überhaupt Preußenhasser Werke Häussers, Sybels und Droysens und wendet sich als Großdeutscher, der eine Reichseinigung unter der Führung Habsburgs erstrebt, gegen „die einseitig kleindeutsche Richtung in der deutschen Geschichtschreibung“, durch welche „die Thatsachen der Vergangenheit in ein falsches Licht gestellt“ würden und „verwirrend ... auf das Urtheil der Deutschen in der Gegenwart eingewirkt werde...“ (p. V). - „Meine Thesis nämlich ist, daß das Kleindeutschthum oder der Fridericianismus und der Protestantismus nicht zusammenfallen, daß dagegen das Kleindeutschthum, in ähnlicher Weise wie Friedrich II. selber persönlich den Religionskrieg predigte, es darauf anlege, den confessionellen Spalt der Deutschen auch zugleich zu einem politischen zu machen...“ (p. VII. Siehe auch: Onno Klopp: Der König Friedrich II. von Preussen und Seine Politik, Schaffhausen: Fr. Hurter’sche Buchhandlung 1867. 602 S.). - Im Hinblick auf Ranke unmittelbar ist der Beitrag Klopps über ‚Geschichte der preußischen Politik von J. G. Droysen‘ (HpBll. 48/ 1861, 886-917, zitiert nach der Buchausgabe v. 1863, 58-150) von Interesse: Klopp unternimmt dabei gelegentlich den Versuch, Droysen in einzelnen Punkten, sei es Abhängigkeit (104-106), sei es Abweichen von Rankes ‚Deutscher Geschichte‘ nachzuweisen. So zeige die Darstellung der Packischen Händel „sehr auffallende, und offenbar sehr lehrreiche Unterschiede“ (98). Andererseits folge Droysen „dem Herrn Ranke zu anderer Zeit nicht bloß in Thatsachen ...“, sondern ahme ihn „auch in geringen und unbedeutenden Kleinigkeiten des Styls, im Gebrauche der Inversionen, der Worte ‚doch‘ und ‚wohl‘, des Perfectes statt des Imperfectes u. s. w.“ nach. (96). Nach Möglichkeit werden bei der Konfrontierung Ranke-Droysen auch Ranke Fehler vorgehalten, so in der Beurteilung Hzg. Ludwigs v. Bayern (89-91). - In den Jahren 1875 bis 1888 erschien schließlich Klopps vierzehnbändiges Werk ‚Der Fall des Hauses Stuart und die Succession des Hauses Hannover in Großbritannien und Irland im Zusammenhange der europäischen Angelegenheiten von 1660-1714“ (Wien). Den ersten acht Bänden widmete Pastor in den ‚Historisch-politischen Blättern‘ der Jahre 1877 bis 1880 eine über hundertseitige Serienbesprechung, in der er Ranke gegenüber weit ausholte und ihm „protestantisch-preußische“ Parteilichkeit bei Quellenbehandlung und Darstellung in den ‚Päpsten‘, der ‚Französischen‘, ‚Englischen‘ und ‚Preußischen Geschichte‘ vorwarf. Schon bald folgte auch der mit Böhmer befreundete Johannes Janssen mit einer achtbändigen ‚Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters‘ (Freiburg i. Br., 1878-1894). Hierin ist Ranke mit kluger Zurückhaltung nur anmerkungsweise bezüglich weniger Details kritisch namhaft gemacht (so Bd. V/1886, 284, 546; Bd. VII/1893, 282). Überboten wurde beides durch Pastors sechzehnbändige (in - 248 -
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21) ‚Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. Mit Benutzung des päpstlichen Geheim-Archives und vieler anderer Archive bearb.‘ (Freiburg i. Br. 18861933, div. Auflagen). Die Trias pflegte eine intensive Korrespondenz, in der die Kritik an Ranke rückhaltloser geäußert wird. Ergänzt wird sie durch Tagebücher und nahestehende Biographien. Geradezu als aggressiver Agitator betätigte sich Klopp in seinen Briefen. Aus dem Briefwechsel Hurters wird eine Nachricht Klopps von etwa Januar 1858 mitgeteilt, in der es hinsichtlich der Reformationszeit und nach Charakterisierung des schwachen, überschätzten Döllingerschen Werkes als eines „Arsenals“ und einer „reichen Rüstkammer“ heißt: „... Wir bedürfen eines anschaulichen Bildes, einer concentrirten Darstellung jener Zeit, lesbar für jeden gebildeten Deutschen, in welcher man erkenne, welche Schläge unmittelbar und mittelbar durch Luther dem kirchlichen Wesen, der wissenschaftlichen Bildung, der Gesittung, der politischen Einheit und Machtstellung unseres deutschen Vaterlandes zugefügt sind. Ranke’s sophistisches Werk ist mit grosser Kunst abgefasst: um die Sophismen aufzudecken, um nachzuweisen, dass er trotz seiner ‚ungedruckten Gesandtschaftsberichte‘ dennoch wesentlich in die Fussstapfen der Advocatenschrift des Hudanus wandelt, bedürfen wir eine Leistung die nicht bloss in Bezug auf den Stoff, sondern auch auf die Form, den künstlerischen Werth, sich ein hohes Ziel vor Augen steckt...“ (Hurter II/1877, 379). Im selben Jahr korrspondierte Klopp auch mit Franz von Löher: „Als Protestant erzogen und gebildet war ich lange der festen Meinung, daß der Geschichtsschreiber L. Ranke die marmorglatte Unparteilichkeit besitze, die man so oft ihm zugeschrieben. Wie sehr erstaunte ich, als ich überall da, wo ich selbständig meine Ansicht begründen mußte, zu ganz anderen, oft zu entgegen gesetzten Ergebnissen kam! Um es mit einem Worte zu sagen: ich erkannte, daß unsere bisherige deutsche Geschichtsanschauung ein schmähliches Unrecht gegen die [katholische] Mehrheit der Nation sei. Ich erkannte namentlich, daß die Geschichte des sechszehnten Jahrhunderts, durch Ranke selbst noch mehr, als zuvor völlig im Argen liege. Ranke ist ein Meister der Composition, und dazu ein Meister der ruhig kalten überlegenen Sprache; aber seine deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation ist bei dem Allen eine der einseitigsten Parteischriften.“ (22. 5. 1858, Briefe Onno Klopp’s/1923, 337f.). Im Herbst des Jahres legte er noch einmal nach, indem er die ‚Reformationsgeschichte‘ eine „Advokatenschrift“ nannte (31. 10. 1858, 341). 1865 hatte Rankes Schüler Wilhelm Maurenbrecher sein Werk ‚Karl V. und die deutschen Protestanten 1545-1555. Nebst einem Anhang von Aktenstücken aus dem spanischen Staatsarchiv von Simancas‘ zum Erscheinen gebracht und dieses Ranke gewidmet, wobei er erklärte, sich dessen Ansicht der Periode im Großen und Ganzen anzuschließen. Dies war verständlich, denn Ranke hatte sich 1863 für die Förderung des Projekts eingesetzt (s. II/4.1.2). Klopp verfaßte daraufhin anonym eine hauptsächlich gegen Ranke und Maurenbrecher gerichtete ‚Studie über den Kaiser Karl V.‘ für die zur Aufnahme antiprotestantischer Kritiken stets aufgeschlossenen ‚Historischpolitischen Blätter für das katholische Deutschland‘ des Jahres 1867. Mit Johannes Janssen korrespondierte Klopp über Ranke in den Jahren 1861 bis 1886. Noch 1874 findet sich hier die Zeitklage des nach Österreich Emigrierten über das Fehlen einer „historischen Literatur, durchtränkt vom Geiste katholischer Weltanschauung und lesbar“, gegenüber Ranke als dem „gefährlichsten aller dieser preußischen Lügner“ (6. Dez. 1874. Briefe von Onno Klopp an Johannes Janssen/1919, - 249 -
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484f.). In einem Brief vom 6. Okt. 1875 weist er Janssen an: „Ihre besondere Aufgabe aber ist es, den Ranke totzuschlagen in seiner Geschichte der Reformation. Sie werden mich nicht mißverstehen. Jedes polemische Wort gegen ihn, wenn es nicht der Nachweis eines gefälschten Aktenstückes ist, wäre zu viel. Aber ein positiver Aufbau jenem elenden Werke gegenüber muß es über den Haufen werfen. Rankes Werk ist nichts weiter als der aufgewärmte Sleidan.“ (496f.). Die Janssen zugewiesene Aufgabe bezog sich offensichtlich nicht auf eine Besprechung, sondern auf Janssens von 1878 an erscheinende ‚Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters‘. Mit Blick auf seine umfangreichen Archivarbeiten und seine ausgebreiteten Fachliteraturstudien kommt Klopp zu dem Eindruck: „Die Ranke, No[o]rden, Droysen und Konsorten mit ihrer gespreizten Unwissenheit sind zum Lachen.“ (2. Sept. 1879, 582). Wiard Klopp, der Sohne Onno Klopps, hat 1934 über ‚Die Beziehungen Ludwig Pastors zu Onno Klopp‘ geschrieben, wobei er ein Tagebuch Pastors und Teile des Briefwechsels Pastor-Janssen-Klopp nebst eigenen Erinnerungen verarbeitete, mit zum Teil vehementer Kritik an Rankes „preußisch-protestantischer Geschichtsmacherei und -verdreherei“ (31) in dessen ‚Päpsten‘, ‚Deutscher‘, ‚Französischer‘, ‚Englischer Geschichte‘ und ‚Wallenstein‘ (20, 23, 26f., 30-33, 49f., 63) sowie seiner „liederlichen“ Benutzung von Handschriften (31). Der Johann Friedrich Böhmer außerordentlich verbundene ordinierte Johannes Janssen besaß nicht die hochemotionale, aggressive Natur Onno Klopps. Das 1868 seinem Förderer errichtete bemerkenswerte dreibändige Monument ‚Joh. Friedrich Böhmer’s Leben, Briefe und kleinere Schriften‘ nutzte sogar Ranke bei seinem Nachruf in der ‚Historischen Kommission‘ (s. II, 441). - Aus Janssens Feder wurden zwei anonyme Besprechungen von Werken Rankes bekannt, zum einen aus dem Jahre 1860 (s. I, 279-281) für die ‚Englische Geschichte‘, zum anderen von 1873 in milderer Form für den ‚Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen‘ (s. I, 321). Auch in seiner Korrespondenz zeigte sich Janssen gemäßigt: An Onno Klopp schrieb er am 10. Dez. 1873: „Sie können kaum glauben, auf welchen Dingen ich Ranke attrappiert habe. Unter seinen Zitaten aus dem hiesigen Archiv [Frankfurt/M] ist fast kein einziges richtig!“ (Johannes Janssens Briefe I/1920, 440). Janssen hat „zahlreiche dieser Irrthümer, die namentlich die Benutzung von Archivalien betreffen“ in sein Handexemplar der ‚Deutschen Geschichte‘ Rankes eingetragen (ebd., A 2). Mit Klopp stimmt er auch in einem Brief vom 20. 6. 75 in dessen ablehnender Beurteilung Rankes überein (II/1920, 23). So am 30. 10.: „Über Ranke urteile ich wie Sie. Ich kann ihm furchtbare Verstöße nachweisen.“ (Ebd., 29). Ferner in einem Brief an Senator Dr. Johann Speltz, 16. 11. 81: „Wie wird die Zukunft über einen Schönmaler wie Ranke urteilen?“ (Ebd., 122). Janssens bereits erwähnte ‚Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters‘ rief einige Kritik hervor, der sich ihr Verfasser in zwei hochauflagigen Schriften mit dem Titel ‚An meine Kritiker‘ (Freiburg i. Br. 1882, 10. Tsd. 1883) und ‚Ein zweites Wort an meine Kritiker‘ (11. Tsd., Freiburg i. Br. 1883) entgegensetzte. Lediglich in ersterer nimmt Janssen Bezug auf Ranke, indem er, ähnlich seiner ‚Geschichte des deutschen Volkes‘, mit bewußter Zurückhaltung nur an sehr wenigen Stellen beiläufig und zusammenhanglos auf ihn zu sprechen kommt. Ein unbedeutender, aber Aufmerksamkeit erregender Kritikpunkt war bereits vor Jahrzehnten vorgetragen worden (E./1855, 122), nämlich, Ranke habe in seiner ‚Französischen Geschichte‘ (FranzG I, 3C. Aufl. 1877, 409) den Begriff der ‚Irregularitas‘ mißverstanden. Daraus habe sich seine unzutreffende Behauptung ergeben, die Pariser Domi- 250 -
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nicaner hätten erklärt, wenn ein Priester einen Tyrannen ermorde, so sei das keine Todsünde, sondern eine ‚Unregelmäßigkeit‘ (70f.). Janssen nun erklärt den Begriff hingegen als „physische oder moralische Mängel resp. durch letztere veranlaßte kirchliche Strafen...“ (Janssen: An meine Kritiker., 70f., A. 1). Des weiteren setzt sich Janssen hier u. a. mit der Kritik Baumgartens (Janssen’s Deutsche Geschichte. In: Beil. z. AZ, 8. 2. 1882) auseinander, welche betonte, man finde bei Janssen „nie und nirgends ... die entfernteste Aehnlichkeit mit dem, was man aus Ranke kennt“ (10). In der Tat, so Janssen, besitze seine Schilderung der Doppelehe des Landgrafen Philipp „nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit dem, was man aus Ranke kennt“ (163). Dies gelte auch für die von Ranke geschilderte „sittlich strenge Haltung“ des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen. Sie habe „nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit einer Enthüllung, welche Philipp von Hessen in einem Briefe an Butzer macht“. (163). - Nietzsche hat in seiner Streitschrift ‚Zur Genealogie der Moral‘ von 1887 den Unterschied der Reformationsgeschichten Janssens und Rankes in der üblichen übersteigerten Form anzudeuten unternommen: Hier die „moralistische Einfalt eines Landgeistlichen“ „mit seinem über alle Begriffe viereckig und harmlos gerathenen Bilde“, dort die „süssliche und rücksichtsvolle Schamhaftigkeit protestantischer Historiker“ (Nietzsche WW, 1. Abt., Bd. VII/1921, 454). Demgegenüber wünschte sich Nietzsche - ähnlich 1862 bereits Johannes Scherr - die Darstellung eines „wirklichen Luther“ aus der Feder eines „wirklichen Psychologen“ (ebd.). Wie Johannes Janssen Böhmer ein biographisches Monument errichtet hatte, so Ludwig von Pastor seinem Lehrer und väterlichen Freund Janssen, und wie später auf Pastor, so zeigte sich auch hier der Einfluß von Rankes ‚Päpsten‘ auf Janssens geschichtliche Studien (Pastor: Johannes Janssen/1892, 55). - Pastor zitiert eine „verbürgte Aeußerung“ von Waitz nach Erscheinen von Janssens ‚Geschichte des deutschen Volkes‘: „‚Janssen ist der erste jetzt lebende deutsche Historiker‘ - und damals lebte noch Ranke!“ (75). Dieser bedauerte übrigens, den Erinnerungen seines Amanuensen Theodor Wiedemann zufolge, in seiner ‚Deutschen Geschichte‘ „eine Polemik“ gegen Janssens Werk unterlassen zu haben; „er glaubte, dieses Werk durch ein paar Bemerkungen wissenschaftlich vernichten zu können“ (WiedemannIII/1892, 98, A. 1). Zumindest wurde Janssen, nach der Einschätzung des allerdings ebenfalls katholisch ordinierten Hubert Jedin, im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zum einflußreichsten katholischen Historiker Deutschlands (NDB 10/1974, 343f.). - Ranke habe, wie Pastor dessen Leistungen zusammenfaßt, für das Reformationszeitalter „neben der theologischen Seite die historisch-politischen Beziehungen in den Vordergrund treten“ lassen, bei Janssen kämen „noch umfassendere Gesichtspunkte“ zur Geltung, nämlich kulturhistorische und sozialpolitische (Pastor/1892, 85). Janssen biete für die Zeit von 1525-1555 „weitaus mehr“ als Ranke, besonders über das von diesem „arg vernachlässigte innere Leben der Nation“, zudem sei er besonders in archivalischen Angaben viel genauer (92). Zur Unterstreichung von Janssens Objektivität wird auf sein Urteil über Papst Clemens VII. hingewiesen, das „fast schärfer als dasjenige Ranke’s“ sei (95). Obgleich Pastor der Meinung war, Janssen habe „die ganze Sache“ viel tiefer aufgefaßt als Ranke, mußte er diesem doch zugestehen, es werde „stets eines der größten Verdienste Ranke’s bleiben, daß er, von der Großartigkeit des Gegenstandes erfaßt, zum ersten Male ein Bild von der Regeneration der katholischen Kirche im sechzehnten Jahrhundert entwarf, das grell abstach von den bisher üblichen Declamationen wider die ‚abgöttischen Papisten‘ (121. Weitere Einzelheiten dort 132). - 251 -
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Die Tagebücher, Briefe und Erinnerungen (Pastor/1950) des unter dem Einfluß Klopps und Janssens stehenden Pastor enthalten im Zusammenhang mit Ranke zahlreiche bedeutende oder zumindest kennzeichnende Äußerungen. Zwei Pläne Pastors werden dabei deutlich, wovon jedoch nur einer realisiert oder publiziert wurde: zunächst der gewaltige Lebensplan des Neunzehnjährigen, angesichts der „Parteilichkeit Rankes“ eine eigene Papstgeschichte zu schreiben, wozu seine Aufzeichnungen vom 5. und 8. Dezember 1873 und 8. Dez. 1874 besonders aufschlußreich sind (32f., 43, 48). Pastors Beanstandungen sind nicht neu, doch nimmt ihnen dies natürlich nichts von ihrer Berechtigung. Der weit verbreitete, besonders aus den Federn von Varnhagen und Scherr bekannte Harmonisierungs- und Abschleiftadel wird auch von ihm geübt: „Bei Ranke ist alles Markante der Zeit durch eine glättende, äußerst geschickte Feile hinweggewischt. Man kann den Charakter des 15. und 16. Jahrhunderts nicht mit Glacéhandschuhen zeichnen“ (zum 28. 2. 1875, 45). Altbekannt, bis auf Hegel und Heinrich Leo zurückgehend, ist seine Charakterisierung des Rankeschen Stils. Er gleiche „etwa einer chinesischen Porzellan- oder Detailmalerei, während der Stil Janssens an die altdeutschen Gemälde erinnert, in denen Anmut und Kraft vereinigt sind.“ (zum 6. Juni 1875, 58). Gleichwohl ist Pastor imstande, Rankes ‚Fürsten und Völkern I‘ eine anerkennende Beurteilung zu gönnen (zum 3. April 1875, 48f.). - Im Zusammenhang mit Rankes Darstellungsstil referiert er auch eine angebliche Äußerung Mommsens über Ranke: „bei Ranke sei das Charakteristische die Häufung der Einzelheiten, was [wie P. fortfährt] ich zum Teil bezweifeln möchte. Etwas Wahres ist jedoch sicher daran: Ranke erhält durch Anekdoten und geistreiche Züge stets das Interesse des Lesers wach und macht dadurch auch seine Ummodelung der Tatsachen weniger bemerkbar“ (zum 26. März 1875, 47). Beiläufig wartet Pastor mit einer Reihe weiterer angeblicher Äußerungen über Ranke auf, so von Heinrich Joseph Floß (zum 23. Juli 1875, 61), von Moriz Ritter über Ranke im Vergleich mit Döllinger (zum 28. Juli 1875, 62), von Georg Gf. Hertling über Ranke und den Begriff ‚Gegenreformation‘ (zum 24. 2. 1876, 72), von Onno Klopp über Rankes ‚Wallenstein‘ (Ende April 1877, 102), von Papst Leos XIII. über Rankes ‚Päpste‘: „Nicht wahr, das Buch dieses Berliner Professors ist in Leipzig gedruckt“ (zum 11. 2. 1879, 123). Das Thema ‚Gegenreformation‘ wird von Pastor mehrfach erwogen (zum 8. 12. 1874, 43, zum 2. u. 3. 6. 1875, 57f.). Klopp hielt den Begriff, der später besonders bei Moriz Ritter und Eberhard Gothein bis hin zu Heinrich Lutz und Thomas A. Brady eine Rolle spielen wird (s. I, 428, 655f.), für eine „Erfindung Rankes“, wie er in einem Brief vom 19. 10. 1886 an Janssen schrieb, für einen „Kunstgriff zum Zwecke der Befestigung des Begriffes, den man auf protestantischer Seite mit diesem Worte ausdrücken will.“ (Briefe von Onno Klopp an Johannes Janssen/1919, 599). - Pastor plante für sein Werk die Sicht einer Gleichzeitigkeit von Mittelalterende und Ausbruch der Kirchenspaltung, und es erschien ihm „unzweifelhaft“, daß „die Stellung der Päpste zu dieser Katastrophe bei Ranke zu kurz gekommen“ sei. Auch plante er zu Recht, daß sein Werk sich von dem des „Berliner Historikers“ durch eine ausführlichere Berücksichtigung des „kulturhistorischen Elements“ unterscheiden müsse. (Zum 2. 8. 1879, 136). Die Unterschiede sollten auch in einer größeren Sorgfalt und Präzision liegen. Nach Beginn seiner Archivarbeiten mußte er, wie bereits Klopp und andere (s. I/1.6) in Rankes Benutzung der römischen Handschriften „Ungenauigkeiten, Fehler und sogar ... eine Fälschung.“ vorfinden, auch sei Rankes Quellenauswahl „sehr willkürlich und unvollständig“ (zum 31. 7. 79, 135). - Von seinem zweiten rankebezogenen Vorhaben ist zum 4. 7. 76 die Rede, einem „Plan zur Kritik Rankes“ (87). Nachdem er diesem im März - 252 -
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1877 einen Besuch hatte abstatten dürfen (s. II, 499), ließ er sich im Juni in einem Brief an Klopp weiter über seine geplanten „Angriffe gegen Ranke“ aus (106f.), worauf dieser Ranke bezeichnete als jemanden, der „die Wahrheit nicht will“ (108). Zum 1. November 1882 notierte Pastor: „Mein alter Plan, ein Werk ‚L. v. Ranke als Historiker‘ zu schreiben, drängt sich mir täglich mehr auf. Habe ich mich doch mit keinem Historiker mehr beschäftigt als mit ihm.“ (169). Der Plan wurde wohl nicht realisiert, ein Werk dieser Art jedenfalls nicht publiziert. * S t i m m e n d e r a u s l ä n d i s c h e n K r i t i k . - Das ausländische Echo auf Rankes ‚Deutsche Geschichte‘ war geringer und ablehnender als das auf sein Päpste-Werk. Gelegentlich werden Vergleiche mit Jean-Henri Merle d’Aubignés (1794-1872) ‚Histoire de la Réformation du seizième siècle‘ (I-III, Bruxelles ²1841) angestellt. Während das Aufsuchen neuer Quellen gelobt wird, besteht weitgehend Übereinstimmung in der berechtigten Feststellung des Fehlens einer durchgängigen, zusammenhängenden Erzählung. Auch ein Mangel an Eindringen in die innere Geschichte der Reformation mit ihren theologischen Fragen wird beklagt. Wie später bei Rankes ‚Englischer Geschichte‘ ergeht sich auch jetzt die irisch-katholische Seite in harscher, kaum sachlicher Kritik. Der für mehrere bedeutende englische Reviews tätige Essayist und spätere Chefbibliothekar der ‚London Library‘, William Bodham Donne (1807-1882. Dictionary of National Biography, 1885-1900, Vol. 15/1888), unternahm in der ‚British and Foreign Review or European quarterly journal‘ des Jahres 1843 unter dem Titel ‚Histories of the Reformation‘ eine umfangreiche Besprechung der Werke Rankes und d’Aubignés, in welcher er die bei den drei ersten Bänden der Reformationsgeschichte in deutscher Ausgabe zutage tretende gründliche Forschung anhand neuer Quellen lobte. Er konstatierte jedoch eine „fragmentary conciseness“, welche dem Werk an vielen Stellen eher den Charakter historischer Notizen oder Illustrationen als einer verbundenen Erzählung verleihe. Andererseits wecke es großes Interesse durch die Bedeutung seines Gegenstandes und das starke Gefühl, mit dem sein Verfasser in Charakter und Beweggründe Luthers eindringe (101). Die formalen Vorwürfe begegnen auch in einem anonymen Artikel der ‚Times‘ vom 27. März und 9. August 1845, wobei diesmal die englische Übersetzung des Werkes zugrunde liegt. Der Rezensent glaubt, bei aller Wertschätzung, die Ranke in Deutschland und England erfahre, feststellen zu müssen, daß sein Ton gegenüber der wunderbaren Unparteilichkeit der ‚Päpste‘ nun doch entschieden protestantischer geworden sei, ja, daß er gelegentlich zum glühenden Parteigänger werde. Auch stelle sein Werk eher eine bedeutende Kompilation als eine Geschichte dar (9. Aug. 1845, 7). Ob es Ranke an Überblick über die großen Stoffmassen gemangelt habe oder ob ihm anderweitige Beschäftigungen zu wenig Muße gegeben hätten, das mit so großer Mühe Zusammengebrachte bedürfe noch der Gestaltung. Letztlich habe er doch eher den Part eines tatkräftigen Pioniers als den eines gestaltenden Künstlers gespielt. Der Fluß seiner Erzählung sei weder zusammenhängend noch sehr klar. Obgleich sich Passagen von bemerkenswerter Kraft und von Geist finden ließen, seien Feldzüge und Schlachten aufs Ganze gesehen in einer schwerfälligen und gelegentlich ziemlich unverständlichen Weise beschrieben. Sehr befremdet zeigt sich der Rezensent über den von Ranke - 253 -
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indirekt nahegelegten Vergleich von Reformation und gleichzeitigem Wandel in der Religion des Islam und in Hindustan, was ihn zu dem erfrischenden Ausruf veranlaßt: „What a dream is this!“ (7). Ähnliches war schon 1840 in den ‚Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik‘ angeklungen (s. I, 238). Der unsachlich operierende Rezensent der katholischen ‚Dublin Review‘ vom Juni 1845 beginnt mit einem Rückblick auf Rankes ‚Päpste‘: „a graphic sketch of biography, but never can become authority, never can be considered as a truthful record of past events fairly told ...“ (284). In seiner ‚Deutschen Geschichte‘ nun - die noch nach der deutschen Ausgabe besprochen wird - walte ein Ton der Selbstzufriedenheit und Genugtuung vor, der für Rankes Landsleute sehr charakteristisch sei und kaum einer preußischen Hervorbringung fehle (ebd.), eine sich hinziehende Studie von Selbstgefälligkeit, eine Beweihräucherung der preußischen Nationalität und eine ebensolche von protestantischer Nichtigkeit und Stolz (285). Die anonymen Besprechungen der von Thomas Price herausgegebenen Londoner ‚Eclectic Review‘ von 1846 und 1847 stellen, wie die der ‚British and Foreign Review‘ von 1843, einen Vergleich mit der Reformationsgeschichte von Merle d’Aubigné an. Da Rankes Werk bei großem Kombinations- und Darstellungsvermögen doch nur wenig beitrage zur Erörterung der geistlichen Konflikte und theologischen Diskussionen der deutschen und schweizer Reformer, überhaupt mehr dem äußeren Leben der Reformation zugewandt sei, sollte es in Verbindung mit dem D’Aubignés gelesen werden und nicht stattdessen (Bd. 19/1846, 346). Diesem Urteil entspricht teilweise auch ein Eintrag, den John Lord Dalberg Acton am 26. Juni 1857 in seinem römischen Tagebuch vornahm: „Ranke’s Reformation not good. He has never understood or explained the importance of the religious movement. He did not know, and he did not wish to do so.“ (Acton: Papers ed. Butterfield/1955, 219). - Eine anonyme Besprechung der Londoner ‚Academy‘ von 1873 schließlich zeigt nur noch geringes Interesse an ihrem Gegenstand: Ein Dutzend Zeilen gönnt sie dem Werk des „father of the modern critical school in Germany, and perhaps the most celebrated historian living“. Für Frankreich, wo zwar Rankes ‚Päpste‘ in Übersetzung erschienen, nicht jedoch, wie bemerkt, seine ‚Deutsche Geschichte‘, ließen sich keine Besprechungen nachweisen. Beurteilungen finden sich indes zumindest in drei umfassenderen Artikeln, bereits mehrfach herangezogenen wichtigen Dokumente internationaler historiographiegeschichtlicher Deutung, welche das anhaltende französische Interesse an der zeitgenössischen deutschen Geschichtswissenschaft bezeugen. Wie manch anderer deutscher oder englischer Rezensent konstatiert Pascal Duprat in seinen ‚Études critiques sur les historiens allemands contemporains. I. Léopold Ranke‘ der Pariser ‚Revue indépendante‘ von 1843, Ranke habe in seiner Reformationsgeschichte mehr die äußere Entwicklung dieser großen Revolution (der Reformation) untersucht als ihre innere Geschichte (381). - Aus dem Jahr 1854 liegt ein entsprechender Artikel von Saint-René Taillandier vor: ‚Historiens modernes de l’Allemagne‘. Wieder wird hier der mangelnde Zusammenhang der Darstellung beanstandet: Die ‚Päpste‘ seien Rankes bestes Werk (53), nicht die ‚Deutsche Geschichte‘, welche vielmehr eine Folge von Bildern biete. Statt der feinen Studien hätte man sich ein großes Fresko gewünscht (65). - Jules Grenier bringt in seinem Beitrag zur ‚Revue germanique‘ von 1859 mit dem Titel ‚Historiens allemands contemporains‘ einen neuen, modernen Gesichtspunkt zur Sprache. Rankes ‚Deutsche Geschichte‘ kreise mit den ‚Päpsten‘ und der ‚Französischen Geschichte‘ um die grundlegende Idee der Errichtung des protestantischen - 254 -
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Prinzips in der Politik, wonach also die Reformation nicht nur den intellektuellen und moralischen Horizont der Menschheit erweitert, sondern auch eine neue politische Welt begründet habe (328). Letztlich verfällt 1862 die in Paris erscheinende ‚Nouvelle biographie générale depuis les temps les plus reculées jusqu’à nos jours avec les renseignements bibliographiques et l’indication des sources à consulter‘ wieder in den Vorwurf, Ranke habe, trotz viel geübter Unparteilichkeit, in seiner ‚Deutschen Geschichte‘ zum Ziel gehabt, Luther und sein Werk zu verherrlichen (Bd. 41/395).
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6. Kapitel (I/2.1.6) ‚PREUSSISCHE GESCHICHTE‘ 1847-1848 Wilhelm Dilthey sah mit 1848 „die Wendung zur neuen politischen Zeit“ eintreten. Von da an sei das politische Interesse herrschend geworden und die politische Geschichtsschreibung habe sich umgebildet: „Sie wurde national und liberal“. In „diesem Moment“ habe Ranke seine ‚Preußische Geschichte‘ verfaßt (Dilthey: Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins. Ges. Schrr., XI/²1960, 220). Daraus könnte man schließen, Rankes Werk sei durch die revolutionären Ereignisse beeinflußt, vielleicht sogar im liberalen Sinne. Davon kann jedoch keine Rede sein. Abgesehen von Rankes lebenslanger streng konservativer Ausrichtung, waren die beiden ersten Bände noch 1847 erschienen und natürlich früher verfaßt. Der abschließende dritte Band erschien 1848. Das Werk war keine ‚Preußische Geschichte‘ und trug daher den vorsichtig unbestimmten, partitiven Titel ‚Neun Bücher preußischer Geschichte‘. Lediglich der erste Band erlebte eine zweite Auflage. Das Werk ruhte sodann ein Vierteljahrhundert und wurde von Ranke erst anläßlich der Ausgabe seiner ‚Sämmtlichen Werke‘ 1874 überarbeitet, zeitlich erweitert und, um Analekten vermehrt, unter dem Titel ‚Zwölf Bücher Preußischer Geschichte‘ wieder herausgebracht. Die mit insgesamt drei Subskriptionen auf eine 1., 2. und 3. Gesamtausgabe der Werke verbundenen Lieferzwänge führten in den Jahren 1878 und 1879 zu einer zweiten, letzthändigen Auflage. Im Ausland blieb das Werk ohne größere Wirkung, was vielleicht dem Mangel an Übersetzungen geschuldet ist oder diesen erst verschuldet hat. Lediglich in den Jahren 1847 und 1849 (mit Reprint in 1969) sind Übersetzungen in England erschienen (s. II/9.4). An Besprechungen ließen sich insgesamt rund vierzig nachweisen, wovon - und dies spricht nachdrücklich für das geschwundene Interesse - trotz der international und in Preußen-Deutschland mittlerweile immens gewachsenen Presse lediglich ein Viertel den 1874 erschienenen ‚Zwölf Büchern‘ zuzuweisen war. Zunächst sah es so aus, als hätte Rankes erwartetes Werk ein Erfolg werden können. Doch es wurde sein größter Mißerfolg und nach den überwiegend positiv aufgenommenen ‚Päpsten‘ und der ‚Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ ein tiefer Sturz des 1841 zum ‚Historiographen des preußischen Staates‘ Erhobenen, der mit diesem Werk seiner Verpflichtung nachgekommen war, jedoch damit auch seinen Ruf als charakterschwacher ‚Hofmann‘ befestigte und das bereits durch die Unbestimmtheiten seiner ‚Historisch-politischen Zeitschrift‘ angekränkelte Ansehen seiner ‚Objektivität‘, vor allem seiner historisch-politischen Urteilsfähigkeit weiter zersetzte. Rankes ‚Preußische Geschichte‘ stieß nicht nur im Inland, auch im Ausland, nicht nur bei Liberalen und Laien, auch bei Historikern und Konservativen auf Ablehnung, ja, das liberale Moment der Kritik war nicht einmal das ausschlaggebende. Hier wurde eher ein gesellschaftlich und parteilich übergreifender, historisch geprägter preußischer Patriotismus gekränkt, denn es kollidierte dabei ein vor allem an kantigen Gestalten und starken Taten orientiertes traditionelles Geschichtsbild mit Rankes weichgezeichneten, diplomatisierten, von Roheiten befreiten, ästhetisch veredelten Wesen, die, zumal gesteigert durch die üblichen Rankeschen Exklusionen des Bekannten, in den Zusammenhängen und Reizen eines vor Augen stehenden vertrauten Gesamtgemäldes wie Fremde erscheinen mußten. - 256 -
I/2.1.6 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Preußische Geschichte‘
Zumindest drei sogleich nach Erscheinen des ersten Bandes einsetzende Besprechungen waren noch des Lobes voll. Die in Berlin erscheinende ‚Literarische Zeitung‘ wandte sich am 4. August verdächtig vorauseilend gegen nahezu jeden der üblicherweise berührten Kritikpunkte, indem sie schrieb, dieses Werk „unseres Historiographen“ schließe sich „würdig den früheren“ an, übertreffe sie wo möglich noch, „da an die Stelle jener manchem Mißtrauen unterworfenen Gesandtschaftsberichte“ jetzt die Resultate von Forschungen aus „vaterländischen Archiven“ getreten seien. „Neben dieser Solidität und der Tiefe des Eindringens in die speciellen Verhältnisse vermissen wir weder die höhere Betrachtung vom weltgeschichtlichen Standpunkte aus, noch den belebenden Geist, welchen der Verf. selbst dem scheinbar dürren Stoffe einhaucht, noch endlich den damit verbundenen Glanz der Darstellung und die in einer ebenso überzeugenden als anschaulichen Gruppirung sich darlegende kritische Beherrschung der Thatsachen.“ ([Vf.] 1971/4. Aug. 1847, Sp. 1006). Das Lob wird verständlich, wenn man berücksichtigt, daß die ‚Literarische Zeitschrift‘, der auch Rankes früher und loyaler Schüler Siegfried Hirsch (1816-1860) nahestand (s. I, 261f.), „besonders die Bestrebungen des Ministeriums Eichhorn“ vertrat, wie schon Georg Waitz in Hirschs Biographie (ADB 12/1880, 468-470) bemerkt. Johann Albrecht Friedrich Eichhorn zählte als preußischer Kultusminister zu Rankes Freunden und Förderern (s. II/7.2), mit dem er zeitweilig täglichen Umgang pflog. In der Tat hatte sich Eichhorn, „gestützt auf Vorschläge Rankes und Alexander v. Humboldts, das Blatt mittels Zuschüssen gefügig gemacht.“ (Obenaus/1973, Sp. 90). - Auch die offiziöse Berliner ‚Allgemeine Preußische Zeitung‘ wußte, was sie dem Historiographen des preußischen Staates schuldig war und schrieb am 22. August 1847 in einer unbedarften, zumindest gewollt wohlwollenden Nacherzählung ohne nennenswerte beurteilende Elemente über „unseren kenntnißreichen und talentvollen L. Ranke“: „Alle seine Schriften haben dies Gepräge, es sind Bilder für die höhere Politik.“ Es war wohl als Kompliment gedacht, war aber bloßstellend. (D.: Zur vaterländischen Geschichte/1847, 1). - Dies wußte ein Rezensent der Augsburger ‚Allgemeinen Zeitung‘ im folgenden Monat in qualifizierterer Weise zu übertreffen, indem er ein Lob der „leidenschaftslosen Auffassung“ und der „Ruhe des Urtheils“ hinzufügte (D/17. Sept. 1847, 2073). Währenddessen hatte Karl August Varnhagen von Ense bereits am 9. August seinem Tagebuch anvertraut: „Ranke’s ‚Neun Bücher preußischer Geschichte‘ zu lesen angefangen, mit Eifer und Spannung, aber nicht mit Befriedigung. Er scheint mir in diesem Buche von seiner bisherigen Höhe um viele Stufen herabzusteigen. Er will zwar möglichst gegenständlich, ohne Rücksicht auf heutige Neigungen oder Abneigungen, schreiben, aber er vermag es nicht, die Versicherung ist nur eine Phrase. Er kann nichts darstellen, was in das gegenwärtige Leben eingreift, was unsre und seine Verhältnisse noch nahe berührt, dazu gehört Karakter, Entschiedenheit und Selbstständigkeit, und die hat er nicht. ... Ich fühle bei seinem Buch immerfort, daß der Autor unter dem Einflusse schreibt, den der Gedanke - nicht etwa an den König, so weit versteigt er sich nicht einmal -, sondern an Eichhorn, Savigny, Canitz und andre solche auf ihn ausübt. Er fälscht natürlich keine Thatsachen offenbar, allein er verschweigt oder hebt hervor, legt zurecht und er giebt im Ganzen von den preußischen Zuständen ein unrichtiges Bild. Glänzende und gelungne Einzelheiten können dies nicht gut machen. Die Schilderung der Königin Sophie Charlotte ist beredt und theilweise treffend, allein die Aehnlichkeit ist nicht die rechte.“ (Varnhagen. Tagebücher IV/1862, 128f.). - Zum 11. Aug. 1847: „Ranke’s ‚Preußische Geschichten‘ las ich mit Unlust weiter. Seine alten - 257 -
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Fehler zeigen sich hier in ganzer Blöße, vor allem der Wahn, die Hauptsache der Geschichte finde sich in dem von ihm zuerst aufgeschlossenen oder benutzten Material, dann in der Anmaßung, als ein Staatsweiser zu sprechen, wozu er am wenigsten Zeug hat. Ich kann ihm nicht helfen, aber ich sehe nicht viel Unterschied zwischen seiner Art, über die Dinge hinzureden, und der von Friedrich Buchholz, den er doch tief verachten zu können glaubt. Die Abneigung, Andre anzuerkennen, ist auch hier wieder auffallend; er zitirt wohl Förster mehrmals ... aber nur Einmal Preuß, als wären dessen Arbeiten nicht vorhanden, oder doch nicht erheblich, da doch ohne dessen vorarbeitenden Fleiß das Buch von Ranke wohl nie geschrieben worden wäre.“ (IV, 129f.). - Über Rankes Charakterlosigkeit korrespondierte er auch mit der Schriftstellerin Amely Boelte (1811-1891, s. Fränkel, Ludwig: Bölte, Amalie. In: ADB 47/ 1903, 92-95). Die ‚Preußische Geschichte‘ errege „allgemeines Mißfallen durch die Abschwächung und Verflachung, die er unsern schroffsten Persönlichkeiten und Ereignissen giebt, durch den Mangel alles politischen Blickes, und durch die kindische Lebhaftigkeit seiner Schreibart“ (1. 2. 48, Varnhagen. Briefe an eine Freundin/1860, 71). Ranke habe sich damit „in den Augen aller wackern Leute ganz zu Grunde gerichtet“ (18. 2. 1848, 76). Und da die Boelte auf seine Empfehlung hin in England Umgang mit Thomas Carlyle (1795-1881) hatte, empfahl er zugleich: „Warnen Sie Herrn Carlyle, sich ja nicht an dieses schlechte Buch zu halten, wenn er jemals noch mit Friedrich dem Großen sich zu beschäftigen denkt! Er muß vielmehr die Bücher von Preuß zur Hand nehmen, wenn diese auch nicht so bequem zu lesen sind.“ (1. 2. 1848, 71). Doch Carlyle war schon unterrichtet. In einem Brief an Varnhagen hatte er am 5. 11. 1847 geschrieben: „Ranke’s Fehlschlag überrascht mich nicht ...“ (Briefe Thomas Carlyle’s an Varnhagen/1892, 109). Carlyle hat sich bei den Vorarbeiten zu seiner ‚History of Friedrich II. of Prussia‘ (1858ff.), für deren Entstehungsgeschichte die genannte Briefausgabe in erster Linie aufschlußreich ist, dann doch neben Preuß auch an Ranke gemacht, die er beide zu den „vielen stumpfen Berichterstattern“ zählt, durch die er sich „durchgekämpft“ habe (129). - Durch seine ‚Preußische Geschichte‘ habe Ranke, wie Varnhagen am 7. 2. 1848 auch an den bedeutenden schweizer Demokraten, Professor der Philosophie und Pädagogik, Ignaz Paul Vital Troxler (1780-1866. Daniel Furrer: Gründervater der modernen Schweiz. Ignaz Paul Vital Troxler, Freiburg 2009) schrieb, „Aufsehen gemacht, aber im schlimmsten Sinne; man sieht seine preußischen Geschichten als einen trostlosen Bankrott des Autors an, als eine Enthüllung seiner ganzen Charakterschwäche, die auch seinem Talente den Garaus zu machen beginnt.“ (Briefwechsel Troxler - Varnhagen/1953, 330). Varnhagen verfolgte das Werk und seinen Verfasser weiter. Zum dritten Band notierte er am 7. 8. 1848 in sein Tagebuch: „Der siebenjährige Krieg bleibt ausgeschlossen. Elendes Buch. Anmaßlich, kindisch, geziert einseitig, im Ganzen höchst unzuverlässig, wie der Autor selbst.“ (Varnhagen. Tgbb. V/1862, 152). Die nichtöffentliche Kritik an Rankes ‚Neun Büchern‘ war anhaltend. Johann Gustav Droysen, einer der stärksten Kritiker, sorgte, wie Varnhagen, für eine qualifizierte Verbreitung seines Urteils. Am 1. Nov. 1847 schrieb er an den frühen Förderer Rankes im preußischen Unterrichtsministerium, Johannes Schulze: „Weiß Gott, wäre ich preußischer Historiograph, ich wollte was Besseres tun, als über den Großen Kurfürsten und den gestrengen Herrn Friedrich Wilhelm ein parfümiertes Buch schreiben; ich wollte was mehr aus den Archiven herauslesen als jenes vornehme Garnichts, womit nun geprunkt wird, und ist doch sozusagen nicht ein Tütelchen neu - 258 -
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und wichtiger als das längst schon Bekannte. Aber freilich, man muß zur Geschichte ein Herz haben...“ (Droysen. Briefwechsel I/1929, 364). Tragisch, daß gerade dieses geplante Ranke-Gegenwerk, Droysens ‚Geschichte der preußischen Politik‘ vom Publikum als unlesbar bezeichnet wurde. - Ähnlich wie Droysen stand Max Duncker zu Ranke. Am 2. Dez. 1847 schrieb Droysen ihm über die ‚Neun Bücher‘: „Man wird ... den Rankeschen Ungesalzenheiten die Standrede halten. Dergleichen Bücher sind verderblicher noch als dergleichen Personen ...“ (370). Auch an Theodor von Schön, ehedem Oberpräsident von West- und Ostpreußen (s. Sösemann, Bernd: Schön, Heinrich Theodor von. In: NDB 23/2007, 378-380) schrieb Droysen [Febr./März 1848]: „...unsere besten Historiker bringen es dahin, das Heldenleben Friedrichs II. zu verwässern und zu parfümieren.“ (391). Noch 1853 wandte er sich an Heinrich von Sybel: Ranke wecke in seiner „wundervoll feinen und kunstreich schillernden Darstellung doch selten mehr als ein intellektuelles Interesse.“ (II/1929, 169). Dies nahm sehr genau ein Urteil Bergenroths vom Jahre 1866 vorweg (s. I, 278ff.). Zuvor hatte aber Alexander von Humboldt, der sich im Urteil über Ranke besonders mit Varnhagen eins fühlte, seiner tiefen Antipathie Ausdruck verliehen in einem Brief an Graf Ludwig von York, 30. 3. 1851, über Droysens ‚Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg‘ (Bd. I, Bln. 1851): Wie verschieden dieses doch sei „von der Darstellung des kleinlichen, sich selbst immer spatzenartig anschütternden und dann erschreckt das ganz Gegebene zurücknehmenden Ranke.“ (Droysen. Briefwechsel I/1929, 725). So verschiedene Geister wie der Philosoph David Friedrich Strauß und Rankes erster fachlich ausgewiesener Geschichts-Instruktor, Gustav Adolf Harald Stenzel, waren in ihrem privaten Urteil einig. Nach Lektüre der ‚Preußischen Geschichte‘ stellte Strauß in einem Brief an Ernst Rapp vom 11. November 1849 fest: „Ranke ist ein Hofhistoriograph geworden“ (Strauß. Ausgewählte Briefe/1895, 252), und Stenzel hielt ihn schlicht für einen „Hofmann“ (an seine Frau Emy, Ende März 1851, K. G. W. Stenzel/1897, 449). Neben der ablehnenden nichtöffentlichen Kritik führten 1847 in der zunächst wohlwollenden Publizistik zwei Artikel der in Leipzig erscheinenden liberalen ‚Grenzboten‘ die Wende herbei. Auf den anonymen Verfasser einer Notiz, betitelt ‚Ranke über Friedrich II.‘, macht die „Darstellung von Friedrichs des Großen Jugendleben ... keinen besonders günstigen Eindruck“ ([Anonym:]/Jg. 5, Bd. III, Nr. 33, Lpz. 1847, 307): In Rankes Werk finde sich „nicht blos Verwischung der Thatsachen, sondern auch der Charaktere“ (307f.). Nahezu zeitgleich erschien der andere, bereits mehrfach herangezogene Artikel, der zum Geistreichsten gehört, das im 19. Jahrhundert über Ranke geschrieben wurde. In einer Folge über ‚Moderne Historiker‘ widmete sich darin Julian Schmidt einer Würdigung Rankes. An deren Schluß, zum 18. September, ging er auf den gerade erschienenen ersten Band der ‚Preußischen Geschichte‘ ein. Auch hier gründe, so der Literat und Literaturhistoriker, die Darstellung „fast ausschließlich auf Urkunden aus den Archiven; was die Zeitgenossen berichtet, wird entweder ignorirt oder mit einem gewissen Argwohn angesehen“ (S[chmidt], J[ulian]/1847, 447), „viel schätzbarer Stoff ... über Bord geworfen“. Die „Pietät gegen das Herrscherhaus“ habe Ranke zu einer vollständigen Ignorierung der „Schattenseiten“ geführt: „Das Ganze sieht wie ein Familiengemälde aus, in welchem das Gesinde nur im Hintergrund erscheinen darf. Und auch selbst hier ist alles Anstößige übertuscht.“ (448). - Die in ein voreiliges Lob Rankes verfallene ‚Allgemeine Zeitung‘ mußte sich nun am 12. Oktober eine Zuschrift ‚Aus Preußen‘ gefallen lassen, in der Johann Gustav - 259 -
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Droysen nachdrücklich zitierend anonym auf die anderweitig erschienenen kritischen Stimmen und auf fachliche Mängel aufmerksam machte, etwa bei der Behandlung des jungen Friedrich: „Nein, damit wird auch nimmermehr einer kräftigen Dynastie ein Dienst geleistet daß man alle starken Eigenschaften zu diplomatischen Wendungen abdämpft.“ (* [Droysen, Johann Gustav:] Aus Preußen/1847, 2276). - Tatsächlich wurde das höheren, militärisch geprägten Orts wohl auch so gesehen, denn um den 20. Oktober befand sich Varnhagen beim preußischen General und Außenminister Wilhelm Ernst von Canitz und Dallwitz, in Gesellschaft des Generals Leopold von Gerlach, und dieser verwarf, wie Varnhagen aufzeichnete, „zu meinem größten Wunder ganz und gar Ranke’s neuestes Buch, erklärt sich ganz einverstanden mit dem Artikel gegen dasselbe in der augsburger ‚Allgemeinen Zeitung‘.“ (Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense. Tgbb. IV/1862, 150). An Julian Schmidts Beurteilung und Droysens Zuschrift schloß sich eine Reihe öffentlicher Ablehnungen des Bandes an. Theodor Mundt (s. I, 200f.) veröffentlichte in der von seinem liberalen Freund Gustav Kühne herausgegebenen Zeitschrift ‚Europa. Chronik der gebildeten Welt‘ noch im Oktober 1847 eine beachtenswerte Besprechung, ‚Studien Preußischer Geschichte. Mit Beziehung auf Leopold Ranke’s „Neun Bücher Preußischer Geschichte“‘. - Mundt weist auf die Bedeutung des gegenwärtigen Moments hin, in dem „der Staat ... Volk werden will, und das Volk ... sich in den Staat hineinbildet“, ein Moment, der „dem Historiker seiner Nation eine Berechtigung und ein Pathos“ verleihe, „woraus die höchsten Wirkungen einer geschichtlichen Darstellung gezogen werden können“ (Mundt/1847, 687). Der Historiker erfülle damit an Preußen als dem „jugendfrischesten und sittlich stärksten Staatskörper des Jahrhunderts“, dem „ächten Vertreter und Bildner der deutschen Nation“ einen „universalen historischen Beruf“ (ebd.). Ranke jedoch entspreche mit seiner „preußischen Kabinettsgeschichte“ (688), die als solche zwar zum Teil vortrefflich gearbeitet sei, nicht der Forderung nach einer „preußischen Staatsgeschichte“, deren notwendiger volkstümlicher Wirkung übrigens auch die „gänzlich fragmentarische Manier“ (ebd.) der Behandlung hinderlich sei. Mundt kommt damit zu dem häufig erhobenen Vorwurf, daß Ranke fast alles ignoriere, was außerhalb des selbst bearbeiteten neuen Archivmaterials als feststehend und charakteristisch überliefert sei. Von der Jugend Friedrichs d. Gr. gebe er angesichts der von Preuß schon zusammengestellten Materialien ein „dürftiges und bedeutungsleeres Bild“ (689). Das „tendenziöse Wesen seiner preußischen Geschichtsschreibung“ (ebd.) wird für Mundt auch sichtbar in der „durchweg gemilderten und abgedämpften Gestalt Friedrich Wilhelms I.“ (688). Der Berliner Privatdozent (oder bereits Professor) für Philosophie, Friedrich Adolf Maercker (1804-1889), der 1843 eine Schrift über ‚Die Willensfreiheit im Staatsverbande‘ verfaßt hatte, brachte in der Beilage zu den liberalen ‚Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen‘, Nr. 244 vom 19. 10. 1847, zunächst die Empfehlung, Ranke möge „seine Aufgabe charakterfester, und nicht mit höfischer Zeichnung der handelnden Personen“ durchführen und „die schönen Einzelheiten, welche ihm seine Forschungen geboten, in ein lebensvolleres Ganze“ verarbeiten. Ranke habe hier nämlich nicht ‚Preußische Geschichte‘ geschrieben, „sondern Akten über Staatshandlungen excerpirt und zusammengestellt“. Seine Schilderung hätte „ihr Leben nur gewinnen“ können, „wenn die Volkskraft und ihre Würdigung neben der des Regenten gestanden hätte“. Maercker vermißt daher - und diese Kritik war neu weitgehend eine „Beurtheilung und Darstellung der Staatskräfte Preußens und seines - 260 -
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ganzen Haushalts“, konkret: der „administrativen Maßregeln“ Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II. (Maercker/1847, 1f.). Andere gingen noch weiter ins Detail. In dem von Friedrich Wilhelm Gubitz (1786-1870) herausgegebenen ‚Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz‘ erschien im November 1847 die Besprechung eines „Hb.“, welcher zu wissen glaubte: „Der berühmte preußische Geschichtsschreiber und Berliner Professor L. R a n k e hat in seinen Geschichtsbüchern manche Probe von mangelhafter Rechts- und Staatswissenschafts-Kenntniß gegeben, nirgends aber wohl so auffallend als in seinem Werke: ‚Neun Bücher preußischer Geschichte‘“. Es folgt als Beispiel die Rankesche Darstellung der Förderung der Tuchproduktion unter Friedrich Wilhelm I. (9BPreußG I, 147f.), bei der Logik und Stil der Darstellung kritisiert werden (Hb./1847, 868). Zur Jahreswende 1847/48 erschien in Berlin die kleine, aber aufsehenerregende selbständige Schrift August Zimmermanns, eines Schulmannes, ‚Ueber die neueste preußische Geschichtsschreibung‘, eine entschiedene Kritik des ersten Bandes der ‚Preußischen Geschichte‘. Zimmermann erkennt Rankes „scharfen Forschergeist, seine geschickte und elegante Kombination, seine große Fertigkeit im Herausfinden des Bedeutsamen aus dem Wuste der Archivalien“ an (Zimmermann: Über die neueste/1848, 4). Ihn „verletzt“ aber die „entschieden hervortretende Neigung, überall wo die Geschichte mit scharfen und kühnen Zügen eine Persönlichkeit gefaßt und gezeichnet hat, zu glätten, dämpfen und zu verwaschen“ (4f.). Besonders die Darstellung Kg. Friedrich Wilhelms I. fordert seinen Widerspruch heraus: Es habe diesem nicht an Macht, sondern an „Einsicht, Willen und rechtem politischen Muth“ gefehlt (22). Hier mache sich Rankes „Manier, welche alle Spitzen wegnimmt, die doch der menschlichen Natur nach vorhanden sind“, geltend (31). - Zimmermann beruft sich in seinem Kampf um die Wahrheit auf Vorkämpfer wie Dahlmann, Gervinus und den „alten ehrlichen Schlosser“ (32). Die Kritik Zimmermanns wurde mehrfach aufgegriffen. Auch Varnhagen trat ihr in seinem Tagebuch zum 14. Januar 1848 bei, indem er schrieb: „Was hier gegen Ranke’s ‚Preußische Geschichten‘ gesagt wird, hab’ ich längst gesagt, aber auch schon gegen seine ‚Geschichte der Reformation‘. Es fehlt der Karakter.“ (Varnhagen: Tgbb. IV/1862, 234). Die von Droysen zurechtgewiesene ‚Allgemeine Zeitung‘ schloß sich nun der Zimmermannschen Kritik an und tadelte Rankes „Abschleifen und Glätten des Harten, ... dieß Verhüllen und Beseitigen des Tadelnswerthen“ (* Litterarisches/23. Jan. 1848, 361). Ein Anonymus der in Leipzig erscheinenden ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ suchte nicht allzuviel Schaden anzurichten und lobte an Rankes Werken generell die „Feinheit seiner Combination, die Tiefe der Anschauung, dieses Belauschen der geheimsten Motive in der Entwickelung des geistigen Lebens von Völkern und Individuen, verbunden mit der Frische der Darstellung und dem über dem Ganzen lagernden Duft der Poesie“ ([Rezensent. Nr.] 21, am 12. u. 13. Jan. 1848, 45). Auch bei diesem neuen Werk werde „des Neuen und Trefflichen unendlich viel geboten“ (46), es lasse sich jedoch „das Geständniß nicht zurückhalten, daß die Darstellung Stenzel’s in allen Beziehungen mehr auf einer freien, durch keine Rücksichten gebundenen Entwickelung der Thatsachen“ beruhe, „ohne irgend eine aus der Jetztzeit übertragene Beimischung“ (ebd.). - Rankes bereits erwähnter loyaler Schüler Siegfried Hirsch, seit 1844 a. o. Kollege in Berlin, suchte in einem Brief an die Redaktion der ‚Literarischen Zeitung‘ die Kritik Zimmermanns zurückzuweisen (H[irsch], S[iegfried]/29. 1. 1848), wiederum in mehrfacher Hinsicht passend, denn seine Replik erfolgte erneut in dem die - 261 -
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Bestrebungen des mit Ranke befreundeten preußischen Kultusministers vertretenden willfährigen Organ. Hierin wurden Gelehrte „zur Mitarbeit bewogen, da es sich rasch herumsprach, daß am sichersten auf Beförderung rechnen könne, wer an der ‚Literarischen Zeitung‘ rezensiere.“ (Obenaus/1973, Sp. 91). Dies konnte nicht hindern, daß Anton Gubitz (1821-1857) am 4. Februar in dem von ihm herausgegebenen Blatt ‚Der Gesellschafter. Blätter für Geist und Herz‘ im wesentlichen eine Wiederholung der Kritik Zimmermanns bot. Der 1816 von seinem Vater Friedrich Wilhelm Gubitz (1786-1870) gegründete ‚Gesellschafter‘ war unter Beihilfe hochbedeutender Autoren „während der langen Zeit des Erscheinens (32 Jahrgänge) ... die führende geistige Stimme des biedermeierlichen Berlin“ gewesen (Marx, Eberhard: Gubitz, Friedrich Wilhelm. In: NDB 7/1966), 247). Jetzt schrieb er über ‚Ranke’s altpreußische Phantasieen‘ [!], es sei schade um dessen „Wissen und Talent, daß sie sich abgewendet haben von der Wahrheit der Geschichte“ (Gubitz/4. 2. 1848, 100). Wenig später setzte Anton Gubitz seine Kritik fort mit ‚Noch ein paar Worte von Hrn. Ranke als preußischem Geschichtschreiber‘. Hier ließ er sich aus über einige Stellen von Band II der ‚Preußischen Geschichte‘, in denen er „Kanzlei- und Beamten-Stil“, „philosophische Brühe“ und eine „geschichtliche Fälschung“ glaubte konstatieren zu müssen (Gubitz/17. 3. 1848, 216), - namentlich letzteres, die entstellende Übersetzung eines ‚Antimachiavell‘-Zitats Friedrichs d. Gr., wohl nicht völlig ohne Berechtigung. - Die Augsburger ‚Allgemeine Zeitung‘, welche sich zunächst wohlwollend gezeigt hatte, vollzog nun in mehreren Beilagen eine völlige Kehrtwende. In dem mit M. gezeichneten Beitrag über ‚Historik und Dramatik‘, einer scharfen, ironischen Kritik, heißt es u. a.: „Man ist jetzt in Berlin ziemlich einstimmigen Urtheils über das Buch von Ranke, besonders nachdem dessen zweiter Theil erschienen, der über die Gestalt Friedrichs des Großen dieselben Schwefelätherdämpfe zum Behuf einer künstlichen politischen Operation ausgießt wie dieß im ersten Theil mit den markigen Urcharakteren des großen Kurfürsten und Friedrich Wilhelms I geschehen. Sein großer Friedrich ist ebenfalls nur eine verwaschene Combination, wozu nicht einmal die bekannte historische Porträtirungskunst Ranke’s wesentlich beisteuert, obwohl sie aus den kostbarsten Materialien, die dem preußischen Historiographen allseitig geöffnet vorlagen, eine Fülle von unmittelbaren Lebenszügen zu diesem Bilde schöpfen konnte [...] Ranke ist in seiner preußischen Geschichte so weit gegangen daß eigentlich nur noch das historischen Werth für ihn hat was er in seinen Archiven gefunden, und was sich durch dieselben beglaubigen läßt. Dieß verleitet ihn denn manches andere auch sonst Feststehende in seiner Darstellung zurücktreten zu lassen oder zu ignoriren, und dadurch auf manches charakteristische Element zu verzichten.“ (M/24. Febr. 1848/874). Ein weiterer Artikel der ‚Allgemeinen Zeitung‘ folgte bereits vier Tage später anonym unter der Rubrik ‚Deutschland. Litterarisches aus Berlin‘. Beanstandet wird für den ersten wie für den zweiten Band „dieselbe Abschwächung und Verdünnung des historischen Stoffs. Ignoriren des Allbekannten, Wichtigthun mit Archivschnitzeln“. Der Rezensent schließt mit dem für Ranke ehrverletzenden Wunsch „Möge der Ruhm edler, gradsinniger, und wahrheitseifriger Geschichtschreibung, in der bisher die Deutschen ausgezeichnet waren, uns in einer Zeit nicht geschmälert werden wo die Gränzen des freien Wortes sich auf andern Gebieten glücklich erweitern, und wo ein S c h l o s s e r , D a h l m a n n , G e r v i n u s , R a u m e r und andere fortwährend ein würdiges Beispiel geben!“ (*/28. Febr. 1848, 937. Sperr. i. T.). August Zimmermann ließ seiner ersten kritischen Schrift anläßlich des Erscheinens von - 262 -
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Band II der ‚Preußischen Geschichte‘ ein weiteres Libell folgen‚ betitelt ‚Über Ranke’s Auffassung König Friedrichs II.‘. Darin wendet er sich in durchaus gemäßigtem Ton gegen die in Rankes Werk angeblich zutage tretende Auffassung, Friedrichs „Laufbahn sei nicht seine Wahl, sondern sein Geschick“ gewesen (Zimmermann: Über Ranke’s Auffassung/1848,19). Ranke habe, indem er Friedrichs Taten als „durch den Zufall begünstigte glückliche Unbesonnenheit“ (6) darstellte, „die Größe des Helden ... beeinträchtigt“ (11). Eine Sicht, die von F. v. Bülow in der ‚Vossischen Zeitung‘ vom 29. 2. 1848 geteilt wurde. Nun folgt eine merkwürdig taumelnde Kritikentwicklung der ‚Grenzboten‘, die mit der 1848 vollzogenen Übernahme der Herausgeberschaft durch Julian Schmidt und Theodor Fontane zusammenhängen mag. War 1847 noch von ‚Verwischung‘ und Übertuschen‘ die Rede gewesen (s. o.), so unternimmt der national-liberale Julian Schmidt nun in auffallender Kehrtwende eine rein literarisch urteilende, nahezu euphorische Besprechung, ja Verteidigung von Band II der ‚Preußischen Geschichte‘: Im Hinblick auf Friedrich, den „jugendlichen Helden“, sei das „universelle Wohlwollen“, mit dem Ranke seine Gegenstände anzusehen liebe, berechtigt (S[chmidt], J[ulian]: Ranke’s Preußische Geschichte/1848, 266). Mit „Virtuosität“ erhasche Ranke die unscheinbarsten Züge, „um nicht der Reflexion, sondern der Phantasie ein bestimmtes Bild zu geben. Es ist nicht die Genremalerei eines Walter Scott, ... es ist der künstlerische Sinn eines Goethe, der mit einer Andeutung, die wir kaum merken, bei der es uns gar nicht einfällt, daß geschildert wird, plötzlich das fertige Bild in seinen wesentlichen Zügen vor unsere Seele stellt.“ (267). Julian Schmidt erkennt in diesem zweiten Band ein ebenso bedeutendes „Kunstwerk“ an „als in dem grandiosen Gemälde von der Herrlichkeit und dem Verfall des neuen Rom [267], ... so wollen wir uns die Freude an einem Kunstwerk nicht verkümmern lassen, weil es aus den Händen eines Mannes kommt, der als Politiker in den Reihen der Feinde steht.“ (268). - Dieses dezidierte Urteil aus dem ersten Semester des Jahres 1848 ändert sich bereits im zweiten. Schmidt läßt nun auch seine Initialen fallen und bemerkt anonym: „Als Ganzes betrachtet“, müsse er doch gestehen, „daß das Werk keinen guten Eindruck“ mache ([Schmidt, Julian]: Leopold Ranke/1848, 516). Der Stoff des dritten Bands ertrage keine „künstlerische Behandlung“ (ebd.). Auch verliere man „durch das viele Detail alle Uebersicht“ (ebd.). Durch den „Hinblick auf die großen Weltbegebenheiten außerhalb der eigentlichen Sphäre der Darstellung“ werde bei diesem Werk, im Gegensatz zu den ‚Päpsten‘, die „Einheit des Gemäldes nur zerstört“ (ebd.). Im ersten Teil sei auch ein „falscher Patriotismus ... sehr widerlich“ aufgetreten (517). Die Besprechung schließt mit dem Satz: „So ist denn das Werk als unterhaltende und belehrende Lectüre immer von großem Interesse, als wesentliches Glied der Literatur wird es aber kaum eine Stelle beanspruchen können.“ (Ebd.). Diese Formulierung dürfte der, wie bemerkt, von Eichhorn abhängigen ‚Literarischen Zeitung‘ mißfallen haben, denn vermutlich ihr als Kustos an der Berliner Königlichen Bibliothek im Staatsdienst stehender Redakteur Karl Heinrich Brandes (geb. 1811, Obenaus/1973, Sp. 89, A. 381) verkündete in einer sehr wohlwollenden Besprechung des dritten Bandes, die Ranke auch vor nicht näher bezeichneten kritischen Stimmen in Schutz nahm: „Ranke’s neun Bücher preussischer Geschichte werden in der historischen Literatur Deutschlands einen ehrenvollen Platz bleibend einnehmen.“ ([Brandes?]/23. Nov. 1848, Sp. 964), was sich gegen Julian Schmidt (s. o.) zu richten scheint. Dessen negatives Urteil hat sich indessen womöglich noch gesteigert, denn er schrieb 1853 in - 263 -
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seiner ‚Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert‘ über Ranke u. a.: „Noch schlimmer hat seine Pietät ihm bei der Preußischen Geschichte mitgespielt“, seine „Pietät gegen Preußen und die Hohenzollern, die er gern | so heilig als möglich darstellen möchte.“ (Schmidt I/1853, 330f.). Stenzels „ehrliche einfache Darstellung“ [Geschichte des Preußischen Staates von 1688-1739. 3 Teile, Hmb. 1841] stehe „unendlich höher, als dieses geistreich gezierte Hin- und Herreden“ (331). Mehrfach fiel der Vergleich zugunsten Stenzels aus (so bei [Rezensent. Nr.] 21 in BLU, 12. u. 13. 1. 1848, 46 und J. A. Frhr. v. Helfert: ‚Sylvesterspende 1858, 6). Der anonyme Rezensent des Londoner ‚The Athenæum. Journal of English and Foreign Literature, Science, and the Fine Arts‘ vom 27. Januar 1849, der sich der englischen Übersetzung von Rankes ‚Neun Büchern preußischer Geschichte‘ annnahm, machte - eine Seltenheit - darauf aufmerksam, daß es sich bei diesem Werk nicht um eine Geschichte Preußens handele, sondern um eine Monographie, die einen Beitrag zu den äußeren und inneren Angelegenheiten des preußischen Staates während des Siebenjährigen Krieges liefere, nebst einer kurzen historischen Einführung ([Anonym]/1849, 85). Das Werk stelle eine Verteidigung der preußischen Politik des Hauses Brandenburg dar. Man könne es als Geschichtswerk ansehen, doch auch als „exculpatory statepaper (in fact, a Prussian blue-book)“. Ranke habe dies in einer derart parteilichen und einseitigen Weise verfaßt, daß seine Intention nicht mißverstanden werden könne (ebd.). Im übrigen fällt dem Rezensenten wohl zu Recht auf, daß Ranke gerade bei dem vorliegenden Thema nicht von Quellen des Wiener Hofs spreche, mit dem die preußischen Könige doch wesentlich mehr zu tun gehabt hätten, als mit den herangezogenen von Paris, Dresden und London (86). Auch sei die Gesellschaft von Sanssouci mit geringerer Genauigkeit gezeichnet als die diplomatischen Verhältnisse (87). Vor allem schätze Herr Ranke Voltaire nicht und tue ihm häufig Unrecht. (87). Nach Vorliegen des dritten, abschließenden Bandes bemühte sich die ‚Allgemeine Zeitung‘ in einem anonymen Artikel um ein differenzierteres Urteil: Rankes Buch habe es möglich gemacht, die Motive Friedrichs II. „auf das genaueste kennen zu lernen; die bisher geheim oder unbenützt gebliebenen Actenstücke, besonders Briefe mit vertraulichen Aeußerungen über die wichtigsten Verhältnisse sind aus den Archiven und aus dem Privatbesitz zur Kenntniß des Verfassers gekommen und von ihm zur genauen Darstellung der Ansichten und Entwürfe des Königs benützt worden. Was uns nun bei dieser die Motive wenigstens in vollständigster Glaubwürdigkeit vorführenden Darstellung vor allem auffällt, ist daß von allen Seiten nur das Interesse der Regierungen ins Auge gefaßt, und daß das Wohl der Unterthanen nur insofern berücksichtigt war als es nöthig ist um ihre Kraft zur Wahrung der staatlichen Interessen zu erhöhen.“ (*/18. Junius 1849, 2613). - Von Betrachtungen dieser Art war ein mit O. gezeichneter Zuschrift-Artikel ‚Ranke über Friedrich den Großen. Dritter Band‘ der ‚Allgemeinen Zeitung‘‚ im August des Jahres weit entfernt. Hier handelte es sich lediglich um eine mit positivem Grundton vorgetragene simple Nacherzählung einiger weniger Szenen des Werkes. [Bespr. von 9BPreußG III]. In: Beil. z. Nr. 214 der AZ, 2. 8. 1849, 3305f. - Doch nun folgte eine der äußerst seltenen Besprechungen des Werkes durch werdende oder bereits ausgewiesene Historiker. Ludwig Häusser, der sich bereits Rankes ‚Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation‘ kritisch angenommen hatte (s. o.), plazierte in der ‚Allgemeinen Zeitung‘ vom 5. und 6. August 1849 - freilich anonym eine Gesamtbesprechung des preußischen Werkes unter dem Titel ‚L. Ranke’s preußische Geschichte‘. Seine Besprechung fällt ein wenig milder aus als die der ‚Deutschen - 264 -
I/2.1.6 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Preußische Geschichte‘
Geschichte‘ (s. I, 240). Die „äußern Verhältnisse“ habe Ranke „mit einer eindringenden Sorgfalt behandelt, wie das bis jetzt für diese Periode noch nirgends unternommen worden“ sei ([Häusser]/1849, Zitate nach Ges. Schrr./1869, 179). Dem politischen Historiker mißfällt jedoch die „fatalistische Betrachtung“ der „landesfürstlichen Entwicklung deutscher Zustände“. Ranke habe „die Zeiten, die uns fast als die unglücklichsten erscheinen, z. B. die letzte Periode des 16. Jahrhunderts, in den blühendsten Farben“ gezeichnet (181). Überhaupt habe er „eine Neigung die mildeste und günstigste Seite hervorzukehren, die sich mit der wahren Objectivität nicht gut verträgt; das läßt sich an Personen und an Zuständen nachweisen.“ So erschienen Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I., wie Häusser im einzelnen nachweist, „in sehr günstiger Beleuchtung.“ (182). Die Darstellung Friedrichs II. scheint Häusser hingegen befriedigt zu haben. Er hat diesen später als ‚Heldenkönig‘ bezeichnet, - ein „zweifellos geplantes eigenes großes Friedrich-Buch hat Häussers früher Tod verhindert“ (s. Fuchs, Peter: Häusser, Ludwig. In: NDB 7/1966 456-459). In den 1850er und 1860er Jahren werden Rankes ‚Neun Bücher preußischer Geschichte‘ kaum mehr genannt. Die zwischen 1848 und 1874 stagnierende Auflagenentwicklung spricht deutlich für die Enttäuschung oder Gleichgültigkeit des Publikums auch außerhalb gelehrter Kreise. In diesen äußerte sich der historisch-kritisch arbeitende, längst angesehene Johann Martin Lappenberg (1794-1865), dem keine extremen wissenschaftlichen oder politischen Überzeugungen unterstellt werden können, als einer der Preisrichter der ‚Wedekingschen Preisstiftung für deutsche Geschichte‘ nichtöffentlich ablehnend (Erstdr. bei Postel/1972, 257, A. 214; FLapp). Auf österreichischer Seite mußte vor allem Rankes Darstellung der Politik Friedrichs II. und seines schlesischen Unternehmens in Band II der ‚Preussischen Geschichte‘ Widerspruch hervorrufen. Joseph Alexander Frhr. von Helfert (1820-1910), damals im Kabinett Schwarzenberg-Stadion Unterstaatssekretär im Ministerium für Kultus und Unterricht und „kein großer, aber ein außergewöhnlich fleißiger und gewissenhafter Historiker“ (Weinzierl, Erika: Helfert, Joseph Alexander Freiherr von. In: NDB 8/1969, 469 f.), veröffentlichte bei der Unzahl seiner Schriften in Wien auch eine zwanzigseitige ‚Sylvesterspende 1858 für Freunde vaterländischer Geschichtsforschung‘ mit dem Titel ‚Eine patriotische Rüge und ein Bruchstück aus Slawata’s grossem Geschichtswerke‘. Hierin warf er - auch juristisch gebildet - Ranke, im Gegensatz zu dem wiederum „aufrichtigen Stenzel“ (6) eine verzerrte Darstellung des „völkerrechtswidrigen Einfalls Friedrichs in das Nachbarland“ vor (6), wobei er hinsichtlich der ‚Rechtsansprüche‘ des brandenburgischen Hauses auf einige Teile Schlesiens zum Zwecke der Widerlegung aus einem handschriftlichen Werk Wilhelm von Slawatas (1572-1652) über die Geschichte der Zeiten Ferdinands I., Maximilians II. und Rudolfs II. zitierte. Als einer der besten Kenner Rankes in dieser Zeit erwies sich der Paläograph und Jurist Ernest Grégoire (1828-1902) im Pariser ‚Correspondant‘ des Jahres 1857. Es war eine ausführliche, perspektivreiche, jedoch besonders hinsichtlich der Rankeschen ‚Unparteilichkeit‘ kritische Gesamtwürdigung, mit der er diesen in einer Folge von ‚Historiens allemands‘ als ersten vorstellte. Ihm war 1854 eine ähnliche Serie aus der Feder von Saint-René Taillandier vorausgegangen, der beklagte, in seiner ‚Preußischen Geschichte‘ beherrsche Ranke nicht sein Sujet mit der Kraft, mit der Unparteilichkeit, welche das herausragende Verdienst seiner ersten Arbeiten seien. (65). Um auf Grégoire zurückzukommen, der noch zu Rankes ‚Französischer Geschichte‘ zu be- 265 -
I/2.1.6 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Preußische Geschichte‘
trachten sein wird, so war auch ihm nicht die in Rankes unpreußisch-preußischem Werk auftretende höfische Weichzeichnung entgangen: „mais ses goûts épurés, son talent châtié, étaient mal à l’aise au milieu des faits de barbarie repoussants et des traits de grossièreté inculte qu’il avait à raconter. Il a sévèrement élagué tous les traits de mœurs brutales qui caractérisent l’histoire de la maison de Brandebourg; le récit lui en a répugné; mais alors on ne sait plus de qui il veut parler.“ (657). Einen der Hauptpunkte der untertänigen Zeichnung von Rankes Hand griff der auch hier wieder zu grobgeschnitzten Urteilen neigende Johannes Scherr (s. o.) auf, der 1862 in seinem Essay über ‚Geschichtschreibung und Geschichtschreiber der Gegenwart‘ schrieb: „Ebenso wenig wie für Luther und Cromwell paßte die diplomatische Schablone für den grobklotzigen König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der in seiner Art auch ein Riese gewesen. Zu was für einem kläglichem Schemen ist in den ‚Neun Büchern preußischer Geschichte‘ der handfeste Schlagadodro von König-Korporal unter Ranke’s Hand geworden!“ (Scherr/1862, 194). - Selbst ein Lieblingsschüler Rankes (nach Wichmann II/1887, 175f.), Richard Bürde (geb. 1825), 1853 in Berlin mit einer Dissertation ‚De missis dominicis‘ promoviert, verglich 1865 in einer der ersten nicht rezensionsartigen Spezialuntersuchungen zu Rankes Werk - ‚Carlyle und Ranke über Friedrich den Großen‘ - die Friedrich-Biographie Thomas Carlyles (History of Friedrich II. of Prussia, called Frederick the Great, Lnd. 1858, div. Ausg.) mit der ‚Preußischen Geschichte‘ Rankes. Bürde ist sich jedoch der aus den verschiedenen Darstellungsgattungen notwendig entspringenden Unterschiede nicht recht bewußt geworden, wenn er z. B. hervorhebt, bei Ranke seien die allgemeinen politischen Verhältnisse besser dargelegt, wohingegen Carlyle nur dann auf sie eingehe, wenn sie auf die persönlichen Schicksale seines Helden von Einfluß seien (198). Davon nicht ganz unberührt bleiben auch andere Grundaussagen des Vergleichs: Ranke erzeuge im Gegensatz zu Carlyle „aus Documenten erster Hand“ ein Bild, das aber doch nicht zu voller Wirkung gelange, weil das „Allbekannte und oft Erzählte“ weithin darin fehle (194). Ranke habe in seiner „feinen künstlerischen Manier“, in seiner „milden Weise“ bei der Schilderung der Persönlichkeit Friedrichs und seiner Umgebung - ganz anders als Carlyle - „starke Züge, kräftige Farben, helles Licht und dunklen Schatten“ vermieden und so „nicht die rechte Wirkung hervorgebracht“ (198). Seinen „bleibenden, selbständigen Werth“ verleihe dem Werk indes die den Mittelpunkt bildende Darstellung der politischen Wirksamkeit Friedrichs bis zum Beginn des Siebenjährigen Krieges (200). - Urteile dieser Art haben u. a. auch Eingang gefunden in allgemeine Literaturgeschichten, wie etwa in G. Schwabs und K. Klüpfels ‚Wegweiser durch die Literatur der Deutschen. Ein Handbuch für Gebildete. Vierte Auflage. Gänzlich umgearbeitet und bis auf die Gegenwart fortgeführt‘ (Lpz. 1870, 119).
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7. Kapitel (I/2.1.7) NATIONALGESCHICHTE ALS EUROPÄISCHE UNIVERSALGESCHICHTE Zur Aufnahme der ‚Französischen‘ und der ‚Englischen Geschichte‘ 1852-1867 Vorb emerkung (I/2.1.7.0) Ranke erfuhr seit den 1840er, zunehmend seit den 1850er Jahren, von hoheitlicher Seite, vor allem auch von bedeutenden wissenschaftlichen Gesellschaften und Einrichtungen, ehrenvolle Anerkennung in Fülle. Man darf annehmen, daß sie seinen Ruf als erste wissenschaftliche Kapazität weiter gemehrt, seine wissenschaftsorganisatorische sowie Adel und Hof verbundene gesellschaftliche Position weiter gestärkt, die Wirkungen seines Werkes in verschiedener, doch überwiegend positiver Weise beeinflußt und dessen Kritik nicht befördert hat. Nach der Ernennung zum ‚Historiographen des Preußischen Staates‘ im Jahre 1841 war ihm 1844 nicht nur die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Marburg, sondern auch die Ernennung zum Mitglied der ‚New-York Historical Society‘ zuteil geworden. Sodann häuften sich Ernennungen dieser Art, so 1854 zum Mitglied der ‚Royal Irish Academy‘ in Dublin und der ‚Royal Society of Literature‘ in London, 1857 zum Mitglied der ‚Academia literarum et scientiarum Regia Boica‘, 1858 zum korrespondierenden Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Den Höhepunkt bildete im Februar 1860 die Wahl zum auswärtigen Mitglied der Pariser ‚Académie des sciences morales et politiques‘ (s. II/6.4). Von großer, in jeder Weise schützender und gesellschaftlich hebender Bedeutung war der öffentlich bekannte gelegentliche Umgang mit Friedrich Wilhelm IV., mehr noch die Wertschätzung, die ihm Maximilian II. entgegenbrachte, nebst den Einflußund Gestaltungsmöglichkeiten, die Ranke durch die Präsidentschaft der von ihm angeregten ‚Historischen Kommission‘ erhielt. Durch Maximilian wurde ihm im Jahre 1852 auch das Komturkreuz des ‚Kgl. Verdienstordens vom Hl. Michael‘, 1853 der ‚Bayerische Maximiliansorden‘ und 1859 die Maximilians-Medaille zuteil. In Preußen wurde er 1854 zum Mitglied des Staatsrats ernannt und 1855 zum Mitglied des preußischen Ordens ‚Pour le mérite‘ gewählt. 1856 durfte er sich der Verleihung des Ritterkreuzes des ‚Ordens vom Zähringer Löwen‘ durch den Großherzog von Baden erfreuen. Sogar zum 64. Geburtstag, am 21. Dez. 1859, erhielt er ein Huldigungsschreiben, - von Wiener Studenten, bei deren Unterzeichnern sich auch der ihm besonders ergebene, später näher zu betrachtende Heinrich von Zeißberg befand. In den Jahren seiner ‚Englischen Geschichte‘ setzen sich die öffentlichen Ehrungen in hoheitlicher wie wissenschaftlicher Art unvermindert fort: die Ernennung zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Petersburg (1860), die Verleihung des Komturkreuzes 1. Kl. und des Ritterkreuzes des Württembergischen Friedrichs-Ordens (1865), die Ernennung zum Kgl. preußischen Geh. Regierungsrat (1866), die Ehrenpromotion zum Dr. iuris utr. der Universität Dublin, Trinity College (Juli 1865), der Ehrenbürgerbrief seiner Vaterstadt Wiehe (17. Okt. 1866). Das wichtigste Ereignis dieser Art war seine erbliche Nobilitierung (22. März 1865). - 267 -
I/2.1.7.0 Geschichtsdenken seiner Zeit - Nationalgeschichte, Vorbemerkung
Trotz dieser nicht zu übersehenden Fülle von Ehrungen war doch der merkwürdige Zustand eingetreten, daß Ranke in den 1850er bis zu Beginn der 1880er Jahre zwar weithin als bedeutendster Historiker Deutschlands wie Europas angesehen wurde, aber - wie bereits bemerkt (s. I, 95) - keineswegs als populär galt. „Nur populär kann man ihn eigentlich nicht nennen“, urteilte 1855 ein Anonymus der ‚Deutschen Vierteljahrs Schrift‘ in einer Abhandlung mit dem Titel ‚Der gegenwärtige Stand der deutschen Geschichtsforschung und Geschichtschreibung‘ (116f.). Hartwig Floto, der an Rankes Vorlesungen und Übungen teilgenommen hatte, auch, wie er, Portenser war, (Floto/ 1856, 18), widmete ihm zwar seine beiden Bände ‚Kaiser Heinrich der Vierte und sein Zeitalter‘ (Stg. u. Hmbg. 1855 u. 1856), jedoch als der „größte Geschichtschreiber, der jetzt lebt“, galt ihm Macaulay, wie er ungescheut ausgerechnet in seiner akademischen Antrittsrede verkündete (Floto/1856, 18). Dieser Auffassung war auch ein Anonymus in den ‚Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft‘ (151), der 1859 schrieb, eine Popularität, wie die Macaulays in England, genieße Ranke nicht. „In das Volk kann Ranke nie dringen“, hieß es anonym in dem biographischen Lexikon ‚Männer der Zeit‘ von 1860 (Sp. 226), „dazu ist er zu marmorglatt und marmorkalt in der Form, zu exclusiv-ästhetisch in der Auffassung, und zudem giebt er nur neuerforschtes, und setzt früher festgestelltes als bekannt voraus“, dies der gängigste Topos zeitgenössischer Ranke-Kritik. Ein wenig mißgünstig klingt die Bemerkung Max Lehmanns zu Rankes 70. Geburtstag (1865): Da hätten die „paar Bewunderer seines Genius Mühe“ gehabt, „noch einige Unterschriften für einen Glückwunsch zusammenzubringen“ (1925, 221). Ranke war, wie Adalbert Heinrich Horawitz 1865 bemerkte, „wiewohl nunmehr unbedenklich der größte Meister auf dem Gebiete der Historik, im großen Publicum viel weniger bekannt und geachtet, als gar manche seiner Schüler … und noch weniger als Schlosser“ (Horawitz/1865, 26f.). Auch August Kluckhohn fand, Ranke habe sich bis „über die Mitte des Jahrhunderts hinaus“ die Wertschätzung des Publikums mit dem „stolzen Heidelberger Moralisten“ teilen müssen (Kluckhohn/1894, 435f.; zuerst 1885; s. I, 176ff.). Ob Rankes lang anhaltende Abwendung von preußisch-deutscher Thematik mit dem durch die revolutionären Bewegungen von 1848 erlittenen Schock zusammenhängt, wohl eher noch mit dem bei dieser Thematik eingetretenen Mißerfolg, sei dahingestellt. Zwar hat er sich aus der im Wintersemester 1847/48 vorgelesenen ‚Geschichte der neuesten Zeit‘ im Sommersemester 1848 spontan in die ‚Römische Geschichte‘ geflüchtet, doch tritt die französische und englische Thematik schon früher in seinen Vorlesungen und Akademie-Vorträgen auf, ergibt sich auch nahezu zwingend aus seinen früheren Archivarbeiten und seiner europazentristischen ‚universalhistorischen‘ Konzeption.
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I/2.1.7.1 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Französische Geschichte‘
Die Aufnahme der ‚Französischen Geschichte‘ (I/2.1.7.1) Rankes ‚Französische Geschichte vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert‘ erschien in Erstauflage fünfbändig in den Jahren 1852 bis 1861. Das späte Auftreten von Band V mit seinen Analekten ließ die Rezensenten zunächst in der Annahme, das Unternehmen sei nach vier Bänden beendet. Eine zweite Auflage erschien 1856 bis 1862, weitere Auflagen in den Jahren 1868 bis 1870, 1876, 1877 und 1877 bis 1879 (s. II/1.1), deren Vielzahl mit dem verwirrenden Erscheinen in zwei Verlagen zusammenhängt. Gleichwohl gehört dieses Werk Rankes nicht zu den von seiner Zeitgenossenschaft am stärksten beachteten. Selbst Rankes Lieblings-Schüler Georg Waitz fand 1861 in einer der ‚Historischen Zeitschrift‘ zugewiesenen Besprechung des letzten Bandes der ‚Französischen Geschichte‘, Rankes große Arbeiten fänden „nur selten noch eine ausführliche Besprechung“ in den kritischen Blättern (349). Dies mochte nicht zuletzt mit der Mißachtung zusammenhängen, welche man dem Werk bisher in der ‚Historischen Zeitschrift‘ selbst entgegengebracht hatte. In der späteren Forschung ging man gar so weit, Rankes ‚Französische Geschichte‘ „das ignorierte Werk“ zu nennen (Stromeyer/1950, 65), mit Blick auf die rund 35 hier - freilich für alle Auflagen zusammengenommen - nachgewiesenen Besprechungen und andere Urteile eine Fehleinschätzung, der auch keinerlei Kenntnis französischer Stimmen beiwohnte. Wilhelm Dilthey jedenfalls hielt Rankes ‚Französische Geschichte‘ später für „sein größtes Werk“, wenn auch mit der wohl fragwürdigen Begründung: „Das Eckige, Enge der deutschen Geschichte ist ihm nicht naturgemäß - er braucht den Glanz der weit ausschreitenden Persönlichkeiten“, wobei wohl vor allem an Richelieu und Ludwig XIV. gedacht sein mochte. (‚Erinnerungen an deutsche Geschichtschreiber‘, GS XI/²1960, 218). - Das Werk erlitt in seiner französischen Fassung ein auffallend sprechendes Schicksal, indem nach den 1854 und 1856 erschienenen Bänden I bis III (entsprechend den Bänden I und II der dt. Ausg.) erst rund dreißig Jahre später, von 1885 bis 1889, auch die Bände IV bis VI zu Tage traten, wie Jules Grenier mit Bedauern bemerkte, „parce que le public n’a fait que peu d’accueil aux deux premiers.“ (Grenier/1859, 329, A. 1). Weitere Übersetzungen weltweit konnten nicht ermittelt werden, wie überhaupt das französische Interesse an Ranke, gemessen an der Zahl von Ausgaben und Untersuchungen und im Vergleich mit der anglo-amerikanischen Welt, äußerst gering war und im 20. Jahrhundert, wohl aufgrund der mit Deutschland gemachten Kriegserfahrungen, nahezu völlig zusammenbrach. Immer wieder begegnet man indes auch Versuchen, die Aufnahme Rankes zu schönen. Sein fachlich autoritätvoller Frühschüler Georg Waitz verstieg sich 1861 in der nicht minder autoritätvollen ‚Historischen Zeitschrift‘ zu der Behauptung, Rankes Werke zur französischen und englischen Geschichte hätten „in Frankreich und England reiche Anerkennung gefunden“ (Waitz/1861, 350). Dies entsprang entweder einem Irrtum oder einer wunschgeprägten Übertreibung, welche jedenfalls imstande waren, an einer bis heute bestehenden Tradition von Irrtümern mitzuwirken. - In jüngster Zeit, anhebend mit Untersuchungen von Hans Robert Jauß, haben sich literarästhetische und geschichtstheoretische Arbeiten gerade dem französischen Werk besonders zugewandt. Bei den zeitgenössischen Kritiken der ‚Französischen Geschichte‘ spielt historische Fachkunde nur selten eine Rolle. Auch Vergleiche mit der entsprechenden französischen Literatur, überhaupt Betrachtungen der historiographiegeschichlichen Position - 269 -
I/2.1.7.1 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Französische Geschichte‘
und Bedeutung Rankes und des vorliegenden Werkes werden dabei kaum angestellt. Den Hauptpunkt der allgemeinen Kritik bildet, wie so oft, die fragmentierende Darstellung, Rankes versagte Vollständigkeit, eine Kritik, welche immer deutlicher die fundamentalen Züge annimmt, welche ihr zukommen. Daneben wird unter den französischen Kritikern vor allem seine konfessionelle Parteilichkeit getadelt. Eine andere Art von Parteilichkeit, die vornehmlich in den preußischen Werken auftritt, beanstandete der mehrfach herangezogene Republikaner Johannes Scherr. Er meinte den oft beklagten monarchistischen Devotionalismus Rankes (s. I/1.9), als er in einem Beitrag über ‚Geschichtschreibung und Geschichtschreiber der Gegenwart‘ der ‚Deutschen Jahrbücher für Politik und Literatur‘ des Jahres 1862 davon sprach, Ranke habe in seiner ‚Französischen Geschichte‘ „den Absolutismus möglichst verherrlicht“ (195): „Dieses Buch bezeugt übrigens Seite für Seite, wie weit es der Meister in der höfischen Glattstreichelung selbst des Widerborstigsten gebracht. Mit welcher zarten Kourtoisie wird z. B. die königliche Anstifterin der Bartholomäusnacht behandelt! Wenn dies historische Objektivität sein soll, dann mögen die Götter namentlich die Jugend vor den Einflüssen solcher Objektivität bewahren!“ (195). Damit stand Scherr nicht ganz allein. Noch 1870 konnte man in G. Schwabs und K. Klüpfels ‚Wegweiser durch die Literatur der Deutschen. Ein Handbuch für Gebildete‘ (4. Aufl.) über Rankes ‚Französische Geschichte‘ lesen: „Ein glänzendes Werk historischer Kunst, das in formeller Vollendung die früheren Werke des berühmten Verfassers noch übertrifft ... die Hauptbedeutung des Werkes beruht auf der welthistorischen Auffassung ... Die Charakteristik oft sehr treffend und das tiefere Verständniß der Personen und Dinge erschließend, hin und wieder aber die schroffen Seiten abschleifend und die sittliche Würdigung abschwächend oder umgehend...“ (162). Zu den ersten Besprechungen des Werkes im deutschsprachigen Raum kann man nicht den am 18. November 1852 erschienenen anonymen Artikel des ‚Magazins für die Literatur des Auslandes‘ mit dem anspruchsvollen Titel ‚Leopold Ranke über die Bedeutung der französischen Geschichte‘ zählen, denn dieser enthielt lediglich Zitate aus der Vorrede des „berühmten Historikers“. Auch eine wesentlich spätere Besprechung des ‚Magazins‘ brachte es nicht zu mehr als zu einer überaus anspruchslosen anerkennenden Besprechung, die hauptsächlich aus einem Auszug des Rankeschen Vorworts bestand (E. M./13. 2. 1869). Eine erste, ernstzunehmende Kritik stammte vielmehr wiederum von Ludwig Häusser. Er hatte sie für die ‚Allgemeine Zeitung‘ vom 28. und 29. November 1852 geschrieben und setzte sie in den Jahren 1853, 1855 und 1856 fort. Obgleich diese Skizzen der Bedeutung Häussers kaum gerecht werden und auch nicht das Niveau seiner Besprechungen der ‚Deutschen‘ und der ‚Preußischen Geschichte‘ erreichen, sind sie von Interesse wegen der überwiegenden Behandlung des Rankeschen Darstellungsstils und wurden daher in dem entsprechenden Zusammenhang betrachtet (s. I, 199f.). Vermutlich hatte Wolfgang Menzel die 1853 anonym in seinem ‚Literaturblatt‘ erschienene Besprechung des ersten Bandes der ‚Französischen Geschichte‘ selbst verfaßt (Obenaus/1973, 108: „Einen sehr großen Teil des Blattes schrieb Menzel selbst“). Schon 1835 war dort aus seiner Feder eine Besprechung von Rankes ‚Päpsten‘ erschienen (s. o.). Seiner nunmehrigen Nacherzählung gehen wenige kurze beurteilende Bemerkungen über die „geistvolle und umfassende Darstellung“ voraus. Man begegne „neuen Gedanken und interessanten Erwägungen“. Dazu rechnet Menzel - wie sonst keiner - „die Erörterung der städtischen Verhältnisse.“ (115). - Eine andere unter- 270 -
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haltende kritische Zeitschrift, die von Friedrich Bran in Jena herausgegebene ‚Minerva. Ein Journal für Geschichte, Politik und Literatur‘ nahm sich 1855 der ersten drei Bände an. Dem anonymen Rezensenten geht es hauptsächlich um den Nachweis, daß der „Einfluß des französischen Geistes auf unsre eigene wahrhaft gesunde Entwicklung ein höchst verderblicher gewesen“ sei (80). Dann äußert er sich verklausuliert und an Schlosser orientiert zu Ranke: „Es ist nicht sittlicher Indifferentismus, sondern allein das Uebergewicht der künstlerischen Anlage, die nichts nach dem sittlichen Werthe der sie anziehenden Objecte, sondern allein nach ihrer Schönheit fragt, welche auch in diesem großen Geschichtschreiber den Schein hervorbringt, als sei ihm der Sinn für das, was Andern als der eigentliche Werth der Geschichte gilt, für ihre practischsittliche Bedeutung verschlossen“ (101f.). Es gebe jedoch einen „wenigstens für den deutschen Geist und den Geist dieser Gegenwart insbesondere geeigneteren und berechtigteren Standpunkt“ (170), nämlich die „Betrachtung des sittlichen Entwicklungsganges der Menschheit“ (215). Mittlerweile war eine anonyme Besprechung der ‚Französischen Geschichte‘ des ‚Literarischen Centralblatts für Deutschland‘ erschienen, die sich durch eine größere Urteilsfähigkeit auszeichnete, sich aber, wie die entsprechenden Beiträge Häussers, in bemerkenswerter Weise überwiegend zu Rankes Darstellungskunst äußerte (LCD, 30. 12. 1854, s. I, 197). Dies setzt sich in einem Artikel des Blatts vom 23. Februar 1856 zu Band III fort. Dort kann das Vorhandensein „einzelner glänzender Partieen“, etwa die Darstellung Mazarins und Turennes, den Rezensenten nicht entschädigen für die allzu skizzenhafte und fragmentarische Behandlung, besonders im Abschnitt ‚Ludwig XIV. auf der Höhe seiner Macht‘. Das „Wichtigste“ sei „zu farblos dargestellt und zu sehr mit Details und Nebensächlichem vermischt, als daß man einen klaren und bestimmten Eindruck“, namentlich über die großen Gegensätze des europäischen Staatensystems, gewinnen könne. Die späteren anonymen Besprechungen der Zeitschrift (22. 5. 1869 u. 18. 6. 1870), nach Aufnahme des Werkes in die ‚Gesamtausgabe‘, sind Teil von Sammelbesprechungen, wenig charakteristisch, verzeichnen indes (18. 6. 1870) wenigstens Änderungen gegenüber der früheren Auflage. Sachverständige, auch mit den einschlägigen Archivbeständen allgemein vertraute Besprechungen des vermeintlichen Gesamtwerkes, überraschend unpolemisch und streckenweise nicht ohne Wohlwollen und Bewunderung, begegnen in der Wiener ‚Katholischen Literatur-Zeitung‘ der Jahre 1855 bis 1857, zunächst am 16. April 1855. Ranke habe, so bemerkt der als Kürzel E. auftretende Rezensent, mit „Geschick und Glück ... in diesem Buche die nationale wie die welthistorische Seite der französischen Geschichte in Betracht gezogen und behandelt“ und lasse sich „nirgends eine Schmähung oder absichtliche Ungerechtigkeit und Entstellung zu Schulden kommen“ (121). In den beiden ersten Büchern habe Ranke „bei seiner objectiven lichtvollen Darstellung noch durch Nichts den Protestanten verraten“. Erst im dritten Buch könne er den „protestantischen Standpunkt nicht verläugnen“. Ihm fehle überhaupt „das wahre Verständniß des Katholicismus“ (ebd.). Während dieser „selbst jede eigentliche Veränderung“ ausschließe, sei der Protestantismus „lediglich eine Entwicklung des mit der Kirche stets im Kampfe liegenden Ungehorsams, eine Folge des ungefügen Eigensinns“. Man vermisse eine größere Ausführlichkeit bei der Darstellung der Ständeversammlung von 1614 und des Friedenskongresses von Loudon im Jahre 1616. Auch sei Ranke „auf dem Gebiet des Kirchenrechts schlecht zu Hause“ (122f.). Über Gustav Adolf urteile er „etwas zu glimpflich“ und über Wallenstein bringe er „nichts Neues; im - 271 -
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Gegentheile scheint er das Vorhandene nicht sorgfältig genug benützt zu haben, namentlich was Mailath [1786-1855] über die Katastrophe Wallensteins berichtet.“ (123. Johann Mailath: Geschichte des österreichischen Kaiserstaates, 5 Bde, 1834–50). - Die sich im September 1855 anschließende Besprechung des dritten Bandes dürfte, obgleich sie nicht mit E. gezeichnet ist, von demselben Rezensenten verfaßt sein. Ranke stehe mit seiner Darstellung „vollkommen auf eigenen Füßen“, einzelne Abschnitte seien „meisterhaft“ gezeichnet, von der Regierung Ludwigs XIV. werde ein „klares und anschauliches Bild“ gegeben (192), und in Rankes Ansichten, etwa der jansenistischen Frage, spreche sich „rühmliche Billigkeit und Toleranz“ (192) aus. Doch nun fällt ein Tadel auf Bereiche, an denen Ranke stets besonders gelegen war, wobei die Literatur- und wohl auch Archivkenntnis des Rezensenten zum Tragen kommt: Zum einen seien die auswärtigen Verhältnisse „etwas zu stiefmütterlich“ behandelt - das Gegenteil lobte 1878 ein Rezensent der , Allgemeinen Zeitung‘ (Rd. 3.2. 1878) - und zum anderen blieben in diesem Werk, obgleich es sich auf „viele werthvolle archivalische Forschungen“ gründe, doch noch zahlreiche Wünsche offen, etwa über die „französischen Intriguen beim westphälischen Friedensgeschäft, über den damaligen Rheinbund, über die Devolutionskriege und über die niederländischen Invasionen“. Der Rezensent hatte gehofft, daß Ranke das zu Paris „in den wohlgeordneten Archiven der Ministerien des Kriegs und der auswärtigen Angelegenheiten“ „massenhaft aufgehäufte Material“ wenigsten teilweise benutzen würde. „Sein Werk würde eine bei weitem höhere Anerkennung beanspruchen können, wenn ihm der Briefwechsel des französ. Ministeriums mit den Gesandten auf den Friedenscongreß, dann die Actenstücke, welche Oesterreich, Bayern, Mainz, Trier, Köln, Münster, Hannover, Brandenburg, Holland u. s. w. betreffen, und endlich die im Kriegsministerium liegenden Kriegsberichte und militärischen Relationen zu Grunde gelegt worden wären.“ (191). - Die anonyme Besprechung von Band IV, erschienen am 23. Februar 1857, welche gelegentlich Veröffentlichungen des Katholiken Leonhard Ennen (18201880) beizieht, vertritt keine härteren Positionen mehr, hat vielmehr, und dies spricht neben der gewandelten Stilistik für das Auftreten eines anderen Rezensenten, selbst den Charakter der Rankeschen Darstellung angenommen: „Ueberall herrscht eine gewiße Ruhe und Milde in der Auffassung und Darstellung“ (65). Sie bewundert die großartige Anlage des Werkes. „Ueber solch ein reichhaltiges Material und einen im verschiedenartigsten Gebilde hingeworfenen Stoff erhebt sich der Geist des Meisters, ordnend und belebend, und seine Gestalten treten plastisch und vom Hauche schaffender Originalität beseelt, in solch psychologischer Wahrheit vor uns hin...“ (ebd.). Zumindest zwei renommierte und Ranke besonders nahestehende Rezensenten hätten sachverständig tätig werden können: Georg Waitz und Reinhold Pauli, doch sie versagten sich dieser Aufgabe. Zwar verfaßte Waitz 1861 in Band 6 der ‚Historischen Zeitschrift‘ einen Artikel ‚Zur Würdigung von Ranke’s historischer Kritik‘ (s. auch I, 178), doch beschäftigte er sich darin vor allem mit den in Band V angelegten Analekten, wodurch er einer genaueren Betrachtung der voraufgehenden vierbändigen historiographischen Leistung aus dem Wege ging. Bedeutung und Ausmaß dieser Zurückhaltung werden noch deutlicher durch das Auftreten einer peinlichen erneuten Anzeige des Bandes, diesmal anonym in Band 8 der ‚Historischen Zeitschrift‘ von 1862, welche aus 7 Zeilen besteht und lediglich ein Verzeichnis der Analekten „des vortrefflichen Werkes“ bietet, dies die einzigen Hinweise der Zeitschrift auf Rankes ‚Französische Geschichte‘, - vielleicht Ausdruck des schwierigen Verhältnisses, in dem - 272 -
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sich ihr von Ranke geförderter und an französischer Geschichte nicht minder interessierter Herausgeber Sybel Ranke gegenüber sah. - Der zweite hochqualifizierte Rezensent wäre Reinhold Pauli gewesen, doch ließ er sie in einer 1872 erschienenen, insgesamt 24 Bände aus Rankes ‚Sämmtlichen Werken‘ umfassenden Sammelbesprechung der in London erscheinenden ‚Academy‘, welche auch die ‚Französische Geschichte‘ mit einschloß, bei aller Bewunderung des „great master of modern historiography in Germany“ (193), fast unerwähnt. Stattdessen überließ man das Feld der Kritik schlichteren Geistern. Die Ranke stets gewogene ‚Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung‘, die er selbst allen anderen Blättern vorzog, brachte in einer Beilage vom 20. Juni 1869 eine kurze, verehrungsvolle Sammelbesprechung, in der vermerkt wird, seine ‚Französische Geschichte‘ leuchte „schon seit ihrem ersten Erscheinen durch jene Vorzüge der Form und Methode, welche den Stifter der neuen historischen Schule als einen der ersten Historiker aller Zeiten legitimiren.“ Was solle man mehr bewundern, fragt sich der Rezensent: die „unerbittliche Wahrhaftigkeit ... des Forschers“ oder die „plastische Hand des Künstlers?“ (φ: Leopold v. Ranke: „Sämmtliche Werke“/1869 ohne Pag.). In der ‚Allgemeinen Zeitung‘ war eine gewisse Vorsicht angeraten, denn Rankes ‚Französische Geschichte‘ erschien neben den ‚Sämmtlichen Werken‘ immer noch im Ursprungsverlag des Werkes, bei Cotta, dem höchst einflußreichen Verlag der Zeitung. Der Rezensent, welcher die Bände I-III der dritten Auflage in der Beilage vom 3. Februar 1878 besprach, geht nicht in Details, bietet indes einige bemerkenswerte allgemeine Betrachtungen, wobei früher Vorgeworfenes nunmehr in einem milderen Licht erscheint: „Daß wir endlich eine anderen Nationen mindestens gleichberechtigte Machtstellung uns erworben haben, das hat dem großen Publicum die Gleichgültigkeit oder gar Abneigung gegen die Leistungen der Geschichtswissenschaft benommen ...“ „Selbst Ranke“ sei in wenigen Jahren schon wieder aufgelegt worden. „Denn von allen modernen Geschichtschreibern ist er vielleicht derjenige, welcher dem Leser am wenigsten den geistigen Verkehr mit sich erleichtert. Vornehm, wie er ist, verschmäht er es anders als nur andeutend bei dem zu verweilen was er als gemeinsamen Wissensschatz bei dem gebildeten Publicum voraussetzen zu sollen glaubt. Und dieß ist, wie jedermann weiß, nicht wenig. Auch die Betrachtungspunkte unter denen ihm die Ereignisse erscheinen, seine Auffassung der historischen Dinge als des Kampfes der Freiheit, die sich ihm in den leitenden und einflußreichen Individuen repräsentirt, mit der Nothwendigkeit die in den großen Gemeinsamkeiten und ihren wechselvollen Verwicklungen zum Ausdruck kommt, mehr noch seine Art die concreten Gewalten in der Form abstracter Begriffe zusammenzufassen, mit allgemeinen Resultaten zu operiren, die mehr noch geschichtsphilosophischer, um mich so auszudrücken, als politischer Natur sind: alle diese Besonderheiten des großen Geschichtschreibers sind der Menge wenig geläufig.“ - So sei es das „Hauptverdienst“ seiner ‚Französischen Geschichte‘, „die allgemeinen Beziehungen Frankreichs zu den einzelnen Staaten des Welttheils gezeichnet zu haben, seinen Einfluß auf den Gesammtzustand Europa’s.“ (497). S t i m m e n d e s A u s l a n d s . - Auch französische Stimmen sind nicht durchweg positiv ausgefallen. Die Hauptpunkte der im allgemeinen qualifizierten Beurteilung gelten der Rankeschen ‚Objektivität‘ und ‚Unparteilichkeit‘, die zum Teil schwere Vorwürfe hinnehmen muß, und der Auslassung von Tatsachen, welche für den Zusammenhang wesentlich sind, begleitet von der Kritik seiner Benutzung diplomatischer Quellen. - 273 -
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Ranke hatte Edouard Renée Lefebvre de Laboulaye (1811-1883) im Sommer 1843 in Paris kennengelernt. 1865 besuchte er den „alten Freund“ in dessen Landhaus in Versailles, trotz dessen „republikanischer Ader“ (s. II/7.2). 1853 verfaßte dieser, damals ‚Professeur de législation comparée au Collège de France‘, eine Besprechung des ersten Bandes der ‚Französischen Geschichte‘: Der größere Erfolg Rankes in England - womit nur seine ‚Päpste‘ gemeint sein konnten - , dessen Name, so mutmaßt Laboulaye, in Frankreich bekannter sei als seine Werke, sei wohl auch auf seinen Protestantismus zurückzuführen. Was Ranke auszeichne, sei weniger die Einführung neuer Tatsachen, als eine besondere Art der Persönlichkeitsschilderung : „Ce ne sont plus des abstractions, des personnages de tragédie ...; ce sont au contraire des individus ondoyans et divers comme nous, moins grands que ne les voudrait l’imagination, mais aussi moins coupables, et presque toujours faibles, ignorans ou trompés bien plutôt que méchans.“ Allerdings erläßt Laboulaye Ranke nicht den schwer wiegenden Tadel, in seiner Darstellung die Rolle der als Quellen benutzten Diplomaten nebst deren Kälte übernommen zu haben. Und der Verfasser späterer ‚Études morales et politiques‘ (Paris: Charpentier 1862) fordert von einem Historiker und von Ranke ganz entschieden: „Il faut sans doute qu’il soit impartial; mais l’impartialité est-ce l’indifférence? L’historien n’est pas un témoin, c’est un juge; c’est à lui d’accuser et de condamner au nom du passé opprimé et dans l’intérêt de l’avenir ... on aimerait mieux un art moins grand et plus de passion.“ (Laboulaye/1853, 3). Ebenfalls im Jahr 1853 konnte sich Ranke einer Besprechung seiner ‚Französischen Geschichte‘ in der ‚Bibliothèque universelle de Genève‘ erfreuen, - nunmehr uneingeschränkt positiv - aus der Feder von Adolphe de Circourt (1801-1879), den er im März 1848 in Berlin kennengelernt hatte. Circourt befand sich damals auf einer ‚mission à Berlin‘ als von Lamartine eingesetzter Gesandter an den preußischen Hof (Robert C. Winthrop: Tribute to the memory of Count Adolphe de Circourt, [Boston 1880], 3), wobei er Gelegenheit hatte, sehr bezeichnende politische Äußerungen Rankes zu vernehmen (s. II, 475, 1848, auch Helmolt/1921, 103f). Ranke verkehrte bei seinen Archivaufenthalten in Paris auch im Salon von Circourts Gattin Anastasia de Circourt (1808-1863, s. II, 478, 1852). - Circourts Besprechung von Band I der ‚Französischen Geschichte‘ in deutscher Ausgabe stellt wie so oft eine mit Zitaten durchsetzte Nacherzählung dar, der jedoch folgende allgemeine Beurteilung vorangeht: Ranke „rassemble toutes les qualités dont l’union est nécessaire pour former l’historien complet et donner de l’autorité aux jugements sortis de sa plume: ardeur infatigable dans le travail ; sagacité dans l’interprétation des textes et la comparaison des témoignages; ordre lumineux dans l’arrangement de ses matériaux; sévère impartialité dans la peinture des caractères ; réprobation inflexible du mal [! Eine ganz ungewöhnliche Feststellung], indulgence pour l’humanité ; style pur, lucide, d’une simplicité élevée, ne hasardant aucune expression équivoque ou forcée, évitant également la bassesse et l’enflure, ne cherchant à produire d’effet que par la splendeur de la raison.“ (Circourt/1853, 43). Zu den weiteren Vorzügen zählt Circourt, wie auch Laboulaye, die historischen Porträts: „Les siens sont d’une vérité, pour ainsi dire, familière et persuasive, sans minutie, sans bassesse, sans le moindre trait d’exagération.“ (193) - „Un des principaux mérites du travail de M. Ranke ... est de rendre sensible l’enchaînement des causes générales, et de réduire à ses justes limites l’action des caractères personnels, sans affaiblir en rien pourtant la responsabilité individuelle des acteurs du grand drame dont il présente le résumé.“ (S. 201). Wiederum eine vom Üblichen völlig - 274 -
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abweichende Bemerkung, die auch im Gegensatz zu Laboulayes Formulierung der „moins coupables“ steht - Circourt wünscht dem Werk eine baldige Übersetzung ins Französische: „nous ne connaissons aucun travail contemporain qui soit plus propre à faire pénétrer dans les consciences, et adopter par les esprits, un plus grand nombre de principes sains et de disposition profitables.“ (43) Die Übersetzung durch J.-Jacques Porchat erschien ab 1854. Auch von Oscar de Watteville (1824-1901) stammt zunächst eine 1853 erschienene Besprechung des ersten Bandes der deutschen Ausgabe. Nicht minder hier im ‚Athénæum français’ wird übersetzend viel zitiert, weniger beurteilt, dann jedoch zwiespältig. Ranke „est juge intègre au milieu des débats les plus passionnés. Il s’efforce de n’ être ni catholique ni protestant, il n’étudie plus les questions que dans leur ensemble et sous le rapport de la politique“ (Watteville/1853/401). Hierauf indes werden aus der Sicht des Rezensenten schwere Mängel aufgezeigt: zum einen die Auslassung von Tatsachen, welche durchaus in das Gesamttableau der französischen Geschichte hineingehört hätten, wie etwa die ersten Unternehmungen zur See, die Entdeckungen in Nordamerika. Bedauerlicher jedoch seien andere, an denen man Rankes Parteilichkeit festmachen könne. Er behandele die unzähligen Grausamkeiten der Religionskriege ohne darauf näher einzugehen, jedoch wo er von denen der Katholiken spreche, bedecke er die der Protestanten mit Schweigen, wozu eine Reihe von Beispielen herangezogen wird. Seine Unparteilichkeit zeige sich jedoch in der Darstellung der großen Persönlichkeiten (454). Im ganzen sei er „Esprit sérieux et étudiant avec curiosité les questions politiques et économiques, recherchant avec amour tout ce qui peut éclairer l’étude du droit publique ...“ (456). - Zu Wattevilles Besprechung erschien im ‚Magazin für die Literatur des Auslandes‘ umgehend ein ausführliches anonymes Referat ([Anonym/16. 6. 53]). Im folgenden Jahr widmete sich Watteville den ersten beiden Bänden der soeben erschienenen französischen Übersetzung. Ranke wird hierin wieder, begleitet von ausführlichen Zitaten, gelobt als „plein d’élévation dans l’esprit, de force et de finesse dans le jugement, d’une sagacité profonde et d’une érudition puisée aux meilleures sources“ (Watteville/1854, 598). Nun wird seine „noble impartialité“ gepriesen, um so mehr, als man dieser seit langem nicht mehr von jenseits des Rheins begegnet sei (ebd.). Für den ‚Correspondant‘ des Jahres 1860 schrieb der bereits anläßlich seiner Kritik der ‚Preußischen Geschichte‘ betrachtete Ernest Grégoire eine scharfe Besprechung der ersten drei Bände der französischen Ausgabe (entsprechend den ersten beiden der deutschen) unter dem spezialisierten Titel ‚Le calvinisme en France au seizième siècle‘. Auch seine neue Beurteilung hat zwiespältigen Charakter. Zwar verdiene die Arbeit Rankes jedes Lob, seine Porträts seien im allgemeinen wieder kunstvoll ausgeführt, seine Darstellung der Regierung Ludwigs XIV. ein Kunstwerk, die Zahl der nicht genannten Tatsachen im zweiten Band stärker eingeschränkt als sonst, sein Stil indes ein wenig schwer und sogar langweilig. Von größerer Bedeutung aber sei: „ce livre est empreint en faveur du protestantisme d’une partialté déguisée sous les dehors d’une fausse équité“ (Grégoire/1860, 102). Für die erforderlichen Berichtigungen in Rankes Darstellung der ‚Réforme‘ in Frankreich glaubt Grégoire nicht weniger als den Umfang eines Bandes benötigen zu müssen (133) und nachgewiesen zu haben, daß Ranke in seinem ersten Band die meisten dem Protestantismus ungünstigen Tatsachen versteckt oder bemäntelt habe. Vom zweiten Band an mache sich dies nur noch selten geltend (133). Eine „objection capitale“ betrifft die von Ranke zugrunde gelegten - 275 -
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Quellen. Die von Diplomaten herrührenden Mitteilungen seien weit davon entfernt, sicher und unfehlbar zu sein. (134). Zwei besondere Bemerkungen Grégoires müssen abschließend hervorgehoben werden: „Les nations ... ne sont pas pour lui des êtres moraux ayant leurs mouvements et leurs lois.“ (Ebd.). Nahezu dies aber wird von Ranke - u. a. im ‚Politischen Gespräch‘ - in Anspruch genommen. Der Rezensent läßt indirekt den Unterschied von Rankes später stets betrachteten theoretischen Äußerungen und in diesem Punkt kaum beachteten praktischen Darstellungen erkennen. Auch sei die Geschichte für ihn ein Drama, das sich stets nur unter einer eingeschränkten Zahl von Personen ereigne. Fast niemals sei Ranke bemüht, das Wirken der großen geheimnisvollen Kräfte aufzuweisen, welche dazu dienen die Welt zu regieren (ebd.). - Dem steht eine Beurteilung aus der Feder von Jules Grenier entgegen, der 1859 Ranke in der ‚Revue germanique‘ ebenfalls eine hier mehrfach herangezogene Folge über ‚Historiens allemands contemporains‘ erscheinen ließ, in der er Ranke gegen zwei Vorwürfe in Schutz nahm: zum einen, daß er für die „hommes supérieurs‘ Partei ergreife, ungeachtet des moralischen Wertes ihrer historischen Rolle, zum anderen, daß er sein Talent, politische Verwicklungen zu verstehen, auch dort anwende, wo davon gar nicht die Rede sein könne. Grenier fürchtet allerdings, daß das ausschließliche Studium der großen diplomatischen Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts Ranke auf die Dauer weniger geeignet mache zum Verständnis der neueren Zeit, in der nicht mehr die Individuen, sondern die Massen sprächen (329f.). Jahrzehnte später schrieb der Historiker und Theologe Alfred Baudrillart (18591942) im ‚Bulletin critique‘ des Jahres 1888 eine sehr wohlwollende Besprechung des vierten, 1885 erschienenen Bandes der französischen Übersetzung. Er war zu dieser Zeit befaßt mit der Vorbereitung einer Arbeit über ‚Philippe V et la cour de France‘ nach unveröffentlichten Dokumenten der Archive von Simancas, Alcalá de Henares und des Pariser Außenministeriums (Paris: La Revue 1889), weshalb wohl eine gewisse Sachkenntnis anzunehmen ist. Angesichts der späteren französischen Darstellungen von Pierre Adolphe Chéruel, Pierre Clément, Jules Joseph Valfrey oder Camille Rousset, bewundert er die Sicherheit der Information, auf der die rd. 30 Jahre zurückliegende, keineswegs veraltete Arbeit Rankes beruhe. Sein Werk werde neben den größten historischen Werken des Jahrhunderts fortleben. Besonders den Zusammenhang der äußeren und inneren Verhältnisse habe Ranke stark ins Licht gerückt. Auch im Detail begegne man großer Genauigkeit und - wie etwa bei den Corneille gewidmeten Seiten - Beredsamkeit. Noch nie sei jemand so tief zum Wesen Ludwigs XIV. vorgedrungen wie Ranke. Baudrillarts Vergleich Rankes mit Augustin Thierry führt auf eine wichtige allgemeine Frage, welche den späteren Kardinal Baudrillart verständlicherweise besonders bewegte, vordergründig: weshalb es gerade zwei Würdenträger der römisch-katholischen Kirche waren, durch welche das französische Königtum vollends zu einer unbegrenzten Macht aufgestiegen sei. Während Augustin Thierry in Richelieu und Mazarin vor allem den Nationalgedanken am Werk sehe, glaube Ranke, ihr Eintreten für Absolutismus und Zentralisation fälschlicherweise gerade dem Katholizismus beider zuschreiben zu müssen. Wie eingangs bemerkt, war das Echo auf Rankes ‚Französische Geschichte‘ in England äußerst gering. Hier gelang nur der Nachweis einer Berücksichtigung von Band V innerhalb einer anonymen Sammelbesprechung der ‚Saturday Review‘ vom 19. Oktober 1861 in der Rubrik ‚German Literature‘. Der anonyme Rezensent lobt die in Rankes ‚Analecten der französischen Geschichte im sechzehnten und siebzehnten - 276 -
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Jahrhundert‘ geübte sorgfältige Quellenkritik, besonders nützlich für Geschichtsstudenten. Ranke sei darin kein nachsichtiger Richter. Anders stehe es mit den von ihm bevorzugten Relationen, da sage er nichts über deren Zuverlässigkeit (415). Eine Besprechung der ‚Französischen Geschichte‘ von ungarischer Seite wurde durch David Angyal (‚Falk Miksa és Kecskeméthy Aurél elkobzott levelezése‘ (‚Der beschlagnahmte Briefwechsel von Maximilian Falk und Aurel Kecskemethy‘), Budapest 1925, 611) nachgewiesen. Sie stammt aus der Feder von Simon Bánffay (1819-1902) und wurde von Fritz Valjavec in seinem wertvollen Beitrag über ‚Ranke und der Südosten‘ (1935, 15) als „sehr abfällig“ bezeichnet, auch werfe sie Ranke „Fehler in der Begründung der Ereignisse“ vor. Die Aufnahme der ‚Englischen Geschichte‘ (I/2.1.7.2) Rankes ‚Englische Geschichte vornehmlich im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert‘ erschien in Erstauflage siebenbändig in den Jahren 1859 bis 1868. Zu Rankes Lebzeiten kam es - bis 1877 - zu vier Auflagen, wovon den ersten beiden Bänden stets eine größere Aufmerksamkeit zuteil wurde. - Die wahrlich lange Reihe englischer Übersetzungen seiner Werke hatte 1840 eingesetzt. Obgleich Ranke in keinem außerdeutschen Land auch nur annähernd so erfolgreich war wie in England - wohl hauptsächlich wegen der hier besonders interessierenden Thematik des Papsttums, doch auch in der Vielfalt seiner übersetzten Werke -, stellte dies Ranke selbst nicht zufrieden: „... ich weiß“, schrieb er 1857 aus London an seine Frau Clarissa, „daß ich nicht gerade allzuviel hier studiert werde“ (26. 3. 57, SW 53/54, 386). Es dürfte im besonderen Maße für seine ‚Englische Geschichte‘ gegolten haben. Wie in Frankreich die ‚Französische Geschichte‘, so zählte in England die ‚Englische‘ nicht zu den Erfolgen. Erst 1875, nachdem fast alles andere, z. T. mehrfach, in Übersetzung vorlag, unternahm man eine solche. Seine ‚Englische Geschichte‘ sei nie ein populäres Buch gewesen, konnte man auch in einem anonymen Nachruf des ‚Manchester Guardian‘ (Nr. 12, 411 [sic!], 25. Mai 1886, 89) lesen. Man mag kaum glauben, daß die englische Version fast ein Jahrhundert lang völlig vereinsamte und erst 1966 durch einen amerikanischen Reprint wieder hervorgeholt wurde. Auch Rankes Sohn Friduhelm wußte: „Nur die Päpste haben in England eine wirklich gute Aufnahme gefunden, und das wohl hauptsächlich dank der Macaulayschen Empfehlung.“ (FvR I/1904, 80). - Die Bemerkung Friduhelms galt der Besprechung aus Macaulays Feder in der Edinburgh Review (Nr. 145, Oct. 1840, 227-258 u. öfter; s. o.). Rankes Werk hat trotz des geringen englischen Verbreitungs-Erfolgs dort und in Deutschland eine Fülle von Reaktionen hervorgerufen. In den hier nachgewiesenen rund 50 Besprechungen liegen einige fachlich im besonderen Maße qualifizierte Specimina vor. Auf deutscher Seite treten besonders jüngere Schüler Rankes und einige Schulmänner nicht unkritisch auf. Kein anderes Werk Rankes bietet in seinen Beurteilungen eine derartige Fülle historiographiegeschichtlicher Vergleiche. Er selbst hatte solches geradezu veranlaßt. In der Vorrede des Werkes war - wie bereits in der ‚Französischen Geschichte‘ - nicht nur auf die unterschiedliche Lage eines einheimischen oder ausländischen Autors in der Behandlung einer Nationalgeschichte hingewiesen, es - 277 -
I/2.1.7.2 Geschichtsdenken seiner Zeit - ‚Englische Geschichte‘
fand sich dort auch eine später selten bemerkte freundliche Anspielung auf den im Erscheinungsjahr des ersten Bandes der ‚Englischen Geschichte‘ verstorbenen Macaulay und seine vielgelobte, weitverbreitete ‚History of England‘ (EnglG I/1859, XIsq.). So wird neben Blicken, die von Rezensenten gelegentlich auf John Richard Green (1837-1883), John Lingard (1771-1851), François Guizot (1787-1874), Henry Hallam (1777-1859) und James Anthony Froude (1818-1894) geworfen werden - in fast allen Kritiken seiner ‚Englischen Geschichte‘ der naheliegende Vergleich mit Macaulay geprobt, der nicht selten zu dessen Gunsten ausfällt. Die Vielfalt der Ranke gemachten Vorwürfe ist groß. Sie reicht von geringer Eindringlichkeit der Studien, mangelnder Kultur- und Sozialgeschichte, Ungleichgewicht durch Bevorzugung der auswärtigen Beziehungen, fehlendem sittlichem Urteil bis hin zu konfessioneller Parteilichkeit und Verherrlichung des Absolutismus. Doch wird auch in manchen Punkten das Gegenteil gelobt. Die anonyme Begrüßung des Werkes in den ‚Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft‘ des Jahres 1859 fiel bereits gemischt aus. Die im mittleren Feuilletonstil gehaltene Besprechung ging auf den Inhalt des Werkes im einzelnen nicht ein, bot jedoch eine allgemeine Charakteristik des „größten Historikers, dessen wir uns gegenwärtig erfreuen“ (150). „Die Geistreichigkeit und das überexclusive Vermeiden gewöhnlicher Voraussetzungen und Anschauungen, die viel voraussetzende und erst dann gewährende Weise Ranke’s machen ihn zu einem Schriftsteller, dessen Verständniß und Bewunderung den Einzelnen aufbehalten bleibt.“ (151). In Rankes „sehr treffender und scharfer, manchmal allzufein zugespitzter“ Charakteristik wie in seinem Stil, „in seinem Unberücksichtigtlassen gewisser culturhistorischer Partien“ zeige sich seine „aristokratische Natur“ (ebd.), ein Begriff, der u. a. von Johannes Scherr und Karl Frenzel benutzt wird. - Auch in Ranke nahestehenden Kreisen wurde ein berechtigter Hauptkritikpunkt nicht übersehen. Leopold von Gerlach schrieb am 15. Okt. 1859 an seinen Bruder Ernst Ludwig: „Ranke behandelt England zu einseitig parlamentarisch und daher oberflächlich. Hirsch führte das auf einem Voß’schen Diner letzthin sehr gut aus.“ (Von der Revolution zum Norddeutschen Bund/1970, 1028). In diesem Monat erschienen auch in der von Hermann Keipp redigierten ‚Berliner Revue‘ mit dem Untertitel ‚Social-politische Wochenschrift‘ zwei Artikel, die sich weder sozal-politisch noch auch sonst bedeutungsvoll mit Rankes ‚Englischer Geschichte‘ befaßten. Der Rezensent bemerkte neben seinen Nacherzählungen lediglich, daß sich Band I „wesentlich von dem Style und der Darstellungweise, die in den letzten Werken herrschten, vorteilhaft“ unterschieden (62). Mit „wahrhafter Meisterschaft“ würden „Personen und Verhältnisse anschaulich vor die Seele“ geführt, „als ob wir das vollendetste Kunstwerk vor uns hätten“ ([Anonym:] Ranke über England/1859, 100). Der Beginn des Folgejahres brachte eine aufsehenerregend massive Kritik der national-liberalen, gothaisch-protestantischen ‚Grenzboten‘. Sie stammte von Rankes bereits mehrfach herangezogenem Schüler oder nur Hörer Gustav Adolf Bergenroth. Er glaubte feststellen zu sollen, Rankes „Grundfehler“ sei, daß er „für das Wachsthum und die allmälige Entwicklung des L