Lenin Werke Band 13: Jun. 1907 - Apr. 1908 [13]

Citation preview

PROLETARIER ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH!

LENIN WERKE 13

HERAUSGEGEBEN AUF BESCHLUSS DES IX. PARTEITAGES DER KPR(B) UND DES II. SOWJETKONGRESSES DER UdSSR DIE DEUTSCHE AUSGABE ERSCHEINT AUF BESCHLUSS DES ZENTRALKOMITEES DER SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI DEUTSCHLANDS

INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER KPdSU

Wi. LENIN WERKE INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN NACH DER VIERTEN RUSSISCHEN AUSGABE DIE DEUTSCHE AUSGABE WIRD VOM INSTITUT FOR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZENTRALKOMITEE DER SED BESORGT

tgedankengang, der den Boykdttsympäthien sozialdemokratischer Kreise mehr oder weniger deutlich zugrunde liegt. Und hierbei gehen die Genossen," die am engsten mit def unmittelbaren proletarischen Arbeit^verbunden^sind, nicht von einer nach bestimmter Schablone „aufgebauten" Argumentation, sondern von'einer bestimmten Summe von Eindrücken aus, die sie aus ihrer Berührung mit den Arbeitermassen empfangen'. ' < Eine der wenigen Fragen, in denen es, wie es scheint, zwischen den

32

'WJ. Lenin

beiden sozialdemokratischen Fraktionen keine Differenzen gibt oder bisher nicht gegeben hat, ist die Frage nacbder Ursache der längeren Ruhepause in der Entwicklung unserer Revolution. „Das Proletariat hat sich nicht erholt" - darin liegt die Ursache. Und in der Tat, das Proletariat allein hat fast die ganze Last der Oktober- und Dezemberkämpfe zu tragen gehabt. Das Proletariat allein hat systematisch, organisiert, unaufhörlich für die gesamte Nation gekämpft. Kein Wunder daher, daß in dem Lande mit dem (nach europäischen Maßstäben) niedrigsten Prozentsatz proletarischer Bevölkerung das Proletariat von einem solchen Kampf aufs äußerste erschöpft sein mußte, überdies stürzten sich die vereinten Kräfte der bürgerlichen und der Regierungsreaktion nach dem Dezember und seitdem unaufhörlich gerade auf das Proletariat. Polizeiliche Verfolgungen und Hinrichtungen dezimierten das Proletariat anderthalb Jahre hindurch, während die systematischen Aussperrungen, von der „zu Strafzwecken" erfolgten Schließung staatlicher Betriebe an bis zu den Verschwörungen der Kapitalisten gegen die Arbeiter, die Not der Arbeitermassen in noch nie dagewesenem Ausmaß steigerten. Und nun, sagen einige sozialdemokratische Parteiarbeiter, sind unter den Massen Anzeichen zu bemerken, daß die Stimmung steigt, daß die Kräfte des Proletariats sich sammeln. Dieser etwas unbestimmte und schwer erfaßbare Eindruck wird durch ein stärkeres Argument ergänzt: In einigen Industriezweigen ist zweifellos eine Belebung der Geschäftstätigkeit zu konstatieren. Die gesteigerte Nachfrage nach Arbeitskräften muß unvermeidlich eine Verstärkung der Streikbewegung zur Folge haben. Die Arbeiter werden versuchen müssen, wenigstens einen Teil der gewaltigen Verluste auszugleichen, die sie in der Zeit der Repressalien und Aussperrungen erlitten haben. Das dritte und stärkste Argument endlich ist der Hinweis nicht auf eine problematische und überhaupt zu erwartende Streikbewegung, sondern auf einen großen, von den Arbeiterorganisationen bereits angesagten Streik. Schon Anfang 1907 erörterten Vertreter von 10 000 Textilarbeitern ihre Lage und planten Maßnahmen, um die Gewerkschaften dieses Industriezweiges zu verstärken. Zum zweiten Mal versammelten sich bereits Vertreter von 20 000 Arbeitern und beschlossen, im Juli 1907 einen allgemeinen Streik der Textilarbeiter zu erklären. Diese Bewegung kann unmittelbar an die 400 000 Arbeiter erfassen. Ihr Ausgangspunkt ist das Moskauer Gebiet, d. h. das größte Zentrum der Arbeiterbewegung in

Qegen den Boykott

33

Rußland, das größte Handels- und Industriezentrum. Gerade in Moskau und nur in Moskau allein kann die Massenbewegung der Arbeiterschaft am ehesten den Charakter einer breiten Volksbewegung von entscheidender politischer Bedeutung erlangen. Die Textilarbeiter sind dabei der am schlechtesten bezahlte, am wenigsten entwickelte Teil der Arbeitermassen, der sich an:den vorangegangenen Bewegungen am wenigsten beteiligt hat und am engsten mit der Bauernschaft verbunden ist. Da die Initiative von solchen Arbeitern ausgeht, kann man daraus schließen, daß die Bewegung unvergleichlich breitere proletarische Schichten erfassen wird als bisher. Der Zusammenhang der Streikbewegung mit dem revolutionären Aufschwung, der Massen aber ist in der Geschichte der russischen Revolution bereits mehr als einmal zutage getreten. Es ist die unbedingte Pflicht der Sozialdemokratie, die größte Aufmerksamkeit und die äußersten Anstrengungen gerade auf diese Bewegung zu konzentrieren. Der auf diesem Gebiet zu leistenden Arbeit gebührt gegenüber den Wahlen zur oktobristischen Duma entschieden der Vorrang. In den Massen muß die Überzeugung geweckt werden, daß es notwendig ist, diese Streikbewegung in einen allgemeinen und umfassenden Ansturm gegen die Selbstherrschaft zu verwandeln. Die Boykottlosung bedeutet eben nichts anderes, als die Aufmerksamkeit von der Duma auf den unmittelbaren Massenkampf zu lenken. Die Boykottlosung bedeutet eben, die neue Bewegung mit politischem und revolutionärem Inhalt zu durchdringen. ' Dies ungefähr ist der Gedankengang, der manche Sozialdemokraten zu der Überzeugung bringt, die III. Duma müsse boykottiert werden. Es ist das eine Argumentation für den Boykott, die zweifellos marxistisch ist und nichts zu tun hat mit der bloßen Wiederholung einer aus dem Zusammenhang besonderer geschichtlicher Bedingungen herausgerissenen Losung. Doch wie stark diese Argumentation auch ist, so genügt sie meines Erachtens doch nicht, uns dazu zubewegen, die Boykottlosung unverzüglich anzunehmen/Diese Argumentation betont etwas, was für einen russischen Sozialdemokraten, der über die Lehren unserer Revolution nachgedacht hat, überhaupt nicht zweifelhaft sein sollte: daß wir nicht ein für allemal den Boykott ablehnen dürfen, daß wir bereit sein müssen, diese Losung im passenden Augenblick aufzustellen, daß unser Herangehen an die

34:

"W. den Bauer durch eine ßettelreform zufriedenzustellen - , dann wird man die ganze abgründige; Weisheit der Herren .Gorn .und Newedomski - ermessen können, die dem Proletariat raten, seine Aktionen mit denen'der Kadetten in Einklang zu bringen! Das Bild der oktobristischen „Reformen'^ die man uns verspricht, ist ganz klar. Der, Gutsbesitzer „regelt die Verhältnisse" des Bauern und regelt sie so, daß es ohne Strafexpeditiönen, ohne AuspeitscbiungderiBauernund.Erschießung von Arbeitern unmöglich ist, die Bevölkerung zu zwingen^-die.Reformen anzunehmen. Der Ka-. dettenprofessor macht Opposition: er beweist, daß es vom Standpunkt der modernen Rechtswissenschaft notwendig sei,.die,Vorschriften über Strafexpeditiönen verfassungsmäßig zu bestätigen, und verurteilt den-Ober-: eifer der Polizei. Der Kadettenadvokat macht Opposition? er führt: den Nachweis, d a ß man nach dem Gesetz 60, nicht aber 200 Schläge zu verabreichen habe und daß man der Regierung Mittel für Ruten bewilligen und ihr dabei die Wahrung der Gesetzlichkeit zur Bedingung machen müsse. Der Kadettenarzt ist bereit/ die Pulsschläge des. Ausgepeitschten zu zählen und eine wissenschaftliche" Abhandlung darüber zu schreiben, daß es erforderlich sei, die Höchstzahl der Schläge auf die Hälfte, herabzusetzen. . . . . . . ••••:.••• -.--••

64

:•• • '

IV."i.Lenin

.Ist denn die Kadettenopposition in der zweiten Duma nicht eben eine solche Opposition gewesen? "Und ist es nicht klar, daß um einer solchen Opposition willen der oktobristische Gutsbesitzer nicht nur den Kadetten in die Duma-wählen, sondern auch bereit sein wird, ihm ein Professorenoder ;ein anderes Gehalt zu zahlen? Eine demokratische Koalition der Sozialisten mit den Kadetten in der zweiten Duma, nach der zweiten Duma oder in der Zeit der III. Duma wurde kraft der objektiven Lage der Dinge nichts anderes bedeuten als die Verwandlung der Arbeiterpartei in ein blindes und armseliges Anhängsel der Liberalen, als den vollständigen Verrat der Sozialisten an den Interessen des Proletariats und den Interessen der Revolution. Sehr wohl möglich, daß die Herren Newedomski und Gorn nicht begreifen, was sie tun. Bei solchen Leuten sitzt die Überzeugung häufig nicht tiefer als auf der Zungenspitze. Im Grunde aber laufen ihre Bestrebungen darauf hinaus, mit der selbständigen Partei der Arbeiterklasse, mit der Sozialdemokratie Schluß zu machen. Die Sozialdemokratie, die ihre Aufgaben be : greift,-muß mit solchen Herren Schluß machen. Leider wird bei uns noch immer die Kategorie der bürgerlichen Revolution zu einseitig aufgefaßt. Es wird bei uns z. B. außer acht gelassen, daß diese Revolution dem Proletariat zeigen muß - und nur sie kann das dem Proletariat zum erstenmal zeigen -, wie es in Wirklichkeit um die Bourgeoisie des gegebenen Landes steht, welches die nationalen Besonderheiten der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums in der betreffenden nationalen bürgerlichen Revolution sind. Die wirkliche, endgültige Massenabsonderung des Proletariats zur Klasse, die es allen bürgerlichen Parteien gegenüberstellt, kann nur dann erfolgen, wenn die Geschichte des eigenen Landes dem Proletariat das ganze Antlitz der Bourgeoisie als Klasse, als politisches Ganzes zeigt - das ganze Antlitz des Kleinbürgertums als Schicht, als bestimmte geistige und politische Größe, die in bestimmten offenen, weitreichendpolitischen Handlungen in Erscheinung getreten ist. Wir müssen dem Proletariat unermüdlich die theoretischen Wahrheiten klarzumachen suchen, die das Wesen der Klasseninteressen der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums in der kapitalistischen Gesellschaft betreffen. Aber diese Wahrheiten werden erst dann in Fleisch und Blut wirklich breiter proletarischer Massen übergehen, wenn diese Klassen das Verhalten der Parteien der einen oder der anderen Klasse sehen, spüren werden - wenn zur kla-

Notizen eines Publizisten

65

ren Erkenntnis ihrer Klassennatur die unmittelbare Reaktion der proletarischen Psyche auf die ganze Physiognomie der bürgerlichen Parteien hinzukommen wird. Wohl nirgends in der Welt hat die Bourgeoisie in einer bürgerlichen Revolution solche reaktionäre Bestialität, ein so enges Bündnis mit der alten Macht, solche „Freiheit" von allem, was auch nur im entferntesten einer aufrichtigen Sympathie für Kultur, für Fortschritt, für die Wahrung menschlicher Würde ähnlich wäre, an den Tag gelegt wie bei uns — möge denn unser Proletariat aus der russischen bürgerlichen Revolution dreifachen Haß gegen die Bourgeoisie und Entschlossenheit zum Kampf gegen sie schöpfen! Wohl nirgends in der Welt hat das Kleinbürgertum—angefangen von den „Volkssozialisten"2? und den Trudowiki bis zu den in die Sozialdemokratie hineirigeschlüpfteri Intellektuellen -; solche Feigheit und Charakterlosigkeit im Kampf, solch, niederträchtig maßlosen Renegatengeist,.solche Liebedienerei gegenüber den Helden der bürgerlichen Jvlode" oder der reaktionären Gewalt gezeigt - möge denn unser Proletariat aus unserer bürgerlichen Revolution dreifache Verachtung gegen kleinbürgerliche Schlappheit und kleinbürgerlichen Wankelmut schöpfen. Wie auch unsere Revolution weiter verlaufen möge, welche" schweren Zeiten das Proletariat manchmal auch noch wird durchmachen müssen - dieser Haß und diese Verachtung werden seine Reihen enger zusammenschließen, werden es von untauglichen fremden Klassenelementen reinigen, werden seine; Kraft vermehren, werden es für die Schläge stählen, die es. zu seiner Zeit der gesamten bürgerlichen Gesellschaft versetzen wird. : ' • • Qesdbrieben am 22. August (4. September) i907. Veröflentlid/t Anfang September 1907 im ersten Sammelband „Stimme des Lebens", St. Petersburg. Untersäirift: N. £.

-"' ' Nadb dem Jext des Sammelbandes. .

.

66.

D£R INTERNATIONALE SQZIALISTEJSfKQNGRESS •"• :/-::^r.l

::..•_, :,[.r • I N S T U T T G A R T 3 0 .-:.-, f.. .},::: - ., . :..J C'

i. Der:Internationale Sozialistenkohgrfeß, der im August dieses Jahres in Stuttgart tagte, zeichnete sich durch äußerordeatlich-zählreicne Beteiligung und vollständige.VertretungIsasl Alle fünf:Erdteile entsandten ihre Delegierten, deren Gesamtzahl sich aal 886 belief. Doch:war der Kongreß nicht nur eine grandiose Demonstration der internationalen Einheit des proletarischen Kampfes, sondern, er spieltet auch i m Hinblick auf die Fest-, legting der Taktik der sozialistischen Parteien, eine hervorragende Rolle. Zü\einer ganzen Reihe von Fragen, die bisher ausschließlich im Rahmen der einzelnen sozialistischen Parteien entschieden wurden, faßte der Kongreß ;allgemeingültige Resolutionen. In dieser zunehmenden. Anzahl von Fragen, die für. die verschiedenen Länder .eine .einheitliche: prinzipielle Lösung erheischen, .tritt der Zusammenschluß; des Sozialismus zu.einer einheitlichen internationalen. Kraft besonders, deutlich zutage. . Wir bringen weiter unten den vollen Wortlaut der Stuttgarter Reso^ lutionen.31 An dieser Stelle aber wollen wir auf jede einzelne kurz eingehen, um die wichtigsten Streitfragen und den Charakter der Debatten des Kongresses hervorzuheben. -'" • • ••. ."Nicht zum erstenmal beschäftigt die Kolonialfrage internationale Kon ; gresse. -Bisher bestanden ihre Beschlüsse stets darin, daß die bürgerliche Kolonialpolitik als Ausplünderungs- und Gewaltpolitik aufs schärfste verurteilt wurde. Diesmal aber war die entsprechende Kommission des Kongresses derartig zusammengesetzt, daß opportunistische Elemente, mit dem Holländer van Kol an der Spitze, in ihr die Oberhand gewannen. In den Resolutionsentwurf wurde der Satz eingefügt, daß der Kongreß nicht prinzipiell jede Kolonialpolitik verwerfe, die unter sozialistischem Regime zivilisatorisch wirken körme. Die Minderheit der Kommission (der

Der Internationale Sozidlistenkongreß in Stuttgart

67

Deutsche Ledeböw, die polnischen und rassischen Sozialdemokraten, und viele andere) ^protestierte: energisch gegen die :Zulässigkeit- eines; solchen Gedankens. Die Frage wur.de dem Kongreß zur Entscheidung vorgelegt, und die: Kräfteder beiden Strömungen erwiesen sich als zahlenmäßig derartig ausgeglichen,^ '4äß der Kampf mit beispielloser Leidenschaftlichkeit e n t b r a n n t e . :

:

.

; ;

_



.:•:'..•-'.:

.•.-'.

• . • . . : • >

••

:

/

-:'.••••'f.-'\---.

.-• -.•'..

- 'Die Opportunisten scharten sich um väh Kol. Im Namen der Mehrheit der deutschen Delegation sprachen Bernstein und David'iür.die Anerr kennung ;der ^sozialistischen; Kolonialpolitik" und wetterten gegen die Radikalen/:wäl tSie einen,unfruchtbaren negativen Standpunkt bezögen, kein Verständnis zeigten.für die.Bedeufurig von Reformen, kein praktisches Kolonialprogrämm;vorzuweisen hätten-usw. Ihnen erwiderte unter anderem Kautsky, dersich genötigt sah, den Kongreß, zu ersuchen, sich gegen die Mehrheit der deutschen Delegation auszusprechen. Er wies.mit Recht darauf hin, daß von einer Ablehnung des Kampfes um Reformen keine Rede sei: in den übrigen Teilen der Resolution, die .keine Diskussion hervorgerufen hätten,-sei dies mit.aller Bestimmtheit ausgesprochen; Es handle sich darum, ob wildern heutigen bürgerlichen Ausplünderungsund Gewaltregime -Zugeständnisse machen sollten. Zur Erörterung auf dem Kongreß stehe die heutige Kolohialpolitik, diese:Politik aber fuße •auf;direkter Knechtung der Wilden: die Bourgeoisie führe faktisch in den Kolonien die Sklaverei ein,^setzedie Eingeborenen, unerhörten Mißhandlungen und Vergewaltigungen aus,, „zivilisiere" sie durch die Verbreitung von Schnaps und-Syphilis. Und angesichts dieser Sachlage redeten Sozialisten in gewundenen Phrasen von der Möglichkeit einer prinzipiellen Anerkennung der Kolonialpolitik! Das würde den direkten, übergang zum bürgerlichen Standpunkt bedeuten. Das würde heißen, einen; entschiedenen Schritt zu tun, um:das Proletariat der bürgerlichen-.Ideologie, dem bürgerlichen Imperialismus,: der heute besonders stolz sein: Haupt erhebe, unterzuordnen.:

V

:

T

:.:

.

"•••

?...',.

.-..

:

":

, Der Kommissionsantrag:wurde auf. dem Kongreß mit 128" gegen\108 Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen (Schweiz) zu Fall gebracht Es sei hier bemerkt, daß in Stuttgart den einzelnen Nationen zum. erstenmal bei den Abstimmungen-verschiedene Stimmenzahlen zugesprochen.wurden — von 20 Stimmen an (große Nationen, darunter auch Rußland) bis herunter zu 2 (Luxemburg). Die kleinen Nationen, die entweder keine Kolonial-

68

v v

"W.I. Lenin

politik treiben oder aber unter ihr leiden, überwogen in ihrer Gesamtheit diejenigen Staaten, die sogar das Proletariat in gewissem Grad mit der Sucht nach Eroberungen angesteckt haben. - Diese Abstimmung in der Kolonialfrage ist von außerordentlicher Bedeutung. Erstens stellt sie eine besonders anschauliche Selbstentlarvung des sozialistischen Opportunismus dar, der den bürgerlichen Lockungen nicht zu widerstehen vermag. Zweitens trat hier ein negativer Zug der europäischen Arbeiterbewegung zutage, der geeignet ist, der Sache des Proletariats nicht geringen Schaden zuzufügen, und daher emste Beachtung verdient. Marx hat mehrfach auf einen Ausspruch Sismondis hingewiesen, der von größter Bedeutung ist. Die Proletarier des Altertums so lautet dieser Ausspruch - lebten auf Kosten der Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft lebt auf Kosten der Proletarier.32 Die Klasse der zwar Besitzlosen, aber nicht Werktätigen, ist nicht fähig, die Ausbeuter zu stürzen. Nur die Klasse der Proletarier, von deren Arbeit die ganze Gesellschaft lebt, ist imstande, die soziale Revolution zu vollziehen. Nun hat aber die ausgedehnte Kolonialpolitik dazu geführt, daß der europäische Proletarier zum 7eil in eine solche Lage geraten ist, daß die Gesellschaft als Ganzes nicht von seiner Arbeit, sondern von der Arbeit der fast zu Sklaven herabgedrückten kolonialen Eingeborenen lebt. Die englische Bourgeoisie zum Beispiel zieht aus den Millionen und aber Millionen der Bevölkerung Indiens und anderer Kolonien größere Profite als aus den englischen Arbeitern. Unter solchen Verhältnissen entsteht in bestimmten Ländern die materielle, ökonomische Grundlage, um das Proletariat des einen oder anderen Landes mit dem Kolonialchauvinismus anzustecken. Dies kann natürlich nur eine vorübergehende Erscheinung sein, nichtsdestoweniger aber muß man das Übel klar erkennen, seine Ursachen begreifen, um das Proletariat aller Länder zum Kampf gegen einen solchen Opportunismus zusammenschließen zu können. Und dieser Kampf wird unausbleiblich zum Siege führen, denn die „privilegierten". Nationen, bilden in der Gesamtheit der kapitalistischen Nationen einen immer geringeren Teil. • Die Frage des Frauenwahlrechts rief auf dem Kongreß fast -keine Diskussion hervor. Es fand sich nur eine Engländerin aus der extrem opportunistischen englischen ;,Gesellschaft der Fabier"33, die versuchte, die Zulässigkeit eines sozialistischen Kampfes um ein beschränktes Frauenwahl-

Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart recht, das heißt kein allgemeines, sondern ein Zensuswahlrecht, zu verfechten. Die Eabierin blieb völlig isoliert. Die Hintergründe ihres Standpunkts sind einfach: die englischen bürgerlichen Damen erhoffen für sich! das Wahlrecht, wollen es aber nicht auf das weibliche Proletariat ausgedehnt wissen. Zu gleicher Zeit mit dem Internationalen Sozialistenkongreß tagte in Stuttgart in demselben Gebäude die erste Internationale Sozialistische Frauenkonferenz. Auf dieser Konferenz und in der Kommission des Kongresses kam es bei der Erörterung der Resolution zu interessanten Debatten zwischen deutschen und österreichischen Sozialdemokraten. In ihrem Kampf um das allgemeine Wahlrecht ließen die letzteren die Forderung nach Gleichstellung der Frauen etwas in den Hintergrund treten: aus praktizistischen Erwägungen heraus stellten sie als ihre Forderung nicht das allgemeine Wahlrecht in den Mittelpunkt, sondern das Wahlrecht für Männer. In den Reden Clara Zetkms und anderer deutscher Sozialdemokraten wurden die Österreicher mit Recht darauf verwiesen, daß sie falsch gehandelt und dadurch, daß sie nur das Wahlrecht für Männer, nicht aber mit aller Energie auch das Wahlrecht für Frauen verlangten, die Kraft der Massenbewegung geschwächt, hätten.: Die letzten Worte der Stuttgarter Resolution („Forderung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen und Mähner") stehen zweifellos im Zusammenhang mit dieser Episode eines übermäßigen „Praktizismus" in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung;; . . Die Resolution über die Beziehungen zwischen den sozialistischen Parteien und den Gewerkschaften ist für uns Russen von besonders großer Bedeutung. Der Stockholmer Parteitag der SDAPR sprach sich für parteilose Gewerkschaften aus und "stellte sich somit auf den Standpunkt der Neutralität. Der gleiche Standpunkt wurde stets auch von unseren parteilosen Demokraten1, Bernsteinianem und Sozialrevolutionären vertreten. Der Londoner Parteitag stellte dagegen ein anderes Prinzip auf.z. Annäherung der Gewerkschaften an die Partei so weit, daß die: Gewerkschaften (unter bestimmten Bedingungen) als parteiliche Organisationemanerkannt werden. Die sozialdemokratische Untersektion der russischen Sektion (die Sozialisten, jedes Landes bilden auf den internatiorialen Kongressen eine selbständige Sektion) spaltete sich, in Stuttgart bei der Erörterung dieser Frage (in anderen Fragen kam es zu keiner Spaltung). Es handelte

69

70 sieb um folgendesrPlediänöw trat prinzipiell für die Neutralität:ein. Der. Bolschewik; Woinow34 vertrat den jaritmeütralistischen Standpunkt des londoner. Parteitags und der; belgischen' .Resolution :(die zusammen'mit dem Bericht de"*Broudceres in den Materialien des Kongresses, abgedhidct wurde,- dieser Bericht erscheint demnächst in russischer Sprache). Clara Zetkin bemerlcte .in ihrer Zeitschrift „Die Gleichheit"3?: mit Recht^'die Argumente PlechanpwS' zugunsten-der. Neutralität seien ebenso yenm.glücktwiedie'der Franzosen. Die Resolution des Stuttgarter Kongresses macht, wie Kautsky richtig hervorhob und wovonsich, jeder durch, auf merksamesStudium überzeugen kann, der prinzipiellen Anerkennung der „Neutralität" ein-Ende. Von Neutralität oder Parteilosigkeit steht in-ihr kein Wort. Im Gegenteil,, es wird mit aller Bestimmtheit die Notwendigkeit anerkannt, innige 'Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und der sozialistischen Partei-herzustellen und diese Beziehungen dauernd. zu unterhalten..; : : :: . .v : -:.. .. ' :..;:':; Die Londoner Resolution-der SDAPR über die Gewerkschaften •• hat •nunmetdr in Gestalt der Stuttgarter Resolution eine feste prinzipielle Basis gewönnen. Die Stuttgarter Resolution stellt im allgemeinen und für alle Länder die. Notwendigkeit dauerhafter und enger Beziehungen zwischen Gewerkschaften, und' sozialistischer Partei fest; die Londoner Resolution .verweist darauf, daß für Rußland unter günstigen Verhältnissen die Form dieser Beziehungen darin bestehen muß, daß die Gewerkschaften sich der Partei anschließen und daß darauf die Tätigkeit der Parteimitglieder gerichtet sein muß.:. ! ..'.-'. Bemerkt sei,, daß in'Stuttgart das Neutralitätsprinzip seine schädlichen Seiten dadurch offenbarte, daß die Hälfte der deutschen Delegation, nämlich die: Gewerkschaftsvertreter, am entschiedensten den opportunistischen -Standpunkt vertrat. Deshalb waren zum. Beispiel die Deutschen in Essen gegen van.Kol:(in Essen handelte.es sich unxeinen Parteitag und nicht •einen Gewerkschaftskongreß), m Stuttgart aber für ihn. Die Neutralitäfspropäganda trug in. Deutschlands faktisch schlimme Früchte, indem sie dem Opportunismus in der Sozialdemokratie in die Hände arbeitete. Mit .dieser Tatsache muß man von nun an unbedingt rechnen, rund das besonders in Rußland, wo: bürgerlich-demokratische Ratgeber, die dem Proletariat die „Neutralität" der Gewerkschaftsbewegung empfehlen, so zahlreich sind. •;,.....• _. -^ ....•_.

Der Internationale Soziäiisienkongreß in Stuttgart

7-i

' Ober .die Resolution zur'Ans-^TmäEin^ahdeköigsfrage-wollen wir nur einige Wortesagen. Auch hieeewurde in deV: Kommission1 versucht, -zünftlerisdt beschränkte "AhschatiuKgen zu -verfechten,' ein Verbot der Einwanderung :von .Arbeitern "aus den "rückständigen Ländern (Kulis aus China usw.).'durchzubringen; Das ist-derselbe-:Geist des Aristokratismus.unter den: Proletariern einiger j,zivilisierier"'iände^ die aus ihrer privilegierten -Lage1 "gewisse Vorteile-ziehen und daher geneigt sind,-die"Forderungen internationaler'Klasserisblidäritat fzu vergessen: Auf dein Kongreß selbst fandensich keine.Verfechter 'dieser zünfMerischen :mid:5preßbürgerlichen Beschränktheit: Die. Resolution^ entspricht'durchaus denForderungen-der rewhitionären: Sozialdemokratie;••••••. ! - i - . j••:•;::- ::~\.'. --•:. I - iNnnniehf zurJetzten Tind aiahezu. -wichtigsten Resolution des Kongres^ sesj 2nx^^Frage des:Antimilitarismus.:Der bekannte Herve, der. in^Frankreichtmd Etn-opa so viel Staub^aufgewirbelthaty vertrat in dieser Frage einen halbaharchistischen Standpunkt,, indem er naiv beantragter. jeden Krieg-mit.Streik -und. Aufstand zu."„beantworten". Einersdts begriff er nicht, daß der Krieg ein unvermeidliches Produkt des Kapitalismus ist und daß das1 Proletariat :3ie Beteiligung an: einem.revolutionären Krieg nicht von vornherein ablehnen kann^ da. in-kapitalistischen; Gesellschaften solche Kriege möglich, sind.und es;sie tatsächlich.gegeben hat. Anderseits begriff erriicht,-daßdieMpglichkeit, den." Krieg zu;'„"beantworten", vomCharakter der. durch den Krieg hervorgerufenen Krise abhängt.^Vön diesenJBer dingungenist die Wahl der Kampfmittel abhängig', wobei dieser Kampf

• •:•••-.•-.:.

' . •:-• •

W.lLenin-

les> sondern um ein zugunsten der Besitzenden beschränktes Frauenwahlrecht: Der Kongreß lehnte diesen Standpunkt entschieden ab und sprach sich dafür aus, daß.die .Arbeiterinnen den Kampf um das Wahlrecht nicht gemeinsam mit den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, sondern zusammen mit;den Klassenparteien des Proletariats fähren sollen. Der Kongreß erkannte an, daß es in der Kampagne für das Frauenwaldrecht notwendig ist,-die sozialistischen Prinzipien raid die Gleichberechtigimg: vonMännern und Frauen in vollem Umfang zu vertreten, und-daß diese Prinzipien nicht aus irgendwelchen Zweckmäßigkeitsgründen geschmälert werden dürfen. : : ' : In der Kommission kam es zu einer interessanten Auseinandersetzung in dieser Frage. Die Österreicher (Victor Adler, Adelheid Popp) suchten ihre Taktik im Kampf um das allgemeine Wahlrecht der Männer folgendermaßen zu rechtfertigen: Um der-Eroberung dieses Rechtes willen sei es zweckmäßig gewesen, die Forderung des Wählrechts auch für Frauen in.ihrer.Agitation nicht in den Vordergrund zu rücken. Die deutschen Sozialdemokraten,-besonders Clara Zetkin, hatten dagegen schon zu der Zeit protestiert, als die Österreicher ihre Kampagne für das allgemeine Wahlrecht entfalteten. Clara Zetkin erklärte in der Presse, die Forderung des Wahlrechts für Frauen hätte keinesfalls in den Schatten gerückt werden dürfen, die Österreicher hätten opportunistisch das Prinzip Zwecke mäßigkeitsgründeri zum Opfer gebracht, sie würden den Schwung der Agitation and die Kraft der Volksbewegung nicht geschwächt, sondern verstärkt haben, wenn sie auch das Frauenwahlrecht energisch vertreten hätten. Eine andere hervorragende deutsche Sozialdemokratin, Luise Zietz, schloß sich in der Kommission ganz dem Standpunkt von Clara •Zetkin an. Ein Abänderungsantrag Adlers, der die österreichische Taktik indirekt rechtfertigte (in diesem Antrag ist nur davon die Rede, daß es im Kampf um das Wahlrecht für wirklich alle Bürger keine Unterbrechungen geben dürfe, nicht aber davon, daß der Kampf um das Wahlrecht stets mit der Forderung nach Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern verbunden'sein muß), wurde mit 12 gegen 9 Stimmen abgelehnt. Der Standpunkt der Kömmission -und des Kongresses kann am besten durch folgende Worte der obenerwähnten Sozialdemokratin Zietz in ihrer Rede auf der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz wiedergegeben werden (diese Konferenz tagte in Stuttgart zu gleicher Zeit mit dem Kon-

Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart

83

greß): „Wir müssen "prinzipiell alles fordern, was wir fürrichtig halten", sagte sie, „und nur, wenn unsere Mächt nicht weiter reicht, nehmen wir das, was wir. bekommen könnerii So ist immer die Taktik der Sozialdemokratie gewesen. Je bescheidener wir in unseren Forderungen sind, desto bescheidener wird die Regierung in ihren Bewilligungen s e i n . . . " Aus diesem Streit der österreichischen und der deutschen Sozialdemokratinnen kann der Leser ersehen, wie unnachsichtlich die besten Marxisten gegenüber den geringsten Abweichungen von einer konsequenten, prinzipiellen revolutionären Taktik sind. . Der letzte Tag des Kongresses war der Frage des Militarismus gewidmet, die das Interesse aller am meisten in Anspruch nahm. Der bekannte Herve vertrat einen ganz unhaltbaren Standpunkt — er verstand es nicht, den Krieg mit dem kapitalistischen Regime überhaupt und die antimilitaristische Agitation mit der ganzen Arbeit des Sozialismus zu verbinden. Der Antrag Herves, jeglichen Krieg mit Streifc und Aufstand zu „beantworten", zeigt, daß ihm jedes Verständnis dafür fehlt, daß die Anwendung des einen oder anderen Kampfmittels nicht von einem vorherigen Beschluß der Revolutionäre abhängt, sondern von den objektiven Beding gungen der durch den Krieg hervorgerufenen wirtschaftlichen wie politischen Krise. '-••''' : • - -• Hat aber Herve zweifellos Leichtfertigkeit, Oberflächlichkeit und übermäßigen Hang zu effektvollen Phrasen an den Tag gelegt, so wäre es außerordentlich kurzsichtig, wollte man ihm nur eine dogmatische Darlegung allgemeiner sozialistischer Wahrheiten entgegenhalten. In diesen Fehler (von dem auch Bebel und Guesde nicht ganz frei waren) verfiel besonders Völlmar. Mit der erstaunlichen Selbstzufriedenheit eines in schablonenhaften Parlamentarismus verliebten Menschen wetterte er gegen Herve, ohne zu bemerken, daß seihe eigene Engstirnigkeit und die Starrheit des Opportunismus dazu zwingen, im Herveismus einen gewissen "lebendigen Zug anzuerkennen — ungeachtet der theoretischen Unsinnigkeit und Absurdität der Fragestellung bei Herve selbst. Es kommt ja vor, daß sich hinter theoretischem Unsinn eine gewisse praktische Wahrheit bei einer neuen Wendung der-Bewegung verbirgt. Und diese Seite der Frage, die Aufforderung, nicht allein die parlamentarischen Kampfmethoden zu schätzen, die Aufforderung zur Aktion gemäß den neuen Bedingungen des künftigen Krieges und der künftigen Krisen,

84

.

TV. I.Lenin

wurde von den revolutionären Sozialdemokraten, besonders von Rosa Luxemburg m ihrer Rede, betont. Gemeinsam mit den russischen sozialdemokratischen Delegierten (Lenin und Martow, die in dieser Frage solidarisch waren) stellte Rosa Luxemburg Abänderungsanträge zur Bebelschen Resolution, und in diesen Abänderungsanträgen wurde die Notwendigkeit betont, unter der Jugend Agitation zu treiben und die durch den Krieg herbeigeführte Krise zur Beschleunigung des Sturzes der Bourgeoisie auszunutzen, wurde -betont, daß die fortschreitende Verschärfung des Klassenkampfes und die Änderung-der politischen Situation auch unvermeidlich die Änderung der Kampfmethoden und Kampfmittel erheischen. Aus der dogmatisch einseitigen, leblosen Resolution von Bebel, die im Geiste Vollmars ausgelegt werden konnte, entstand, auf diese Weise schließlich eine ganz andere Resolution. Zur Belehrung der Herveisten, die fähig sind, über dein Antimilitarismus den Sozialismus zu vergessen, werden in ihr alle theoretischen Wahrheiten wiederholt. Doch sie dienen nicht als Einleitung, um parlamentarischen Kretinismus zu rechtfertigen, um allein friedliche Methoden heiligzusprechen, um einen Kniefall zu vollziehen vor der gegebenen, verhältnismäßig friedlichen und • ruhigen Situation, ihnen, folgt vielmehr der Hinweis auf die Anerkennung aller Kampfmittel, auf die Berücksichtigung der Erfahrungen der russischen Revolution, auf die Entwicklung der aktiven, der schöpferischen Seite der Bewegung. . '' In dem bereits mehrfach erwähnten Organ Clara Zetkins ist gerade dieser hervorragendste und wichtigste Zug der Resolution des Kongresses gegen den Militarismus außerordentlich richtig erfaßt. „Und auch hier", schreibt Clara Zetldn. über die Resolution gegen den Militarismus, „siegte schließlich die revolutionäre Tatkraft und das männliche Vertrauen der Arbeiterklasse auf die eigene Aktionsfähigkeit über das pessimistische Evangelium der eigenen Ohnmacht und des starren Festhaltens an alten, ausschließlich parlamentarischen Kampfmethöden, ebenso wie auch nach der anderen Seite über den simplen antimilitaristischen Sport der französischen Halbanarchisten ä la Herve. Die am letzten Ende von der Kommission wie von den 900 Delegierten aller Länder einstimmig angenommene Resolution spricht in kraftvollen. Worten den enormen Aufschwung der revolutionären Arbeiterbewegung seit dem letzten internationalen Kongreß aus und stellt als Grundsatz der proletarischen Taktik ihre Ver-

Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart

85

änderlichkeit, ihre Entwicklungsfähigkeit, ihre Zuspitzung mit dem Reifen der Verhältnisse auf." Der Herveismus ist abgelehnt, doch nicht zugunsten des Opportunismus, nicht vom Standpunkt des Dogmatismus und der Passivität. Das lebendige Streben nach immer entschiedeneren und neuen Kampfmethoden ist vom internationalen Proletariat in vollem Umfang anerkannt und mit der ganzen Verschärfung der wirtschaftlichen Widersprüche, mit allen Bedingungen der durch den Kapitalismus ausgelösten Krisen in Verbindung gebracht. Nicht leere herveistische Drohungen, sondern klares Bewußtsein der Unvermeidlichkeit der sozialen Revolution, feste Entschlossenheit zum Kämpf bis. ans Ende, Bereitschaft zu den revolutionärsten Kampfmitteln dies ist die Bedeutung der Resolution des-Stuttgarter Internationalen Sozialistenkongresses zur Frage des Militarismus. Die Armee des Proletariats erstarkt in allen Ländern. Ihr Klassenbewußtsein, ihre Geschlossenheit und Entschlossenheit wachsen täglich und • stündlich. Der Kapitalismus aber sorgt erfolgreich für die immer häufigere Wiederkehr der Krisen, die diese Armee zur Zerstörung des Kapitalismus nutzen wird. .. ; Qesdhriebenim September 1907. Veröflentiiäit im Oktober i907 im „%alender für alle für das Jabri9O8", St, Petersburg. Unterschrift: 5\L £..

.: • . -._•-,

Tiädbdem 7extdes Kalenders. ,. .. -':. ' - - . . - • . -•

--

VORWORT Z U M SAMMELBAND „12 JAHRE" 38 Der vorliegende Sammelband enthält Aufsätze und Broschüren aus der Zeit von 1895 bis 1905. Programmatische/taktische und organisatorische Fragen der russischen Sozialdemokratie bilden das Thema der hier vereinigten Schriften. Diese Fragen ergeben und entwickeln sich ständig im Kampf gegen den rechten Flügel der marxistischen Strömung in Rußland. Zunächst wird dieser Kampf auf rein theoretischem Gebiet gegen den Hauptvertreter unseres legalen Marxismus der neunziger Jahre, Herrn Struve, geführt Ende 1894 und Anfang 1895 erfolgte ein schroffer Umschwung in unserer legalen Publizistik. Zum erstenmal drang der Marxismus in sie ein, vertreten nicht bloß durch die im Ausland wirkenden Mitglieder der Gruppe „Befreiung der Arbeit", sondern auch durch die in Rußland lebenden Sozialdemokraten. Die Belebung in der Literatur und der hitzige Streit der Marxisten mit den alten Führern der Volkstümlerrichtung, die bis dahin die fortschrittliche Literatur fast unbeschränkt beherrscht hatten (zum Beispiel N. K. Michailowski), leiteten den Aufschwung der proletarischen Massenbewegung in Rußland ein. Die literarischen Kundgebungen der russischen Marxisten gingen unmittelbar dem Aufmarsch des Proletariats zum Kampf, den berühmten Petersburger Streiks von 1896, voraus, die die Ära der seither unaufhaltsam wachsenden Arbeiterbewegung, dieses machtvollsten Faktors unserer ganzen Revolution, eröffneten. Die Situation der damaligen Literatur zwang die Sozialdemokraten, in der Sprache Äsops zu sprechen und sich auf ganz allgemeine Thesen, die der Praxis und Politik möglichst fernlagen, zu beschränken. Dieser Umstand vor allem war es, der das Bündnis der verschiedenartigen Ele-

BJI. \inbuU-b.

3a 12 COBPAHIE CTATEtf ToH-b nepSHfl,

6s pycckoMo Mapkcu3Mt n pyccM

CUIETEPEypri. , * Vf. B. 0 , Eommolt »p., j . K 61.

1908,

Titelblatt des Sammelbandes der Werke W. I. Lenins „12 Jahre" "Verkleinert

Vorwort zum Sammelband „ 12 Jahre"

89

mente des Marxismus, im Kampf gegen die; Volkstümlerrichtung erleichterte. Neben den im Ausland und den in Rußland lebenden. Sozialdemokraten führten diesen Kampf solche Leute wie die Herren Struve, Bulgakow, Tugan-Baranowski, Berdjajew* usw.. Das waren bürgerliche Demokraten, für die der Bruch mit der Volkstümlerridtfung nicht,: wie für uns, den Übergangs vom kleinbürgerlichen (oder bäuerlichen) Sozialismus zum proletarischen Sozialismus, sondern den Übergang zum bürger: lichen Liberalismus-bedeutete. .^ " -••..•Durch die Geschichte der russischen Revolution überhaupt, durch die Geschichte der Kadettenpartei im besonderen und namentlich durch die Entwicklung des Herrn Struve (die-ihn fast-bis zum Oktobrismus geführt hat) ist dies heute zu einer Binsenwahrheit, .zur gängigen Scheidemünze der Publizistik- geworden. Damals, in den- Jahren 4894/1895,, mußte man diese Wahrheit auf Grund verhältnismäßig kleiner Abweichungen dieses oder jenes Schriftstellers vom Marxismus beweisen, damals mußte diese Münze erst geprägt werden. Meine gegen Herrn Struve gerichtete Arbeit (den Artikel „Der ökonomische Inhalt der. Volkstümler^ richtung und die.Kritik an ihr in dem Buch des Herrn, Struve", der mit der Unterschrift >K. Tulin in dem von der Zensur verbrannten Sammelband „Materialien zur Frage der wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands'', St. Petersburg 1895, erschien*) drucke ich daher aus dreierlei Gründen vollständig ab,, Erstens, insofern das lesende Publikum das Buch des Herrn Struve und die gegen die Marxisten gerichteten Artikel der Volkstümler in den Jahren 1894/1895 kennengelernt hat, erhält auch eine Kritik am Standpunkt des Herrn Struve Bedeutung. Zweitens ist die Verwarnung, die ein revolutionärer Sozialdemokrat Herrn Struve gleichzeitig not unseren gemeinsamen Kundgebungen gegen die Volkstümler erteilt, von Bedeutung sowohl als Antwort an diejenigen, die uns vielfach das Bündnis mit ähnlichen Herrschaften zum Vorwurf gemacht haben, wie auch für die Einschätzung der sehr bezeichnenden politischen Laufbahn des Herrn Struve. Drittens hat die alte und in vieler Hinsicht veraltete ..Polemik gegen Struve die.Bedeutung eines lehrreichen Beispiels. Dieses Beispiel zeigt den praktisch-politischen "Wert einer unversöhnlichen, theoretischen Polemik. Übertriebene Neigung zu einer solchen Polemik sowohl gegen die' „Ökonomisten" wie .gegen die Bemsteinianer und die Merische* Siehe Werke, Bd. 1, S. 339-528. Die Red7 Lenin, Werke, Bd. 13

.

90

W.l Lenin

wiki hat man den revolutionären Sozialdemokraten unzählige Male zum Vorwurf "gemacht. Auch heute noch-sind solche Vorwürfe die gängigste Ware bei den „Versöhnlern" innerhalb der sozialdemokratischen Partei und bei den" „sympathisierenden" Halbsozialisten außerhalb derselben. Man spricht bei uns sehr gern" davon, daß die Russen überhaupt, die Sozialdemokraten im besonderen und namentlich die Bolschewiki eine übertriebene Neigung zur Polemik und zu Spaltungen haben. Man vergißt bei uns auch gern, daß die Bedingungen der kapitalistischen Länder überhaupt, die Bedingungen der bürgerlichen Revolution in Rußland im besonderen und namentlich die Bedingungen-des Lebens und der Tätigkeit unserer Intelligenz eine übertriebene Neigung zu Sprüngen vom Sozialismus zum Liberalismus hervorbringen. Von diesem Standpunkt aus ist es ganz und gar nicht unnütz zu betrachten, was vor zehn Jahren war, welche theoretischen Differenzen mit dem „Struvismus" sich schon damals bemerkbar machten, aus welchen kleinen (auf den ersten Blick kleinen) Meinungsverschiedenheiten die völlige gegenseitige politische Abgrenzung der Parteien und der unerbittliche Kampf im Parlament, in einer ganzen Reihe von Presseorganen, in den Volksversammlungen usw. entstanden sind. Zu meinem Artikel gegen Herrn Struve muß ich noch bemerken, daß ihm ein Referat zugrunde liegt, das ich im Herbst 1894 in einem kleinen Zirkel damaliger Marxisten hielt. Von der Gruppe von Sozialdemokraten, die damals in Petersburg arbeiteten und ein Jahr später den Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse gründeten, waren in diesem Zirkel St., R. und ich; von den legal-marxistischen Literaten P. B. Struve, A.N. Potressow und Kß9. In diesem Zirkel hielt ich ein Referat über „Die Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur". Wie aus der Formulierung des Themas ersichtlich, war hier die Polemik gegen Herrn Struve unvergleichlich schärfer und (hinsichtlich der sozialdemokratischen Schlußfolgerungen) bestimmter gehalten als in dem im Frühjahr 1895 veröffentlichten Aufsatz. Die Milderungen wurden teils aus Zensurrücksichten vorgenommen, teils aus Rücksicht auf das „Bündnis" mit dem legalen Marxismus" für den gemeinsamen Kampf gegen die Volkstümlerrichtiing. Daß „der Stoß nach links", den damals Herr Struve von den Petersburger Sozialdemokraten erhielt, nicht ganz ergebnislos blieb, das beweisen deutlich sein Aufsatz in dem verbrannten Sanimelband (1895) und einige seiner Aufsätze im „Nowoje Slowo"40 (1897).

Vorwort zum Sammelbänd „ a Jahre"

91

Außerdem, maß man bei der Lektüre des gegen Herrn Struve gerichteten Aufsatzes -von 1895 berücksichtigen, daß er in vieler Hinsicht ein Konspekt späterer ökonomischer Arbeiten (besonders der „Entwicklung des Kapitalismus") ist. Endlich müssen die Leser auf die letzten Seiten dieses Aufsatzes aufmerksam gemacht werden, auf denen-die in den Augen eines Marxisten positiven Züge und Seiten der'Volkstümlerrichtung als einer revölutionär.-demokratisdienStromung in einem unmittelbar vor der bürgerlichen Revolution stehenden Land hervorgehohen werden. Es handelt sich um die theoretische Formulierung derselben Thesen, diel2-13 Jahre später bei den Wahlen zur II. Duma im „Linksblock" und in der „ Linksblock"taktik praktisch-politischen Ausdruck gefunden haben. Jener Teil deiMenschewild, der den Gedanken einer revolutionärdemokratischen Diktatur des Proletariats und der .Bauernschaft bekämpfte und die absolute-Unzulässigkeit eines Linksblocks, verfocht; wurde in dieser Hinsicht einer sehr alten und sehr wichtigen Tradition der revolutionären Sozialdemokraten untreu, einer Tradition, die von der „Sarja"41 und der alten „Iskra"42 energisch unterstützt worden war. Es versteht sich von selbst, daß die bedingte und begrenzte. Zulässigkeit der „Linksblock"taktik sich unvermeidlich aus denselben grundlegenden theoretischen Auffassungen des Marxismus über die Volkstümlerrichtung ergibt. . Auf den Aufsatz gegen Struve (1894/1895) folgt: „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten"*, geschrieben Ende 1897 auf-Grund der Erfahrungen aus der Arbeit der Sozialdemokraten in Petersburg im Jahre 1895. Die Auffassungen, die in anderen Aufsätzen und Broschüren des vorliegenden Sammelbandes in Form einer Polemik gegen den rechten Flügel der Sozialdemokratie dargelegt werden, behandelt diese Broschüre in positiver Form. Die verschiedenen Vorworte zu den „Aufgaben" werden wieder abgedruckt, um den Zusammenhang dieses Aufsatzes mit den verschiedenen Entwicklungsperioden unserer Partei aufzuzeigen (das Vorwort Axelrods z.B. unterstreicht den Zusammenhang der Broschüre mit dem Kampf gegen den „Ökonomismus", und das Vorwort von 1902 unterstreicht die Evolution der Narodowölzen und der Völksrechtler). Der Artikel „Die Verfolger des Semstwos und die Hannibale des Liberalismus""** erschien in der. in? Ausland herausgegebenen „Sarja" im • Siehe Werke, Bd. 2, S. 325-354. Die Red. ** Siehe Werke, Bd. 5, S. 21-73. Die Red.

~ •_

\

;

92 Jähre 1901. Dieser Artikel liquidiert sozusägenldie sozialdemokratischen Beziehungen züStrave als Politiker. 1895 verwarnte man ihn und grenzte Sich von ihm als. Verbündeten vorsichtig ab. 1901 Erklärt man ihm den Krieg; alsr einem Liberalen, der nicht'einmal rein demokratische Forderuhgeh einigermaßen konsequent zu verteidigen vermag.' : -;" Im Jahre 1895, einige Jahre vor der „Bernsteiniade" im Westen und Vor dem völligen Bruch einer ganzen Reihe • „fortschrittlicher" Literaten in Rußland mit dem Marxismus,; wies ich darauf hin, daß Herr Struveein unzuverlässiger Marxist sei'r von dem die Sozialdemokraten isich abgrenzen müßten. 1901, einige Jahre vor dem Auftreten der Kädetteripartei in der russischen Revolution und vor dem politischen Fiasko.dieser Partei in der I. und' II.Duma, wies ich gerade auf jene Züge'des bürgerlichen Liberalismus in Rußland hin, die in den Jähren 1905-1907 in politischen Massenaktionen und Kundgebungen zum Ausdruck1 kamen. Der-Artikel „Die Hannibale des Liberalismus" kritisiert die fehlerhaften Betrachtungen eines einzelnen Liberalen, und diese Kritik erweist sich nunmehr als fast restlos anwendbar auf die Politik der größten; liberalen -Partei in unserer Revolution. Denjenigen,, die geneigt. sind zu glauben) daß wir Bolschewiki der alten -sozialdemokratischen Politik - dem Liberalismus gegenüber, untreu wurden, als wir in den Jahren 1905-1907 unerbittlich gegen die konstitutionellen Illusionen, und gegen die Kädettenpartei •kämpften —'.diesen Leuten wird der Artikel „Die. Hannibale des Liberalismus" ihren Irrtum zeigen. Die Bolschewiki sind den Traditionen der Tevolutionären-Sozialdemokratie treu geblieben und unterlagen nicht dem bürgerlichen Rausch, den die Liberalen in .der Epoche des „konstitutionellen Zickzacks" begünstigten und der.das Bewußtsein des rechten Flü: gels unserer Partei vorübergehend umnebelte. ;' : .' .': Die folgende Broschüre „Was tun3"* erschien im Ausland ganz.zu Anfang des Jaltres 1902. Sie enthält eine Kritik des rechten Flügels nicht •mehr in literarischen Strömungen, sondern in der sozialdemokratischen Organisation. 1898 fand 4er I. Parteitag der Sozialdemokraten statt, es wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands gegründet. Auslandsorganisation der Partei wurde der „Auslandsbund russischer Sozial•demQkraten"/dem auch die Gruppe „Befreiung, der Arbeit"; angehörte. Doch die zentralen Körperschaften der- Partei wurden von der ..Polizei * Siehe Werke, Bd. 5, S. 355-551 :T>ie Red;

"

.:

:

, ' . 3. Lenin

Subventionen, Konzessionen, Schutzzöllen usw. zu erwischen. Diese Schicht der Grundbesitzer- und Industriebourgeoisie, die für die Epoche der ursprünglichen Akkumulation charakteristisch ist, findet ihren Ausdruck im-Oktobrismus und "den diesem verwandten Strömungen. Viele Interessen sind ihr mit den Schwarzhundertem sans phrases* gemeinsam wirtschaftliches Schmarotzertum, Privilegien und Hurrapatriotismus sind vom oktobristischen Standpunkt aus ebenso notwendig wie von dem der Schwarzhunderter. ' - . . ' . . . ' - . . ;. - So.kommt die aus Schwarzhundertem und Oktobristenbestehende Mehrheit der III. Reichsduma zustande:.sie erreicht die ansehnliche Zahl von 284-Mann.von 432, d. h. 65,7 Prozent, mehr als zwei Drittel aller Abgeordneten. ' . Das ist die feste Stütze, die der Regierung die Möglichkeit sichert, eine Agrarpolitik zu betreiben, die den bankrotten Gutsbesitzern hilft, ihre Ländereien vorteilhaft zu liquidieren und dabei die landarmen Bauern bis aufs Hemd auszuplündern, die es ihr ermöglicht, aus der Arbeitsgesetzgebung ein Werkzeug der brutalsten Ausbeutung des Proletariats durch das Kapital zu machen und auf finanzpolitischem Gebiet die Hauptlast der Steuern nach wie vor auf die Schultern der Volksmassen zu legen. Das ist die feste Stütze des Protektionismus und Militarismus. Der konterrevolutionäre Charakter der aus Oktobristen und Schwarzhundertern gebildeten Mehrheit wird von niemandem bestritten. Aber — und das ist des Pudels Kern - es ist nicht die einzige Mehrheit in der III. Duma. Es gibt noch eine andere Mehrheit. Die Schwarzhunderter, sind zuverlässige Bundesgenossen der Oktobristen, ebenso wie die Hofkamarilla Bundesgenosse des Ministerkabinetts ist, was die Verteidigung des Zarismus betrifft. Doch so wie die Hofkamarilla keinen organischen Hang verspürt, ein Bündnis mit dem Ministerkabinett einzugehen, sondern es eher beherrschen willj so sehnen sich auch die Schwarzhunderter nach einer Diktatur über die Oktobristen, springen sie mit ihnen nach Belieben um, sind sie bestrebt, sie sich zu unterwerfen. . Die Interessen des Kapitalismus, sei es auch eines grob räuberischen, parasitären, sind nicht zu vereinbaren mit der uneingeschränkten Herr-, schaft des feudalen Grundbesitzes. Jede der beiden miteinander verwand* ohne Umschweife. Die Red.

Die dritte Duma

119

ten sozialen Gruppen will einen möglichst großen und fetten Bissen erhaschen - daher ihre unvermeidlichen Differenzen in Fragen der örtlichen Selbstverwaltung und der zentralen Organisation der Staatsmacht. In den Semstwos und in den, Stadtdumas, brauchen die Schwarzhunderter nichts anderes, als schon, da ist, im Zentrum aber heißt es - „Nieder mit der verdammten Verfassung". Die Oktobristen: brauchen in den Semstwos wie in den Dumas eine Verstärkung ihres Einflusses, im Zentrum aber brauchen sie eine wenn auch nur sehr kümmerliche, für die Massen rein fiktive „Verfassung". ; : Nicht umsonst schimpft das „Russkoje Snamja"50 auf die „Oktoberleute", während der „GolosMoskwy" 51 seinerseits findet, in der III. Duma seien mehr Rechte als notwendig. Nun werden die Oktobristen durch den objektiven Gang der Dinge gezwungen, in dieser-Beziehung nach Bundesgenossen zu suchen. Im linken (kadettischen) Zentrum, das schon seit langem seihe aufrichtige Verfassungstreue verkündet, wären diese Verbündeten längst zu finden gewesen, doch hat die Sache einen Haken, daß die heute von den Kadetten vertretene junge russische Bourgeoisie der Epoche der kapitalistischen Akkumulation'aus ihrer Vergangenheit noch sehr unbequeme Freunde und gewisse unangenehme Traditionen bewahrt h a t übrigens stellte sich heraus, daß man auf politischem Gebiet den Traditionen leicht Valet sagen kann: schon längst, noch vor der ersten Duma, haben sich die Kadetten zum Monarchismus bekannt, in der-zweiten Duma haben sie auf ein verantwortliches Ministerium stillschweigend verzichtet, und die kadettischen Gesetzentwürfe über diverse „Freiheitsrechte" enthalten so viel .Schlagbäume, Drahtverhaue und Wolfsgruben gegen diese Freiheitsrechte, daß man zu den schönsten Hoffnungen auf weitere Fortschritte in dieser Richtung berechtigt ist. Zum Aufstand und Streik nahmen die Kadetten schon vorher eine vorwurfsvolle Haltung ein - zuerst mit freundlichem, dann mit melancholischem Vorwurf; nach dem Dezember 1905 verwandelte sich der Vorwurf halb in Geringschätzung, nachdem aber die erste Duma auseinandergejagt worden war, in strikte Ablehnung und Tadel. Diplomatie, Kompromiß, Kuhhandel mit den Machthabern - das ist die Grundlage der Kadettentaktik. Was aber die unbequemen Freunde anbelangt, so werden sie schon seit langem einfach „Nachbarn" genannt,.und unlängst wurden sie lauthals zu ^Feinden" erklärt.

120

WllXenin

Eine Einigung ist also möglich, und'so sehen wir eine neue, ^wiederum konterrevolutionäre Mehrheit — die oktobristisch-kadettische. Sie zählt zwar einstweilen etwas weniger als die Hälfte der bereits gewählten Abgeordneten - 2 1 4 von 432, aber erstens werden sich ihr zweifellos, wenn nicht alle, so doch zumindest ein Teil der Parteilosen anschließen, und zweitens ist aller Grund zu der Annahme vorhanden, daß sie bei den weiteren Wahlen einen Zuwachs erhalten wird, da die Städte und ein großer Teil der Gouvernements-Wahlversammlungen, in denen die Wahlen noch nicht vollzogen sind, in ihrer überwiegenden Mehrheit entweder Oktobristen oder Kadetten wählen werden. Die Regierung betrachtet sich als Herr der Lage. Die liberale Bourgeoisie nimmt dies anscheinend als Tatsache hin. Unter diesen Verhältnissen muß eine Übereinkunft mehr denn je den Stempel des niederträchtigsten und verräterischsten Kompromisses tragen, genauer — den Stempel des Verzichts auf alle auch nur entfernt demokratischen.Positionen des Liberalismus. Es ist klar, daß durch eine solche Übereinkunft, ohne eine neue Massenbewegung, keine auch nur halbwegs demokratische Gestaltung der lokalen Verwaltung und der zentralen gesetzgeberischen Organe erreicht werden kann. Die oktobristisch-kadettische Mehrheit ist nicht imstande, uns das zu geben. Kann man aber von der Mehrheit aus Schwarzhundertern und Oktobristen, von erzreaktionären Gutsbesitzern im Bündnis, mit räuberischen Kapitalisten, eine halbwegs annehmbare Lösung der Agrarfrage und eine Erleichterung der Lage der Arbeiter erwarten? Auf diese Frage kann nur bitteres Lachen die Antwort sein. Die Lage ist klar: unsere „dhambre introuväble" ist nicht imstande, die objektiven Aufgaben der Revolution audh nur in der kümmerHdhsten Weise zu lösen. Sie vermag die tiefen Wunden, die die alte Ordnung Rußland geschlagen hat, nicht einmal notdürftig zu heilen - sie kann diese Wunden nur mit kümmerlichen,- nichtssagenden Scheinrefonnen verdecken. " Die Wahlresultate bestätigen ein übriges Mal unsere feste Überzeugung: Rußland kann aus seiner heutigen Krise nidht auf friedUdbem Wege herausgelangen: Unter solchen Verhältnissen sind die nächsten Aufgaben, vor denen die Sozialdemokratie gegenwärtig steht, vollkommen klar. Die Sozialdemokratie, die im Sieg des Sozialismus ihr Endziel sieht, die überzeugt

Die dritte Thima

121

ist, daß es zur Erreichung dieses Zielesder.politischen Freiheit bedarf und zugleich in Rechnung stellt, daß es gegenwärtig unmöglich ist, diese Freiheit auf friedlichem Wege, ohne offene Massenaktionen, zu verwirklichen die Sozialdemokratie ist nach wie vor verpflichtet, die demokratischen und revolutionären Aufgaben in'den Vordergrund zu rücken, ohne selbstverständlich auch nur einen Augenblick lang auf die Propagierung des Sozialismus, auf die Verteidigung der proletarischen Klasseninteressen im engen Sinne des Wortes zu verzichten. Als Vertreterin der fortschrittlichsten, der revolutionärsten Klasse der modernen Gesellschaft, des Proletariats, das in der russischen Revolution seine Befähigung bewiesen hat, die Rolle des Führers im Massenkampf zu übernehmen, ist die Sozialdemokratie verpflichtet, in jeder Weise dazu beizutragen, daß das Proletariat diese Rolle auch in dem kommenden neuen Stadium des revolutionären Kampfes ausübt, in einem Stadium, für das im Vergleich zu früherem viel stärkeres Übergewicht des Bewußtseins über die Spontaneität charakteristisch ist. Zu diesem Zweck ist die Sozialdemokratie verpflichtet, mit allen "Kräften die 'Hegemonie Über die demokratischen "Massen anzustreben und die revolutionäre Energie dieser Massen zu entwickeln. Dieses Bestreben bringt die Partei des Proletariats in scharfen Konflikt mit anderen politisAen Massenorganisationen; die. entsprechend den Interessen der von ihnen vertretenen Gruppen die demokratische Revolution hassen und fürchten, und zwar nicht nur als solche schlechthin, sondern auch, weil sie — besonders angesichts der Hegemonie des Proletariats - die sozialistische Gefahr in sich birgt. Es ist ganz klar und unterliegt keinem Zweifel, daß beide Dumamehrheiten, die aus Schwarzhundertern und Oktobristen bestehende und die oktobristisch-kadettische, auf die die Stölypinregierung sich abwechselnd stützen, mit deren Hilfe sie balancieren will - daß beide Mehr^ heiten, jede in ihrer Art, in verschiedenen. Fragen, konterrevolutionär sein werden.. Von einem "Kampf der einen oder anderen Mehrheit oder auch nur einzelner ihrer Elemente gegen das Kabinett, von einem einigermaßen planmäßigen und systematischen Kampf; kann keine Rede sein. Möglich sind nur einzelne; vorübergeKeride Konflikte. Solche Konflikte sind möglich vor allem zwischen den Schwarzhunderterelementen der ersten Mehrheit und der Regierung. Man darf aber nicht vergessen, daß das keine irgendwie tiefen Konflikte sein können, und daß die Regierung, ohne auch 9 Lenin, Werke, Bd. 13

122

'W.J.Lenin

nur im geringsten den konterrevolutionären Boden zu verlassen, gestützt auf die zweite Mehrheit, höchst bequem und leicht aus diesen Konflikten als Sieger hervorgehen kann. Beim besten Willen können die revolutionären Sozialdemokraten und mit ihnen alle revolutionär gesinnten Elemente der III.Duma,diese Konflikte im Interesse der Revolution nicht anders als zu rein agitatorischen Zwecken ausnutzen; von „Unterstützung" eines der beiden streitenden Gegner kann hier keine Rede sein, denn eine solche Unterstützung wäre selbst eine konterrevolutionäre Handlung.. . Etwas.mehr und besser werden sich vielleicht die eventuellen Konflikte zwischen den einzelnen Elementen der zweiten Mehrheit - den Kadetten einerseits, den Oktobristen und der Regierung anderseits - ausnutzen lassen. Doch auch hier ist die Lage so, daß die Konflikte nicht nur kraft subjektiver Stimmungen und Absichten, sondern auch infolge der objektiven Verhältnisse nicht tief und nur vorübergehend sein werden, sie werden nur ein Mittel sein, das den politischen Schacherern den Abschluß ihres Geschäfts unter Bedingungen erleichtert, die zwar äußerlich anständiger aussehen, in Wirklichkeit aber den Interessen der Demokratie zuwiderlaufen. Die Sozialdemokratie muß folglich, ohne auf die Ausnutzung selbst solcher oberflächlichen und nicht häufigen Konflikte zu verzichten, einen hartnäckigen Kämpf für die demokratischen und revolutionären Aufgaben, nidht nur gegen die Regierung, die Schwarzhunderter und die Oktobristen, sondern auch gegen die "Kadetten führen. Dies sind die wichtigsten Ziele, die sich die Sozialdemokratie in der dritten Reichsduma setzen muß. Ganz klar, daß es die gleichen Ziele sind, die vor der Partei des Proletariats in der zweiten Duma standen. Sie sind in Punkt 1 der Resolution des Londoner Parteitags über die Reichsduma mit aller Klarheit formuliert. Dieser Punkt lautet: „Die unmittelbar politischen Aufgaben der Sozialdemokratie in der Duma bestehen darin: a) dem Volke klarzumachen, daß die Duma völlig untauglich ist, die Forderungen des Proletariats und des revolutionären Kleinbürgertums, insbesondere der Bauernschaft zu verwirklichen; b) dem Volke klarzumachen, daß es unmöglich ist, die politische Freiheit auf parlamentarischem Wege zu verwirklichen, solange die reale Macht in den Händen der Zarenregierung ist, ihm klarzumachen, daß der offene Kampf der Volksmässen gegen die bewaffnete Macht der Selbstherrschaft unvermeld-

Die dritte Duma

123

lieh ist - ein Kampf, dessen Ziel die Gewährleistung eines vollen Sieges ist, d. h. der Übergang der Macht in die Hände der Volksmassen und die Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts." In dieser Resolution, insbesondere in ihren letzten Worten, ist auch die wichtigste spezielle Aufgabe der Tätigkeit der Sozialdemokratie in der dritten Duma formuliert, eine Aufgabe, die die sozialdemokratischen Abgeordneten in Verbindung mit der Entlarvung der ganzen Ruchlosigkeit des Verbrechens vom 3. Juni erfüllen müssen. Natürlich dürfen sie dabei nicht vom liberalen Standpunkt eines formalen Verfassungsbrachs ausgehen, sondern sie müssen dieses Verbrechen als freche und brutale Verletzung der Interessen der breiten Volksmassen, als schamlose und empörende Verfälschung der Volksvertretung kennzeichnen. Daraus muß sich auch die Aufklärung der breiten Volksmassen darüber ergeben, daß die III. Duma den Interessen und "Forderungen des Volkes in keiner Weise entspricht, und im Zusammenhang damit eine wirkungsvolle und energische Propagierung des Qedankens einer über alle Macht verfügenden, in allgemeiner, direkter, gleicher und geheimer Wahl gewählten'Konstituierenden Versammlung. .-..-•' : Dieselbe Londoner Resolution bestimmt mit größter Klarheit, den Charakter der Tätigkeit der sozialdemokratischen Partei in der Reichsduma: mit den folgenden Worten: „In den Vordergrund gerückt werden muß die kritische, propagandistische, agitatorische und organisatorische Rolle der sozialdemokratischen Dumafraktion"; „der allgemeine Charakter des Kampfes in der Duma muß dem ganzen Kampf des Proletariats außerhalb der Duma untergeordnet sein, wobei es besonders wichtig-ist, den wirtschaftlichen Massenkampf auszunutzen und seinen Interessen zu dienen." Es liegt auf der Hand, in welch engem, unlöslichem Zusammenhang ein solcher Charakter der Dumaarbeit mit den Zielen steht, die sich die Sozialdemokratie, wie oben gesagt, gegenwärtig in der Duma setzen muß. Unter Bedingungen, die Massenbewegungen überaus wahrscheinlich erscheinen lassen, wäre eine friedliche gesetzgeberische Arbeit der Sozialdemokraten in der dritten Duma nicht nur unzweckmäßig, nicht nur lächerliche Donquichotterie, sondern auch direkter Verrat an den proletarischen Interessen. Es würde für die Sozialdemokratie unvermeidlich bedeuten, „ihre Losungen herabzuwürdigen, was nur geeignet wäre,' die

124

-W.1}. Lettin

Sozialdemokratie in den Augen der Masse zu diskreditieren und vom revolutionären Kämpf des! Proletariats zu'trennen". Ein größeres Verbrechen'könnten die Vertreter des Proletariats in der Duma nicht begehen. Die kritische'Tätigkeit der Sozialdemokratie muß in ihrem ganzen Umfang! entfaltet, und. aufs höchste zugespitzt werden, ran so mehr als die •HL Duma Material dazu im Überfluß lief ern wird. Die Sozialdemokraten in der Duma sind verpflichtet, die Klassengrundlage aller in der Duma erörterten Maßnahmen und Vorschläge sowohl der Regierung als auch der: Liberalen völlig zu enthüllen, wobei sie, in.voller Übereinstimmung mit der Parteitagsresolution, jenen Maßnähmen und Vorschlägen besondere Aufmerksamkeit zuwenden müssen, die die wirtschaftlichen Interessen der breiten Volksmassen berühren; hierher gehören die Arbeiterund die Agrarfrage, die Frage des Budgets usw. In allen diesen Fragen muß die Sozialdemokratie dem Standpunkt der Regierung und der Liberalen, ihre sozialistischen und demokratischen Forderungen entgegenstellen, sind doch diese Fragen der empfindlichste Nerv des Volkslebens und zugleich der wundeste Punkt der Regierung und jener sozialen Gruppen, auf die sich beide Dumamehrheiten stützen. Alle diese agitatorischen, propagandistischen und organisatorischen Aufgaben werden die Sozialdemokraten in der Duma nicht nur mit Hilfe ihrer. Reden von der Dumatribüne herab verwirklichen, sondern auch indem sie Gesetzentwürfe und.Interpellationen an die Regierung einbringen. Doch hier gibt es eine ernsthafte Schwierigkeit: um einen Gesetzentwurf oder eine Interpellation einzubringen, sind die Unterschriften von mindestens;dreißig Abgeordneten erforderlich. : , Es gibt in der III. Duma keine dreißig Sozialdemokraten, und es wird sie auch nicht geben.! Das steht fest. Folglich kann die Sozialdemokratie allein, ohne Mitwirkung, anderer Gruppen, weder Gesetzentwürfe einbringen nöch.interpellieren. Zweifellos erschwert und kompliziert das die Sache außerordentlich. • Es handelt sich selbstverständlich um Gesetzentwürfe und Interpellationen konsequent demokratischen Charakters. Kann die Sozialdemokratie in dieser Hinsicht auf Mitwirkung der Konstitutionell-demokratischen Partei rechnen? Natürlich nicht. Werden etwa die Kadetten, die heute schon durchaus zu einem unverhüllten Kompromiß unter Bedingungen- bereit sind,-bei denen von ihren ohnehin so kümmerlichen, durch verschiedene

Biedritte Duma

125

Klauseln und Ausnahmen zu einem Minimum zusammengeschrumpften Programmforderungen überhaupt nichts übrigbleibt - w e r d e n denn: die Kadetten' sich entschließen, die Regierung durch demokratische Interpellationen zu reizen? Wir alle erinnern uns; daß schon in der zweiten Duma die Reden der interpellierenden kadettischen Redner immer blasser wurden und sich bald zu kindlichem Lallen, bald zu höflichen, ja sogar ehrerbietigen, sozusagen von Bücklingen begleiteten Anfragen verwandelten. Heute aber, wo die „Arbeitsfähigkeit" der Duma, was das Knüpfen von Netzen für das Volk anbelangt - von recht festen, sicheren Netzen, die zu Ketten werden sollen —, schon sprichwörtlich geworden ist, können Ihre Exzellenzen, die Herren Minister, ruhig schlafen: von kadettischer Seite wird man sie nur selten stören — nun ja, man muß doch gesetzgeberisch tätig sein! Und wenn man sie wirklich stören sollte, so jedenfalls unter Beachtung aller Höflichkeitsregeln. Nicht umsonst verspricht Miljukow in Wahlversammlungen, „das Flämmchen zu hüten". Und etwa Miljukow allein? Was hat die von Dan vertretene bedingungslose Ablehnung der Losung „Nieder mit der Duma" zu bedeuten? Etwa nicht dasselbe „Hüten des Flämmchens"? Und ist es nicht die gleiche Richtung der „Höflichkeit", die Plechanow der Sozialdemokratie mit seiner „Unterstützung der liberalen Bourgeoisie" anrät, deren „Kampf" auf nichts anderes hinausläuft als auf Reverenzen und tiefe Bücklinge? Von einem Anschluß der Kadetten an sozialdemokratische Gesetzentwürfe kann keine Rede sein: werden doch diese Gesetzentwürfe klar ausgeprägten agitatorischen Charakter tragen, werden sie doch in vollem Umfang konsequent demokratische Forderungen zum Ausdruck bringen das aber wird bei den Kadetten nicht minder Ärgernis erregen als bei den Oktobristen, ja selbst den Schwarzhundertern. Folglich kann man auch hier mit den Kadetten nicht rechnen. Bei der Einbringung von Interpellationen und Gesetzentwürfen kann die Sozialdemokratie nur von links von den Kadetten stehenden Gruppen Unterstützung erwarten. Es scheint, daß zusammen mit den Sozialdemokraten eine Gruppe von 30 Abgeordneten zustande kommt, so daß die volle technische Möglichkeit bestehen wird, in dieser Beziehung Initiative zu entfalten. Es handelt sich dabei natürlich nicht um einen beliebigen Block, sondern um jene „gemeinsamen Aktionen", die, wie es in der Resolution des Londoner Parteitags heißt, „jede Möglichkeit aller wie immer ge-

126

W.i: Lenin

arteten Abweidinngen von dem Programm und der Taktik der Sozialdemokratie ausschließen müssen und nur den Zwecken gemeinsamen Vorgehens gleichzeitig gegen die Reaktion und gegen die verräterische Taktik :der liberalen Bourgeoisie dienen". „Proletari" 3tfr. is, 29. Oktober 1907.

Nachdem Jext des „Vroletari". .

"

127

ÜBER EINEN ARTIKEL PLECHANOWS 5 2

In seinem Artikel im „Towarischtsch" vom 20. Oktober setzt Plechanow seine Kampagne der Lüge und des Hohns gegen die Disziplin "der Sozialdemokratischen Partei fort. Hier einige Beispiele dafür, wie er lügt: „Der ,Towarischtsch' war bekanntlich ein Organ des Linksblocks", wendet Plechanow auf die Beschuldigung ein, daß er zum ständigen Mitarbeiter solcher Herrschaften wie Prokopowitsch, Kuskowa und Co. geworden ist. Das ist eine Lüge. Erstens war der „Towarischtsch" niemals ein Organ des Linksblocks. Der Linksblock konnte kein gemeinsames Organ haben. Zweitens haben die Bolschewiki im „Towarischtsch" niemals irgendeine politische Kampagne geführt, sie sind in einer solchen Zeitung niemals gegen Mitglieder unserer Sozialdemokratischen Partei aufgetreten. Drittens haben die Bolschewiki, als sie den Linksblock schufen, den „Towarischtsch" gespalten, indem sie aus ihm (freilich nur für eine Woche) diejenigen vertrieben, die für die Kadetten eintraten. Plechanow aber drängt sowohl das Proletariat als auch die kleinbürgerliche Demokratie zu Lakaiendiensten für die Kadetten. Die Bolschewiki, die sich am „Towarischtsch" nicht beteiligten, haben ihn nach links gedrängt. Plechanow beteiligt sich und zieht nach rechts. Man muß schon sagen, sein Hinweis auf den Linksblock ist gelungen! Plechanow, der auf diese Art und Weise die Frage umgeht, daß man ihn in eine bürgerliche Zeitung aufnimmt, weil er Dinge schreibt, die der Bourgeoisie angenehm sind, verschafft den Liberalen ein noch größeres Vergnügen, indem er sich über die Disziplin der Arbeiterpartei lustig macht. Ich bin nicht verpflichtet, ruft er aus, mich zu unterwerfen, wenn man von mir Verrat an den Prinzipien verlangt!

1,28

TV. 3. Lenin

Das ist eine abgedroschene anarchistische Phrase, Verehrtester, denn über die Prinzipien der Partei wacht von Parteitag zu Parteitag das Zentralkomitee und interpretiert sie. Sie sind im Recht, den Gehorsam zu verweigern, wenn das ZK gegen den Willen des Parteitags, gegen das Parteistatut usw. verstößt. In diesem Fall aber hat kein Mensch auch nur versucht, zu behaupten, das ZK hätte durch seine Direktiven zu den Wahlen gegen den Willen des Parteitags verstoßen. Mit dem Gerede vom „Verrat an den Prinzipien" -will Plechanow also einfach seinen Verrat an der Partei bemänteln. Schließlich möchte Plechanow dem St.-Petersburger Komitee einen Stich versetzen: bei den Wahlen zur II. Duma habe es sich selber dem Zentralkomitee nicht untergeordnet. Erstens, antworten wir darauf, hat das St.-Petersburger Komitee sich geweigert, der Forderung nachzukommen, .die Organisation zu teilen, d. h., es hat eine Einmischung in seine vom Parteistatut garantierte Autonomie abgewiesen. Zweitens haben die Menschewiki bei den Wahlen zur II. Duma die Organisation gespalten, über diese Seite des damaligen Konflikts schweigt Plechanow in der bürgerlichen Zeitung! Die Argumente Plechanows laufen auf das eine hinaus: bei den Wahlen zur II. Duma haben die Menschewiki den Petersburger Teil der Partei gespalten - also habe ich jetzt das Recht, die ganze Partei zu spalten!! Dies ist Plechanows Logik, dies sind Plechanows Taten. Mögen sich .das alle gut einprägen: Plechanow sät die Spaltung. Er hat nur Angst, die Sache beim Namen zu nennen. .Vroletari" Ttfr. iS, 29. Oktober 1907.

Nach dem Jext des „Proletari".

129

KONFERENZ DER ST.-PETERSBURGER ORGANISATION DER SDAPR53 .-.". 27. Oktober (9. November) 1907 : 1

REFERAT OBER DIE IIL REICHSDUMA Aus einem Zeitungsbericht ... Der Referent charakterisierte vor allem die Zusammensetzung der III. Duma. Die Regierung hat das Wahlgesetz vom 3. Juni auf einem einfachen empirischen Weg derart zurechtgeschnitten, daß nunmehr in der Duma zwei Mehrheiten möglidb sind: eine aus Oktobristen und Schwarzhundertern bestehende und eine oktobristisch-kadettische. Sowohl die eine wie die andere ist unbedingt konterrevolutionär. Die Regierung wird sich in ihrer reaktionären Politik bald auf die eine, bald auf die andere stützen. Sie wird dabei ihre absolutistisch-fronherrlichen Handlungen hinter Redensarten über papierene „Reformen" verbergen. Die Kadetten werden in Wirklichkeit die verräterische Politik der Konterrevolution treiben, sich aber in Worten als Partei der wahrhaft demokratischen Opposition ausgeben. Eine Übereinkunft der Kadetten mit den Oktobristen in der Duma ist unausbleiblich, und die ersten Schritte dazu sind bereits getan, wie der Referent an Hand einer Reihe von Zitaten aus der Parteipresse der Kadetten wie der Oktobristen, an Hand einer Reihe von Tatsachen aus dem Leben dieser Parteien und durch Mitteilungen vom letzten Parteitag der Kadetten beweist. Die Kadettenpolitik des Kompromisses mit dem alten Regime wird in der III. Duma noch deutlicher als bisher zutage treten, und niemand wird mehr an ihrem wahren Charakter zweifeln können. ,

130

'W.J.Lenin

Doch weder die erste noch die zweite Dumamehrheit ist objektiv imstande, den dringendsten wirtschaftlichen, und politischen Forderungen einigermaßen breiter Massen des Proletariats, der Bauernschaft und der städtischen Demokratie Genüge zu tun. Nach wie vor wird es vor allem die Sozialdemokratie sein, die die Nöte dieser Volksschichten zum Ausdruck bringt. Zusammensetzung und Tätigkeit der III. Duma stellen der Sozialdemokratie reiches und ausgezeichnetes Agitationsmaterial in Aussicht, das gegen die Schwarzhunderterregiertmg, die offen fronherrlichen Gutsbesitzer, die Oktobristen und gegen die Kadetten ausgenutzt werden muß. Aufgabe der Sozialdemokratie ist es nach wie vor, den Gedanken der auf der Grundlage des allgemeinen usw. Wahlrechts zu wählenden, das ganze Volk vertretenden Konstituierenden Versammlung in den breitesten Volksmassen zu popularisieren. Von einer Unterstützung „linker" Oktobristen oder der Kadetten in der Duma kann daher keine Rede sein. Wie gering an Zahl die Sozialdemokraten in der III. Duma auch sind, so müssen sie trotzdem eine selbständige sozialistische und konsequent demokratische Linie verfolgen und dazu die Dumatribüne, das Interpellationsrecht usw. ausnutzen. Gewisse Abkommen können nur mit der Gruppe der linken Abgeordneten getroffen werden (besonders da ja 30 Unterschriften erforderlich sind, um eine Interpellation einzubringen), doch nur wenn diese Abkommen dem Programm und der Taktik der Sozialdemokratie nicht zuwiderlaufen. Zu diesem Zweck ist es notwendig, ein Informationsbüro zu organisieren, das niemanden bindet, sondern lediglich der Sozialdemokratie die Möglichkeit gibt, auf die linken Abgeordneten einzuwirken. Aus den Reihen der Sozialdemokratie, bemerkte ferner der Referent, ertönen bereits Stimmen, die eine Unterstützung „linker" Oktobristen (z. B. bei den Präsidiumswahlen), die Organisierung eines mit den Kadetten gemeinsamen Informationsbüros und die, wie man sagt, „Bewahrung" unserer Dumafraktion verlangen. Das von menschewistischer Seite kommende Gerede über eine Unterstützung der Oktobristen demonstriert äußerst anschaulich das völlige Fiasko der menschewistischen Taktik. Als die Duma kadettisch war, traten auch die Menschewiki laut und vernehmlich für eine Unterstützung der Kadetten ein. Kaum hat aber Stolypin das Wahlgesetz in einem für die Oktobristen günstigen Sinne geän»dert, und schon sind die Menschewiki bereit, die Oktobristen zu unter-

Konferenz der St.-Petersburger Organisation der SDAPR stützen. Wie weit werden es die Menschewiki auf diesem Wege schließlich noch bringen? Ein mit den Kadetten gemeinsames Informationsbüro hält der Referent für unzulässig, denn dies hieße die eigenen offenen Feinde informieren. über die „Bewahrung" der Fraktion meinte der Referent: Die Fraktion muß in der Tat bewahrt werden. Aber zu welchem Zweck? Einzig damit sie in der Duma das Banner der Sozialdemokratie hochhält, damit sie dort einen unversöhnlichen Kampf gegen die Konterrevolutionäre aller Gattungen und Schattierungen, von den Schwarzhundertern bis zu den Kadetten, führt. Keinesfalls aber damit sie „linke" Oktobristen und Kadetten unterstützt. Wenn die Unterstützung dieser Gruppen, d. h. die Unterstützung des Paktes mit der Stolypinschen Selbstherrschaft, eine Vorbedingung ihrer Existenz wäre, so würde es für sie besser sein, ihre Existenz ehrenvoll aufzugeben und, wenn sie aus der Duma vertrieben werden sollte, das ganze Volk darüber aufzuklären, weshalb sie vertrieben wurde. In seinem Schlußwort ging Lenin hauptsächlich auf den Grundfehler des Menschewismus ein - auf den Gedanken der „gesamtnationalen Opposition". Die russische Bourgeoisie war im eigentlichen Sinne des Wortes niemals revolutionär, und zwar aus durchaus begreiflichem Grunde: infolge der Stellung der Arbeiterklasse in Rußland und ihrer Rolle in der Revolution. Nach einer Analyse aller übrigen Argumente der Menschewiki beantragte er die Annahme der in Nr. 19 des „Proletari" abgedruckten Resolution. „'Proletari" ?ir.2O, 19. November 1907.

!Nadb dem 7ext des .Proletari". . .

131

132

•••.••

i,.

' ,.'•:••

W.I.Lenin

RESOLUTION ÜBER DIE III. REICHSDUMA Die Konferenz der St.-Petersburger Organisation der SD APR erklärt, daßdit sozialdemokratische Fraktion in der III. Duma verpflichtet ist, sich von der Resolution des Londoner Parteitags über die Reichsduma -sowie der Resolution über die nichtproletarischen Parteien leiten, zu lassen, und erachtet es für notwendig, in Weiterentwicklung dieser Resolutionen folgendes festzustellen: 1. In der III. Duma zeichnen sich bereits zwei Mehrheiten ab: eine aus Schwarzhundertern und Qktobristen bestehende und eine oktobristischkadettische. Die erste ist konterrevolutionär, tritt besonders für eine Verschärfung der Repressalien und für den Schutz der Gutsbesitzerprivilegien ein und geht dabei so weit, die volle Wiederherstellung der Selbstherrschaft zu erstreben. Die zweite Mehrheit ist ebenfalls absolut konterrevolutionär, ist aberigeneigt, die Bekämpfung der Revolution durch einige bürokratische Schein„reformen" zu verschleiern. ; 2. Eine solche Situation in der Duma begünstigt das politische Doppelspiel sowohl von Seiten der Regierung als auch von Seiten der Kadetten außerordentlich. Die Regierung will die Repressalien verschärfen und fortfahren, Rußland mit militärischer Gewalt zu „erobern", zugleich aber als Anhängerin konstitutioneller Reformen gelten. Die Kadetten wollen sich, obwohl sie in Wirklichkeit mit den konterrevolutionären Oktobristen stimmen, nicht nur als Opposition, sondern auch als Vertreter der Demokratie ausgeben. Der Sozialdemokratie fällt unter diesen Verhältnissen ganz besonders die Aufgabe zu, dieses Spiel schonungslos aufzudecken, die Gewalttaten der Schwarzhunderter-Gutsbesitzer und der Regierung wie auch die konterrevolutionäre Natur der Kadetten vor dem Volke zu enthüllen. Direkte oder indirekte Unterstützung der Kadetten durch die

Konferenz der St.-Petersburger Organisation der SHAPK.

133

Sozialdemokratie (sei es in Form der Stimmabgabe für rechte Kadetten oder „linke" Oktobristen bei den Präsidiumswahlen, sei es in Form eines Informationsbüros mit Beteiligung der Kadetten, in Form der Koordinierung des eigenen Vorgehens mit ihrer Politik usw.) wäre jetzt direkte Schädigung der Klassenerziehung der Arbeitermassen und der Sache der Revolution. :! : 3. Indem die Sozialdemokraten ihre sozialistischen Ziele ohne jegliche Einschränkung verfechten und von diesem Standpunkt aus an allen, selbst an den allerdemokratischsten und „trudowikischen" Parteien der Bourgeoisie Kritik üben, müssen sie in den Vordergrund ihrer Agitation die Aufklärung der breiten Volksmassen über die Tatsache rücken, daß die III. Duma den Interessen und Forderungen des Volkes in keiner Weise entspricht, und im Zusammenhang damit (müssen sie) wirkungsvoll und energisch-den Gedanken einer in allgemeiner, direkter, gleicher und geheimer Wahl gewählten Konstituierenden Versammlung propagieren. 4. Zu den Hauptaufgaben der Sozialdemokratie in der III. Duma gehört die. Aufdeckung des wahren Klasseninhalts der Anträge der Regierung und der. Liberalen unter besonderer Berücksichtigung der Fragen, die die ökonomischen Interessen der breiten Volksmassen berühren (Arbeiter- und Agrarfrage, Budget usw.) - um so mehr als die Zusammensetzung der III. Duma außerordentlich reiches Material für die agitatorische Tätigkeit der Sozialdemokratie in Aussicht stellt. 5.. insbesondere muß die Sozialdemokratie in der Duma das Interpellationsrecht ausnutzen, zu welchem Zweck ein gemeinsames Vorgehen mit anderen, links von den Kadetten stehenden Gruppen notwendig ist, jedoch ohne, irgendwie von Programm und Taktik der Sozialdemokratie abzuweichen und ohne Blockbündnisse irgendwelcher Art einzugehen. IJtai den Fehler, den die Sozialdemokratie in der II. Duma begangen hat, nicht zu wiederholen, muß die sozialdemokratische. Fraktion den linken und, nur den linken (d. h. zum Kampf gegen die Kadetten fähigen) Dumaabgeordneten unverzüglich die Bildung eines Informationsbüros vorschlagen, das seine Teilnehmer in keiner Weise bindet, den Arbeiterabgeordneten jedoch die Möglichkeit gibt, die Demokratie im Geiste der sozialdemokratischen Politik systematisch zu beeinflussen. „Proletari" JVr. 19, • 5. November 1907.

"Nadb dem 7exi des „Troleiari"'.

134

W.l Lenin

REFERAT OBER DIE MITARBEIT VON SOZIALDEMOKRATEN AN DER BÜRGERLICHEN PRESSE Aus einem Zeitungsbericht Das zweite Referat des Gen. Lenin behandelte die Frage der Mitarbeit von Sozialdemokraten an der bürgerlichen Presse. Der Referent legte den Standpunkt der beiden Rügel der internationalen Sozialdemokratie zu dieser Frage dar, insbesondere die Auffassungen der Orthodoxen und der Revisionisten in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die Orthodoxen stimmten auf dem Dresdener Parteitag54 einer Formulierung zu, in der die Mitarbeit an einer der Sozialdemokratie nicht feindlich gegenüberstehenden Presse als zulässig bezeichnet wird - mit der Begründung, daß dies praktisch auf ein vollständiges Verbot hinauslaufe, denn es gebe in der heutigen entwickelten kapitalistischen Gesellschaft keine bürgerlichen Zeitungen, die der Sozialdemokratie nicht feindlich gegenüberstünden. Der Referent steht auf dem Standpunkt, daß eine politische Mitarbeit an der bürgerlichen Presse, insbesondere an der angeblich parteilosen, absolut unzulässig ist. Solche Zeitungen, wie z. B. der „Towarischtsch", fügen der Sozialdemokratie durch ihren verhüllten heuchlerischen Kampf gegen sie viel größeren Schaden zu als die der Sozialdemokratie offen feindlichen bürgerlichen Parteiblätter. Die beste Illustration dafür sind die Äußerungen Plechanows, Martows, Gorns, Kogans u. a. m. im „Towarischtsch". Alle diese Äußerungen sind gegen die Partei gerichtet, und in Wirklichkeit haben nicht die sozialdemokratischen Genossen die bürgerliche Zeitung „Towarischtsch" ausgenutzt, sondern diese Zeitung nutzte die genannten Genossen gegen die ihr verhaßte SDAPR aus. Kein einziger Artikel von Sozialdemokraten, der der Redaktion des „Towarischtsch" nicht behagt hätte, ist bisher in dieser Zeitung erschienen. „Proktari" 5Vr. 20, 19. "November 1907.

7la& dem Jext des „Proletari".

135

VIERTE KONFERENZ DER SDAPR („DRITTE GESAMTRUSSISCHE KONFERENZ") 55 5.-12. (18.-25.) November 1907 1

REFERAT ÜBER DIE TAKTIK DER SOZIALDEMOKRATISCHEN FRAKTION IN DER III. REICHSDUMA Aus einem Zeitungsbericht•_-. Gen. Lenin ging von der Voraussetzung aus, daß die objektiven Aufgaben der russischen Revolution nicht gelöst sind und die eingetretene Periode der Reaktion das Proletariat vor die Aufgabe stellt, die Sache der Demokratie und der Revolution entgegen dem allgemeinen Schwanken besonders hartnäckig zu verfechten. Daher die Auffassung, daß die Duma zu revolutionären Zwecken ausgenutzt werden muß, und zwar hauptsächlich in Richtung einer möglichst weitgehenden Verbreitung der politischen und sozialistischen Auffassungen der Partei, nicht aber in Richtunggesetzgeberischer „Reformen", die in jedem Fall eine Unterstützung der Konterrevolution und in jeder Hinsicht eine Einschränkung der Demokratie bedeuten werden. . Den „Kernpunkt" der Dumafrage soll, nach den Ausführungen des Gen. Lenin, die Klarstellung folgender drei Punkte bilden: a) wie ist die Klassenzusammensetzung der Duma? b) wie muß und wird die Stellung der Dumazentren zur Revolution und zur Demokratie sein? und c) welche Bedeutung hat die Dumatätigkeit im Entwicklungsgang der russischen Revolution? Zum ersten Punkt betonte Gen. Lenin auf Grund einer Analyse.der Zusammensetzung der Duma (nach den Angaben über die Parteizuge-

136

"W. 1. £enin

hörigkeit der Abgeordneten), daß die Durchsetzung der Auffassungen der vielgerühmten sogenannten „Opposition" in der III. Duma nur unter einer Bedingung möglich ist: bei einem Zusammengehen von mindestens 87 Oktobristen mit den Kadetten und den Linken. Den Kadetten und Linken fehlen für die bei einer Abstimmung über Gesetzentwürfe erforderliche Mehrheit 87 Stimmen. Eine gesetzgeberische Tätigkeit in der Duma ist also faktisch nur bei unbedingter Beteiligung der übergroßen Mehrheit der Oktobristen möglich. Es ist klar; was das Resultat einer solchen gesetzgeberischen Tätigkeit sein kann, es ist klar, daß ein Zusammengehen mit den Oktobristen die Sozialdemokratie mit Schimpf und Schande bedecken würde. Es handelt sich hier nicht um ein abstraktes Prinzip. Abstrakt gesprochen, kann, ja muß man manchmal Vertreter der Großbourgeoisie unterstützen. In diesem Fall aber muß man den konkreten Entwicklungsbedingungen der russischen bürgerlich-demokratischen Revolution Rechnung tragen. Die russische Bourgeoisie hat schon längst den Weg des Kampfes gegen die Revolution und der Kompromisse mit der Selbstherrschaft betreten. Der letzte Parteitag der Kadetten hat alle Feigenblätter, mit denen die Herren Miljukow ihre Blöße bedeckten, endgültig heruntergerissen. Er stellt ein wichtiges politisches Ereignis dar, haben doch die Kadetten mit zynischer Offenheit erklärt, sie gingen in die Oktobristen- und Schwarzhunderterduma, um sich gesetzgeberisch zu betätigen, die „Feinde von links" aber würden sie bekämpfen. Somit werden beide in der Duma möglichen Mehrheiten, die aus Oktobristen und Schwarzhundertern bestehende und die kadettisch-öktobristische, auf verschiedenen Wegen bestrebt sein, den Knoten der Reaktion möglichst fest zu knüpfen: die erste in dem Bestreben, die Selbstherrschaft wiederherzustellen, die zweite durch Übereinkünfte mit der Regierung und durch Scheinreformen, die die konterrevolutionären Bestrebungen der Bourgeoisie verbergen. Die Sozialdemokratie kann sich also nicht auf den Standpunkt der Unterstützung gesetzgeberischer Reformen stellen, was einer Unterstützung einer Regierungspartei; der oktobristischen Partei, gleichkommen würde. Der Weg der „Reformen" bedeutet auf dem ge j gebenen politischen Boden und bei dem gegebenen Kräfteverhältnis keine Verbesserung der Lage der Massen, keine Erweiterung der Freiheit, sondern bürokratische Reglementierung der Unfreiheit und der Versklavung der Massen. Solcher Art sind z.B. die- Agrarreformen Stolypins auf

Vierte"Konferenzder SDAPR

137

Grund des Artikels 87.56 Sie sind fortschrittlich, denn sie ebnen dem Kapitalismus den Weg, aber kein Sozialdemokrat könnte sich entschließen, einen derartigen Fortschritt zu unterstützen. Die Menschewiki wiederholen immer wieder die eine Schablone: Die Klasseninteressen der Bourgeoisie müssen mit der Selbstherrschaft in Konflikt geraten! Doch enthält dieser vulgäre Quasimarxismus kein Gran historischer Wahrheit. Haben denn Napoleon III. und Bismarck nicht vermocht, die Gelüste der Großbourgeoisie eine Zeitlang zu befriedigen? Haben sie nicht durch ihre „Reformen" die Schlinge um den Hals der werktätigen Massen auf lange Jahre hinaus festgezogen? Welche Gründe können zu der Annahme bewegen, die russische Regierung sei fähig, sich bei ihrem Kuhhandel mit der Bourgeoisie zu Reformen anderer Art zu bequemen? „Proletari" 7ir. 20, i9. November i907.

10 Lenin, Werke, Bd. 13

Naä> dem Text des „7>ro\e\ari".

138

W.I.Cenin

R E S O L U T I O N ÜBER D I E TAKTIK DER S O Z I A L D E M O K R A T I S C H E M F R A K T I O N I N DER III. R E I C H S D U M A Ausgehend von den Resolutionen des Londoner Parteitags über die Reichsduma und über die nichtproletarischen Parteien, erachtet es die Gesamtrussische Konferenz der SDAPR für notwendig, in Weiterentwicklung dieser Resolutionen folgendes festzustellen: 1. In der III. Duma, die das Resultat des Staatsstreiches vom 3. Juni ist, sind zwei Mehrheiten möglich: eine aus Schwarzhundertern und Oktobristen bestehende und eine oktobristisch-kadettische. Die erste, die hauptsächlich die Interessen der feudalen Gutsbesitzer vertritt, ist konterrevolutionär, tritt hauptsächlich für den Schutz der Gutsbesitzerinteressen und für eine Verschärfung der Repressalien ein und geht dabei so weit, die volle Wiederherstellung der Selbstherrschaft zu erstreben. Die zweite Mehrheit, die in erster Linie die Interessen der Großbourgeoisie vertritt, ist ebenfalls absolut konterrevolutionär, ist aber geneigt, die Bekämpfung der Revolution durch einige bürokratische Schemreformen zu verschleiern. 2. Eine solche Situation in der Duma begünstigt das politische Doppelspiel sowohl von Seiten der Regierung als auch von Seiten der Kadetten außerordentlich. Die Regierung will die Repressalien verschärfen und fortfahren, Rußland mit militärischer Gewalt zu „erobern", zugleich aber als Anhängerin konstitutioneller Reformen gelten. Die Kadetten wollen sich, obwohl sie in Wirklichkeit mit den konterrevolutionären Oktobristen stimmen, nicht nur als Opposition, sondern auch als Vertreter der Demokratie ausgeben. Der Sozialdemokratie fällt unter diesen Verhältnissen ganz besonders die Aufgabe zu, dieses Spiel schonungslos aufzudecken, die Gewalttaten der Schwarzhunderter-Gutsbesitzer und der Regierung wie

Vierte Konferenz der SVAPR

139

auch die konterrevolutionäre Politik der Kadetten vor dem Volke zu enthüllen. Direkte, oder, indirekte Unterstützung der Kadetten durch die Sozialdemokratie - sei' es in Form eines Informationsbüros mit Beteiligung der Kadetten, sei es durch Anpassung des eigenen Vorgehens an ihre Politik usw.,—wäre jetzt direkte Schädigung der Klassenerziehung der Arheitermassep. und. der Sache der Revolution. . 3. Indem die. Sozialdemokraten ihre sozialistischen Ziele verfechten und von diesem,Standpunkt aus an allen bürgerlichen Parteien Kritik üben, müssen sie in den Vordergrund ihrer Agitation die Aufklärung der breiten Volksmassen über die Tatsache rücken, daß die III. Duma den Interessen und Forderungen des Volkes in keiner Weise entspricht, und im Zusammenhang damit wirkungsvoll und energisch den Gedanken einer in allgemeiner, direkter, gleicher und geheimer Wahl gewählten Konstituierenden Versammlung propagieren. 4. Zu den Hauptaufgaben der Sozialdemokratie in der III. Duma gehört die Aufdeckung des wahren Klasseninhalts der Anträge der Regierung und der Liberalen bei gleichzeitiger systematischer Gegenüber1 Stellung der Forderungen des sozialdemokratischen Minimalprogramms in ihrem vollen Umfang und unter besonderer Berücksichtigung der Fragen, die die ökonomischen Interessen der breiten Volksmassen berühren (Arbeiter- und Agrarfrage, Budget usw.) - um so mehr, als die Zusammensetzung der III. Duma außerordentlich reiches Material für die agitatorische Tätigkeit der Sozialdemokratie in Aussicht stellt. 5. Die sozialdemokratische Fraktion muß insbesondere darauf bedacht sein, daß Fälle, in denen die Sozialdemokraten äußerlich ebenso stimmen •wie der Schwarzhunderter- und Oktobristenblock oder der oktobristischkadettische Block, nicht im Sinne einer Unterstützung des einen oder des anderen Blocks ausgelegt werden können. 6. Die Sozialdemokraten in der Duma müssen Gesetzentwürfe einbringen und das Interpellationsrecht ausnutzen, zu welchem Zweck ein gemeinsames Vorgehen mit anderen, links von den Kadetten stehenden Gruppen notwendig ist, jedoch ohne irgendwie von Programm und Taktik der Sozialdemokratie abzuweichen und ohne Blockbündnisse irgendwelcher Art einzugehen. Die sozialdemokratische Fraktion muß den linken Dumaabgeordneten unverzüglich die Bildung eines Informationsbüros vorschlagen, das seine Teilnehmer in keiner Weise bindet, den Arbeiter-

140

TVJ.Zenin

abgeordneten jedodi die Möglichkeit gibt, die Demokratie im Geiste der sozialdemokratischen Politik systematisch zu beeinflussen. 7. Was die ersten konkreten Schritte der sozialdemokratischen Dumafiraktion betrifft, hält die Konferenz es für erforderlich, besonders zu betonen, daß es notwendig ist: 1. eine besondere Deklaration zu verlesen; 2. eine Interpellation über den Staatsstreich vom 3. Juni einzubringen; 3. die Frage der Gerichtsverhandlung gegen die -sozialdemokratische Fraktion der II. Reichsduma in der zweckmäßigsten Form in der Duma aufzurollen. „Troletari" Nr. 20, i9. November 1907.

Nadi dem 7ext des „Proletari".

141

VORBEREITUNG EINER „WIDERLICHEN ORGIE" Bei einer Einschätzung der Aufgaben der Sozialdemokratie in der zweiten russischen Duma und der Bestrebungen der russischen Liberalen schrieb der bekannte deutsche Marxist Franz Mehring, der deutsche Liberalismus gehe unter dem Deckmantel der Losung „positive Arbeit" schon seit 60 Jahren den Weg des Jammers und der Schande.57 Wenn die französische Bauernbefreiung durch die Nationalversammlung in einer einzigen Sommernacht des Jahres 1789 vollbracht wurde, so war das nach dem geflügelten Worte des gefeiertsten Helden, den die konstitutionelle Demokratie je gehabt hat, des genial-feilen Abenteurers Mirabeau, eine „widerliche Orgie", während es nach unserer (sozialdemokratischen) Auffassung positive Arbeit war. Umgekehrt: Wenn sich die preußische Bauernbefreiung sechzig Jahre hinschleppte, von 1807 bis 1865, unter unsäglichem Hängen und Würgen und grausanvruchlosem Erschlagen unzähliger Bauernexistenzen, so war: das nach Ansicht unserer Liberalen „positive Arbeit", über die sie nicht genug in die Posaune blasen können, während es nach unserer Auffassung eine „widerliche Orgie" war.

.

'

-

.

. • • " • " . : . ' • . . '

So schrieb Mehring. Man kann nicht umhin, sich jetzt seiner Worte zu erinnern, da die III. Duma zusammentritt, da die' Oktobristen im Begriff sind, eine widerliche Orgie zu vollführen, da die Kadetten bereit sind, sich mit Lakaieneifer an ihr zu beteiligen, und da sich selbst unter den Sozialdemokraten (zu unserer Schande) Plechanowanhäriger finden, die bereit sind, bei dieser Orgie mitzuhelfen. Betrachten wir alle diese Vorbereitungen etwas näher. Der Vorabend der dritten Duma war dadurch gekennzeichnet, daß ver-

142

W.l Lenin

schiedene Parteien eifrig Beratungen über ihre Taktik in der Duma abhielten. Die Oktobristen arbeiteten in ihrer Moskauer Beratung einen Programmentwurf der Parlamentsfraktion des Verbandes vom 17. Oktober aus, und ihr Redner, Herr Plewako, schwang auf dem Bankett in Moskau „das Banner der russischen konstitutionell-liberalen Partei". In drei oder vier Tagen waren die Kadetten mit ihrem V. sogenannten „Parteitag" fertig. Die linken Kadetten wurden aufs Haupt geschlagen und gänzlich aus dem kadettischen ZK verjagt (das kadettische ZK besteht aus 38 Mitgliedern, die in der „Partei" völlig das Heft in der Hand haben). Die rechten Kadetten erhielten volle Handlungsfreiheit - im Geiste des „Referats über die Taktik in der III. Duma", dieser bemerkenswerten „geschichtlichen" Rechtfertigung der „widerlichen Orgie". Die Sozialdemolcraten begannen im ZK und in der Konferenz der St.-Petersburger Organisation der SD'APR mit der Erörterungder in der III. Duma zu befolgenden Taktik. -••'•-. i • • • ' • , Das. Parlamentsprogramm der Oktobristen zeichnet sich durch das offene 'Bekenntnis zu jener konterrevolutionären Politik aus, die im Grunde genommen in der II. Duma, unter dem Deckmantel von allerhand Phrasen und Vorwänden, auch von den Kadetten betrieben wurde. So z.B. erklären die Oktobristen offen,' die Revision der Grundgesetze und des Wahlgesetzes sei „unzeitgemäß": zuerst möge vermittels „einer Reihe unaufschiebbarer Reformen" „Beruhigung" geschaffen und „der Kampf der'Leidenschaften und Klasseninteressen überwunden", werden. Die Kadetten haben das nicht ausgesprochen, aber gehandelt haben sie in der II. Duma eben so und nicht anders/Ein weiteres Beispiel. Die Oktobristen sprechen sich ,;für die Heranziehung %eines möglichst breiten Personenkreises zur .Teilnahme an der Selbstverwaltung" aus, zugleich aber auch für die „Sicherung der entsprechenden Vertretung" des Adels. Diese offen konterrevolutionäre Haltung ist ehrlicher als die Politik der Kadetten — die allgemeine, direkte, gleiche und-geheime Wahlen versprechen, in Wirklichkeit aber "sowohl in der JL als auch in der II. Duma verzweifelt gegen eine solche Wahl örtlicher Bodenkomitees kämpfen und die Zusammensetzung dieser Komitees aus Bauern und Gutsbesitzern zu gleichen Teilen vorschlagen, d.h. eben jene „Sicherung der Vertretung des Adels". Ein weiteres Beispiel. Die Oktobristen lehnen eine Zwangsenteignung des gutsherrlichen Bodens offen ab. Die Kadetten „erkennen

Vorbereitung einer „widerlidhen Orgie"

143

sie ,an", doch diese Anerkennung ist so beschaffen, daß sie in der II. Duma, als es darum geht, die Agrardebatte durch .eine allgemeine, die Anerkennung der Zwangsenteigriung enthaltende Formulierung abzuschließen, mit den Rechten gegen die Trudowiki und die Sozialdemokraten stimmen. Um der Verankerung der „Siege" der Konterrevolution willen sind die Oktöbristeh bereit, beliebige liberale Reformen zu versprechen. Dazu gehören sowohl die „Erweiterung der Budgetrechte der Duma" (hört! hört!) als auch die „Erweiterung ihrer Aufsichtsrechte über die Gesetzmäßigkeit der Regierungstätigkeit", die Sicherung der Selbständigkeit der Gerichte, die „Aufhebung der. Beschränkungen für wirtschaftliche Arbeiterorganisationen und wirtschaftliche Streiks" („sofern staatliche und öffentliche Interessen nicht bedroht sind"), die „Festigung der Grundlagen der rechtmäßigen bürgerlichen Freiheit" und so weiter und so fort. Die Regierungspartei der „Oktoberleute" wirft ebenso freigebig mit „liberalen" Phrasen um sich wie die Regierung des Herrn Stolypin selbst. Wie stellten nun die Kadetten auf ihrem Parteitag die Frage ihres Verhältnisses zu den Oktobristen? Das Häuflein der Unken Kadetten erwies sich als eine Ansammlung von Schreihälsen, die es nicht einmal verstanden, die Frage vernünftig zu stellen. Die Masse der rechten Ritter des verkleideten Oktobrismus aber schloß sich fest zusammen, um die Wahrheit in der niederträchtigsten Weise zu vertuschen. Die Hilflosigkeit der linken Kadetten trat am deutlichsten in ihrem Resolutionsentwurf zutage: im ersten Punkt werden die Kadetten aufgefordert, „auf streng oppositionellem Boden zu verharren und eine Annäherung' an die ihr (der Partei der Kadetten) geistes- und programmfremden Oktobristen abzulehnen". Der zweite Punkt aber fordert sie auf, „die Unterstützung von Gesetzentwürfen nicht zu verweigern, die das Land den Weg der Befreiung und der demokratischen Reformen führen, woher sie auch kommen mögen". Das ist einfach lächerlich, denn von niemand anders als von den Oktobristen können in der III. Duma Gesetzentwürfe kommen, die imstande sind, eine Mehrheit zu erlangen! Die Herren linken Kadetten haben ihre Niederlage vollkommen verdient, denn sie haben sich wie kümmerliche Feiglinge oder Narren benommen, nicht fähig, klipp und klar auszusprechen, daß es unanständig; ist, sich in einer solchen Duma auf eine gesetzgeberische Tätigkeit einzustellen, und daß eine gemeuiT same Stimmabgabe mit den Oktobristen bedeutet, die Konterrevolution

144

'•••.••



WA.

Lenin

zu unterstützen. Einzelne linke Kadetten verstanden das offenbar, doch als Salondemokraten, die sie sind, bekamen sie es auf dem Parteitag mit der Angst:zu tun. Wenigstens gibt Herr.Shilkin im „Towarischtsch" folgende .private" Äußerung des Kadetten Safönow wieder: „Die Fraktion, der Kadetten müßte jetzt, meiner Meinung nach, die Stellung der Trudowikigruppe der I. Duma beziehen. Opposition, zündende Reden und sonst nichts. Sie aber wollen Qesetze machen. In welcher Weise? Freundschaft, Bündnis mit den Oktobristen? Ein sonderbarer Zug nach rechts! Das ganze Land steht links, wir aber schauen nach rechts." („Towarischtsch" Nr. 407.) Anscheinend hat Herr Safonow manchmal lichte Augenblicke, da er Scham und Gewissen kennt... aber nur privat! ' Dafür aber bewiesen Herr Miljukow und seine Bände ihre alten Qualitäten als schäm- und gewissenlose Karrieristen aufs glänzendste. In der angenommenen Resolution wurde der Kern der Sache vertuscht, um das breite Publikum zu narren, so wie die liberalen Helden der parlamentarischen Prostitution stets das Volk genarrt haben. In der Resolution des Parteitags („Thesen") steht kein einziges Wort über die Oktobristen!! Unglaublich, aber wahr. Im Mittelpunkt des Parteitags der Kadetten stand die Frage der gemeinsamen Abstimmung von Kadetten und Oktobristen. Um diesen Punkt drehte sich die ganze Diskussion. Die ganze Kunst der bürgerlichen Politikaster besteht jedoch gerade darin, die Massen zu betrügen, ihre parlamentarischen Gaunerkniffe zu verheimlichen. Die am 26. Oktober vom Parteitag der Kadetten beschlossenen „Thesen über die Taktik" sind ein klassisches Dokument, das uns zeigt, erstens, wie die Kadetten sich mit den Oktobristen verschmelzen, und zweitens, wie Resolutionen geschrieben werden, die es den Liberalen ermöglichen sollen, die Massen zu betrügen. Dieses Dokument muß man mit dem „Parlamentsprogramm" des „Verbandes vom 17. Oktober" vergleichen. Man muß dieses Dokument mit dem „Referat über die Taktik" vergleichen, das Miljukow auf dem Parteitag der Kadetten erstattet hat („Retsch" Nr. 255). Hier die wichtigsten Stellen dieses Referats: „In die Opposition gedrängt, wird die Partei trotzdem" (eben - trotzdem !) „nicht die Rolle einer unverantwortlichen Minderheit spielen in dem Sinne, wie sie selbst diesen Ausdruck zur Kennzeichnung des Verhaltens der extremen Linken in der Duma gebraucht hat" (aus der Parlamentssprache übersetzt heißt das klar und deutlich: seid doch so gütig, liebe

Vorbereitung einer „widerlichen Orgie"

145

Herren Oktobristen, gebt uns ein Plätzchen, wir sind ja nur dem Namen nach Opposition!). „Sie wird die Duma-nicht als Mittel zur Vorbereitung von Aktionen außerhalb. der Duma betrachten, sondern als oberstes Staatsorgan, ausgestattet mit einem gesetzlich genau festgelegten Anteil an der höchsten Gewalt" (sind die Oktobristen nicht ehrlicher, wenn sie offen sagen: Revision der Grundgesetze ist unzeitgemäß?). „Wie in die beiden ersten, geht die. Partei auch in die III. Duma mit der festen Absicht, an deren gesetzgeberischer Arbeit aktiven Anteil zu nehmen. Diese Art Tätigkeit betrachtete die Partei stets als die wichtigste und grundlegende und setzte sie in gleichem Maße den Agitationszwecken der Linken wie der konspirativen Tätigkeit der Rechten entgegen." Nun, was die „Konspiration" anbelangt, so lügt ihr Herren ebenfalls, denn in beiden Dumas habt ihr mit den Ministern oder den Lakaien der Minister konspiriert! Verzicht auf Agitation aber ist völliger und endgültiger Verzicht auf die Demokratie. Um.sich in der III. Duma gesetzgeberisch zu betätigen, muß man sich so oder so, direkt oder indirekt, mit den Oktobristen verbinden, sich ganz und gar auf den Boden der Konterrevolution und der Wahrung ihrer Siege stellen. Die Kadetten suchen diese offenkundige Tatsache zu verschweigen. Doch, sie verplappern. sich an einer anderen Stelle des Referats: „Die Ausübung der gesetzgeberischen Initiative muß von der vorhergehenden Klarstellung der praktischen "Durchführbarkeit der Parteientwürfe abhängig gemacht werden." Die praktische Durchführbarkeit hängt von den Oktobristen ab. Die Durchführbarkeit klarstellen heißt über die Hintertreppe zu den Oktobristen laufen. Die Initiative von dieser Klarstellung abhängig machen heißt den Oktobristen zu Gefällen die eigenen Gesetzentwürfe beschneiden, heißt die eigene Politik von den „Oktoberleuten" abhängig machen. . Ein Mittelding gibt es nicht, Herrschaften. Man ist entweder eine echte Oppositionspartei und folglich nichtverantwortliche Minderheit, oder aber eine Partei aktiver konterrevolutionärer Gesetzgebung, dann aber heißt das, den Oktobristen Lakaiendienste leisten. Die Kadetten haben das zweite gewählt, und zum Lohn dafür wird die Schwarzhunderterduma, wie es heißt, den rechten Kadetten Maklakow ins Präsidium wählen! Maklakow hat es verdient. ; " .• ' i. Aber wie haben sich Sozialdemokraten finden können, die sogar jetzt

146

W. 1. Lenin

noch imstande sind, von einer Unterstützung der Kadetten zu reden? Diese Sozialdemokraten hat das Spießbürgertum der Intellektuellen, hat das Spießbürgertum des ganzen russischen Lebens hervorgebracht. Solche Sozialdemokraten hat die Plechanowsche Vulgarisierung des. Marxismus großgezogen. Auf der Konferenz der St.-Petersburger sozialdemokratischen Organisation stellte es sich heraus, daß die Menschewiki, dem Beispiel der rechten Duma folgend, noch weiter nach rechts, gehen. Sie sind bereit, die Oktobristen, d. h. eine Regierungspartei, zu unterstützen! Warum sollten denn Sozialdemokraten nicht für Chomjakow stimmen, der besser ist als Bobrinski? Das ist eine Frage der Zweckmäßigkeit! Warum nicht für Bobrinski stimmen, wenn man nur zwischen ihm und Purischkewitsch die Wahl hat? Warum nicht die Oktobristen gegen die Schwarzhunderter unterstützen, wo doch Marx gelehrt hat, die Bourgeoisie gegen die Feudalen zu unterstützen68? Ja, wir schämen uns, es zu gestehen, es wäre aber Sünde, es zu verheimlichen : Plechanow hat erreicht, daß seine Menschewiki eine unerhörte Schändung der Sozialdemokratie begehen. Wie ein richtiger „Mann im Futteral" wiederholte er in einem fort die auswendig gelernten Worte von der „Unterstützung der Bourgeoisie", und so hat er schließlich durch die ständige Wiederholung jedes Verständnis für die besonderen Aufgaben und die besonderen Bedingungen des Kampfes des Proletariats in der Revolution wie des Kampfes gegen die Konterrevolution getrübt. Bei Marx dreht sich die ganze Analyse der revolutionären Epochen um den Kampf der wahren Demokratie und besonders des Proletariats gegen konstitutionelle Illusionen, gegen den Verrat des Liberalismus, gegen die Konterrevolution. Plechanow anerkennt Marx — zurechtgemacht ä la Struve. Mag Plechanow jetzt ernten, was er gesät! Der konterrevolutionäre Charakter des Liberalismus in der russischen Revolution ist durch den ganzen Lauf der Ereignisse vor und besonders nach dem 17. Oktober bewiesen. Die dritte Duma wird auch die Blinden sehend machen. Die Annäherung der Kadetten an die Oktobristen ist eine politische Tatsache. Durch keine Ausreden und Ausflüchte kann sie vertuscht werden. Mag die Zeitung der stumpfsinnigen Bernsteinianer, der „Towarischtsch", sich einmal auf hilfloses Jammern darüber beschränken and dann wieder die Kadetten den Oktobristen zutreiben und sich mit politischer Kuppelei befassen. Die Sozialdemokratie muß die Klassen-

Vorbereitung einer „widerlichen Orgie"

147

gründe des konterrevolutionären Charakters des russischen Liberalismus begreifen. Die Sozialdemokratie muß in der Duma schonungslos alles Liebäugeln der Kadetten mit den Oktobristen, die ganze Niedertracht des quasidemokratischen Liberalismus enthüllen. Die Arbeiterpartei wird jeden Gedanken vom „Hüten des Fläminchens" verächtlich von sich weisen, sie wird das Banner des Sozialismus, das Banner der Revolution entfalten! „?ro\etari" 3Vr. 19, 5. November 1907.

TSadi dem 7ext des „Troletari".

148

UND WER SIND DIE RICHTER? Schadenfrohes Kichern über die Spaltung zwischen Menschewiki und Bolschewiki in der SDAPR überhaupt und über den scharfen Kampf auf dem Londoner Parteitag insbesondere ist in der bürgerlichen Presse zu einer steten Erscheinung geworden. Niemand denkt daran, die Differenzen zu ergründen, beide Tendenzen zu analysieren, die Leser mit der Geschichte der Spaltung und mit dem ganzen Charakter der Divergenz zwischen Menschewiki und Bolschewiki bekannt zu machen. Die Publizisten von der „Retsch" und vom „Towarischtsch", die Herren Wergeshski, J. K., Perejaslawski und andere penny-a-liner (Zeilenschinder), greifen einfach allerlei Gerüchte auf, sammeln für die übersättigten Salonschwätzer „pikante" Einzelheiten über „Skandale" und sind in jeder Weise bemüht, die Hirne durch Anekdötchen über unseren Kampf zu verwirren. In dieses Genre geistlosen Witzeins verfallen auch die Sozialrevolutionäre. Im Leitartikel von Nr. 6 des „Snamja Truda"59 zerren sie einen Bericht Tscherewanins über einen Fall von Hysterie auf dem Londoner Parteitag hervor, sie kichern über die ausgegebenen „Zehntausende", schmatzen vor Vergnügen über das „nette Bild der inneren Lage der russischen Sozialdemokratie im gegenwärtigen Moment". Den Liberalen dienen solche Einleitungen als Obergang, um die Opportunisten ä la Plechanow zu lobpreisen, den Sozialrevolutionären, um Strafpredigten gegen sie zu halten (die Sozialrevolutionäre wiederholen jetzt die Argumente der revolutionären Sozialdemokraten gegen den Arbeiterkongreß! Plötzlich haben sie sich besonnen!). Doch bei den einen wie bei den anderen ist es die gleiche Schadenfreude über den schweren Kampf innerhalb der Sozialdemokratie.

Und wer sind die Richter ?

149

Wir wollen einige Worte über die liberalen Helden dieses Feldzugs sagen und dann ausführlich auf die Sozialrevolutionären Helden des „Kampfes gegen den Opportunismus" eingehen.. Die Liberalen kichern über den Kampf innerhalb der Sozialdemokratie, um dadurch zu verhüllen, wie sie systematisch die Öffentlichkeit über die Kadettenpartei hinters Lidbt führen. Bei ihnen ist alles Betrug, die inneren Kämpfe in der Kadettenpartei selbst, ihre Verhandlungen mit der Obrigkeit werden systematisch verheimlicht. Jedermann weiß, daß die linken Kadetten den rechten die Leviten lesen, jedermann weiß, daß die Herren Miljukow, Struve und Co. bei Stolypin und Co. antichambrierten. Doch die genauen Tatsachen bleiben verborgen. Die Differenzen werden verkleistert, über die Diskussionen der Herren Struve und Co. mit den linken Kadetten wird kein Wort mitgeteilt. Protokolle der Parteitage der Kadetten gibt es nicht. Die Liberalen teilen weder die Gesamtzahl ihrer Parteimitglieder noch die Mitgliederzahlen der einzelnen Organisationen mit. Die Richtung der verschiedenen Komitees bleibt unbekannt. Nichts als Dunkel, nichts als offizielle Lügen der „Retsch", nichts als Betrug an der Demokratie, verübt von den Ministerbesuchern - das ist die Kadettenpartei. Advokaten und Professoren, die vermittels des Parlamentarismus Karriere machen, verurteilen pharisäerhaft die illegale Betätigung, preisen die offene Tätigkeit der Parteien, verhöhnen aber in Wirklichkeit das demokratische Prinzip der Öffentlichkeit und verheimlichen dem Publikum die verschiedenen politischen Tendenzen in ihrer eigenen Partei. Es bedarf der ganzen Kurzsichtigkeit des vor Miljukow auf den Knien liegenden Plechanow, um diesen ungeschlachten, schmutzigen, mit einem Kulturfirnis übertünchten kadettischen Betrug an der Demokratie nicht zu bemerken. Nun, und die Sozialrevolutionäre? Erfüllen etwa sie die Pflicht ehrlicher "Demokraten (von Sozialisten sprechen wir nicht, wenn von Sozial^ revolutionären die Rede ist), dem Volk eine klare und wahrheitsgetreue Darstellung von dem Kampf der verschiedenen politischen Tendenzen in den Reihen derjenigen zu geben, die das Volk führen wollen? Betrachten wir die Tatsachen. • Parteitag der Sozialrevolutionäre im Dezember 1905;. der erste und der einzige, von dem Protokolle veröffentlicht-wurden. Herr Tutschkin, Delegierter des Zentralorgans, ruft aus: „Einstmals waren, die'Sozial-

150

.: •••".

"W.1. Lenin

demökraten offenbar ganz "ehrlich überzeugt, die politischen Freiheiten würden fürunsere Partei den politischen Tod bedeuten . . i.Doch die Zeit der Freiheiten hat etwas anderes bewiesen." (S. 28 der Ergänzung zu den Protokolleri.) Aber, Herr Tutschkin, Hegen die Dinge wirklich, so? Hat die Zeit der Freiheiten das bewiesen? Hat die tatsächliche Politik der Partei der Sozialrevolutionäre 1905 r 1906,1907 das bewiesen? •-.:;. -. Betrachten wir die Tatsachen. .-•' . : . In den.Protokollen des Parteitags der.Sozialrevolutionäre. (Dezember 1905; veröffentlicht!906J) lesen wir, daß einzig.und allein die;Literatehr gruppe, die auf ..diesem Parteitag beratende Stimme hatte, nach dem 17. .Oktober „vor dem ZK der Sozialrevolutionäre auf der Organisierung einer legalen Partei bestand" (S. 49 der Protokolle; die weiteren Zitate aus derselben Quelle). Dem Zentralkomitee der. Sozialrevolutionäre „wurde: vorgeschlagen, nicht eine legale Organisation der Partei der Sozialrevolutionäre, zu schaffen, sondern eine besonderer ihr parallele Volkssozialistische Partei" (S. 51). Das ZK wies diesen Vorschlag zurück und stellte; die Frage auf :dem Parteitag zur Diskussion. Der Parteitag hat dön Vorschlag der Volkssozialisten mit allen Stimmen gegen eine bei sieben Stimmenthaltungen,abDas hat die deutsche Statistik, wie wir gesehen haben, unwiderleglich für Betriebe unter 2 ha, teilweise aber auch für solche bis zu 5 ha bewiesen; Aus den nachstehend angeführten Daten über den Viehbestand in den Wirtschaften der verschiedenen Gruppen werden wir ersehen, daß für die Masse dieser vielgerühmteh Vertreter der „Kleinkultur" von einer wirklich selbständigen und auch, nur einigermaßen stabilen Landwirtschaft keine Rede sein kann. 47,2% der Wirtschaften, d. h. nahezu die Hälfte, gehören Proletariern und Halbproletariern (ohne Land und bis zu 2,5 ha); 25%, das heißt ein weiteres Viertel der Wirtschaften (2,5-10 ha), gehören bedürftigen Kleinbauern. So sieht die Qrundlage für das: „Gedeihen" des landwirtschaftlichen Kapitalismus in Dänemark aus. Natürlich kann man sich auf Grund von-Angaben, die die Bodenfläche betreffen, über ein Land mit hochentwickelter Marktviehzucht nur ein ganz allgemeines, summarisches Urteil bilden. Die Angaben über die Viehzucht jedoch, die wir weiter unten ausführlich behandeln werden, bekräftigen,. wie der Leser sehen wird, die von uns gezogenen Schlußfolgerungen nur noch mehr. Betrachten wir nun die Veränderungen, die in Dänemark:in der.Zeit

196

'W.I.Lenin

von. 1873 bis'l 895 in der Bodenverteilung zwischen den Groß- und Kleinbetrieben stattgefunden haben. Hier springt sofort das typisch kapitalistische Erstarkender äußersten Gruppen und die Schwächung der mittleren Wirtschaften'ins Auge. Der prozentuale Anteil der landwirtschaftlichen Betriebe .-(d.h.-die landlosen Wirtschaften ausgenommen) steigt bei den kleinsten Betrieben bis zu 2,5 ha: 27,9% im Jahre 1873; 31,8% im Jahre 1885 und;34;8% im Jahre 1895. Dieser Anteil fällt weiterhin bei allen mittleren Gruppen.und bleibt nur bei der höchsten Gruppe mit 120 und mehr Hektar unverändert (0,7%). Der prozentuale Anteil am gesamten Boden steigt bei den größten Betrieben mit" 120 und mehr Hektar-. 14,3% - 1 5 , 2 % -1.5,6% in den gleichen drei Jahren; ferner sieigt er in geringerem Maße bei den mittleren Bauernwirtschaften (10 bis 40 ha: 25,5% 26,5% - 26,8%); bei gleichzeitiger Verringerung des Anteils der Gesamtzahl der Wirtschaften dieser Gruppe; dann steigt er unregelmäßig bei den Wirtschaften mit 2,5-10 ha ( 9 , 1 % -^ 9,5% - 9,4%) und steigt ununterbrodhefi bei den kleinsten Wirtschaften (1,5-1,7-1,8). Hieraus ergibt sich eine ganz klar ausgeprägte Tendenz des.Wachstums der größten und der kleinsten Betriebe. Um ein klares Bild von dieser Erscheinung zu gewinnen, muß man die Durchschnittsgröße der Betriebe in den einzelnen Gruppen und einzelnen Jahren nehmen. Hier die entsprechenden Angaben:

Darchsdinittsgröße der Wirtschaften ' - . (in Hektar) • • • - . •

'—„'•

1873

. 1885

1895

Wirtschaften unter 2,5 ha mit 2,5-10 ha „ 10 - 4 0 ha „ „ 40 -12O.ha „ .' , „ 120 and mehr ha

.

0,33 5,08 22,28 61,00 281,40

0,75 5,09 22,08 61,66 282,30

0,68 5,13 22,01 61,97 279,S0

Im •Dur&sdbnM

15,50

14,07

13,70

Aus diesen Angaben geht hervor, daß der Umfang der Wirtschaften in den meisten Gruppen äußerst stabil ist. Die Schwankungen sind verschwindend gering: 1-2% (zum Beispiel'279,8-282,3 ha oder 22,01 bis 22,28 ha usw.). Eine Ausnahme bilden nur die kleinsten Wirtschaften, die zweifellos zersplittern: Rückgang der Durchschnittsgröße dieser Wirtschaften (bis zu 2,5 ha) von 1873 bis 1885 um i 0 % (von 0,83 auf 0,75 ha), dasselbe auch für die Zeit von 1885 bis 1895. Die allgemeine Zunahme der Gesamtzahl-der Wirtschaften vollzieht sich in-Dänemark

Vie Agrarfrage und die „Marxkxitiker"

197

bei fast gleichbleibender Gesamtbodenflädie (von 1885 bis 1895 ist sogar eine kleine Abnahme der Gesamtbodenfläche zu verzeichnen). Dabei entfällt der größte Teil der Zunahme auf die kleinsteh Wirtschaften. So nahm die Gesamtzahl der Wirtschaften von 1873: bis 1895 um 30752 zu, während die Zahl der Wirtschaften bis zu 2,5 ha um 27166 zunahm. Es ist klar, daß unter solchen Bedingungen die Abnahme der Durchschnittsgröße aller Wirtschaften in Dänemark überhaupt (15,5 ha im Jahre 1873, 14,1 im Jahre 1885 und 13,7 im Jahre 1895) in Wirklichkeit aussdoließlidj die Zersplitterung der kleinsten Wirtschaften bedeutet. Die von uns vermerkte Erscheinung tritt noch klarer zutage, wenn man eine stärkere Unterteilung der Größenklassen vornimmt. Im Vorwort zur Landwirtschaftsstatistik Dänemarks für 1895 („Danmarks Statistik etc. Danmarks Jordbruk;", 4-de JRaekke, Nr. 9, litra C*) geben die Verfasser folgende Berechnung der Veränderung der Zahl der Wirtschaften in den einzelnen Gruppen: Zu- oder Abnahme in % 1885-1895 1873-1885 Wirtschaften m it 300 nnd mehr ha ha , 200 -300 , 1 2 0 -200 ha 80 -120 ha 40 - 80 ha 20 - 4 0 . ha ha 10 - 2 0 . 2,5- 10 ha 0,3- 2,5 ha ii t 0 - 0:3 ha t

+ 4,2 0

+ 5,2 - 1,5 " — 2,4 '

+ 1,0

+ 5,6 + 6,1 . .+ 5,1.. — 2,1 5,0

+ 3,6 + .6,5 + 3,2 + 2,1 + 17,8 + 25;i ' + 37,9 Eine Zunahme ist somit bei jenen Zwergwirtschaften festzustellen, die sich entweder- mit Speziallculturen befassen oder- „Wirtschaften" von Lohnarbeitern darstellen. - Diese Schlußfolgerung verdient hervorgehoben zu werden, weil die apologetische professorale „Wissenschaft" geneigt ist, von der Abnahme der Durchschnittsgröße aller Wirtschaften überhaupt darauf zu schließen, daß die Kleinproduktion in der Landwirtschaft den Sieg über die Großproduktion erringt. In Wirklichkeit sehen wir einen Fortschritt-der größten landwirtschaftlichen Betriebe, eine Stabilität des Betriebsumfangs in allen Gruppen außer der kleinsten und eine Zersplitterung der Wirtschaf * „Dänemarks Statistik usw. Dänemarks Landwirtschaft", 4. Serie, Nr. 9, Litera C. Die Ked. + 2,8 . . •. — 1,9

198 ten in dieser letztgenannten. Diese Zersplitterung: muß dem Niedergang und der Verarmung des landwirtschaftlichen Kleinbetriebs zugeschrieben werden: eine andere mögliche Erklärung, nämlich der Übergang von der Agrikultur in engerem Sinne zur Viehzucht, kann nicht für die kleinsten Betriebe insgesamt angenommen werden, denn dieser Übergang vollzieht sich, wie wir gleich sehen werden, in allen Gruppen. In einem Lande wie Dänemark sind für die Beurteilung der Größe des Betriebes eines Landwirts die Angaben über die Viehzucht viel wichtiger als diejenigen über die Bodenfläche, denn auf ein und derselben Bodenfläche sind Betriebe verschiedener Größe möglich, wenn-Viehzucht und Milchwirtschaft sich besonders rasch entwickeln. Gerade diese Erscheinung ist bekanntlich in Dänemark zu beobachten. Das „Gedeihen" der dänischen Landwirtschaft hängt in der Hauptsache von den raschen Fortschritten der Marktviehzucht mit ihrem Export von Milchprodukten, Fleisch, Eiern usw. nach England ab. Hier'stoßen wir auf die feierliche Erklärung Pudors: „ Qerade dieser Dezentralisierung des dänischen Viehstandes und der Viehwirtschaft ist der kolossale Aufschwung der dänischen Milchwirtschaft zu danken." (1. c, S. 48, von Pudor hervorgehoben.) Daß Pudor, der dem Gesamtsystem seiner Auffassungen nach ein Krämer reinsten Wassers ist und nicht das geringste von den kapitalistischen Widersprüchen versteht, sich eine solche Entstellung der Tatsachen erlaubt, ist nicht verwunderlich. Höchst bezeichnend ist es aber, daß auch der Kleinbürger David, der irrtümlicherweise zu den Sozialisten gezählt wird, kritiklos den gleichen Unsinn wie Pudor schwatzt! In Wirklichkeit zeigt uns gerade Dänemark besonders anschaulich die "Konzentration der Viehzucht in einem kapitalistischen Land. Pudor konnte nur infolge seiner krassen Ignoranz und der Entstellung jener "Bruchstücke der Statistik/die er in seinem Machwerk anführt, zu einer entgegengesetzten Schlußfolgerung gelangen. Pudör führt Zahlen an - und David wiederholt sie sklavisch -, die die Verteilung aller mit Viehzucht beschäftigten Wirtschaften Dänemarks nach der Menge des Viehs zeigen. Nach Pudor erweist es sich, daß 39,85% aller 7>ieb besitzenden Wirtschaften nur 1-3 Stück Vieh besitzen, femer 29,12% je 4-9 Stück usw. Also, folgert Pudor, handelt es sich bei der Mehrzahl der Wirtschaften um „Kleinbetriebe"; es herrscht „Dezentralisation" usw. Erstens führt Pudor fälsche Zahlen an. Das muß betont werden, denn

Die Agrarfrage und die „Marxkritiker"

199

besagter Pudor erklärt prahlerisch, in seiner Arbeit könne man alle „neuesten" statistischen Angaben finden; die Revisionisten aber „widerlegen den Marxismus" unter Berufung auf unwissende bürgerliche Skribenten: Zweitens, und das ist die Hauptsache, wird die Art und "Weise, wie die Pudor und David argumentieren, von unseren Kadetten und Volkstümlern viel zu "oft wiederholt, als daß wir darüber hinweggehen könnten. Bei einer solchen Art und Weise des Argnmentierens wird man unvermeidlich auf eine „Dezentralisierung" auch der Industrie in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern schließen müssen, denn überall und immer ist der Prozentsatz der kleinsten und kleinen Unternehmen der höchste, der Prozentsatz der Großbetriebe dagegen verschwindend klein. Die Pudor und David vergessen eine „Kleinigkeit": die Konzentration des überwiegenden Teils der gesamten Produktion in der kleinen Anteilgruppe der Großbetriebe. . '••'-• Die -wirkliche Verteilung des gesamten Rinderbestands in Dänemark war nach der letzten, am 15. Juli 1898 vorgenommenen Zählung die folgende*: Zahl der Wirts diaften

Zahl der Rinder

%

Mit tt tt ff

rt tr

n tt

rr rr ir

1 Rind ....: 18 376 v " 10,2 15,2 2 Rindern 27 394 12,5,. 3 „ , ' 22 522 4-5 „ , 27 561 " 15,2 : 6-9 „ 26 022 14,4 11,3 : 10- 14 20 375 15- 29 30 460 - 16,9 30- 49 5 650 3,1 .1498 0,8 ' 50- 99 100-199 .. 588 0,3 200 und mehr „ 0,1 ', 195 Insgesamt

180641

100,0

•-

%

. 18 376 . 54 788 67 566 121 721 188 533 242 690 615507 202 683 99131 81417 52 385

^1,0 3,1 3,9 ... 7,0 10,8 13,9 35,3 11,6 5,7 4,7 3,0

1744797

100,0

* „Danmarks Statistik. Statistisk Tabelv

-.

Dann Wirtsdi. a) b) 11,5 Mill. c) 1,53 „ d) 13,03

. :

Desjatinen _

.

217 Mill. 63 „ •

••

.



'

280

.



je Hof 18,8 Desj. > „ 41,1 „ •

"

'

.





:

:

21,4 .

+ 50 - Die grundlegenden Schlüsse über Charakter und Wesen der Umwälzung bleiben in beiden Fällen die, gleichen. •; . : •;

228

TV.1. Lenin 3. Die Vertuschung des Wesensinhaltes des "Kampfes 'durch die kadettischen Publizisten

Das angeführte Material über die Rolle der größten Gutswirtschaften im Kampf um den Boden in Rußland muß in einer Beziehung ergänzt werden. Es ist ein charakteristisches Kennzeichen der Agrarprogramme unserer Bourgeoisie und unseres Kleinbürgertums, daß die Frage, welche Klasse der stärkste Gegner der Bauernschaft ist, welche Besitzungen die Hauptmasse des zu expropriierenden Fonds bilden, durch Erwägungen über „Normen" verkleistert wird. Man spricht (sowohl die Kadetten als auch "die Trudowiki) vorwiegend davon, wieviel Boden die Bauern nach der einen oder der andern „Norm" braudien - statt von etwas ungleich Konkreterem und Lebendigerem zu sprechen: wieviel Boden,es gibt, der expropriiert werden kann. Die erste Art der Fragestellung-vertuscht den Klassenkampf, verschleiert den Kern der Sache durch die leeren Prätentionen, einen „staatsmännischen" Standpunkt-einzunehmen. Die zweite Art der Fragestellung verlegt den ganzen Schwerpunkt auf den Klassenkampf, auf die Klasseninteressen einer bestimmten- grundbesitzenden Schicht, die die fronherrlichen Tendenzen am deutlichsten vertritt. An anderer Stelle werden wir uns noch mit der Frage der „Normen" zu beschäftigen haben. Hier möchten wir nur auf eine „rühmliche" Ausnahme unter den Trudowiki und auf einen typisch kadettischen Publizisten verweisen. In der zweiten Duma berührte der Volkssozialist Delarow die Frage, welcher Prozentsatz der Grundbesitzer von der Enteignung betroffen sein •wird (47. Sitzung, 26. Mai 1907). Und zwar sprach der Redner.von Enteignung (zwangsweiser Enteignung), ohne die Frage der Konfiskation aufzuwerfen, und er ging offenbar von der gleichen Enteignungsnorm aus, die ich in meiner Tabelle angenommen habe, nämlich: 500 Desj. Bedauerlicherweise ist der entsprechende Passus von Delarows Rede im stenografischen Bericht der II. Duma (S. 1217) entstellt, oder Delarow ist selber ein Fehler unterlaufen. Im Bericht heißt es, die zwangsweise Enteignung werde 3 2 % der Privatbesitzungen und 9 6 % ihres gesamten Grund und Bodens betreffen - die übrigen 6 8 % der Besitzer aber hätten nur 4 % des privaten Grundbesitzes in ihren Händen. In Wirklichkeit müßte es heißen: statt 3 2 % - 3,7%, denn 27-833 Grundbesitzer

Bas Agrarprogramm der Sozialdemokratie

229

von 752 881, das sind 3,7%; an Boden haben sie 62 Mill. Desj. von 85,8 Mill., d.h. 72,3%. Es bleibt unklar, ob sich Herr Delarow versprochen hat, oder ob er sich unrichtiger Zahlen bediente. Jedenfalls ist er, wenn wir uns nicht irren, der einzige von den zahlreichen Dümarednern, der wirklich die Frage, worum der Kampf im unmittelbarsten, konkretesten Sinne geht, angeschnitten hat. Ein kadettischer Publizist, dessen „Werke" bei der Darlegung dieser Frage nicht mit Schweigen übergangen werden dürfen, ist Herr S. Proköpowitsch. Wohl ist er eigentlich ein „Bessagläwze"*, und er tritt - so wie die Mehrzahl der Mitarbeiter der bürgerlichen Zeitung „Towarisditsch" - bald als Kadett, bald als menschewistischer Sozialdemokrat auf. Er ist unter den russischen bürgerlichen Intellektuellen ein typischer Vertreter jenes Häufleins konsequenter Bernsteinianer, die zwischen Kadetten und Sozialdemokraten schwanken, die (meistenteils) keiner Partei angehören und in der liberalen Presse systematisch einen ein klein wenig rechteren Ton anschlagen als Plechanow. Herr Prokopowitsch muß hier erwähnt werden, weil er als einer der ersten in der Presse-Zahlen aus der Grundbesitzstatistik von 1905 angeführt und sich dabei faktisch auf den Boden der kadettisdhen Agrarreform gestellt hat. In zwei Artikeln, veröffentlicht im „Towarischtsch" (1907, Nr. 214 vom 13. März und Nr. 238 vom 10. April), polemisiert Herr Prokopowitsch mit dem Bearbeiter der offiziellen Statistik, dem General Solotarjow, der beweisen will, daß die Regierung ohne jede Zwangsenteignung ganz gut mit der Agrarreform zurechtkommen könne und daß der Bauer für seine Wirtschaftsführung an 5 Desjatinen je Hof vollkommen genug habe! Herr Prokopowitsch ist liberaler; er nimmt 8 Des/, je Hof an/Er bemerkt zwar zu wiederholten Malen, dies sei „völlig ungenügend", es sei dies eine „höchst bescheidene" Berechnung usw., aber trotzdem nimmt er für die Bestimmung der „Größe des Landmangels" (so lautet der Titel des ersten der obengenannten Artikel des Herrn Prokopowitsch) eben diesen Wert an. Dabei erklärt er, er täte das, „um überflüssige Diskussionen zu vermeiden" ... wohl „überflüssige Diskussionen" mit Herrn Solotarjow' und seinesgleichen? Indem Herr Prokopowitsch die Zahl der „unzweifelhaft landarmen" Bauernhöfe auf diese Weise auf die Hälfte ihrer Gesamtzahl reduziert, stellt er ganz * Bessaglawzen - halbkadettische Gruppe, die 1906 in Petersburg die Zeitschrift „Bes -Saglawija" (Ohne Titel) herausgab.' Der Tibers.

230

••:.:.- • .;•••.•

W. 7.

Lenin

richtig fest,, daß 18,6 Mill. Desj. erforderlich wären, um ihren Bodenbesitz auf 8 Desj. je Hof zu bringen; da aber die Regierung Tiber einen Bodenfonds von angeblich nur 9 Miü. Desj. verfüge, so „wird man ohneZwangsenteignung nicht auskommen". : In seinen Berechnungen und Betrachtungen hat dieser menschewisierende Kadett oder kadettisierende Menschewik Sinn und Geist des liberalen Agrarprogramms ausgezeichnet zum Ausdruck gebracht. Die eigentliche Frage der fronherrlichen Latifundien und der Latifundien überhaupt ist gänzlich verwischt. Herr Prokopowitsch bringt Zahlen nur über den privaten Grundbesitz von mehr als 50 Desjatinen in seiner Gesamtheit. So bleibt das, was eigentlich den Gegenstand des Kampfes bildet, vertuscht, über die Klasseninteressen einer Handvoll - buchstäblich einer Handvoll - Landlords ist ein Schleier gebreitet. Statt ihrer Enthüllung haben wir da den „staatsmännischen" Gesichtspunkt: Mit fiskalischen Ländereien allein „wird man nicht auskommen". Könnte man es, so würde Herr Prokopowitsch - das geht aus seiner Betrachtung hervor — gegen die fronherrlichen Latifundien nichts einzuwenden haben . . . Als Größe des bäuerlichen Bodenanteils wird eine Hungernorm angesetzt (8 Desj.). Der Umfang der „Zwangsenteignung" der Gutsbesitzer wird lächerlich gering gewählt (18-9 = 9 Mill. Desjatinen von den 62 Mill. Desjatinen der Besitzungen über 500 Desj.!). Um eine solche „Zwangsenteignung" durchzuführen, müssen — wie 1861 - die Qutsbesitzer die Bauern zwingen! Ob mit oder ohne Absicht, ob bewußt oder unbewußt, so hat Herr Prokopowitsch doch den gutsherrlichen Wesenskern des Agrarprogramms der Kadetten treffend zum Ausdruck gebracht. Die Kadetten sind nur vorsichtig und schlau: sie ziehen es vor, sidi überhaupt darüber auszuschweigen, wieviel Boden sie eigentlich von den Gutsbesitzern zu expropriieren geneigt sind.

4. Der ökonomische IVesenskern der AgrarumwtHzung und ihre ideologischen Qewandungen . Wir haben gesehen, daß der Wesenskern der vor sich gehenden Umwälzung die Liquidierung der fronherrlichen Latifundien und die Schaf-

Das Agrarprogrdmm. derSozialdemokratie

231

fung einer freien und (soweit es unter den gegebenen Verhältnissen möglich ist) wohlhabenden ackerbautreibenden Bauernschaft ist, einer Bauernschaft, die nicht ein kümmerliches Dasein fristet, die sich.nicht auf ihrer Scholle abplagt, sondern die imstande ist, die Produktivkräfte zu entwickeln, die.landwirtschaftliche Kultur vorwärtszubringen. Der Kleinbetrieb in der Landwirtschaft, die Herrschaft des ^Marktes über den Produzenten und folglich die Herrschaft der "Warenproduktion werden von dieser Umwälzung überhaupt nicht berührt, können gar nicht von ihr berührt werden, denn der Kampf um die Neuverteilung des Bodens vermag die Produktionsverhältnisse in der Wirtschaft auf diesem Boden nidit zu ändern. Wir haben aber gesehen, daß eine Besonderheit dieses Kampfes in der starken Entwicklung der Kleinwirtschaft auf dem Grund und Boden der fronherrlichen Latifundien besteht. Die ideologische Gewandung des sich abspielenden Kampfes sind die Volkstümlertheorien. Das offene Auftreten der Bauernvertreter ganz Rußlands in der I. und II. Duma mit Agrarprogrammen hat den endgültigen Beweis dafür erbracht,; daß die Volkstümlertheorien und Volkstümlerprogramme tatsächlich die ideologische Gewandung des Bauernkampfes um den Boden sind. . Wir haben gezeigt, daß die großen fronherrlichen Güter die Grundlage, den Hauptbestandteil des Bodenfonds bilden, um den die Bauern kämpfen. Die Expropriationsnorm haben wir sehr hoch angesetzt - 500 Desj. Man kann sich jedoch leicht überzeugen, daß der von uns gezogene Schluß auch bei beliebiger Herabsetzung dieser Norm - sagen wir auf 100 oder 50 Desj. — bestehenbleibt.- Wir teilen die Gruppe c) - 20 bis 500 Desj. - in drei Untergruppen: aa) 20-50 Desj.; bb) 50-100 Desj.; cc) 100-500 Desj., und betrachten nunmehr den Umfang des Besitzes an Anteilland und des privaten Grundbesitzes entsprechend dieser Einteilung: Anteilland i

Untergruppen

Zahl der Besitzungen

20- 50 Desj. 1 062 504 50-100 „ 191898 100-500 „ 40658

Gesamtbesitz

Durchschnitt je Besitzung inDesjatinen

30 898147 12259171 .: 5 762 276 .

29,1 r -63,9 141,7 - :

232

W. 1. Lenin Privater Grundbesitz

Insgesamt im Europ. Rußland

Zahl der Gesamtbesitz Durchschnitt - Besitzungen je Besitzung inDesjatinen

103 237 44877 61188

3 301004 3229858 14096637

32,0 71,9 230,4

:'

Zahl der Besitzungen

1165 741 236775 101846

Gesamtbesitz

Durchschnitt je Besitzung in D e s jatine.n .

34199 151 15489029 19858913

29,3 65,4 194,9

Hieraus ist erstens zu ersehen, daß die Konfiskation der Ländereien über 100 Desj. den Bodenfonds, wie schon oben gesagt, um 9-10 Mill. Desj. vergrößern würde, während die von Tschishewski, einem Abgeordneten der I. Reichsduma, vorgesehene Konfiskation des Grundbesitzes über 50 Desj. den Bodenfonds um I8V2 Mill. Desj. vergrößert. Folglich bleiben die fronherrlichen Latifundien auch in diesem Falle die Grundlage des Bodenfonds. Sie bilden den „Kernpunkt" der Agrarfrage in der Gegenwart. Bekannt ist auch die Verbindung zwischen diesem Großgrundbesitz und der Oberschicht der Bürokratie: G. A. Alexinski hat in der II. Duma die Angaben des Herrn Rubakin wiedergegeben, wie groß der Grundbesitz der höheren Beamten in Rußland ist. Zweitens ist aus diesen Angaben zu ersehen, daß auch dann, wenn man von den Bodenanteilen und - Gütern mit über 100 Des/, absieht, immer noch große Unterschiede zwischen den größten Bodenanteilen (und den kleinen Gütern) bestehenbleiben. Die Umwälzung findet die Bauernschaft bereits differenziert vor, sowohl nach der Größe des Bodenbesitzes als auch, in noch größerem Maße, nach der Höhe des Kapitals, nach dem Viehbestand, nach Menge und Beschaffenheit des toten Inventars usw. Daß die Differenzierung im Bereich- sozusagen - außerhalb des Anteilbesitzes der Bauern viel beträchtlicher ist als im Bereich des Anteillandbesitzes, ist in unserer ökonomischen Literatur zur Genüge bewiesen. Welche Bedeutung haben nun die Volkstümlertheorien, die mehr oder weniger richtig die Auffassungen der Bauern von ihrem Kampf um den Boden widerspiegeln? Zwei „Prinzipien" bilden den Wesenskern dieser Volkstümlertheorien: das „Arbeitsprinzip" und,die „Ausgleichung". Die kleinbürgerliche Natur dieser Prinzipien ist so klar und wurde in der marxistischen Literatur so; oft und so eingehend bewiesen, daß es sich erübrigt, auch noch an dieser Stelle darauf einzugehen. Wichtig ist es aber, eine Eigenheit dieser „Prinzipien" zu vermerken, die von den russi-

Bas Agrarprogrämm der Sozialdemokratie

233

sehen Sozialdemokraten bisher noch nicht nach Gebühr gewürdigt worden ist. In anklarer Form bringen diese Prinzipien 'tatsädäish etwas zum AUST druck, was:"im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick jreal ünd./ortsdhrittUdb ist. Was sie zum Ausdruck bringen, ist nämlich, der. Vermehr tungskampf gegen die fronherrlichen Latifundien. .-:••.•••". Man betrachte: das oben angeführte Schema der Evolution unserer Agrarordnung von der heutigen Lage bis zum „Endziel" der gegenwärtigen, bürgerlichen Umwälzung. Man wird deutlich sehen, daß sich das künftige „Dann" vom heutigen. „Jetzt" durch eine'bedeutend stärkere „Ausgleichung" des Bodenbesitzes unterscheidet, daß die neue Bodenverteilung dem „Arbeitsprinzip" ungleich mehr entspricht. Und das ist durchaus kein Zufall. Es kann gar nicht anders sein in einem Bauernland, dessen bürgerliche Entwicklung es,aus der Fronherrschaft befreit. Die Liquidierung der fronherrlichen Latifundien ist in einem solchen Land: ein unbedingtes Erfordernis der kapitalistischen Entwicklung. Bei einem Überwiegen der Kleinwirtschaft bedeutet das aber unfehlbar eine größere „Ausgleichung" des Grundbesitzes. Zerschlägt man die mittelalterlichen Latifundien, so beginnt der Kapitalismus mit einem mehr „ausgeglichenen" Grundbesitz und schafft erst aus ihm heraus einen neuen Großgrundbesitz, und zwar auf der Grundlage von Lohnarbeit, Maschinen und hoher landwirtschaftlicher Technik, nicht aber auf der Basis von Abarbeit und Schuldknechtschaft. , Der Fehler aller Volkstümler besteht darin, daß sie, auf den engen Gesichtskreis des Kleinbesitzers beschränkt, den bürgerlichen; Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht sehen, in die der Bauer nach seiner Befreiung aus den Fesseln der Leibeigenschaft eintritt. Sie machen das „Arbeitsprinzip" der kleinbürgerlidben Landwirtschaft und die „Ausgleichung" , diese Losungen der Zerschlägung der fronberrlidhen Latifundien, zu etwas Absolutem, sich selbst Genügendem, das eine besondere, nicht bürgerliche Ordnung verkörpert. Der Fehler einiger Marxisten besteht darin, daß sie bei der Kritik der Volkstümlertbeorie ihren historisch-realen und historisch-rechtmäßigen Inhalt im Kampf gegen die Tronherrsdhaft übersehen. Sie kritisieren, und mit Recht, das „Arbeitsprinzip" und die „Ausgleichung" als rückständigen, reaktionären, kleinbürgerlichen Sozialismus und vergessen dabei, daß diese Theorien der Ausdruck eines fortschrittlichen, revolutionären, klein16 Lenin, Werke, Bd. 13

234

"W.1. Lenin

bürgerlichen Demokräüsmus sind, daß diese Theorien als Bahner dienen für den entschlossensten Kampf gegen das alte Rußland der Fronherrschaft. Die Idee der Gleichheit ist die revolutionärste Idee im Kampf gegen die alte absolutistische Ordnung überhaupt und gegen den alten fronherrlichen Großgrundbesitz im besonderen. Die Qleidbheitsiäte des kleinbürgerlichen Bauern ist durchaus berechtigt und fortschrittlich, insofern sie Ausdruck des Kampfes gegen die feudale, fronherrliche •Ungleichheit ist. Der Gedanke der „Ausgleichung" des Grundbesitzes ist berechtigt und fortschrittlich, insofern er das Streben von 10 Millionen, auf einen Bodenanteil von 7 Desjatinen beschränkten, von den Gutsbesitzern in den Ruin getriebenen Bauern nach Aufteilung* der fronherrlichen Latifundien von je 2300 Desjatinen zum Ausdruck bringt. In der gegebenen geschichtlichen Situation drückt diese Idee tatsächlich ein solches Streben aus, sie drängt zur konsequenten bürgerlidhen Revolution, wobei sie dies irrtümlich in eine- nebelhafte, quasisozialistiscbe Phraseologie hüllt. Und der wäre ein schlechter Marxist, der, wenn er die Falschheit der sozialistischen Verkleidung bürgerlicher Losungen kritisiert, nicht imstande wäre, ihre historisch-fortschrittliche Bedeutung als entschiedenste bürgerliche Losungen im Kampf gegen die Tronherrsdhajt einzuschätzen. Der reale Inhalt jener Umwälzung, die dem Volkstümler als „Sozialisierung" erscheint, wird in der konsequentesten Freilegung der Bahn für den Kapitalismus, in der entschiedensten Ausrottung der Fronwirtschaft bestehen. Das von mir oben angeführte Schema zeigt eben das Maximum der Beseitigung der Fronherrschaft und das Maximum der dabei zu erzielenden „Ausgleichung". Der Volkstümler bildet sich ein, diese „Ausgleichung" bedeute Beseitigung des bürgerlichen Charakters, während sie in Wirklichkeit die Bestrebungen der radikalsten Schichten der Bourgeoisie zum Ausdrudk bringt. Und alles, was darüber hinaus mit der „Ausgleichung" verbunden ist, ist ideologischer Schall und Hauch, ist Illusion des Kleinbürgers. Die kurzsichtige und unhistorische Beurteilung der Bedeutung der Volkstümlertheorien in der russischen bürgerlichen Revolution durch einige russische Marxisten erklärt sich daraus, daß sie die Bedeutung der von den * Es handelt sich hier nicht um Aufteilung zwecks Übergabe als Eigentum, sondern um Aufteilung zur wirtschaftlichen Nutzung. Eine solche Aufteilung ist möglich - und bei vorherrschender Kleinwirtschaft für gewisse Zeit unvermeidlich - sowohl bei Munizipalisierung als auch bei Nationalisierung.

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

235

Volkstümlern vertretenen „Konfiskation" des gutsherrlicheh Grundbesitzes nicht durchdacht haben. Es genügt, sich die ökonomische Grundlage einer solchen Umwälzung unter den gegebenen Verhältnissen unseres Grundbesitzes klar vorzustellen, und wir werden nicht nur das Illusorische der Volkstümlertheorien verstehen, sondern auch den auf eine bestimmte historische Aufgabe beschränkten wahren Sinn des Kampfes erkennen, den wahren Sinn des Kampfes gegen die Fronherrschaft, der den realen Inhält dieser illusorischen Theorien bildet.

5. Zwei 7ypen der bürgerlichen Agrarentwicklung Gehen wir weiter. Wir habengezeigt, daß die Volkstümlertheorien, die vom Standpunkt des Kampfes für den Sozialismus gegen die Bourgeoisie unsinnig und reaktionär sind, sich im bürgerlichen Kampf gegen die Fronherrschaft als „vernünftig" (im Sinne einer besonderen geschichtlichen Aufgabe) und fortschrittlich erweisen. Es fragt sich nunmehr: Ist die Unausbleiblichkeit des Absterbens der Fronherrschaft in den russischen Grundbesitzverhältnissen und iri der ganzen Gesellschaftsordnung Rußlands, die Unausbleiblichkeit einer bürgerlich-demokratischen Agrarumwälzung in dem Sinne zu verstehen, daß diese Umwälzung nur in einer bestimmten Form vor sich gehen kann? oder ist sie in verschiedenen Formen möglich? Diese Frage ist für die Herausarbeitung richtiger Auffassungen über unsere Revolution und über das sozialdemokratische Agrarprogf amm von kardinaler Bedeutung. Um aber diese Frage zu entscheiden, müssen wir von dem oben angeführten Material über die Ökonomische Grundlage der Revolution ausgehen. Den Kernpunkt des Kampfes bilden die fronherrlichen Latifundien, als die krasseste Verkörperung und festeste Stütze der Überreste der Fronherrschaft in Rußland. Die Entwicklung der Warenwirtschaft und des Kapitalismus bereitet diesen Oberresten mit absoluter Notwendigkeit ein Ende. In dieser Beziehung steht Rußland nur ein Weg der bürgerlichen Entwicklung offen. Doch die Formen dieser Entwicklung können zweierlei Art sein. Die Überreste der Fronwirtschaft können sowohl durch Umgestaltung der

236

TV.1. Centn .

Gutswirtschaften als auch durch Liquidierung der grundherrlichen Latifundien,^, h. auf dem Wege der Reform oder auf dem Wege der Revolution, beseitigt werden. Die bürgerliche Entwicklung kann in der Weise vor sich gehen; daß an ihrer Spitze die großen Gutsbesitzerwirtschaften stehen, die allmählich immer mehr bürgerlich werden und allmählich die fronherrlichen Ausbeutungsmethoden durch bürgerliche ersetzen; sie kann auch in der Weise vor sich gehen, daß an ihrer Spitze die kleinen Bauemwirtschaften stehen, die auf revolutionärem Wege aus dem sozialen Organismus den „Auswuchs" der fronherrlichen Latifundien entfernen und sich dann, ohne sie, frei in den Bahnen des kapitalistischen Farmertums entwickeln. . Ich würde diese zwei Wege objektiv möglicher bürgerlicher Entwicklung als den preußischen und den amerikanischen Weg bezeichnen. Im ersten Falle wächst Idie fronherrliche Gutsbesitzerwirtschaft langsam in eine bürgerliche, in eine Junkerwirtschaft hinüber, wobei die Bauern unter Herausbildung einer kleinen Minderheit von Großbauern* zu Jahrzehnten qualvollster Expropriation und. Knechtschaft verurteilt werden. Im zweiten Fall gibt es keine Gutsherrenwirtschaft, oder aber sie wird von der Revolution zerschlagen, die die feudalen Güter konfisziert und auf: teilt. In_diesem Falle prädominiert der Bauer, er wird zur ausschließlichen Triebkraft der Landwirtschaft und evolutioniert zum kapitalistischen Farmer. Hauptinhalt der Evolution im ersten Falle ist das Hinüberwachsen der Fronherrschaft in Schuldkneditschaft und kapitalistische Ausbeutung auf dem Grund und Boden der Feudalherren,, der Gutsherren, der Junker. Im zweiten Fall ist der'ausschlaggebende Hintergrund das' Hinüberwachsen des patriarchalischen Bauern in den bürgerlichen Farmer. In der Wirtschaftsgeschichte Rußlands treten diese beiden Typen der Evolution ganz klar zutage. Nehmen wir die Periode der Aufhebung der Leibeigenschaft. Gutsbesitzer und Bauern. kämpften miteinander um'die Art und Weise der Durchführung dieser Reform. Die einen wie die anderen verteidigten (ohne sich dessen bewußt zu: sein) die Voraussetzungen der bürgerlichen, ökonomischen Entwicklung, aber die'Gutsbesitzer vertraten^ eine Art; der Entwicklung, die die. maximale Erhaltung der Gutswirtschaften, der Gutsbesitzereinkünfte, der grundherrlichen (knechten* „Großbauern? bei Lenin deutsch.- Der Tibers.

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

237

den) Ausbeutungsmethöderi sichert. Die Bauern.vertraten eine Entwicklung, die angesichts des gegebenen Kulturniveaus in maximaler Weise den Wohlstand der Bauernschaft, die Liquidierung der gutsherrlichen Latifundien, aller fronwirtschaftlichen und knechtenden Ausbeutungsmethoden sowie die Erweiterung des freien bäuerlichen Grundbesitzes gewährleisten könnte. Es ist klar, daß auf dem zweiten Wege die Entwicklung des Kapitalismus und der Produktivkräfte sich breiter und rascher vollzogen hätte als bei der Durchführung der Bauernreform im Sinne der Gutsbesitzer.* Nur Karikaturen von Marxisten, wie die gegen den Marxismus kämpfenden Volkstümler sie auszumalen trachteten, hätten den Landraub an den Bauern im Jähre 1861 als ein Unterpfand kapitalistischer Entwicklung betrachten können. Im Gegenteil, er mußte Unterpfand sein - und erwies sich in der Tat als solches - einer knechtenden, d. h. halbleibeigenschaftlichen Pacht und einer auf Abärbeit fußenden Wirtschaft, d. h. einer Fronwirtschaft, die die Entwicklung des Kapitalismus und das Wachstum der Produktivkräfte in der russischen Landwirtschaft außerordentlich verzögerte. Der Kampf zwischen den Bauern- und den Gutsbesitzerinteressen war kein Kampf der „Volksproduktion" oder des „Arbeitsprinzips" gegen die Bourgeoisie (wie unsere Volkstümler sich einbildeten und sich noch * In der Zeitschrift „Nautschnoje Obosrenije" [Wissenschaftliche Revue] (1900, Mai/Juni) schrieb ich zu dieser Frage: „Je mehr Land die Bauern bei der "Befreiung erhalten hätten und je billiger sie es erhalten hätten, desto rascher, umfassender und freier würde sich der Kapitalismus in "Rußland entwickeln, desto höher wäre der Lebensstandard der Bevölkerung, desto ausgedehnter der innere Markt, desto rascher ginge es mit der Anwendung von Maschinen in der Produktion voran, mit einem Wort, desto mehr würde die ökonomische Entwicklung Rußlands der ökonomischen Entwicklung Amerikas gleichen. Ich beschränke mich darauf, zwei Umstände anzuführen, die meiner Meinung nach die Richtigkeit der letzteren Ansicht bekräftigen: 1. auf Grund des Landmangels und der Abgabenlast hat sich bei uns in einem sehr ausgedehnten Gebiet das System der Abärbeit in der privaten Gutswirtschaft, d. h. ein direktes Überbleibsel der Leibeigenschaft, und durchaus kein Kapitalismus entwickelt; 2. gerade in unseren Randgebieten, wo die Leibeigenschaft entweder völlig unbekannt oder aber am schwächsten entwickelt war, wo die Bauern weniger unter dem Landmangel, der Abärbeit und der Abgabenlast leiden, hat sich der Kapitalismus in der Landwirtschaft am stärksten entwickelt." (Siehe Werke, Bd; 3, S. 647/648. Die Red.)

238

'WJ.Zenin

einbilden), sondern ein Kampf für den amerikanischen Typus der Bürgerlichen Entwicklung gegen den preußischen Typus der ebenso bürgerlichen Entwicklung. ; . Und in denjenigen.Gebieten Rußlands/wo es keine Leibeigenschaft •gab, wo ausschließlich oder hauptsächlich der freie Bauer die Landwirtschaft in seine Hände nahm (z. B. in den nach der Reform besiedelten Steppen jenseits der Wolga, in Neurußland, im Nordkaukasus), hat die Entwicklung der Produktivkräfte und die Entwicklung des Kapitalismus ein unvergleichlich rascheres Tempo eingeschlagen als in dem von Überresten der Fronherrschaft bedrückten Zentralgebiet.* Zeigen uns aber das landwirtschaftliche Zentralgebiet und die landwirtschaftlichen Randgebiete Rußlands sozusagen die räumliche oder geographische Verteilung der Gegenden, in denen der eine oder der andere Typus der Agrarevolution vorherrscht, so treten beide Evolutionstypen in ihren Hauptzügen auch in allen Gegenden zutage, wo Gutswirtschaft und bäuerliche Wirtschaft nebeneinander bestehen. Einer der Grundfehler der ökonomischen Auffassungen der Volkstümler bestand darin, daß ihnen die Gutswirtschaft als alleinige Quelle des Agrarkapitalismus galt, während sie die bäuerliche Wirtschaft vom Gesichtspunkt der „Volksproduktion" und des „Arbeitsprinzips" betrachteten (dasselbe tun auch heute die Trudöwiki, die „Volkssozialisten" und die Sozialrevolutionäre). Wir wissen, daß das nicht richtig ist. Die Gutswirtschaft entwickelt sich in kapitalistischer Richtung, wobei sie allmählich die Abarbeit durch „freie Lohnarbeit", die Dreifelderwirtschaft durch intensive Kultur, das altväterliche bäuerliche Inventar durch die modernen Geräte der Gutswh tschaft ersetzt. Die bäuerliche Wirtschaft entwickelt sido ebenfalls in kapitalistischer Riditung, wobei sie Dorfbourgeoisie und Landproletariat hervorbringt. Je besser die Lage der „Dorfgemeinde", je höher der Wohlstand der Bauernschaft überhaupt, desto rasdher verläuft die Differenzierung der Bauernschaft in die antagonistischen Klassen der kapitalistischen * Die Bedeutung der Randgebiete Rußlands als Kolonisationsfonds während der Entwicklung des Kapitalismus habe ich in meiner „Entwicklung des Kapitalismus" (St. Petersburg 1899, S. 185, 444 u. a. m.) ausführlich behandelt. Eine zweite Auflage erschien 1908 in St. Petersburg. (Siehe Werke, Bd. 3, S. 255/256, 576, 611-616. Die Red.') Auf ihre Bedeutung für die Frage des sozialdemokratischen Agrarprogramms werde ich im folgenden noch zu sprechen kommen.

Das Agrarprogrammder Sozialdemokratie

239

Landwirtschaft. Die beiden Richtungen der Agrarentwickhmg sind folglich überall vorhanden. Der Kampf zwischen den Bauern-- und den Gutsbesitzerinteressen, der sich wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte Rußlands nach der Reform zieht und eine äußerst wichtige ökonomische Grundlage unserer Revolution bildet, ist ein Kampf um den einen oder den anderen Typus der bürgerlichen Agrarentwiddung. Nur wenn wir den Unterschied zwischen diesen Typen und den bürgerlichen Charakter beider Typen klar begreifen, können wir die Bodenfrage in der russischen Revolution in richtiger Weise erklären und die Klassenbedeutung der von den verschiedenen Parteien aufgestellten unterschiedlichen Agrarprogramme erfassen.? Wir wiederholen: Der Kernpunkt des Kampfes - das sind die fronherrlichen Latifundien. Ihre kapitalistische Entwicklung steht außer Frage, aber sie ist in zweifacher Gestalt möglich: in Gestalt ihrer, revolutionären Beseitigung, ihrer Liquidierung durch die * Was für eine Konfusion manchmal in den Köpfen russischer Sozialdemokraten in der Frage der zwei Wege der bürgerlichen Agrarentwiddung in Rußland herrscht, zeigt das Beispiel von P. Maslow. In der Zeitschrift „Obräsowanije" (1907, ;Nr.x3) zeigt er zwei Wege auf: 1. „sich entwickelnder Kapitalismus"; 2. „nutzloser Kampf gegen die ökonomische Entwicklang". „Der erste Weg", so meint er, „führt die Arbeiterklasse und mit ihr die ganze Gesellschaft zum Sozialismus; der zweite Weg treibt (!) die Arbeiterklasse der Bourgeoisie in die Arme (!), treibt sie in den Kampf zwischen Groß- und Kleinbesitzern, einen Kampf, aus dem die Arbeiterklasse nichts als Niederlagen davontragen wird." (S. 92.) Erstens ist der „zweite Weg" eine höhle Phrase, ein Wahn, aber kein Weg; das ist eine falsche Ideologie, aber keine wirkliche Entwicklungsmöglichkeit. Zweitens merkt Maslow nicht, daß Stolypin Und die Bourgeoisie die Bauernschaft auch einen kapitalistischen Weg führen - folglich geht es im realen Kampf nicht um den Kapitalismus, sondern um den Typus der kapitalistischen Entwiddung. Drittens ist es barer Unsinn, zu sagen, daß in Rußland irgendein Entwicklungsweg möglich sei, der die Arbeiterklasse nicht unter die Herrschaft der Bourgeoisie „treibt" . 4 . Viertens ist es ebensolcher Unsinn, zu behaupten, daß es einen „Weg" ohne Kampf zwischen Klein- und Großbesitzern geben könne. Fünftens vertuscht Maslow mit Hijfe allgemeineuropäischer Kategorien (Klein- und Großbesitzer) die geschichtliche Besonderheit Rußlands, die in der gegenwärtigen Revolution von größter Bedeutung ist: den Kampf zwischen den kleinen bürgerlichen und den großen feudalen Grundbesitzern. V

240:

-.•-.:• : ' • / : '

W:T.£enin

bäuerlidieri Farmer, oder in Gestalt ihrer allmählichen Umwandlung in Junkerwirtschaften (mit entsprechender Verwandlung- des unterjochten : Bauern in einen unterjochten Knecht). . :

6. Zwei Linien der Agrarprogrmnme in der Revolution Wenn wir nunmehr, .ausgehend von der oben dargelegten ökonomischen Grundlage, die von den verschiedenen Klassen im Verlauf der Revolution aufgestellten Agrarprogramme betrachten, so unterscheiden wir sofort zwei Linien dieser Programme, entsprechend den beiden aufgezeigten Typen der Agrarentwiddung. Nehmen wir das Programm Stolypins, das von den rechten Gutsbesitzern und Oktobristen geteilt wird. Es ist ein unverhohlenes Gutsbesitzer-: programm. Kann man aber sagen, es sei im ökonomischen Sinne reaktionär, d. h., es schließe die Entwicklung'des Kapitalismus aus oder wolle sie ausschließen? es wolle die bürgerliche Agrarentwiddung unterbinden? Keinesfalls. Im Gegenteil, die berühmten, auf Grund des Artikels 87 erlassenen Agrargesetze Stolypins sind ganz und gar von rein bürgerlichem Geiste durchdrungen. Sie liegen zweifelsohne auf der Linie der kapitalistischen Evolution, erleichtern sie, treiben sie vorwärts, beschleunigen die Expropriation der Bauernschaft, den Zerfall der Dorfgemeinde, die Herausbildung einer bäuerlichen Bourgeoisie. Im Sinne der ökonomischen Wissenschaft ist diese Gesetzgebung zweifellos fortschrittlich. Bedeutet das, daß die Sozialdemokraten sie „unterstützen" sollen? Nein. So könnte nur der vulgäre Marxismus argumentieren, dessen Samen so eifrig von Plechanow und den Menschewiki ausgestreut wird, die lokkendund klagend, flehend und mahnend wiederholen: Man muß die Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen die alte Ordnung unterstützen. Nein. Im Interesse der Entwicklung der Produktivkräfte (dieses höchsten Kriteriums des gesellschaftlichen Fortschritts) müssen wir nicht die bürgerliche Evolution von gutsherrlichem Typus, sondern die bürgerliche Evolution von bäuerlichem Typus unterstützen. Erstere bedeutet weitestgehende Erhaltung der Knechtschaft und einer (ins Bürgerliche umgemodelten) Fronwirtschaft, minder rasche Entwicklung der Produktivkräfte und verzögerte Entwicklung des Kapitalismus, sie bedeutet für die breiten Massen der

T>a$ Agrarprogramm der Sozialdemokratie

24i

Bauernschaft und folglich auch des: Proletariats maßlos größere Not und Qualen, Ausbeutung und Unterdrückung. Letztere bedeutet rascheste Entwicklung der Produktivkräfte und die besten (unter den Verhältnissen der Warenwirtschaft überhaupt möglichen) Existenzbedingungen für die Bauernmasse. Die .Taktik der Sozialdemokratie in der russischen bürgerlichen Revolution wird nicht durch die Aufgabe bestimmt, die liberale Bourgeoisie zu unterstützen, wie die Opportunisten glauben, sondern durch die Aufgabe, die kämpfende Bauernschaft zu unterstützen. . Nehmen wir das Programm der liberalen Bourgeoisie, d. h. der Kadetten. Getreu dem Wahlspruch „Was beliebt?" (d. h. was beliebt den Herren Gutsbesitzern?) haben sie in der ersten Duma ein Agrarprogramm und in der zweiten ein anderes aufgestellt. Programmwechsel ist ihnen, wie allen europäischen prinzipienlosen bürgerlichen Karrieristen, ein leichtes, eine Kleinigkeit. In der Zeit der ersten Duma schien die Revolution stark - und das liberale Programm entlehnte ihr ein Stückchen Nationalisierung („gesamtstaatlicher Bodenfonds"). In der Zeit der zweiten Duma schien die Konterrevolution stark - und das liberale Programm warf den staatlichen Bodenfonds über Bord, wandte sich der Stolypinschen Idee eines soliden bäuerlichen Eigentums zu, erweiterte und vermehrte die Ausnahmen von der allgemeinen Regel der Zwangsenteignung gutsherrlichen Bodens. Doch erwähnen wir hier diese Doppelzüngigkeit der Liberalen nur beiläufig. Wichtig ist es, etwas anderes zu vermerken: jene prinzipielle Grundlage, die beiden „ Qesidhtern" des liberalen Agrarprogramms gemeinsam ist. Diese prinzipielle gemeinsame Grundlage ist 1. die Ablösung; 2. die Erhaltung der Gutswirtschaften; 3. die Erhaltung der Gutsbesitzerprivilegien bei der Durchführung der Reform. Die Ablösung ist ein der sozialen Entwicklung auferlegter Tribut, ein Tribut an die Besitzer der fronherrlichen Latifundien. Die Ablösung ist die bürokratisch, polizeilich gesicherte Realisierung fronherrschaftlicher Ausbeutungsmethoden in der Form des bürgerlichen „allgemeinen Äquivalents". Weiter: Die Erhaltung der Gutswirtschaften in dem einen oder anderen Grade ist in beiden kadettischen Programmen zu sehen, so sehr sich die bürgerlichen Politikaster auch bemühen, diese Tatsache vor dem Volke zu verbergen. Das dritte - die Gutsbesitzerprivilegien bei der Durchführung der Reform - äußert sich mit aller Klarheit im Verhalten der Kadetten zur Wahl örtlicher Bodenkomitees auf der Grundlage des

242

/W. I.Lenin

allgemeinen, gleichen, direkten und.geheimen Wahlrechts. Wir können hier nicht auf Einzelheiten eingehen*, die an eine andere Stelle unserer Ausführungen- gehören. Hier haben wir hur die Cinie des Agrarprogramms der Kadetten festzustellen. Was das betrifft, müssen wir aber vermerken, daß die Frage der Zusammensetzung der örtlichen Bodenkömitees von kardinaler Bedeutung ist. Nur politische Säuglinge könnten sich vom Klang der Kadettenlosung „Zu)««jsenteignung" verführen lassen. Die Frage ist die: Wer wird wen zwingen — die Gutsbesitzer die Bauern (für sandigen Boden den dreifachen Preis zu zahlen) oder die Bauern die Gutsbesitzer. Das Gerede der Kadetten von „gleichmäßiger Vertretung der aufeinandertreffenden Interessen", davon, daß „einseitige Gewalt" unerwünschtsei, zeigt mit größter Klarheit, worin das Wesen der Sache besteht: daß nämlich bei der Zwangsenteignung im Sinne der Kadetten die Gutsbesitzer die Bauern zwingen! * Siehe Protokolle der I. Duma, 14. Sitzung, 24. Mai 1906, wo die Kadetten Kokoschkin und Kotljarewski in trautem Verein mit dem (damaligen) Oktobristen Heyden mit Hilfe niederträchtigster Sophismen den Gedanken der örtlichen Bodenkomitees zerpflücken. In der II. Duma: das Ausweichen des Kadetten Saweljew (16. Sitzung, 26. März 1907) sowie die offene Bekämpfung des Gedankens der örtlichen Bodenkomitees durch den Kadetten Tatarinbw (24. Sitzung, 9. April 1907, S. 1783 des stenogr. Berichts). In der „Retsch" Nr..82 vom 25. Mai 1906 ist_der Leitartikel bemerkenswert, der bei Miljukow („Ein Jahr des Kampfes", Nr. 117, S. 457-459) abgedruckt ist. Hier der entscheidende Passus der Auslassungen dieses verkleideten Oktobristen: „Wir glauben, die Bildung dieser Komitees auf dem Wege allgemeiner Wahlen würde bedeuten, sie nicht zur friedlichen Lösung der Agrarfrage im lokalen Maßstab zu bestimmen, sondern zu etwas ganz anderem. Die Leitung der Reform in ihrer allgemeinen Richtung muß in den Händen des Staates bleiben . . . In den örtlichen Kommissionen müssen möglichst gleichmäßig (sie!) jene aufeinandertreffenden Interessen der Parteien vertreten sein, die sich versöhnen lassen, ohne gegen die staatliche Bedeutung der in Angriff genommenen Reform zu verstoßen und ohne sie in einen einseitigen Gewaltakt zu verwandeln . . . " (S. 549.) Im zweiten Band der kadettischen „Agrarfrage" veröffentlicht Herr Kutler seinen Gesetzentwurf, der den Gutsbesitzern plus den Beamten in allen zentralen, Gouvernements- und Kreis-Bodenkqmmissionen und Bodenkomitees das Tlbertjewidot über die Bauern sidhert (S. 640/641), und Herr A: Tschuprow- — ein „Liberaler"! — verteidigt prinzipiell den gleichen niederträchtigen Plan der Gutsbesitzer zur Obertölpelung der Bauern (S. 33)."

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

243

Das Agrarprogramm der Kadetten liegt auf der Linie des Stolypinschen, d. h. des gutsherrlichen bürgerlichen Fortschritts. Das ist eine Tatsache. Das Nichtverstehen dieser Tatsache "ist der Grundfehler jener Sozialdemokraten, die gleich einigen Menschewiki es fertigbringen, die Agrarpolitik der Kadetten für fortschrittlicher zu halten als die der Volkstümler. -. Bei den Vertretern der Bauernschaft, d. h. bei den Trudowiki, den Sozialvolkstümlern und zum Teil bei den Sozialrevolutionären sehen wir in den beiden Dumas, trotz des vielen Schwankens und Wankens, eine vollkommen deutliche Linie der Vertretung der Baueminteressen gegen die Gutsbesitzer. Es gibt zum Beispiel Schwankungen in der Frage der Ablösung, die im Programm der Trudowiki zugelassen wird; aber 1. wird die Ablösung häufig im Sinne der sozialen Versorgung arbeitsunfähiger Gutsbesitzer behandelt*, 2. kann man in den Protokollen der II. Duma eine ganze Reihe äußerst charakteristischer Bauernreden nachlesen, die die Ablösung ablehnen und die Losung proklamieren: Den ganzen Boden dem ganzen Volke!** In der Frage der örtlichen Bodenkomitees - dieser ausschlaggebenden Frage, wer wen zwingen wird - sind die Bauernabgeordneten Urheber und, Anhänger der Idee, diese Komitees in allgemeiner Wahl zu wählen, Wir gehen auf den Inhalt des Agrarprogramms der Trudowiki und der Sozialrevolutionäre einerseits und der Sozialdemokraten anderseits einstweilen nicht ein. Wir müssen vor allem die unbestreitbare Tatsache konstatieren, daß die Agrarprogramme aller Parteien und Klassen, die in der - * Vergleiche „Sammelband der ,Iswestija Krestjanskich Deputatow' [Nachrichten der Bauerndeputierten] und der ,Trüdowaja Rossija' [Arbeitendes Rußland]", St. Petersburg 1906 - eine Sammlung von Zeitungsartikeln der Trudowiki in der ersten Duma, z. B. den Artikel „Entschädigung, aber nicht Ablösung" (S. 44-49) und viele andere. ** Vergleiche in der II. Duma die Rede des rechten Bauern Petrotschenko (22. Sitzung, 5. April 1907): Kutler habe gute Bedingungen vorgeschlagen... „Natürlich hat er als reicher Mann einen hohen Preis genannt, wir aber sind arme Bauern und können nicht soviel zahlen." (S. 1616.) Der redbte Bauer steht weiter links als der bürgerliche Politikaster, der in Liberalismus macht. Vergleiche auch die Rede des parteilosen Bauern Semjonow (12. April 1907), die den Geist eines spontan revolutionären Bauernkampfes atmet, und viele andere.

244

•;••

- .

W.J.Lenin

•••:•

russischen Revolution offen' aufgetreten sind, deutlich,. entsprechend den zwei Typen der bürgerlichen Agrarevolution, in zwei Haupttyperi zerfallen. Die Trennungslinie zwischen den „rechten" und den „linken" Agrarprogramnien verläuft nicht zwischen den Oktobristen und den Kadetten, wie die Menschewiki häufig ganz fälschlich annehmen (da sie sich vom Schwall „konstitutionell-demokratischer" Worte betäuben lassen und die Klässenanalyse durch die Analyse der Parteinamen ersetzen). Die Trennungslinie verläuft zwischen den Kadetten und den Trudowiki. Bestimmt wird diese Linie durch die Interessen der zwei um den Boden kämpfenden JiauptMassen der russischen Gesellschaft: der Gutsbesitzer und der Bauernschaft. Die Kadetten wollen den gutsherrlichen Grundbesitz erhalten wissen und verfechten eine kulturelle, europäische, aber gutsberrZicfo-bürgerliche Evolution der Landwirtschaft. Die Trudowiki (und die sozialdemokratischen Arbeiterabgeordneten), d.h. die Vertreter der Bauernschaft und die Vertreter des Proletariats, verfechten die bäuerlidhbürgerliche Evolution der Landwirtschaft. Man muß zwischen derideologischen Gewandung der Agrarprogrämme, ihren verschiedenen politischen Details usw. und der ökonomischen Gründlage dieser Programme streng unterscheiden. Die Schwierigkeit besteht jetzt nicht darin, sich den bürgerlichen Charakter der Forderungen und Programme sowohl der Gutsbesitzer als audb der Bauernschaft klarzumachen: diese Arbeit ist von den Marxisten bereits vor der Revolution geleistet worden, und die Revolution hat das bestätigt. Die Schwierigkeit besteht darin, sich volle Rechenschaft zu geben über die Grundlage des Kampfes zweier Klassen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Evolution. Es ist unmöglich, diesen Kampf als eine gesetzmäßige soziale Erscheinung zu begreifen, wenn man ihn nicht auf die objektiven Tendenzen der ökonomischen Entwicklung des kapitalistischen Rußlands zurückführt. . Nachdem wir den Zusammenhang der beiden Typen von Agrarprogrammen in der russischen Revolution mit den beiden Typen der bürgerlichen Agrarevolution aufgezeigt haben, müssen wir nunmehr zur Betrachtung einer neuen, überaus wichtigen Seite der Frage übergehen.

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

245

7. Die Bodenflädie Rußands. Die "Kolonisatiönsfrage: Wir haben oben darauf verwiesen, daß die. ökonomische Analyse uns nötigt, in der Frage des Kapitalismus in Rußland einen Unterschied zu machen zwischen dem zentralen Landwirtschaftsgebiet mit den zahlreichen Überresten der Fronwirtschaft und den Randgebieten, die solche Überreste nicht oder nur in schwacher Form aufweisen and die Züge freier bäuerlicher kapitalistischer Evolution tragen. • Was ist unter „Randgebieten" zu verstehen? Offenbar unbesiedelte oder nur spärlich besiedelte, nicht völlig in die landwirtschaftliche Nutzung einbezogene Gebiete. Wir müssen somit vom Europäischen Rußland zum gesamten Russischen Reich übergehen, um uns über diese „Randgebiete" und ihre ökonomische Bedeutung eine genaue Vorstellung zu machen. In der Broschüre der Herren Prokopowitsch und Mertwago „Wieviel Land gibt es in Rußland und wie nutzen wir.es?" (Moskau 1907) macht der Letztgenannte den Versuch, alle in der Literatur vorhandenen statistischen Angaben über die Bodenfläche ganz Rußlands und über die wirtschaftliche Nutzung der uns bekannten Bodenfläche zusammenzufassen. Wir bringen nachstehend die Aufstellung von Herrn Mertwago - der Anschaulichkeit halber in Tabellenform - und ergänzen sie durch Angaben über die Bevölkerungsziffernach der Volkszählung von 1897 (siehe S..246). Diese Zahlen zeigen anschaulich, wie unermeßlich viel Land es in Rußland gibt und wie wenig wir noch über die Ländereien der Randgebiete und ihre wirtschaftliche Bedeutung wissen. Natürlich wäre es grundfalsch zu glauben, diese Ländereien seien schon jetzt und in ihrer jetzigen Gestalt geeignet, den Landhunger des russischen Bauern zu stillen. Alle derartigen Berechnungen, wie sie nicht selten von reaktionären Publizisten angestellt werden*, entbehren jedes wissenschaftlichen Wertes. In dieser Hinsicht hat Herr A. A. Kaufman vollkommen recht, wenn er über die * Und auch von reaktionären Abgeordneten. In der II. Duma brachte der Oktobrist Teterewenkow Zahlen aus einer von Schtscherbina vorgenommenen Untersuchung über 65 Mill. Desj. des Steppengebiets sowie über 39 Mill. Desj. im Altai als Beweis'dafür, daß es keiner Zwangsenteignung im Europäischen Rußland bedürfe. Das Musterbeispiel eines Bpurgeois, der sich dem fronherrlichen Gutsbesitzer zii gemeinsamem ^Fortschritt" im Stolypinschen Geiste anpaßt.' (Stenogr. Berichte-.der; II. Duma, 39,,Sitzung, 16. Mai 1907, S. 658-661.)

10 Gouv. des Königreichs Polen 111,6 11,6 38 Gouv. westl. der Wolga 1 755,6 183,0 12 Gouv. nördl. und östl. der Wolga 2 474,9 258,0 50 Gouv. des Europäischen Rußlands insgesamt 4 230,5 441,0 Kaukasus 411,7 42,9 10 966,1 1 142,6 Sibirien 3 141,6 327,3 Mittelasien Asiatisches Rußland insgesamt 14 519,4 1 512,8 Gesamtes Russisches Reich* 18 861,5 1 965,4

* Ohne Finnland

Rußlands; Davon ländwirtschaftlich nutzbarer Boden

Bevölkerungsziffer nach der Zählung von 1897

0,9

10,8









693,6 11,7 7,7 131,5 150,9 — — 1146,2 135,0 34,4 300,0 469,4 125 640,0 6,7

7,1 132,0 161,4

9 402,2 84,3

819,2 819,2

22,3

2,5

34,0 146,3

441,0 115,9 25,8 166,0 307,7 93 442,9 22,1 20,8 6,5 2,2 2,5 11,2 9 289,4 22,6 502,9 4,3 3,9 121,0 129,2 5 758,8 0,5 169,9 0,9 1,6 8,0 10,5 7 746,7 2,5

258,0



7,4 93,6 18,7

22,1 639,7 157,4

11,6 183,0



Quadrat- Desjatinen Boden, über Statistisch Acker- Wiescil Wald Ins- Insgesamt Auf eine gesamt (in 1000) Quadratland werst in Millionen den keine erfaßter werst in 1000 Angaben Boden vorliegen in Millionen Desjatinen in Millionen Desjatinen

Bodenfläche ganz Gesamte Bodenfläche Davon

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

247

Suche nach freien Ländereien zu Siedlungszwecken auf Grund von Quadratwerstangaben spottet. Vollkommen recht hat er zweifellos auch, wenn er darauf hinweist, wie wenig zu Siedlungszwecken geeigneten Boden es gegenwärtig in den Randgebieten Rußlands gibt, wie falsch die Meinung ist, die Landarmut des russischen Bauern könne durch Umsiedlung behoben werden.* Doch diese richtigen Ausführungen des liberalem Herrn Kaufman enthalten nichtsdestoweniger einen sehr wesentlichen Fehler. Herr Kaufman argumentiert folgendermaßen: „Bei der gegebenen Auswahl der Umsiedler, bei dem gegebenen Grad ihres Wohlstands und ihrem gegebenen Kulturniveau" (S. 129 des erwähnten Buches) sei zweifellos nicht genügend Land vorhanden, um den Bedarf der russischen Bauern durch Umsiedlung zu befriedigen. Daher, folgert er, das Agrarprogramm der Kadetten verteidigend, ist die Zwangsenteignung privaten Grundbesitzes im Europäischen Rußland notwendig. . • • , • Das ist die übliche liberale und liberal-volkstümlerische- Argumentation unserer Ökonomen. Sie ist so aufgebaut, daß aus ihr der Schluß folgt: Gäbe es genügend zur Siedlung geeignete Ländereien, so brauchte man die fronherrlichen Latifundien nicht anzutasten! Die ganz und gar auf dem wohlwollenden Beamtenstandpunkt stehenden Herren Kadetten und die Politiker ihres Schlages erheben den Anspruch, über den Klassen zu stehen, sich über den Klassenkampf zu erheben. Nicht deshalb sei es notwendig, die fronherrlichen Latifundien zu liquidieren, weil sie die fronherrliche Ausbeutung von Millionen der eingesessenen Bevölkerung, ihre Knechtung und ein Hemmnis für die Entwicklung der Produktivkräfte bedeuten, sondern deshalb, weil es heute unmöglich sei, Millionen Bauernfamilien irgendwohin nach Sibirien oder nach Turkestan abzuschieben! Nicht auf den feudalen Klassencharakter der rassischen Latifundien wird der Schwerpunkt gelegt, sondern auf die Möglichkeit, die Klassen zu versöhnen, den Bauern zu befriedigen, ohne dem Gutsbesitzer weh zu tun, kurz: auf die Möglichkeit des berüchtigten „sozialen Friedens". Die Argumentation des Herrn Kaufman und seiner zahllosen Gesin* „Die. Agrarfrage", herausgegeben von Dolgorukow und Petronkewitsch, Bd. I, Aufsatz von Herrn Kaufman: „Die Umsiedlung und ihre Rolle im Agrarprogramm",- siehe auch das Bnch des gleichen Verfassers: „Umsiedlung und Kolonisation", St. Petersburg 19051 ...

248

W.1. Lenin

riungsgeriossen unter der russischen Intelligenz muß man umkehren, damit sie richtig wird. Weil der russische Bauer von den fronherrlichen Latifundien niedergedrückt ist, deshalb ist sowohl' die freie Ausbreitung der Bevölkerung auf dem Territorium Rußlands als auch die rationelle wirtschaftliche Nutzung der ausgedehnten Ländereien in den Randgebieten Rußlands unglaublich gehemmt. Weil die fronherrlichen Latifundien auf der russischen Bauernschaft schwer lasten und mittels Abarbeit und Schuldknechtschaft die rückständigsten landwirtschaftlichen Methoden verewigen - deshalb sind sowohl der technische Fortschritt als auch die geistige Entwicklung der Bauernmassen, die Entwicklung ihrer Selbsttätigkeit, Bildung und Initiative erschwert, die für die wirtschaftliche Nutzung einer ungleich größeren als der heute von uns genutzten Masse der Bodenreserve Rußlands erforderlich sind. Denn fronherrliche Latifundien und Schuldknechtschaft in der Landwirtschaft beinhalten auch einen entsprechenden politischen überbau: die Herrschaft des Schwarzhunderter-Gutsbesitzers im Staate, die Rechtlosigkeit der Bevölkerung, die Verbreitung der Gurko-Lidvalischen Methoden in der Verwaltung74 usw. usf. u. a. m. Daß die fronherrlichen Latifundien im zentralen Landwirtschaftsgebiet Rußlands den unheilvollsten Einfluß auf die ganze soziale Ordnung, auf die ganze soziale Entwicklung, den ganzen Stand der Landwirtschaft und den ganzen Lebensstandard der Bauernmassen haben, ist allgemein bekannt. Ich brauche mich hier nur auf die umfangreiche russische ökonomische Literatur zu berufen, die die Herrschaft von Abarbeit, Schuldknechtschaft, knechtender Pacht, , „Winterverdingung" und anderen mittelalterlichen Herrlichkeiten in Zentralrußland nachgewiesen hat.* Die Aufhebung der Leibeigenschaft "schuf solche Zustände, daß die Bevölkerung (wie ich das ausführlich in „Die Entwicklung des Kapitalismus" gezeigt habe) aus diesem Stammsitz der fronherrlichen Nachkömmlinge in alle Himmelsrichtungen 'floh. Sie flöh aus dem zentralen Landwirtschaftsgebiet in die Industriegouvernements, in die Hauptstädte, in die südlichen und östlichen Randgebiete des Europäischen Rußlands, und Tsevölkerte bis dahin unbesiedelte Gegenden. In der von mir erwähnten Broschüre bemerkt Herr Mertwago unter anderem sehr richtig, daß die * Vergleiche „Die Entwicklung desKapitalismns", Kap.III, Vom.Tibergang von der Frönwirtschaft zcir kapitalistischen Wirtschaft und von der Verbreitung des Systems der Abarbeit. (Siehe Werke, Bd.: 3, S. 185-249.

DÖS Agrarprogramm der Sozialdemokratie

249

Vorstellungen darüber, welche Ländereien für die Landwirtschaft ungeeignet seien, sich rasch ändern können. „Die Taurischen Steppen", schreibt er, „werden wegen ihres Klimas und ihres Wassermangels immer za den ärmsten und zur Bestellung am wenigsten geeigneten Gebieten gehören. Das sagten 1845 so angesehene Naturforscher wie die Akademiemitglieder Baer und Helmersen. Damals produzierte die Bevölkerung des Gouvernements Taurien, die Hälfte der jetzigen, 1,8 MilLTschetwert* Getreide insgesamt Sechzig Jahre sind seitdem vergangen,-und eine -doppelt so große Bevölkerung produziert im Jahre 1903 17,6 Mill. Tschetwert, d.h. nahezu das Zehnfache." (S. 24.) Dies trifft nicht nnr für das Taurische Gouvernement zu, sondern auch für eine ganze Reihe von Gouvernements des südlichen und des östlichen Randgebiets des Europäischen Rußlands. Die südlichen Steppengouvernements sowie die Gouvernements des Transwolgagebiets, deren Getreideproduktion in den sechziger und siebziger Jahren hinter derjenigen der Gouvernements des mittleren Schwarzerdegebiets zurückstand, haben in den achtziger Jahren diese Gouvernements überholt. („Die Entwicklung des Kapitalismus", S. 186.**) Die Bevölkerung des ganzen Europäischen Rußlands nahm im Zeitraum von 1863 bis 1897 um 5 3 % zu, darunter die ländliche Bevölkerung um 4 8 % , die städtische um 97%, während die Bevölkerungszunahme in den neurussischen Gouvernements, den Gouvernements der unteren Wolgagebiete und des Ostens in der gleichen Zeit 9 2 % betrug, auf dem Lande 87%, in den Städten 134%. (Ebenda, S. 446.***) „Wir bezweifeln nicht", schreibt Herr Mertwagp weiter, „daß auch die gegenwärtige bürokratische Einschätzung der wirtschaftlichen Bedeutung unserer Bodenreserven nicht minder unrichtig ist als die von Baerund Helmersen im Jahre 1845 gegebene Bewertung des Taurischen Gouvernements." (Ebenda.) Das ist richtig. Aber Herr Mertwago sieht nicht die Ursache der Fehler Baers, der Fehler aller bürokratischen Bewertungen. Diese Ursache besteht darin, daß man zwar das gegebene Niveau von Technik und Kultur, aber nicht dessen fortschreitende Entwicklung in Betracht zieht. Baer und * 1 Tschetwert = 2,0991 hl. Der Vbers. ** Siehe Werke, Bd. 3, S. 256. Die Red. *** Siehe Werke, Bd. 3, S. 580. Die Red. 17 Lenin, Werke, Bd. 13

. ' : •

'• -'



250

" 'W.J.Lenin

Helmefsen haben die technischen Veränderungen nicht vorausgesehen, die naäa der Aufhebung der Leibeigenschaft möglich geworden sind. Auch heute kann es keinerlei Zweifel unterliegen, daß der Beseitigung der fronberrlidhen Latifundien im Europäischen Rußland unausbleiblich ein gewaltiger Aufschwung der Produktivkräfte, eine gewaltige Hebung des Niveaus der Technik und der Kultur folgen wird. ' '. - Diese Seite der Frage wird irrtümlich von vielen übersehen, die über die Agrarfrage in Rußland urteilen. Voraussetzung für eine breite Nutzung des riesigen Kolonisationsfonds Rußlands ist, daß eine wirklich freie, vom Joch der Leibeigenschaftsverhältnisse völlig befreite Bauernschaft im Europäischen Rußland entsteht. Daß dieser Fonds gegenwärtig zu einem bedeutenden Teil nicht brauchbar ist, erklärt sich nicht so sehr aus den natürlichen Besonderheiten der einen oder anderen Landstriche in den Randgebieten als vielmehr aus den sozialen Besonderheiten der Wirtschaft im eigentlichen Rußland - Besonderheiten, die die Technik zu Stillstand, die Bevölkerung zu Rechtlosigkeit, Knechtung, Unwissenheit und Hilflosigkeit verurteilen. >•../.. Diese äußerst wichtige Seite der Sache wird von Herrn Kaufman übersehen, wenn er erklärt: ;,Ich sage im voraus: Ich weiß nicht, ob eine Million, drei oder zehn Millionen umgesiedelt werden können." (S. 128 des gen. Werkes.) Er verweist auf die Relativität des Begriffs Unbrauchbarkeit des Bodens: „Salzboden ist nicht nur nicht absolut hoffnungslos, sondern kann bei Anwendung bestimmter technischer Methoden äußerst fruchtbar gemacht werden." (129.) In Turkestan, wo auf 1 Quadratwerst 3,6 Einwohner entfallen, „bleiben unermeßliche Landstriche unbeyölkert" (137). „Den Boden vieler ,Hungersteppen' Turkestans bildet der berühmte mittelasiatische Löß, der bei ausreichender Bewässerung sehr fruchtbar i s t . . . Es verlohnt sich nicht einmal, die Frage zu stellen, ob es zur Bewässerung geeigneten Boden gibt: es genügt, das Land in beliebiger Richtung zu durchqueren, um die Ruinen zahlreicher, vor Jahrhunderten verlassener Städte und" Dörfer zu sehen, die oftmals auf viele Quadratwerst von einem Netz einst funktionierender Bewässerungskanäle und -graben umgeben sind. Die Gesamtausdehnung der Lößsteppen, die ihrer künstlichen Bewässerung harren, beläuft sich zweifellos auf viele Millionen Desjatinen." (S. 137 des gen. Werkes.) Diese vielen Millionen Desjatinen sowohl in'Turkestan als auch in vie-

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

251

leri anderen Gegenden Rußlands „harren" nicht nur der Bewässerung und verschiedener anderer Meliorationen, sie „harren" auch der Befreiung der russischen landwirtschaftlichen Bevölkerung von den Überresten der Leibeigenschaft, vom Druck der Latifundien der Adelsherren, von der Diktatur der Schwarzhunderter im Staate. ,: Vermutungen darüber anzustellen, wieviel „unbrauchbarer" Boden- in Rußland brauchbar gemacht werden könnte, ist zwecklos. Man muß sich jedoch klare Rechenschaft abgeben über eine Tatsache, die durch die ganze Wirtschaftsgeschichte Rußlands bewiesen wird und die eine hervorstechende Eigentümlichkeit der russischen bürgerlichen Umwälzung darstellt. Rußland besitzt einen gewaltigen Kolonisationsfonds, der der Bevölkerung und der Agrikultur nicht nur mit jedem Fortschritt der landwirtschaftlichen Technik überhaupt, sondern auch mit jedem Fortschritt in der Sache der Befreiung der russischen Bauernschaft vom fronherrschaftlichen Joch immer mehr zugänglich sein wird. Dieser Umstand bildet die ökonomische Grundlage einer bürgerlichen Evolution der russischen Landwirtschaft nach amerikanischem Muster. In den westeuropäischen Staaten, die von unseren-Marxisten so häufig zu oberflächlichen, schablonenhaften Vergleichen herangezogen werden, war in der Epoche der bürgerlich-demokratischen Umwälzung das gesamte Territorium bereits besetzt. Das Neue, das jeder Fortschritt der-landwirtschaftlichen Technik mit sich brachte, bestand nur darin, daß die Möglichkeit gegeben wurde, neue Arbeit und neues Kapital in den Boden zu stecken. In Rußland vollzieht sich die bürgerlich-demokratische Umwälzung unter Verhältnissen, wo jeder Fortschritt der landwirtschaftlichen Technik und jeder Schritt zur wirklichen Freiheit der Bevölkerung nicht nur die Möglichkeit schafft, in den alten Boden weitere Arbeit und weiteres Kapital zu stecken, sondern auch „unermeßliche" Flächen benachbarten Neulands zu nutzen.

8. Zusammenfassung der ökonomischen Schlußfolgerungen aus Kapitel I Fassen wir nunmehr die ökonomischen Schlußfolgerungen zusammen, die uns als Einführung für die Überprüfung des Agrarprogramms der Sozialdemokratie dienen «ollen.

252

W.I.Lenin

Wir sahen, daß die fronherrlichen Latifundien den „Kernpunkt" des Agrarkampfes in unserer Revolution bilden. Der1 Kampf der Bauern um den Boden ist vor allem und zum allergrößten Teil ein Kampf für die Liquidierung dieser Latifundien. Ihre Liquidierung und ihr vollständiger Übergang in die Hände der Bauernschaft liegt zweifellos auf der Linie der kapitalistischen Evolution der russischen Landwirtschaft. Nähme die Evolution einen solchen Weg, so würde das die rascheste Entwiddung der Produktivkräfte, die bestmöglichen Arbeitsbedingungen für die Masse der Bevölkerung, die rascheste Entwicklung des' Kapitalismus bei Umwandlung der freien Bauernschaft in eine Farmerschaft bedeuten. Doch ist auch ein anderer Weg der bürgerlichen Evolution in der Landwirtschaft möglich: Erhaltung der Gutswirtschaften und Latifundien bei langsamem Hinüberwachsen von der auf Fronherrschaft und Schuldknechtschaft beruhenden Wirtschaftsform zur Junkerwirtschaft. Den zwei Typen von Agrarprogrammen, mit denen die verschiedenen Klassen in der russischen Revolution hervorgetreten sind, liegen eben diese beiden Typen der möglichen bürgerlichen Evolution zugrunde. Dabei besteht die Eigentümlichkeit Rußlands und zugleich eine der ökonomischen Grundlagen für die Möglichkeit einer „amerikanischen" Evolution im Vorhandensein eines gewaltigen-Kolonialfonds. Dieser. Fonds ist in\keiner Weise geeignet, die russische Bauernschaft vom fronherrschaftlichen Joch'im Europäischen Rußland zu befreien, aber er wird um so größer und zugänglicher werden, je freier die Bauernschaft im eigentlichen Rußland sein wird und je ungehinderter sich die Produktivkräfte entwickeln können.

KAPITEL II

DIE AGRARPROGRAMME DER SDAPR U N D IHRE ERPROBUNG D U R C H DIE ERSTE REVOLUTION Gehen wir zur Betrachtung des sozialdemokratischen Agrarprogramms über. Die wichtigsten,Momente in der geschichtlichen Entwicklung der Auffassungen der russischen Sozialdemokratie in der Agrarfrage habe ich im Abschnitt I der Broschüre „Die Revision des Agrarprogramms der

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

253

Arbeiterpartei" bereits dargelegt.* Etwas ausführlicher müssen wir erläutern, worin der Fehler der früheren Agrarprogramme der russischen Sozialdemokratie, d. h. der Programme von 1885 und 1903, bestand.

1. Worin besteht der Tehler der früheren Agrarprogramme der russischen Sozialdemokraten? In dem 1885 erschienenen Entwurf der Gruppe „Befreiung der Arbeit" wird das Agrarprogramm folgendermaßen dargelegt: „Radikale Revision der Agrarverhältnisse, d. h. der Bedingungen für die Ablösung und die Zuteilung von Land an die Bauerngemeinden. Recht des Verzichts auf den Bodenanteil und des Austritts aus der Dorfgemeinde für diejenigen Bauern, die das für sich als günstig betrachten, usw." Das ist alles. Der Fehler dieses Programms liegt nicht etwa in falschen Grundsätzen oder falschen Teilforderungen. Nein. Seine Grundsätze sind richtig, und die einzige in ihm erhobene Teilforderung (Recht des Verzichts auf den Bodenanteil) ist so unbestreitbar, daß sie heute sogar durch die eigenartige Stolypinsche Gesetzgebung erfüllt ist. Der Fehler dieses Programms ist sein abstrakter Charakter, es fehlt jegliche konkrete Betrachtung des Gegenstands. Eigentlich ist es kein Programm, sondern nur eine höchst allgemein gehaltene marxistische Deklaration. Selbstverständlich wäre es sinnlos, den Verfassern des Programms, die bestimmte Prin^ zipien zum erstenmal,, lange vor der Entstehung der Arbeiterpartei, dargelegt haben, diesen Mangel zum Vorwurf zu machen. Im Gegenteil, es muß besonders betont werden, daß in diesem Programm zwanzig Jahre vor der russischen Revolution eine „radikale Revision" der Bauernreform für unvermeidlich erklärt wurde. Die Weiterentwicklung dieses Programms mußte theoretisch in der Klarstellung dessen bestehen, welches die ökonomischen Grundlagen unseres Agrarprogramms sind, worauf sich die Forderung einer radikalen Revision zum Unterschied von einer nichtradikalen, reformerischen stütr zen kann und muß, und'schließlich in der konkreten Bestimmung des Inhalts dieser Revision vom Standpunkt des Proletariats (der.sich in seinem Wesen .vom radikalen .Standpunkt schlechthin unterscheidet). Praktisch : --* Siehe Werke, Bd. 10, S. 161-166. Die Red.

254

"W.7. Lenin

aber mußte die Weiterentwicklung des Programms die Erfahrungen der Bauernbewegung in Rechnung stellen. Ohne die Erfahrungen der Bewegung der Bauernmassen, ja mehr noch: der gesamtnationälen Bauernbewegung, konnte das Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nidbt konkrete Gestalt annehmen, denn die Frage zu entscheiden, inwieweit unsere Bauernschaft sich bereits kapitalistisch zersetzt hat, inwieweit sie einer revolutionär-demokratischen Umwälzung fähig ist, ist auf Grund bloßer theoretischer Erwägungen viel zu schwer, wenn nidit unmöglich. Im Jahre 1903, als der II. Parteitag unserer Partei das erste Agrarprogramm der SDAPR beschloß, fehlte es auch uns noch an solchen Erfahrungen über Charakter, Umfang und Tiefe der Bauernbewegung. Die südrussischen Bauernaufstände im Frühjahr 1902 blieben ein vereinzelter Ausbruch. Begreiflich ist daher, daß sich die Sozialdemokraten bei der Ausarbeitung des Agrarprogramms zurückhaltend verhielten: es ist ganz und gar nicht Sache des Proletariats, ein solches Programm für die bürgerliche Gesellschaft zu „erfinden"; wieweit sich aber die Bewegung der Bauernschaft gegen die Überreste der Fronherrschaft, eine Bewegung, die die Unterstützung des Proletariats verdient, entwickeln kann, war immer noch unklar. • Das Programm des Jahres 1903 macht den Versuch, den konkreten Inhält und die Bedingungen jener „Revision" zu bestimmen, von der die Sozialdemokraten 1885 in allgemeiner Form gesprochen hatten. Dieser Versuch fußte - im Hauptpunkt des Programms über die „Bödenabschnitte" - auf einer ungefähren Unterscheidung zwischen dem der fronherrlichen, knechtenden Ausbeutung dienenden Boden („die 1861 vom Land der Bauern abgetrennten Landstücke") und dem kapitalistisch bewirtschafteten Boden. Diese ungefähre Unterscheidung war völlig falsch, denn in der Praxis könnte sich die Bewegung; der Bauernmassen nicht gegen besondere Kategorien des gutsherrlichen Bodens richten; sondern nur gegen den gutsherrlichen Grundbesitz überhaupt. Das Programm von 1903 stellt die Frage, die 1885 noch nicht gestellt worden war, nämlich die Frage des Kampfes zwischen Batiern- und Gutsbesitzerinteressen im Augenblick jener Revision der Agrairverhältriisse,: die Von allen Sozialdemokraten ' als unvermeidlich anerkannt wurde. D'oeh: entscheidet das Programm von 1903 diese Frage falsch, denn stattidie konseqnent-bäuer-

Das Acjrarprogramm der Sozialdemokratie

255

liehe und die konsequent-junkerliche Methode der bürgerlichen Umwälzung einander gegenüberzustellen, konstruiert das Programm künstlich ein Mittelding zwischen beiden. Gewiß muß auch hier in Betracht gezogen werden, daß das Fehlen einer offenen Massenbewegung es damals unmöglich machte, die Frage auf Grund exakter Daten zu entscheiden, nicht aber auf Grund von Phrasen, frommen Wünschen oder kleinbürgerlichen Utopien, wie das die Sozialrevolutionäre taten. Niemand konnte im voraus mit Bestimmtheit sagen, wieweit die Differenzierung der Bauernschaft unter dem Einfluß des teilweisen Übergangs der Gutsbesitzer von der Abarbeit zur Lohnarbeit gediehen war. Niemand konnte feststellen, wie groß die nach der Reform von 1861 entstandene Landarbeiterschicht war und in welchem Maße sich ihre Interessen von denjenigen der verelendeten Bauernmassen geschieden hatten. Der Hauptfehler des Agrarprogramms von 1903 war jedenfalls, daß eine klare Vorstellung darüber fehlte, worum im Prozeß der bürgerlichen Revolution in Rußland der .Agrarkampf gehen kann und gehen muß, welches die Jypen der kapitalistischen Agrarevolution sind, die im Falle des Sieges der einen oder der anderen gesellschaftlichen Kräfte in diesem Kampf objektiv möglich sind,

2. Das gegenwärtige Agrarprogramm der SDJPR Das auf dem Stockholmer Parteitag beschlossene gegenwärtige Agrarprogramm der Sozialdemokratischen Partei bedeutet in einer wichtigen Frage im Vergleich zum vorhergehenden Programm einen beträchtlichen Fortschritt: Durch die Anerkennung der Konfiskation der Gutsbesitzerländereien* betrat die Sozialdemokratische Partei entschieden den Weg der Anerkennung der bäuerlichen Agrarrevolution. Die Worte des Programms: „während die Partei die revolutionären Aktionen der Bauernschaft einschließlich der Konfiskation der Gutsbesitzerländereien unterstützt..." bringen diesen. Gedanken mit aller Bestimmtheit zum Ausdruck. In der Diskussion, auf dem Stockholmer Parteitag sprach einer der Refe* Im Programmtext (Punkt 4) ist von privaten Ländereien, in der dem Programm beigelegten Resolution (2. Teil des Agrarprogramms) von Konfiskation der Qutsbesitzerländer&ien die Rede. .. , . - , -

256

W.l£enin

renten, Pleehanow, der gemeinsam mit John' 5 diesem Programm zur Annahme verhalf, direkt von der Notwendigkeit, mit der Furcht vor der „bäuerlichen Agrarrevolution" Schluß zu machen. (Siehe Referat Plechanows in den „Protokollen" des Stockholmer Parteitags, Moskau 1907, S.-42.) . Diese Anerkennung der Tatsache,.daß unsere bürgerliche Revolution in bezugr auf die Agrarverhältnisse als „bäuerliche Agrarrevolution" zu betrachten ist, hätte, so könnte man glauben, den größten Meinungsverschiedenheiten in der Sozialdemokratie über das Agrarprogramm ein Ende machen müssen. Tatsächlich kam es jedoch zu Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Sozialdemokraten die Aufteilung der Gutsbesitzerländereien und ihre Überführung in das Eigentum der Bauern, ob sie die Munizipalisierung der Gutsbesitzerländereien oder die Nationalisierung des gesamten Grund und Bodens unterstützen sollen. Wir müssen daher vor allem jenen von den Sozialdemokraten merkwürdig oft vergessenen Leitsatz aufstellen, daß diese Fragen ausschließlich vom Standpunkt der bäuerlidben Agrarrevolution in Rußland richtig entschieden werden können. Es handelt sich natürlich nicht darum, daß die Sozialdemokratie auf die selbständige Bestimmung der Interessen des Proletariats als einer besonderen Klasse in dieser Bauernrevolution verzichten soll. Nein. Es kommt vielmehr darauf an, sich über Charakter und Bedeutung gerade der bäuerlichen Agrarrevolution als einer Form der bürgerlichen Revolution überhaupt eine klare Vorstellung zu bilden. Wir können kein besonderes „Projekt" der Reform „erfinden". Wir müssen die objektiven Bedingungen der bäuerlichen Agrarumwälzung in dem sich kapitalistisch entwickelnden Rußland untersuchen, auf Grund dieser objektiven Analyse die irrtümliche Ideologie der einen oder der anderen Klasse vom realen Inhalt der ökonomischen Wandlungen unterscheiden und feststellen, was auf dem Boden dieser realen ökonomischen Wandlungen die Interessen der Entwicklung der Produktivkräfte und die Interessen des Klassenkampfes des Proletariats erheischen. Das heutige Agrarprogramm der SDAPR enthält (in besonderer Form) die Anerkennung des gesellschaftlichen Eigentums am konfiszierten Boden (Nationalisierung der Wälder, der Gewässer und des Umsiedlungsfonds, Munizipalisierung des privaten Grundbesitzes) — . zumindest bei. „siegreicher Entwicklung der Revolution". Für den Fall „ungünstiger

Bas Agrarprogramm der Sozialdemokratie

257

Bedingungen" wird die Aufteilung der Gutsbesitzerländereien unter die Bauern als deren Eigentnm anerkannt. Auf jeden Fall aber wird das Eigentnm der Bauern und der kleinen Ländeigentümer überhaupt an ihrem gegenwärtigen Boden anerkannt. Folglich sieht das Programm für das erneuerte bürgerliche Rußland zweierlei Formen des Bodenbesitzes vor: privates Grundeigentum und (zumindest bei siegreicher Entwicklung der Revolution) gesellschaftliches Eigentum in der Form von Munizipalisierung und Nationalisierung. ... Wie erklärten die Verfasser des Programms dieses Doppelsystem? Vor allem und vornehmlich mit den Interessen und Forderungen der Bauernschaft,, mit der Angst, sich der Bauernschaft zu entfremden, die Bauernschaft gegen das Proletariat und gegen die Revolution aufzubringen. Mit einem solchen Argument stellten sich die Verfasser und Anhänger des Programms auf den Boden der Anerkennung der bäuerlichen Agrarrevolution, auf den Böden der Unterstützung bestimmter Bauernforderungen durch das Proletariat. Und dieses Argument wurde von den einflußreichsten Anhängern des Programms ins Feld geführt, mit dem Gen. John an der Spitze! Um sich davon zu überzeugen, genügt es, einen Blick in die Protokolle des Stockholmer Parteitags zu werfen. In seinem Referat hat Gen. John dieses Argument offen und mit aller Entschiedenheit vorgebracht. „Sollte die Revolution", so sagte er, „zum Versuch der Nationalisierung des bäuerlichen Anteillands oder der konfiszierten Gutsbesitzerländereien führen, wie es Gen. Lenin vorschlägt, so würde eine solche Maßnahme eine konterrevolutionäre Bewegung nicht nur in den Randgebieten, sondern auch im Zentrum zur Folge haben. Nicht eine Vendee76 würden wir haben, sondern einen allgemeinen Bauernaufstand gegen den Versuch des Staates, sich in die freie Verfügung der Bauern über ihr eigenes (hervorgehoben von John) Anteilland einzumischen, gegen den Versuch, es-zu nationalisieren." (S. 40 der „Protokolle" des Stockholmer Parteitags.) Klar genug, aiicht wahr?. Eine Nationalisierung des eigenen Bauernbodens würde zum allgemeinen Bauernaufstand führen! Dies ist der Grund, warum der ursprüngliche Munizipalisierungsentwurf von X.; der die Überführung nicht nur des privaten Grundbesitzes,.: sondern „wenn möglich" des gesamten Grund und Bodens in den Besitz derSemstwos vorsah (zitiert in meiner Broschüre „Die Revision des Agrarprogramms

25&

W.J.Lenin

der Arbeiterpartei"*), durch den Munizipalisierungsentwurf Mäslows ersetzt wurde, der den Bauernboden aussdbloß. In der Tat, wie sollte man dieser nach 1903 entdeckten Tatsache der Unvermeidlichkeit eines Bauernaufstandes gegen die Versuche einer restlosen Nationalisierung nicht Rechnung tragen! Wie sollte man sich da nicht dem Standpunkt eines anderen namhaften Menschewiken, Kostrows 77 , anschließen, der in Stöckholm ausrief: „Mit ihm (dem Nationalisierungsprogramm) zu den1 Bauern gehen, heißt sie von sich abstoßen. Die Bauernbewegung wird über unsere Köpfe hinweg oder gegen uns ihren Lauf nehmen, und wir werden außerhalb der Revolution stehen. Die Nationalisierung nimmt der Sozialdemokratie die Kraft, sdineidet sie von der Bauernschaft ab und nimmt somit auch der Revolution die Kraft." (S.88.) Überzeugungskraft läßt sich dieser Argumentation nicht absprechen. In der bäuerlichen Agrarrevolution den Versuch machen, gegen den Willen der Bauernschaft ihren eigenen Boden zu nationalisieren! Kein Wunder, daß der Stockholmer Parteitag diesen Gedanken verwarf, nachdem er einmal John und Kostrow Glauben geschenkt hatte. W a r es aber nicht ein Fehler, daß er ihnen Glauben schenkte? : Angesichts der Wichtigkeit der Frage einer gesamtrussischen Vendee gegen die Nationalisierung^ kann ein kleiner historischer Rückblick nicht schaden. 3. Prüfung des Uauptarguments der Munizipalisierungsanbänger durdb das Leben Die von mir angeführten entschiedenen Erklärungen von John und Kostrow stammen aus dem Monat April 1906, d. h. aus der Zeit unmittelbar vor der ersten Duma. Ich führte den Nachweis (siehe meine Broschüre über die „Revision"**), daß die Bauernschaft für die Nationalisierung ist. Mir wurde darauf entgegnet, die Beschlüsse der Kongresse des „Bauernbündes" 7 ? seien nicht beweiskräftig, sie seien vom Geist der Sozialrevolutionären Ideologen angehaucht, die Bauernmasse würde sich derlei Forderungen niemals anschließen. J.." ; * Siehe Werke, BdJlO/S. 164.DieRei. ** Siehe Werke) Bd. 10, S. 157-189. Die Kid.

•'•--• '•• •••'-•

• ••

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

259

Seitdem ist diese Frage in der ersten und der zweiten Duma dokumentarisch entschieden worden. Vertreter der Bauernschaft aus allen Ecken und Enden Rußlands haben in der ersten und besonders in der II. Duma gesprochen. Nur Publizisten von der „Rossija"79 oder vom „Nowoje Wremja" könnten leugnen, daß die politischen und ökonomischen Forderungen der JWosse der Bauernschaft in diesen beiden Dumas zum Ausdruck gekommen sind. Man sollte meinen, der Gedanke der Nationalisierung des Bauernlandes sei jetzt, nach dem selbständigen Auftreten der Bauernabgeordneten vor den anderen Parteien, endgültig begraben? Man sollte meinen, den Anhängern Johns und Kostrows wäre es ein leichtes gewesen, die Bauernabgeordneten in der Duma zu Wehklagen über die Unzulässigkeit der Nationalisierung zu veranlassen? Man sollte meinen, die von Menschewiki geführte Sozialdemokratie hätte nun tatsächlich die Anhänger der Nationalisierung, die eine konterrevolutionäre gesamtrussische Vendee heraufbeschwören, von der Revolution „abschneiden" müssen? In Wirklichkeit kam es anders. In der ersten Duma waren es Stischinski und Gurko, die sich um den eigenen (hervorgehoben von John) Boden der Bauernschaft sorgten. In beiden Dumas verteidigten die. extremen Rechten gemeinsam mit den Vertretern der Regierung das Privateigentum am Grund und Boden, wobei sie jede Form gesellschaftlichen Grundeigentums - sowohl Münizipalisierung als auch Nationalisierung und Sozialisierung - gleichermaßen ablehnten.. In beiden Dumas sprachen sich die Bauernabgeordneten aus allen Ecken und Enden Rußlands - für die Nationalisierung aus. Gen. Maslow schrieb 1905: „Die Nationalisierung des Bodens kann man gegenwärtig in Rußland nicht als Weg zur Lösung (?) der Agrarfrage betrachten, vor allem deshalb nicht" (man beachte dieses „vor allem"), „weil sie eine hoffnungslose Utopie ist. Die Nationalisierung des Grund und Bodeps setzt die Übergabe des gesamten Grund und Bodens in die Hände des.Staates voraus. Aber werden denn die Bauern, besonders die Bauern mit eigenem Land, damit einverstanden: sein, ihren Boden irgend jemandem; freiwillig zu übergeben?" (P. Maslow, .„Kritik der Agrarprogramme", Moskau 1905, S. 200 ' '.-.'. Somit war 1905 die Nationalisierung „vor allem" deshalb eine hoffnungslose Utppie; weÜ die Bauern ihr nicht zustimmen würden.- ; •. • Im März 1907 schrieb derselbe Maslow•:.,,Alle Volkstümlergruppen

260

-W.!. Centn

(Trudowiki, Volkssozialisten, Sozialrevolutionäre) sprechen sich für eine Nationalisierurig des Bodens in der einen -oder anderen Form aus." („Obrasowanije", 1907, Nr. 3, S. 100.) Da habt ihr die neue Vendee! Da habt ihr den gesamtrussischen Aufstand der Bauern gegen die Nationalisierung! Doch statt über die lächerliche Lage nachzudenken, in welche die Leute geraten wären, die nach den Erfahrungen zweier Dumas von einer bäuerlichen Vendee gegen die Nationalisierung sprachen nnd schrieben statt für seinen 1905 begangenen Fehler eine Erklärung zu suchen, spielte P. Maslow den Hans Weißnichtmehr. Er zog es vor, sowohl die von mir zitierten Worte als auch die Reden auf dem Stockholmer Parteitag zu vergessen! Nicht genug damit. Mit der gleichen Leichtigkeit, mit der er 1905 behauptete, die Bauern würden nidbt einverstanden sein, behauptet er nunmehr das Qegenteil. Man höre: „Die Volkstümler, die die Interessen und Hoffnungen der Kleinbesitzer widerspiegeln" (hört, hört!), „mußten sich für die Nationalisierung aussprechen." („Obrasowanije", ebenda.) Da hat man ein Muster wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit unserer Munizipalisatoren! Als sie die schwierige Frage vor dem politischen Auftreten der gewählten Vertreter der Bauernschaft ganz Rußlands zu entscheiden hatten, da behaupteten sie unter Berufung sat die Kleinbesitzer das eine - nadh diesem Auftreten in beiden Dumas aber erklären sie unter Berufung auf dieselben „Kleinbesitzer" genau das Gegenteil. Als besonderes Kuriosum ist zu erwähnen, daß Maslow diese Neigung der russischen Bauern zur Nationalisierung nicht mit den besonderen Bedingungen der bäuerlichen Agrarrevolution, sondern mit den allgemeinen Eigenschaften des Kleinbesitzers in der kapitalistischen Gesellschaft erklärt. Unglaublich-, aber wahr: „Der Kleinbesitzer", orakelt Maslow, „fürchtet am allermeisten die Konkurrenz und die Herrschaft des Großgrundbesitzers, die Herrschaft des Kapitals..." Sie werfen alles durcheinander, Herr Maslow! Den (fronherrlidben) Großgrundbesitzer und den Kapitalseigentümer nebeneinanderstellen heißt kleinbürgerliche Vorurteile wiederholen. Der Bauer kämpft gerade deshalb so energisch gegen die fronherrlichen Latifundien, weil er im gegenwärtigen geschichtlichen Zeitpmikt der Vertreter der freien kapitalistischen Evolution-der Landwirtschaft isti

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

26 £

„Außerstande, auf ökonomischer Grundlage gegen das Kapital zu kämpfen, setzt der Kleinbesitzer seine Hoffnungen auf die" Regierungsgewält, die dem Kleinbesitzer gegen den Großgrundbesitzer zu Hilfe kommen soll... Hat der russische Bauer jahrhundertelang auf den Schutz der Zentralgewalt gegen Grundherren und Beamte gehofft..., hat in Frankreich Napoleon, gestützt auf die Bauern, die Republik im Keime erwürgt, so konnte er es. nur dank den Hoffnungen der Bauernschaft auf die Unterstützung durch die Zentralgewalt." („Obrasowanije", S. 100.)

Wie ausgezeichnet argumentiert doch Peter Maslow! Erstens, selbst wenn der russische Bauer in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation die gleichen Eigenschaften an den Tag'legen sollte wie der französische Bauer unter Napoleon - was hat die Nationalisierung des Bodens damit zu schaffen? Der französische Bauer war ja unter Napoleon niemals für die Nationalisierung und konnte es auch nicht sein. Ein bißchen konfus das Ganze, Herr Maslow! Zweitens, was soll hier der Kampf gegen das Kapital? Es handelt sich um' einen Vergleich zwischen bäuerlichem Grundbesitz und Nationalisierung des gesamten Bodens/darunter auch desjenigen der Bauern. Der französische Bauer unter Napoleon klammerte sich fanatisch an den Kleinbesitz, denn er sah darin einen Schutzwall gegen das Kapital, der russische aber... Noch einmal, wo ist hier der Zusammenhang zwischen : Anfang und Ende, Verehrtester?: Drittens, wenn Maslow von Hoffnungen auf die Regierangsgewalt spricht, so tut er, als ob die Bauern die Schädlichkeit der Bürokratie, die Bedeutung der Selbstverwaltung nicht verstanden, er aber, der fortschrittliche : Peter Maslow, er- weiß diese zu schätzen. Eine allzu vereinfachte Kritik an den Volkstümlern! Es genügt, den bekannten, inder ersten und in der II.-Duma eingebrachten Agrarentwurf der Trudowiki (Entwurf der 104) zu betrachten, damit man den ganzen Schwindel der Argumentation (oder Anspielung?) Maslows erkennt. Jwt Qegenteil, die Tatsachen zeugen davon, daß der Entwurf der:Trudowiki die Prinzipien der Selbstverwaltung und die : Gegnerschaft gegen die bürokratische Lösung der Bodenfrage sdhärfer'zwo. Ausdruck bringt als das nach Maslow verfaßte sozialdemokratische Programm! Unser Programm spricht nämlich nur von „auf demokratischer Grundlage" gewählten örtlichen Selbstverwaltungsorganen, während im Entwurf der Trudowiki (§ 16) klipp und klar von

262



-'. . :

xW: 7. Lenin

örtlichen Selbstverwaltungsorganen die Rede ist, die „aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen"•" hervorgegangen sind. Nicht genug damit. Der gleiche Entwurf sieht die-bekanntlich von den Sozialdemokraten unterstützten Örtlichen Bodenkomitees vor, die in gleicher Weise gewählt werden sollen und die Aufgabe haben (§§ 17-20), die Erörterung der Bodenreform zu organisieren und letztere vorzubereiten. Die bürokratische Methode der Durchführung der Agrarreform wurde von den "Kadetten, nicht von den Trudowiki verteidigt, von den liberalen Bourgeois, nicht von den Bauern. Wozu hatte es Maslow nötig,diese allgemein; bekannten Tatsachen zu entstellen? •; Viertens. In seiner wunderbaren „Erläuterung", weshalb die Kleinbesitzer „sich für die Nationalisierung aussprechen mußten", betont Maslow die Hoffnung des Bauern auf Schutz durch die Zentralgewalt. Dies ist ein Unterscheidungspunkt zwischen Munizipalisierung und Nationalisierung: hier örtliche Organe, dort die Zentralgewalt. Das ist eine Lieblingsidee von Maslow, auf deren eigentliche ökonomische und politische Bedeutung wir noch ausführlich zu sprechen kommen werden. Hier weisen wir nur darauf hin, daß Maslow der Frage aus dem Wege zu gehen sucht, die ihm von der Geschichte unserer Revolution gestellt ist, nämlich der Frage,; warum die Bauern die Nationalisierung ihres eigenen Grund und Bodens nidbt sdbeuen. Hier liegt der Kern der Frage! Doch das ist noch nicht alles. Besonders pikant in diesem Maslowschen Versuch, die klassenmäßigen Wurzeln, der von den Trudowiki vertretenen Nationalisierung zum Unterschied von der Munizipalisierung zu erklären, ist der folgende Umstand: Maslow verheimlicht dem Leser, daß die Frage der unmittelbaren Verfügung über den: Boden von den Volkstümlern ebenfalls zugunsten der lokalen Selbstverwaltungen entschieden worden ist! Die Erörterungen Maslows über die „Hoffnungen" des Bauern auf die Zentralgewalt sind nichts anderes als Intellektuellenklatsch über den Bauern. Man lese den Paragraph 16 des Agrarentwurfs, den die Trudowiki in beiden Dumas eingebracht haben. Er lautet: „Die Verwaltung des dem ganzen Volk gehörenden Bodenfonds ist den örtlichen Selbstverwaltungen zu übergeben, die aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervorgegangemsind und inden gesetzlich festgelegten Grenzen selbständig wirken." " Man vergleiche damit die entsprechende Forderung unseres Programms:

Das Jgrarprogramm der Sozialdemokratie

263

„ . , . fordert die S D A P R : . . . 4. Konfiskation der privaten Ländereien, mit Ausnahme des kleinen Grundbesitzes, und ihre Übergabe in die Verfügung großer auf demokratischer Grundläge gewählter örtlicher Selbstverwaltungsorgane" (;,die städtische und ländliche Kreise vereinigen" Punkt 3). . Was ist hier der Unterschied vom Standpunkt der Recht&der zentralen •und-der örtlichen Gewalt?„Wodurch unterscheiden sich „Verwaltung" und „Verfügung"? :[-'. .:-:-. "'.'. Weshalb mußte Maslow bei der Erörterung der Stellung der Trudowiki zur Nationalisierung vor den Lesern — vielleicht auch vor sich selbst? - den Inhalt dieses Paragraphen 16 verheimlichen? Deshalb, weil er seine ganze unsinnige „Munizipalisierung" restlos zerschlägt. • Man sehe sich die Argumente Maslows zugunsten dieser Munizipalisierung vor dem Stockholmer Parteitag an, man lese die Protokolle dieses Parteitags - man wird dort eine Unmenge von Berufungen auf die Unzulässigkeit der Unterdrückung von Nationalitäten und Randgebieten, der Außerachtlassung: der Verschiedenheft lokaler Interessen usw. usf. finden. Bereits vor. dem Stockholmer Parteitag habe ich Maslow darauf aufmerksam gemacht (siehe „Die Revision", S. 18*), daß alle derartigen Argumente „ein einziges Mißverständnis" sind, denn unser Programm - sagte ich - enthält bereits die Anerkennung sowohl des Rechts der Nationalitäten auf Selbstbestimmung als auch einer umfassenden lokalen wie regionalen Selbstverwaltung. Folglich braucht man von dieser Seite her keine weiteren „Sicherungen" gegen übermäßige Zentralisation, Bürokratisierung und Reglementierung zu erfinden und darf es nicht tun, denn entweder wäre das inhaltslos, oder es könnte in antiproletarischem, föderalistischem Sinne ausgelegt werden. Die Jrudowiki haben den Verfechtern der Munizipalisierung bewiesen, 'daß[ich recht hatte. Maslow muß-jetzt zugeben, daß alle Gruppen, die den Standpunkt und die Interessen der Bauernschaft zum Ausdruck bringen, sich für die Nationalisierung ausgesprochen haben in einer 7orml die die Rechte und Vollmachten der örtlichen Selbstverwaltungen nicht weniger wahrt als Maslow! Das Gesetz über die Grenzen der Rechte der örtlichen Selbstverwaltungen muß vom zentralen Parlament beschlossen werden - Mas*~Siehe Werke, Bd. 10, S. 175. T3ie.Ti.ed.

264

:

W.l Lenin

low sagt das nidit, aber keine Vogel-Strauß-Politik wird hier helfen, denn eine andere Verfahrensweise kann man sich gar nicht denken. Die Worte- „Übergabe in die Verfügung" verursachen die größte Konfusion. Niemand weiß, wer eigentlich Eigentümer* der konfiszierten Gutsbesitzerländereien ist! Da dies niemand weiß, kann als Eigentümer nur der Staat auftreten. Worin nun die „Verfügung" besteht, welches ihre Grenzen sind, ihre Formen -und Bedingungen - das kann wiederum nur das Zentralparlament festsetzen. Das versteht sich eigentlich von selbst, aber das Programm unserer Partei hebt außerdem noch ausdrücklich die „Wälder von staatlicher Bedeutung" und den „Umsiedlungsfonds" hervor. Es ist klar, daß nur die zentrale Staatsgewalt aus der allgemeinen Masse der Wälder die Wälder „von staatlicher Bedeutung" • und aus der allgemeinen Bodenmasse den „Umsiedlungsfonds" bestimmen kann. Kurzum, das Maslowsche Programm, das nunmehr in besonders verzerrter Gestalt zum Programm unserer Partei geworden ist,nst im Vergleich zum Programm der Trudowiki völlig sinnlos. Kein Wunder, daß Maslow genötigt war, in der Frage der Nationalisierung sogar den napoleonischen Bauern heranzuziehen, nur um der Öffentlichkeit zu verhehlen, in welch unsinnige Situation wir uns durch die konfuse „Munizipalisierung" gegenüber den Vertretern der bürgerlichen Demokratie gebracht haben! , • -. Der einzige durchaus reale und unbedingte Unterschied liegt in der Stellung zum Anteilland der Bauern. Dieses Land wurde von Maslow nur deshalb gesondert behandelt, weil er eine „Vendee" fürchtete. Es erwies sieh aber, daß die in die I. und II. Duma entsandten Bauernabgeordneten die Ängste der sozialdemokratischen Nachtrabpolitiker einfach verlachten, indem sie sich für die Nationalisierung ihres eigenen Landes aussprachen! Die Munizipalisatoren müssen jetzt gegen die Trudowikibauern zu Felde ziehen und ihnen nachweisen, daß sie ihr Land nicht nationalisieren sollen. Die Ironie der Geschichte hat die Argumente der Maslow, John, Koströw und Co. gegen sie selber gekehrt. * Die Menschewiki haben auf dem Stockholmer Parteitag einen Antrag, der die Worte „in die Verfügung" durch die Worte „in das Eigentum" ersetzt haben wollte, abgelehnt (S. 152 der Protokolle). Nur in der taktischen Resolution heißt es: „in den Besitz", bei „siegreicher Entwicklung der Revolution", die überhaupt nicht genauer definiert wird. .".."'..

Das Agrarprogramm. der Sozialdemokratie

4. Das Agrarprogratnni

der Bauernsdbajt

265

•'„ -

Versuchen wir, in der Frage Klarheit zü.gewinnen, vor der P. MasloW sich so hilflös abstrampelte (warum nämlich alle politischen Gruppen, die die Interessen und Hoffnungen der Kleinbesitzer zum Ausdruck bringen, sich für die Nationalisierung aussprechen mußten). Untersuchen wir vor allem, wieweit der Agrarentwurf der 104, d. h* der Trudowiki in der ersten und zweiten Duma, die Forderungen der Bauernschaft ganz Rußlands tatsächlich zum Ausdruck bringt. Davon zeugen die Zusammensetzung der Vertretung in beiden Dumas sowie der Charakter des politischen Kampfes, der auf der „parlamentarischen" Bühne zwischen den Interessenvertretem der verschiedenen Klassen in der Agrarfrage entbrannte. Der Gedanke des Eigentums am Grund und Boden überhaupt und des Eigentums des Bauern im besonderen war in der Duma nicht nur in keiner Weise in den Hintergrund gedrängt, sondern wurde umgekehrt von bestimmten Parteien stets in den Vordergrund geschoben. Die Regierung in Gestalt der Herren Stischinski, Gurko, sämtlicher Minister und der ganzen Staatspresse verfocht diesen Gedanken, wobei sie sich speziell an die Bauernabgeordneten wandte. Auch die rechten politischen Parteien, angefangen mit dem „berühmten" SwjatopolkMirski in der II. Duma, predigten den Bauern immer wieder die Vorteile des bäuerlichen Eigentums am Grund und Boden. Die faktische Verteilung der Kräfte in dieser Frage trat auf Grund so umfangreichen Materials zutage, daß ihre Richtigkeit (vom Standpunkt der Klasseninteressen) nicht angezweifelt werden kann.Als die Liberalen das revolutionäre Volk für eine Macht hielten und mit ihm liebäugelten, wurde die Kadettenpartei in der I. Duma auch vom allgemeinen Strom in Richtung der Nationalisierung des Bodens mitgerissen. Bekanntlich enthält der Agrarentwurf der Kadetten in der ersten Duma einen Punkt über eine „staatliche Bodenreserve", der alle zu enteignenden Ländereien zwecks Verteilung zu langfristiger Nutzung überwiesen werden. Natürlich haben die Kadetten in der I. Duma diese Forderung nicht aus irgendeinem Prinzip heraus aufgestellt — es wäre lächerlich, von einer prinzipiellen Einstellung der Kadettenpartei zu sprechen -, nein, diese Forderung trat bei den Liberalen als schwacher Widerhall der Forderungen der Bauernmassen auf den Plan. Bereits in der ersten Duma begannen sich die Bauernabgeordneten so18 Lenin, Werke, Bä. 13

266

"W.I.Lenin

gleich zu einer besonderen politischen Gruppe zusammenzuschließen, und der Agrarentwurf der „104" ward zur wichtigsten und grundlegenden Plattform der als bewußte soziale Kraft auftretenden Bauernschaft ganz Rußlands. Die Reden der-Bauernabgeordneten in der L und II. Duma, die Artikel der „Trudowiki"presse („Iswestija Krestjanskich Deputatow", „Trudowaja Rossija") haben gezeigt, daß der Entwurf der 104 die Interessen und Hoffnungen der Bauern zutreffend zum Ausdruck bringt. Daher erscheint es geboten, sich mit diesem Entwurf etwas eingehender zu beschäftigen. . . übrigens ist es von Interesse, die Zusammensetzung der Abgeordneten zu betrachten, die ihn unterschrieben haben. In der I. Duma sind es 70 Trudöwiki, 17 Parteilose, 8 Bauern, die über ihre politische Einstellung keine näheren Angaben, gemacht haben, 5 Kadetten*, 3 Sozialdemokraten** und ein litauischer Autonomist. In der II. Duma stehen unter dem Entwurf der „104" 99 Unterschriften; rechnet man Wiederholungen ab, so bleiben 9 1 ; davon 79 Trudöwiki, 4 Volkssozialisten, 2 Sozialrevolutionäre, 2 Mitglieder der Kosakengruppe, 2 Parteilose, ein links von den Kadetten -stehender Abgeordneter (Peterson) und ein Kadett (der Bauer Odnokosow). Es überwiegt die Bauernschaft (mindestens 54 von den 91 Unterschriften in der II. Duma, mindestens 52 von 104 in der I.). Interessant ist dabei, daß auch die besonderen Erwartungen P. Maslows in bezug auf die Bauern mit eigenem Land (s. Zitat oben***), die der Nationalisierung nicht zustimmen können, von den Bauernvertretern in beiden Dumas völlig widerlegt worden sind. Im Gouvernement Podolien sind z. B. fast sämtliche Bauern Bauern mit eigenem Cand (1905 - 457 134, und nur 1630 gehören zur Dorfgemeinde). Und doch haben in der I. Duma 13 podolische Abgeordnete (meist Ackerbauern) und in der zweiten Duma 10 den Entwurf der „104" unterzeichnet! Aus-anderen Gouvernements mit privatem Grundbesitz erwähnen wir die Gouvernements Wilnä, Kowno, Kiew," Poltawa, Bessarabien und Wolhynien, deren Abgeordnete ebenfalls den Entwurf der 104 unterzeichnet haben. Der Unter* Gawr. Subtschenko, T. Wolkow, M. Gerassimow - alle drei Bauern; ferner S. Loshkin, Arzt, und Afanasjew, Geistlicher. ** Antonow, Arbeiter aus dem Gouv. Perm,- Jerschow,, Arbeiter aus dem Gouv. Kasan; W. Tschurjukow, Arbeiter aus dem Gouv. Moskau. *** Siehe den vorliegenden Band, S. 259. Die Red. -

Bas Agrarprögramm der Sozialdemokratie

267

schied zwischen Dorfgemeindebauem und JBauern mit eigenem Land in der Frage der Nationalisierung des Grund und Bodens kann nur Anhängern der Volkstümlervörurteile bedeutsam und wesentlich erscheinen und-diese Vorurteile-wurden, nebenbei gesagt, schon durch das erste Auftreten der Bauefnabgeordrieten ganz Rußlands mit einem Agrarprögramm aufs stärkste_ersdiütterfc'In Wirklichkeit basiert die Forderung nach Nationalisierung des Grund und Bodens durchaus nicht auf.einer besonderen Form des Grundbesitzes, nicht auf den „Gemeinschaftsgewohnheiten und -Instinkten" der Bauern", sondern .auf den allgemeinen Verhältnissen des ganzen von den fronherrlichen Latifundien niedergedrückten kleinbäuerlichen Grundbesitzes (sowohl der Dorfgemeinde als auch des Bauern mit eigenem Land). ' .'.. . Unter den Abgeordneten der I. und II. Duma, die den-Nationalisierungsentwurf der 104 unterzeichnet haben, sehen wir Vertreter aller Gegenden Rußlands - n i c h t nur-des zentralen Landwirtschaftsgebietes und der nicht zum Schwarzerdegebiet gehörenden Industriegouvernements, nicht nur der nördlichen (Gouv. Archangelsk und Wologda in der II. Duma), der östlichen und südlichen Randgebiete (Gouvernements und Gebiete Astrachan, Bessarabien, Dongebiet, Jekaterinoslaw, Kuban, Taurien, Stawropol), sondern auch der kleinrussischen, der südwestlichen und nordwestlichen Gouvernements sowie Polens (Gouv. Suwalki) und Sibiriens (Gouv. Tobolsk). Offenbar macht sich der Druck der fronherrlichen Großgrundbesitzer auf den Kleinbauern, der im rein russischen zentralen Landwirtschäftsgebiet am stärksten und unmittelbarsten zum Ausdruck kommt, in ganz Rußland geltend und führt überall dazu, daß die Kleinbauern den Kampf für die Nationalisierung des Bodens unterstützen. Diesem Kampf haften unverkennbare Züge von kleinbürgerlichem Individualismus an. In diesem Zusammenhang ist eine Tatsache besonders hervorzuheben, die in unserer sozialistischen Presse allzu häufig ignoriert wird: daß nämlich der „Sozialismus" der Sozialrevolutionäre schon beini ersten Auftreten der Bauern in der offenen gesamtrussischen politischen Arena mit einem selbständigen Agrarprögramm die schwerste Niederlage erlitten hat. Für den Sozialrevolutionären Entwurf zur Sozialisierung des Bodens (Entwurf der „33" in der I. Duma) sprach sich nur eine Minderheit der fortschrittlichenBauernabgeordneten aus. Die übergroße Mehrheit stellte sich hinter 0116:104/ hinter den Entwurf der VölkssoziaHsten,

268

WJ. Centn

deren Programm von den Sozialrevolutionären selbst als individualisiisöh bezeichnet wird. In dem Sozialrevolutionären „Sammelband" (Verlag „Nasdia Mysl", St. Petersburg 1907, Nr. 1) finden wir zum Beispiel einen Aufsatz von Herrn P. Wichljajew: „Die Volkssozialistisdie Partei raid die Agrarfrage". Der Verfasser kritisiert den Volkssozialisten Peschecbonow und führt selber dessen Worte an, wonach „der Entwurf der 104 unseren (den volkssozialistischen) Standpunkt hinsichtlich der Art und Weise widerspiegelt, wie man vom Boden Besitz ergreifen kann" (S. 81 des genannten ;,Sammelbandes"). Die Sozialrevolutionäre erklären geradeheraus, der Entwurf der 104 „gelangt zur Negierung des Grandprinzips der gemeindlichen Bodennutzung" - „in gleicher 'Weise" (sie!) wie die Agrargesetzgebung Stolypins, wie das Gesetz vom 9. November 1906 (ebenda, S. 86; wir werden weiter zeigen, wie die Sozialrevolutionäre durch ihre Vorurteile daran gehindert wurden, den realen ökonomischen Unterschied der beiden Wege.- des Stolypinschen und des von den Trudowiki vertretenen, zu erkennen). Die Sozialrevolutionäre erblicken in den programmatischen Auffassungen Peschechonows „Erscheinungsformen eines eigennützigen Individualismus" (S. 89), eine „Verunreinigung des breiten ideellen Stromes durch individualistischen Schlamm" (S. 91), eine „Begünstigung individualistischer und egoistischer Strömungen in den Volksmassen" (ebenda, S. 93). Das trifft alles zu. Vergebens aber hoffen die Sozialrevolutionäre, durch „starke" Worte die Tatsache vertuschen zu können, daß der Kern der Frage gar nicht im Opportunismus der Peschechonow und Co., sondern im Individualismus des Weinbauern zu suchen ist; nicht in der Verunreinigung des ideellen Sozialrevolutionären Stroms durch die Peschechonow und Co., sondern in der Tatsache, daß die Mehrheit der fortsdhrittlidben Bauernahgeordneten den wahren ökonomischen Inhalt der Volkstümlerrichtung, die wahren Bestrebungen der kleinen Landwirte erkannt hat. Das Fiasko, das die Sozialrevolutionäre Politik erlitt, als sie vor einer breiten, wirklich gesamtrussischen Vertretung der Bauernmassen zur. Diskussion stand — das ist es, was uns die Agrärentwürfe der 104 in der I. und II. Duma gezeigt haben.* .. . .••...'.• * Aus den stenografischen Berichten der zweiten Duma geht hervor, daß der Sozialrevolutionär Muschenko einen von 105 Abgeordneten unterzeichneten

Das Agrarprotjramm der Sozialdemokratie

269

. Während/sieh die Trudöwikr in. ihrem Entwurf für die Nationalisierung des Grund und Bodens aussprechen, offenbaren sie zugleich mit aller Klarheit: die .^egoistischen -und:individualistischen" Bestrebungen der Kleinbauern. Sie lassen das Anteilland und den kleinen privaten Grundbesitz in den Händen: ihrer heutigen Besitzer (§ 3 des Agrarentwurfs der 104) und verlangen lediglich gesetzgeberische Maßnahmen, die „ihren allmählichen Übergang in allgemeines Volkseigentum" gewährleisten. In die Sprache der tatsächlichen Wirtschaftsverhältnisse übersetzt, bedeutet dies: Wir gehen von den Interessen der wirklichen Besitzer, der tatsächlichen und nicht nur nominellen Landwirte aus, wir wollen aber, daß ihre wirtschaftliche Betätigung sich völlig frei auf nationalisiertem* Boden entfalten soll. Paragraph 9 des Entwurfs, der besagt: „ ; . . in der ReihenAgrarentwurf vorgelegt hat. Leider gelang es mir nicht, diesen Entwarf zu bekommen. An Dumamaterial stand mir nur der auch in der zweiten Duma eingebrachte Trudowiki-Entwurf der 104 zur Verfügung. Der Sozialrevolutionäre Entwurf der 105 zeigt folglich angesichts des Vorhandenseins dieser beiden Trudöwiki-Entwürfe (I; und II. Duma) bestenfalls nur das Schwanken mancher Bauern zwischen Volkssozialisten und Sozialrevolutionären, widerlegt aber nicht das von mir im Text Gesagte. * Nebenbei. A. Finn-Jenotajewski, der den Ernst und die Bewußtheit der Nationalisierungsbestrebungen des Bauernbundes und der Bauernschaft überhaupt bestritt, zitierte die Aussage Herrn W. Gromans, die Delegierten der Bauernkongresse „dächten an keine Zahlung für den Boden" und könnten sich überhaupt nicht vorstellen, daß die Differentialrente dem Kollektiv als Ganzem zufallen solle („Die Agrarfrage und die Sozialdemokratie", A. Finn, S. 69). Die Paragraphen? und 14 des Entwurfs der 104 zeigen, daß diese Auffassung irrig ist. In diesen Paragraphen sind von den Trudowiki sowohl Zahlung für den Boden (mit dem Umfang des Anteils steigende Bodensteuer) als auch Übergang der Differentialrente an den Staat vorgesehen („Beschränkung des Rechts auf Wertzuwachs" des Bodens, „insofern dieser nicht von den Besitzern, von ihrer Arbeit und ihrem Xapitäl - NB! Die Trudowiki sind nicht gegen das Kapital! -, sondern von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängt"). Zwar heißt es über städtischen und anderen Grund und Boden im Paragraph 7: „Bis zu dem Zeitpunkt, wo dieser Besitz allgemeines Volkseigentum wird", müssen die Rechte der Besitzer usw. beschränkt werden. Das ist aber wohl ein Lapsus, sonst würde das heißen, die Trudowiki entziehen die Rente den Eigentümern, geben sie aber den Besitzern, den Pächtern des dem gesamten Volke gehörenden Bodens wieder zurück!

270

.

IV. f. Lenin

folge hat die: ortsansässige Bevölkerung den Vorrang vor Zugezogenen sowie die landwirtschaftliche vor der nichtlandwirtschaftlichen", zeigt erneut, daß die Trudowiki die Interessen der kleinen Landwirte in den Vordergrund stellen. „Gleiches Recht auf Boden" ist nur eine Phrase; staatliche Darlehen und Subventionen an „Personen, die keine genügenden Mittel besitzen, um alles für die Wirtschaftsführung Notwendige zu beschaffen" (§ 15 des Agrärentwurfes der 104) - das ist nichts als ein frommer Wunsch. In Wirklichkeit gewinnen unausbleiblich und unvermeidlich jene, die heute schon wirtschaftlich starke Bauern werden "können! die heute schon aus geknechteten Bauern zu freien und wohlhabenden Landwirten werden können. Natürlich erfordern es die Interessen des Proletariats, solche Maßnahmen zu unterstützen, die dazu beitragen, in größtmöglichem Maße die Landwirtschaft Rußlands aus den Händen der fronherrlichen Gütsbesitzer und der geknechteten, durch Unwissenheit, Not und überlebte Arbeitsmethoden niedergedrückten Bauern in die Hände von Farmern zu überführen. Und der Entwurf der „104" ist nichts anderes als eine Plattform des Kampfes für die Umwandlung des vermögenden Teils der geknechteten Bauernschaft in ein freies Farmertum. . , . . 5. MtteMterlidher Grundbesitz und bürgerliche Revolution Nunmehr fragt es sich: Gibt es unter den ökonomischen Bedingungen der russischen bürgerlich-demokratischen Agrarumwälzung materielle Gründe, die die Kleineigentümer dazu bewegen, die Nationalisierung des Bodens zu verlangen, oder ist diese Forderung auch nur eine Phrase, nur ein frommer. Wunsch des schlichten Bäuerleins, ein leerer Wahn des patriarchalischen Landwirts? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst die Bedingungen einer jeden bürgerlich-demokratischen Umwälzung in der LandWirtschaft konkreter vorstellen und sodann diesen Bedingungen jene beiden Wege der kapitalistischen Agrarevolution gegenüberstellen, die, wie wir oben dargelegt haben,, für Rußland möglich sind. Über die Bedingungen der bürgerlichen Umwälzung in-der Landwirtschaft vom Standpunkt der Grundbesitzverhältnisse äußert sich sehr an-

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

27t

schaulich Marx im letzten Band der „Theorien über den Mehrwert" (I.I.Band, 2.Teil, Stuttgart1905*). Nach einer Analyse der Auffassungen von Rodbertus, nachdem er die ganze-Beschränktheit der Theorie dieses pommerschen Landjunkers ge-~ zeigt und-detailliert jede,einzelne Äußerung seines Blödsinns (II, l.Teil, S: 256-258, erster Blödsinn-sechster Blödsinn des Herrn Rodbertus**) aufgezählt hat, geht.Marx zur Renteritheorie Ricardos über (II, 2. Teil, § 3b, „Die historischen Bedingungen der Ricardoschen Theorie") 80 . „Beide aber", so sagt Marx über Ricardo und Anderson - „gehen von der auf dem Kontinent so wunderlich scheinenden Ansicht aus, daß 1. kein Grundeigentum als Fessel für die beliebige Kapitalanlage auf Grund und Boden existiere; 2. daß vom besseren zum schlechteren Boden fortgegangen wird. Bei Ricardo ist dieses — die Unterbrechungen durch. Reaktion der Wissenschaft und Industrie abgerechnet, absolut; bei Anderson wird der schlechtere Boden wieder in besseren verwandelt - relativ- 3. daß immer das Kapital vorhanden ist, die gehörige Kapitalmasse, um auf die Agrikultur angewandt zu werden. ' . . Was nun 1 und 2 angeht, so muß das den Kontinentalen sehr sonderbar erscheinen,,daß in dem Land, wo in ihrer Vorstellung.das feudale Grundeigentum sich am stärksten erhalten hat, die Ökonomen von der Vorstellung ausgehen, daß kein Grundeigentum existiert, Anderson sowohl wie Ricardo. Es erklärt sich dieses erstens.- aus der Eigentümlichkeit des englischen ,law of endosures'" (Gesetzes über Einhegung, d. h. über Einhegung des Gemeindelandes), „das durchaus keine Analogie hat mit den kontinentalen Gemeinheitsteilungen; zweitens-. Nirgendwo in der Welt hat die kapitalistische Produktion, seit Heinrich VII., so rücksichtslos mit den traditionellen Verhältnissen des Ackerbaus geschaltet und sich ihre Bedingungen so. adäquat (ideal entsprechend) gemacht und unterworfen. England ist in dieser Hinsicht das revolutionärste Land der Welt. Alle historisch überlieferten Verhältnisse, nicht nur die Lage der Dorfschaften, sondern die Dorfschaften selbst, nicht nur die Wohnsitze der landwirtschaftlichen Bevölkerung, sondern diese Bevölkerung selbst, nicht nur die ursprünglichen Zentren der Be* Titel bei Lenin deutsch. T>erUbers.: ** Bei Lenin deutsch. Der Tibers.

:^.

as Agrarprogramm der Sozialdemokratie

293

durch entschuldigt, daß wir die Agrarfrage inmitten angestrengter Parteiarbeit während der Revolution erörtern mußten: zuerst nach dem 9. Januar 1905, einige Monate vor dem Ausbruch der Revolution (der „III. Parteitag der SDAPR" der Bolscliewild in London im Frühjahr 1905 und die gleichzeitige Konferenz der Minderheit in Genf), dann unmittelbar nach dem Dezemberaufstand88 und in Stockholm kurz vor dem Zusammentritt der ersten Duma. Dieser Mangel muß jetzt aber auf jeden Fall behoben werden, und im besonderen ist eine Analyse der theoretischen Seite des Problems der Nationalisierung und Munizipalisierung dringend erforderlich. i. "Was heißt 'Nationalisierung des Qrund und Bodens1? Wir haben oben die landläufige Formulierung des jetzt allgemein anerkannten Satzes angeführt: „Alle Volkstümlergruppen sprechen sich für die Nationalisierung des Bodens aus." In Wirklichkeit jedoch ist diese landläufige Formulierung sehr ungenau, und „allgemein Anerkanntes" gibt es in ihr, wenn man.eine wirkliche Gleichartigkeit der Vorstellung von dieser „Nationalisierung" bei den Vertretern der verschiedenen politischen Richtungen im Auge hat, sehr wenig. Die Masse der Bauern fordert den .Grund, und Boden: spontan, weil sie durch die fronherrlichen Latifundien unterdrückt wird, und verbindet mit dem Übergang des Grund und Bodens an das Volk keinerlei einigermaßen klare ökonomische Vorstellungen. Der Bauer ist nur von einem ausgereiften, sozusagen aus Leiden geborenen und durch lange Jahre der Unterdrückung erhärteten Verlangen erfüllt, den landwirtschaftlichen Kleinbetrieb zu erneuern, zu festigen, zu sichern, zu erweitern, ihn zum herrschenden zu machen weiter nichts. Dem Bauern schwebt nur der Übergang der gutsherrlichen Latifundien in seine Hände vor; der Bauer kleidet die unklare Idee der Einheit aller Bauern als Masse in diesem Kampf in die Worte vom Volkseigentum am Grund und Boden. Den Bauern leitet der Instinkt des Landwirts, der sich behindert fühlt durch die endlose Zersplitterung der Versprechen, die bürgerlich-demokratische Umwälzung in der Landwirtschaft eben nicht bis zum .logischen' Ende, denn ein solches ,logisches' (und ökonojniscJjes) Ende ist im Kapitalismus nur die Nationalisierung des Grund und Bodens, wodurch die absolute Rente in Wegfall kommt."

294

.

.

W. 1. Lenin

gegenwärtigen Formen des mittelalterlicheri-Grundbesitzes, durdi die Unmöglichkeit, den Boden in vollem Einklang mit seinen Forderungen als „Unternehmer" zu bearbeiten, wenn diese ganze mittelalterliche Buntscheckigkeit des Grundbesitzes erhalten bleibt. Die ökonomische Notwendigkeit, den gutsherrlichen Grundbesitz abzuschaffen und auch die

„kesseln"

des AnteiUandbesitzes

abzuwerfen••-

in diesen

negativen Begriffen erschöpft sich die bäuerUdbe Auffassung von der Nationalisierung. Welche Formen des Grundbesitzes sich in der Folge für den erneuerten Kleinbetrieb als notwendig erweisen werden, nachdem dieser die gutsherrlichen Latifundien sozusagen verdaut hat, darüber macht sich der Bauer keine Gedanken. Auch in der Ideologie der Volkstümler, die die Forderungen und Hoffnungen der Bauernschaft ausdrückt, dominieren im Begriff (oder in der unklaren Idee) der Nationalisierung zweifellos die negativen Seiten. Die alten Hindernisse beseitigen, den Gutsbesitzer davonjagen, „die Schranken niederreißen", die Fesseln des Anteillandbesitzes sprengen, den Kleinbetrieb festigen, die „Ungleichheit" (die gutsherrlichen Latifundien) durch „Gleichheit/Brüderlichkeit, Freiheit" ersetzen - damit erschöpft sich zu neun Zehnteln die Volkstümlerideologie. Gleiches Recht auf Grund und Boden, ausgleichende Bodennutzung, Sozialisierung - all das sind nur verschiedene Ausdrucksformeh für dieselben Ideen, und all das sind vorwiegend negative Begriffe, denn eine neue Ordnung im Sinne eines bestimmten Systems der sozialökonomischen Beziehungen stellt der Volkstümler-sich nicht vor. Für den Volkstümler ist die gegenwärtige Agrarumwälzung ein Übergang von der Fronherrschaft, von der Ungleichheit, von der Unterdrückung überhaupt zu Gleichheit und Freiheit - und weiter nichts. Das ist die typische Beschränktheit des bürgerlichen Revolutionärs, der die kapitalistischen Eigenschaften der neuen Gesellschaft nicht sieht, deren Schöpfer er ist. : : Im Gegensatz zur naiven Auffassung der Volkstümler analysiert der Marxismus die entstehende neue Gesellschaftsordnung. Selbst bei vollster Freiheit der Bauernwirtschaft, bei vollster Gleichheit der kleinen Ländwirte, die auf des Volkes Erde oder niemandes Erde oder „Gottes" Erde sitzen, haben wir es mit einer Gesellschaftsordnung der Warenproduktion zu tun. Die kleinen Produzenten sind durch den Markt verbunden und ihm unterworfen. Aus dem Austausch von-Produkten erwächst die Macht

Bas Jgrarprogrämm der Sozialdemokratie

295

des Geldes, der Verwandlung des landwirtschaftlichen Produkts in Geld folgt die Verwandlung der Arbeitskraft in Geld. Die Warenproduktion wird zur kapitalistischen Produktion. Und diese Theorie ist kein Dogma, sondern eine einfache Schilderung, eine Verallgemeinerung dessen, was auch in der russischen bäuerlichen Wirtschaft vor sich geht. Je weniger diese Wirtschaft unter Landmangel, unter dem Joch der Gutsbesitzer, unter dem Druck der mittelalterlichen Verhältnisse und Institutionen des Grundbesitzes, unter Knechtschaft und Willkür zu leiden hat, um so stärker entwickeln sich kapitalistische Verhältnisse innerhalb der Bauernwirtschaft selbst. Das ist eine. Tatsache, von der die ganze Geschichte Rußlands seit der Reform ganz unzweifelhaft Zeugnis ablegt. Der Begriff der Nationalisierung des Grund und Bodens, im Lichte der ökonomisdoen Wirklichkeit betrachtet, ist folglich eine Kategorie der warenproduzierenden und kapitalistischen Gesellschaft. Real an diesem Begriff ist nicht das, was die Bauern denken oder die Volkstümler sagen, sondern das, was sich aus den ökonomischen Verhältnissen dieser Gesellschaft ergibt. Nationalisierung des Grund und Bodens unter kapitalistischen Verhältnissen ist Obergabe der Rente an den Staat, nicht mehr und nicht weniger. Was ist aber die Rente in der kapitalistischen Gesellschaft? Sie ist keineswegs das Einkommen aus Grund und Boden schlechthin. Sie ist jener Teil des Mehrwerts, der nach Abzug des Durchschnittsprofits auf das Kapital übrigbleibt. Das heißt, daß die Rente Lohnarbeit in der Landwirtschaft und Verwandlung des Bauern in einen Farmer, einen Unternehmer, voraussetzt. Die Nationalisierung (in reiner Form)' setzt voraus, daß die landwirtschaftlichen Unternehmer, die den Lohnarbeiternden Lohn auszahlen und den Durchschnittsprofit auf ihr Kapital erhalten - Durchschnittsprofit in bezug auf alle sowohl landwirtschaftlichen als auch nichtlandwirtschaftlichen Betriebe des betreffenden Landes oder Länderkomplexes - , die Rente an den Staat entrichten. Dergestalt ist der theoretische Begriff der Nationalisierung untrennbar mit der Theorie der Rente verbunden, d. h. eben der kapitalistischen Rente als einer besonderen Art des Einkommens einer besonderen Klasse (der Grundbesitzer) in der kapitalistischen Gesellschaft. Die Marxsche Theorie unterscheidet zweierlei Arten von Rente: die Differentialrente und die absolute Rente. Die erstere ist das Resultat der Beschränktheit des Bodens, seiner. Besetzung durch kapitalistische Wirt-

296

W.l.Cenin

Schäften, ganz unabhängig vom Bestehen des Eigentums am Grund und Boden und von der Form des Grundbesitzes. Zwischen den einzelnen landwirtschaftlichen Betrieben sind Unterschiede unvermeidlich, die aus der Verschiedenheit der Fruchtbarkeit des Bodens, der Lage der Bodenstücke in bezug auf den Markt, der Produktivität des auf diesem Boden angelegten zusätzlichen Kapitals entspringen. Der Kürze halber kann man diese Unterschiede (ohne jedoch die Ungleichartigkeit der Quellen der einen oder der anderen Verschiedenheit zu vergessen) als die Unterschiede zwischen besserem und schlechterem Boden zusammenfassen. Weiter. Der Produktionspreis des landwirtschaftlichen Produktes wird bestimmt durch die Produlctiönsbedingungen nicht auf dem mittleren, sondern auf dem schlechtesten Boden, da das Produkt des guten Bodens allein nicht ausreicht, um die Nachfrage zu decken. Der Unterschied zwischen dem individuellen Produktionspreis und dem höchsten Produktionspreis macht eben die Differentialrente aus. (Es sei daran erinnert, daß Marx als Produktionspreis das zur Erzeugung des Produkts verausgabte Kapital plus den Durchschnittsprpfit auf das Kapital bezeichnet.) Die Differentialrente entsteht zwangsläufig bei kapitalistisch betriebener Landwirtschaft, selbst bei vollständiger Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden. Bei Bestehen des Grundeigentums fällt diese Rente dem Grundbesitzer zu, weil die Konkurrenz der Kapitalien den Farmer (Pächter) zwingt, sich mit dem Durchschnittsprofit auf das Kapital zu begnügen. Bei Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden wird diese Rente dem Staate zufallen. Es ist unmögHdb, diese Rente abzuschaffen, solange die kapitalistische Produktionsweise besteht. Die absolute Rente entspringt dem Privateigentum am Grund und Boden. In dieser Rente ist das Element eines Monopols, das Element des Monopolpreises enthalten.* Das Privateigentum am Grund und Boden * Im 2. Teil des II. Bandes der „Theorien über den Mehrwert" legt Marx „das Wesen der verschiedenen Rententheorien" dar: die Theorie des Monopolpreises des landwirtschaftlichen Produkts und die Theorie der Differentialrente. Er zeigt, was in jeder der beiden Theorieh richtig ist, inwieweit das Element des Monopols in der absoluten Rente enthalten ist. Vgl. S. 125 über die Theorie von Adam Smith: Es ist „vollständig richtig", daß die Rente Monopolpreis ist, insofern als das Privateigentum am Grund und Boden eine Ausgleichung des Profits hindert und einen über den Durchschnitt hinausgehenden Profit fixiert.*®

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

297

hindert die freie Konkurrenz,- hindert die Ausgleichung des Profits, jdie Bildung eines Durchschnittsprofits in den landwirtschaftlichen und nichtlandwirtschaftlichen Betrieben. Da aber in der Landwirtschaft die Technik auf niedrigerer Stufe steht und die Zusammensetzung des Kapitals sich durch einen größeren Anteil variablen Kapitals gegenüber dem konstanten auszeichnet als in der Industrie, so liegt"der individuelle Wert des landwirtschaftlichen Produkts über dem Durchschnittswert. Deshalb bietet das Privateigentum am Grund und Boden, das die freie Ausgleichung des Profits in den landwirtschaftlichen Betrieben mit dem Profit in den nichtlandwirtschaftlichen Betrieben hindert, die Möglichkeit, das landwirtschaftliche Produkt nicht zum höchsten Produktionspreis, sondern zu dem noch höheren individuellen Wert des Produkts zu verkaufen (denn der Produktionspreis wird durch den Durchschnittsprofit auf das Kapital bestimmt, die absolute Rente aber läßt die Bildung dieses „Durchschnitts" nicht zu, sie legt mittels des Monopols-einen über den Durchschnitt hinausgehenden individuellen Wert fest). Die Differentialrente ist somit zwangsläufig jeder kapitalistischen Landwirtschaft eigen, die absolute Rente dagegen nicht jeder, sondern nur unter der Voraussetzung des Privateigentums am Grund und Boden, nur bei historisch* gegebener Rückständigkeit der Landwirtschaft, einer Rückständigkeit,, die durch das Monopol verankert ist. Kautsky stellt die beiden Rentenarten, unter anderem besonders in ihrem Verhältnis zur Nationalisierung des Grund und Bodens, in folgenden Sätzen einander gegenüber: „Soweit die Grundrente Differentialrente, wird sie erzeugt durch die Konkurrenz, soweit sie absolute Rente, durch das Monopol... Die Grandrente selbst tritt in der Praxis ungeschieden zutage,- man kann nicht erkennen, welche ihrer Teile Differentialrente, welche absolute Rente sind. Gewöhnlich sind sie noch gemischt mit Kapitalzins für Aufwendungen, die der Grundbesitzer ge* Siehe die „Theorien über den Mehrwert", Bd. II, Teil 1 (deutsches Original), S. 259, wo es heißt, daß „in ihr (der Agrikultur) relativ die Handarbeit noch vorwiegt und es der bürgerlichen Produktionsweise'eigen ist, die Industrie rascher zu entwickeln als die Agrikultur. Es ist dieses übrigens ein historischer Unterschied, der verschwinden kann." (Siehe auch S. 275 und Bd. II, Teil 2, S-15.)"° •..; ' ' v 20 Lenin, Werke, Bd. 13

298

W. 7. Lenin

macht hat. Wo der Grundbesitzer gleichzeitig auch Landwirt ist, erscheint die Grundrente als ein Teildes landwirtschaftlichen Profits. . Doch ist die Unterscheidung der beiden Rentenarten von der höchsten Bedeutung. . .••••" Die Differentialrent& entsteht aus dem kapitalistischen Charakter der Produktion, nicht aus dem Privateigentum am Grund und Boden,- sie würde fortdauern, wenn der Grund und Boden verstaatlicht würde, wie die Bodenreformer (in Deutschland) wollen, der kapitalistische TJetrieb der Landwirtschaft dagegen erhalten bliebe; nur flösse sie dann nicht mehr einzelnen Privaten, sondern dem Gemeinwesen zu. Die absolute Grundrente entspringt dem Privateigentum an Grund und Boden urid dem Gegensatz, in dem das Interesse des Grundeigentümers zu dem der Gesamtheit steht. Die VerstaatUdhung von Qrund und Boden böte die Möglichkeit, sie abzuschaffen und um ihren Betrag die Preise der landwirisdhaftlidben Produkte zu reduzieren (von uns hervorgehoben). Denn, und das ist der zweite Unterschied zwischen differentialer und absoluter Rente, die erste bildet kein Element der Preisbestimmung der landwirtschaftlichen Produkte, wohl aber die zweite. Die erste entspringt den Produktionspreisen, die zweite aus einem Wachsen der Marktpreise über die Produkr tionspreise hinaus. Die erste wird gebildet aus dem Überschuß, dem Extraprofit, den die größere Produktivität der Arbeit auf besserem Boden, in besserer Lage erzielt. Die zweite entspringt dagegen nicht einem Mehrertrag gewisser Teile landwirtschaftlicher Arbeit, sie ist daher nur möglich durch einen Abzug an den vorhandenen Werten, den der Grundeigentümer an sich zieht, einen Abzug von der Masse des Mehrwerts, also eine Senkung des Profits, oder einen Abzug vom Lohn. Steigen die Lebensmittelpreise und damit die Löhne, so sinkt der Kapitalprofit. Steigen jene, ohne daß die Löhne im selben Maße sich heben, darin werden die Arbeiter verkürzt. Endlich kann es vorkommen, und das wird in der Regel der Fall sein, daß Arbeiter und Kapitalisten sich in den Verlust teilen, den sie durch die absolute Grundrente erleiden."* So zerfällt die Frage der Nationalisierung des. Grund und Bodens in der kapitalistischen Gesellschaft in zwei wesentlich verschiedene Teile: in die Frage der Differentialrente und die der absoluten Rente. Durch die Nationalisierung wechselt der Besitzer der ersten, sie untergräbt von Grund auf das Bestehen der zweiten. Die Nationalisierung ist folglich einerseits eine Teilreform im Rahmen des Kapitalismus (der Wechsel des Besitzers des einen Teils des Mehrwerts) und anderseits die Abschaffung * „Die Agrarfrage", deutsches Original, Seiten 79/80.

Bas Agrarprogramm der Sozialdemokratie

299

des Monopols, das die ganze Entwicklung des Kapitalismiis überhaupt hemmt. Ohne Unterscheidung dieser zwei Seiten, d. h. der Nationalisierung der-Differentialrente und. der absoluten Rente,; kann man die ganze öko-i nomische Bedeutung der Frage der Nationalisierung in Rußland nicht verstehen. Hier aber stoßen, wir auf die Ablehnung der Theorie der absoluten Rente bei P. Maslow.. . . . . . . .

2. Wie Veter Maslow die Robentwürfe von Karl Marx korrigiert91 Im Jahre 1901 hatte ich bereits Gelegenheit, in der ausländischen „Sarja" anläßlich der Artikel Mäslows in der Zeitschrift „Shisn" [Das Leben] auf dessen falsche Auffassung der Rententheorie hinzuweisen.* Die Debatten vor und in Stockholm konzentrierten sich, wie ich bereits erwähnt habe, in ganz unverhältnismäßig hohem Grade auf die politische Seite der Frage. Aber nach Stockhohn untersuchte M. Olenow in einem Artikel „über die theoretischen Grundlagen der Munizipaiisierung des Grund und Bodens" („Obrasowanije", 1907, Nr. 1) Maslows Buch über die Agrarfrage in Rußland und betonte besonders die Unrichtigkeit der ökonomischen. 7beorie Maslows, der die absolute Rente überhaupt leugnet. Maslow erwiderte Olenow mit einem Aufsatz in Nr. 2 und 3 des „Obrasowanije". Er warf seinem Widersacher „Skrupellosigkeit", „verwegene Attacken", „Unverfrorenheit" u. dgl. vor. In Wirklichkeit ist auf dem Gebiet der marxistischen Ibeorie gerade Peter Maslow ein skrupelloser und stumpfsinniger Attackenreiter, denn man kann sich nur schwerlich eine größere Ignoranz vorstellen als die selbstgefällige Marx„kritik" Maslows, der auf seinen alten Fehlern beharrt. „Der Widersprach zwischen der Theorie der absoluten Rente und der gesamten Theorie der Distribution, die im dritten Band dargelegt wird", schreibt Herr Maslow, „springt so deutlich ins Auge, daß man sich ihn nur dadurch erklären kann, daß der dritte Band eine Publikation ist, die postum erschien und * Siehe „Die Agrarfrage", I. Teil, St. Petersburg 1908, der Aufsatz „Die Agrarfrage nnd die jMarxkritiker'Jl, Anmerkung auf S. 178/179. (Siehe Werke, Bd. 5,S, 122. DteXed.)

300

W. J.Lenin

in die auch Rohentwürfe des Verfassers aufgenommen wurden." („Agrarfrage", 3. Aufl., S. 108, Anmerkung.) Etwas Derartiges konnte überhaupt nur jemand schreiben, der von Marx' Rententheorie nichts begriffen hat. Aber die herablassende Geringschätzung, mit der der großartige Peter Maslow den Autor der Rohentwürfe behandelt, steht wahrhaft einzig da! Dieser „Marxist" fühlt sich zu erhaben, als daß er es, bevor er andere belehrt, für nötig erachtete, sich mit Marx vertraut zu machen und wenigstens die im Jahre 1905 erschienenen „Theorien über den Mehrwert" zu studieren, wo die Rententheorie selbst für solche Leute wie Maslow sozusagen vorgekaut ist! Hier die Argumente Maslows gegen Marx: „Die absolute Rente entsteht angeblich infolge der niedrigen Zusammensetzung des Agrarkapitals Da die Zusammensetzung des Kapitals weder auf den Preis des Produktes noch auf. die Profitrate oder überhaupt auf die Verteilung des Mehrwerts unter die einzelnen Unternehmer einwirkt, kann sie keinerlei Rente erzeugen. Wenn die Zusammensetzung des Agrarkapitals niedriger ist als die des industriellen Kapitals, so entspringt die Differentialrente dem Mehrwert, der in der Landwirtschaft selbst erzeugt wird, aber das ist für die Bildung der Rente ohne Bedeutung. Folglich würde, falls sich die .Zusammensetzung' des Kapitals verändern sollte, dies keinerlei Einfluß auf die Rente haben. Die Höhe der Rente wird keineswegs durch den Charakter ihres Ursprungs bestimmt, sondern einzig und allein durch den obenerwähnten Unterschied der Produktivität der Arbeit unter verschiedenen Bedingungen." (S. 108/j 109 des genannten Werkes. Hervorhebungen von Maslow.) Es wäre interessant festzustellen, ob sich bürgerliche „Marxkritiker" die Widerlegung jemals so leicht gemächt haben. Wirft doch unser großartiger Maslow alles durcheinander, selbst dann, wenn er Marx interpretiert (übrigens ist dies auch die Art des Herrn Bulgakow und aller bürgerlichen Widersacher des Marxismus, die sich von Maslow in der Hinsicht durch größere Gewissenhaftigkeit unterscheiden, als sie sich nicht Marxisten nennen). Es ist nicht wahr, daß Marx zufolge die absolute Rente dank der niedrigen Zusammensetzung des agrikolen Kapitals entsteht. Die absolute Rente ergibt sich aus dem Privateigentum am Boden. Dies Privateigentum schafft. ein besonderes Monopol,: das mit der kapitalistischen Produktionsweise nichts zu. tun. hat, die sowohl auf Gemeindeland als auch auf nationalisiertem Grund und Boden bestehen

Das Agrarprogramm. der Sozialdemokratie

301

kann.? Das .nichtkapitalistische; Monopol des privaten Grundeigentums hindert die Ausgleichung des Profits- in denjenigen Produktionszweigen, die durch dieses Monopol geschützt sind. Damit die „Zusammensetzung des Kapitals nicht auf die Profitrate einwirke" (man muß hinzufügen: die Zusammensetzung des individuellen Kapitals oder des Kapitals eines einzelnen Industriezweiges,- Maslow wirft auch hier bei der Interpretation von Marx alles durcheinander), damit sich eine Durdwdmittsprofitrate bilde, ist die Ausgleichung des, Profits aller einzelnen Unternehmungen und aller einzelnen Industriezweige notwendig. Die Ausgleichung wird durch die Freiheit der Konkurrenz, durch freie Anlage des Kapitals in unterschiedslos allen Produktionszweigen herbeigeführt. Kann aber diese Freiheit dort bestehen, wo ein nichtkapitalistisches Monopol vorhanden ist? Nein, das karm sie nicht. Das Monopol des Privateigentums am Grund und Boden hemmt die Freiheit der Kapitalanlage, hemmt die Freiheit der Konkurrenz, hemmt die Ausgleichung des (infolge der niedrigen Zusammensetzung des Agrarkapitals) unverhältnismäßig hohen landwirtschaftlichen Profits. Der Einwand Maslows ist von A bis Z Unsinn, und dieser Unsinn tritt uns besonders anschaulich entgegen, wenn wir zwei Seiten weiter den Hinweis... auf die Ziegelproduktion (S. 111) finden, wo die Technik ebenfalls rückständig ist, die organische Zusammensetzung des Kapitals ebenfalls unter dem Durchschnitt liegt, genau wie in der Landwirtschaft, eine Rente aber nicht vorhanden ist! In der Ziegelproduktion kann es gar keine Rente geben, hochverehrter „Theoretiker", denn die absolute Rente entspringt nicht der niedrigen Zusammensetzung des Agrarkapitals, sondern dem Monopol des privaten Grundeigentums, das die Konkurrenz an einer Ausgleichung des Profits des „niedrig zusammengesetzten" Kapitals hindert. Die absolute Rente leugnen, heißt die ökonomische Bedeutung des Privateigentums am Grund und Boden leugnen. Das zweite Argument Maslows gegen Marx: „Die Rente vom ,letzten' Kapitalaufwand, die Rente von Rodbertus and die absolute Rente von Marx wird verschwinden, denn der Pächter kann den * Siehe „Theorien über den Mehrwert", Bd. II, Teil 1, S. 208, wo Marx darlegt, daß der Grundeigentümer in der kapitalistischen Produktionsweise ganz überflüssig ist, daß der Zweck der kapitalistischen Produktionsweise „vollständig erreicht" wird, wenn der Grund und Boden Staatseigentum wird.92

302

W.1.£enin

»letzten' Kapitalaufwand immer zum vorletzten' machen," wenn er etwas mehr abwirft als den üblichen Profit." (S. 112.) : Peter Maslow wirft alles - geradezu „skrupellos" —durcheinander. Erstens zeugt die Gegenüberstellung von Rodbertus und Marx in der Rentenfrage von absoluter Ignoranz. Die Theorie von Rodbertus beruht auf der Voraussetzung, daß die falsche Berechnung des pommerschen Land Junkers (in der Landwirtschaft das Rohmaterial „nicht in Rechnung zu bringen"!) auch für den kapitalistischen Farmer gültig sei. In der Theorie von Rodbertus ist nicht ein Gran 'Historismus, nicht ein Gran geschichtlicher Wirklichkeit vorhanden, denn er nimmt die Landwirtschaft schlechthin, außerhalb von Zeit und Raum, die Landwirtschaft eines beliebigen Landes und einer beliebigen Epoche. Marx nimmt eine besondere geschichtliche Periode, in der der Kapitalismus die Technik der Industrie rascher entwickelt hat als die der Landwirtschaft. Marx nimmt die kapitalistische Landwirtschaft, die durch das nidhtkapitdlistisdhe Privateigentum am Grund und Boden beengt ist. Zweitens zeigt der Hinweis auf den Pächter, der „immer" das letzte Kapital zum vorletzten machen „kann", daß der großartige Peter Maslow nicht nur die absolute, sondern auch die Differentialrente von Marx nicht begriffen hat! Das scheint unglaublich, ist aber Tatsache. Der Pächter „kann immer" im Laufe der Frist, für die er den Boden gepachtet hat, sich

jegliche

Rente aneignen u n d eignet sie sich auch immer

an,

indem er „das letzte Kapital zum vorletzten" macht, indem er - einfacher und (das werden wir sogleich sehen) richtiger gesagt - neues Kapital auf dem Boden anlegt. Während der Gültigkeitsdauer des Pachtvertrages hört das Privateigentum am Grund und Boden für den Pächter zu existieren auf: Er hat sich schon damit, daß er das Pachtgeld bezahlte, von diesem Monopol „losgekauft", -es kann ihm nicht mehr hinderlich sein.* Wenn daher der Pächter in seinen Boden neues Kapital hineinsteckt und es ihm neuen Profit und neue Rente abwirft, so erhält nicht der Qrundbesitzer, sondern der Pädoter diese Rente. Dem Grundbesitzer wird diese neue Rente erst nach Ablauf der Frist des alten und nach Abschluß eines neuen Pachtvertrages zufallen. Welcher Mechanismus, wird dann die * Hätte Maslow die „Rohentwürfe" des III. Bandes auch nur einigermaßen aufmerksam gelesen, so hätte er unbedingt bemerken müssen, wie oft Marx dies auseinandersetzt.

Bas Agrarprogramm der Sozialdemokratie

303

neue Rente aus der Tasche des Fanners in. die des Grundbesitzers hillüberleiten? Der Medianismus der freien Konkurrenz, denn der Umstand, daß der Pächter nicht nur einen Durchschnittsprofit, sondern noch einen Extraprofit ( = Rente) erzielt, wird dem außergewöhnlich einträglichen -Unternehmen Kapital zuführen. Das erklärt einerseits, warum unter sonst gleichbleibenden Umständen für die Pächter eine langfristige, für die Grundbesitzer aber eine kurzfristige Pacht vorteilhaft ist. Das erklärt anderseits, weshalb zum Beispiel die englischen Grundbesitzer nach Auf hebung der Korngesetze in England die Farmer kontraktlich verpflichteten, in jedem Acre ihres Grundstücks anstatt, acht mindestens zwölf Pfund Sterling (ungefähr 110 Rubel) anzulegen. Die Grundbesitzer stellten auf diese Weise die gesellschaftlich notwendige landwirtschaftliche Technik in Rechnung, die infolge der Aufhebung der Korngesetze Fortschritte.machte. Es fragt sich nun: Welche Art von neuer Rente eignet sich der Pächter während der Gültigkeitsdauer des Pachtvertrags an?. Nur die absolute oder auch die Differentialrente? Die eine wie die andere. Denn hätte sich Peter Maslow die Mühe_ gemacht, Marx zu begreifen, bevor er sich an die komische „Kritik der Rohentwürfe" machte, so. wüßte er, daß nicht nur unterschiedliche Bodenstücke, sondern auch unterschiedliche Kapitalanlagen auf ein und demselben Bodenstüdk Differentialrente abwerfen.* . . _• '. . Drittens (wir bitten um Verzeihung, daß wir den Leser mit einer so langen Aufzählung der Irrtümer Maslows an Hand eines jeden seiner Sätze ermüden, aber was sollen wir ton, wenn wir einen so „fruchtbaren" Konfusionsrat**, wie die Deutschen sagen, vor uns haben?), drittens also ist die Argumentation Maslows in bezug auf das letzte und vorletzte Kapital auf dem berüchtigten „Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag" * Die Differentialrente, die der Verschiedenheit der verschiedenen Ländereien entspringt, nennt Marx die erste Form der Differentialrente, und diejenige, die der verschiedenen Produktivität zusätzlicher Anlagen auf demselben Boden entspringt, die' zweite Form der Differentialrente. In den „Rohentwürfen" des dritten Bandes ist diese Unterscheidung mit peinlicher Genauigkeit durchgeführt (Abschn. VI, Kap. 39-43), und man muß „Marxkritiker" vom Schlage der Herren Bulgakow sein, ran dies „nicht zu bemerken".93 . J ** „Konfusionsrat" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

304

W. J.Lenin

aufgebaut. Gleich den bürgerlichen Ökonomen erkennt Maslow dieses Gesetz an (und bezeichnet sogar diese dumme Erfindung „um der Wichtigkeit halber" als eine Tatsache). Gleich den bürgerlichen Ökonomen verbindet Maslow-dieses Gesetz mit der Theorie der Rente, indem er mit der Dreistigkeit eines völligen Ignoranten in Fragen der Theorie erklärt: „Wenn die Tatsache der Abnahme der Produktivität der letzten Kapitalanlagen nicht wäre, so gäbe es auch keine Grundrente/'.(114.) - - Wir verweisen den Leser hinsichtlich der Kritik dieses vulgär-bürgerlichen „Gesetzes: vom abnehmenden Bodenertrag" auf das, was ich im Jahre 1901 gegen Herrn Bulgakow gesagt habe.* In dieser Frage besteht im Qrunde genommen keinerlei Unterschied zwischen Bulgakow und Maslow. Zur Ergänzung des gegen Bulgakow Gesagten wollen wir nur noch eine Stelle aus den „Rohentwürfen" des III. Bandes anführen, welche die Großartigkeit der Maslow-Bulgakowschen Kritik besonders anschaulich bloßlegt: „Statt auf die wirklichen naturgemäßen Ursachen der Erschöpfung des Bodens zurückzugehn, welche übrigens sämtlichen Ökonomen, die über Differentialrente geschrieben haben, unbekannt waren wegen des Zustandes der Agrikulturchemie zu ihrer Zeit, ist die flache Auffassung zu Hilfe genommen worden, daß man nicht jede beliebige Masse Kapital in einem räumlich begrenzten Feld anlegen kann,- wie z.B. die Westminster Review dem Richard Jones entgegenhielt, daß man nicht ganz England durch Bebauung von Soho Square** füttern kann . . ."94 Eben dieser Einwand bildet das einzige Argument, das sowohl Maslow als auch alle anderen Anhänger des „Gesetzes vom abnehmenden Bodenertrag" ins Feld führen: Wenn dieses Gesetz nicht bestünde, wenn die nachfolgenden Kapitalanlagen ebenso produktiv sein könnten wie die früheren, dann wäre doch wirklich kein Grund vorhanden, die Anbaufläche zu vergrößern, dann könnte man ja eine beliebige Menge landwirtschaftlicher Produkte von der kleinsten Fläche durch Vergrößerimg der neuen Kapitalanlagen im Boden erhalten, d. h., dann könnte man ja „ganz England allein von Soho Square füttern", „die Landwirtschaft des * Siehe Werke, Bd. 5, S. 101-114. Die Rei. ** Ein kleiner Park in London.

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

305

ganzen Erdballs auf einer einzigen Desjatine unterbringen"* usw. Marx analysiert folglich das grundlegende Argument zugunsten des „Gesetzes" vom abnehmenden Bodenertrag. „Wenn dies", fährt Marx fort, „als ein besondrer Nachteil der Agrikultur angesehn wird, so ist gerade das Umgekehrte wahr. Es können hier sukzessive Kapitalanlagen fruchtbringend angelegt werden, weil die Erde selbst als Prodüktionsinstrument wirkt, was bei einer Fabrik, wo sie nur als Unterlage, als Platz, als räumliche Operationsbasis fungiert, nicht oder nur innerhalb sehr enger Grenzen der Fall ist. Man kann zwar - und dies tut die große Industrie — in einem, verglichen mit dem parzellierten Handwerk, kleinen Raum eine große Produktionsanlage konzentrieren. Aber, die Entwicklungsstufe der Pröduktivkraft gegeben, ist immer ein bestimmter Raum erforderlich, und das Bauen in die Höhe hat auch seine bestimmten praktischen Grenzen. Ober diese hinaus erfordert Ausdehnung der Produktion auch Erweiterung des Bodenraums. Das in Maschinen usw. angelegte fixe Kapital verbessert sich nicht durch den Gebrauch, sondern verschleißt im Gegenteil. Infolge neuer Erfindungen können auch hier einzelne Verbesserungen angebracht werden, aber die Entwicklung der Produktivkraft als gegeben vorausgesetzt, kann sich die Maschine nur verschlechtern. Bei rascher Entwicklung der Produktivkraft muß die ganze alte Maschinerie durch vorteilhaftere ersetzt werden, also verlorengehn. Die Erde dagegen, richtig behandelt, verbessert sich fortwährend. Der Vorzug der Erde, daß sukzessive Kapitalanlagen Vorteil bringen können, ohne daß die frühern verlorengehn, schließt zugleich die Möglichkeit der Ertragsdifferenz dieser sukzessiven Kapitalanlagen ein." („Das Kapital", III. Band, 2. Teil, Seite 314.) 95 Maslow hat es vorgezogen, das auswendig gelernte Märchen der bürgerlichen OTconomie vom Gesetz des abnehmenden Bodenertrags zu wiederholen, statt sich in die Marxsche Kritik hineinzudenken. Und Maslow besitzt noch die Dreistigkeit, eben hier, in bezug auf dieselben Fragen, indem er Marx verdreht, auf Darlegung des Marxismus Anspruch zu erheben! * Siehe oben: „Die Agrarfrage und die ,Marxkritiker'" über das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag. Dieselbe Dummheit bei Maslow: „Der Unternehmer wird sukzessiv alle (!) seine Kapitalien z. B. in einer Desjatine anlegen, wenn die neuen Anlagen denselben Profit abwerfen" (107) usw.

306

.

W.J.lenm

Bis zu welchem Grade Maslow auf Grund seiner rein .bürgerlichen Einstellung zum „Naturgesetz" vom abnehmenden Bodenertrag die Theorie der Rente entstellt, ist auch aus der folgenden Tirade zu ersehen, die Maslow in Sperrdruck bringt- „Wären die sukzessiven Kapitalanlagen auf dieselbe Bodenfläche, dadurch, daß sie zu einer Intensivierung der Wirtschaft führen, ebenso produktiv, so würde die Konkurrenz neuer Ländereien sofort verschwinden, da außer den Produktionskosten die Transportkosten auf den Getreidepreis zugeschlagen werden." (S. 107.) Also läßt sich die überseeische Konkurrenz nur mit Hilfe des Gesetzes vom abnehmenden Bodenertrag erklären! Ganz wie bei den bürgerlichen Ökonomen! Aber wenn Maslow den III. Band nicht zu lesen verstand oder nicht fähig war, ihn zu begreifen, so hätte er sich wenigstens mit der „Agrarfrage" von Kautsky oder mit der Broschüre von Parvus über die Agrarkrisis bekannt machen sollen. Maslow hätte vielleicht aus den populären Darlegungen dieser Marxisten begriffen, daß der Kapitalismus die Rente hochtreibt, indem er die industrielle Bevölkerung vergrößert. Und der Bodenpreis ( = kapitalisierte Rente) fixiert die übermäßig hochgetriebenen Renten. Das gilt auch für die Differentialrente, so daß wir hier zum zweitenmal sehen, daß Maslow von Marx überhaupt nichts begriffen hat, nicht einmal das, was die einfachste Art der Rente betrifft. Die bürgerliche Ökonomie erklärt die. „Konkurrenz neuer Ländereien" durch das „Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag", denn der Bourgeois ignoriert wissentlich und unwissentlich die soziale und geschichtliche Seite der Sache. Die sozialistische Ökonomie (d. h. der Marxismus) erklärt die überseeische Konkurrenz dadurch, daß die Ländereien, die keine Rente zahlen, die außerordentlich hohen Getreidepreise herabdrücken, die der Kapitalismus der alten europäischen Länder, der die Grundrente zu unglaublicher Höhe emporgetrieben hat, fixiert hat. Der bürgerliche Ökonom begreift nicht (oder sucht es vor sich selbst und anderen zu verbergen), daß die Höhe der vermittels des Privateigentums am Grund und Boden fixierten Rente den Fortschritt der Landwirtschaft hemmt, und er schiebt die Schuld dem „natürlichen" Hindernis, der „Tatsache" des abnehmenden Bodenertrags zu.

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

307

3 :?üuß man zur Widerlegung der Volkstümlerridhtung Marx widerlegen? Nach der. Ansicht Peter Maslows muß man das. Indem er seine einfältige „Theorie" weiter „entwickelt", belehrt er uns im „Obrasowanije": „Wenn die /Tatsache' der sinkenden Produktivität der sukzessiven Arbeitsaufwendungen auf dieselbe Bodenfläche nicht wäre, so könnte vielleicht noch das Idyll, das die Sozialrevolutionäre und die Sozialvolkstümler ausmalen, Wirklichkeit werden: Jeder Bauer nutzt das ihm zugewiesene Stückchen Land und legt darin soviel Arbeit an, wie er will, der Boden aber ,entgiltc ihm jede ,Anlage' mit einer entsprechenden Produktenmenge." (Nr. 2, 1907, S. 123.) Wäre also. Marx nicht von Peter Maslow widerlegt worden, so hätten vielleicht die Volkstümler recht! Bis zu solchen Perlen versteigt sich unser „Theoretiker". Wir aber hatten bisher ganz einfach, marxistisch, geglaubt, das Idyll der Verewigung der Kleinproduktion werde durchaus nicht durch das bürgerlich-stumpfsinnige „Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag" widerlegt, sondern durch die Tatsache der Warenproduktion, durch die Herrschaft des Marktes, durch die Überlegenheit der großen kapitalistischen: Landwirtschaft: gegenüber der kleinen usw. Maslow hat all das rangestoßen! Maslow hat entdeckt, daß die Volkstümler, wenn das von Marx widerlegte bürgerliche Gesetz nicht bestünde, recht behalten hätten! . , r-' . . Nicht genug damit. Auch die Revisionisten würden recht behalten. Hier noch eine weitere Betrachtung unseres hausbackenen Ökonomen: ,„Werm ich nicht irre, habe ich (Peter Maslow) als erster (man denke!) den Unterschied zwischen der:Bedeutung der Bodenkultur und der des technischen Fortschritts für die Entwicklung der Wirtschaft und insbesondere für den Kampf zwischen Groß- und Kleinbetrieb besonders nachdrücklich hervorgehoben. Wenn die Intensivierung der Landwirtschaft, die weiteren Arbeits- und Kapitalaufwendungen in der großen wie auch in der kleinen Wirtschaft gleichermaßen weniger produktiv sind, so bietet dagegen der technische Fortschritt, der die Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit erhöht, hier ebenso wie in der Industrie dem Großbetrieb riesige und ganz außerordentliche Vorteile. Diese Vorteile hängen fast ausschließlich von den technischen Bedingungen a b . . . " Siebringen

308

TV.I.Lenin

alles durcheinander, mein Lieber: die Vorteile des Großbetriebes in kommerzieller Hinsicht haben eine große Bedeutung. „Dagegen können Maßnahmen der Bodenkultur gewöhnlich ebenso im großen wie-im kleinen Betrieb angewendet werden." Maßnahmen der : Bodenkultur „können" angewendet werden. Der tiefsinnige Maslow kennt anscheinend eine Wirtschaft, wo Maßnahmen der Bödenkultur nicht Anwendung finden können. „Zum Beispiel ist die Ablösung der Dreifelderwirtschaft durch die Vielfelderwirtschaft, die Vergrößerung der Menge der Düngemittel, tieferes Pflügen usw^ gleichermaßen im Großbetrieb wie im Kleinbetrieb möglich und beeinflußt in gleicher Weise die Produktivität der Arbeit. Doch steigert zum Beispiel die Einführung der Mähmaschine die Produktivität der Arbeit nur in den größeren Betrieben, da kleine Anbaustreifen bequemer mit der Sense oder Sichel gemäht werden können." • .; : Ja, zweifellos ist es Maslow „als erstem" gelungen, eine solch heillose Verwirrung in dieser Frage zu stiften! Man bedenke nur: Der Dampfpflug (tieferes Pflügen) ist „Bodenkultur", die Mähmaschine ist „Technik". Es ergibt sich aus der Lehre unseres unvergleichlichen Maslow, daß der Dampfpflüg keine Technik bedeutet. Es ergibt sich, daß die Mähmaschine keinen weiterer! Arbeits- und Kapitalaufwand darstellt. Künstliche Düngemittel, Dampfpflug, Anbau von Futtergräsern, das ist „Inten^ sivierung", Mähmaschine und überhaupt ein „großer Teil der landwirtschaftlichen Maschinen", das ist „technischer Fortschritt". Eine solche Dummheit „mußte" Maslow deshalb austüfteln, weil man doch irgendwie mit dem „Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag", das durch den technischen Fortschritt widerlegt wird, zurechtkommen muß. Bulgakow versuchte sich damit herauszuwinden, daß er sagte: Der technische Fortschritt ist etwas Vorübergehendes, der Stillstand etwas Beständiges. Maslow versucht es damit, daß er eine höchst amüsante Teilung des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft in „Intensivierung" und „Technik" ausklügelt. Was ist Intensivierung? Weiterer Arbeits- und Kapitalaufwand. Eine Mähmaschine ist, laut der Entdeckung des großen Maslow, kein Kapitalaufwand, eine Drillmaschine ist kein Kapitalaufwand! Die „Ablösung der Dreifelderwirtschaft durch die Vielfelderwirtschaft" wäre gleichermaßen fan Großbetrieb wie im Kleinbetrieb möglich? Das ist. nicht wahr. Die

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

309

Einführung der Vielfelderwirtschaft erfordert ebenfalls weitere Kapitalaufwendungen und ist viel eher im Großbetrieb möglich.-Siehe hierüber unter anderem weiter oben die Daten über die deutsche Landwirtschaft. („Die Agrarfrage und die ,Marxkritiker'"*.) Die russischen Daten besagen dasselbe. Und die einfachste Überlegung zeigt uns, daß es nicht anders sein kann, daß die Vielfelderwirtschaft nicht gleichermaßen im Kleinbetrieb und im Großbetrieb Anwendung finden kann. Die Vergrößerung der Menge der Düngemittel kann nicht „gleichermaßen möglich" sein, da der Großbetrieb 1. mehr Großvieh besitzt, das in dieser Hinsicht am wichtigsten ist, 2. das Vieh besser füttert und nicht so an Stroh „spart" usw., 3. bessere Einrichtungen zur Aufbewahrung der Düngemittel besitzt, 4. mehr Kunstdünger verbraucht. Maslow entstellt wahrhaft „skrupellos" die allgemein bekannten Daten über die moderne Landwirtschaft. Endlich ist auch tieferes Pflügen nicht gleichermaßen im Kleinbetrieb wie im Großbetrieb möglich. Es sei nur auf zwei Tatsachen hingewiesen: Erstens wird im Großbetrieb immer mehr der Dampf pflüg verwendet (siehe oben die Angaben über Deutschland**; jetzt wahrscheinlich auch der elektrische Pflug). Vielleicht wird es auch Maslow einleuchten, daß dieser nicht „gleichermaßen" im Großbetrieb wie im Kleinbetrieb anwendbar ist. Im Kleinbetrieb werden immer mehr %ühe als Zugvieh verwendet. Denken Sie mal nach, großer Maslow, kann das wohl die gleiche Möglichkeit des tieferen Pflügens bedeuten? Zweitens besitzt, selbst wenn Groß- und Kleinbetrieb dieselben Arten von Arbeitsvieh verwenden, das Arbeitsvieh im Kleinbetrieb geringere Zugkraft, und so kann keine Gleichheit der Bedingungen für die Tiefe des Pflügens bestehen. Mit einem Wort, es ist schwer, bei Maslow einen Satz zu finden, der den krampfhaften Versuch „theoretischen" Denkens enthält, ohne auf eine unerschöpfliche Menge der unglaublichsten Konfusion und der erstaunlichsten Ignoranz zu stoßen. Maslow aber schließt unbeirrt: „Wer sich über den Unterschied der beiden angeführten Seiten der Entwicklung der Landwirtschaft (Verbesserung der Kultur und Verbesserung der Technik) klargeworden ist, der wird mit Leichtigkeit die ganze Argumentation des Revisionismus und bei uns der Volkstümlerrichtung über den Haufen werfen." („Obrasowanije", 1907, Nr. 2, S. 125.) \ ; " .* Siehe Werke, Bd. 5, S. 177. Die Red. ** Siehe Werke, Bd. 5, S. 126. Die Ked.

'

'

,

'

310

-

IV.ü. Lenin

- Soso. Maslow i s t wxt deshalb kein Volkstümler und kein Revisionist, weil er es verstanden hat, sich über die Rohentwürfe von Marx zu erheben und sich über die veralteten Vorurteile der veralteten bürgerlichen Ökonomie „klarzuwerden". Die alte Leier in neuer Gestalt! Marx gegen Marx, riefen Bernstein und Struve aus. Man kann den Revisionismus nicht widerlegen, ohne Marx widerlegt zu haben, verkündet Maslow. . Zum Schluß noch eine charakteristische Kleinigkeit. Wenn Marx, der die Theorie der absoluten Rente schuf, unrecht hat, wenn es eine Rente ohne das „Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag" nichtgeben kann, wenn die Volkstümler und die Revisionisten im Falle des Nichtbestehens dieses Gesetzes recht haben,könnten, so müßten, sollte man meinen, in Maslows „Theorie" seine „Korrekturen" am Marxismus den wichtigsten Platz einnehmen. Und sie nehmen ihn auch tatsächlich ein. Doch zieht Maslow es vor, sie trotzdem zu verbergen. Vor kurzem ist die deutsche Übersetzung seines Buches „Die Agrarfrage in Rußland" erschienen. Es interessierte mich zu sehen, in welcher 7orm Maslow den europäischen Sozialdemokraten seine unglaublichen theoretischen Plattheiten auftischt. Wie sich herausstellte, in gar keiner Form. Vor den Europäern versteckte Maslow seine „ganze" Jheorie. Er hat alles hinausgeworfen, was sich auf die Leugnung der absoluten Rente, auf das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag usw. bezieht. Unwillkürlich mußte ich dabei an die Geschichte von jenem Unbekannten denken, der einer Diskussion von Philosophen des Altertums zum ersten Male beiwohnte und dabei die ganze Zeit schwieg. Bist du klug, sagte ihm darauf einer der Philosophen, so handelst du dumm. Bist du aber dumm, so handelst du klug.

4. Hängt die Leugnung der absoluten Rente mit dem !Munizipalisierungsprogramm zusammen1? So sehr • auch Maslow von dem Bewußtsein der Wichtigkeit seiner großartigen Entdeckungen auf dem Gebiet der Theorie der politischen Ökonomie durchdrungen ist, so hegt er anscheinend doch einige Zweifel daran, ob ein derartiger Zusammenhang besteht. Wenigstens leugnet er in dem angeführten Artikel („Obrasowanije" Nr. 2, S. 120) den Zusammenhang zwischen der Munizipalisierung und der „Tatsache" des

T)as Agrarprogramm der Sozialdemokratie

311

abnehmenden Bodenertrags. Es ergibt sich etwas Sonderbares: Das „Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag" hängt zusammen mit der Leugnung der absoluten Rente, es hängt auch zusammen mit dem Kampf gegen die Volkstümlerrichtung, hängt aber angeblich nicht zusammen mit dem Maslowschen Agrarprogramm! Von der Unrichtigkeit dieser Meinung, wonach kein Zusammenhang zwischen der allgemeinen Agrartheorie und dem russischen Agrarprogramm Maslows besteht, kann man sich aber auch auf direktem Wege leicht überzeugen. Die absolute Rente leugnen heißt die ökonomische Bedeutung des privaten Grundeigentums im Kapitalismus leugnen. Wer nur das Bestehen der Differentialrente anerkennt, der muß unweigerlich zu dem Schluß kommen, daß der Umstand, ob der Grund und Boden Staatseigentum oder das Eigentum von Privatpersonen ist, gar nichts an den Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaft und der kapitalistischen Entwicklung ändert. In beiden Fällen gibt es vom Standpunkt der Theorie, die die absolute Rente leugnet, einzig und allein die Differentialrente. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Theorie dazu führen muß, jegliche Bedeutung der Nationalisierung als eine Maßnahme, die auf die Entwicklung des Kapitalismus beschleunigend wirkt, ihni den Weg ebnet usw., zu leugnen. Entspringt doch diese Ansicht von der Nationalisierung der Anerkennung von zwei Rentenarten - der kapitalistischen, d. h. derjenigen, die sich unter dem Kapitalismus selbst auf nationalisiertem Grund und Boden nicht abschaffen läßt (Differentialrente), und der nichtkapitalistischen, die mit einem für den Kapitalismus unnötigen, die volle Entwicklung des Kapitalismus hemmenden Monopol verbunden ist (absolute Rente). Deshalb mußte Maslow, von seiner „Theorie" ausgehend, unvermeidlich zu der Schlußfolgerung kommen, daß es „ganz gleich ist, ob man sie (die Grundrente) absolute oder Differentialrente nennt" („Obrasowanije" Nr. 3, S. 103), und daß es sich nur darum handle, ob diese Rente an örtliche Institutionen oder an die Zentralgewalt abgeführt wird. Eine solche Ansicht aber ist das Ergebnis theoretischer Ignoranz. Vollständig unabhängig von der Frage, an wen die Rente abgeführt und zu welchen politischen Zwecken sie verwendet wird, besteht noch die unvergleichlich wichtigere Frage nach den Veränderungen in den allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaft und der kapitalistischen Entwick-

312

W.l£enin

hing, ;die durch die Abschaffung des Privateigentums am Grund und Boden hervorgerufen werden. Dieses rein ökonomische Problem.ist von Maslow gar nicht aufgeworfen, gar nicht erkannt worden und konnte auch gar nicht erkannt werden, wenn man die absolute Rente, leugnet. Daher wird in ungeheuerlich einseitiger Weise, „auf 'Politikasterart", könnte ich sagen, die Frage der Konfiskation der Gutsbesitzerländereien ausschließlich darauf reduziert, wer die Rente in die Tasche steckt. .Daher der ungeheuerliche Dualismus im Programm, das auf die „siegreiche Entwicklung der Revolution" (die Ausdrucksweise der auf dem Stockholmer Parteitag dem Maslöwschen Programm beigefügten Resolution über die Taktik) berechnet ist. Eine siegreiche Entwicklung der bürgerlichen Revolution setzt vor allen Dingen grundlegende ökonomische Umgestaltungen voraus, die tatsächlich alle und jegliche Überreste des Feudalismus und der mittelalterlichen Monopole hinwegfegen. Dagegen sehen wir bei der Munizipalisierung einen wahrhaften agrarischen Bimetall jsmus .• die Vereinigung des ältesten, veralteten und überlebten, mittelalterlichen Anteillandbesitzes mit der Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden, d. h. also mit der fortgeschrittensten, theoretisch idealen Regelung der Bodenverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft. Dieser agrarische Bimetallismus ist theoretisch absurd und vom rein ökonomischen Gesichtspunkt aus etwas Unmögliches. Die Vereinigung von Privateigentum am Grund und Boden mit Gemeineigentum ist hier eine rein mechanische Vereinigung, „erfunden" von einem Menschen, der in der Struktur der kapitalistischen Wirtschaft gar keinen Unterschied sieht, ob es nun das Privateigentum am Grund und Boden gibt oder nicht. Für einen solchen „Theoretiker" besteht die Frage ausschließlich darin, wie man die Rente verteilen soll, „ganz gleich, ob man sie absolute oder Differentialrente nennt". In Wirklichkeit ist es in einem kapitalistischen Land unmöglich, die Hälfte des Grund und Bodens (138 Mill. Desj. von 280) in Privateigentum zu belassen. Eins von beiden. Entweder verlangt die gegebene Stufe der ökonomischen Entwicklung tatsächlich das Privateigentum am Grund und Boden, entweder entspricht dieses tatsächlich den Grundinteressen der Klasse der kapitalistischen Landwirte; dann ist das Privateigentum am Grund und Boden als Qrundlage der bürgerlichen Gesellschaft, die sich nach einem bestimmten Typus herausgebildet hat, überall unvermeidlich.

T>a$ Agrarprogramm der Sozialdemokratie

313

Oder aber das Privateigentum am Grund und Boden^ ist auf der gegebenen Stufe der kapitalistischen Entwicklung nicht"unbedingt,notwendig, entspringt nicht unvermeidlich den Interessen der Fannerklasse, widerspricht sogar diesen Interessen - dann ist die Beibehaltung dieses Eigentums in seiner veralteten Form unmöglich. Die Aufrechterhaltung des Monopols auf der einen Hälfte der kultivierten Bodenfläche, die Schaffung eines Privilegs für eine Kategorie kleiner Landwirte, die Verewigung eines die Eigentümer von den Pächtern des Gemeinbodens trennenden „Reservats" in einer freien kapitalistischen Gesellschaft ist eine Ungereimtheit, die untrennbar eben mit der Ungereimtheit der ökonomischen Theorie Maslows zusammenhängt. Wir müssen nunmehr zur Prüfung der von Maslow und seinen Anhängern* in den Hintergrund geschobenen Ökonomisten Bedeutung der Nationalisierung übergehen. • ;

5. 'Kritik des Privateigentums am Qrund und Boden vom Standpunkt der Entwicklung des Kapitalismus

.'.'

Der Fehler, die absolute Rente, diese Form der Realisierung des privaten Grundeigentums in kapitalistischen Einkünften, zu leugnen, hat zu einem bedeutenden Mangel der sozialdemokratischen Literatur und der ganzen sozialdemokratischen Position in der Agrarfrage in der russischen Revolution geführt. Anstatt die Kritik des Privateigentums am Grund und Boden in die eigenen Hände zu nehmen, anstatt diese Kritik auf der Basis einer ökonomischen Analyse, der Analyse einer"bestimmten ökonomischen Evolution, aufzubauen, haben unsere Sozialdemokraten, Maslow folgend, diese Kritik den Volkstümlern überlassen. Daraus entstand eine starke theoretische Verflachung des Marxismus und eine Entstellung seiner propagandistischen Aufgaben in der Revolution. Die Kritik des Privateigentums am Grund und Boden in den Dumareden, in der Propaganda- und Agitationsliteratur usw. erfolgte lediglich vom Standpunkt der * Unter diese Anhänger geriet in Stockholm auch Plechanow. Die Ironie der Geschichte hat es gefügt, daß dieser angeblich so strenge Hüter der Orthodoxie nidii bemerkte oder nidht bemerken wollte, wie Maslow die ökonomische Theorie von Marx entstellte. 21 Lenin, Werke, Bd. 13

314

:

W.J.Lenin

Volkstümler, d . h . von einem: kleinbürgerlichen, quasisozialistischen Standpunkt aus. Den realen Kern aus dieser kleinbürgerlichen Ideologie herauszuschälen verstanden die Marxisten nicht, denn sie begriffen nicht, daß ihre Aufgabe darin bestand,-in die .Behandlung dieser Frage das historische Element hineinzutragen und den Standpunkt der Kleinbürger (abstrakte Idee der Gleichmacherei, der Gerechtigkeit u. dgl.) durch den Standpunkt, des Proletariats hinsichtlich der wirklichen Wurzeln des Kampfes gegen das private Grundeigentum in der sich, entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft zu ersetzen. Der Volkstümler glaubt, daß die Negierung des Privateigentums am. Grund und Boden Negierung des Kapitalismus bedeute. Das ist falsch.. Die Negierung des Privateigentums am Grund und Boden ist ein Ausdruck der Erfordernisse der kapitalistischen Entwicklung in ihrer reinsten Form. Und wir müssen dea Marxisten die „vergessenen Worte" von Marx ins Gedächtnis zurückrufen, der das private Grundeigentum vom Standpunkt der kapitalistischen Wirtschaftsbedingungen aus kritisiert hat. Diese Kritik richtete Marx nicht nur gegen den großen, sondern auch gegen den kleinen Grundbesitz. Das freie Grundeigentum des kleinen Bauern ist eine notwendige Begleiterscheinung der Kleinproduktion in der Landwirtschaft unter bestimmten historischen Bedingungen. A. Finn hatte durchaus recht, als er dies Maslow gegenüber unterstrich. Aber eine solche Anerkennung der historischen, durch die Erfahrung bestätigten Notwendigkeit schließt nicht aus, daß der Marxist verpflichtet ist, das kleine Grundeigentum allseitig zu bewerten. Die wirkliche Freiheit eines solchen Eigentums ist ohne die Freiheit des Kaufs und Verkaufs von Grund und Boden undenkbar. Privateigentum am Grund und Boden bedeutet die Notwendigkeit von Kapitalaufwand für den Ankauf von Grund und Boden. Darüber schrieb Marx im III. Band des „Kapitals": „Eines der spezifischen Übel der kleinen Agrikultur, wo sie mit freiem Eigentum am Boden verknüpft ist, entspringt daraus, daß der Bebauer ein Kapital im Ankauf des Bodens auslegt." (III, 2, 3420 96 „Die Auslage des Kapitals im Bodenpreis entzieht dies Kapital der Kultur." (Ib.*> 341.)97 „Die Ausgabe von Geldkapital für Ankauf des Bodens ist also keine Anlage von agrikolem Kapital. Sie ist pro tanto [um soviel] eine Verminderung des Kapitals, über das die Kleinbauern in ihrer Produktions* Ibidem - ebenda. "DieJZed.

.....

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

315

Sphäre selbst verfügen können. Sie vermindert pro tanto den Umfang ihrer Produktionsmittel und verengert daher die ökonomische Basis der Reproduktion. Sie unterwirft den Kleinbauer dem Wucher, da in dieser Sphäre überhaupt weniger eigentlicher: Kredit vorkommt. Sie ist ein Hemmnis der Agrikultur, auch wo dieser Kauf bei großen Gutswirtschaften stattfindet. Sie widerspricht in der Tat der kapitalistischen Produktionsweise, der die Verschuldung des "Grundeigentümers, ob er sein Gut geerbt oder gekauft hat, im ganzen gleichgültig isti" (344/S45:)98 ' Auf diese Weise sind sowohl die Verpfändung des Grund und Bodens als auch der Wucher sozusagen Formen, vermittels welcher das Kapital die Schwierigkeiten umgeht, die das Privateigentum am Boden dem freien Eindringen des Kapitals in die Landwirtschaft entgegenstellt. Ohne Kapital kann*"man in einer Gesellschaft mit Warenproduktion keine Wirtschaft führen. Das muß sowohl dem Bauern als auch seinem Ideologen, dem Volkstümler, einleuchten. Somit läuft die Frage darauf hinaus, ob das Kapital, direkt und indirekt, völlig frei in der Landwirtschaft verwendet werden kann oder durch die Vermittlung von Wucherern und Kreditinstituten. Das Denken des Bauern und des Volkstümlers, die sich teils der vollen Herrschaft des Kapitals in der heutigen Gesellschaft nicht bewußt sind, sich teils die Kappe der Illusionen und Träume über die Augen ziehen, um die unangenehme Wirklichkeit nicht zu sehen - dieses Denken ist auf die finanzielle Hilfe von. außen gerichtet. „Personen, die den Grund und Boden aus dem allgemeinen Völksfonds erhalten haben", lautet § 15 des Agrarentwurfs der 104, „und die keine genügenden Mittel besitzen, um alles für die Wirtschaftsführung Notwendige zu beschaffen, muß auf Rechnung des Staates in Form von Darlehen und Subventionen Hilfe gewährt werden." Es unterliegt natürlich keinem Zweifel, daß eine solche finanzielle Hilfe bei einer Reorganisation der russischen Landwirtschaft durch eine siegreiche Baxiemrevolution notwendig wäre. Kautsky unterstreicht dies mit vollem Recht in seiner Schrift „Die Agrarfrage in Rußland". Es handelt sich Jetzt aber darum, welches die von den Volkstümlern übersehene sozialökonomische Bedeutung aller dieser „Gelddarlehen und Subventionen" ist. Der Staat kann lediglich Vermittler bei der Übergabe des Geldes der Kapitalisten seih, er selbst kann das Geld nur bei Kapitalisten erhalten. Folglich'wird'selbst bei der denkbar besten Organisation der staatlichen Hilfe die Herrschaft des Kapitals keineswegs beseitigt, und

316

TV. J. Lenin

die Frage bleibt die gleiche: Welches die möglichen Formen der Kapitalanlage in der Landwirtschaft sind. Diese Frage aber führt unvermeidlich zur marxistischen Kritik des Privateigentums am Grund und Boden. Dieses Eigentum bildet ein Hindernis für die freie Kapitalanlage auf den Boden. Entweder volle Freiheit dieser Anlage - dann aber Aufhebung des'Privateigentums am Grund und Boden, d. h. Nationalisierung des Grund und Bodens- oder Beibehaltung des privaten Grundeigentums — dann aber Xfm^ebun^sformen des Eindringens des Kapitals: Verpfändung des Bodens durch den Gutsbesitzer und Bauern, Versklavung des Bauern durch den Wucherer, Verpachtung des Bodens an den kapitalkräftigen Pächter. „Hier, bei der kleinen Kultur", sagt Marx, „tritt der Bodenpreis, Form und Resultat des Privateigentums am Boden, als Schranke der Produktion selbst auf. Bei der großen Agrikultur und dem auf kapitalistischer Betriebsweise beruhenden großen Grundeigentum tritt das Eigentum ebenso als Schranke auf, weil es den Pächter in der produktiven Kapitalanlage beschränkt, die in, letzter Instanz nicht ihm, sondern dem Grundeigentümer zugut kommt." (346/347, 2. Teil, III, Band, „Das Kapital".)99 Folglich bedeutet die Aufhebung des. Privateigentums am Grund und Boden die äußerste, in der bürgerlichen Gesellschaft irgend mögliche Beseitigung aller und jeglicher Schranken, die-'einer freien Kapitalanlage in der Landwirtschaft und dem freien Übergang des, Kapitals.aus einem Produktionszweig in einen anderen im Wege stehen. Freie, breite und rasche Entwicklung des Kapitalismus, volle Freiheit des Klassenkampfes, Fortfall aller, überflüssigen Vermittler, durch die die Landwirtschaft der im „Schwitzsystem" arbeitenden Industrie angeglichen wird — das ist es, was die Nationalisierung des Grund und Bodens bei kapitalistischer Produktionsweise bedeutet.

6. Die Nationalisierung, des Qrund-und "Bodens und die „ Qeld"rente

;

Ein interessantes ökonomisches Argument gegen die Nationalisierung hat der Anhänger der Bodenaufteilung A. Finn vorgebracht. Sowohl die Nationalisierung als auch die Munizipalisierung, sagt er, sei Übergabe der

Das Agrarprogratnm der Sozialdemokratie

317

Rente an ein bestimmtes gesellschaftliches Kollektiv. Es fragt sich aber, um was für eine Rente es sich hier handelt. Nicht um eine kapitalistische, denn „eine Rente in kapitalistischem Sinne erhalten die Bauern gewöhnlich von ihrem Grund und Boden nicht" („Die Agrarfrage und die Sozialdemokratie", S. 77, vgl. S. 63), sondern um eine vorkapitalistische Geldrente. ; - . ' . : . Unter Geldrente-versteht Marx das vom Bauern an den Gutsbesitzer entrichtete gesamte Mehrprodukt in Geldform. Die ursprüngliche Form der ökonomischen Abhängigkeit des Bauern vom Gutsbesitzer ist bei den vorkapitalistischen Produktionsweisen die Arbeitsrente, d. h. die Fronarbeit, dann die Produktenrente oder Naturairente und schließlich die Geldrente. Diese Rente, sagt A. Finn, „ist auch jetzt bei uns die meistverbreitete" (S: 63). . Es unterliegt keinem Zweifel; daß die feudale wucherische Pacht bei uns außerordentlich weit verbreitet ist und daß nach der Marxschen Theorie die Zahlungen der Bauern b ä einer solchen Pacht zum großen Teil eine Geldrehte darstellen. Welche Macht "kann aus den Bauern eine solche Rente-herauspressen? Die Macht der Bourgeoisie und des sich entwickelnden Kapitalismus? Ganz und gar nicht. Die Macht der fronherrlichen Latifundien. Insofern letztere zerschlagen werden — das aber ist der Ausgangspunkt und die Grundbedingung der bäuerlichen Agrarrevolution —, kann man von ' einer „Geldrente" im vorkapitalistischen Sinne nicht sprechen. Der Einwand Finns hat folglich nur die Bedeutung, daß er noch einmal unterstreicht, wie unsinnig -eine Trennung des bäuerlichen Anteillandes von- den übrigen Ländereien bei einer revolutionären Agrarumwälzung ist: da das Anteilland häufig von Gutsbesitzerländereien umgeben ist, da aus den gegenwärtigen Bedingungen der Abgrenzung von bäuerlichem und Gutsbesitzerland eine Knechtschaft entsteht, so ist die

Beibehaltung dieser Abgrenzung reaktionär. "Die Munizipalisierung aber behält sie bei, zum 'Unterschied sowohl von der Aufteilung wie von der Nationalisierung. Das Bestehen des kleinen Grundeigentums oder, richtiger ausgedrückt, des Kleinbetriebs bringt natürlich gewisse Änderungen in den allgemeinen Leitsätzen der Theorie der-kapitalistischen Rente mit sich,' hebt aber diese Theorie nicht"auf.; Marx weist zum Beispiel darauf hinj daß die absolute Rente als solche gewöhnlich in.'der kleinen Landwirtschaft, die hauptsäch-

318

'>,.••,...,.•

,1^,3.Lenin,

lieh für die Befriedigung.des eigenen Bedarfs des Ländwirtes: arbeitet, nicht existiert. (III, 2, 339, 344.)100 Aber je weiter sich die Warenwirtschaft entwickelt, desto mehr lassen sich alle Leitsätze der ökonomischen Theorie auch auf die bäuerliche Wirtschaft anwenden, nachdem diese nun einmal in die Verhältnisse der. kapitalistischen Welt eingetreten ist. Es darf nicht vergessen werden, daß keinerlei Nationalisierung des Grund und Bodens und keinerlei Ausgleichung der Bodennutzung die in Rußland zu voller Ausbildung gelangte Erscheinung aufheben wird, daß die wohlhabende Bauernschaft bereits,in kapitalistischer Weise wirtschaftet. Ich habe in der „Entwicklung des Kapitalismus" nachgewiesen, daß laut Angaben aus den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ungefähr Vs der Bauernhöfe etwa die Hälfte der bäuerlichen landwirtschaftlichen Produktion und einen noch viel größeren Teil der Pacfot vereinigen, daß die Wirtschaft solcher Bauern jetzt schon mehr eine Warenwirtschaft als eine Naturalwirtschaft darstellt, schließlich, daß diese Bauernschaft ohne ein Millionenkontingent von Knechten und Tagelöhnern nicht existieren kann.* In dieser Bauernschaft sind die Elemente der kapitalistischen Rente schon von vornherein gegeben. Diese Bauernschaft bringt ihre Interessen durch den Mund der Herren Peschechönow zum Ausdruck, die „nüchtern" sowohl das Verbot der Lohnarbeit als auch die „Sozialisierung des Grund und Bozens"; verwerfen, die nüchtern den Standpunkt des sich einen Weg bahnenden wirtschaftlichen Individualismus des Bauern verfechten. Wenn wir in den Utopien der Volkstümler scharf das reale ökonomische Moment von der falschen Ideologie trennen/ so selien wir sofort, daß durch die Liquidierung der fronherrlichen Läti-i fundien -sowohl bei der Aufteilung als auch bei der Nationalisierung und der Munizipalisierung - gerade die, bourgeoise Bauernschaft am meisten gewinnt. Die staatlichen „Darlehen und Subventionen" müssen gleichfalls vor allem ihr zugute kommen. Die „bäuerliche Agrarrevolution" bedeutet nichts anderes als die Unterwerfung des gesamten Grundbesitzes xrater die Bedingungen des, Fortschritts und des ,Aufblühens eben dieser Farmerwirtschaften. •......• .. • - . . , , , .,,\_'.,; -, .•. ;- • ;• v• ; • .';• Die Geldrente - das ist das absterbende Gestern, das zwangsläufig ab-, sterben muß. Die kapitalistische Rente — das ist;das:irp Entstehen begrif1 fene Morgen, das sich sowohl: bei der Stqlypinschenj Expropriation der *; Siehe Werke,!Bd; 3,S. 128-132.Die Red.u •'-X•:•;- ; •.•.-:: ,,-.li; .:.-..'.

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

;

319

armen Bauern („nach Artikel 87") als auch bei der Expropriation der reichen Gutsbesitzer durch die Bauern entwickeln muß.

7. Unter weldberi Bedingungen kann die Nationalisierung verwirklicht werden? Unter den Marxisten begegnet man oft der Ansicht, daß die Nationalisierung erst auf einer hohen Entwicklungsstufe des Kapitalismus verwirklicht werden könne, wenn er (mittels Pacht und Hypothek) bereits in vollem Umfang die Vorbedingungen zur „Scheidung der Grundbesitzer von der Landwirtschaft" geschaffen hat. Man glaubt,, die große kapitalistische Landwirtschaft müsse sich sdbon herausgebildet haben, bevor die Nationalisierung des Grund und Bodens verwirklicht werden könne, die die Rente amputiert, ohne den wirtschaftlichen Organismus zu berühren.* . Ist eine solche Ansicht richtig? Theoretisch ist sie nicht zu begründen; durch direkte Hinweise auf Marx kann sie nicht gestützt werden; die Erfahrungen sprechen eher gegen sie. .''..'.: Theoretisch stellt die Nationalisierung die „ideal" reine Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft dar. Etwas anderes ist die Frage, ob in der Geschichte oft ein solches Zusammentreffen.von Bedingungen und ein solches Kräfteverhältnis herbeiführbar sind, die in der kapitalistischen Gesellschaft die Nationalisierung zulassen. Sie ist aber nicht nur eine Folge, sondern auch Voraussetzung der raschen Entwicklung des Kapitalismus. Zu glauben, daß die Nationalisierung nur bei sehr hoher Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft möglich sei, heißt eigentlich nichts anderes, als die Nationalisierung als Maßnahme des bürgerMdben Fortschritts zu negieren, denn die hohe Entwicklung des landwirtschaftlichen Kapitalismus hat-bereits überall die „Sozialisierung der * Hier eine der präzisesten. Äußerungen dieser Ansicht (von Gen. Borissow, einem Anhänger der Aufteilung): „In Zukunft wird sie (die Forderung nach Nationalisierung des Grundund Bodens) von der Geschichte gestellt werden, sie wird dann gestellt werden, wenn die Tdeinbürgerliche Wirtschaft degradiert ist, der -Kapitalismus in der Landwirtschaft feste Positionen erobert hat und Rußland bereits kein Bauemland mehr ist." (S. 127 der-Protokölle des Stockholmer Parteitags:) :•.;../ •'.

320

•..-.•••

"W: 3. Lenin

landwirtschaftlichen Produktion", d. h. die sozialistische Umwälzung, auf die Tagesordnung gesetzt (-und wird sie zu gegebener Zeit zwangsläufig auch in den neuen Ländern auf die Tagesordnung setzen). Eine Maßnahme des bürgerlichen Fortschritts ist, als bürgerliche Maßnahme, bei starker Verschärfung des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie undenkbar. Eine derartige Maßnahme; ist eher in einer „jungen" bürgerlichen Gesellschaft wahrscheinlich, die ihre Kräfte noch nicht entwickelt, ihre Gegensätze noch nicht bis zu Ende entfaltet, noch kein so starkes Proletariat geschaffen hat, das unmittelbar' die sozialistische Umwälzung anstrebt. Auch von Marx wurde die Nationalisierung für möglich gehalten und zum Teil direkt verfochten, nicht nur in der Epoche der bürgerlichen Revolution in Deutschland im Jähre 1848, sondern auch im Jahre 1346 für Amerika, wobei er zugleich ganz präzis" darauf hinwies, daß sich Amerika gerade erst in den Anfängen seiner „industriellen" Entwicklung befinde. Die Erfahrungen der verschiedenen kapitalistischen Länder zeigen uns nirgends eine Nationalisierung des Grund und Bodens in einigermaßen reiner Form. Etwas Ähnliches sehen wir in Neuseeland, einer jungen kapitalistischen Demokratie, .wo von einer hohen Entwicklung des landwirtschaftlichen Kapitalismus gar keine Rede sein kann. Etwas Ähnliches gab es auch in Amerika, als der Staat das „Homestead"Gesetz erließ'und kleinen Landwirten gegen eine Nominalrente Landanteile zuwies, i -*~ -.:.'•• Nein. Die Nationalisierung in die Epoche "einer hohen kapitalistischen Entwicklung verlegen, heißt sie als Maßnahme'des bürgerlichen Fortschritts negieren. Eine solche Negierung aber widerspricht direkt der ökonomischen Theorie. Ich glaube, daß Marx in der folgenden Betrachtung in den „Theorien über den Mehrwert" andere Bedingungen der Verwirklichung der Nationalisierung dargelegt hat, als man gewöhnlich annimmt. Nachdem Marx aufgezeigt hat, daß der Grundeigentümer für die kapitalistische Produktion eine ganz überflüssige Figur ist, daß der Zweck der kapitalistischen Produktion „vollständig erreicht" wird, wenn der Grund und Boden Staatseigentum wird, fährt er fort: . „Der radikale Bourgeois . . . geht daher theoretisch zur Leugnung des privaten Grundeigentums f o r t . . . In der Praxis fehlt jedoch die Courage; da der Angriff auf eine Eigentumsform - eine Form des Privateigentums an Arbeitsbedingungen - sehr bedenklich für die andre Form würde.

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

321

Außerdem hat der Bourgeois sich selbst territorialisiert." („Theorien über den Mehrwert", IL Band, 1; Teil, S. 208.) 101 Marx verweist hier nicht auf die niedrige Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft als ein Hindernis für die VerwirHichung der Nationalisierung. Er weistauf zwei ändere Hindernisse hin, die weit mehr zugunsten des Gedankens von der Durchführbarkeit der Nationalisierung in der Epoche der bürgerlichen Revolution sprechen. Erstes Hindernis: Dem radikalen Bourgeois fehlt die Courage, das private Grundeigentum anzugreifen, und zwar in Anbetracht der Gefahr eines sozialistischen Angriffs auf jegliches Privateigentum, d. h. einer sozialistischen Umwälzung. Zweites Hindernis: „Der Bourgeois hat sich selbst territorialisiert." Marx meint hier offenbar, daß gerade die bürgerliche Produktionsweise bereits im Privateigentum am-Boden verwurzelt ist, d. h., daß dieses Privateigentum viel mehr bürgerlich als feudal geworden ist. Wenn sich nun die Bourgeoisie als Klasse in großem, überwiegendem Umfang bereits mit dem Grundbesitz verbunden/ bereits „sich selbst territorialisiert", „sich auf dem.Boden angesiedelt", sich den Grundbesitz vollständig unterworfen hat, so kann es keine wirklich gesellschaftliche Bewegung der Bourgeoisie zugunsten der Nationalisierung geben: Es kann keine geben aus dem einfachen Grunde, weil keine Klasse sich gegen sich selbst erheben wird. Diese beiden Hindernisse können, allgemein gesprochen, nur in der Epoche des beginnenden, nicht aber des zu Ende gehenden Kapitalismus, in der Epoche der bürgerlichen, nicht aber am Vorabend der sozialistischen Revolution beseitigt werden. Die Auffassung, die Nationalisierung könne nur bei einem "hochentwickelten Kapitalismus verwirklicht werden, kann man unmöglich marxistisch nennen. Sie widerspricht sowohl den "allgemeinen Voraussetzungen der Theorie von Marx als auch seinen oben angeführten Worten. Sie versimpelt das Problem der historisch konkreten Bedingungen der Nationalisierung als einer Maßnahme, die von bestimmten Kräften und. Klassen durchgeführt wird, zur schematischen und nackten Abstraktion. , . •-"'••" Der „radikale Bourgeois" kann in der Epoche des stark entwickelten Kapitalismus keine Courage haben. In einer solchen Epoche ist die große Masse dieser Bourgeois zwangsläufig schon konterrevolutionär: In einer solchen Epoche ist eine fast vollkommene „Tefritorialisiertmg" der Bour-

1322

•.-... '

.

1V...1. Lenin

•geoisie bereits. unvermeidlich: Umgekehrt, in der Epoche der bürgerlichen Revolution verleihen die objektiven Bedingungen dem „radikalen Bourgeois" Courage, denn er ist es, der die historische Aufgabe der betreffenden Zeit löst, und kann daher als Klasse noch nicht die proletarische Revolution fürchten. In der Epoche der bürgerlichen Revolution hat die Bourgeoisie sidi noch nicht territorialisiert: der Grundbesitz ist in einer solchen Epoche noch, zu sehr von Feudalismus durchdrungen. Es wird die Erscheinung möglich, daß die"Masseder bürgerlichen Landwirte, der Farmer, gegen die !H«uf>tformen des Grundbesitzes ankämpft und-dadurch zur praktischen Verwirklichung der vollen bürgerlichen „Befreiung des Bodens" gelangt, d. b. zur 7, Vielleicht wird die örtliche Selbstverwaltung des Volkes in manchen Gegenden diese Großbetriebe in eigene Regie übernehmen können, wie zum Beispiel die Stadtdumas Pferdebahnen oder- Schlachthofe in eigener Regie haben, und dann wird ihr gesamter (!!): Reinertrag der ganzen (!) Bevölkerung zur Verfügung stehen"* - und nicht der örtlichen Bourgeoisie, werter Larin? Die kleinbürgerlichen Illusionen der kleinbürgerlichen Helden des westeuropäischen Munizipalsozialismus kommen sofort zum Vorschein. Vergessen ist die Herrschaft der Bourgeoisie, vergessen ist auch die Tatsache, * „Die Bauemfrage und die Sozialdemokratie", S. 66.

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

361

daß es nur in Städten mit einem hohen Prozentsatz proletarischer Bevölkerung gelingt, den Werktätigen einige der Brocken aus dem Besitz der Gemeindeverwaltung zu verschaffen! Doch dies nur nebenbei. Der hauptsächliche Betrug,, den .die „munizipalsozialistische" Idee von der Munizipalisierung des Grund und Bodens beinhaltet, besteht in folgendem. . Die bürgerlichen Intellektuellen im Westen erheben, ähnlich wie die englischen Fabier, den Munizipalsozialismus gerade deshalb zu einer besonderen „Richtung", weil sie vom sozialen Frieden, von der Versöhnung der Klassen träumen und bestrebt sind, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den Grundfragen des ganzen Wirtschaftssystems und der ganzen Staatsordnung auf die kleinen Fragen der örtlichen Selbstverwaltung abzulenken. Was die Fragen der ersten Art betrifft, so sind hier die Klassengegensätze am schärfsten; gerade hier werden, wie bereit? gesagt, die Grundlagen der Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse berührt. Gerade hier ist daher die kleinbürgerliche, reaktionäre Utopie einer teilweisen Verwirklichung des; Sozialismus besonders aussichtslos. Die Aufmerksamkeit wird auf das Gebiet kleiner lokaler Fragen verlegt, nicht auf die Frage der Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse, nicht auf die Frage nach den Hauptwerkzeugen dieser Herrschaft, sondern auf die Frage nach der Verausgabung der Brosamenl die von der reichen Bourgeoisie für die „"Bedürfnisse der Bevölkerung" hingeworfen werden. Es ist klar, wenn man solche Fragen der Verausgabung der geringfügigen (im Vergleich zur Gesamtmasse des Mehrwerts und zur Gesamthöhe der Staatsausgaben der Bourgeoisie) Summen heraushebt, die die Bourgeoisie selber für die Volksgesundheit bewilligt (Engels verwies in der „Wohnungsfrage" darauf, daß die Epidemien in den Städten der Bourgeoisie selber Angst einflößen10*), für die Volksbildung (die Bourgeoisie braucht ja gelernte Arbeiter, die sich dem hohen Niveau der Technik anzupassen verstehen!) usw., so kann man auf dem Gebiet soldber kleinen Fragen schöne Reden von „sozialem Frieden", vom Schaden des Klassenkampfes usw. halten. Wie kann da vom Klassenkampf die Rede sein, wo doch die Bourgeoisie selber für die „Bedürfnisse der Bevölkerung", für ärztliche Hilfe, für Volksbildung usw. Mittel verausgabt? Wozu soziale Revolution, wenn man auf dem Wege der lokalen Selbstverwaltung das „Kollektiveigentum" allmählich und schrittweise erweitern und die Produktion „sozialisieren" kann: Pferdebahnen, Schlachthöfe, auf die der ehrenwerte J. Larin so gelegen verweist? 24 Lenin, Werke, Bd. 13

362

IV.I.Lenin

Der kleinbürgerliche Opportunismus dieser „Richtung" besteht darin, daß man die engen Qrenzen des sogenannten „Munizipalsozialismus" (in Wirklichkeit — Munizipalkapitalismus, wie die englischen Sozialdemokraten mit vollem Recht gegen die Fabier einwenden) vergißt. Man vergißt, daß die Bourgeoisie, solange sie als Klasse herrscht, nicht zulassen kann, daß die wirklichen Qrundlagen ihrer Herrschaft auch nur vom „munizipalen" Gesichtspunkt au? angetastet werden, und daß die Bourgeoisie, wenn sie den „Munizipalsozialismus" gestattet, ihn duldet, dies gerade deshalb tut, weil er die Qrundlagen ihrer Herrschaft unberührt läßt, die entscheidenden Quellen ihres Reichtums nicht angreift und sich nur auf jenes begrenzte lokale Ausgabengebiet beschränkt, das die Bourgeoisie selbst an die „Bevölkerung" abtritt. Die oberflächlichste Kenntnis des „Munizipalsozialismus" im Westen genügt, um zu wissen, daß jeder Versuch der sozialistischen Munizipalitäten, auch nur ein klein wenig über den Rahmen- des gewohnten; d. h. kleinen, kleinlichen, dem Arbeiter keine wesentlichen Erleichterungen bringenden Wirtschaftens hinauszugehen, jeder Versuch, das "Kapital ein klein wenig anzutasten, stets und unbedingt ein entschiedenes Veto der Zentralgewalt des bürgerlichen Staates nach sich zieht. -. ' . , L :: Gerade diesen Grundfehler, diesen kleinbürgerlichen Opportunismus der westeuropäischen Fabier, Possibilisten und Bernsteinianer übernehmen unsere Munizipalisatoren. • „Munizipalsozialismus" ist Sozialismus in den Fragen der Lokälverwaltung. Was über die Grenzen der lokalen Interessen, über die Grenzen der staatlichen TerwalUm^sfunktionen hinausreicht, d.h. alles, was die wichtigsten Einnahmequellen der herrschenden Klassen, die Hauptmittel zur Sicherung ihrer Herrschaft betrifft, alles, was nicht die Staatsverwaltung, sondern die Staatsordnung berührt, fällt eben damit aus dem Rahmen des „Munizipalsozialismus" heraus. Unsere Neunmalweisen aber wollen die Schärfe der Bodenfrage, die eine Sache des ganzen Volkes ist und die Grundinteressen der herrschenden Klassen am unmittelbarsten berührt, dadurch umgehen, daß sie diese Frage in die Kategorie der „lokalen Verwaltungsfragen" einreiben! Im Westen werden Pferdebahnen und Schlachthöfe munizipalisiert - warum sollten wir nicht die gute Hälfte des gesamten Bodens munizipalisieren? so meint der russische; Intelligenzler; das ist von Vorteil' sowohl für den Fall der Restauration

Das Agrarprogramm der ^Sozialdemokratie

363

als auch für den Fall eines unvollständigen Demokratismus der .Zentrale gewalt! -

.

.-

'

'•;

,

'...

.

".

.,.- :•..• . : - .

.-.••• •

Das'Ergebnis ist Agrarsozialismus in der bürgerlichen Revolution, und zwar ein allerkleinbürgerlichster Sozialismus, der darauf abzielt, den Klassenkampf in den brennendsten Fragen dadurch abzustumpfen, daß er diese Fragen in die Kategorie kleiner, nur die Lokalverwaltung betreffender Fragen überführt. In Wirklichkeit kann die-Frage der Bewirtschaftung der Hälfte des besten Bodens weder eine- lokale noch eine -Verwaltungsfrage sein! Sie ist eine Frage von gesamtstaatlicher Bedeutung, eine Frage des Aufbaüs nicht nur des gutsherrlichen, sondern auch des bürgerlichen Staates^ lind das Volk mit dem Gedanken zu locken, die Entwicklung des „Munizipalsozialismus" in der Landwirtschaft sei noch vor der sozialistischen Umwälzung möglich, bedeutet, Demagogie schlimmster Sorte zti treiben. Der Marxismus läßt es zu, daß die Nationalisierung in das Programm der bürgerlichen Revolution aufgenommen wird, weil die Nationalisierung eine bürgerliche Maßnahme ist, weil die'absolute Rente die Entwicklung des Kapitalismus hemmt, weil das Privateigentum am Grund und Boden ein Hindernis für den Kapitalismus ist. Man muß aber den Marxismus zu fabianischem Intellektuellenopportunismus umarbeiten, will man in das Programm der bürgerlichen Revolution die Munizipalisierung der großen Güter aufnehmen. " Gerade, hier tritt der Unterschied zwischen den kleinbürgerlichen und ' den proletarischen Methoden in der bürgerlichen Revolution deutlich zur tage. Das Kleinbürgertum, selbst das radikalste - darunter unsere Partei der Sozialrevolutionäre - , erwartet naän der bürgerlichen Revolution nicht Klassenkampf, sondern allgemeine Glückseligkeit und Ruhe. Daher macht es sich im voraus „ein warmes Nest" zurecht, darum trägt es in die bürgerliche Revolution kleinbürgerliche Refqrmerpläne hinein, schwatzt von allerhand „Normen", von „Regulierung" des Grundbesitzes, Festigung des Arbeitsprinzips und der kleinen Arbeitswirtschaft usw. Die kleinbürgerliche Methode ist die Methode der Schaffung von Verhältnissen eines größtmöglichen sozialen Friedens. Die proletarische Methode hat aussdhHeßlidb die.Säuberung des-Weges von allem Mittelalterlichen im Auge, die Freilegung des Weges für den "Klassenkampf., Daher kann : es der Proletarier den Kleinbesitzern überlassen, die verschiedensten Grundbesitz„normen" zu erörtern: den Proletarier interessiert nur die

364

W.1.£enin

Beseitigung der gutsherrlichen Latifundien, nur die Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden als des letzten Hindernisses für den Klassenkampf in der Landwirtschaft. Uns interessieren in der bürgerlichen Revolution nicht das kleinbürgerliche Reformertum, nicht das künftige „warme Nest" der beruhigten Kleinbesitzer, sondern die Bedingungen für den proletarischen Kampf gegen jede kleinbürgerliche Beschwichtigung auf bürgerlicher Grundlage. ~ Gerade dieser antiproletarische Geist wird aber durch die Munizipalisierung in das Programm der bürgerlichen Agrarrevolution hineingetragen, denn entgegen der zutiefst falschen Auffassung der Menschewiki erweitert und verschärft sie den Klassenkampf keineswegs, sondern stumpft ihn im Gegenteil ab. Sie stumpft ihn auch dadurch ab,: daß sie einen lokalen Demokratismus bei unvollständigem Demokratismus des Zentrums für möglich hält. Sie stumpft ihn anch ab durch die Idee des „Munizipalsozialismus", denn dieser ist in der bürgerlichen Gesellschaft nur abseits von der großen Heerstraße des Klassenkampfes, nur in kleinen, lokalen, unwichtigen Fragen denkbar, in denen sogar die Bourgeoisie nachgeben, sieh aussöhnen kann, ohne dadurch die Möglichkeit der Erhaltung ihrer Herrschaft als Klasse einzubüßen. Die Arbeiterklasse muß der bürgerlichen Gesellschaft das reinste, konsequenteste, entschiedenste Programm der bürgerlichen Umwälzung, einschließlich der bürgerlichen Nationalisierung des Grund und Bodens, geben. Das Proletariat wendet sich in der bürgerlichen Revolution verächtlich vom kleinbürgerlichen Reformertum ab: uns interessiert die Freiheit für den Kampf, nicht aber die Freiheit für spießbürgerliches Glück. Der Opportunismus der Intellektuellen in der Arbeiterpartei befolgt natürlich eine andere Linie. Statt ein großzügiges: revolutionäres Programm der bürgerlichen Umwälzung zu geben, lenkt er die Aufmerksamkeit auf eine kleinbürgerliche Utopie.- Verteidigung eines lokalen Demokratismus bei undemokratischem Zentrum, Sicherung eines abseits von den großen „Kalamitäten" liegenden stillen Winkels der Munizipalwirtschaft für kleines Reformertum, Umgehung der Schärfe des äußerst akuten Konflikts in der Bodenfrage nach dem Rezept der Antisemiten, d. h. dadurch, daß eine große nationale Frage in die Kategorie der kleinen lokalen Fragen eingereiht wird. . • ... .

Das Jgrarprogramm der Sozialdemokratie ^. Einige"Beispieleder durS die Munizipalisierung hervorgerufenen Xonfusion

365

'

-Welche Unklarheit durch das „Munizipalisierungs"programm in den Köpfen der Sozialdemokraten hervorgerufen worden ist, zu welcher Hilflosigkeit -es die Propagandisten und Agitatoren verurteilt, davon zeugen folgende Vorfälle.

- , • - . . .

•'-•..

''•••-.-

J. Larin ist zweifelsohne einer der hervorragendsten und in der Literatur bekanntesten Menschewiki. In Stockholm hat er, wie aus den Protokollen ersichtlich ist, an der Durchsetzung des Programms lebhaftesten Anteil genommen. Seine Broschüre „Die Bauernfrage und die Soziale demokratie", die in die Broschürenserie des „Nowy Mir" aufgenommen wurde, ist ein nahezu offizieller Kommentar zum menschewistischen Programm, Und was schreibt nun dieser Kommentator? Die Schlußseiten seiner Broschüre sind einer zusammenfassenden Darlegung über die Umgestaltung der Agrarverhältnisse gewidmet. Der Verfasser sieht für diese Umgestaltung dreierlei Möglichkeiten voraus: erstens eine ergänzende Bodenzuteilung an die Bauern als Privateigentum gegen Entgelt - „der unvorteilhafteste Ausgang für die Arbeiterklasse, die unteren Schichten der Bauernschaft und die ganze Entwicklung der Volkswirtschaft" (103), Der zweite Ausgang - der beste, und der dritte, obwohl unwahrscheinlich: „Auf dem Papier Verkündung der obligatorischen ausgleichenden Bodennutzung." Es scheint, wir können erwarten, daß der zweite Ausgang, nach der Meinung eines Anhängers des Munizipalisierungsprogramms, eben in der Munizipalisierung bestehen soll. Aber nein. Man höre: „Vielleicht wird der ganze konfiszierte oder sogar der gesamte Qrund und Hoden schlechthin zum allgemeinen staatlichen Eigentum erklärt und den örtlichen Selbstverwaltungen übergeben, damit diese ihn unter alle 'tatsächlich darauf Wirtschaftenden unentgeltlich (??) zur Nutznießung verteilen, natürlich ohne Einführung der ausgleichenden Bodennutzung obligatorisch für ganz Rußland und ohne Verbot von Lohnarbeit. Eine solche Lösung der Frage sichert, wie wir bereits gesehen haben, am allerbesten sowohl die nächstliegenden Interessen des Proletariats als auch die allgemeinen Interessen der sozialistischen Bewegung und die Hebung der Arbeitsproduktivität - die fundamentale Lebensfrage für Rußland. Daher müssen die Sozialdemokraten eine Agrarreform (?) gerade dieser Art verfechten und durchsetzen. Sie wird sich dann vollziehen, wenn in der auf ihren 'Höhepunkt gelangten Revolution die

366

••.•:

W.J.Lenin

bewußten Elemente der gesellschaftlichen Entwicklung stark sein werden." (103. Hervorhebungen von uns.) Wenn J. Larin oder andere Menschewiki glauben, hier sei das Munizipalisierungsprogramm dargelegt, so ist das ein tragikomischer Irrtum. Obergabe des gesamten Grund und Bodens in das Eigentum des Staates ist Nationalisierung des Qrund und "Bodens, wobei die Verfügung über ihn gar nicht anders gedacht werden kann als durch örtliche Selbstverwaltungen, die im Rahmen des allgemeinen Staatsgesetzes handeln. Ein solches Programm -r nicht von „Reformen" natürlich, sondern der Revolution - unterschreibe ich voll und ganz, mit Ausnahme des Punktes über die „unentgeltliche" Verteilung an die auf dem Boden Wirtschaftenden, selbst wenn sie Lohnarbeiter beschäftigen. Dergleichen für die bürgerliche Gesellschaft zu versprechen - das paßt eher für einen Antisemiten als für einen Sozialdemokraten. Einen solchen Ausgang kann ein Marxist im Rahmen der kapitalistischen Entwicklung nicht als möglich annehmen - und es liegt auch kein Grund vor, die Obergabe der Rente ah Farmer,' die als Unternehmer wirtschaften, als wünschenswert anzusehen. Aber abgesehen von diesem Punkt, der höchstwahrscheinlich durch einen f alschenZungenschlag des Verfassers zu erklären ist, steht fest, daß in einer populären menschewistischen Broschüre die Nationalisierung des Qrund und Hodens als bester Ausgang in Verbindung mit der höchsten Entwicklung der Revolution propagiert "wird. Derselbe Larin schreibt zu der Frage, was mit den in Privatbesitz befindlichen Ländereien zu tun ist: „Was die in Privatbesitz befindlichen Ländereien betrifft, auf denen kapita-listische Großwirtschaft betrieben wird, so denken sich die Sozialdemokraten ihre Konfiskation keineswegs zum Zwecke der Aufteilung unter die kleinen Landwirte. Während die durchschnittliche Produktivität der kleinen Bauernwirtschaft auf eigenem Öder gepachtetem Boden nicht einmal 30 Pud je Desjatine erreicht, übersteigt die durchschnittliche Produktivität der kapitalistischen Landwirtschaft in Rußland 50 Pud." (64.) " Wenn Larin so spricht, wirft er im Grunde genommen die Idee der bäuerlichen Agrarrevolution über Bord, denn seine Durchschnitts-Ernteerträge beziehen sich auf. den ganzen Boden der Gutsbesitzer. Hält man eine breitere und raschere, Hebung der Arbeitsproduktivität Aad&r-von der Fronwirtschaft befreiten kleinen Landwirtschaft nicht für möglich, so-

Das Agrarprogramm. der Sozialdemokratie

367

hat die ganze „Unterstützung der revolutionären Aktionen der Bauernschaft einschließlich der Konfiskation der Gutsbesitzerländereien" überhaupt keinen Sinn, überdies vergißt Larih, daß in der Frage, „zu welchem Zwecke, sich .die Sozialdemokraten die Konfiskation kapitalistischer Betriebe denken", ein Beschluß des Stockholmer Parteitags vorliegt. Es war gerade Gen. Strumiliriy der auf dem Stockholmer Parteitag den Abänderuhgsantrag stellte, nach, den Worten „ökonomischeJEntwicklung" (in der:Resolution). einzufügen: „daher dringen wir darauf, daß die konfiszierten großkapitalistischen Wirtschaften auch weiterhin kapitalistisch bewirtschaftet werden im Interesse des ganzen Volkes und unter Bedingungen, die die Bedürfnisse des Landproletariats am besten befriedigen" (S. 157). Dieser Abänderungsantrag wurde mit allen Stimmen gegen eine abgelehnt (ebenda). Und trotzdem geht die Propaganda in den Massen weiter, ungeachtet des Parteitagsbeschlusses! Die Munizipalisierung ist infolge der Beibehaltung des Privateigentums am Anteilland eine so konfuse Sache, daß unwillkürlich der Kommentar zum Programm vom Parteitagsbeschluß abweicht. K. kaütsky, der so häufig und so unberechtigt zugunsten des einen oder des anderen Programms zitiert wurde (unberechtigt, weil er die Aufforderung, sich in dieser Frage eindeutig zu äußern, entschieden ablehnte undsichauf die Klärstellung einiger'allgemeiner Wahrheiten beschränkte), Kautsky, der, gleichsam als Kuriosum, sogar zur Verteidigung der Munizipalisierung herangezogen wurde, schrieb, wie sich herausstellt, an M. Schanin im "April 1906: „Offenbar verstand ich unter Munizipalisierung etwas ganz anderes als Sie und, vielleicht, als Maslow. Ich begriff darunter das Folgende: der Großgrundbesitz wird konfisziert und darauf wird von den Gemeinden (!)'oder größeren Organisationen auch weiter im Großbetrieb gewirtschaftet oder der Boden an Produktionsgenossenschaften verpachtet. Ich weiß nicht, ob dergleichen in Rußland möglich ist; ich weiß auch nicht, ob die Bauern darauf eingehen werden. Ich sage auch nicht; daß wir es verlangen müssen, sondern ich glaube nur, daß wir, wenn.andere-dies fordern, ohne, weiteres dem zustimmen könnten. Es wäre ein interessantes Experiment."* . • •;,.••• * M. SchäniriY „Munizipalisierung pder Aufteilung in Eigentum",. Wüna 1907 r :S. 4. M-Schanin drückt berechtigte Zweifel darüber aus, ob man Kautsky zu den Anhängern der Münizipalisierung rechnen; könne; und prote-

368

.

.'

W.3.£enin

Ich glaube, diese.Zitate genügen, um zu .zeigen, wie Menschen, die mit dem Stockholmer Programm' durchaus sympathisiert haben' öder -sympathisierendes durch ihre eigenen Kommentare aufbeben- Die Schuld daran trägt die:.hoffnungslose Konfusion in einem Programm, das-theoretisch mit der Ablehnung der Marxschen Rententheorie zusammenhängt, praktisch dem Tmmöglichen „mittleren" Fall eines lokalen; Demokratismus bei undemokrätischer Zentralgewalt angepaßt ist und ökonomisch ein Hineintragen kleinbürgerlichen, quasisozialistischen Reformeirtums in das Programm der bürgerlichen Revolution darstellt. "-"•"•

KAPITEL V

...... F

. DIE KLASSEN U N D P A R T E I E N IM L I C H T E DER A G R A R D E B A T T E N , DER Z W E I T E N D U M A . •



,

'

Es scheint uns nicht unnütz zu sein, an die Frage des Agrarprogramms der. Arbeiterpartei in der russischen bürgerlichen Revolution auch von etwas anderer Seite heranzugehen. Die Analyse der ökonomischen Voraussetzungen der Umwälzung und der politischen Erwägungen zugunsten des einen oder anderen Programms muß ergänzt werden durch eine Darstellung des Kampfes der verschiedenen Klassen und Parteien, die möglichst alle Interessen in ihrer unmittelbaren Gegenüberstellung erfaßt. Nur eine solche Darstellung kann einen Begriff von der zu untersuchenden Erscheinung (Kampf um den Boden in der russischen Revolution) in ihrer Qesamtheit vermitteln, indem sie Einseitigkeit und Zufälligkeit stiert gegen die menschewistische Reklame (in der tnensdiewistischen „Prawda"105 von 1906) mit Kautsky. In einem von Maslow veröffentlichten Brief Kautskys sagt dieser direkt: „Wir können den Bauern die Entscheidung der Frage nach den 7ormen überlassen, die das den Großgrundbesitzern entzogene Eigentum annehmen soll. Ich würde es für einen Fehler halten, ihnen in dieser Beziehung etwas aufzwingen zu wollen." (S. 16. „Zur Frage des Agrarprogramms". Maslow und Kautsky. Verlag „Nowy Mir", Moskau 1906.) Diese durchaus bestimmte Erklärung Kautskys schließt gerade die Munizipälisierung, die die Menschewiki den Bauern aufzwingen wollen, aus. (Zitate aus, dem Russischen rüdeübersetzt Der Tibers.)

Bas Agrarprogramm der Sozialdemokratie

369

der einzelnen Äußerungen ausschließt und die theoretischen Schlüsse am praktischen" Instinkt der beteiligten Personen selbst überprüft; Gleich Einzelpersonen körinen auch beliebige Vertreter von Parteien und Klassen irren; wenn sie aber m der öffentlichen Arena, vor der gesamten Bevölkerung auftreten, dann werden einzelne Fehler unvermeidlich durch die entsprechenden Gruppen oder Klassen, die an dem Kämpf interessiert sind, korrigiert. Klassen irren nicht: sie bestimmen im großen und ganzen ihre Interessen und ihre politischen Aufgaben entsprechend den Bedingungen des Kampfes und den Bedingungen der gesellschaftlichen Evolution. Um uns ein solches Bild zu schaffen, verfügen wir in den stenografischen Berichten der beiden Dumas über ein ausgezeichnetes Material.; Wir nehmen die zweite Duma, denn sie widerspiegelt den Kampf der Klassen in der russischen Revolution unzweifelhaft vollständiger und auf höherer Stufe: die Wahlen zur zweiten Duma wurden von keiner einzigen einflußreichen Partei boykottiert. Die politische Gruppierung der Abgeordneten ist in der II. Duma viel schärfer umrissen, die'Dumafraktionen sind geschlossener und mit den entsprechenden Parteien viel enger verbunden. Die Erfahrungen der I. Duma lieferten bereits nicht wenig Material, das allen Parteien half, ihre Linie mit mehr Überlegung zu bestimmen. Aus allen diesen Gründen ist die zweite Duma vorzuziehen. Auf die Debatten in der I.Duma werden wir nur zurückgreifen, um die in der zweiten Duma abgegebenen Erklärungen zu ergänzen oder zu erläutern. Damit das Bild des Kampfes der Klassen und Parteien an Hand der Debatten in der zweiten Duma vollständig und genau sei, muß jede bedeutsame, selbständige Züge aufweisende Dumafraktion besonders herausgehoben und durch Auszüge aus den wichtigsten Reden zu den wich-' tigsten Punkten der Agrarfrage gekennzeichnet werden. Es ist weder möglich noch notwendig, alle zweitrangigen Redner zu zitieren, und wir werden nur diejenigen anführen, die irgend etwas Neues hinzugefügt oder eine beachtenswerte Darlegung irgendeiner Seite der Frage gegeben haben. Die Haüptgruppen der Dumaabgeordneten, die in den Agrardebatten klar hervortreten, sind'folgendei l.die Rechten und die Oktobristen. Irgendein wesentlicher Unterschied -zwischen ihnen ist in der zweiten Duma, wie wir sehen werden,1 nicht zutage getreten;' 1. die Kadetten; 3. die rechten und die oktobristischen Bauern, die, wie wir sehen werden,

370

links, von"den Kadetten stehen; 4. die parteilosen Bauern,- 5. die VolksV tümler oHer die Trudowiki-Intellektnellen, die etyyas rechter stehen als 6. die Trudowiki-Bauem, sodann 7. die Sozialrevolutionäre; 8. die „Nationalen", die Vertreter nichtrussischer Nationalitäten^ und 9. die Sozialdemokraten. Die Position der Regierung werden wir im Zusammenhang mit jener Pumagruppe umreißen, mit-der die Regierung im wesentlichen zusammenfällt.

, -

"

.

-

;



,

;

.

- . _-•

; -

.

.

-



-• - -si •-.•:',•

^ .•:.'.•

i:T)ie Rechten und-die Oktobristen •

-

.



:

;





'

-

"



.

.

.

.



.

-

.

'

:

:

.

'

:

!

:

.



_

"

,

.



>

.

.

-

.. '

'



'

:

. • :

»

• •

Die Position der Rechten in der ^Agrarfrage hat zweifellos _am; besten Graf:Bobrinski in seiner Rede vom 29. März 1907 (18. Sitzung der II. Duma) zum Ausdruck gebracht. Nachdem er mit dem linken Priester Tidiwinski über die Heilige Schrift und über ihre Gebote, der Obrigkeit zu gehorchen, gestritten und die „reinste, lichteste Seite der russischen Geschichte'' (1289*) - d i e Bauernbefreiung - erwähnt hatte (wir sprechen darüber weiter unten), ging der Graf „mit offenem Visier" an die Agrarfrage heran. „Vor kaum 100 bis 150 Jahren lebten-die Bauern in Westeuropa fast überall ebenso ärmlich, bedrückt und in "Unwissenheit wie heute bei uns. Es gab dieselbe, Dorfgemeinde wie bei uns in Rußland mit der Bodenverteilung nach Kopfzahl, diesen typischen Überrest der Feudalordnung." (1293.) Heute, fährt der Redner fort, leben die Bauern in Westeuropa in Wohlstand. Es fragt sich, welches,Wunder wares, das den „bettelarmen, bedrückten Bauern zu einem wohlhabenden, sich selbst und andere achtenden nützlichen Bürger" gemacht hat? „Hier gibt es nur eine Antwort: Dieses Wunder hat das bäuerliche persönliche Eigentum vollbracht, das Eigentum, das hier bei den Linken-so verhaßt ist, das Eigentum, das wir Rechten mit allen Kräften unseres Verstandes, mit der ganzen Kraft unserer aufrichtigen Überzeugung"verteidigen werden, denn wir wissen, daß die Macht und die Zukunft Rußlands im Eigentum liegen." (1294.) „Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts hat die Agrochemie erstaunliche.:. Entdeckungen auf dem Gebiet der Pflanzenernährung gemacht, und die ausländischen Bauern - d i e Kleineigentümer ebenso (?•?); wie die. Großeigentümer — verstanden es, sich diese Entdeckungen der r * Die Zahlen ohne nähere Bezeichnung bedeuten irh weiteren überall die Seitenzahlen des stenografischen Berichtes. J -'..'..••:••. r

Das Agrarprogrämm dir Sozialdemokratie

371

Wissenschaft nützbar zu machen,und haben durch Anwendung desKunstdüngers eine noch größere Erhöhung der Ernteerträge .erzielt; während wir heute auf unserer ausgezeichneten Schwarzerde 3OT-35 Pud Getreide ernten, manchmal aber nicht einmal das Saatgut erhalten, wird im "Ausland jahraus, jahrein, je nach dem Land und den klimatischen Bedingungen, ein. durchschnittlicher Ernteertrag von 70 bis 120 Pud erzielt. Hier habenSie die Lösung der; Bodenfrage. Das ist kein Traum, keine Phantasie. Das ist. ein lehrreiches historisches Beispiel. Nicht den Fußtapfen Pugatschows und Stenka Rasins und dem Ruf ,Geld oder Leben!' wird der russische Bauer folgen" (oh, Herr Graf, verbürgen Sie sieh nicht!), „er wird den einzig richtigen Weg gehen, den alle zivilisierten Völker gingen, den Weg seiner Nachbarn in Westeuropa;und den Weg schließlich unserer polnischen Brüder, den Weg der westrussischen Bauern, die bereits erkannt haben, wie verhängnisvoll sich der Gemeinde- und Hofbesitz mit seiner Gemengelage auswirkt, und jetzt schon an verschiedenen Orten zur Farmerwirtschaft übergegangen sind/' (1296.) Graf Bobrinski setzt weiter auseinander, und zwar völlig richtig, daß „dieser Weg im Jahre 1861 bei der Befreiung der,Bauern aus der Leibeigenschaft gewiesen wurde". Er rät, es nicht auf „einige Dutzend Millionen" ankommen zu lassen, um „eine wohlhabende Klasse bäuerlicher Eigentümer zu schaffen": Er erklärt: „Das ist, meine Herren, in allgemeinen Zügen unser Agrarprogrämm. Das ist kein Programm von Wahl- und Agitationsversprechungen. Das ist kein Programm zur Zerstörung der bestehenden sozialen und juridischen Normen" (das ist ein Programm der gewaltsamen Ausrottung von Millionen Bauern), „das ist kein Programm gefährlicher Phantasien, sondern fiin völlig durchführbares Programm" (das ist noch eine Frage) „und ein erprobtes Programm" (was wahr ist, ist wahr). „Und es ist längst an der Zeit, den Wunschtraum von irgendeiner ökonomischen Eigenständigkeit des russischen-Volkes aufzugeben . . . Wie ist es aber zu erklären, daß völlig undurchführbare Projekte, wie der Entwurf der Trudowikigruppe und der Entwurf der Partei der Volksfreiheit, in einer seriösen gesetzgebenden Versammlung eingebracht werden? Noch niemals hat ein Parlament in der Welt zu hören bekommen, daß man den gesamten Grund und Boden zugunsten des Fiskus wegnehmen soll oder daß man den Boden dem Hans nehmenund dem Peter übergeben, soll... Das Auftauchen solcher Entwürfe ist eine Folge von Verwirrung" (nun ist

372

:."-

•.-. ••-•• •' '' •:

IV.f.Lenin

es erklärt!): „Und so/russische Bauernschaft, hast du die Wahl zwischen zwei Wegen :r Dereine Weg ist breit iund scheinbar leicht. Es ist der Weg der Besitzergreifung. imdf Zwangsenteignurig; :zu dem man dich hier-aufgerufen hat.' Dieser Weg ist zuerst verlockend und führt bequem bergan, aber er endet in einem Abgrund" (für die Gutsbesitzer?) „und mit dem Untergang sowohl der Bauernschaft als auch des ganzen Staates. Der andere Weg ist eng, dornig und steil, aberdieser Weg führt dich zu den Höhen der Wahrheit und Gerechtigkeit und des dauernden Wohlstandes." (1299.) ••.•-'. • ••:. • .'• .--:•••;: Wie der Leser sieht,7 ist dies das Regierungsprogramm. Gerade dieses Programm verwirklicht Stolypin durch seine berühmte Agrargesetzgebung nach Artikel 87: Dasselbe Programm hat Purischkewitsch in seinen Agrarthesen formuliert .

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

381

Die Kadetten sind also gegen jede wie immer geartete Form der gesellschaftlichen. Bodennutzung*, gegen die entschädigungslose Enteignung, gegen die örtlichen Bodenkomitees mit einer Bauernmehrheit, gegen die Revolution überhaupt und besonders gegen die bäuerliche Agrarrevolution. Auf ihre Position des Lavierens zwischen.den Linken und den Rechten (zwecks Auslieferung der Bauern an die Gutsbesitzer) wirft ihr Verhältnis zur Bauern„reform" von 1861 ein grelles Licht. Die Linken sprechen von ihr, wie wir weiter sehen werden, mit Abscheu und Entrüstung, als von einer Schlinge, die den Bauern von den Gutsbesitzern um den Hals gehängt wurde. Die Kadetten sind in ihrem Entzücken über diese Reform mit dein Rechten solidarisch. Graf. Bobrinski sagte.- „Hier hat man die reinste, lichteste Seite der russischen Geschichte in' den Kot gezogen . . . Das Werk der Bauernbefreiung ist über jeden Vorwurf erhaben... der große und hehre Tag des 19. Februar 1861." (29. März, S. 1289, 1299.) Kutler sagte: „Die große Reform von 1861 . . . Die Regierung in Gestalt des'Vorsitzenden des Ministerrats sagt sich von der russischen Geschichte los, von ihren besten und lichtesten Seiten!" (26. Mai, S. 1198/ 1199.)



:

-

:

" - , • - • -

"

Diese Einschätzung der tatsächlich durchgeführten Zwangsenteignung wirft mehr Licht auf das Agrarprogramm der Kadetten als alle ihre Ent* Besonders bemerkenswert ist in dieser - Beziehung die Debatte in der I. Dunia über die Frage der Weiterleitung des Agrarentwurfs der 33 (über die Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden). Die Kadetten (Petrunkewitsch, Muchanow, Schachowskoi, Frenkel, Owtschinnikow, Dolgorukow, Kokoschkin) wandten sich wütend gegen die Überweisung dieses Entwurfs an die Kommission und wurden von Heyden uneingeschränkt unterstützt. Die Argumente der Kadetten sind ungebührlich für einen Liberalen, der auch nur ein wenig auf sich hält; es sind das polizistenhafte Ausflüchte von Lakaien der reaktionären Regierung. Eine Überweisung an die Kommission, sagte zum Beispiel Herr Petrunkewitsch, würde bedeuten, zuzugeben, daß der Standpunkt eines derartigen Entwurfs bis zu einem gewissen Grade „möglich" sei. Herr Shilkin beschämte die Kadetten (23. Sitzung, 8. Juni 1906), als er sagte, er würde sowohl diesen Entwurf als auch den Entwurf der äußersten Rechten an die Kommission überweisen. Die Kadetten Und" die Rechten verhinderten jedoch mit 140 gegen 78 Stimmen die Überweisung des Entwurfs an die Kommission!

382

W. J. Lenin

würfe und Reden, die verfaßt wurden, um ihre Gedanken zu verbergen. Wenn jemand den Landraub an den Bauern durch die Gutsbesitzer, die •unerhörten Ablösungszahlungeh für „Sandböden" und die Einführung der Urbarialurkunden vermittels militärischer Exekutionen für die lichteste Seite hält, so ist es klar, daß er eine „zweite Befreiung", eine zweite Versklavung der Bauern mit Hilfe der Ablösung anstrebt. Bobrinski und Kutler sind in der Einschätzung der Reform von 1861 solidarisch. Die Einschätzung Bobrinskis bringt jedoch die richtig erfaßten Interessen der Gutsbesitzer unmittelbar und treffend zum Ausdruck, und deswegen erhellt sie das Klassenbewußtsein der breiten Massen. Die Bobrinski loben - also haben die Gutsbesitzer profitiert. Die Einschätzung Kuriers, die die Geistesarmut einer Beamtenseele zum Ausdruck bringt, die ihr ganzes Leben lang den Rücken vor den Gutsbesitzern krümmte, ist voll von Heuchelei und verdunkelt das Bewußtsein der Massen. In diesem Zusammenhang muß noch eine Seite der Politik der Kadetten in der Agrarfrage hervorgehoben werden. Alle Linken stellen sich unumwunden auf die Seite der Bauern als der kämpfenden Kraft, erklären die Notwendigkeit des Kampfes, weisen auf den gutsherrlichen Charakter der Regierung hin. Die Kadetten stellen sich im Verein mit den Rechten auf den „staatlichen Standpunkt" und lehnen den Klassenkampf ab. Kutler erklärt, es sei nicht nötig, „die Bodenverhältnisse von Grund aus umzugestalten" (732). Saweljew warnt davor, „eine Menge von Interessen anzutasten", und sagt: „Das Prinzip der völligen Ablehnung des Eigentums wäre kaum zweckmäßig, und würde es angewendet werden, so könnten sich sehr große und ernste Verwicklungen ergeben, besonders wenn wir bedenken, daß die Großgrundbesitzer mit über 50 Desjatinen sehr viel Land besitzen/nämlich 79 440 000 Desjatinen." (26. März 1907, S. 1088- Der Bauer beruft sich auf die Latifundien, um die Notwendigkeit ihrer Abschaffung zu beweisen, der Liberale um die Notwendigkeit "der Kriecherei zu beweisen.) Schingarjow würde es für das „größte Unglück" halten, wenn das Volk selbst vom Grund und Boden Besitz ergriffe (1355): Röditschew schlägt lyrische Töne an: „Laßt uns nicht den Klässenhäder entfachen, wollen wir doch das Vergangene vergessen." (632, 16. Mai 1907.) Ebenso Kapustin: „Unsere Aufgabe ist es, überall Frieden und Gerechtigkeit zu stiften, nicht aber

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

383

Klassenhader zu säen und zu schüren." (1810, 9. April.) Krupenski ist über die Rede des Sozialrevolutionärs Simin empört, weil sie „vom Haß gegen die besitzenden Klassen bestimmt ist" (783, 19. März). Mit einem Wort, in der Verurteilung des Klassenkampfes sind sich Kadetten und Rechte völlig einig. Die Rechten wissen aber, was sie tun. Für die Klasse, gegen die der Kampf gerichtet ist, kann die Propaganda des Klassenkampfes nur schädlich und gefährlich sein. Die Rechten sind treue Hüter der Interessen der Fronherren, der Gutsbesitzer. Und die Kadetten? Sie kämpfen - sie sagen, daß sie kämpfen! - , sie wollen die Gutsbesitzer, die die Macht haben, „zwingen", und verurteilen den Klassenkampf! Hat die wirklich kämpfende und nicht vor den Gutsbesitzern liebedienernde Bourgeoisie etwa in Frankreich so gehandelt? Rief sie nicht das Volk zum Kampf auf, entfachte sie nicht die Klassenfeindschaft, schuf sie nicht die Theorie des Klassenkampfes? • . ;

3. Die rechtsstehenden Bauern In der zweiten Duma sind wirklich rechte Bauern nur als Ausnahme anzutreffen - es ist fast allein Rementschik (Gouvernement Minsk), der von keinerlei Dorfgemeinde und von keinerlei „Fonds" etwas wissen will und mit Leib und Seele für das Eigentum eintritt (in der I. Duma waren viele pohlische und westrussische Bauern für das Eigentum). Aber selbst dieser Rementschik erklärt sich für die Enteignung „zu gerechtem Preise" (648), d.h., er erweist sich im Grunde genommen als Kadett. Die anderen „rechtsstehenden Bauern" der zweiten Duma werden von uns deshalb als besondere Gruppe zusammengefaßt, weil sie zweifellos linker stehen als die Kadetten. Man nehme Petrotschenko (Gouvernement Witebsk). Er beginnt damit, daß er „den Zaren und das Vaterland bis zum Tode verteidigen wird" (1614). Die Rechten applaudieren. Nun kommt er aber auf den „Bodenmangel" zu sprechen. ^Wieviel Sie auch diskutieren mögen", sagt er, „einen anderen Erdball werden Sie nicht schaffen. Man wird also diese Erde uns geben müssen. Hier hat einer der Redner gesagt, unsere Bauern seien rückständig und unwissend, und es sei nutz- und zwecklos, ihnen viel Boden zu geben, da er sowieso keinen Nutzen bringen werde. Allerdings hat uns der Boden früher wenig Nutzen gebracht,

384

•W.J.Lenin.

besonders denjenigen, die ihn nicht hatten. Da wir aber unwissend sind, so wollen wir auch nichts anderes als Boden, damit wir in unserer Dummheit in ihm herumstochern können. Meinerseits glaube ich, daß es sich natürlich für einen Adligen auch gar nicht-ziemt, sich mit dem Boden abzuquälen. Hier wurde davon gesprochen, daß man den Grund und Boden -der Privateigentümer von Gesetzes wegen nicht antasten dürfe. Ich bin natürlich damit einverstanden, daß man Gesetze einhalten muß, um aber den -Bodenmangel zu beseitigen, muß man ein entsprechendes Gesetz erlassen, damit das alles eben nach dem Gesetz geschehe. Damit aber niemand zu kurz komme, hat der Abgeordnete Kutler gute Bedingungen vorgeschlagen. Natürlich hat er als reicher Mann einen hohen Preis genannt, wir aber sind arme-Bauern und können nicht soviel zahlen; wie wir aber leben sollen - in Gemeinden, als Hofbauern oder als Farmer - so glaube ich meinerseits, daß man es jedem überlassen muß, so zu leben, wie es ihm paßt." (1616.) Zwischen diesem rechtsstehenden Bauern und dem russischen Liberalen klafft ein ganzer Abgrund. Der erstere ist in Worten der alten Macht ergeben, in Wirklichkeit will er Boden haben, kämpft gegen die Gutsbesitzer und wird nicht einverstanden sein, Ablösungszahlungen in der von den Kadetten vorgeschlagenen Höhe zu leisten. Der letztere kämpft in Worten für die Volksfreiheit, in Wirklichkeit bereitet er eine zweite Versklavung der Bauern durch die Gutsbesitzer und die alte Staatsmacht vor. Der letztere kann sich nur nach rechts entwickeln, von der I. Duma zur zweiten, von der II. zur III. Der erstere, der sich in seinen Hoffnungen, daß man ihm den Boden „abgeben" wird, enttäuscht sieht, wird in die andere Richtung abschwenken. Wir werden wohl eher mit den „rechtsstehenden" Bauern einen gemeinsamen Weg gehen als mit den „liberalen", ^demokratischen" Kadetten . . . Man höre den Bauern Schimanski (Gouvernement Minsk). „Ich bin hierhergekommen, um den Glauben, den Zaren und das Vaterland zu verteidigen und Boden zu verlangen . . . natürlich nicht durch Raub, sondern auf friedlichem Wege, zu gerechtem Preise... Deswegen fordere ich im Namen aller Bauern die Dumamitglieder, die Gutsbesitzer, auf, diese Tribüne zu betreten und zu erklären, daß sie willens seien, den Bauern den Boden zu gerechtem Preise abzutreten, und dann werden ihnen unsere Bauern natürlich Dank sagen, ja, ich glaube, auch Väterchen Zar wird

Das Agrarprogratnm der Sozialdemokratie

385

ihnen Dank sagen. Ich schlage der Reichsduma vor, den Boden derjenigen Gutsbesitzer, die damit nicht-einverstanden sind, mit progressiven Steuern zu belegen. Sie werden uns zweifellos mit der Zeit ebenfalls nachgeben, weil sie erkennen werden, daß ein zu großer Bissen in der Kehle steckenbleibt." (1617.) • Dieser rechtsstehende Bauer versteht unter Zwangsenteignung: und gerechtem Preise durchaus nicht das, was die Kadetten meinen. Die Kadetten betrügen nicht nur die linken, sondern auch die rechtsstehenden Bauern. Wie sich die rechtsstehenden Bauern zu den kadettischen Plänen der Zusammensetzung der Bodenkomitees (auf Kutlersche oder auf Tschuprowsche Art.- siehe Bd. Hder „Agrarfrage") stellen würden, wenn sie sich mit ihnen bekannt machten, ist aus dem folgenden Antrag des Bauern Melnik (Oktobrist; Gouvernement Minsk) zu ersehen. „Ich halte es für notwendig", sagte er, „daß in die (Agrar-) Kommission 60 Prozent Bauern kommen, die die Not (!) praktisch kennen und mit der Lage des Bauernstandes vertraut sind, nicht aber Bauern, die vielleicht nur dem Namen nach Bauern sind. Das ist eine Frage des Wohlstandes der Bauern und überhaupt des armen Volkes und durchaus nicht eine Frage von politischer Bedeutung. Man muß Leute wählen, die imstande sind, diese Frage zum Wohl des Volkes praktisch und nicht politisch zu lösen." (1285.) Diese rechtsstehenden Bauern werden weit nach links abschwenken, wenn erst die Konterrevolution ihnen die politische Bedeutung der „Frage des Wohlstandes des armen Volkes" gezeigt haben wird! Um zu zeigen, wie unendlich weit die Vertreter der monarchistischen Bauernschaft und die Vertreter der monarchistischen Bourgeoisie voneinander entfernt sind, bringe ich Auszüge aus den Reden eines „Progressisten", des Priesters Tichwinski, der stellenweise im Namen des Bauernbundes und der Trudowikigruppe gesprochen hat. „Unsere Bauernschaft in ihrer Masse liebt den Zaren", sagte er. „Könnte ich doch mit Tarnkappe und fliegendem Teppich zu den Stufen des Thrones fliegen und sagen, Zeugnis ablegen: Herr, dein Hauptfeind, der Hauptfeind des Volkes - das ist das nichtverantwortliche Ministerium . . . Die werktätige Bauernschaft will nur, daß man streng das Prinzip durchführe: ,den ganzen Boden dem ganzen Volke'..." (Über die Frage der Ablösung:) „Fürchten Sie sich nicht, meine Herren Rechten, verlassen Sie sich auf unser Volk, es wird Sie nicht ins Elend stürzen." ( S t i m m e n v o n

386

W.1.£enin

r e c h t s : „Danke! Danke!") „Jetzt komme ich zu den Worten des Berichterstatters von der Partei der Volksfreiheit. Er sagt, das Programm der Partei der Volksfreiheit sei nicht weit entfernt vom Programm der Bauernschaft und der Trudowikigruppe. Nein, meine Herren, dieses Programm ist sehr weit davon entfernt. Wir haben vom Berichterstatter gehört: ,Nehmen wir an, unser Entwurf sei weniger gerecht, er ist aber praktischer.' Meine Herren, man bringt die Gerechtigkeit praktischen Erwägungen zum Opfer!" (789.) Seiner politischen Weltanschauung nach steht dieser Abgeordnete auf dem Niveau eines Kadetten. Aber welch ein Unterschied zwischen seiner ländlichen Naivität und den „Geschäftsleuten" aus den Reihen der Rechtsanwaltschaft, der Bürokratie und der liberalen Journalistik!

4. Die parteilosen Bauern

. Von besonderem Interesse sind die parteilosen Bauern, da sie die Meinungen der am wenigsten bewußten und am wenigsten organisierten Bauernmassen zum Ausdruck bringen. Wir führen daher Auszüge aus den Reden aller parteilosen Bauern* an, zumal es ihrer nicht viele gibt: Sachno, Semjonow, Moros und Afanasjew. „Meine Herren Volksvertreter", sagte Sachno (Gouvernement Kiew), „es ist für den Bauernabgeordneten schwer, diese Tribüne zu besteigen und gegen die reichen Herren Gutsbesitzer Stellung zu nehmen. In der heutigen Zeit leben die Bauern sehr ärmlich, weil sie kein Land haben . . . Der Bauer hat unter dem Gutsbesitzer zu leiden, weil ihn der Gutsbesitzer furchtbar bedrückt... Warum kann der Gutsbesitzer große Ländereien besitzen, dem Bauern aber bleibt nur das Himmelreich? . . . Also, meine Herren Volksvertreter, als mich die Bauern hierherschickten, da beauftragten sie mich, für ihre Bedürfnisse ein* Zur Bestimmung der Zugehörigkeit der Abgeordneten der zweiten Duma zu dieser oder jener Fraktion oder Partei haben wir uns einer offiziellen Publikation der Reichsduma selbst bedient: der nach Parteien und Gruppen gegliederten Abgeordnetenliste. Manche Abgeordnete sind von einer Partei zu einer anderen übergegangen, aber nach den Zeitungsmeldüngen ist es unmöglich, diese Übergänge zu registrieren. Außerdem würde man nur Verwirrung stiften, wollte man in dieser Frage verschiedene Quellen benutzen.

T)as Agrarprogramm der Sozialdemokratie

387

zutreten, damit sie Land und Freiheit erhalten, damit alle fiskalischen, Kabinetts-, Apanage-, Privat- und Klosterländereien zwangsweise, ohne Entschädigung enteignet werden . . . "Wissen Sie, meine Herren Volksvertreter, der Hungrige kann nicht ruhig bleiben, wenn er sieht, daß die Staatsmacht trotz •seines Elends auf Seiten der Herren Gutsbesitzer ist. Er kann nicht umhin, Land zu verlangen, auch wenn dies gegen das Gesetz wäre,- ihn zwingt die Not dazu. Der Hungrige ist zu allem bereit, weil ihn die Not zwingt, sich über alles hinwegzusetzen, weil er arm und hungrig ist." (1482—1486.) Ebenso schlicht und ebenso eindrucksvoll in ihrer Einfachheit ist die Rede des parteilosen Bauern Semjonow (Gouvernement Podolien, Bauernabgeordneter) : „Bittere Not spiegelt sich gerade in den Interessen jener Bauern wider, die ihr Leben lang leiden, weil sie kein Land haben. Zweihundert Jahre warten sie, ob nicht das Glück vom Himmel fallen werde, es fällt aber nicht. Das Glück ist bei den Herren Großgrundbesitzern, die zur Zeit unserer Großväter und Väter zu diesem Land gekommen sind. Indes gehört der Boden Gott und nicht den Gutsbesitzern . . . Ich verstehe sehr gut, daß der Boden dem ganzen werktätigen Volk gehört, das ihn bearbeitet... Der Abgeordnete Purischkewitsch sagt: Revolution, zu Hilfe!' Was ist das? Ja, wenn man ihnen durch zwangsweise Enteignung das Land wegnimmt, dann werden sie die Revolution sein, und nicht wir. Wir werden alle Kämpfer, liebenswürdige Leute sein . . . Haben wir etwa 150 Desjatinen wie die Geistlichen? Und die Klöster, die Kirchen? Wozu brauchen sie den Boden? Nein, meine Herren, genug damit, Schätze zu sammeln und sich die Taschen zu füllen, man muß leben, wie es sich gehört. Das Land wird sich zurechtfinden, meine Herren, ich verstehe alles sehr gut, wir sind ehrliche Bürger, wir beschäftigen uns nicht mit Politik, wie einer meiner Vorredner sagte . . . Sie (die Gutsbesitzer) spazieren bloß herum und fressen sich einen Schmerbauch an von unserem Blut> von unserem Schweiß. Wir vergessen es nicht, wir werden ihnen kein solches Unrecht zufügen, wir werden auch ihnen Boden geben. Wenn man nachrechnet, dann kommen bei uns auf jeden Hof 16 Desjatinen, den Herren Großgrundbesitzern aber bleiben noch je 50 Desjatinen . . . Tausende, Millionen des Volkes leiden, die Herrschaften aber feiern Feste... Und wie steht es mit dem Militärdienst? Wir wissen, ist einer krank geworden, dann heißt es: ,Er hat ja Land in der Heimat.' Aber wo ist denn seine Heimat? Eine Heimat hat er überhaupt nicht. Die Heimat besteht nur darin, daß er in den Listen eingetragen ist, wo er geboren wurde, daß seine Religion aufgeschrieben ist, aber Land hat er keines. Jetzt sage ich: Das Volk hat mich gebeten, daß die fiskalischen, Kirchen-, Klöster-, Apaiiageländereien- sowie die zwangsweise enteigneten Gutsbesitzerländereien

388



W. I.Lenin

dem werktätigen Volk übergeben werden, das auf dem Boden arbeiten wird; und zwar soll man sie den einzelnen Ortschaften übergeben: dort wird man weitersehen. Ich sage Ihnen, daß mich das Volk geschickt hat, Land und Freiheit, volle bürgerliche Freiheit zu verlangen; dann werden wir leben und nicht sagen, daß dieser ein Herr und jener ein Bauer ist, sondern wir werden alle Menschen sein, und jeder wird auf seinem Platz Herr sein." (1930-1934.) Liest man eine solche Rede eines „sich nicht mit Politik beschäftigenden" Bauern, so wird unmißverständlich klar: Die Durchführung nicht nur des Stolypinschen, sondern auch des kadettischen Agrarprogramms erfordert Jahrzehnte systematischer Gewalt gegen die Bauernmassen, Jahrzehnte systematischen Terrors, Jahrzehnte der Ausrottung durch Folterungen und Gefängnis, durch die Verbannung aller Bauern, die denken und frei zu handeln versuchen. Stolypin versteht das und handelt dementsprechend. Die Kadetten verstehen das zum Teil nicht, infolge der liberalen Beamten und Professoren eigenen Borniertheit, zum Teil verheimlichen sie es heuchlerisch, „verschweigen es schamhaft" - wie die militärischen Exekutionen von 1861 und der folgenden Jahre. Zerschellt aber diese systematische tmd vor nichts zurückschreckende Gewalt an irgendeinem inneren oder äußeren Hindernis, dann wird der parteilose ehrliche, „sich nicht mit Politik beschäftigende" Bauer aus Rußland eine Bauernrepublik machen. ' Der Bauer Moros erklärte in einer kurzen Rede einfach: „Man muß die Ländereien den Priestern und den Gutsbesitzern wegnehmen" (1955), und dann berief er sich auf das Evangelium (nicht zum erstenmal in der Geschichte entlehnen bürgerliche Revolutionäre ihre Losungen dem Evangelium) . . . „Bringt man dem Priester nicht Brot und einen halben Stauf Schnaps, so wird er das Kind nicht taufen... Sie sprechen noch vom heiligen Evangelium und lesen: ,Bittet, so wird euch gegeben, klopfet an, so wird euch aufgetan.' Wir bitten und bitten, aber man gibt uns nicht, wir klopfen an, aber man gibt uns nicht; also wird man die Türen aufbrechen und nehmen müssen? Meine Herren, lassen Sie es nicht darauf ankommen, daß man die Türen aufbricht, geben Sie freiwillig,, und dann wird es Gerechtigkeit und Freiheit geben, es wird Ihnen gut gehen und auch uns." (1955.) . Da ist der parteilose Bauer Afanasjew, der die kosakische „MunizipalLsierung" nicht vom Standpunkt des Kosaken, sondern vom Standpunkt

Vas Agrarprogramm der Sozialdemokratie

389

eines „gewissermaßen Zugewanderten" einschätzt. „Ich maß, meine Herren, vor allem sagen, daß ich Vertreter der Bauernschaft des Dongebiets bin, die dort über eine Million zählt und von der ich als einziger hierhergekommen bin; das allein läßt schon erkennen, daß wir dort gewissermaßen Zugewanderte sind Ich bin unendlich erstaunt: ist es denn Petersburg, das das Dorf ernährt? Nein, im Gegenteil. Ich habe einst über zwanzig Jahre in Petersburg gedient und habe bereits damals festgestellt, daß nicht Petersburg das Dorf, sondern das Dorf Petersburg ernährt. Dasselbe stelle ich auch jetzt fest. Alle diese prachtvollen Bauwerke, alle diese Paläste und Bauten, alle diese herrlichen wunderbaren^ Häuser - das alles wird auch jetzt von den Bauern errichtet, ebenso wie vor 25 J a h r e n . . . Purischkewitsch hat als -Beispiel angeführt, daß der Kosak mehr als 20 Desjatinen Boden hat und ebenfalls hungert... Warum hat er nicht gesagt,: wo dieser Boden ist? Es gibt Boden, es gibt auch in Rußland Boden j aber wer besitzt ihn? Wußte er, daß es dort soviel Boden gibt, und sagte er es nicht, so ist er ein ungerechter Mensch, wußte er es aber nicht, so sollte er erst gar nicht davon sprechen. Und wenn, er es vielleicht wirklich nicht gewußt hat, so sei mir gestattet, meine Herren, ihm zu sagen, wo dieser Boden ist, wieviel es gibt und wer ihn besitzt. Wenn man ihn zusammenzählt, so ergibt sich, daß es im Gebiet des Donheeres 753 546 Desj. Ländereien der Privatgestüte gibt. Jetzt möchte ich noch die kalmückischen Gestüte: erwähnen, die sogenannten nomadisierenden Gestüte. Dort gibt es insgesamt 165 708 Desj. Sodann sind an reiche Leute 1055 919 Desj: in zeitweilige Pacht gegeben. Alle diese • Ländereieh befinden sich in der Hand nicht jener Leute, die Purischk'ewitsch aufgezählt hat, sondern in der Härid der Kulaken, der Reichen, die uns unterdrücken,- bekommen wir Vieh, so, knöpft man uns die Hälfte ab, einen Rubel müssen wir für jede Desjätine und einen Rubel für das Vieh bezahlen, mit dem wir pflügen, dabei müssen wir aber unsere eigenen Kinder ernähren und überdies die Kosakinnen und die Kosakenkinder. Deswegen herrscht bei uns auch Hunger." Der Redner berichtet, daß die Pächter für die Gestellung von 8'Pferden „für die Kavallerie" 2700 Desj. erhalten, die Bauern aber könnten mehr stellen. „Ich möchte Ihnen; erzählen, wie ich unsere Regierung überzeugen wollte, daß sie einen großen Fehler macht,! weil sie nicht danach handelt. Ich'richtete ein Schreiben an die Redaktion des ,Selski Westnik' [Der Landbote] mit der

390

;

TV.I.Lenin

Bitte, es zu veröffentlichen. Man antwortete mir, es sei nicht unsere Sache, die Regierung zu belehren." Auf diese Weise schafft die „nichtdemokratische Zentralregienmg" auf „munizipalisiertem" Boden, der dem Gebiet als Eigentum übergeben wurde, de facto neue Gutsbesitzer: die Munizipalisierung ist, wie Plechanow entdeckt hat, eine Garantie gegen die Restauration... „Die Regierung hat uns durch die Bauernbank Tür und Tor geöffnet, um Land zu erwerben - das ist das Joch, in das wir 1861 gespannt wurden. Sie will uns in sibirische Gebiete umsiedeln . . . Wäre es nicht besser, es so zu machen: Denjenigen, der Tausende von Desjatinen besitzt, dorthin zu schikken, sein Boden bleibt dann, und wie viele könnten satt werden." ( B e i f a l l v o n l i n k s ; S t i m m e n v o n - r e c h t s : „Altes Zeug, altes Zeug.") „Im japanischen Krieg habe ich meine mobilisierten Soldaten über die (gutsherrlichen) Ländereien geführt, von denen ich hier gesprochen habe. Bis zur Sammelstelle hatten wir mehr als zwei Tage zu fahren. Die Soldaten fragten mich: ,Wohin führst du uns?' Ich sagte: ,Gegen Japan.' - ,Was sollen wir da tun?' - ,Das Vaterland verteidigen.' Ich als Soldat habe gefühlt, daß man das Vaterland verteidigen muß. Die Soldaten sagten mir: ,Was ist das für ein Vaterland, das Land der Lissezki, der Besulow, der Podkopailow? Was ist hier unser? Nichts ist unser.' Was sie mir gesagt haben, vermag ich heute, nach drei Jahren, noch nicht aus meinem Herzen auszulöschen... Folglich, meine Herren . . . Ich muß alles in allem sagen: Angefangen von den Fürsten bis zu den Adligen, Kosaken, Städtern, um nicht das Wort Bauer zu nennen, müssen im Hinblick auf alle Rechte, die es in unserem Rußland gibt, alle rassische Bürger, sein, berechtigt, den Boden zu nutzen, alle, die auf ihm arbeiten, ihrer Hände Arbeit auf ihn verwenden, ihn hegen und pflegen und lieben. Arbeite, schwitze und nutze den Boden. Willst du aber nicht auf ihm leben, willst du nicht auf ihm arbeiten, willst du nicht deiner Hände Arbeit auf ihn verwenden, so hast du auch kein Recht, ihn zu nutzen." (1974.) (26. Sitzung, 12. IV. 1907.) „Um nicht das Wort Bauer zu nennen"! Dieser wunderbare Ausspruch entrang sich „den Tiefen des Herzens" des Bauern, der das Ständewesen im Grundbesitz sprengen („Alle Rechte, die es in unserem Rußland gibt") und selbst den Namen des untersten Standes, des Bauernstandes, abschaffen will. „Alle müssen Bürger sein." Das gleiche Recht der Werktätigen auf den Boden, das ist nichts anderes als die wirklich konsequente Anwendung des Standpunktes des Landwirtes auf den Boden. Keinerlei

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

391

andere Begründungen für Bodenbesitz (nach der Art des Bodenbesitzes „für den Dienst" bei den Kosaken usw.), keinerlei andere Erwägungen, keinerlei andere Beziehungen außer dem Recht des Landwirtes auf den Boden, den Erwägungen des „Hegens und Pflegens" des Bodens, den Beziehungen von Menschen, die „ihrer Hände Arbeit auf den Boden verwenden". Gerade so muß die Dinge ein Farmer betrachten, der eine freie Wirtschaft auf freiem Boden haben will, der die Beseitigung alles Fremden, Störenden, Alten, aller früheren Tormen des Bodenbesitzes anstrebt. Nun, wäre es nicht eine dumme Anwendung einer nicht durchdachten Doktrin seitens der Marxisten, wollten sie diesem Landwirt von der Nationalisierung abraten und ihn über die Nützlichkeit des Privateigentums am Anteilland belehren? In der ersten Duma hat der Bauer Merkulow (Gouvernement Kursk) zur Nationalisierung des bäuerlichen Anteillandes denselben Gedanken geäußert, den wir oben in den Angaben über die Tagungen des Bauernbündes wiedergegeben haben. „Man schreckt uns damit", sagte Merkulöw, „daß sich auch der Bauer nicht von dem Stück Land, das er jetzt besitzt, trennen wird. Dazu sage ich: wer nimmt es ihnen denn weg? Wird doch auch bei vollständiger Nationalisierung nur der Boden weggenommen werden, den der Besitzer nicht mit seinen eigenen Kräften, sondern mit Lohnarbeitern bearbeitet." (18. Sitzung, 30. Mai 1906, S. 822.) Das sagt ein Bauer, der nach seinen eigenen Worten 60 Desj. Land als Eigentum besitzt. Die Lohnarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft abschaffen oder verbieten wollen ist natürlich ein kindischer Gedanke, wir müssen aber die unrichtigen Gedanken gerade dort abschneiden, wo der Fehler anfängt, beginnend mit der „Sozialisierung" und dem Verbot der Lohnarbeit* und nicht mit der Nationalisierung. Derselbe Bauer Merkulow wandte sich gegen den Kadettenentwurf der 42, der mit der Munizipalisierung in der Beziehung zusammenfällt, daß das Anteilland als Eigentum belassen, wird und die gutsherrlichen Ländereien in Nutzung gegeben werden. Das ist „eine gewisse Übergangsstufe von einem System zum- anderen", „statt einer Besitzform erhalten wir * Diese unrichtige Idee brauchen wir noch nicht einmal „abzuschneiden", denn die „nüchternen" Tradowiki selber mit den „nüchternen" Herren Peschechonow an der Spitze haben sie sdbon abgesdhnitten.

392

W.J.Lenin

zwei: das Privateigentum und die Pächtnutzung, d. h. zwei sich nicht nur nicht zusammenfügende, sondern geradezu entgegengesetzte Besitz formen" (823). 5. Die intellektuellen Volkstümler In den Reden der intellektuellen Volkstümler, besonders der Volkssozialisten, d. h. der Opportunisten unter den Volkstümlern, muß man zwei Strömungen unterscheiden: einerseits die aufrichtige Verteidigung der Interessen der Bauernmassen - in dieser Beziehung machen ihre Reden aus begreiflichen Gründen einen ungleich schwächeren Eindruck als die Reden der „sich nicht mit Politik beschäftigenden" Bauern; anderseits ein gewisser kadettischer Anhauch, etwas intelligenzlerisch Spießerhaftes, ein Anspruch auf den staatlichen Standpunkt. Selbstverständlich ist hier zum ^Unterschied von den Bauern eine Doktrin erkennbar: sie kämpfen nicht um der unmittelbar empfundenen Nöte und Leiden willen, sondern im Namen einer bestimmten Lehre, eines Systems von Anschauungen, die den Inhalt des Kampfes entstellt wiedergeben. „Den Boden den Werktätigen", verkündet Herr Karawajew in seiner ersten Rede und kennzeichnet die Stolypinsche Agrargesetzgebung nach Artikel" 87 als „Vernichtung der Dorfgemeinde", als ihr „politisches Ziel": „die Bildung einer besonderen Klasse von ländlichen Bourgeois". „Wir wissen, daß diese Bauern in der Tat die Hauptstütze der Reaktion, die verläßliche Stütze der Bürokratie sind. Aber die Regierung, die darauf rechnete, hat sich gewaltig getäuscht: gleichzeitig damit wird ein bäuerliches Proletariat entstehen. Ich weiß nicht, was besser ist: ein bäuerliches Proletariat oder die landarme jetzige Bauernschaft, die, gewisse Maßnahmen vorausgesetzt, genügend Boden bekommen könnte." (722.) Hier schimmert die reaktionäre Volkstümlerei im Geiste des Herrn W . W . durch: „Besser" für wen? Für den Staat? Für den gutsherrlichen oder für den bürgerlichen Staat? Und warum ist das- Proletariat nicht „besser"? Weil die landarme Bauernschaft „Boden bekommen könnte", d. h. leichter beruhigt werden, leichter in das Lager der Ordnung geleitet werden könnte als das Proletariat? Bei Herrn Karawajew kommt es so heraus, gleichsam als wollte er Stolypin und Co. eine verläßlichere „Garantie" gegen die soziale Revolution empfehlen 1

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

393

. Hätte Herr Karawajew dem Wesen nach recht, so könnten die Marxisten nicht für die Konfiskation der gutsherrlichen Ländereien in Rußland eintreten. Herr Karawajew hat aber nicht recht, denn der Stolypinsche „Weg" erzeugt mehr Pauper als Proletarier, wodurch er - im Vergleich zur Bauernrevolution — die Entwicklung des Kapitalismus verlangsamt. Karawajew selbst sagte - und sagte richtig -, daß die Stolypinsche Politik die heutigen Gutsbesitzer (und nicht, die neuen, die bürgerr liehen Elemente, nicht die kapitalistischen Farmer) bereichert, die eine halbfeudale Wirtschaft betreiben. Im Jahre 1895 betrug der Bodenpreis beim Verkauf durch die „Bauern"bank 51 Rbl. für 1 Desj. und im Jahre 1906 126 Rbl. (Karawajew in der 47. Sitzung, 26. Mai 1907, S. 1189.) Die Parteikollegen des Herrn Karawajew, die Herren Wolk-Karatschewski und Delarow, haben die Bedeutung dieser Ziffern noch greller beleuchtet. Delarow legte dar, daß „die Bauernbank bis 1905, im Laufe von mehr als 20 Jahren ihres Bestehens, insgesamt nur 7,5 Mill.-D.esj. aufgekauft hat",- vom 3. November 1905 bis zum 1. April 1907 kaufte sie. hingegen 3,8 Mill. Desj. auf. Im Jahre 1900 betrug der Preis 80 Rbl. für 1 Desj., im Jahre 1902 - 108; im Jahre 1903, vor der Agrarbewegung und vor der russischen Revolution, stieg er auf 109 Rbl., jetzt auf 126 Rbl. „Während ganz Rußland durch die russische Revolution ungeheure Verluste erlitt, haben die russischen Großgrundbesitzer große Kapitalien gesdheftelt. In dieser Zeit sind mehr als 60 Mill. Rbl. Volksgelder in ihre Hände übergegangen" (1220 - wenn man als „richtigen" Preis 109 Rbl. annimmt). Aber die Berechnung des Herrn Wolk-Karatschewski ist viel getreuer, er nimmt keinen Preis als „richtig" an, sondern stellt einfach fest, daß die Regierung nach dem 3. November 1905 an die Gutsbesitzer. 52 Mill. Rbl. für die durch Bauern gekauften Ländereien und 242 Mill. Rbl. für eigene Rechnung zahlte,- insgesamt „wurden 295 Mill. Rbl. Volksgelder an die adligen Qutsbesitzer ausgezahlt". (1080. Hervorhebungen überall von uns.) Das ist natürlich nur ein-kleiner Bruchteil dessen, was die junkerlich-bürgerliche Agrarevolution Rußland kostet; welch ein Tribut wird hier-dem Wachstum der Produktivkräfte zugunsten der Fronherren und Bürokraten auferlegt! Dieser Tribut an die Gutsbesitzer für die freie Entwicklung Rußlands wird auch von den Kadetten aufrechterhalten (Ablösung). Hingegen würde eine bürgerliche Farmerrepublik gezwungen sein, solche Summen für die Entwicklung der 26 Lenin, Werke, Bd. 13

394

W. J. Lenin

Produktivkräfte in der Landwirtschaft unter der neuen Ordnung zu verwenden.* Schließlich muß man den intellektuellen Volkstümlern zweifellos als Plus anrechnen, daß sie im Gegensatz zu den Bobrinski und Kutler den Volksbetrug vom Jahre 1861 verstehen und die berüchtigte Reform nicht die große; sondern die „im Interesse der Gutsbesitzer durchgeführte" Reform nennen (Karawajew, 1193). Die Wirklichkeit, sagte Herr Karawajew mit Recht von der Nachreformzeit, „übertraf die düstersten Voraussagen" derjenigen, die im Jahre 1861 die Interessen der Bauernschaft verteidigten. W a s die Frage des bäuerlichen Eigentums am Grund und Boden angeht, so hat Herr Karawajew der Sorge der Regierung um dieses Eigentum die Frage an die Bauern gegenübergestellt: „Sie, meine Herren Bauernabgeordneten, sind Vertreter des Volkes. Sie leben das Leben des Bauern. Ihr Bewußtsein ist das Bewußtsein des Volkes. Ak Sie abreisten, haben sich da Ihre Wähler beschwert, daß sie ihres Bodenbesitzes nicht sicher sind2 Haben sie Ihnen als erste Aufgabe in der Duma, als erste Forderung auf den Weg gegeben: ,Seht zu, festigt das Privateigentum am Grund und Boden, denn sonst werdet ihr unsern Wählerauftrag nicht erfüllen.' Nein, werden Sie sagen, einen solchen Wählerauftrag hat man uns nicht gegeben." (1185.) Die Bauern haben diese Erklärung nicht widerlegt, sondern durch den ganzen Inhalt ihrer Reden bestätigt. Und das natürlich nicht, weil der russische Bauer „Anhänger der Dorfgemeinde", „Feind des Eigentums" ist, sondern weil ihm die; ökonomischen Bedingungen jetzt die Aufgabe * Siehe Xautsky, „Die Agrarfrage in Rußland", über die Notwendigkeit, riesige Kapitalien für den agrikulturellen Fortschritt der Bauernschaft zu verwenden. Die „Munizipalisten" können hier einwenden: die bürgerliche Republik wird die Gelder für die republikanische Armee ausgeben, das demokratische Semstwo aber ihm wird, meine lieben Herren Munizipalisten, die nichtdemokratische zentrale Staatsmacht das Geld abnehmen! Ja, selbst die Entstehung eines solchen Semstwos ist bei einer nichtdemokratischen zentralen Staatsmacht unmöglich, es ist dies ein frommer Wunsch des Kleinbürgers. Real ist nur das Verhältnis von bürgerlicher Republik (die im Vergleich mit anderen Staaten am meisten für die Entwicklung der Produktivkräfte ausgibt - Beispiel: Nordamerika) und bürgerlicher Monarchie (die jahrzehntelang den Junkern zahlt - Beispiel: Deutschland).

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

395

auferlegen, alle alten Bodenbesitzformen aufzuheben, um eine neue Wirtschaft zu schaffen. Als Minus muß man den intellektuellen Volkstümlern ihre -weitschweifigen Betrachtungen über die „Normen" des bäuerlichen Grundbesitzes anrechnen. „Ich glaube, jedermann wird damit einverstanden sein", erklärte Herr Karawajew, „daß zur richtigen Lösung der Bodenfrage folgende Voraussetzungen notwendig sind: zunächst eine Bodennorm, die notwendig ist, um existieren zu können, eine Verbrauchsnorm, und zur Ausschöpfung der ganzen Arbeitsmenge eine Arbeitsnorm. Man muß genau wissen, wieviel Boden bei den Bauern vorhanden ist — das wird die Möglichkeit geben, zu errechnen, wieviel Boden fehlt. Sodann muß man wissen, wieviel Boden man eigentlich geben Jcann." (1186.) Wir sind mit dieser Meinung durchaus nicht einverstanden. Und wir behaupten auf Qrund der Erklärungen der Bauern in der T)umal daß es hier Elemente eines intellektuellen Bürokratismus gibt, der den Bauern fremd ist. Die Bauern sprechen nicht von „Normen". Normen sind eine bürokratische Erfindung, ein Überbleibsel der Fronherrenreform von 1861 unseligen Angedenkens. Die Bauern, geleitet vom richtigen Klasseninstinkt, rverlegen den Schwerpunkt auf die Abschaffung des gutsherrlichen Grundbesitzes und nicht auf „Normen". Nicht darum handelt es sich, wieviel Boden man „braucht". „Einen anderen Erdball werden Sie nicht schaffen", so. drückte sich unübertrefflich der obenerwähnte parteilose Bauer aus. Es handelt sich darum, die drüdkenden fronherrlichen Latifundien abzuschaffen, die auch dann abgeschafft werden müßten, wenn die „Normen" unabhängig davon erreicht wären. Beim volkstümlerischen Intellektuellen läuft alles darauf hinaus, daß man, falls die „Norm" erreicht ist, vielleicht den Gutsbesitzer gar nicht antasten soll. Der Gedankengang der Bauern ist ein ganz anderer: „Bauern, sdhüttelt sie ab" (die Gutsbesitzer), sagte der Bauer Pjanych (Sozialrevolutionär) in der II: Duma (16. Sitzung, 26. März 1907, S. 1101). Nicht deswegen muß man die Gutsbesitzer abschütteln, weil die „Nonnen" nicht herauszukriegen sind, sondern deswegen, weil der Ackerbauer nicht Esel und Blutsauger auf seinem Rücken tragen will. Zwischen diesen beiden Erwägungen ist ein „himmelweiter Unterschied". Der Bauer spricht nicht von Normen, sondern packt mit bewunderungswürdigem praktischem Instinkt „den Stier bei. den Hörnern". Es fragt

396

W.I.Cenin

sich, wer wird die Normen bestimmen? Der Priester Pojarkow hat das in der I. Duma ausgezeichnet zum Ausdruck gebracht. „Man beabsichtigt, eine Bodennorm pro Kopf zu bestimmen", sagte er. „Wer wird diese Norm bestimmen? Sind es die Bauern selber, so werden sie sich natürlich nicht selbst benachteiligen,- werden aber gemeinsam mit den Bauern auch die Grundbesitzer die Norm bestimmen, so ist es noch die Frage, wer bei der Bestimmung der Norm die Oberhand .gewinnen wird." (12. Sitzung, •19. Mai 1906, S; 488.) Das trifft den Nagel auf den Kopf und kennzeichnet das Geschwätz über die Normen. Bei den Kadetten ist das kein Geschwätz, sondern direkter Verrat an den Bauern, ihre Auslieferung an die Gutsbesitzer. Und der gutmütige Dorfgeistliche, Herr Pojarkow, der offensichtlich die liberalen Gutsbesitzer zu Hause im Dorf am Werke sah, hat instinktiv begriffen, wo hier der Betrug liegt. „Sodann befürchtet man", sagte derselbe Pojarkow, „daß es viele Beamte geben wird! Die Bauern werden selbst den Boden verteilen!" (488/489.) Das ist des Pudels Kern. Die „Normen" riechen wirklich nach Beamtentum. Die Bauern sprechen anders: Wir wollen den Boden selbst an Ort und Stelle verteilen. Daher die Idee örtlicher Bodenkomitees, die die wahren Interessen der Bauernschaft in der Revolution ausdrückt und nicht zufällig den Haß der liberalen Lumpen hervorruft.* Der Staat hat bei einem solchen 'Nationalisierungsph.n nur noch zu bestimmen, welche Ländereien als Ilmsiedlungsfonds in Frage kommen, oder aber er kann besondere Eingriffe fordern (die „Wälder und Gewässer von staatlicher Bedeutung", wie es in unserem jetzigen. Programm heißt), d.h., dem Staat bleibt, nur das vorbehalten, was selbst die „Munizipalisten" für notwendig halten, der Kompetenz des „demokratischen Staates" (es müßte heißen: der Republik) zu übertragen. Vergleicht man das Gerede von den Normen mit der ökonomischen * Arbeiterregieningen in den Städten, Bauernkomitees in den Dörfern (die in einem bestimmten Moment auf Grund des allgemeinen usw. Wahlrechts zu gewählten Organen werden) - das ist die einzig mögliche Organisatiönsform der siegreichen Revolution, d. h. der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Kein Wunder, daß die Liberalen diese Organisationsformen der für die Freiheit kämpfenden Klassen hassen! ••

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

397

Wirklichkeit, so sieht man sofort, daß die Bauern Männer der Praxis, die volkstümlerischen Intellektuellen aber Schwätzer sind. Die „Arbeits"norm wäre von ernsthafter Bedeutung bei einem Versuch, die Lohnarbeit zu verbieten. Die Mehrheit der Bauern hat diese. Versuche über Bord geworfen, und die Volkssozialisten haben sie für unmöglich erklärt. Bei dieser Sachlage fällt die Frage der ,, Norm "weg, und es verbleibt nur die Aufteilung unter die gegebene Anzahl von Landwirten. Die „Verbrauchsnorm ist eine Elendsnorm, und in der kapitalistischen Gesellschaft wird die Bauernschaft vor einer solchen „Norm" stets in die Städte flüchten (darüber noch besonders weiter unten). Also handelt es sich auch hier gar nicht um die „Norm" (die sich überdies mit jeder Veränderung in der Anbaukultur und in der Technik ändert), sondern um die Aufteilung unter die vorhandene Anzahl von Landwirten, um die „Scheidung" zwischen den tüchtigen Landwirten, die fähig sind, den Boden „zu hegen und zu pflegen" (sowohl durch Arbeit als auch durch Kapital), und den unfähigen Landwirten, die man nicht in der Landwirtschaft zurückhalten kann, die zurückhalten zu wollen reaktionär wäre. Als Kuriosum, das zeigt, wohin die Jheorien der Herren Volkstümler führen, wollen wir den Hinweis des Herrn Karawajew auf Dänemark anführen. Europa habe sich „ins Privateigentum verbissen", unsere Dorfgemeinde aber ,7hilft uns, die Aufgabe der Kooperation- zu lösen": „Dänemark ist in dieser Beziehung ein glänzendes Beispiel." Wirklich ein glänzendes Beispiel — gegen die Volkstümler. In Dänemark sehen wir eine höchst typische bürgerliche Bauernschaft, die sowohl das Milchvieh (siehe „Die Agrarfrage und die ,Marxkritiker'", Kapitel X*) als auch den Boden in ihren Händen konzentriert. Von der Gesamtzahl der dänischen Bauernwirtschaften besitzen 68,3% weniger als 1 Hartkorn, das sind ungefähr 9 Desj. Sie besitzen insgesamt 11,1% des gesamten Grund und Bodens. Auf dem anderen Pol befinden sich 12,6% Bauernwirtschaften mit 4 und mehr Hartkorn (36 und mehr Desjatinen); sie besitzen 6 2 % des gesamten Grund und Bodens (!W. S., „Die Agrarprogramme", Verlag „Nowy Mir", S. 7). Kommentar überflüssig. Es ist bemerkenswert, daß in der I.Duma der Liberale Herzenstein mit Dänemark aufgetrumpft hat, während die Rechten entgegneten (in beiden Dumas): in Dänemark herrsche das bäuerliche Eigentum. Die * Siehe den vorliegenden Band, S. 169-180. Die Red.

398

"W. j . Lenin

Nationalisierung des Grund und Bodens ist bei uns notwendig, damit die alten Wirtschafteh die Freiheit erhalten, sich auf dem „von den Schranken befreiten" Boden „auf dänische Art" umzustellen, an der Umwandlung der Pacht in Eigentum aber wird die Sache nicht scheitern, wenn die Bauern sie selbst fordern werden, denn die ganze Bourgeoisie und Bürokratie werden in dieser Sadhe die Bauernschaft stets unterstützen. Außerdem wird mit der Nationalisierung die Entwicklung des Kapitalismus (Entwicklung „auf dänische Art") rasdher vor sich gehen, weil das Privateigentum am Grund und Boden abgeschafft ist.

6. Die Jrudowikibaüem

(Volkstümler)

Die Trudowikibauern und die Sozialrevolutionären Bauern unterscheiden sich im Gründe nicht von den parteilosen Bauern. Vergleicht man die Reden dieser'wie jener, so sieht man klär dieselben Nöte, dieselben Forderungen, dieselbe Weltanschauung. Die Bauern, die Parteien angehören, sind nur bewußter, sie drücken sich klarer aus und verstehen weit besser den Zusammenhang der verschiedenen Seiten der Frage. Die beste Rede war wohl die des Bauern Kisseljow, eines Trudowiken, in der 26. Sitzung der zweiten Duma (12. April 1907). Im Gegensatz zum „staatlichen Standpunkt" der liberalen Beamtenseele wird hier der Schwerpunkt unmittelbar darauf verlegt, daß die „gesamte Innenpolitik unserer Regierung, deren faktisdbe Leiter die gutsherrlichen Grundbesitzer sind, nur darauf abzielt, den Boden in den Händen-seiner heutigen Besitzer zu belassen" (1943). Der Redner'zeigt auf, daß man gerade aus diesem Grunde das Voik „in tiefster Unwissenheit" - hält, und geht auf die Reden des Oktobristen Fürst Swjatopolk-Mirski ein. „Sie haben natürlich seine schrecklichen Worte nicht vergessen: ,Geben Sie jeden Gedanken an eine Vergrößerung der Fläche des bäuerlichen Bodenbesitzes auf. Erhalten und unterstützen Sie die Privatbesitzer! Unsere kulturlose und unwissende Bauernmasse wäre ohne Gutsbesitzer eine Herde ohne Hirten.' Genossen Bauern, braucht man dem etwas hinzuzufügen, damit ihr versteht, welche Gelüste sich in den Herzen dieser Herren, unserer Wohltäter, verbergen? Ist es euch nicht klar, daß sie sich heute noch nach der Leibeigenschaft sehnen und Bach ihr seufzen? Nein, meine "Herren

Das Agrarprogramm'der Sozialdemokratie

399

Hirten, g e n u g . . . Ich möchte nur eins: daß sich unser ganzes kulturloses Bauernrußland, das ganze russische Land diese Worte des edlen RjurikSprossesfest ins. Gedächtnis einpräge, daß diese Worte im Herzen jedes Bauern, brennen.und greller als die Sonne den Abgrund beleuchten, der zwischen uns und den ungebetenen Wohltätern klafft. Genug, .meine Herren H i r t e n . . . Genug, wir brauchen keine Hirten, sondern Führer, die wir auch außerhalb eurer Reihen finden können, mit ihnen werden wir den Weg zum Licht wie auch zur Gerechtigkeit, den Weg zum gelobten Lande finden." (1947.). ". Der Trudowik steht voll-und ganz auf dem Standpunkt des revolutionären Bourgeois, der sich Illusionen hingibt und glaubt, die Nationalisierung des Grund und Bodens werde „das gelobte Land" bringen, aber für die gegebene Revolution rückhaltlos kämpft und sich dem Gedanken einer Herabminderung ihrer Schwungkraft entschieden entgegenstellt: „Die Partei der Volksfreiheit verzichtet auf eine gerechte Lösung der AgrarT frage . . . Meine Herren Volksvertreter, kann eine gesetzgebende Körperschaft, wie es die Reichsduma ist, in ihren Handlungen zugunsten praktischer Erwägungen auf die Gerechtigkeit verzichten? Können Sie Gesetze erlassen, wenn Sie im vorhinein wissen, daß sie ungerecht sind? .'.. Genügen Ihnen nicht jene ungerechten Gesetze, die uns unsere Bürokratie beschert hat, sollen wir selbst noch neue schaffen? . . . Sie wissen sehr gut, daß man bei uns aus praktischen Erwägungen - Rußland zu befrieden - Strafexpeditionen ausgeschickt, über ganz Rußland den Aüsnahme r zustand verhängt hat; aus praktischen Erwägungen sind Standgerichte eingesetzt worden. Aber sagen Sie mir gefälligst, wer von uns ist von diesem praktischen Geist entzückt? Haben Sie ihn nicht alle verflucht? Stellen Sie nicht die Frage, wie sie hier von einigen gestellt wurde (der Redner spielt offenkundig auf einen Kadetten, den Gutsbesitzer Tatarinow, an, der in der 24. Sitzung am 9. April erklärte: ,Gerechtigkeit, meine Herren, ist ein ziemlich bedingter Begriff', ,Gereditigkeit ist ein Ideal, nach dem, wir alle streben, aber dieses Ideal bleibt nur [beim Kadetten] ein Ideal, und ob es möglich sein wird, es tatsächlich zu verwirklichen, ist für mich eine Frage', .1779): Was ist Gerechtigkeit? Der Mensch, das ist die Gerechtigkeit. Ist der Mensch geboren, so ist es gerecht, daß er lebt, und dazu ist es wieder gerecht, daß er die Möglichkeit habe, sich durch Arbeit ein Stück Brot zu erwerben . . . "

400

W.i. Lenin

Man sieht:-Dieser Ideologe der Bauernschaft steht auf dem typischen Standpunkt eines französischen Aufklärers des 18. Jahrhunderts. Er versteht; nicht die historische Begrenztheit, den historisch bestimmten Inhalt seiner Gerechtigkeit. Aber er will, und die Klasse, die er vertritt, kann im Namen dieser abstrakten Gerechtigkeit alle Überreste des Mittelalters bis auf den Qrund zerstören. Gerade dieser reale historische Inhalt liegt auch in der Fragestellung: keinerlei „praktische" Erwägungen zum Schaden der Gerechtigkeit. Lies: keinerlei Zugeständnisse an das Mittelalter ^ an die Gutsbesitzer, an die alte Macht. Das ist die Sprache eines Mannes des Konvents. Für den liberalen Tätarinow aber bleibt das ^Ideal" der bürgerlichen Freiheit „nur ein Ideal", für das ei--nicht ernsthaft kämpft, für dessen Verwirklichung er nicht jedes Opfer bringt, er geht vielmehr einen Kuhhandel mit dem Gutsbesitzer ein. Die Kisseljow können das Volk zur siegreichen bürgerlichen Revolution führen, die Tätarinow nur z u m Verrat. :.:•_• ' , :: . . „Aus praktischen Erwägungen schlägt die Partei der Volksfreiheit vor, kein Recht auf Grund und Boden zu schaffen. Sie befürchtet, daß ein solches Recht Massen von Menschen aus der Stadt aufs Land locken wird, und in diesem Falle wird jeder einzelne nur wenig Boden erhalten. Ich möchte vor allem fragen, was Recht auf Grund und Boden bedeutet. Recht auf Grund und Boden, das ist Recht auf Arbeit, Recht auf Brot, das ist Recht aufs Leben, das ist das unveräußerliche Recht jedes Menschen. Wie könnten wir denn irgend jemanden dieses Rechtes berauben? Die Partei der Volksfreiheit sagt: Würde man dieses Recht allen Bürgern geben und den Boden unter sie aufteilen, so würde jeder nur wenig bekommen. Aber das Recht und seine praktische Durchführung sind durchaus nicht ein und dasselbe. Jeder von Ihnen, die Sie hier sitzen, hat das Recht, irgendwo in Tschuchloma zu leben. Sie leben jedoch hier, und umgekehrt, alle, die in Tschuchloma leben, haben dasselbe Recht, in Petersburg zu leben, und hocken dennoch in ihrem Nest. Daher sind die Befürchtungen, daß die Gewährung des Rechtes auf Grund und Boden an alle, die auf dem Boden arbeiten wollen, eine Masse von Menschen aus der Stadt auf das Land locken wird, völlig unbegründet. Aus der Stadt werden nur diejenigen aufs Land gehen, die dem Land auch jetzt noch nicht entfremdet sind, aufs Land werden nur diejenigen gehen, die vor kurzem in die Stadt gezogen sind . . . Leute, die in der Stadt wirklich einen beständigen, gesicherten Erwerb haben, werden nicht aufs Land ziehen . . . Ich glaube, daß wir nur eine vollständige und unwiderrufliche Abschaffung des Privateigentums am Grund und

Das Agrarprocframm der Sozialdemokratie

401

Boden .".... usw., daß wir nur eine solche Lösung als befriedigend betrachten können." 0950.) Diese für den Trudowik typische Tirade stellt uns vor die interessante Frage: Gibt es einen Unterschied zwischen solchen Reden über das Recht auf Arbeit und den Reden der französischen Heinbürgerlichen Demokraten des Jahres 1848 über das Recht auf Arbeit? Die einen wie die anderen sind unzweifelhaft Deklamationen eines bürgerlichen Demokraten, die unklar den wirklichen historischen Inhalt des Kampfes zum Ausdruck bringen. Aber die Deklamation des Trudowiken bringt unklar die wirklichen Aufgäben der bürgerlichen Revolution zum Ausdruck, die den objektiven Bedingungen nach möglich ist (d.h., möglich ist eine bäuerliche Agrarrevolution im Rußland des 20. Jahrhunderts), die Deklamation des französischen Kleinbürgers* aus dem Jahre 1848 aber bringt unklar die Aufgaben der sozialistischen Revolution zum Ausdruck, die in Frankreich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts unmöglich war. Mit anderen Worten: Das Recht des französischen Arbeiters auf Arbeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts brachte den Wunsch zum Ausdruck, die ganze Kleinproduktion auf der Grundlage der Kopperation, des Sozialismus usw. zu erneuern, was aber ökonomisch unmöglich war. Das Recht des russischen Bauern des 20. Jahrhunderts; auf Arbeit bringt den Wunsch zum Ausdruck, den landwirtschaftlichen Kleinbetrieb auf nationalisiertem Grund und Boden zu erneuern, und das ist ökonomisch durchaus möglich. Im „Recht auf Arbeit" des russischen Bauern des 20. Jahrhunderts steckt neben einer falschen sozialistischen Theorie ein realer bürgerlicher Inhalt. Das Recht des französischen Kleinbürgers und Arbeiters auf Arbeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts enthält nichts außer einer falschen sozialistischen Theorie. Gerade diesen Unterschied übersehen viele unserer Marxisten. : Der Trudowik zeigt selber den realen Inhalt seiner Theorie: Nicht alle •werden auf das Land gehen, obwohl alle „das gleiche Recht haben". Es ist klar, daß nur Landwirte auf das Land gehen oder sich auf dem Lande seßhaft machen werden. Die Abschaffung des Privateigentums am Grund und Boden bedeutet die Abschaffung aller Hindernisse, die den Landwirten im Wege stehen, sich auf dem Boden einzurichten. * „Kleinbürger" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

402

IV. 7. Lenin

Es ist kein Wunder, daß Kisseljow, der von grenzenlosem Glauben an die Bauernrevolution und von dem Wunsche beseelt ist, ihr zu dienen, mit Verachtung von den Kadetten spricht, von ihren Absichten, nicht den ganzen Boden zu enteignen, sondern nur einen Teil, die Leute zu zwingen, für den Boden zu zahlen, die Sache an „Bodeninstitutionen unbekannten Namens" zu übertragen, mit einem Wort, von dem „Meislein" spricht, „das von der Partei der Volksfreiheit gerupft wurde" (1950/1951"). Es ist auch kein Wunder, daß Strave und seinesgleichen, besonders nach der II. Duma, gegen die Trudowiki Haß.hegen mußten. Solange der russische Bauer Trudowik sein wird, solange können die Pläne der Kadetten nicht gelingen. Wenn aber der russische Bauer aufhören wird, Trudowik zu sein, dann wird der Unterschied zwischen Kadetten und Oktobristen endgültig verschwinden! Erwähnen wir kurz die anderen Redner. Da ist der Bauer Netschitailo: „Jene Leute, die sich am Blut, am Mark der Bauern vollgesogen haben, nennen sie ungehobelte Kerle." (779.) Er wird von Golowin unterbrochen.Der Gutsbesitzer darf den Bauern beleidigen, aber der Bauer... den Gutsbesitzer? „Man sagt uns, wir sollen diese Ländereien, die dem Volk gehören, kaufen. Sind wir etwa zugewanderte Ausländer aus England, Frankreich usw.? Wir sind Einheimische/warum sollten wir unser eigenes Land kaufen? Wir haben es uns schön Dutzende Male mit unserem Blut, unserem Schweiß und unserem Geld erarbeitet." (780.) Oder der Bauer Kirnossow (Gouvernement Saratow): „Jetzt sprechen wir von-nichts anderem als vom Boden,- wieder sagt man uns: Er ist heilig und unantastbar. Ich glaube, es kann nicht sein, daßer unantastbar wäre,wenn das Volk es wünsdht, kann es nichts TAnantastbares geben* (Stimme von r e c h t s : ,Oho!') Richtig: Oho! (Beifall von l i n k s . ) Meine Herren Adligen/Sie glauben, wir wissen nicht, wie Sie uns beim Kartenspiel eingesetzt haben, wie Sie uns gegen Hunde eingetauscht haben? Wir wissen, das alles war Ihr heiliges, unantastbares Eigentum . . .Man hat uns den Boden gestohlen . . . Die Bauern, die midi . * Eine charakteristische Formulierung der revolutionären Idee der Selbstherrschaft des Volkes durch einen einfachen Bauern. Eine andere Bourgeoisie als die Bauernschaft gibtres, i m diese Forderung des proletarischen Programms durchzusetzen, in unserer Revolution nicht. '

Das AgrarprogtaMm der Sozialdemokratie

403

hierhergeschickt haben, sagten: Das Land gehört uns/wir sind hergekommen, nicht um es zu kaufen, sondern um es zu nehmen." (1144.)* Hier der Bauer Wasjutin (Gouvernement Charkow): „Wir sehen hier in der Person des Vertreters des Herrn 1 Vorsitzenden des Ministerrats nicht den Minister des ganzen Landes, sondern den Minister von 130 000 Gutsbesitzern. 90 Millionen Bauern bedeuten für ihn nichts . . . Sie (zu den Rechten gewandt)' beschäftigen sich mit Ausbeutung, verpachten Ihre Ländereien zu hohen Preisen und" ziehen den Bauern das Fell über die Ohren . . . Sie sollen wissen, daß das Volk, wenn die Regierung seine Bedürfnisse nicht befriedigt, ebenfalls nicht nach Ihrem Einverständnis fragen wird, daß es den Boden' nehmen w i r d . . . Ich bin Ukrainer (er erzählt, wie Katharina dem Potjomkin ein Wäldchen geschenkt hat: 27000 Desjatinen und 2000 Bauern) . . . Früher wurde der Boden zu 25-50 Rubel je Desjatine verkauft, jetzt beträgt .äUein die Pacht 15-30 Rubel für eine Desjatine und für Wiesenlaai3£-5%Rubel. Das heißt das Fell abziehen. ( S t i m m e v o n r e c h t s : ,Wäs? Das Fell abziehen?' G e l ä c h t e r . ) Regen. Sie sich nur nicht auf, beruhigen Sie sich ( B e i f a l l v o n l i n k s ) ; ich nenne das.- den Bauern das Fell über die Ohren ziehen." (643, 39. Sitzung, 16. Mai.) • Die Trudowikibauern und die bäuerliche Intelligenz haben etwas gemeinsam: Sie haben die Leibeigenschaft noch lebendig, vor Augen. Was sie alle vereinigt, ist der glühende Haß gegen die Gutsbesitzer und gegen den Staat der Gutsbesitzer. In ihnen allen lodert revolutionäre Leidenschaft. Die einen denken überhaupt nicht an die zukünftige, von ihnen zu schaffende Gesellschaftsordnung, spannen spontan alle Kräfte an, um „sie abzuschütteln". Andere wieder malen sich diese Gesellschaftsordnung J Ein Trudowikibauer in der I. Duma, Nasarenko. (Gouvernement Charkow), sagte: „Wenn Sie darüber Betrachtungen anstellen, wie der Bauer zum Boden steht, so sage ich Ihnen, wie das Kind die Mutterbrust braucht, so brauchen wir Bauern den Boden. Nur von diesem Standpunkt aus urteilen wir über den Boden. Sie wissen wahrscheinlich, daß manche Herrschaften vor gar nicht langer Zeit unsere Mütter gezwungen haben, junge Hunde zu säugen. Dasselbe geschieht auch heute. Der Unterschied ist nur der, daß jetzt die herrschaftlichen jungen Hunde nicht an der Mutter saugen, die uns geboren und gestillt hat, sondern an der, die uns ernährt - an der Mutter Erde." (495.)'

• • - . . . - . • . • . •

.

404

"W. 1 Lenin

utopisch aus, aber sie alle hassen den Kompromiß mit dein alten Rußland, alle kämpfen sie dafür, daß von dem verfluchten Mittelalter kein- Stein auf dem anderen bleibe. Vergleicht man die Reden der revolutionären Bauern in der zweiten Duma mit den Reden der revolutionären Arbeiter, so fällt unwillkürlich folgender. Unterschied auf. Erstere besitzen unermeßlich mehr ünmittelbar.revolutionären- Schwung, sind von der Leidenschaft beseelt, die Macht der Gütsbesitzer unverzüglich zu stürzen, unverzüglich eine neue Gesellschaftsordnung zu errichten. Der Bauer ist von dem Wunsche beseelt, sich sogleich auf den Feind zu stürzen und ihn zu erdrosseln. Bei dem Arbeiter ist der revolutionäre Geist abstrakter, er ist gleichsam auf entferntere Ziele eingestellt. Dieser Unterschied ist völlig begreiflich und gesetzmäßig. Der Bauer vollzieht jetzt, unverzüglich, seine, die bürgerliche Revolution, ohne ihre inneren Widersprüche zu erkerinen, ohne dem Gedanken an solche Widersprüche Raum zu geben. Der sozialdemokratische Arbeiter erkennt sie, und er kann nidht, da er sich weltumspannende sozialistische Ziele setzt, das Schicksal der Arbeiterbewegung vom Ausgang der bürgerlichen Revolution abhängig machen. Daraus darf man nur nicht den Schluß ziehen, daß der Arbeiter in der bürgerlichen Revolution den Liberalen unterstützen müsse. Daraus muß man den Schluß ziehen, daß der Arbeiter, ohne sich mit irgendeiner anderen Klasse zu verschmelzen/mit all seiner Energie dem Bauern helfen muß, diese bürgerliche Revolution zu Ende zu führen. .

7. Die Sozialrevolutionäre

Die Reden der Sozialrevolutionären Intellektuellen (die der Bauern haben wir oben bei den Trudowiki besprochen) sind voll derselben unversöhnlichen Kritik an den Kadetten, sind von demselben unversöhnlichen Kampf gegen die Gutsbesitzer bestimmt. Ohne das oben Gesägte zu wiederholen, wollen wir einen neuen Wesenszüg dieser Gruppe von Abgeordneten festhalten.. Zum Unterschied von den Volkssozialisten, -die geneigt sind, an Stelle des sozialistischen I d e a l s . . . Dänemark als Ideal hinzustellen, zum Unterschied von den Bauern, die jeder Doktrin fremd gegenüberstehen und das unmittelbare Gefühl eines unterdrückten Menschen zum Ausdruck bringen, der ebenso unmittelbar die Befreiung von

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

405

der gegebenen Ausbeutungsform idealisiert, tragen die Sozialrevolutionäre in ihre Reden die Doktrin ihres „Sozialismus" hinein. Man nehme Uspenski und Sagatelian („Daschnakzutjun", den Sozialrevolutionären sehr nahestehend, die „Jungen" gehören der Partei der Sozialrevolutionäre sogar an), die die Frage der Dorfgemeinde aufwerfen. Der letztgenannte Redner bemerkt ziemlich naiv: „Zu unserem Kummer müssen wir bemerken, daß diejenigen, die eine umfassende Theorie der Nationalisierung des Grund und Bodens entwickeln, jene lebendige, unversehrt gebliebene Institution nicht besonders Unterstreichen, die allein die Grundlage bietet, auf der man vorwärtsschreiten k a n n . . . Vor allen diesen Schrecken (die Schrecken Europas, die Zerstörung des Kleinbetriebs usw.) bietet die Dorfgemeinde Schutz." (1122.) Der „Kummer" des verehrten Ritters der Dorfgemeinde wird uns verständlich, wenn wir berücksichtigen, daß er als 26. Redner zur Agrar; frage sprach. Vor ihm sprachen nicht weniger als 14 Linke, Trudowiki usw., und sie alle haben „jene lebendige, unversehrt gebliebene Institution nicht besonders unterstrichen"! Man hat allen Grund, „bekümmert" zu sein, wenn man dieselbe Gleichgültigkeit der Bauern- in der Duma gegenüber der Dorfgemeinde sieht, wie sie auch die Tagungen des Bauernbundes bekundet hatten. Sagatelian und Uspenski haben sich der Dorfgemeinde angenommen als echte Sektierer in der Bauemrevolution, die von den alten Bodenverbänden nichts wissen will. „Ich spüre eine gewisse Gefahr für die Dorfgemeinde", klagte Sagatelian (1123). „Gerade jetzt muß man um jeden Preis die Dorfgemeinde retten." (1124.) „Diese Form (d.h. die Dorfgemeinde) kann sidi zu einer Weltbewegung entfalten, die fähig ist, die Lösung aller ökonomischen Fragen zu weisen." (1126.) Herr Sagatelian hat offenbar-alle diese Betrachtungen über die Dorfgemeinde „voll Trübsinn und unangebracht" angestellt. Sein Kollege Uspenski kritisierte die Stolypinsche Gesetzgebung gegen die Dorfgemeinde und äußerte den Wunsch, „die Mobilisierung des Grundeigentums möge aufs äußerste, auf ein Mindestmaß eingeschränkt werden" (1115). Dieser Wunsch eines Volkstümlers ist zweifellos reaktionär. Es ist aber seltsam, daß die Partei der Sozialrevolutionäre, in deren Namen dieser Wunsch in der Duma vorgebracht wurde, für die Abschaffung des Privateigentums am Grund und Boden eintritt, ohne sich bewußt zu sein, daß

406

.

W.1. Lenin

auf diese Weise die größte Mobilisierung des Bodens, der freieste und -leichteste Übergang des Bodens aus einer Hand in die andere, das freieste und leichteste Eindringen des Kapitals in die Landwirtschaft herbeigeführt wird! Die Verwechslung des Privateigentums am Grund und Boden mit der Herrschaft des Kapitals in der Landwirtschaft ist ein charakteristischer Fehler der bürgerlichen Bodennationalisatoren (darunter Georges und vieler anderer). In dem Bestreben, „die Mobilisierung einzuschränken", stimmen die Sozialrevolutionäre überein mit den Kadetten, deren Vertreter Kutler in seinem Referat unumwunden erklärte: „Die Partei der Volksfreiheit beabsichtigt, sie (die Bauern) nur in ihrem Recht der Veräußerung und Verpfändung einzuschränken, d. h. für die Zukunft einer umfangreichen Entwicklung von Bodenerwerb und -Veräußerung vorzubeugen." (-12. Sitzung, 19, März 1907, S. 740.) Die Kadetten verbinden diesen reaktionären Wunsch mit Methoden zur Lösung der Agrarfrage (Herrschaft der Gutsbesitzer und der Bürokratie), die die Möglichkeit geben für sinnlose Beamtenverbote und Amtsschimmelei und sonder Knechtung der Bauern Vorschub leisten. Die Sozialrevolutionäre verbinden den reaktionären Wunsch mit Maßnahmen, die eine bürokratische Bedrückung unmöglich machen (örtliche Bodenkomitees auf Grund des allgemeinen usw. Wahlrechts). Was die ersteren anbelangt, so ist ihre gesamte (bürokratisch-gutsherrliche) Politik in der bürgerlichen Revolution reaktionär. Was die letzteren anbelangt, so ist der kleinbürgerliche „Sozialismus" reaktionär, der irrtümlicherweise der konsequenten bürgerlichen Revolution aufgezwungen wird. Im Hinblick auf die ökonomischen Theorien der Sozialrevolutionäre sind die Betrachtungen ihrer Dumavertreter über den Einfluß der Agrarumgestaltungen auf die Entwicklung der Industrie von Interesse. Der naive Standpunkt bürgerlicher Revolutionäre tritt hier, nur ganz wenig von der Schale der volkstümlerischen Doktrin verdeckt, äußerst plastisch hervor. Da ist zum Beispiel der Sozialrevolutionär Kabakow (Gouvernement Perm), der im Uralgebiet bekannte Organisator des Bauembundes, „Präsident der Alapajewsker Republik"106, alias „Pngatschow"*. Er begründet das.Recht der Bauern auf den Boden auf echt bäuerliche Art unter anderem damit, daß sich die Bauern niemals geweigert hätten, Rußland * Siehe „Verzeichnis der Mitglieder der II. Reichsduma", private Ausgabe eines unbekannten Verfassers, St. Petersburg 1907.

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

407

gegen Feinde zu verteidigen (1953). „Wozu denn die Zuteilung von Boden?" ruft er aus. „Wir erklären geradeheraus, der Boden muß Gemeingut der werktätigen Bauernschaft sein, und die Bauern werden es verstehen, den Boden an Ort und Stelle selbst unter sich aufzuteilen, ohne jede Einmischung irgendwelcher Beamten, von denen wir schon lange wissen, daß sie der Bauernschaft keinerlei; Nutzen gebracht haben." (1954.) „Ganze Betriebe sind bei uns im Ural stillgelegt, da das Eisenblech keinen^ Absatz findet, und dabei sind in Rußland alle Bauernhütten mit Stroh gedeckt. Man hätte schon dangst alle diese Bauernhäuser mit Blech decken sollen... Es gibt Märkte, aber keine Käufer. Wer bildet bei uns die Käufermasse? Die hundertmillionenköpfige werktätige Bauernschaft - das ist das Fundament der Käufermasse." (1952.) Hier sind die Bedingungen einer echt kapitalistischen Produktion im Ural an Stelle der jahrhundertelangen halbfeudalen Stagnation in der „Possessions"produktion richtig ausgedrückt. Weder die Stolypinsche noch die kadettische Agrarpolitik können eine merkliche Besserung der Lebensbedingungen der Massen bringen, ohne diese aber wird sich keine wirklich „freie" Industrie im Ural entwickeln. Nur durch die Bauernrevolution könnte das hölzerne Rußland rasch von einem eisernen Rußland abgelöst werden. Der Sozialrevolutionäre Bauer versteht die Entwicklungsbedingungen des Kapitalismus richtiger und mnfassender als die geschworenen Lakaien des Kapitals. Ein anderer Sozialrevolutionär, der Bauer Chworostuchin (Gouvernement Saratow), sagte: „Gewiß, meine Herren, die Vertreter der Partei der Volksfreiheit haben viel gesprochen,- sie sagten, daß sie die Trudowikigruppe beschuldigen, sie wolle das Land denjenigen geben, die es bearbeiten wollen. Sie sagten, viele werden dann die Stadt verlassen, und dann wird es noch schlimmer werden. Ich glaube aber, meine Herren, daß nur diejenigen die Stadt verlassen werden, die nichts zu tun haben, diejenigen aber, die arbeiten, sind an die Arbeit gewöhnt, und wenn sie Arbeit haben, dann werden sie die Stadt nicht verlassen. In der Tat, wozu soll man Leuten Land geben, die es nicht bearbeiten wollen?" (774.) Ist es nicht klar, daß dieser „Sozialrevolutionär" durchaus nicht die allgemeine ausgleichende Bodennutzung will, sondern die Schaffung eines gleichberechtigten und freien Farmertums auf freiem Boden? „Man muß um jeden Preis ökonomische Freiheit für das ganze Volk entfesseln, beson-

408

19.1. Lenin

ders aber für das Volk, das so viele Jahre gelitten und gehungert hat." (777.) Man glaube nicht, daß diese richtige Formulierung des wirklichen Inhalts der Sozialrevolutionären Ideologie („die ökonomische Freiheit entfesseln") nur das Ergebnis einer ungeschickten bäuerlichen Ausdrucksweise sei. Nein, nicht nur. Der Sozialrevolutionäre Führer, der Intellektuelle Muschenko,.der im Namen der Partei der Sozialrevolutionäre das Schlußwort zur Agrarfrage hielt, ist in seihen ökonomischen Auffassungen noch unvergleichlich naiver als die Bauern Kabakow und Chworostuchin. „Wir sagen", erklärte Muschenko, „eine richtige Umsiedlung, eine richtige Verteilung der Bevölkerung wird nur dann möglich, wenn der ganze Boden ohne Schranken sein wird, wenn alle vom Prinzip des Privateigentums am Grund und Boden aufgerichteten Schranken niedergerissen sind. Weiter, der Minister sprach vom Bevölkerungszuwachs in unserem Staate... Wie er sagte, sind allein für diesen Bevölkerungszuwachs (1,6 Mill.) an die 3,5 Mill. Desj. Boden nötig. Er sagt: Wenn ihr also die Bodenausgleichung durchführt, woher nehmt ihr dann den Boden für einen solchen Bevölkerungszuwachs? Ich frage aber: Wo, in welchem Staate (sie!) wird der ganze Bevölkerungszuwachs von der Landwirtschaft aufgesaugt? Das Qesetz, das die Verteilung der 'Bevölkerung nadb Ständen und Berufen reguliert, ist gerade ein umgekehrtes Qesetz" (von uns hervorgehoben). „Wenn der Staat, wenn das Land nicht degeneriert, sondern sich industriell entwickelt, so heißt das, daß sich auf dem Fundament der Landwirtschaft, die die elementaren Bedürfnisse an Nahrung und Rohstoffen befriedigt, immer neue und neue wirtschaftliche Stockwerke erheben. Die Bedürfnisse nehmen zu, es kommen neue Produktionserzeugnisse auf, neue Produktionszweige; die verarbeitende Industrie zieht immer mehr Arbeitskräfte an sich. Die städtische Bevölkerung wächst rascher als die landwirtschaftliche und saugt den größeren Teil des Bevölkerungszuwachses auf. Es kommt manchmal vor, meine Herren, daß die landwirtschaftliche Bevölkerung nicht nur relativ, sondern sogar absolut abnimmt. Vollzieht sich bei uns dieser (!) Prozeß langsam, so deshalb, weil das Fundament fehlt, auf dem diese neuen wirtschaftlichen Stockwerke errichtet werden könnten. Die Bauernwirtschaft bildet ein allzu zerrüttetes Fundament,- der Markt für die Industrie ist allzu eng. Geben Sie dem Volke den Boden zur Nutzung und schaffen Sie auf dieser Grundlage eine gesunde, zahlreiche, lebenskräftige landwirtschaftliche Bevölkerung, und Sie werden sehen, welche Nachfrage nach Industrieerzeugnissen entstehen wird, welche Masse von Arbeitskräften in den Städten, in den Fabriken und Werken, gebraucht werden wird." (1173.)

Bas Agrarprogramm der Sozialdemokratie

409

Ist. er nicht herrlich, dieser ^Sozialrevolutionär", der das Programm der Entwicklung des Kapitalismus ein Programm der Sozialisierung des Bodens nennt? Er ahnt gar nicht, daß das Gesetz des rascheren Wachstums der städtischen -Bevölkerung ausschließlich ein Gesetz der kapitatistisdhen Produktionsweise ist. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, daß dieses „Gesetz" nicht anders funktioniert und funktionieren könnte als vermittels der Differenzierung der Bauernschaft in Bourgeoisie und Proletariat, vermittels der „Scheidung" unter den Bauern, d. h. der Verdrängung der „Habenichtse" durch „tüchtige Landwirte". Die ökonomische Harmonie, die dieser Sozialrevolutionär auf der Grundlage eines kapitalistischen Gesetzes ausmalt, ist geradezu rührend naiv. Aber es ist nicht die Harmonie eines vulgären bürgerlichen Ökonomen, der den Kampf zwischen Arbeit und Kapital vertuschen will. Es ist die Harmonie des unaufgeklärten bürgerlichen Revolutionärs, der mit den Überresten der Selbstherrschaft, der Fronherrschaft, des Mittelalters restlos aufräumen will. Die siegreiche bürgerliche Revolution, von der unser jetziges Agrarprogramm träumt, kann nicht anders vor sich gehen als mit Hilfe eben dieses bürgerlichen Revolutionärs. Und der klassenbewußte^ Arbeiter muß ihn im Interesse der gesellschaftlichen Entwicklung unterstütze^ ohne sich auch nur einen Augenblick von dem kindischen Lallen der volkstümlerischen'„Ökonomisten" irreführen zu lassen.

"' • ..

.

8. Die „Nationalen"

.

Von'den Vertretern der nichtrussischen Nationalitäten in der Duma haben zur Agrarfrage die Polen, die Belorussen, die Letten und Esten, die Litauer, Tatären, Armenier, Baschkiren, Kirgisen und Ukrainer gesprochen. Sie haben ihren Standpunkt wie folgt dargelegt. Der Narodowez107 Dmowski sprach in. der II. Duma „im Namen der Polen, der Vertreter des Königreichs Polen und des benachbarten westlichen Teils des Staates" (742): „Obwohl unsere Ägrarverhältnisse bereits einen Übergang zu westeuropäischen Verhältnissen darstellen, gibt es bei uns dennoch eine Agrarfrage, und der Bodenmangel ist ein Krebsschaden unseres Lebens. Einen der ersten Punkte unseres sozialen Programms bildet die Vergrößerung der Fläche des Bauernlandes." (743.) 27 Lenin, Werke, Bd. 13

410

-

W. J. Lenin

„Wenn bei uns im Königreich Polen große Agrarunruhen in Form der Besitzergreifung von Gutsbesitzerländereien stattgefunden haben, so war dies nur im östlichen Teil der Fall, und zwar im Kreise Wlodawa, wo man den Bauern sagte, daß sie als Orthodoxe Gutsbesitzerländereien zugeteilt erhalten werden. Diese Unruhen haben nur unter der orthodoxen Bevölkerung stattgefunden." (745.) „Hier (im Königreich Polen) kann die Bodenfrage, wie auch alle anderen sozialen Reformen... nur durch eine Versammlung der Vertreter des Gebietes^ nur durch einen autonomen Sejm entsprechend den Erfordernissen 'des Lebens geregelt werden." (747.) Diese Rede des polnischen Narodowez rief wütende Angriffe der belorussischen rechten Bauern (Gawriltschik, Gouvernement Minsk, Schimanski, Grudinski) gegen die polnischen Gutsbesitzer hervor, und der Bischof Jewlogl benutzte natürlich die Gelegenheit und hielt eine jesuitische Polizeirede im Geiste der russischen Politik des Jahres 1863 über die Unterdrückung der russischen Bauern durch die polnischen Gutsbesitzer (26. Sitzung, 12. April). „Wie einfach das ausgedacht ist!" antwortete der Narodowez Grabski (32. Sitzung, 3. Mai). „Die Bauern erhalten Boden; die russischen Gutsbesitzer bleiben auf ihren Ländereien sitzen; die Bauern werden, wie in der guten alten Zeit, das alte Regime unterstützen, und die Polen erhalten die gebührende Strafe, weil sie sich erdreistet haben, vom pohlischen Sejm zu sprechen." (62.) Und nachdem der Redner nachdrücklich die ganze schamlose Demagogie der russischen Regierung entlarvt hatte, forderte er, „die Entscheidung über unsere Agrarreform dem polnischen Sejm zu überlassen" (75). Fügen wir noch hinzu, daß die obengenannten Bauern eine zusätzliche Bodenzuteilung bei vollem Eigentumsredht verlangten (beispielsweise S. 1811). Auch in der I.Duma erklärten sich die polnischen und die westlichen Bauern bei ihrer Forderung nach Bodenzuteilung für das Eigentum. „Ich bin ein landarmer Bauer aus dem Gouvernement Lublin", sagte Nakonieczny am l.Juni 1906. „In Polen muß ebenfalls die Zwangsenteignung durchgeführt werden. Lieber eine Desjatine für immer, als fünf auf unbestimmte Zeit." (881/882.) Dasselbe sagte Poniatowski (Gouv. Wolhynien) im Namen des Westgebietes (19. Mai, S. 501) und Trassun aus dem Gouv. Witebsk (418, 16. Mai 1906). Girnjus (Gouv.

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

411

Suwalki) sprach sich dabei gegen einen einheitlichen Bodenfonds im Reichsmaßstab zugunsten örtlicher Bodenfönds aus (1. Juni 1906, S. 879). Graf Tyschkewitsch erklärte sogleich, daß er den Gedanken der Bildung eines gesamtnatiorialen Fonds für „unpraktisch und nicht ungefährlich" halte (874). In demselben Sinne sprach sich Stezki aus (24. Mai 1906, S. 613/614: für das persönliche Eigentum und gegen die Pacht). Für das baltische Gebiet sprach in der II. Duma Juraschewski (Gouv. Kurland), der die Abschaffung der feudalen Privilegien der Großgrundbesitzer (16. Mai 1907, S. 670) und die Enteignung der gutsherrlichen Ländereien über eine bestimmte Norm hinaus forderte. „Obgleich feststeht, daß sich im baltischen Gebiet die heutige Kultur auf der Grundlage des dort geltenden Prinzips des Privateigentums oder der Erbpacht entwickelt hat, muß man dennoch den Schluß ziehen, daß zur weiteren Regelung der landwirtschaftlichen Verhältnisse im baltischen Gebiet unverzüglich die Selbstverwaltung auf breiter demokratischer Grundlage eingeführt werden muß, die diese Frage richtig lösen könnte." (672.) Der Vertreter des Gouv. Estland, der Progressist Jurine, brachte einen besonderen Entwurf für das Gouv. Estland ein (47. Sitzung, 26. Mai 1907, S. 1210). Er sprach sich frä- einen „Kompromiß" aus (1213), für die „Erbpacht oder ewige Pacht" (1214). „Wer den Boden nutzt, wer ihn besser nutzt, der wird auch den Boden in seinen Händen haben." (Ebenda.) Jurine forderte in diesem Sinne die Zwangsenteignting und lehnte die Konfiskation des Grund und Bodens ab (1215). In der I. Duma forderte Tschakste (Gouv. Kurland) außer der Übergabe der Gutsbesitzerländereien die Übergabe der Kirchen- (Pastor-) Ländereien an die Bauern (4. Sitzung, 4. Mai 1906, S. 195). Tenisson (Gouv. Livland) erklärte sich einverstanden, für die Vorlage, d. h. für die Zwangsenteignung, zu stimmen; er fand, daß „alle Anhänger der Individualisierung des Bodens" (ebenda, S. 209) das tun könnten. Kreuzberg (Gouv. Kurland) forderte im Namen der kurländischen Bauernschaft die „Expropriation der Latifundien" und die Zuteilung von Boden an die Landlosen und Landarmen unbedingt „bei. vollem Eigentumsrecht" (12. Sitzung, 19. Mai 1906, S. 500). Rjutli (Gouv. Livland) forderte die Zwangsenteignung usw. „Was die Verwandlung der Ländereienin einen Staatsfonds betrifft", sagte er, „so erkennen unsere Bauern sehr wohl, daß dies eine neue Leibeigenschaft

412

W.l Lenin

für die Bauern bedeutet. Wir müssen deshalb die kleine Bauernwirtschaft, die Produktivität der Arbeit verteidigen und sie vor den Angriffen des Kapitalismus schützen. Wenn wir also die Ländereien in einen Staatsfonds verwandeln, so schaffen wir damit den allergrößten Kapitalismus." (497, in derselben Sitzung.) Osolin (Gouv. Livland) sprach sich im Namen der lettischen Bauern für die Zwangsenteignung und das Eigentum aus; er ist entschieden gegen einen gesamtstaatlichen Bodenfonds und läßt nur lokale Gebietsfonds gelten (13. Sitzung, 23. Mai 1906, S. 564). Lecmas/ „Vertreter des Gouvernements Suwalki, und zwar der litauischen Nationalität" (39. Sitzung, 16. Mai 1907, S. 654), trat für den Plan der Kadettenpartei ein, der er angehört. Ein anderer litauischer Autonomist aus demselben Gouvernement, Bulat, schloß sich den Trudowiki an, wollteaber die Entscheidung über die Ablösung usw. bis zur Beratung der Frage durch die örtlichen Bodenkomitees zurückstellen. (S. 651, ebenda.) Powiljus (Gouv. Kowno) legte im Namen der „Dumagruppe der Sozialdemokraten Litauens" (ebenda, S. 681, Anhang) ein genau formuliertes Agrarprogramm dieser Gruppe vor, das mit unserem Programm der SQAPR übereinstimmt, jedoch mit dem "Unterschied, daß „der örtliche Bodenfonds innerhalb der Qrenzen Citauens" dem „autonomen Selbstverwaltungsorgan Litauens" zur Verfügung gestellt wird. (Ebenda, Punkt2.) Im Namen ;der muselmanischen Gruppe sprach: ia der II. Duma Chan Choiski (Gouv. Jelisawetpol): „Wir Muselmanen, die wir mehr als 20 Millionen der Gesamtbevölkerung des russischen Staates bilden, verfolgen mit der gleichen Aufmerksamkeit all die Peripetien der Agrarfrage und warten mit derselben Ungeduld auf ihre befriedigende Lösung." (20. Sitzung, 2. April 1907, S. 1499.) Der Redner erklärt sich'im Namen der muselmanischen Gruppe mit Kutler einverstanden und spricht sich für die Zwangsenteignung auf der Grundlage .eines gerechten Preises aus (1502). „Was soll aber mit diesen enteigneten Ländereien geschehen? In dieser Beziehung ist die muselmanische Gruppe der Meinung, daß die enteigneten Ländereien keinen gesamtstaatlichen Bodenfonds, sondern einen regionalen Bodenfonds innerhalb der Grenzen jedes gegebenen Gebiets bilden sollen." (1503.). Der „Vertreter der Krimtataren", der Abgeordnete Medijew (Gouv. Taurien), spricht sich in einer flammenden revolutionären Rede für „Land.und Freiheit" aus. „Je länger die Debatte

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

413

dauert, desto klarer ersteht vor uns die Forderung des Volkes,Hiaß derjenige den Boden nutzen soll, der ihn bearbeitet." (24. Sitzung, 9. April 1907, S. 1789.) Der Redner weist darauf hin, „wie in unseren Randgebieten das geheiligte Eigentum am Grund und Boden entstanden ist" (1792), wie man die baschkirischen Ländereien geraubt hat, wie die -Minister und Wirklichen Staatsräte, die Chefs der Gendarmerieverwaltungen je 2000-6000 Desj. erhalten haben. Er verliest einen Wählerauftrag der „tatarischen Brüder", die über den Raub der Wakuf-Ländereien108 klagen. Er zitiert die Antwort des turkestanischen Generalgouverneürs vom 15. Dezember-1906 an einen Tataren, wonach sich auf den fiskalischen Ländereien nur Personen christlichen Glaubens ansiedeln können. „Riechen diese Dokumente nicht nach Moder, nicht nach AraktschejewMethoden* des vorigen Jahrhunderts?" (1794.) Für die kaukasischen Bauern sprach - außer unseren sozialdemokratischen Parteivertretern, von denen weiter unten die Rede sein wird - der obengenannte Sagatelian (Gouv. Eriwan), der auf dem Standpunkt der Sozialrevolutionäre steht- Ein anderer Vertreter der Partei „Daschnakzutjun", Ter-Awetikianz (Gouvernement Jelisawetpol), äußerte sich im selben Sinne: „Der Boden maß'sat der Basis des Gemeindeeigentums den Werktätigen gehören, d. h. dem werktätigen Volk und niemand anderem." (39. Sitzung, 16. Mai 1907, S. 644.) „Ich erkläre im Namen der gesamten kaukasischen Bauernschaft... im entscheidenden Moment wird die ganze kaukasische Bauernschaft Hand in Hand mit ihrem älteren Bruder - der russischen Bauernschaft - gehen und für sich Land und Freiheit erringen.". (646.) Hdarchahow verlangt „im Namen seiner Wähler, der einheimischen Bevölkerung des Terekgebietes, daß der Plünderung der Naturreichtümer bis zu einer Lösung der Agrarfrage Einhalt geboten werde" (32. Sitzung, 3. Mai 1907, S. 78), geplündert wird aber der Boden von der Regierung, die sich den besten Teil der Gebirgszone nimmt, das Land des kumükischen Volkes raubt und Ansprüche auf die Bodenschätze erhebt (das muß wohl vor der Stockholmer Lektion Plechanows und Johns geschehen sein, wo diese-erklärten, die munizipali* Araktschejew - reaktionärer Staatsmann im zaristischen Rußland Ende des 18. und Anfang des 19. Jährhunderts. Mit dem Namen Araktschejews ist eine ganze Epoche unumschränkten Polizeidespotismus und brutaler Militärwillkür verbunden. Der 'übers. -

414

. . • . • ; . :

W.I.Lenin

sierten Ländereien seien für die. nichtdemokratische Staatsmacht unerreichbar). Im Namen der Baschkiren erinnert der Abgeordnete Chassanow (Gouvernement Ufa) an den Raub von 2 Millionen Desj. Boden durch die Regierung und verlangt, daß dieses Land „zurückgenommen" werde (39, Sitzung, 16. Mai 1907, S. 641). Dasselbe forderte der Ufaer Abgeordnete der I. Duma Syrtlanow (20. Sitzung, 2. Juni 1906, S. 923). Im Namen des kirgiskäisakischen Volkes, sprach in der II. Duma der Abgeordnete Karatajew (Uralgebiet): „Wir Kirgiskäisaken . . . verstehen sehr wohl und fühlen den Landhunger unserer Brüder, der Bauern, wir sind gern bereit, zusammenzurücken" (39. Sitzung, S. 673), aber „überschüssige Ländereien gibt es.sehr wenig", und „die Umsiedlung ist gegenwärtig mit einer Aussiedlung des kirgiskaisakischen Volkes verbunden... Man siedelt die Kirgisen nicht vom Land, sondern aus ihren Wohnhäusern aus." (675.) „Die Kirgiskäisaken. sympathisieren immer mit allen oppositionellen Fraktionen." (675). Im Namen der ukrainischen' Fraktion sprach in der II. Duma am 29. März 1907 der Kosak Saiko aus dem Gouvernement Poltawa. Er, zitierte ein Kosakenlied: „He, du -Zarin Katharina, was hast du getrieben? Hast die weite, frohe Steppe den Herren verschrieben. He, du Zarin Katharina, habe doch Erbarmen: frohe Fluren,-dunkle Haine, gib das Land uns Armen", schloß sich den Trudowiki an und forderte nur, daß im Paragraph 2 des Entwurfs der 104 die Worte: „gesamtnationaler Bodenfonds" ersetzt werden durch die Worte „regionaler nationaler (sie!) Bodenfonds, der als Grundlage einer.sozialistisdien Ordnung dienen soll". „Die ukrainische Fraktion hält das Privateigentum am Grund und Boden für die größte Ungerechtigkeit in der Welt." (1318.) In der ersten Duma, erklärte der Poltawaer Abgeordnete Tschishewski: „Als glühender Anhänger der Idee der Autonomie, als glühender Anhänger insbesondere der Autonomie der Ukraine, ist es mein heißer Wünsch, daß die Agrarfrage von meinem Volk entschieden werde, daß einzelne, autonome Einheiten sie entscheiden; unter jener autonomen Ordnung unseres Staates, die für mich das Ideal darstellt." (14. Sitzung, 24. Mai 1906, S. 618.) Aber gleichzeitig erkenn^ dieser ukrainische Autonomist die unbedingte Notwendigkeit des staatlichen Bodenfonds an und entwirrt dabei die Frage, die von unseren . „Mtmizipalisten" verwirrt

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

415

wurde. „Wir müssen entschieden "und positiv das Prinzip aufstellen", sagte -Tschishewski, „daß die Verwaltimg der Ländereien des staatlichen Bodenfonds ausschließlich den örtlichen Semstwo- oder autonomen Einheiten mit Selbstverwaltung vorbehalten sein muß, sobald diese entstehen. Allerdings, welchen Sinn kann dann die Bezeichnung staatlicher Bodenfonds' haben, wenn er in allen Einzelfällen von örtlichen Selbstverwaltungsorganen verwaltet wird? Ich glaube, daß darin ein hoher Sinn liegt. Vor a l l e m . . . muß ein Teil des staatlichen Fonds der zentralen Regierung zur Verfügung stehen . . . unser gesamtstaatlicher Kolönisationsfonds . . . Sodann geht zweitens der Sinn der Schaffung eines staatlichen Fonds und der Sinn dieser seiner Bezeichnung daraus hervor, daß die örtlichen Körperschaften zwar freies Verfügungsrecht über den Boden an Ort und Stelle haben werden, jedoch nur in gewissen Grenzen." (620.) Dieser kleinbürgerliche Autonomist versteht die Bedeutung der Staatsmacht für eine zentralisierte wirtschaftliche Entwicklung; der Gesellschaft viel besser als unsere menschewistischen Sozialdemokraten. Nebenbei. Spricht man von der Rede Tschishewskis,-so darf man seine Kritik an den „Normen" nicht übergehen. „Die Arbeitsnorm ist ein leeres Wort", sagt er unumwunden, verweist auf die Mannigfaltigkeit der landwirtschaftlichen Verhältnisse und lehnt aus denselben Gründen die „Verbrauchsnorm" ab. „Ich glaube, daß man den Boden den Bauern nicht nach irgendeiner Norm zuteilen soll, sondern nach Maßgabe der vorhandenen Reserve... Man muß den Bauern alles geben, was man in der betreffenden Gegend geben kann." Man muß zum Beispiel im Gouvernement- Poltawa „die Ländereien aller Grundbesitzer enteignen und ihnen als Maximum 50 Desj. im Durchschnitt belassen" (621). Ist es ein Wunder, daß. die Kadetten von-Normen schwatzen, um ihre Pläne über das wirkliche Ausmaß der Enteignung zu verbergen? Tschishewski, der die Kadetten kritisiert, erkennt das noch nicht* *' Höchst plastisch bringt Tschishewski auch den uns bereits bekannten:Leit•satz der unbewußt-bürgerlichen Trudowiki vor: Wachstum der Industrie, Verringerung des Zustroms aufs Land bei einer konsequenten bäuerlichen Revolution. „Bei uns haben die Bauern,, dieselben Wahlmänner, die uns hierhergesandt haben, zum. Beispiel folgende Berechnung angestellt: ,Werih wir etwas reicher wären und wenn jede unserer Familien 5-6 RbL im Jahr für Zucker ausgeben könnte, so würden in jedem Kreise, wo der Zuckerrübenanbau möglich ist,

416

"W. 3. Lenin

. Die Schlußfolgerung aus unserer Übersicht über die Dumareden der „Nationalen" zur Agrarfrage ist klar. Diese Reden haben restlos bestätigt, was ich in der Broschüre „Die Revision usw." auf S. 18 (erste .Ausgabe)* in der Frage des Verhältnisses zwischen der Munizipalisierung •und den Rechten der Nationalitäten gegen Maslow eingewandt habe, nämlich, daß das eine politische Frage ist, die im politischen Teil unseres Programms erschöpfend behandelt und nur aus kleinbürgerlichem Provinzialismus in das Agrarprogramm hiheingemengt wird. Die Menschewiki haben sich in Stöckholm mit komischem Eifer abgemüht, „die Munizipalisierung-von der Nationalisierung zu reinigen" (ein Ausspruch des Menschewiken Nowossedski, „Protokolle" des Stockholmer Parteitags, S. 146). „Manche historische Gebiete, wie zum Beispiel Polen und Litauen", sagte Nowossedski, „decken sich mit dem nationalen -Territorium, und die Übergabe des Bodens an diese Gebiete kann die Grundlage bilden, auf der sich nationalistisch-föderalistische Tendenzen erfolgreich entwickeln werden, was die Munizipalisierung im Grunde genommen neuerlich in eine stückweise Nationalisierung verwandeln wird." Und daher haben Nowossedski und Dan den folgenden Abänderungsvorschlag eingebracht und durchgesetzt: statt der Worte „große Qebietsorganisationen mit Selbstverwaltung" im Maslowschen Entwurf - die Worte „große, städtische und ländliche Kreise vereinigende örtlidbe Selbstverwaltungsorgane" zu setzen. ' Eine geistreiche „Reinigung der Munizipalisierung von der Nationalisierung" , das muß man sagen. Ein Wort durch das andere ersetzen — ist es nicht klar, daß sich daraus von selbst eine Vermischung der „historischen Gebiete" ergibt? Nein, meine Herren, durch keinerlei Umstellung von Worten werdet ihr aus der Munizipalisierung die ihr anhaftende „nationalistisch-föderalistische" Dummheit beseitigen. Die zweite Duma hat gezeigt, daß die neben den bereits vorhandenen noch einige weitere Zuckerfabriken entstehen.' Wenn diese Fabriken entstehen, so ist es ganz natürlich, daß bei Intensivierung der Wirtschaft eine Masse von Arbeitskräften benötigt würde! DieProduktion der Zuckerfabriken würde sich erhöhen" usw. (622.) Das ist gerade das Programm des „amerikanischen" Earmertums und der „amerikanischen" Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. * Siehe Werke, Bd. 10, S. 175/176. Die Ked.

Das Agrarprogramtn der Sozialdemokratie

417

„Munizipalisierongs"idee in Wirklichkeit nur den nationalistischen Tendenzen der verschiedenen Gruppen der Bourgeoisie gedient hat. Nur diese Qruppen haben, sieht man von dem Techten Kosaken Karaulow ab, verschiedene „Regional"- und „Gebiets"fonds unter „ihren Schutz genommen". Dabei haben die Nationalen den agrarischen Inhalt der Provinzialisierung (denn faktisch, „gibt" Maslovrdie Ländereien den Provinzen und nicht den „Munizipien", so daß das Wort Provinzialisierung genauer ist) über Bord geworfen: nichts soll im voraus beschlossen werden, alles soll den autonomen Sejms oder den regionalen usw. Selbstverwaltungsorganen anheimgestellt werden, sowohl die Frage der Ablösung als auch die Frage des Eigentums usw. Vollste Bestätigung haben meine Worte gefunden: „Ein Gesetz über die Semstwolisierung des transkaukasischen Bodens müßte sowieso von der Petersburger konstituierenden Versammlung erlassen werden, weil Maslow wohl kaum jedem beliebigen Randgebiet die Freiheit zugestehen will, den gutsherrlichen Grundbesitz beizubehalten." („Die Revision", S. 18.)* Die Ereignisse haben somit bestätigt, daß die Verteidigung der Munizipalisierung mit Erwägungen über die Zustimmung oder NichtZustimmung der Nationalitäten eine banale Argumentation ist. Die Munizipalisieruhg unseres Programms steht im Widerspruch zu der kategorisch geäußerten Meinung der verschiedensten Nationalitäten. Die Ereignisse haben bestätigt, daß die Munizipalisierung in Wirklichkeit nicht dazu dient, die bäuerliche Massenbewegung im gesamtnatiohalen Maßstab zu leiten, sondern diese Bewegung nur zu zersplittern und in provinzielle und nationale Rinnsale zu leiten vermag. Aus der Idee der Maslowschen Gebietsfonds hat das Leben nur den national-autonomen „Partikularismus" in sich aufgenommen. Die „Nationalen" stehen unserer Agrarfrage etwas fernr Viele nichtrussische Völkerschaften haben keine selbständige Bauernbewegung, die im Zentrum der Revolution steht, wie bei uns. Es ist daher ganz natürlich, daß sich die „Nationalen" in ihren Programmen häufig von der russischen Agrarfrage etwas abseits halten. Was kümmert es uns, meinen sie, wir leben unser eigenes Leben: Für die nationalistische Bourgeoisie und das Kleinbürgertum ist ein solcher Standpunkt unvermeidlich. Für das Proletariat ist er unzulässig, unser Programm aber ist in der * Siehe Werke, Bd. 10,^. 175. Die Red.



-418

.

"W.I.Cenin

7af in diesen unzulässigen bürgerlichen Nationalismus verfallen. Ebenso wie sich die ,>Nationalen" bestenfalls der gesamtrussischen Bewegung nur anschließen, ohne sich das Ziel zu setzen, ihre Kräfte durch Vereinigung, durch Konzentnerung der Bewegung.zu verzehnfachen, so schaffen auch die Menschewiki ein Programm, das sich der Bauernrevolution anschließt, -statt ein Programm-aufzustellen, das die Revolution leitet, sie zusammenschließt und weitertreibt. Die Munizipalisierung ist keine Losung der Bauernrevolution, sondern ein vom kleinbürgerlichen Reformismus ausgeklügelter Plan, den man von außen her, im Hinterhof der Revolution, einzufügen versucht. Das sozialdemokratische Proletariat kann sein Programm nicht vom „Einverständnis" der einzelnen Nationalitäten abhängig machen. Unsere Sache ist es, die Bewegung zusammenzuschließen und zu konzentrieren, ^labei den besten Weg, die in der bürgerlichen Gesellschaft beste Agrarverfassung zu propagieren und gegen die Macht der Tradition, der Vorurteile, des trägen Provinzialismus zu kämpfen. Wenn die Kleinbauern mit der Sozialisierung des Grund und Bodens „nicht einverstanden" sind, so kann das unser Programm der sozialistischen Revolution nicht ändern. Das kann uns nur dazu veranlassen, der Einwirkung durch das Beispiel den Vorzug zu geben. So ist es auch mit der Nationalisierung des Grund und Bodens in der bürgerlichen Revolution'. Wenn diese oder jene Völkerschaft oder Völkerschaften damit „nicht einverstanden" sind, so karm uns das in keiner. Weise veranlassen, unsere Lehre zu ändern, daß die vollständigste Befreiung-vom mittelalterlichen Grundbesitz und die Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden im Interesse des ganzen Volkes liegt. Der Umstand, daß erhebliche Schichten der werktätigen Massen der einen oder anderen Völkerschaft „nicht einverstanden" sind, wird uns dazu veranlassen, der Einwirkung durch das Beispiel den Vorzug vor jeder, anderen Einwirkung zu geben. Die Nationalisierung des Kolonisationsfonds, die Nationalisierung der Wälder, die Nationalisierung des gesamten Grund und Bodens in Zentralrußland läßt sich nicht längere Zeit hindurch mit dem Privateigentum am Grund und Boden in diesem oder jenem Teil des Staates vereinbaren (zumal ja der Häuptstrom der ökonomischen Evolution tatsächlich die Ursache für die Vereinigung dieses Staates bildet). Entweder das eine oder das andere System wird die Oberhand gewinnen müssen. Darüber wird die Praxis entscheiden. Unsere

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

419

Sache ist es, Sorge zu tragen, daß das Volk über die Bedingungen aufgeklärt wird, die für das Proletariat und für die werktätigen Massen des sich kapitalistisch entwickelnden Landes am günstigsten sind.

9. Dte Sozialdemokraten Unter den acht sozialdemokratischen Reden, die in der II. Duma zur Agrarfrage gehalten wurden, gab es nur zwei, in denen die Munizipalisierung nicht nur erwähnt, sondern auch verteidigt wurde. Das war die Rede von Osol und die zweite Rede Zeretelis. Die übrigen Reden griffen in der Hauptsache fast ausschließlich den gutsherrlichen Grundbesitz überhaupt an und stellten die politische Seite der Agrarfrage klar. Äußerst kennzeichnend ist in dieser Hinsicht die schlichte Rede des rechtsstehenden Bauern Petrotschenko (22. Sitzung, 5. April 1907), in der dieser den allgemeinen Eindruck schilderte, den die Reden von Vertretern der verschiedensten Parteien auf einen ländlichen Abgeordneten gemächt hatten. „Ich werde Ihre Aufmerksamkeit nicht mit der Aufzählung all dessen, was hier gesagt wurde, in Anspruch nehmen?; gestatten Sie mir, es mit einfachen Worten zu sagen. Der Abgeordnete Swjatopolk-Mirski hielt hier eine lange Rede. Diese Rede sollte uns offensichtlich auf irgend etwas vorbereiten. Kurz ausgedrückt heißt es- Ihr habt nicht das Recht, den Boden, der mir gehört oder den icbJbesitze, ztr nehmen, und ich werde ihn nicht hergeben. Darauf erwiderte der Abgeordnete Kutler: ,Diese Zeiten sind vorbei, hergeben muß man ihn, gebt ihn her und nehmt Geld dafür.' Der Abgeordnete Dmowski sagt: ,Macht mit dem Boden, was ihr wollt, aber Autonomie ist unbedingt notwendig.' Gleichzeitig sagt der Abgeordnete Karawajew: ,Notwendig ist das eine und das andere, man soll aber alles auf einen. Haufen werfen, und dann werden wir teilen.' Zereteli sagt; ,Nein, meine Herren, teilen; kann man nicht, da einstweilen die Regierung die alte ist, xmd sie wird das nicht gestatten. Sehen wir lieber zu, wie wir die Macht erobern können, und dann werden wir teilen, wie wir wollen.'" (S.1615.) ; Der einzige Unterschied also zwischen der Rede des Sozialdemokraten und des Trudowiken, den der. Bauer herausgehört hat, ist, daß klar aufgezeigt wurde, wie notwendig es ist/ für die Macht im Staate, die „Macht-

420

IV. 1 Lenin

ergreifung" zu kämpfen.'".Die anderen Unterschiede bat er nicht'herausgehört, sie schienen ihm unwesentlich! In der ersten Rede Zeretelis sehen wir in der Tat die Aufdeckung der Tatsache, daß „unsere Beamtenaristokratie auch eine Grund- und Bodenaristokratie ist" (725). Der Redner zeigte, wie „die Staatsmacht im Laufe von Jahrhunderten Ländereien, die dem Staat gehörten, Eigentum des ganzen Volkes waren, als Privateigentum vergeben hat" (724). Die Erklärung, die er am Ende seiner Rede im Namen der sozialdemokratischen Fraktion einbrachte und in der unser Agrarprogramm wiederholt wird, blieb unbegründet und wurde den Programmen der anderen „linken" Parteien nicht gegenübergestellt. Wir stellen das durchaus nicht deshalb fest, um irgend jemanden zu beschuldigen - wir. halten im Gegenteil die erste Rede Zeretelis, die kurz, eindeutig und auf die Klarlegung des Klassencharakters der Gutsbesitzerregierung konzentriert war, für. äußerst gelungen - , sondern um zu erklären, warum für den rechtsorientierten Bauern (wahrscheinlich auch für alle Bauern) die spezifisch sozialdemokratischen Züge unseres Programms nicht erkennbar wurden. Die zweite sozialdemokratische Rede zur Agrarfrage wurde in der folgenden „Agrarsitzung" der Duma (16. Sitzung, 26. März 1907) von dem Arbeiter Fomitschew (Gouv. Taurien) gehalten, der häufig sagte: „wir Bauern". Fomitschew rechnete leidenschaftlich mit Swjatopolk-Mirski ab, dessen berühmte Worte: Bauern ohne Gutsbesitzer sind „eine Herde ohne Hirten", für die Bauernabgeordneten eine bessere Agitation waren als so manche „linke" Reden. „Der Abgeordnete Kotier entwickelte in einer großen Rede den Gedanken der Zwangsenteignung, jedoch gegen Ablösung. Wir Vertreter der Bauern können eine Ablösung deshalb nicht anerkennen, weil die Ablösungszahlungen eine neue Schlinge um1 den •Hals des Bauern sind." (1113.) Zürn Schluß forderte Fomitschew „die Übergabe des.gesamten Grund und Bodens an die Werktätigen zu den Bedingungen, die von dem Abgeordneten Zereteli vorgeschlagen wurden" (1114).

- , • • • • • •

-

' Die folgende Rede hielt ebenfalls ein Arbeiter, Ismäilow, der in der Bauernkurie des Nowgoroder Gouvernements gewählt worden war (18. Sitzung, 29. März .1907). Er antwortete seinem Landsmann,1 dem Bauern Bogatow,.der sich im Namen der Nowgoroder Bauern mit der Ablösung einverstanden erklärt hatte. Ismäilow lehnte die, Ablösung ent-

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

421

rüstet ab. Er schilderte die Bedingungen der ^Befreiung" der Nowgoroder Bauern, die von 10 Mill. Desj. Ackerland 2 MilL Desj. und von 6 Mill. Desj. Wald 1 Mill. Desj. erhalten haben. Er beschrieb die Not der Bauern, die so groß ist, daß sie nicht nur „seit Jahrzehnten die Zäune um ihre Hütten, verheizen'', sondern auch „die Ecken ihrer eigenen Holzhäuser absägen", „aus großen alten Holzhäusern kleine machen, nur um beim Umbau einen Armvoll Brennholz herauszuschlagen" (1344). „Und bei dieser Lage unserer Bauern trauern die Herren Rechten auf einmal der Kultur nach. Der Bauer hat, wie sie meinen^ die Kultur auf den Hund gebracht. Steht denn dem hungernden und frierenden Bauer der Sinn nach Kultur? Und statt Land möchten sie ihm diese Kultur anbieten,- aber ich traue ihnen auch hier nicht, ich glaube^daß sie1 sich auch einverstanden erklären werden, ihre Ländereien zu verkaufen, sie werden nur feilschen, damit der Bauer den Boden teurer bezahle. Einverstanden erklären werden sie sich aus folgendem Grunde. Meiner Meinung nach1- und das müssen sich die Bauern besonders gut merken - handelt es sich gar nicht um den Boden, meine Herren. Ich glaube, daß ich nicht irre, wenn ich sage, daß hinter dem Boden etwas anderes steckt, eine andere Kraft, die dem Volk auszuliefern die feudalen Adligen'Angst haben, die zusammen mit dem Boden zu verlieren sie fürchten, und das ist, meine Herren - die Macht: Sie werden den Boden übergeben und wollen ihn übergeben, aber so, daß wir wie früher ihre Sklaven bleiben. Stürzen wir uns in Schulden, so werden wir uns wieder nicht aus der Macht der feudalen Gutsbesitzer befreien können." (1345.) Man kann sich kaum vorstellen, daß das Wesen der kadettischen Pläne plastischer und treffender entlarvt werden kann als durch diesen Arbeiter! • Der Sozialdemokrat Serow kritisierte in der 20. Sitzung am 2. April 1907 vorwiegend die Anschauungen der Kadetten als der „Vertreter des Kapitals" (1492), der „Vertreter des kapitalistischen Grundbesitzes". Der Redner zeigte ausführlich, an Hand von'Zahlen, was die Ablösung von 1861 darstellte, und verwarf das „Käutschukprinzip" des gerechten Preises. Serow gab eine vom marxistischen Standpunkt unbedingt richtige Antwort auf das Argument Kutlers, man könne1 das Land nicht konfiszieren'^ ohne das Kapital zu konfiszieren. „Wir argumentieren ja gar nicht so, daß der Boden niemandem gehöre, daß das Ackerland nicht das Werk von Menschenhand sei." (1497.) „Das Proletariat, dessen Vertreter hier

422

.

W. 1 Lenin

die Sozialdemokratische Partei ist und das Selbstbewußtsein gewonnen hat, lehnt gleichermaßen jede Ausbeutung ab, sowohl die feudale als auch die bürgerliche. Für das Proletariat gibt es die Frage nicht, welche dieser zwei Aüsbeutungsformen gerechter ist; für das Proletariat läuft die Frage stets darauf hinaus, ob die historischen Bedingungen für die Befreiung von der Ausbeutung herangereift sind." (1499.) „Laut Berechnung der Statistiker werden durch die Konfiskation der Ländereien an die 500 Mill. Rbl. nicht durch eigene Arbeit erworbenen Einkommens der Gutsbesitzer an das Volk übergehen. Die Bauernschaft wird dieses Einkommen natürlich dazu benutzen, ihre Wirtschaft zu verbessern, ihre Produktion zu erweitern; ihre Bedürfnisse zu steigern." (1498.) . In der 22. Dumasitzung (5. April 1907) sprachen Anikin und Alexinski zur Agrarfrage. Der erstere betonte die Verbindung zwischen „der höheren Bürokratie und dem Großgrundbesitz" und führte den Nachweis, daß der Kampf um die Freiheit nicht vom Kampf um den Boden getrennt werden kann. Der zweite zeigte in einer ausführlichen Rede den feudalen Charakter der auf Abarbeit fußenden Wirtschaft, die in Rußland vorwiegt. Der Redner entwickelte somit die Grundlage der marxistischen Auffassung vom Kampf der Bauernschaft gegen den .gutsherrlichen Grundbesitz, verwies sodann auf die Doppelrolle der Dorfgemeinde („Überrest des Alten" und „Apparat zur Einwirkung auf den Gutshof") und auf den Sinn der Gesetze vom 9. und, 1.5. November 1906 (dem Gutsbesitzer den Kulaken als „Stütze" hinzuzugesellen). Der Redner zeigte an Hand von Zahlen, daß „der Bodenmangel der Bauern der Bodenreichtum des Adels ist", und legte klar, daß die kadettische „Zwangs"enteignung eine „Vergewaltigung des Volkes zugunsten der Gutsbesitzer" ist (1635). Alexinski berief sich direkt auf „das Kadettenorgan ,Jl.etsd?" (1639), das offen zugibt, daß sich die Bodenkomitees, wie sie sich die Kadetten wünschen, aus Gutsbesitzern zusammensetzen sollen. Und der Kadett Tatarinow, der in der übernächsten Sitzung nach Alexinski sprach, wurde dadurch, wie wir schon sahen, in die Enge getrieben. Die Rede Osols in der 39. Sitzung (16. Mai 1907) liefert uns ein Musterbeispiel dafür, zu welcher für Marxisten ungebührlichen Argumentation Maslow mit seiner berühmten „Kritik" der Rententheorie von. Marx und der entsprechenden Entstellung des Begriffes der Nationalisierung des Grund und Bodens einen Teil unserer Sozialdemokraten ver-

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

423

leitet hat. Osol nahm, in folgender Weise gegen die Sozialrevolutionäre Stellung: Ihr „.. . Entwurf ist meiner Meinung nach.aussichtslos, denn es wird das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschaift, im gegebenen Fall am Grund und Boden, während das Privateigentum an den Fabrikgebäuden, und nicht nur an den Fabrikgebäuden, sondern auch an sonstigen Häusern und Baulichkeiten, erhalten bleibt. Auf der 2. Seite des Entwurfs lesen wir, daß alle Bauten, die auf dem Grund und Boden errichtet sind und die auf kapitalistische Weise genutzt werden, Privateigentum bleiben,- dann wird jeder Privateigentümer sagen: Haben Sie die Güte und zahlen Sie alle Ausgaben für den nationalisierten Grund und Boden, für die Pflasterung der Straßen usw., ich aber werde von diesen Häusern den Mietzins beziehen. Das ist keine Nationalisierung, sondern eine direkte Erleichterung für den Bezug kapitalistischer Einkünfte in der höchstentwickelten kapitalistischen Form." (667.) Da haben wir sie, die Maslowiade! Erstens wird das banale Argument der Rechten und Kadetten wiederholt, daß man die feudale Ausbeutung nicht abschaffen könne, ohne die bürgerliche anzutasten. Zweitens wird eine erstaunliche ökonomische Unkenntnis offenbart: Der „Mietzins" der städtischen Häuser usw. enthält den Löwenanteil der Qrundrente. Drittens vergißt (oder verneint?) unser „Marxist" gleich Maslow völlig die-absolute Rente. Viertens ergibt sich, daß ein Marxist die von einem Sozialrevolutionär verfochtene „höchstentwickelte kapitalistische Form" für unerwünscht erklärt! Perlen der Maslowschen Munizipalisierung... Zereteli verteidigte in einer ausführlichen Schlußrede (47. Sitzung, 26. Mai 1907) die Munizipalisierung natürlich durchdachter als Osol, aber gerade die sorgfältige, abgewogene und klare Verteidigung Zeretelis hat die ganze Unrichtigkeit der Hauptärgumente der Munizipalisten besonders anschaulich aufgezeigt. Die von Zereteli am Anfang seiner Rede geübte Kritik an den Rechten war politisch völlig richtig. Ausgezeichnet war seine Bemerkung'gegen die liberalen Scharlatane, die das Volk mit Erschütterungen in der Art der Französischen Revolution schrecken wollen. „Er (Schingarjow) hat vergessen, daß Frankreich gerade nach der Konfiskation und infolge der Konfiskation der gutsherrlichen Ländereien zu einem neuen mächtvollen Leben erwachte:". (1228:) Ganz richtig war auch die Hauptlosung Zeretelis: „Völlige Abschaffung des -gutsherrlichen Grundbesitzes und völlige-

424

W. J.Lenin

Beseitigung des gutsherrlichen bürokratischen Regimes." (1224.) Aber sobald er zu den Kadetten überging, zeigte sich schon die fehlerhafte Position des Menschewismus. „Das Prinzip'der Zwangsenteignung des Grund und Bodens", sagte Zereteli, „ist objektiv das Prinzip der Befreiungsbewegung, aber nicht alle, die für dieses: Prinzip eintreten, sind sich all der Schlußfolgerungen, zu denen dieses Prinzip verpflichtet, bewußt öder geneigt, sie anzuerkennen." (1225.) Es ist eine grundlegende Anschauung des Menschewismus, daß die „Wasserscheide" zwischen den grundsätzlichen politischen Gruppierungen in unserer Revolution rechts von den Kadetten verläuft und nicht links, wie wir meinen. Und daß diese Anschauung irrig ist, sieht man besonders klar aus der deutlichen Formulierung Zeretelis, denn nach den Erfahrungen von 1861 ist es völlig unbestreitbar, daß die Zwangsenteignung bei gleichzeitigem Vorherrschen der Interessen der Gutsbesitzer, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung ihrer "Machtstellung und Konstituierung einer neuen Knechtschaft möglich ist. Noch unrichtiger ist die Erklärung Zeretelis: „In der Frage der Formen der Bodennutzung stehen wir (die Sozialdemokraten) ihnen (den Volkstümlern) ferner" (1230) als den Kadetten. Der Redner ging nach diesen Worten zur Kritik der „Normen", der Arbeits- und der Verbrauchsnorm, über. In: dieser Frage hatte er tausendfach recht, aber gerade hier sind die Kadetten durdhaus nidbt besser als die Trudowiki, denn mit den „Normen" treiben die Kadetten viel mehr Mißbrauch. Mehr noch. Bei den Kadetten ist. der ganze Lärm um die törichten „Nonnen" das Ergebnis ihres Bürokratismus und ihrer Tendenz, den Bauern zu verraten. Was die Bauern betrifft, so wurden die „Normen" von außen durch die intellektuellen Volkstümler hineingetragen, und wir sahen oben an dem Beispiel der Abgeordneten der I. Duma Tschishewski und Pojarkow, wie treffend die ländlichen Praktiker jegliche „Normen" kritisieren. Würden die Sozialdemokraten dies den Bauernabgeordneten erklären, würden sie zum Entwurf der Trudowiki einen Abänderungsvorschlag einbringen, in dem die Normen abgelehnt werden, würden sie die Bedeutung der Nationali-, sierung, die mit „Nonnen" nichts gemein hat, theoretisch aufzeigen, so.' würden sich die Sozialdemokraten als Führer der Bauernrevolution gegen die Liberalen erweisen. Die Position, des Menschewismus hingegen bedeutet die Unterordnung des Proletariats unter den liberalen Einfluß. In der II. Duma war.es besonders seltsam zu sagen, daß wir Sozialdemö-

Das Agrarprogramm.der.Sozialdemokratie

425

kräten den Volkstümlern femer stehen, denn die Kadetten erklärten sich für die Beschränkung des Verkaufs und der Verpfändung des Grund und Bodens! " Zereteli kritisierte ferner die Nationalisierung und führte drei Argumente: ins Feld: l.die „Beamtenarmee", 2.die „schreiende Ungerechtigkeit gegenüber den kleinen Nationalitäten", 3. „im Falle der Restauration" „würden wir dem Feinde des Volkes Waffen liefern" (1232). Das ist eine gewissenhafte Darlegung der Anschauungen derjenigen, die unser Parteiprogramm durchgesetzt haben, und Zereteli mußte als Vertreter der Partei diese Anschauungen darlegen. Wie wenig stichhaltig diese Anschauungen sind, wie oberflächlich diese ausschließlich politische Kritik ist, haben wir oben gezeigt. Zugunsten der Munizipalisierung führte Zereteli sechs Argumente an: 1. die Munizipalisierung „wird die wirkliche Verwendung dieser Mittel (d. h. der Rente) für die Bedürfnisse des Volkes (!) sichern" (sie! S. 1233) - eine optimistische Behauptung; 2. „die Munizipalitäten werden bestrebt sein, die Lage der Arbeitslosen zu verbessern", wie zum Beispiel im demokratischen und dezentralisierten Amerika (?); 3. „die Munizipalitäten können diese (Groß-) Wirtschaften in Besitz nehmen und Musterwirtschaften organisieren" und 4. „im Moment einer Agrarkrise . . . den Boden unentgeltlich an die landlosen, unbemittelten Bauern verpachten" (sie! S. 1234). Das ist bereits eine Demagogie, schlimmer als die der Sozialrevolutionäre, ein Programm des kleinbürgerlichen Sozialismus in der bürgerlichen Revolution. 5. „Ein Bollwerk der Demokratie" in der Art der kosakischen Selbstverwaltung,- 6. „dieEnteigmmg des Anteillandes... kann eine furchtbare konterrevolutionäre Bewegung hervorrufen" - vermutlich gegen den Willen aller Bauern, die sich für die Nationalisierung ausgesprochen haben. Das Fazit der sozialdemokratischen Stellungnahme in der II. Duma: die führende Rolle in der Frage der Ablösung, des Zusammenhangs des gutsherrlichen Grundbesitzes mit der Macht des heutigen Staates und im engeren Sinne das Agrarprogramm, das zum Standpunkt der Kadetten abgleitet und von fehlendem Verständnis für die ökonomischen und politischen Bedingungen der Bauemrevolution zeugt. Das Fazit der gesamten .Agrärdebatte in der II. Duma: Die rechten Gutsbesitzer zeigten das klarste Verständnis für ihre Klasseninteressen, 28 Lenin, Werke, Bd. 13

426

W.J.Lenin

die deutlichste-Erkenntnis sowohl der ökonomischen als auch der politischen Bedingungen für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft als Klasse im bürgerlichen Rußland. Die Liberalen haben sich ihnen im Grunde genommen angeschlossen und versucht, den Bauern mit den verabscheuungswürdigsten und heuchlerischsten Methoden an den Gutsbesitzer auszuliefern. Die volkstümlerischen Intellektuellen verliehen den bäuerlichen Programmen einen Beigeschmack von Bürokratismus und kleinbürgerlicher Klugrednerei. Die Bauern brachten in der stürmischsten und unmittelbarsten Weise den spontanen revolutionären Geist ihres Kampfes gegen alle Überreste des Mittelalters und gegen alle Formen des mittelalterlichen Grundbesitzes zum Ausdruck, wobei sie jedoch die politischen Bedingungen dieses Kampfes nicht völlig deutlich erkennen und in, naiver Weise das „gelobte Land" der bürgerlichen Freiheit idealisieren. Die bürgerlichen Nationalen schlössen sich dem Kämpf der Bauern mehr oder weniger schüchtern an, da sie in bedeutendem Maße von den engherzigen Anschauungen und Vorurteilen durchdrungen sind, die die Abgeschlossenheit der kleinen Nationalitäten hervorbringt. Die Sozialdemokraten verteidigten; entschieden die Bauerrirevolution, legten den Klassencharakter der heutigen Staatsmacht klar, waren aber infolge der Fehlerhaftigkeit des Agrarprogramms der Partei nicht imstande, die Bauernrevolution konsequent zu leiten. SCHLUSSFOLGERUNGEN Die Agrarfrage bildet die Grundlage der bürgerlichen Revolution in Rußland'und bedingt, die nationale Besonderheit dieser Revolution. Das Wesen dieser Frage bildet der Kampf der Bauernschaft für die Abschaffung des gutsherrlichen Grundbesitzes und der Überreste der Fronherrschaft im Agrarsystem Rußlands und folglich auch in allen sozialen und politischen Einrichtungen des Landes. Zehneinhalb Millionen Bauernhöfe im Europäischen Rußland haben 75 Millionen Desjatinen Boden. Dreißigtausend hauptsächlich adlige, zum Teil aber auch gemeine Landlords besitzen jeder über 500 Desj., insgesamt 70 Mill. Desj. Das ist der allgemeine-Hintergrund des Bildes. Das sind die Grundbedingungen für die Vorherrschaft der frohherrlichen Gutsbesitzer im Agrarsystem Rußlands und somit auch im russischen

Das Agrarprocjramm der Sozialdemokratie

427

Staat überhaupt und im ganzen russischere Leben. Die Latifundienbesitzer sind Fronherren im ökonomischen Sinne des Wortes: das Fundament ihres Grundbesitzes ist durch die Geschichte der Leibeigenschaft gelegt worden, durch die Geschichte jahrhundertelangen Landraubs des hochgeborenen Adels. Das Fundament ihrer heutigen Wirtschaftsführung sind das System der Abarbeit, d. h. ein direkter Überrest des Frondienstes, die Benutzung des bäuerlichen Inventars, die Knechtung der kleinen Landwirte in unendlich mannigfachen Formen: Verdihgung im Winter, auf ein Jahr beschränkte Pachtdauer, Teilpacht, Arbeitspacht, Schuldknechtschaft, Bindung der Bauern auf Grund der Nutzung der Boden„abschnitte", von Wald und Wiese, der Benutzung der Viehtränke usw. usf. ohne Ende. Im Laufe des letzten halben Jahrhunderts hat die kapitalistische Entwicklung Rußlands schon solche Fortschritte gemacht, daß die Erhaltung der Fronherrschaft in der Landwirtschaft absolut unmöglich geworden ist, und ihre Beseitigung hat die Form einer gewaltsamen Krise, einer gesamtnationalen Revolution angenommen. Die Beseitigung der Fronherrschaft in einem bürgerlichen Land ist jedoch auf zwei Wegen möglich. Die Beseitigung der Fronherrschaft ist möglich durch langsames Hinüberwachsen der fronherrlichen Gutswirtschaften in junkerlich-bürgerliche Wirtschaften, durch Verwandlung der Masse der Bauern in Häusler und Knechte, durch gewaltsame Aufrechterhaltung des elenden Lebensniveaus der Massen, durch Herausbildung kleiner. Gruppen von Großbauern, bürgerlichen Großbauern, die der Kapitalismus unausbleiblich aus den Reihen der Bauernschaft hervorbringt. Die SchwarzhunderterGutsbesitzer und ihr Minister Stolypin haben gerade diesen Weg betreten. Sie haben begriffen, daß es ohne gewaltsame Zerschlagung der überalterten mittelalterlichen Grundbesitzformen unmöglich ist, die, Bahn für die Entwicklung Rußlands freizulegen. Und sie sind an diese Zerschlagung kühn herangetreten im Interesse der Qutsbesitzer. Sie haben die in der Bürokratie und bei den Gutsbesitzern noch unlängst verbreiteten Sympathien für die halbfeudale Dorfgemeinde über Bord geworfen. Um diese gewaltsam zu zerstören, haben sie alle „konstitutionellen" Gesetze umgangen. Sie haben den Kulaken Carte blanche* gegeben, die Bauernmassen zu plündern, den alten Grundbesitz zu zerschlagen, Tausende Wirtschaften zugrunde zu richten; sie haben das mittelalterliche * Carte blanche - freie Hand, unbeschränkte Vollmacht. Die Ked.

428

W.I.Lenin

Dorf dem Besitzer des Rubels zu „Plünderung und Raub" preisgegeben. Sie können nidh.t anders handeln, wenn ihre Herrschaft als Klasse erhalten bleiben soll, denn sie haben die Notwendigkeit erkannt, sich der kapitalistischen : Entwicklung anzupassen, statt sie zu bekämpfen. Um aber ihre Herrschaft zu erhalten, haben sie niemanden, mit dem sie sich gegen die Bauernmassen verbinden könnten, als die „gemeinen" Landlords, die Rasuwajew und Kolupajew. Sie haben keinen anderen Ausweg, als diesen Kolupajew zuzurufen: Enrichissez-vous! Bereichert euch! Wir werden euch die Möglichkeit geben, aus einem Rubel hundert zu machen, helft uns aber, die Grundlage unserer Macht unter den neuen Verhältnissen zu retten! Dieser Entwicklungsweg kann nicht-verwirklicht werden ohne eine unaufhörliche, systematische und zügellose Vergewaltigung der Bauernmassen und des Proletariats. Und die Konterrevolution der Gutsbesitzer beeilt sich auf der ganzen Linie, diese Vergewaltigung zu organisieren. Den anderen Entwicklungsweg nannten wir den amerikanischen Weg der Entwicklung des Kapitalismus, zum Unterschied vom ersten, dem preußischen. Auch er verlangt die gewaltsame Zerschlagung des alten Grundbesitzes - von der Möglichkeit eines schmerzlosen, friedlichen Ausganges der unglaublich verschärften Krise in Rußland können nur die bornierten Spießbürger des russischen Liberalismus träumen. Doch diese notwendige und unausbleibliche Zerschlagung ist auch im Interesse der Bauernmassen, und nicht der Gutsbesitzerbande, möglich. Zur Grundlage der Entwicklung des Kapitalismus kann eine freie Farmermasse ohne jede Gutswirtschaft werden, denn diese letztere ist als Qanzes ökonomisch reaktionär, dagegen sind die Elemente des Farmertums in der Bauernschaft durch die vorausgegangene Wirtschaftsgeschichte des Landes geschaffen worden. Auf diesem Weg muß sich die Entwicklung des Kapitalismus ungleich breiter, freier, rascher vollziehen infolge des gewaltigen Anwachsens des Binnenmarktes, der Hebung der Lebenshaltung, der Energie, der Initiative und der Kultur der gesamten Bevölkerung. Der gewaltige Kolonisationsfonds Rußlands schließlich, dessen Verwertung durch die fronherrliche Unterdrückung der Bauernmassen im eigentlichen Rußland sowie durch die fronherrlich-bürokatische Einstellung zur Bodenpolitik unendlich erschwert ist - dieser Kolonisationsfonds sichert die wirtschaftliche Grundlage für eine gewaltige Erweiterung der

T>as Agrarprogramm der Sozialdemokratie

429

Ländwirtschaft und für die Entfaltung der Produktion nicht nur in die Tiefe, sondern auch in die Breite. ' Ein solcher Entwicklungsweg erheischt nicht nur die Abschaffung des gutsherrlichen Grundbesitzes. Denn die Herrschaft der fronherrlichen Gutsbesitzer hat im Laufe der Jahrhunderte dem ganzen Grundbesitz des Landes, sowohl deni bäuerlichen Anteilland als auch dem Grundbesitz der Siedler in den: verhältnismäßig freien Rändgebieten, seinen Stempel aufgedrückt: die ganze Siedlungspolitik der Selbstherrschaft ist gekennzeichnet durch asiatische Eingriffe eines verknöcherten Beamtentums, das die Siedler gehindert hat, sich frei, einzurichten, in den neuen Bodenverhältnissen eine heillose Verwirrung gestiftet und die Randgebiete Rußlands mit dem Gift des feudalen Bürokratismus Zentralrußlands verseucht hat.* Mittelalterlich ist in Rußland nicht nur der gutsherrliche Besitz, sondern auch der bäuerliche Anteillandbesitz; Der Grundbesitz ist unglaublich verworren. Er zersplittert die Bauernschaft in: Tausende kleine Einheiten, mittelalterliche Gruppen und ständische Kategorien. Er widerspiegelt die hundertjährige Geschichte rücksichtslosester Eingriffe sowohl der zentralen Staatsmacht als auch der lokalen Behörden in die bäuerlichen Bodenverhältnisse. Wie in ein Getto zwängt er die Bauern in kleine mittelalterliche Verbände fiskalischen, fronpflichtigen Charakters, in Verbände zur Verwaltung des Anteillandes, d. h. in die Dorfgemeinden. Und die ökonomische Entwicklung Rußlands reißt faktisdh die Bauernschaft aus diesen mittelalterlichen Verhältnissen heraus/einerseits dadurch, daß sie die Bauern zwingt, Bodenanteile zu verpachten oder überhaupt aufzugeben, anderseits dadurch, daß sie Wirtschaften künftiger freier Farmer (oder künftiger Großbauern eines junkerlichen Rußlands) schafft, und zwar aus Stückchen des verschiedenartigsten Grundbesitzes, aus eigenem und gepachtetem Anteilland, aus käuflich erworbenem, aus gepachtetem gutsherrlichen, gepachtetem fiskalischen Boden usw. Um eine wirklich freie Farmerwirtschaft in Rußland aufzubauen, müssen auf allen Ländereien „die Schranken niedergerissen" werden, sowohl auf dem gutsherrlichen als auch auf dem Anteilland. Der ganze * In seinem Buch „Umsiedlung und Kolonisation" (St. Petersburg 1905) gibt Herr A.Kaufmah einen Abriß der Geschichte der Siedlungspolitik. Als echter „Liberaler" bekundet der Verfasser der Bürokratie der Fronherren maßlose Ehrerbietung. :

430

;rW.J.£enin

mittelalterliche Grundbesitz muß zerschlagen, alle und: jegliche Ländereien müssen für freie Landwirte auf freiem Boden gleichgesetzt werden. Bodentausch, Ansiedlung, Abrundung der Grundstücke, Schaffung neuer, freier Genossenschaften an Stelle der überalterten fronpflichtigen Dorfgemeinde müssen soweit wie nur möglich erleichtert werden. Der ganze Boden muß vom mittelalterlichen Schutt „gereinigt" werden. Der Ausdruck dieser ökonomischen Notwendigkeit ist die Nationalisierung des: Grund und Bodens, die Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden, die Verwandlung des gesamten Grund und Bodens in Staatseigentum als vollständiger Bruch mit den fronherrschaftlichen Zuständen, auf dem.Lande. Eben diese ökonomische Notwendigkeit hat die Bauernmassen in Rußland zu Anhängern der Nationalisierung des Grund und Bodens gemacht. Sowohl auf den Kongressen des Bauernbundes im Jahre 1905 als auch in der ersten Duma 1906 und in der zweiten Duma 1907, d. h. in der ganzen ersten Periode der Revolution, haben sich die kleinen bäuerlichen Grundeigentümer in ihrer Masse für die Nationalisierung ausgesprochen. Sie haben sich in diesem Sinne nicht deshalb ausgesprochen, weil etwa die „Dorfgemeinde" • in ihnen besondere „Keime" entwickelt, sie zu besonderen, nichtbürgerlichen „Arbeitsprinzipien" erzogen hätte: Im Gegenteil, sie haben sich für die Nationalisierung ausgesprochen, weil das Leben von ihnen die Befreiung von der mittelalterlichen Dorfgemeinde und vom mittelalterlichen Anteillandbesitz erheischte. Sie haben sich für die Nationalisierung nicht deshalb ausgesprochen, weil sie eine sozialistische Landwirtschaft aufbauen wollten oder könnten, sondern weil sie eine wirklich bürgerliche, d.h. eine im höchsten Grade von allen Traditionen der Fronherrschaft freie Weine Landwirtschaft aufbauen wollten und wollen, konnten und können. Somit haben nicht der Zufall und nicht der Einfluß der einen oder anderen Doktrin (wie kurzsichtige Leute glauben) die originelle Einstellung der in der russischen Revolution kämpfenden Klassen zur Frage des Privateigentums am Grund und Boden bewirkt. Diese Originalität erklärt sich' vollauf' aus den Entwicklungsbedingungen des Kapitalismus in Rußland und aus den Erfordernissen des Kapitalismus im gegenwärtigen Zeitpunkt dieser Entwicklung. Alle Schwarzhunderter-Gutsbesitzer, die ganze konterrevolutionäre. Bourgeoisie (darunter sowohl die Oktobristen als audo die Kadetten) stellten sich auf die Seite des Privateigentums am

Das Agrarprocjramm derSozialdemokratie

4SI

Grund und Boden- Die ganze Bauernschaft und das ganze Proletariat sind gegen das Privateigentum am Grund und Boden. Der reformerische Weg der Schaffung eines junkerlich-bürgerlichen Rußlands bedingt notwendigerweise die Erhaltung der Grundlagen des alten Grundbesitzes und ihre langsame, für. die Masse der Bevölkerung qualvolle Anpassung. an den Kapitalismus. Der revolutionäre Weg:des wirklichen Sturzes der alten Ordnung verlangt unvermeidlich, als seine ökonomische Grundlage, die Abschaffung aller alten Grundbesitzformen :samt allen alten politischen Einrichtungen Rußlands.-Die Erfahrungen der ersten Periode der russischen Revolution haben endgültig bewiesen, daß die russische Revolution nur als bäuerliche Agrarrevolution siegreich sein kann, und daß diese letztere ohne die Nationalisierung des Grund und Bodens ihre historische Mission nicht in vollem Umfang erfüllen kann. Natürlich kann die Sozialdemokratie als Partei des internationalen Proletariats, als Partei,, die sich weltumspannende sozialistische'Ziele setzt, nicht in irgendeiner Epoche irgendeiner bürgerlichen Revolution aufgehen, nicht ihre Geschicke von diesem oder jenem Ausgang dieser oder jener bürgerlichen Revolution abhängig machen. Wie immer der Ausgang auch sei, wir müssen eine selbständige, rein proletarische Partei bleiben, die die werktätigen Massen konsequent ihrem großen sozialistischen Ziel entgegenfahrt. Wir können daher keinerlei Garantien für die Beständigkeit irgendwelcher Errungenschaften der bürgerlichen Revolution übernehmen, denn die Unbeständigkeit, die innere Widersprüchlichkeit oder ihrer Errungenschaften liegt immanent im Wesen der bürgerlichen Revolution als solcher begründet. Das „Erfinden" von „Garantien gegen eine Restauration" kann nur die Frucht mangelnden Nachdenkens sein. Unsere Aufgabe besteht darin: das Proletariat für die sozialistische Revolution zusammenzuschließen und jeden Kämpf gegen die alte Ordr nung in möglichst entschiedener Form zu unterstützen, die bestmöglichen Bedingungen für das Proletariat in der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft zu verfechten. Hieraus folgt unvermeidlich, daß unser sozialdemokratisches Programm in der russischen bürgerlichen. Revolution nur die Nationalisierung des Grund und Bodens sein kann. So wie jeden anderen 7eil unseres Programms müssen wir auch die Nationalisierung mit bestimmten Formen und einer bestimmten Stufe der politischen Umwandlungen in Verbindung setzen, denn das Ausmaß der politischen

432

.-.'.-.

1C.1 Lenin

und der Agrarumwälzung muß notwendigerweise' gleichartig sein. Wie auch jeden anderen Teil unseres Programms müssen wir sie aufs strengste abgrenzen, von kleinbürgerlichen Illusionen, vom Intellektuellen-- und Beamtengeschwätz über „Normen", Von dem reaktionären Gerede über Festigung der Dorfgemeinde oder ausgleichende Bodennutzung. Die Interessen des Proletariats verlangen nicht die Erfindung einer besonderen Losung, eines besonderen „Plans" oder „Systems" für diese oder jene bürgerliche Umwälzung, sondern nur den folgerichtigen Ausdruck ihrer objektiven Bedingungen und die Säuberung dieser objektiven, ökonomisch zwingenden Bedingungen von Illusionen und Utopien. Die Nationalisierung des Grund und Bodens ist nicht, nur der einzige Weg, um alles Mittelalterliche in der Landwirtschaft restlos zu beseitigen, sondern auch die unter dem Kapitalismus denkbar beste Art, die Agrarverhältnisse zu ordnen. ; Dreierlei Umstände haben die russischen Sozialdemokraten von diesem richtigen Agrarprogramm vorübergehend abgelenkt. Erstens hat der Initiator der „Munizipalisierung" in Rußland, P. Maslow, die Theorie von Marx „berichtigt", die Theorie der absoluten Rente verworfen und die halbverwesten bürgerlichen Lehren vom Gesetz des abnehmenden Bodenertrages, von seinem Zusammenhang mit der Rententheorie usw. aufgefrischt. Die Leugnung der absoluten Rente bedeutet die Leugnung jeder ökonomischen Bedeutung des Privateigentums am Grund und Boden unter dem Kapitalismus und mußte daher notwendigerweise zur Entstellung der marxistischen Auffassung von der Nationalisierung führen. Zweitens. Solange die russischen Sozialdemokraten nicht den Beginn der Bauernrevolution klar vor Augen hatten, mußten sie sich gegenüber der Möglichkeit einer solchen Revolution vorsichtig verhalten, denn ihr Sieg wird tatsächlich nur möglich beim Vorhandensein einer Reihe besonders günstiger Voraussetzungen und bei einem besonders günstigen Aufschwung des revolutionären Bewußtseins, der Energie und der Initiative der Massen. Da die russischen Marxisten über keine Erfahrung verfügten und es für unmöglich hielten, bürgerlidbe Bewegungen zu erfinden, konnten sie vor der Revolution naturgemäß kein richtiges Agrarprogramm aufstellen. Sie begingen jedoch dabei den Fehler, daß sie auch nach dem Beginn der Revolution, anstatt die Theorie von Marx auf: die besonderen russischen Verhältnisse anzuwenden (unsere. Theorie ist kein Dogma, lehrten Marx

Das Agrarprogramm-der Sozialdemokratie

433

und Engels stets, sondern eine Anleitung'-zum-Wandeln), anstatt dessen die Schlüsse unkritisch-wiederholten, die sich aus der Anwendung der Marxschen Theorie auf andere Verhältnisse, auf eine ändere Epoche ergaben. Die deutschen Sozialdemokraten zum Beispiel verzichteten völlig naturgemäß auf alle alten Marxschen Programme, die die Nationalisierung des Grund und Bodens forderten, denn'Deutschland hat sich endgültig zu einem junkerlieh-bürgerlichen Land entwickelt, alle Bewegungen auf dem Boden der bürgerlichen Ordnung haben sich dort unwiderruflich überlebt, eine Volksbewegung zugunsten der Nationalisierung gibt es dort nicht und kann es nicht geben. Die Vorherrschaft der junkerlich-bürgerlichen Elemente hat die Nationalisierungspläne in Wahrheit in ein Spielzeug verwandelt oder sogar in ein Werkzeug der Junker zur Ausplünderung der Massen, Die Deutschen haben recht, wenn sie es ablehnen, von Nationalisierung auch nur zu sprechen, aber diesen Schluß auf Rußland zu übertragen (wie es im Grunde genommen diejenigen unserer Menschewiki tun, die den Zusammenhang zwischen der Munizipalisierung und der Maslowschen Berichtigung der Theorie von Marx nicht bemerken), heißt unfähig zu sein, über die Aufgaben der konkreten-sozialdemokratischen Parteien in den besonderen Perioden' ihrer geschichtlichen Entwicklung nachzudenken. Drittens. Im MunizipaKsierungsprogramm ist die ganze falsche taktische Linie des Menschewismus in der russischen bürgerlichen Revolution deutlich zutage getreten: das Nichtverstehen der Tatsache, daß nur die „Koalition von Proletariat und Bauernschaft"* den Sieg der Revolution sichern kann; das Nichtverstehen der führenden Rolle des Proletariats in der bürgerlichen Revolution, das Bestreben, es beiseite zu schieben, es zu veranlassen, sich einem unzulänglichen Ausgang der Revolution anzupassen, es -aus einem Führer zum bloßen Helfer (in Wirklichkeit zum Hilfsarbeiter und Diener) der liberalen Bourgeoisie zu machen. „Laß dich nicht hinreißen, passe dich an, immer sachte voran, du Arbeitsmann" diese Worte-von Narziß Tuporylow109 gegen die „Ökonomisten"" (die ersten Opportunisten in der SDAPR) bringen durchaus den Qeist unseres heutigen Agrarprogramms zum Ausdruck. Der Kampf gegen die „überschwenglichkeit" des kleinbürgerlichen * So drückte Kautsky sich in der 2. Auflage seiner Broschüre „Die" soziale Revolution" aus.

434

"W.3.£.eniti

Sozialismus darf nicht zur Abschwächuhg,. sondern muß zur Steigerung des Schwunges der Revolution und ihrer vom Proletariat bestimmten Aufgaben führen. Nicht den „Partikularismus" sollen wir fördern, so stark er unter den rückständigen Schichten, des Kleinbürgertums oder der privilegierten Bauernschaft (Kosaken) auch sein mag, nicht die Absonderung der einzelnen Völkerschaften voneinander — nein, wir müssen der Bauernschaft die Bedeutung der Einheit für den Sieg klarmachen, wir müssen eine Losung aufstellen, die die Bewegung .nicht einengt, sondern verbreitert und für die TAnvottständigkeit der bürgerlichen Revolution nicht die falsche Denkweise des Proletariats, sondern die. Rückständigkeit der Bourgeoisie verantwortlich mächt: Wir dürfen unser Programm nicht dem „lokalen" Demokratismus „anpassen", nicht einen unsinnigen, unter einer nichtdemokratischen zentralen Staatsmacht unmöglichen „Munizipalsozialismus" auf dem Lande-erfinden, nicht versuchen, ein kleinbürgerlich-sozialistisches Reformertum in die bürgerliche Revolution hineinzutragen, wir müssen die'Aufmerksamkeit der Massen konzentrieren auf die wirklichen Bedingungen des Sieges dieser Revolution als einer bürgerlichen Revolution, auf die Notwendigkeit nicht nur eines lokalen, sondern unbedingt auch eines „zentralen" Demokratismus, d. h. des Demokratismus der zentralen Staatsmacht, nicht eines Demokratismus schlechthin, sondern unbedingt seiner vollkommensten, höchsten Formen, :denn ohne diese wird die' bäuerliche Agrarrevolution in. Rußland zur "Utopie im wissenschaftlichen Sinne des Wortes. . •". " . - . - . : • . ;. . Man soll nicht glauben, daß gerade der gegenwärtige geschichtliche Zeitpunkt, wo die Schwarzhunderterreaktionäre in der dritten. Duma heulen und brüllen, wo das Wüten der Konterrevolution bis zum nee plus ultra* gelangt ist und die Reaktion an den Revolutionären im allgemeinen, besonders aber an den sozialdemokratischen Abgeordneten der II. Duma, ihre brutale politische Rache übt, mansoll nicht glauben, daß dieser Zeitpunkt für „ausgedehnte" Agrarprogramme ,;ungeeignet" sei. Ein solcher Gedanke entspräche jenem Renegatentum, jenem Kleinmut, jenem Zerfall und jener Dekadenz, von denen breite Schichten der kleinbürgerlichen Intellektuellen erfaßt wurden, die der Sozialdemokratischen Partei Rußlands angehören oder ihr nahestehen.-Das Proletariat wird nur gewinnen, wenn dieser Unrat aus der Arbeiterpartei gründlich hinausgefegt wird. * nee plus ultra - bis zum äußersten. "Die Red.

Letzte Seite von W. I. Lenins Manuskript „Das Agrarprogramra der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907" November—Dezember 1907 Terfeleinert

T>as Agrarprotjramm der Sozialdemokratie

435

Nein, je schlimmer die Reaktion wütet, desto mehr verzögert sie im Grunde genommen die unvermeidliche ökonomische Entwicklung, desto erfolgreidier bereitet sie einen machtvolleren Aufschwung der demokratischen Bewegung vor. Und die Perioden vorübergehenden Stillstands in der Massenaktion müssen wir ausnutzen, um die Erfahrungen der großen Revolution kritisch zu untersuchen, sie zu überprüfen, von Schlakken zu reinigen und den Massen als Anleitung für den kommenden Kampf zu übermitteln. November-Dezember 1907

436

TViJ. Lenin

NACHWORT»" Die vorliegende Arbeit wurde Ende 1907 geschrieben. Im Jahre 1908 wurde sie in Petersburg gedruckt, doch die zaristische Zensur beschlagnahmte und vernichtete sie. Ein einziges Exemplar wurde gerettet, in dem jedoch das Ende (nach S. 269 der vorliegenden Ausgabe) fehlt, so daß dieses jetzt hinzugefügt wurde. In der gegenwärtigen Zeit hat die Revolution die Agrarfrage in Rußland weit mehr als in den Jahren 1905-1907 in ihrer ganzen Breite und Tiefe, in aller Schärfe gestellt. Die Bekanntschaft mit der Geschichte unseres Parteiprogramms in der ersten Revolution wird uns, so hoffe ich, helfen, uns in den Aufgaben der heutigen Revolution besser zurechtzufinden. Besonders ist folgendes hervorzuheben. Der Krieg hat den kriegführenden Staaten so unerhörtes Elend gebracht und hat gleichzeitig, indem er den monopolistischen Kapitalismus in einen staatsmonopolistischen Kapitalismus verwandelte, die Entwicklung des Kapitalismus so ungeheuer beschleunigt, daß sich weder das Proletariat noch die revolutionäre kleinbürgerliche Demokratie auf den Rahmen des Kapitalismus beschränken können. Das Leben ist bereits über diesen Rahmen hinausgegangen, indem es solche Aufgaben auf die Tagesordnung stellt, wie die Regelung der Produktion und Verteilung im gesamtstaatlichen Maßstab, allgemeine Arbeitsdienstpflicht, zwangsweise Syndizierung (Vereinigung in Verbänden) usw. Bei einer solchen Lage der Dinge muß unvermeidlich auch die Nationalisierung des Grund und Bodens im Agrarprogramm eine andere Stellung einnehmen. Und zwar: Die Nationalisierung des Grund und Bodens ist

Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie

437

nicht nur das „letzte Wort" der bürgerlichen Revolution, sondern ist auch ein Schritt zum Sozialismus. Man kann nicht das Elend des Krieges bekämpfen, ohne solche Schritte zu tun. Das Proletariat, das die arme Bauernschaft führt, muß einerseits den Schwerpunkt seiner Tätigkeit von den Sowjets der Bauerndeputierten auf die Sowjets der Landarbeiterdeputierten verlegen und anderseits die Nationalisierung des Inventars der Gutswirtschaften und gleichzeitig ihre Verwandlung in Musterbetriebe unter Kontrolle der letztgenannten Sowjets fordern. Ich kann jetzt natürlich nicht ausführlicher auf diese äußerst wichtigen Fragen eingehen und muß den interessierten Leser auf die laufende bolschewistische Literatur und auf meine Broschüren „Briefe über die Taktik" und „Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution (Entwurf einer Plattform der proletarischen Partei)" verweisen. 28. September 1917 Veröffentlicht 1917 in dem Buch „ "Das Agrarprögramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907".

Der Verfasser Nado dem 7ext des Budhes.

438

ZU DEN DEBATTEN ÜBER DIE ERWEITERUNG DER BUDGETRECHTE DER DUMA»*

In drei Sitzungen, am 12., 15. und 17. Januar, erörterte die Reichsduma die Erweiterung ihrer Budgetrechte. Die Kadettenpartei brachte einen mit der Unterschrift von 40 Dumamitgliedem versehenen Entwurf für eine solche Erweiterung ein. Die Vertreter aller Parteien äußerten sich zu dieser Frage. Im Namen der Regierung hielt der Finanzminister zwei lange Reden. Audi ein Vertreter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ergriff das Wort, und die Diskussion fand ihren Abschluß mit der einstimmigen (so berichtet die „Stotitsdhnaja Potsdbta"m vom 18. Januar) Annahme des oktobristisdhen Antrags: der Gesetzentwurf über die Erweiterung der Budgetrechte der Reichsduma ist der Kommission zu überweisen, „ohne auf den "Umfang dieser Änderungen einzugehen", d. h. der Veränderung der Bestimmungen vom 8. März, die die Budgetrechte der Reichsduma außerordentlich beschränken. Wie konnte etwas so Seltsames geschehen? Wie war es möglich, daß in der III. Duma, in der Duma der Schwarzhunderterreaktionäre, einstimmig ein oktobristischer Antrag angenommen wurde, der im Grunde den Wünschen der Regierung entsprach und nach der ersten Rede des Finanzministers gestellt wurde, der gerade einen solchen Ausweg angedeutet hatte. Im Wesen der Sache ist der kadettische Entwurf unannehmbar; doch was Einzelheiten betrifft - warum sollte da das Gesetz nicht geändert werden? So hatte der Minister der Schwarzhunderter erklärt. Dieser Erklärung gemäß faßten die Oktobristen ihren Antrag ab, d. h., sie betonten, daß sie auf den IXmfang der Qesetzesänderungen nidot eingeben. Daß die Oktobristen sich mit dem Schwarzhunderterminister zusam-

Zu den Debatten über die Erweiterung der Budgetredhte der Duma 439 mengefunden haben, ist nicht verwunderlich. Daß die Kadetten ihre Fassung (in der natürlich .kein Wort darüber stand, daß sie auf den Umfang der von ihnen selbst vorgeschlagenen Änderungen vidht eingehen!) zurückzogen, ist ebenfalls für niemanden verwunderlich, der die wahre Natur der Kadettenpartei kennt. Daß aber die Sozialdemokraten an einer solchen Einstimmigkeit mitwirken konnten, ist unglaublich, und wir möchten gern annehmen, die „Stolitsdhnaja Potsdbta" habe gelogen und die Sozialdemokraten hätten nicht für die oktobristische Resolution gestimmt. _ . .'..".•_'._•'. übrigens gibt es hier eine wichtigere Frage als die, ob die Sozialdemokraten für die Oktobristen gestimmt haben oder nicht, nämlich die Frage des JeMers, den der sozialdemokratische Abgeordnete Pokrowski 2 zweifellos begangen hat. Auf diesen Fehler eben und auf die wahre politische Bedeutung der Debatte vom 12., 15. und 17. Januar möchten wir die Aufmerksamkeit der Leser lenken. Die russische Reichsduma hat keine Budgetrechte, dehn die Ablehnung des Budgets führt „gesetzlich" nicht zur Suspendierung seiner Durchführung. Dieses von der konterrevolutionären Regierung nach der Niederlage des Dezemberaufstandes erlassene Gesetz (20. Februar 1906,-die berüchtigten „Grundgesetze") ist eine Verhöhnung der Volksvertretung durch die Schwarzhunderter, den Zaren und die Gutsbesitzer. Die „Bestimmungen" vom 8: März 1906 unterstreidhen diese Verhöhnung noch mehr: sie führen für die Budgttverhandlungen der Duma einen Haufen kleinlicher Beschränkungen ein und legen sogar fest (in Artikel 9), daß „bei der Erörterung des Staatshaushaltsvoranschlags Einnahmen und Ausgaben, die auf Grund der geltenden Gesetze, Personaletats, Festlegungen sowie auf Grund allerhöchster, in Ausübung der höchsten Gewalt erteilter Befehle in den Entwurf aufgenommen worden sind, nicht gestrichen oder geändert werden können". Ist das- etwa keine Verhöhnung? Nichts darf geändert werden, was den Gesetzen, den Personaletats, den Festlegungen oder ganz einfach den allerhöchsten Befehlen entspricht!! Ist es danach nicht einfach lächerlich, von Budgetrechten der russischen Reichsduma zu reden? Es fragt sich nun: Welches waren die Aufgaben einer wirklich um die Freiheit kämpfenden bürgerlichen.Demokratie angesichts einer solchen Situation? Welches sind die Aufgaben der Arbeiterpartei? - wir sprechen

440

v

• 'W.'J.Zenin-

in diesem Artikelnur von den Aufgaben des parlamentarischen Kampfes und der parlamentarischen Vertreter der entsprechenden Partei. Es ist klar, daß die Frage der Budgetrechte der Duma in ihr zur Sprache gebracht werden mußte, um sowohl vor dem russischen Volk als auch vor Europa den ganzen Schwarzhunderterhohn des Zarismus, die ganze Rechtlosigkeit der Duma völlig klarzustellen. Das unmittelbar praktische Ziel einer solchen Klarstellung wurde (ganz abgesehen von der Grundaufgabe eines jeden Demokraten, vor dem Volk die Wahrheit aufzudekken, sein Bewußtsein zu entwickeln) auch durch die Anleihefrage bestimmt. Die Schwarzhunderterregierung des Zaren konnte sich nach dem Dezember 1905 und kann sich auch heute nicht halten, wenn nicht das TVeltkapttal der internationalen Bourgeoisie sie durch Anleihen unterstützte. Und die Bourgeoisie aller Länder gibt einem offenkundigen Bankrotteur, dem Zaren, Milliardenanleihen, nicht nur weil sie, wie jeder Wucherer, von hohen Profiten angelockt wird, sondern auch weil sie ihr Interesse am Sieg der alten Ordnung über die Revolution in Rußland erkennt, zumal an der Spitze dieser Revolutiondas Proletariat marschiert. Somit konnte Zweck und Ziel der Aufrollung dieser Frage und der Debatte in der Duma nur die Aufdeckung der ganzen Wahrheit sein. Praktisches Reformertum konnte im gegenwärtigen Zeitpunkt und unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht das Ziel eines "Demokraten sein, denn 1. ist klar, daß auf dem Boden der gegenwärtigen Grundgesetze über die Budgetrechte der Duma Reformen unmöglich sind, 2. wäre es unsinnig, für die Duma der Schwarzhunderterreaktionäre und der Moskauer Kaufleute zu beantragen, daß ihre Rechte, die Rechte einer solchen Duma, erweitert werden. Die russischen Kadetten (nur Unwissende oder Einfaltspinsel konnten sie als Demokraten betrachten) haben diese Aufgabe natürlich nicht begriffen. Nachdem sie die Frage aufgeworfen hatten, stellten sie diese sogleich auf den falschen Boden einer 7eilreiorm. Wir leugnen natürlich nicht, daß zuweilen gerade die Frage einer Teilreform von Demokraten und Sozialdemokraten zur Sprache gebracht werden kann und muß. Doch in einer solchen Duma, wie es die III. Duma ist, in einem Augenblick, wie dem gegenwärtigen, in einer Frage, wie es das von den unantastbaren Grundgesetzen bis zur Lächerlichkeit entstellte Budgetrecht ist, war das sinnlos. Die Kadetten durften diese Frage in Gestalt einer Teilreform aufrollen - wir sind selbst zu diesem-Zugeständnis

Zu den "Debatten über die Erweiterung der Budgetrecbte der Duma 441

bereit -, aber die Demokraten durften diese Frage nicht so behandeln, wie es die Kadetten taten. Die Kadetten betonten die sogenannte sachliche Seite der Frage, wie unbecfuem die Bestimmungen vom 8. März, wie unvorteilhaft sie sogar für die Regierung seien, xmd verwiesen auf die Geschichte dessen, wie die verschiedenen idiotischen Gesetze gegen die Duma in den idiotischen Kanzleien Bulygins, Wittes und der übrigen Bande geschrieben wurden. Am deutlichsten kommt der Qeist des kadettischen Standpunkts zu der Frage in den folgenden Worten des Herrn Schingärjow zum Ausdruck: „Der Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, enthält keinerlei Anschläge (im Sinne einer Einschränkung der Prärogativen des Monarchen), keinerlei Hintergedanken (!!). Der Entwurf erstrebt nur die Be^uemKd»keit der Dumaarbeiteny die Wahrung ihrer Würde, geht von der Notwendigkeit aus, die Arbeit zu leisten, zu der wir berufen sind" (hervorgehoben von uns, S. 1263 der offiziellen stenografischen Berichte, Sitzung vom 15. Januar 1908).. Ein solches Subjekt vernebelt nur das Bewußtsein des Volkes, statt es zu .erhellen, denn was es sagt, ist offenkundig Lüge und Unsinn. Selbst wenn dieser Herr Schingärjow, samt seiner ganzen kadettischen Politikastergesellschaft, an den „Nutzen" seiner „Diplomatie" aufrichtig glauben sollte, müssen wir diese unvermeidliche Schlußfolgerung ziehen. Der Demokrat hat die Pflicht, dem Volk die"Kluftzwischen den Rechten des Parlaments und den Prärogativen des Monarchen aufzuzeigen, nicht aber sein Bewußtsein zu verdunkeln, den politischen Kämpf zu entstellen/indem' er ihn auf papierne 'Korrekturen an den Gesetzen reduziert. Wenn die Kadetten die Frage derart stellen, so zeigen sie, daß sie in der 7at Konkurrenten der zaristischen Bürokratie und der Oktobristen sind, nicht aber Kämpfer für die Freiheit, sei es auch nur die Freiheit für die Großbourgeoisie allein. So reden nur banal liberalisierende Bürokraten, nicht aber Vertreter einer parlamentarischen Opposition. In der Rede des sozialdemokratischen Vertreters Pokrowski2 - wir konstatieren das mit Genugtuung — tritt offenkundig ein anderer Geist in Erscheinung, wird die Frage prinzipiell anders. gestellt. Der Sozialdemokrat erklärte klipp und klar, er betrachte die Volksvertretung in der III. Duma als verfälscht (wir zitieren nach der „Stolitsdmaja Potsdhta" vom 18. Januar, da der stenografische Bericht über diese Sitzung noch 29 Lenin, Werke, Bd. 13

442



. •

W.J.£,enin

nicht in unserem Besitz ist). Er .hob nicht Einzelheiten, nicht die Kanzleigeschichte des Gesetzes hervor, sondern das Elend, die Unterdrückung der Volksmassen, der Millionen und aber Millionen. Er bemerkte richtig, man könne „über die Budgetrechte der Reichsduma nicht ohne Ironie sprechen", er erklärte, daß wir nicht nur das Recht auf Änderung des ganzen Budgets fordern (der Streit in der Duma zwischen dem Beamten mit einträglichem Posten, Kokowzow, und den Beamten ohne einträglichen Posten, Schingarjow und Adshemow, drehte sich hauptsächlich um Zulässigkeit und Qrenzen einer ^Umarbeitung"), sondern auch das Recht, „das ganze Finanzsystem umzugestalten", das Recht, „das Budget der Regierung zurückzuweisen". Er schloß mit der nicht weniger richtigen und für ein Mitglied der Arbeiterpartei obligatorischen Forderung nach „unbeschränkter Volksherrschaft". In allen diesen Punkten vertrat Pokrowski gewissenhaft und richtig den sozialdemokratischen Standpunkt. Doch er beging dabei einen bedauerlichen-Fehler - u n d diesen' Fehler scheint, nach den Presseberichten zu urteilen, die ganze sozialdemokratische Fraktion begangen zu haben, indem sie ihrem Redner eine solche Direktive erteilte. Pokrowski erklärte: „Wir unterstützen den Antrag der 40, da er letztlich eine Erweiterung der Budgetredhte der Volksvertretung bezweckt." . • Wozu diese Erklärung über die Unterstützung eines Antrags, der offensichtlich in prinzipieller Hinsicht inkonsequent, unvollständig ist; der offensichtlich von prinzipienlosen Leuten unterschrieben wurde, die unfähig sind, auch nur eine Spur von Festigkeit an den Tag zu legen, eines Antrags, der praktisch wertlos und zwecklos ist? Das war nicht Unterstützung der kämpfenden Bourgeoisie (eine Formel, mit der viele ihre politische Charakterlosigkeit zu rechtfertigen lieben), sondern Unterstützung des Wankelmuts der liberal-oktobristischen Bourgeoisie. Daß dem so ist, haben sofort die Tatsachen bewiesen. Die Kadetten selbst bewiesen es, indem sie ihren Antrag zurückzogen und sich dem oktobristischen anschlössen-.- „Der Entwurf ist der Kommission zu überweisen, ohne auf den Umfang der am Qesetz vorzunehmenden Änderungen einzugehen (!).".Zum hundertsten und tausendsten Male führte die „Unterstützung" der Kaderien zum Betrug an den-Unterstützenden. Zum hundertsten und tausendsten Male wurde durch Tatsachen die ganze Jämmerlichkeit, die ganze Unzulässigkeit der Taktik der Unterstützung

Z« den Debatten über die Erweiterung der Budgetredhte der Vuma

443

liberaler, kadettischer Anträge, die sich auf der Linie usw. bewegen, auf: gedeckt.* .•.•.' / Hätten die • Kadetten, statt sich den Oktobristen anzuschließen, eine Erklärung zur Abstimmung gestellt, worin klipp und klar von der Ohnmacht der Duma in Finanzfragen die Rede gewesen wäre, von der verfälschten Völksvertretung, von-der Ruinierung des Landes durch die Selbstherrschaft, von dem unabwendbaren Finanzkrach, von der Weigerung der Vertreter der Demokratie, unter solchen Umständen die Garantie für Anleihen zu übernehmen — so wäre dies ein- ehrlicher Schritt bürgerlicher Demokraten, eine Kampftat und nicht ein Akt stumpfsinnigen Lakaientums gewesen. Eine solche Tat hätten: wir unterstützen müssen, ohne dabei aber zu vergessen, unsere besonderen und selbständigen sozialdemokratischen Ziele.zu betonen. Eine-solche Tat hätte geholfen, das Volk aufzuklären und die Selbstherrschaft zu entlarven. Die Ablehnung einer solchen Erklärung durch die Duma, die rasende Empörung der Schwarzhunderter über einen solchen Antrag wäre ein historisches Verdienst der Demokratie gewesen und möglicherweise die Etappe eines neuen Kampfes um die Freiheit. So aber ist das Ganze wiederum ein Reinfatl der Kadetten. Sozialdemokratische Genossen in der Duma! Haltet die Ehre der sozialistischen Arbeiterpartei hoch, kompromittiert euch nicht, indem ihr einen derartigen Liberalismus unterstützt! Ein zügelloser Rechter wich in der Duma von der Taktik der Oktobristen ab, Meinungsverschiedenheiten zu vertuschen und die Kadetten zu Kompromissen anzulocken. Kowalenko, ein Schwarzhunderter, trat am 12. Januar in der Reichsduma offen dafür ein, der kadettische Entwurf solle nicht einmal der Kommission überwiesen werden (S. 1192 des stenografischen Protokolls). Aber gestimmt hat dieser Held augenscheinlich mit den Oktobristen: mutig war er nur in Worten. In seiner Rede illustrierte * Die „kopflose" Zeitung „Stolitschnaja Potschta" erklärt durch den Mund eines gewissen Herrn Saturin: „Die Opposition stimmte durchaus vernünftigerweise (!) für sie" (für die oktobristische Resolution). „Infolgedessen wurde der Abänderungsantrag" (d. h. die Resolution, die den Umfang der Änderungen nicht bestimmt) „einstimmig angenommen." (18. Januar, S. 4, „Aus dem Sitzungssaal".) Es lebe die Einmütigkeit der rassischen kopflosen Liberalen mit den Oktobristen und den Ministem des Schwarzhunderterzaren!

444

.

/W. 7. Lenin

er ausgezeichnet die wahre Lage der Dinge, indem er sich zum Beweis der Notwendigkeit besonderer Machtbefugnisse auf folgendes Beispiel berief: „Nehmen wir z. B. den Moskauer Aufstand, die Entsendung von Strafexpeditionen. Hatte etwa die Regierung damals Zeit, den üblichen-Weg zu g e h e n . . . " (S. 1193.) Es ist schade, daß sich die Sozialdemokraten solche Fünkchen von Wahrheit bei "den Schwarzhundertern nicht zunutze mädoen - Sie haben recht, Kollege Abgeordneter, hätte man ihm sagen sollen, für den üblichen Weg ist da keine Zeit. Lassen wir doch die Heuchelei, und geben wir zu, daß wir nicht auf dem „üblichen Weg" sind, sondern mitten im "Bürgerkrieg; daß die Regierung nicht regiert, sondern Krieg führt, daß der Zustand Rußlands der Zustand eines mit Mühe niedergehaltenen Aufstandes ist. Das wird die Wahrheit sein, und es ist nützlich, das Volk möglichst-oft an die Wahrheit zu erinnern! „ Sozial-Demokrat" 5Vf\ i, Tebruar 1908. ; Untersdbrift:"N. Lenin.

.. . . .

91ad) dem 7ext des ,Sozia1-T>emokrat°.

445

POSTSKRIPTUM ZUM ARTIKEL „ZU DEN DEBATTEN ÜBER DIE ERWEITERUNG DER BUDGETRECHTE DER DUMA" Die Duma hat nunmehr mit der Erörterung des Budgets selbst begonnen. Schon am ersten Tag der Diskussion zeigte sich der Block zwischen den Reaktionären und den quasioppositionellen Verrätern der Volksfrei^ heit. In der legalen Presse das gleiche Bild: die Leute vom „Nowoje Wremja" begrüßen den Zusammenschluß aller, abgesehen von den „linken Fanatikern", d. h. den Sozialdemokraten und Trudowiki... „Nascha Gaseta"113, die Zeitung der „kopflosen" Gesellschaft, ist außer sich vor Entzücken. Ein Tag „sachlicher Arbeit", der „mit der mangelhaften Behandlung des Budgets nach einzelnen Posten" ^aussöhnt" . . . Die „Opposition" bewegt sich im Schlepptau der offenen Reaktion. Gerade hier fällt den Abgeordneten der Arbeiterklasse und der Demokratie die verantwortungsvolle, ehrenvolle Rolle wahrer Vertreter des geplünderten Volkes zu. Unglücklicherweise jedoch sind die ersten Budgetreden unserer Genossen in der Duma äußerst mißlungen, enthalten schwere Fehler. In der nächsten Nummer des >,Proletari" werden -wir diese Fehler eingehend prüfen und die von unserem Standpunkt aus notwendige Verhaltungsweise der Sozialdemokraten in den Diskussionen und Abstimmungen über das Budget umreißen.114 „Proletari" 5Vr. 27, (8. April) 26. März 1908.

Vlaäi dem 7ext des „Troletari".

446

POLITISCHE N O T I Z E N

Die Chauvinisten sind an der Arbeit. Eifrig werden Gerüchte über Kriegsrüstungen der Japaner, über die Konzentrierung von 600 Bataillonen in der Mandschurei zum Überfall auf Rußland verbreitet. Die Türkei rüste angeblich eifrig, um schon in diesem Frühjahr Rußland den Krieg zu erklären. Es heißt auch, im Kaukasus werde ein Aufstand vorbereitet, um die Lostrennurig1 von; Rußland zu vollziehen (es fehlt nur noch ein Geschrei über Pläne der Polen!). Die Hetze gegen Finnland wird durch erfundene Geschichten über seine Rüstungen angefacht. Anläßlich des Baus einer Eisenbahnlinie in Bosnien wird eine erbitterte Kampagne gegen Österreich entfaltet. Es mehren sich die Ausfälle der russischen Presse gegen Deutschland, das angeblich die Türkei gegen Rußland aufhetzt. Die Kampagne wird nicht nur in der russischen, sondern auch in der französischen Presse geführt, ah deren Korrumpierung durch die russische Regierung erst vor kurzem und so zur rechten Zeit ein Sozialdemokrat in der Duma erinnert hat. Die ernsthafte bürgerliche Presse des Westens Weigert sich, diese ganze Kampagne als Ausgeburt der Phantasie von Zeitungsschreibern oder als Mache sensationslüsterner Leute zu betrachten. Nein, augenscheinlich geht von den „regierenden Kreisen" - lies: vonder zaristischen Schwarzhunderterregierung oder von einer geheimen Hofkamarilla in der Art der berüchtigten „Sternkammer" — eine durchaus bestimmte Parole, eine systematische „Linie" aus, augenscheinlich hat man eine Art „neuen Kurs" eingeschlagen. Daß man die Türen der Dumakommission für Landesverteidigung für alle Dumamitglieder, die ihr nicht angehören, d. h. nicht nur für die revolutionären Parteien, sondern auch für die Kadetten geschlossen hat, wird von der ausländischen Presse in direkten Zusammenhang mit dieser chauvinistischen Kampagne gebracht; man meint sogar, die

Politische Notizen

447

russische Regierang beabsichtige, um ihrer Verhöhnung des „Konstitutionalismus" die Krone aufzusetzen, um Kredite für militärische Verstärkungen an der Grenze nicht die ganze Duma, sondern nur die aus Schwarzhundertern und Oktobristen zusammengesetzte Kommission zu ersuchen. Hier einige Zitate aus europäischen, durchaus nicht sozialistischen ZeiL tungen, die keinesfalls des Optimismus in puncto russische Revolution verdächtigt werden können: „Die deutschen Siege über Frankreich (im Jahre 1870)'entfachten, wie Bismarck einmal bemerkte, den Ehrgeiz der russischen Militärs, und sie streckten ihre Hände ebenfalls nach Kriegslorbeeren aus. Aus politischen, religiösen und historischen Gründen schien ihnen die Türkei ein besonders geeignetes Objekt dafür zu sein (Krieg mit der Türkei 1877/1878). Augenscheinlich sind auch jetzt bestimmte Kreise Rußlands, die die Lehren des japanischen Krieges vergessen haben und die wahren Bedürfnisse des Landes nicht erkennen, der gleichen Meinung. Da es auf dem Balkan keine ,Brüder' mehr zu befreien gibt, muß man andere Mittel ersinnen, um die russische öffentliche Meinung za beeinflussen. Diese Mittel sind aber, um die Wahrheit zu sagen, noch plumper als die damaligen: Man will den Eindruck erwecken, als sei Rußland von inneren und äußeren Feinden umringt." ' . „Die regierenden Kreise Rußlands wollen versuchen, ihre Lage durch erprobte Mittel zu festigen, d. h. die Befreiungsbewegung im Lande gewaltsam zu unterdrüdcen und die Aufmerksamkeit des Volkes von der traurigen Lage im Innern dadurch abzulenken, daß sie nationalistische Gefühle wecken und diplo-i matische Konflikte schaffen, deren Folgen nicht abzusehen sind." Welche Bedeutung hat diese neue chauvinistische Linie in der Politik der konterrevolutionären Selbstherrschaft? Nach Tsushima und Mukden können sich auf eine solche Politik nur Leute werfen, die endgültig jeden Boden unter den Füßen verlieren. Die Erfahrung zweier jähre Reaktion hat der Schwarzhunderter-Selbstherrschaft trotz aller Anstrengungen keinerlei zuverlässige' innere Stütze gebracht, hat keinerlei neue Klassenelemehte ins Leben gerufen, die die Selbstherrschaft wirtsdhaftHdh erneuernkönnten. Anders aber können keine Brutalitäten, kann kein noch so zügelloses Wüten der Konterrevolution das gegenwärtige politische Regime Rußlands aufrechterhalten. • Sowohl Stölypin als auch die Schwarzhünderter-Gutibesitzer und die Oktobristen sind sich darüber im klaren/daß es für sie unmöglich ist, sich

448

;

W.J. Lenin

an der Macht zu halten, wenn sie sich nicht neue Klassenstützpunkte schaffen. Daher ihre Politik der, restlosen Ruinierung der Bauernschaft, der gewaltsamen Zerstörung der Dorf gemeinde, um dem Kapitalismus in der Landwirtschaft, koste es, was es wolle, den Weg zu ebnen. Die rassischen Liberalen, die; gelehrtesten, die gebildetsten, die „humansten" unter ihnen - etwa-die Professoren von den „Russkije Wedomosti" - , erweisen sich in dieser Beziehung ungleich stumpfsinniger als die Stolypin. „Es wird keineswegs erstaunlich sein", schreibt der Leitartikler dieser Zeitung am 1. "Februar, „wenn z. B. bei der Entscheidung über die Geschicke der provisorischen Bestimmungen vom. November die gestrigen Anhänger der Dorfgemeinde und Slawpphilen den Versuch der Regierung unterstützen werden, die Dorfgemeinde dadurch zu zerstören, daß sie den Boden zum persönlichen Eigentum der einzelnen Hofbesitzer e r k l ä r t . . . Man kann sogar annehmen, daßro\etari"7ir.2i, 26.(i3.)Jebmari9Q8.

.

TJadh dem Jexl des „Proletari".

453

ERKLÄRUNG DER REDAKTION DES „PROLETARI" In Nr. 20 der „Neuen Zeit" lesen wir in der Vorbemerkung eines uns unbekannten Übersetzers von A. Bogdanows Artikel über Ernst Mach folgendes: „In der russischen Sozialdemokratie beschäftigt man sich sehr lebhaft mit Mach und ist leider auf dem besten Wege, die Stellung zu Mach zu einem der: Merkmale der Fraktionen in der Partei zu machen. Die sehr ernsten taktischen Differenzen der ,B°l scne 'mki' und jMenschewiki' werden verschärft durch die in unseren Augen davon ganz unabhängige Frage, ob der Marxismus erkenntniskritisch mit Spinoza und Holbach oder mit Mach und Avenarius im Einklang steht." Aus diesem Anlaß hält es die Redaktion des „Proletari" als ideologische Vertreterin der bolschewistischen Strömung für notwendig, folgendes zu erklären: Dieser philosophische Streit ist in Wirklichkeit nicht fraktionell ler Natur und darf es nach Ansicht der Redaktion auch nicht sein; jeder Versuch, diese Meinungsverschiedenheiten als Merkmale der Fraktionen hinzustellen, ist grundverkehrt. In der einen wie in der anderen Fraktion gibt es Anhänger beider philosophischer Richtungen. „7>roJetari"7slr.2i', 26. Ci3.)7ebruar'i908.

"Nadi dem 7ext des „Proletari".

454

AN A. M. GORKI

25.11.1908

•••••••

Lieber A. M.! Ihren Brief habe ich nicht gleich beantwortet, da ich wegen Ihres Artikels oder in einem gewissen Zusammenhang mit ihm, wie merkwürdig das auch auf den ersten Blick scheinen mag, mit AI. AI. in der Redaktion ziemlich heftig aneinandergeraten bin 1 1 6 ... Hm, hm . . . ich habe nidbt an der Stelle Und nicht aus dem Anlaß gesprochen, wie Sie vermuteten! . ; . • • ' . , , ; Das kam so. Das Buch „Beiträge zur Philosophie'des Marxismus" 117 hat die unter den Bolsdaewiki seit langem bestehenden Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Philosophie außerordentlich verschärft. Ich halte mich in diesen Fragen nicht für kompetent genug, und deshalb beeile-ich mich nicht, in der Presse hervorzutreten. Aber stets habe ich unsere Parteidiskussiohen über Philosophie aufmerksam verfolgt - angefangen von Plechanows Kampf gegen Michailowski und Co. Ende der achtziger Jahre und bis 1895, dann seinen Kampf mit den Kantianern 1898 und in den folgenden Jahren (damals habe ich diesen Kampf schon nicht nur verfolgt, sondern seit 1900, als Redaktionsmitglied der „Sarja", zum Teil auch daran teilgenommen), schließlich seinen Kampf mit den Empiriokritikern und Co. Bogdanows philosophische Schriften habe ich seit seinem energetischen Buch über die „Historische Naturauffassung" verfolgt, das ich während meines Aufenthalts in Sibirien studiert habe. Für Bogdanow war diese Position nur ein Übergang zu anderen philosophischen Anschauungen. Seine persönliche Bekanntschaft machte ich 1904, wobei wir einander

Erste Seite von W. I. Lenins Brief an A. M. Gorki 25. Februar 1908 Verkleinert

AnA.M.Qorki

457

sofort Präsente machten, ich ihm - die „Schritte"118, er mir - seine damalige philosophische Arbeit118. Und gleich darauf (im Frühjahr oder zu Beginn des Sommers 1904) schrieb ich ihm aus Genf nach Paris, er habe mich durch seine Schriften gründlich davon überzeugt, daß seine Ansichten falsch und die Ansichten Plechanows richtig sind. Mit Plechanow habe ich mich, als wir zusammenarbeiteten, des öfteren über Bogdanow unterhalten. Plechanow setzte mir die Unrichtigkeit der Bogdanowschen Ansichten auseinander, hielt "jedoch diese Abweichung keineswegs für schrecklich groß. Ich erinnere mich sehr genau, daß Plechanow und ich im Sommer 1903 im Namen der Redaktion der „Sarja" mit einem Redaktionsbeauftragten der „Beiträge zu einer realistischen Weltanschauung"120 in Genf eine Unterredung hatten und uns zur Mitarbeit bereit erklärten-, ich in der Agrarfrage, Plechanow auf philosophischem Qebiet gegen Madh. Sein Auftreten gegen Mach stellte Plechanow als Bedingung für die Zusammenarbeit - eine Bedingung, die von dem Redaktionsbeauftragten der „Beiträge" durchaus akzeptiert wurde. Plechanow sah damals in Bogdanow einen Verbündeten im Kampf gegen den Revisionismus/aber einen Verbündeten, der irrte, soweit er Ostwald und im weiteren Mach folgte. Im Sommer und Herbst 1904 sind wir uns mit Bogdanow als "Bolsdhewiki endgültig einig geworden und haben jenen stillschweigenden und die Philosophie als neutrales Gebiet stillschweigend ausschließenden Block gebildet, der die ganze Revolution hindurch fortbestanden und es uns ermöglicht hat, in der Revolution gemeinsam jene Taktik der revolutionären Sozialdemokratie (—des Bolschewismus) zu verfolgen, die meiner tiefsten Überzeugung nach die einzig richtige gewesen ist. In der bewegten Zeit der Revolution kam man wenig dazu, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Im Gefängnis schrieb Bogdanow Anfang 1906 ein weiteres Buch - ich glaube, Buch III des „Empiriomonismus". Im Sommer 1906 schenkte er es mir, und ich begann es-aufmerksam zu lesen. Nachdem ich es gelesen hatter packte mich eine ungeheure Wut: es wurde mir noch klarer, daß er einen grundfalschen, nicht marxistischen Weg geht. Ich schrieb ihm damals eine „Liebeserklärung", ein Brieflein über Philosophie im Umfang von drei.Heften. Dort setzte ich-ihm auseinander, daß ich in der Philosophie natürlich nur ein einfadher Marxist sei, daß mich aber gerade seine klarenr populären, vortrefflich geschrie30 Lenin, Wecke, Bd. 13

458

WJ. Lenin

benen Arbeiten, endgültig : davon überzeugt, hätten, daß im Wesen der Sache er unrecht und Plechanow recht hat. Selbige Hefte zeigte ich einigen Freunden (darunter Lunats'cbarski) und trug mich mit dem Ger danken, sie unter dem Titel „Betrachtungen eines einfachen Marxisten über Philosophie" zu veröffentlichen; bin aber nicht dazu gekommen. Jetzt bedaure ich, daß ich sie damals nicht gleich drucken ließ. Dieser Tage habe ich nach Petersburg geschrieben und gebeten, die Hefte ausfindig zu machen und mir zu schicken.121 Nunmehr sinddie „Beiträge zur Philosophie des Marxismus" erschienen. Ich habe alle Artikel gelesen, außer dem Suworo.wschen (bei dem ich eben bin),.und bei jedem neuen Artikel tobte ich geradezu vor Empörung. Nein, das istkein Marxismus! Und unsere Empiriokritiker, unser Empiriomonist und unser Empiriosymbolist marschieren geradenwegs in den Sumpf. Dem Leser, weismachen, daß der „Glaube" an die Realität der Außenwelt „Mystik" sei .(Basarow), Materialismus und Kantianismus aufs schändlichste, durcheinanderwerfen (Basarow und Bogdanow), eine Spielart des Agnostizismus.(den Empiriokritizismus) und des Idealismus (den Empiriomonismus)" predigen, - die Arbeiter „religiösen Atheismus" und „Vergöttlichung" der höchsten menschlichen Potenzen lehren (Lunan tscharski), - erklären, daß die Engelssche Lehre von der Dialektik Mystik sei (Berman), - aus der stinkenden-Quelle irgendwelcher französischer „Positivisten" schöpfen, irgendwelcher Agnostiker oder .Metaphysiker, hol sie der Teufel, mit ihrer „symbolischen Erkenntnistheorie" (Juschke-, witsch)! Nein, das ist zuviel! Natürlich, wir einfachen Marxisten sind in der Philosophie nicht belesen, aber warum muß man uns das antun, daß man uns etwas Derartiges.als Philosophie des Marxismus auftischt! Eheir lasse ich mich vierteilen, als daß ich mich einverstanden; erkläre, an einem Organ oder in einem Kollegium mitzuarbeiten, das solche Dinge predigt.; Es zog mich wieder zu den „Betrachtungen eines einfachen Marxisten über Philosophie", und:ich griff zur Feder122; AI. Al-tsch .aber habe ich1 natürlich - während der Lektüre der „Beiträge" - meine Eindrücke geradeheraus und ungeschminkt ins Gesicht gesagt. ••.-•':• " Was Ihr Artikel damit zu tun hat, werden Sie fragen. Eben, dies, daß Sie gerade zu.einer Zeit, da sich diese Meinungsverschiedenheiten unter den Bolsdiewiki besonders zuzuspitzen drohten, in Ihrer Arbeitfürden „Protetari" ganz offensichtlich begannen,, die. Ansichten der einen Strö-

AviA.MiQorki

459

murig darzulegen. -Ich weiß natürlich nicht, wie: und was bei Ihnen im ganzen 'herausgekommen wäre; Außerdem meine ich,.daß "ein Künstler aus jeder Philosophie viel Nützliches für sich schöpfen kann. Schließlich bin ich völlig und unbedingt damit einverstanden, daß in Fragen des künstlerischen Schaffens das entscheidende Wort Ihnen gehört und daß Sie/wenn Sie Anschauungen dieser Art sowohl aus Ihrer künstlerischen Erfahrung als audb aus der Philosophie, und sei es audo eine idealistische Philosophie, schöpfen, zu Schlußfolgerungen gelangen können, die der Arbeiterpartei gewaltigen Nutzen bringen. Das alles ist'richtig. Und trotzdem muß der „Proletari" gegenüber allen unseren Meinungsverschiedenheiten in der Philosophie absolut neutral bleiben und darf den Lesern nidbt den geringsten Anlaß geben, die Bolschewiki als Richtung, als taktische Linie des revolutionären Hügels der russischen Sozialdemokraten, mit dem Empiriokritizismus'öder mit dem Empiriomonismus in VerbinJ dung-zubringen.;

• •

.'•'-••-

''••

Als ich, nachdem ich Ihren Artikel gelesen und nochmals gelesen hätte, A. A-tsch- sagte, -ich sei gegen seine Veröffentlichung, verfinsterte sich sein" Gesicht. Die Spaltung lag drohend in der Luft Gestern versammelten wir unser Redaktionstrio zu einer speziellen Sitzung, um diese Frage zu erörtern. Da kam uns überraschend ein dümmer Schnitzer in der „Neuen Zeit" zu Hilfe. In Nr. 20 hat ein unbekannter Übersetzer einen Artikel von Bogdänöw über Mach veröffentlicht und dabei in der Vorbemerkung den albernen Gedanken geäußert, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen Plechanow und Bögdanöw die Tendenz hätten, unter den russischen Sozialdemokraten zu einer fraktionellen Meinungsverschiedenheit zwischen Bolschewiki und Menschewiki zu werden! Durch diese Worte hat der Narr oder die Närrin, von dem oder von der diese Vorbemerkung stammt, Jans geeint. Wir kamen sofort überein, daß jetzt unserseits unbedingt gleich in der nächsten Nummer des „Proletari" eine Neutralitätserklärung gebracht werden müsse. Nichts hätte meiner Stimmung nadi dem Erscheinen der „Beiträge" mehr entsprechen können. Die Erklärung würde i verfaßt; einstimmig bestätigtrniorgen erscheint sie in Nr. 21 des „Proletan'iundgeht Ihnenzu.* . ' ,:• : Siehe den vorliegenden Band, S. 453. Die "Red.

460

TV. 7. Lenin

Was nun Ihren Artikel betrifft, so haben wir uns entschieden, diese Frage zu vertagen, Ihnen in drei Briefen - von jedem der drei Redakteure des „Proletari" einen - den ganzen Sachverhalt darzulegen und meine und Bogdanows Reise zu Ihnen zu beschleunigen. Sie haben also sowohl von AI. AI. als auch von dem dritten Redakteur123, von dem ich Ihnen schon früher einmal schrieb, einen Brief zu erwarten. Ich halte es für notwendig, Ihnen meine Meinung ganz offen zu sagen. Daß es unter den Bolschewiki in der Frage der Philosophie zu einem gewissen Kampf kommen wird, halte ich jetzt für ganz unvermeidlich. Aber sich deswegen zu spalten, wäre meiner Meinung nach töricht. Wir haben einen Block gebildet, um in der Arbeiterpartei eine bestimmte Taktik zu verfolgen. Wir verfolgten und verfolgen diese Taktik bis jetzt ohne Meinungsverschiedenheiten (die einzige Meinungsverschiedenheit gab es über den Boykott der III. Duma, aber erstens hat sie sich bei uns nie auch nur bis zur Andeutung einer Spaltung verschärft; zweitens fiel sie nicht mit der Meinungsverschiedenheit zwischen Materialisten und Machisten zusammen, denn der Machist Basarow zum Beispiel war wie ich gegen den Boykott und schrieb darüber ein großes Feuilleton im „Proletari"). Es wäre meiner Ansicht nach eine unverzeihliche Dummheit, würde man wegen des Streits, ob Materialismus oder Machismus, die Verwirklichung der Taktik der revolutionären Sozialdemokratie in der Arbeiterpartei behindern. Wir müssen um die Philosophie so streiten, daß der „Proletari" und die Bolschewiki, als Fraktion der Partei, davon nidht berührt werden. Und das ist durchaus möglich. Auch Sie sollten meiner Meinung nach dabei helfen. Und Sie können dabei helfen, wenn Sie im „Proletari" über neutrale (d. h. mit der Philosophie in keinerlei Zusammenhang stehende) Fragen der Literaturkritik, der Publizistik und des künstlerischen Schaffens usw. schreiben. Ihren Artikel aber - wenn Sie eine Spaltung verhindern wollen, wenn Sie helfen wollen, den neuen Streit zu lokalisieren - sollten Sie umarbeiten: alles, was, sei es auch nur indirekt, mit der Bogdanowschen Philosophie zusammenhängt, müßten Sie woanders unterbringen. Sie haben ja außer dem „Proletari" gottlob noch andere Möglichkeiten, zu publizieren. Alles, was nicht mit Bogdanows Philosophie zusammenhängt - und ein großer

An A. 5W. Qorki

461

Teil Ihres Artikels hängt nicht mit ihr zusammen - , müßten Sie in einer Artikelreihe für den „Proletari" darlegen. Eine andere Haltung Ihrerseits, d. h. eine Weigerung, den Artikel umzuarbeiten, oder eine Weigerung, am „Proletari" mitzuarbeiten, würde meiner Meinung nach unvermeidlich zur Verschärfung des Konflikts unter den Bolschewiki führen, würde die Lokalisierung des neuen Streits erschweren und die wichtige, praktisch und politisch notwendige Arbeit der revolutionären Sozialdemokraten in Rußland schwächen. Das ist meine Meinung. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich denke, und erwarte jetzt Ihre Antwort. Heute wollten wir zu Ihnen fahren, aber es stellt sich heraus, daß wir das um mindestens eine Woche, vielleicht auch um zwei, drei Wochen verschieben müssen. Ich drücke Ihnen fest die Hand. Ihr 5V. Lenin Qesdbidktvon Qenf nadb der Insel Capri. Zuerst veröftentlidbt 1924 im Lenin-Sammelband I.

Nadh dem Manuskript.

462

DIE NEUE AGRARPOLITIK Am Mittwoch, ; deml3.. Februar, fajid der Empfang von 307 Abgeordneten der: III, Quma durch Nikolaus II. statt. Die liebenswürdige Unterhaltung des Zaren mit den Schwarzhundertern Bobrinski und Tschelyschew gehört izur • komischen Seite der.: neuen Liebesbezeugungen der Selbstherrschaft für die Schwarzhunderterbande. Viel ernster ist Nikolaus' Erklärung, die Duma müsse bald neue Agrargesetze annehmen, jeder Gedanke an eine Zwangsenteignung aber müsse dabei ausgeschlosv sen sein, da er, Nikolaus II., ein solches Gesetz niemals bestätigen werde. Wie der Korrespondent der „Frankfurter Zeitung" berichtet/ machte die Rede des Zaren auf die Bauern einen vernichtenden, Eindruck. • .. , Unzweifelhaft ist die agitatorische Bedeutung dieser vom Zaren selbst abgegebenen „Agrarerklärung" sehr groß, und wir können den talentvollen Agitator nur begrüßen. Aber außer der agitatorischen Bedeutung hat dieser gegen die Zwangsenteignung gerichtete grimmige Ausfall noch eine große Bedeutung, nämlich die, daß die gutsherrliche Monarchie endgültig einen neuen Weg in der Agrarpolitik betreten hat. Die auf Grund des Artikels 87, ohne die Duma, erlassenen berühmten Verordnungen - vom 9. November 1906 und die weiteren - haben die Ära dieser neuen Agrarpolitik der Zarenregierung eingeleitet. Stolypin hat sie in der II. Duma bestätigt, die Abgeordneten der Rechten und der Oktobristen haben sie gebilligt, die Kadetten (eingeschüdiert durch die in den Vorzimmern der Kamarilla aufgefangenen Gerüchte über die Auflösung der Duma) haben darauf verzichtet, sie offen zu mißbilligen. Jetzt, in der III. Duma, hat die Agrarkommission in den letzten Tagen die Grundzüge des Gesetzes vom 9. November 1906 angenommen und ist

Die neue Agrarpolitik

463*

noch weiter gegangen,indem sie d i e Landanteile der Bauern in allen Dorf-; gemeinden, in denen in d e n J e t z t e n 24 Jahren keine Neuaufteilung-des G r u n d und BodenB stattgefunden h a t ; als Privatbesitz anerkannt hat: Auf. d e m Empfang' vom '\ 3. Februar, hat' d e r an, der Spitze des Rußlands der Fronherren und. Gutsbesitzer stehende Mann: diese Politik : l a u t u n d • Ver-; nehmlich gebilligt, wobei er die Abgeordneten a n s c h n a u z t e : - o f f e n b a r , damit die parteilosen Bauern es sich hinter die O h r e n schreiben —, e r werde niemals. einem Zwahgsenteignurigsgesetz zugunsten' d e r Bauem- : schaftzustimmen. i: i -.• • Das endgültige Bekenntnis d e r Regierung des : Z a r e n , der Gutsherren und der Großbourgeoisie (der Oktobristen) zu d e r neuen Agrarpolitik ist von größter geschichtlicher Bedeutung. Die Geschicke der bürgerlichen Revolution in Rußland - nicht allein d e r gegenwärtigen Revolution, sondern auch der in Zukunft möglichen demokratischen Revolutionen - häng e n v o r allem vom Erfolg oder Mißerfolg dieser Politik ab. • -.,.W o r i n besteht d a s W e s e n der W e n d u n g ? Darin, d a ß bis jetzt die U n antastbarkeit des alten, mittelalterlichen Anteillaridbesitzes der Bauern u n d ihrer „angestammten" Dorfgemeinde d i e eifrigsten Verteidiger in den herrschenden Klassen des reaktionären Rußlands: fand. Die fronherrlichen! Gutsbesitzer - die herrschende Klasse im: Rußland v o r d e r Reform und die politisch ausschlaggebende Klasse w ä h r e n d des g a n z e n ' 1 9 . J a h r hunderts - verfolgten im großeniund: ganzen eine Politik der Aufredhterhaltung der alten dorfgemeindlichen O r d n u n g des bäuerlichen Grundbesitzes- • •••' .••••' •'•' •.'-.• :•.-:• • . '; : .•;., "" V ..•'• \. J -:' D i e Entwiddung des Kapitalismus h a t diese O r d h u n g zu Beginn des 20. Jahrhundertsehdgültiguntergraben. Die alte ständisdie Dorf gemeinde, die Fesselung d e r Bauern an die .Scholle, die altherkömmlichen Zustände des hälbhörigen Dorfesgerietenin--schärfsten Widerspruch zu den neuen wirtschaftlidien Verhältnissen. Die Dialektik der .Gesdiichte,brachte es mit sidi, d a ß die Bauernsdhäft -r in anderen Ländern unter halbwegs (vom Ständpunkt-der Erfordernisse des Kapitalismus) geregelten- Agrarverhältnissen eine S t ü t z e ' d e r O r d n u n g - in Rußland während der" Revolution mit den umstürzlerisdisten Forderungen auftrat, bis zur Konfiskation der Gutsbesitzerländereien u n d der Nationalisierung des G r u n d "und Bodens .(die T r u d o w i k i j n d e r I . und II. D u m a ) . . t ) .. . ... . . . • • • : Diese radikalen u n d sogar von Ideen des.kleinbürgerlichen.Sozialismus

464

"W.I.Lenin

gefärbten Forderungen waren durchaus keine Folgeerscheinung eines „Sozialismus" des Bauern, sondern die Folge der ökonomischen Notwendigkeit, den gordischen Knoten des fronherrlichen Bodenbesitzes zu durchhauen, auf einem von allen mittelalterlichen Schranken befreiten Boden den Weg für den freien Farmer (den Unternehmer in der Landwirtschaft) zu ebnen.* Der Kapitalismus hat bereits alle Grundlagen der alten Agrarordnung Rußlands unabänderlich untergraben. Ohne diese Ordnung zu zerstören, kann er sich nicht weiterentwickeln, und er wird sie unweigerlich und unvermeidlich zerstören; keine Macht der Welt kann ihn daran hindern. Doch diese Ordnung kann auf gutsherrliche oder auf bäuerliche Weise zerstört werden, um die Bahn für einen gutsherrlichen oder für einen bäuerlichen Kapitalismus frei zu machen. Eine den Interessen der Gutsbesitzer entsprechende Zerstörung der alten Agrarordnung bedeutet, gewaltsam die Dorfgemeinde zu zerschlagen, bedeutet den beschleunigten Ruin, die Ausrottung der Masse der verarmten kleinen Landwirte zugunsten eines Häufleins Kulaken. Eine den Interessen der Bauern entsprechende Zerstörung der alten Agrarordnung bedeutet, den gutsherrlichen Grundbesitz zu konfiszieren und den gesamten Grund und Boden der freien Farmerschaft aus den Reihen der Bauern zu übergeben (das „gleiche Recht auf Boden" der Herren Volkstümler bedeutet in Wirklichkeit das Recht der Landwirte auf den Boden bei Beseitigung aller mittelalterlichen Schranken). Und siehe da, die Regierung der Konterrevolution hat diese Situation begriffen. Stolypin hat die Sache richtig erfaßt: ohne die alten Grundbesitzverhältnisse zu zerstören, kann man die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands nicht gewährleisten. Stolypin und die Gutsbesitzer haben mutig den revolutionären Weg beschritten, sie reißen die alte Ordnung mit größter Rücksichtslosigkeit nieder und liefern die Bauernmassen ganz und gar den Gutsbesitzern und Kulaken aus, damit diese sie ausplündern können. Die Herren Liberalen und kleinbürgerlichen Demokraten - von den halboktobristischen „Meonen"125 über die „Russkije Wedomosti" bis zu * Die hier geäußerten Ansichten stehen in engem Zusammenhang mit der Kritik an unserem Parteiprogramm. In Nr. 21 des „Proletari" wurde diese Kritik als Privatmeinung angedeutet; in den folgenden Nummern soll die Frage ausführlich behandelt werden.i:M

Die neue Agrarpolitik

465

Herrn Pesdiechonowwom „Russkoje Bogatstwo" - schlagen jetzt fürchterlichen Lärm über die Zerstörung der Dorfgemeinde durch die Regierung und Magen diese Regierung des Revolutionarismusarü Die Zwitterstellung des bürgerlichen Liberalismus in der russischen Revolution ist noch nie so kraß in Erscheinung getreten. Nein, ihr Herren, mit Lamentationen über die Zerstörung der angestammten Grundpfeiler ist hier nichts auszurichten. Drei Jahre Revolution haben die versöhnlerischen und kompromißlerischen Illusionen zerstört. Die Frage ist klar, gestellt: Entweder kühner Aufruf zur Bauernrevölution, die bis zur Republik, fortschreitet, und allseitige ideelle und organisatorische Vorbereitung einer soldhen Revolution im Bunde mit dem Proletariat/Oder leeres Greinen, politische und ideelle Impotenz gegenüber dem von Stolypin, den Gutsbesitzern und den Oktobristen geführten Angriff auf die Dorfgemeinde. / Wählt — ihr, die ihr euch noch eine Spur Bürgermut und Mitgefühl mit der Bauernmasse bewahrt habt! Das Proletariat hat seine Wahl bereits getroffen, und jetzt wird die Sozialdemokratische Arbeiterpartei entschlossener denn je die Parole des Bauernaufstands gemeinsam mit dem Proletariat erklären, propagieren, in die Massen tragen, als das einzig mögliche Mittel, die Stolypinsche Methode der „Erneuerung" Rußlands zu verhindern. Wir werden nicht behaupten, daß diese Methode undurchführbar sei sie wurde in Europa verschiedentlich in kleineren Dimensionen erprobt -, aber wir werden die Volksmassen darüber aufklären, daß sie nur durch eine jahrzehntelange grenzenlose Vergewaltigung der Mehrheit durch die Minderheit und durch eine Massenausrottung der fortgeschrittenen Bauernschaft verwirklicht werden kann. Unsere Sorge wird sich nicht auf Flickarbeit an den revolutionären Projekten Stolypins, nicht auf Versuche zu ihrer Verbesserung, zur Abschwächung ihrer Wirkung usw. richten. Wir werden sie beantworten, indem wir unsere Agitation in den Volksmassen verstärken, besonders in jenen Schichten des Proletariats, die mit der Bauernschaft verbunden sind. Die Bauemabgeordneten - sogar die durch viele Polizeisiebe gesiebten, durch die Gutsbesitzer ausgewählten, durch die Erzreaktionäre in der Duma eingeschüchterten - haben erst kürzlich ihr wahres Streben kundgetan. Wie aus den Zeitungen hervorgeht, hat eine Gruppe parteiloser und zum Teil auch rechtsstehender Bauernabgeordneter sich für die Zwangsenteignung des Grund und Bo-

466 dens und für' örtliche Agräimstitutiönm ausgesprochen, die von der ganzen Bevölkerung gewählt werden üNicht umsonsterklärte ein Kadett in der Agrarkömmission:;:daß die rechtsorientierten Bauern weiter links stehen als die Kadetten. Ja,i in'der Agrarfrage stehen die 1 „rechten" Bauern in allen drei Dumas.links von-den Kadetten^ wpmit sie den Beweis dafür liefern, daß der Monarchismus des Bauern eine absterbende Naivität ist im Gegensatz zum Monarchismus derliberalen Geschäftemacher, die aus Klasseninteressen,Monarchisten:sind..; ; • .:..::. ji-.iD.er.-Zar ;der Fronherren: hat die-parteilosen Bauern" angeschnauzt, er werde j die 2wangsente"ighüng-nicht ^zulassen! Die Arbeiterklasse muß dies"damit beantworten; daß sie die Millionen „parteiloser" Bauern zum Massenkampf für den Sturz des Zarismus und für die Konfiskation des Gutsbesitzerlandes aufruft." - ' • ..'..„ProUtari" Nr. 22,: •-..' :;•(3.ß(ärzyi9.2ebruari908.r

J ex\ &es „Troleiari"

467

-NEUTRALITÄT.DE.R GEWERKSCHAFTEN*26 In der vorigen Nummer des „Proletari" veröffentlichten wirdie Resolution des ZK unserer Partei über die Gewerkschaften.127 „Nasch Wek"128 schloßan die Mitteilung über diese ^Resolution: die Bemerkung an, sie sei vom.ZK einstimmig; angenommen •worden^' da die Menschewiki mit Rücksicht auf die. Zugeständnisse, die sie im Vergleich mitdem ursprünglichen bolschewistischen Entwurf aufweist; für-.sie: gestimmt hätten^ Ist diese Mitteilung richtig (die verblichene Zeitung „Nasch Wek" war meist,über alles, was den vMenschewismus: betrifft, ausgezeichnet unterrichtet), so bleibt uns; nur übrige diesen ^großen: Schritt zur. Vereinigung der sozialdemokratischen' Arbeit auf einem so wichtigen Gebiet, wie es die Gewerkr scharten sind, von ganzem Herzen zu begrüßen. Die Zugeständnisse, von denen ,;Nasch Wek". sprach, ;sindrg3nz ttnbedeutend und ändern nichts an den grundlegenden Prinzipien des bolschewistischen' Entwurfs (der übrigens in Nr.-17 des ,;Proletari" vom:20.^Oktober 1907 zusammen mit einem umfangreichen, ihn näher begründenden Aufsatz „Die Gewerkschaften und die Sozialdemokratische :Partei" abgedruckt; ist). : Unsere ganze Partei hat alsoftunmehranerkannt, daß die Arbeit inden •Gewerkschaften nicht im Geiste det Neutralität der Gewerkschaften^sondern im Geiste .ihrer größtmöglichen Annäherung an die SozialdemOr kratisehe Partei zu ..leisten-ist.. Ebenso wurde; auch anerkannt, daß: die Parteilichkeit der.•Gewerkschaften ausschließlich durch'die Arbeit der Sozialdemokraten. • innerhalb der . Gewerkschaften erreicht werden muß, daß die Sozialdeflipkraten festgefügte Zellen, in den Gewerkschaften bilden sollen und daß illegale GeiWerkgchaften zu gründen sind, wenn' legale u n m ö g l i c h . s i f l c L ;

• •'

•,

,:•.-••.•!•••

: " i r . •..• ! : / : • •

•••..:'.:•

) ' - . • - . ~r.\ •:••.•••!.•:'.;.'•••

.i.

468

"W. 1. Lenin

Es steht außer Zweifel, daß auf diese Annäherung beider Fraktionen unserer Partei in der Frage des Charakters der Arbeit in den Gewerkschaften Stuttgart den stärksten Einfluß ausgeübt hat. Die Resolution des Stuttgarter Kongresses macht, wie Kautsky in seinem Bericht vor den Leipziger Arbeitern feststellte, der prinzipiellen Anerkennung der Neutralität ein Ende. Der hohe Grad der Entwicklung der Klassengegensätze, ihre in letzter Zeit in allen Ländern eingetretene Verschärfung, die langjährigen Erfahrungen Deutschlands - wo die Neutralitätspolitik ein Erstarken des Opportunismus in den Gewerkschaften zur Folge gehabt, die Entstehung besonderer christlicher und liberaler Gewerkschaftsverbände aber in keiner Weise verhindert hat —, die Erweiterung jenes besonderen Gebiets des proletarischen Kampfes, das ein gemeinsames und einmütiges Vorgehen von Gewerkschaften und politischer Partei verlangt (Massenstreik und bewaffneter Aufstand in der russischen Revolution als Vorbild der wahrscheinlichen Formen der proletarischen Revolution im Westen) dies alles hat der Neutralitätstheorie endgültig den Boden entzogen. Unter den proletarischen Parteien dürfte die Neutralitätsfrage nunmehr keine besonders heftigen Diskussionen hervorrufen. Anders steht es mit den nichtproletarischen quasisozialistischen Parteien vom Schlage unserer Sozialrevolutionäre, die in Wirklichkeit nichts anderes sind als der äußerste linke Flügel einer revolutionär-bürgerlichen Partei von Intellektuellen und fortgeschrittenen Bauern. Es ist äußerst charakteristisch, daß bei uns nach dem Stuttgarter Kongreß nur die Sozialrevolutionäre und Plechanow als Verfechter der Idee der Neutralität aufgetreten sind. Und sie taten es ohne jeden Erfolg. In der letzten Nummer des Zentralorgans der Partei der Sozialrevolutionäre „Snamja Truda" (Nr. 8, Dezember 1907) finden wir zwei Aufsätze, die sich mit der Gewerkschaftsbewegung befassen. Dort versuchen die Sozialrevolutionäre zunächst, sich über die Erklärung der sozialdemokratischen Zeitung „Wperjod"129 lustig zu machen, die Stuttgarter Resolution habe die Frage der Beziehung zwischen Partei xtnd Gewerkschaften, wie es auch die Londoner Resolution andeutete, im Geiste des Bolschewismus gelöst. Wir erwidern darauf, daß die Sozialrevolutionäre selber in der gleichen Nummer des „Snamja Truda" Jatsadhen anführen, die die Richtigkeit gerade einer solchen Einschätzung unwiderleglich beweisen.

Neutralität der Qewerksdbaften

469

„In derselben Zeit", schreibt „Snamja Truda" über den Herbst 1905 und das ist eine charakteristische Tatsache, „treten die drei russischen sozialistischen Fraktionen — die menschewistischen Sozialdemokraten, die bolschewistischen Sozialdemokraten und die Sozialrevolutionäre — zum erstenmal einander offen mit der Darlegung ihrer Ansichten über die Gewerkschaftsbewegung gegenüber. Das Moskauer Büro, das beauftragt war, aus seiner Mitte auch ein Zentralbüro für die Einberufung des Kongresses (der Gewerkschaften) einzusetzen, organisierte eine große Versammlung gewerkschaftlich organisierter Arbeiter im Theater ,Olympia'.* Die Menschewiki vertraten den Standpunkt einer klassischmarxistischen, streng orthodoxen Scheidung der Ziele von Partei und Gewerkschaften. ,Aufgäbe der Sozialdemokratischen Partei ist die Errichtung der sozialistischen Ordnung und Beseitigung der kapitalistischen Verhältnisse,- Aufgabe der Gewerkschaften ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen innerhalb der kapitalistischen Ordnung, um im Interesse der Arbeiter vorteilhafte Bedingungen für den. Verkauf ihrer Arbeitskraft zu erreichen',- hieraus-wurde die Forderung der Parteilosigkeit der Gewerkschaften und der Erfassung ,aller Arbeiter des betreffenden Berufs' durch die Gewerkschaften abgeleitet.** Die Bolschewiki wiesen nach, es könne heute keine strenge Scheidung von Politik und Beruf durchgeführt werden, und folgerten "daraus, daß ^wischen der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften, die sie anzuleiten hat, größte Einmütigkeit bestehen muß'. Die Sozialrevolutionäre schließlich1 verlangten strenge Parteilosigkeit der Gewerkschaften, um eine Spaltung des Proletariats zu vermeiden, lehnten jedoch jede Beschränkung der Aufgaben und der Tätigkeit der Gewerkschäften auf ein enges Gebiet ab urid formulierten diese Aufgabe als Kampf gegen das ^ Die Versammlung war von etwa 1500 Personen besucht.'Bericht siehe im „Bulletin des Museums znr Förderung der Arbeit" Nr. 2 vom 26. November 1905. (Zitat „Snamja Truda".) ** Man muß jedoch feststellen, daß diese „Parteilosigkeit" von den Herren Menschewiki recht eigenartig aufgefaßt wurde; so illustrierte zum Beispiel ihr Referent seine Thesen folgendermaßen: „Eine richtige Lösung der Frage der Parteilichkeit der Gewerkschaften wurde im Moskauer Buchdruckerverband gefunden,- dieser schlug den Genossen vor, einzeln der Sozialdemokratischen Partei beizutreten." (Anmerkung des „Snamja Truda".)

470

!•.••. •.•'•: .

\-W.J.EeMtt

Kapital in seinem ganzen'Umfang, d.h. sowohl als wirtschaftlichen wie : auch als politischen Kampf." . • , . So schildert „Snamja Truda'' selber die Jatsadben! Nur ein blinder oder total denkunfähiger Mensch kann in Abrede stellen, daß gerade derjenige dieser drei Standpunkte, der die größte Einmütigkeit zwischen Sozialdemokratischer Partei, und Gewerkschaften verlangt, „von der Stuttgarter Resolution bestätigt wird, die innige Beziehungen zwischen Partei und Gewerkschaften empfiehlt".* - Um diese überaus klare Frage zu verwirren, haben die Sozialrevolutionäre in lächerlicher Weise Selbständigkeit der Gewerkschaften im wirtschaftlichen Kampf, mit .Parteilosigkeit der Gewerkschaften verwechselt. „Der Stuttgarter Kongreß", so schreiben sie, „sprach sich mit aller Bestimmtheit auch für die Selbständigkeit (Parteilosigkeit) der Gewerkschaften aus, das heißt, er lehnte sowohl den Standpunkt der Bolschewiki als auch den der Menschewiki ab." Dies wird aus folgenden Worten der Stuttgarter Resolution gefolgert: „Jede der beiden Organisationen (Partei und Gewerkschaft) hat ein durch ihre: Natur bestimmtes eigentümliches Gebiet, auf dem sie ihre Aktion vollständig selbständig zu bestimmen hat. Daneben aber gibt es ein stets wachsendes Gebiet" - usw., wie oben angeführt. Da haben sich also wahre Käuze gefunden, die diese Forderung nach „Selbständigkeit" der Gewerkschaften auf dem „durch ihre Natur bestimmten eigentümlichen'Gebiet" mit der Frage: "Parteilosigkeit der Gewerkschaften oder größtmögliche Annäherung an die Partei auf dem Gebiete der Politik und der Aufgaben der sozialistischen Revolution verwedhselt babenl . _ • • . . Auf diese Weise haben unsere Sozialrevolutionäre die grundlegende prinzipielle Frage gänzlich vertuscht, wie nämlich die Theorie der „Neutralität", die in Wirklichkeit der Festigung des bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat dient, zu beurteilen ist. Statt von dieser prinzipiellen Frage auszugehen, zogen sie es vor, nur von den spezifischen Verhältnissen in Rußland, wo es mehrere sozialistische Parteien gibt, zu reden und dabei die Vorgänge in Stuttgart in ein fcdsdhes Licht zu rücken. „Man kann sich hier nicht auf die Unjdarheit der.Stuttgarter Resolution berufen", schreibt * Die Menschewiki vertraten im November 1905 nicht orthodoxe, sondern vulgäre Auffassungen der Neutralität — mögen die Herren Sozialrevolutionäre darandenken!

•.

-.

'

.

••'' ••'-••

Neutralität der Qeiperksdhaften

471

>,Snamja Truda", „denn jede; etwaige Unklarheit "und jeder Zweifel ist von Herrn Plechanow beseitigt worden, der auf dem Internationalen Konü greß als offizieller Vertreter der Partei sprach; und.vorläufig liegt hoch keine Erklärung des sozialdemokratischen Zentralkomitees darüber vor,' daß ,ein solches Auftreten- des Genossen Plechanow die Reihen der einheitlichen Partei desorganisiert'..." '--••': Ihr Herren Sozialrevolutionäre! Natürlich steht euch das Recht zu, darüber zu witzeln, daß unser Z K Plechanow zur Ordnung gerufen hat. Ihr habt das Recht zu glauben, man könne zum Beispiel eine Partei achten, die die Kadettenliebe des Herrn Gerschuni offiziell nicht verurteilt. Aber wozu direkte "Unwahrheiten sagen?'Plechanow war auf dem Stuttgarter Kongreß nidbt der Vertreter der sozialdemokratischen Partei, sondern nur einer ihrer 33 Delegierten. Und er vertrat nicht die Auffassungen der sozialdemokratischen Partei, sondern die der heutigen menschewistischen Opposition gegen die sozialdemokratische Partei und ihre Londoner Beschlüsse. Die Sozialrevolutionäre müssen das wissen und sagen also vorsätzlich die U n w a h r h e i t . : ' . - . . . . „In der Kommission, die die Frage der Beziehungen zwischen Gewerkschaften und politischer Partei" erörterte, sagte er (Plechanow) wörtlich folgendes: ,In Rußland gibt es l t revolutionäre Organisationen - mit welcher sollen die Gewerkschaften in Verbindung treten? . . . Dar Hineintragen von politischen Differenzen in die Gewerkschaften würde in Rußland nicht förderlich sein.' Darauf erklärten- alle Kommissionsmitglieder einstimmig, daß die Kongreßresolution nicht in diesem Sinne aufzufassen sei und daß!,aamit nicht die Verr" pflichtung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ausgesprochen sein solle, der Sozialdemokratie anzugehören', das heißt, sie verlangten, wie es auch in der Resolution heißt, ,volle Selbständigkeit' der Gewerkschaften." (Hervorhebungen vom „Snamja Truda".) . :.. • . . - Nein, so war es'•nicht, ihr Herren vom „Snamja Truda"! In der Kommission fragte ein belgischer Genosse, ob man Gewerkschaftsmitglieder zum Eintritt in die sozialdemokratische Partei verpflichten könne, und alle antworteten ihm,=daß man das nicht dürfe. Anderseits aber stellte Plecha-1 now einen Abänderungsantrag zur Resolution: „Dabei ist die Einheit-: lichkeit der Gewerkschaftsorganisation im'Auge zu behalten." Diesem Antrag wurde angenommen, aber nicht einstimmig (Gen. Woinow; der die1 Auffassungen der SDAPR vertrat, stimmte für diesen Antrag - und

472

TV.]. Lenin

das war unserer Meinung nach richtig). So lägen die Dinge in Wirklichkeit. Die Sozialdemokraten dürfen die Einheitlichkeit der Gewerkschafts Organisation niemals aus dem Auge lassen. Das Ist durchaus richtig. Dies gilt aber auch für die Sozialrevolutionäre, und wir fordern sie auf, über diese „Einheitlichkeit der Gewerkschaftsorganisation" nachzudenken, wenn diese ihre enge Verbindung mit der Sozialdemokratie proklamieren wird! Niemand hat je daran gedacht, die Gewerkschaftsmitglieder zum Eintritt in die sozialdemokratische Partei zu „verpflichten": das haben die Sozialrevolutionäre vor lauter Angst geträumt. Es ist aber ein Märchen, wenn es heißt, der Stuttgarter Kongreß habe den Gewerkschaften verboten, ihre enge Verbindung mit der sozialdemokratischen Partei zu verkünden und eine soldhe Verbindung zu verwirklichen. „Die russischen Sozialdemokraten", schreibt „Snamja 7ruda", „entfalten eine überaus energische und unermüdliche Kampagne für die Eroberung der Gewerkschaften, für die Unterordnung der Gewerkschaften unter ihre Führung als Partei. Die Bolschewiki tun es offen und unverhohlen ..., die Menschewiki mehr auf Umwegen . . . " Sehr richtig, ihr Herren Sozialrevolutionäre! Um des Ansehens der Arbeiterinternationale willen seid ihr berechtigt, von uns zu verlangen, daß wir diese Kampagne taktvoll und klug durchführen und dabei „die Einheitlichkeit der Gewerkschaftsorganisation im Auge behalten". Das wollen wir gern anerkennen and verlangen von euch die gleiche Anerkennung, doch auf die Kampagne verzichten wir nicht! Aber Plechanow hat doch gesagt, es wäre schädlich, politische Differenzen in die Gewerkschaften hineinzutragen . . . Jawohl, Plechanow hat diese Dummheit gesagt, und natürlich mußten sich die Herren Soziälrevo-! lutionäre an sie klammern, wie sie sich stets an alles klammern, was am wenigsten Nachahmung verdient. Maßgebend sind aber nicht die Worte Plechanows, sondern ist die Kongreßresolution, deren Anwendung ohne „Hineintragen politischer Differenzen" unmögHdb ist. Hier ein kleines Beispiel. Die Kongreßresolution besagt, die Gewerkschaften dürfen sich nicht von der „Theorie der Interessenharmonie zwischen Arbeit und Kapital" leiten lassen. Wir Sozialdemokraten behaupten, daß ein Agrarprogramm, das in der bürgerlichen Gesellschaft eine ausgleichende Bodenverteilung verlangt, auf der Theorie der Interessenharmonie zwischen

Neutralität der Qewerksdhaften

473

Arbeit und.Kapital fußt.* Wir werden stets-dagegen.sein, wegen einer solchen Differenz (oder selbst wegen der Differenzen mit monarchistisch gesinnten Arbeitern) die Geschlossenheit eines Streiks usw. zu verletzen, doch wir werden- diese Differenzen stets in die Reihen der Arbeiterschaft überhaupt und in alle Arbeitergewerkschaften insbesondere „hineintragen". Ebenso unklug ist die Berufung Plechanows auf die 11 Parteien. Erstens gibt es nicht nur in Rußland verschiedene sozialistische Parteien. Zweitens kommen in Rußland nur zwei sozialistische Parteien — Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre - als einigermaßen ernstliche Konkurrenten in Betracht, denn die nationalen Parteien mit ihnen in einen. Topf zu werfen, ist ganz widersinnig. Drittens ist die Vereinigung wahrhaft sozialistischer Parteien ganz und gar eine Frage für sich; dadurch, daß er sie heranzieht,-verwirrt Plechanow nur die Sache. Wir müssen immer und überall die Annäherung der Gewerkschaften an die sozialistische Partei der Arbeiterklasse verfechten; welche Partei aber in dem einen oder anderen Lande, bei der einen oder anderen. Nation eine wirklich sozialistische Partei und eine wirkliche Partei der Arbeiterklasse ist — das ist eine Frage für sich, die nicht durch Resolutionen internationaler Kongresse, sondern durch den Verlauf des Kampfes zwischen den nationalen Parteien entschieden wird. . Wie falsch die Argumentation des Gen. Plechanow in dieser Frage ist, zeigt besonders sinnfällig sein Aufsatz in Heft 12 des „Sowremenny Mir"131, Jahrgang 1907. Auf S. 55 zitiert Plechanow den Hinweis Lunatscharskis, daß die deutschen Revisionisten die Neutralität der Gewerkschaften verfechten. Plechanow erwidert darauf: „Die Revisionisten sagen: die Gewerkschaften müssen neutral sein, meinen aber damit: die Gewerkschaften müssen zum Kampf gegen den orthodoxen Marxismus ausgenutzt werden." Und er schließt: „Die Beseitigung der Neutralität der Gewerkschaften wird hier nichts nützen. Selbst wenn wir die Gewerkschaften in enge formelle Abhängigkeit von der Partei bringen, in der Partei aber die ,Ideologie' der Revisionisten triumphiert, so wird die Beseitigung der * Selbst einige Sozialrevolutionäre haben dies nunmehr begriffen und somit einen entscheidenden Schritt zum Marxismus getan. Siehe das sehr interessante neue Buch der Herren Firsow und Jakobi, über das wir uns nächstens mit den Lesern des „Proletari" eingehend unterhalten werden.130 31 Lenin, Werke, Bd. 13

474



"W J.Lenin

Neutralität der Gewerkschaften nur ein neuer Sieg der ,Marxkritiker' sein."

:.:..-.'

. . • . : . . - . • •

.

,

Diese Argumentation ist ein Musterbeispiel des bei Plechanow so beliebten Verfahrens, der Frage auszuweichen und den Kem des Streites zu vertuschen. Triumphiert in der Partei tatsächlich die Ideologie der Revisionisten, so ist sie keine sozialistische Partei der Arbeiterklasse mehr. Es handelt sich gar nicht darum, wie diese Partei entsteht, zu welchen Kämpfen und Spaltungen es dabei kommt. Es handelt sich darum, daß es in jedem kapitalistischen Land eine sozialistische Partei und Gewerkschaften gibt, und unsere Aufgabe ist es, die grundlegenden Beziehungen zwischen ihnen zu bestimmen. Die Klasseninteressen der Bourgeoisie führen unvermeidlich zu dem Bestreben, die Gewerkschaften auf eine eng begrenzte Kleinarbeit1 auf dem Boden der bestehenden Ordnung zu beschränken, sie von jeder Verbindung mit-dem Sozialismus fernzuhalten, und die Neutralitätstheorie ist das ideologische Gewand dieser bürgerlichen Bestrebungen. Die Revisionisten innerhalb der sozialdemokratischen Parteien werden es immer verstehen, sich in der kapitalistischen Gesellschaft auf irgendeine Art einen Weg zu bahnen. Gewiß, zu Beginn der politischen und der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung in Europa könnte man für die Neutralität der Gewerkschaften eintreten und darin ein Mittel zur Erweiterung der ursprünglichen Basis des proletarischen Kampfes in einer Zeit sehen, da er verhältnismäßig noch wenig entwickelt und eine systematische Einwirkung der Bourgeoisie auf die Gewerkschaften noch nicht vorhanden war. Heute aber ist es vom Standpunkt der internationalen Sozialdemokratie ganz und gar unangebracht, die Neutralität der Gewerkschaften zu verfechten. Man kann nur lächeln, wenn man die Beteuerungen Plechanows liest, daß „Marx auch heute in Deutschland für die Neutralität der Gewerkschaften eintreten würde", besonders wenn ein solches Argument auf der einseitigen Auslegung eines einzelnen Marx„zitates" beruht und dalsei die Gesamtheit der Erklärungen von Marx und der ganze Geist seiner Lehre ignoriert werden. „Ich bin für die Neutralität im Bebeischen, nicht im revisionistischen Sinne", schreibt Plechanow. So reden, heißt auf Bebel schwören und doch zugleich in den Sumpf hineinwaten. Zweifellos ist Bebel eine so bedeutende Autorität in der internationalen proletarischen Bewegung, ein so

Neutralität derQewerksdbaften

475

erfahrener praktischer Führer, ein Sozialist von so feinem Gefühl für die Erfordernisse des revolutionären Kampfes, daß er in 99 von 100 Fällen sieh selber aus dem Sumpf zu helfen vermochte, wenn er hie und da einen, falschen Schritt getan hatte, daß er diejenigen herauszog, die. ihm folgten. Bebel beging Fehler sowohl in Breslau (1895), wo er zusammen mit Vollmar das Agrarprogramm der Revisionisten verteidigte, als auch seinerzeit (in Essen), da er: auf der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Verteidigungs- und Angriffskrieg bestand, wie auch dann, als er bereit war, die „Neutralität" der Gewerkschaften zum Prinzip zu erheben. Wir glauben gern, wenn Pkchanow nur in Bebeis Gesellschaft in den Sumpf geraten sollte,, so wird dies nicht oft und nicht für lange geschehen. Doch meinen wir, man sollte Bebel nicht gerade dann nacheifern, wenn er Fehler begeht. Man sagt -r und Plechanow betont es ganz besonders -, Neutralität sei notwendig, um alle Arbeiter, zusammenzuschließen, die zu der Einsicht gelangen, daß es erforderlich: ist, ihre materielle Lage zu verbessern. Die so reden, vergessen jedoch, daß die gegenwärtige Entwicklungsstufe der. Klassengegensätze selbst indie Frage, wie diese Verbesserung im Rahmen der heutigen Gesellschaft angestrebt werden soll, unvermeidlich und unabwendbar „politische Differenzen" hineinträgt. Eine unausbleibliche Folge der Neutralitätstheorie, zum Unterschied von der Theorie der Notwendigkeit einer engen Verbindung zwischen Gewerkschaften.und revolutionärer Sozialdemokratie, ist, daß man zu dieser Verbesserung solche Mittel bevorzugt, die eine Abschwächung des Klassenkampfes des Proletariats bedeuten. Ein anschauliches Beispiel dafür (verbunden übrigens mit der Einschätzung einer der interessantesten Episoden der Arbeiterbewegung aus jüngster Zeit) gibt dasselbe Heft des „Sowremenny Mir", in dem Plechanow die Neutralität verficht. Neben Plechanow sehen wir hier Herrn E. P., wie er den bekannten Führer der englischen Eisenbahner Richard Bell preist, der den Konflikt zwischen den Arbeitern und den Direktoren der Eisenbahngesellschaften mit einem Kompromiß beendet hat. Bell wird zur „Seele der ganzen Eisenbahnerbewegung" erklärt. ,;Es steht außer jedem Zweifel", schreibt Herr E. P., „daß Bell dank seiner ruhigen, wohlüberlegten und konsequenten Taktik das unbedingte Vertrauen des Eisenbahnerverbandes erworben hat, dessen Mitglieder ohne Zögern bereit sind, ihm überallhin zu folgen." („Sowremenny Mir" Nr. 12, S. 75.) Dieser Standpunkt ist kein Zufäll, sondern hängt im Wesen der Sache

476

W. J. Lenin

mit dem Neutralismus zusammen, der den Zusammenschluß der Arbeiter zur Verbesserung ihrer Lage in den Vordergrund stellt und nicht den Zusammenschluß zu einem Kampf, d e r d e r ^Befreiung des Proletariats dienlich wäre. ' . - • Doch dieser Standpunkt entspricht in keiner Weise den Auffassungen der englischen Sozialisten, die sicherlich sehr erstaunt wären/wenn sie erführen, daß die Lobsänger Beils, ohne auf Widerspruch zu stoßen, für die gleiche Zeitschrift schreiben wie~ prominente Menschewiki vom Schlage Plechanows, Jordanskis und Co. • • ' • . . • Die englische sozialdemokratische Zeitung „Justice" schrieb am:16. November in ihrem Leitartikel über das Abkommen Beils mit den Eisens bahngesellschaftenf „Mit der fast allgemeinen trade-unionistischen Verurteilung dieses- sogenannten Friedensvertrages sind wir vollständig einverstanden;.. Er zerstört ganz und gar den eigentlichen Sinn der Existenz der Gewerkschaft... Dieses absurde Abkommen . . . kann die Arbeiter nicht binden, und sie werden gut daran tun, es abzulehnen." In der nächsten Nummer, vom 23. November, schrieb Burnett über dieses Abkommen in einem Artikel mit der Überschrift „Wieder verraten!": „Vor drei Wochen war der Vereinigte Eisenbahnerverband eine der mächtigsten Gewerkschaften Englands; jetzt aber ist er auf das Niveau eines Unterstützungsvereins hinabgedrückt." „Und diese Veränderung wurde nicht etwa dadurch herbeigeführt, daß die Eisenbahner gekämpft und eine Niederlage erlitten hätten, sondern dadurch, daß ihre Führer sie, vorsätzlich oder aus Beschränktheit, an die Kapitalisten verkauft haben, noch ehe der Kampf begonnen hatte." Und die Redaktion der Zeitung fügt hinzu, sie habe von einem ;,Lohnarbeiter der Eisenbahngesellschaft Midland" einen Brief analogen Inhalts erhalten. Aber vielleicht ist dies eine „Übertreibung" „allzu revolutionärer" Sozialdemokraten? Nein: Der „Labour Eeader", das Organ einer gemäßigten Partei, der „Unabhängigen Arbeiterpartei" (J£P)r die sich nicht einmal als sozialistisch bezeichnen will, veröffentlichte am 15. November den Brief eines gewerkschaftlich organisierten Eisenbahners, der. gegen? über dem von der gesamten kapitalistischen Presse (vom radikalen „Reynolds Newspaper" bis zu den konservativen „Times") Bell freigebig.gespendeten Lob erklärt, das von ihm herbeigeführte Abkommen sei das „verächtlichste, das die ganze Geschichte des Trade-Unionismus kennt".

Neutralität der Qewerksdbaften

477

Er nennt Richard Bell den „Marschall Bazaine der trade-unionistischen Bewegung". Ein anderer Eisenbahner verlangt, man solle Bell für dieses unglückselige Abkommen, „das die Arbeiter zu siebenjähriger Zwangsarbeit verurteilt", „zur Verantwortung ziehen". Und die Redaktion des gemäßigten Organs bezeichnet im Leitartikel der gleichen Nummer das Abkommen als „Sedan der britischen trade-unionistischen Bewegung". „Noch niemals hat es eine so günstige Gelegenheit gegeben, die Macht der organisierten Arbeit im nationalen Maßstab zu demonstrieren" - in der Arbeiterschaft herrschte „nie dagewesene Begeisterung" und Kampfeslust. Der Artikel schließt mit einer beißenden Gegenüberstellung: hier Arbeiternot, dort Triumph und „Bankettvorbereitungen der Herren Lloyd George (der Minister, der als Lakai der Kapitalisten fungierte) und Bell". Nur die extremsten Opportunisten, die Fabier, eine reine Intellektuellenorganisation, billigten dieses Abkommen und trieben dadurch selbst den mit den Fabiem sympathisierenden Leuten von der Zeitschrift „ 7he New Age" -die Schamröte ins Gesicht: diese waren genötigt zuzugeben, daß, wenn auch-die bürgerlich-konservativen „7imes" die diesbezügliche Erklärung des -Zentralkomitees der Fabier im Wortlaut veröffentlicht haben, außer diesen Herrschaften'sich „keine einzige sozialistische Organisation, keine einzige Gewerkschaft, kein einziger prominenter Arbeiterführer" für das Abkommen ausgesprochen hat. (Nummer vom 7. Dezember, S. 101.) Da habt ihr-ein Beispiel für die Anwendung der Neutralität durch einen Kollegen Pkchanöws, den Herrn E.'P. Es handelte sich nicht um „politische Differenzen", sondern um die Verbesserung der Läge der Arbeiter in der Gesellschaft. Für die „Verbesserung" um den Preis des Kampfverzichts, um den Preis der Kapitulation vor dem Kapital auf Gnade und Ungnade sprach sich die ganze- Bourgeoisie Englands, sprachen sich die Fabier und Herr E. P. aus, für den kollektiven Kampf der Arbeiter alle Sozialisten und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter: Wird Plechanow noch weiter ,; Neutralität" predigen, nicht aber größtmögliche Annähenmgder Gewerkschaften an die sozialistische Partei? „Vroletari" 3tfr. 22, (,3.!März) i9.Februar

'• 1908.

•.

Nadb dem 7ext des „Proletari". : : • '-

478

DAS ATTENTAT AUF DEN K Ö N I G V O N P O R T U G A L

Die bürgerliche Presse - sogar die Presse liberalster und „demokratischster" Richtung - kann, wenn sie über die Ermordung des portugiesischen Abenteurers schreibt, nicht ohne Schwarzhundertermoral auskommen. So zum Beispiel der Sonderkorrespondent einer der besten bürgerlichdemokratischen Zeitungen Europas, der „frankfurter Zeitung". Er;beginnt seinen Bericht in halb scherzhaftem Ton damit, wie eine Schar von Korrespondenten sofort nach Eintreffen der sensationellen Nachricht; als gelte es einer Beute, nach Lissabon stürzt. Ich mußte — schreibt dieser Herr - das Schlafwagenabteil mit einem bekannten Londoner Journalisten teilen, der sich seiner Erfahrung rühmte. Aus einem ebensolchen Anlaß sei er nämlich schon einmal nach Belgrad gereist und könne sich Sozusagen als „Spezialberichterstatter für Königsmorde" betrachten. . . . Ja, das Attentat auf den König von Portugal ist wahrlich ein „Berufsunfall" der Könige. . Da nimmt es nicht wunder, daß es auch Berufskorrespondenten geben kann, die die „Berufsunfälle" Ihrer Majestäten beschreiben . . . Aber so stark auch bei solchen Korrespondenten das Element billiger und vulgärer Sensation sein mag, so bricht sich doch manchmal die Wahrheit Bahn. „Ein Kaufmann, der im lebhaftesten Geschäftsviertel wohnt" •, erzählte dem Berichterstatter der „frankfurter Zeitung" folgendes: „Ich hatte auf die Nachricht von dem Geschehnis hin sofort die Trauerfahne hinausgehängt. Aber da dauerte es auch nicht lange, da kamen Künden und Bekannte gelaufen und fragten midi, ob ich denn toll sei und ob ich mir alle Freundschaften verderben wolle. Ich fragte sie, ob denn niemand

Das Attentat auf den König von Portugal

479

Mitgefühl empfinde. Sie können nicht glauben^ mein Herr, was man mir für Antworten gab. Da habe ich dieJFahne wieder hereingenommen." Nachdem der liberale Korrespondent diese Erzählung wiedergegeben hat, führt er weiter aus: . . „Ein Volk, das von Natur gutmütig und liebenswürdig ist, wie das portugiesische, muß eine böse Schule durchgemacht haben, ehe es gelernt hat/ erbar-s mungslos grausam selbst über das Grab hinaus zu hassen. Und wenn: es nun sogar wahr ist - und es ist wahr, und wollte ich es verschweigen, so würdeich die geschichtliche Wahrheit fälschen -, daß nicht nur solche stummen Kundgebungen dem gekrönten Opfer ein letztes Urteil sprechen wollen, sondern daß man auf Schritt und Tritt und dazu noch von Leuten der,guten Ordnung' sein Andenken selbst schmähen hört, dann verlohnt es sich wohl, den seltenen Zm sammenhängen nachzuforschen, die derart die Psychologie eines Volkes von allen Normen abirren lassen. Denn eine Nation, die dem Tode nicht mehr das alte geheiligte Recht geben mag, alle Fehler des Lebens zu sühnen, muß entweder ja doch wohl schon als moralisch entartet gelten, oder es muß sich herausstellen, daß ein ungeheures Haßgefühl den klaren Blick gerechter Anschauung verdorben hat." . Oh, ihr Herren liberalen Heuchler! Warum erklärt ihr denn nicht alle jene französischen Wissenschaftler tmd Schriftsteller für moralisch entartet, die bis heute nicht nur die Führer der Kommune von 1871, sondern sogar die führenden Persönlichkeiten von 1793, nicht nur die Kämpf er der proletarischen Revolution, sondern sogar die Kämpfer der bürgerlichen Revolution hassen, und mit rasender Wut beschimpfen? Weil es für die „demokratischen" Lakaien der gegenwärtigen Bourgeoisie „normal" und „moralisch" ist, wenn das Volk allen möglichen LTnfug, alle möglichen Abscheulichkeiten und Bestialitäten gekrönter Abenteurer „gutmütig" erduldet. „Sonst", fährt der Korrespondent fort (d.h. anders als auf Grund außergewöhnlicher Verhältnisse), „wäre es ja auch nicht zu verstehen, daß heute bereits ein monarchistisches Blatt mit beinahe tieferer Trauer von den unschuldigen Opfern aus dem Volke als von denen aus dem Könighause spricht, und daß sich jetzt schon deutlich die Anfänge einer Legendenbildung erkennen lassen, die allmählich vielleicht'um das Haupt der Mörder gar eine Gloriole flechten wird. Und während sonst bei fast allen Attentaten die politischen Parteien sich eilig bestrebt zeigen, die Mörder von den Rockschößen abzuschütteln, lassen die portugiesischen

480

"W.l Lenin

Republikaner es sich mit Stolz gefallen, daß man die ,Märtyrer und Helden des 1. Februar'ihren Reihen zuzählt...-" •• "'••'-•" Der bürgerliche Demokrat geht in seinem Eifer so weit, daß er bereit ist, die Achtung der portugiesischen Bürger für jene Leute, die sich für die . Beseitigung des die Konstitution vergewaltigenden Königs geopfert haben, zur „revolutionären Legende" zu erklären. '....• Der Korrespondent einer anderen bürgerlichen Zeitung, des Mailänder „Corriere dellaSera", berichtet über das Wüten der portugiesischen Zensur nach dem Königsmörd.-Telegrämme werden nicht durchgelassen. Minister und Könige verfügen nicht über jene „Gutmütigkeit", die dem honetten Bourgeois bei den'Völksmassen so gefällt! Wenn schon Krieg, dann wie.im Krieg, so denken mit Recht die portugiesischen Abenteurer, die den Platz des ermordeten Königs eingenommen haben. Schwierigkeiten .in der Nachrichtenübermittlung gibt es nicht weniger als während eines Krieges; Man ist genötigt/Nachrichten auf Umwegen zu befördern: zu-nächstmit der Post nach Paris (eventuell an eine Privatadresse), von dort erst werden sie weiter nach Mailand geschickt. „Sogar in Rußland", schreibt der Korrespondent am 7. Februar, „hat während der erregtesten revolutionären Perioden die Zensur, niemals derart gewütet wie jetzt in Portugal/' ., „Manche republikanischen Zeitungen", teilt dieser-Korrespondent am 9. Februar, n. St. mit, „schreiben heute (am Tage der Beisetzung des Königs) eine Sprache, die in einem Telegramm zur wiederholen ich keinesfalls wägen würde." In einer Mitteilung vom 8. Februar, die später als die vorige, den. Bestimmungsort erreichte, wird die Berichterstattung der Zeitung „Pays" über die Beisetzungsfeierlichkeiten zitiert: „Man trägt die sterblichen Überreste der beiden Monarchen vorüber - unnütze Trümmer der zusammenbrechenden Monarchie, die sich durch Verrat und Privilegien hielt, die mit ihren Verbrechen zwei Jährhunderte-unserer Geschichte besudelte." . „Gewiß, das ist eine republikanische Zeitung", fährt der Korrespondent fort,, „aber spricht das Erscheinen eines Artikels mit solchen Sätzen am Tage der Bestattung des Königs nicht eine beredte Sprache?" ;

Wir unserseits fügen, hinzu, daß wir nur das eine bedauern können: daß die republikanische Bewegung in Portugal nicht genügend entschieden und offen mit allen Abenteurern abgerechnet hat. Wir bedauern/daß man

Das Attentat auf den König von Portugal

'481

bei dem Attentat auf den König von Portugal noch deutlich das Element des verschwörerischen, d. h. kraftlosen, in seinem Wesen das Ziel verfehlenden Terrors erkennt, während der wahrhafte, vom gesamten Volk ausgeübte, wirklich das Land erneuernde Terror, durch den-die Große Französische Revolution sich mit Ruhm bedeckt hat, noch schwach entwickelt ist. Es ist möglich, daß sich die republikanische Bewegung in Portugal noch höher erheben wird. Die Sympathie des sozialistischen Proletariats wird immer auf der Seite der Republikaner gegen die Monarchie sein. Aber bis jetzt ist es in Portugal nur gelungen, die Monarchie durch den Mord an zwei. Monarchen zu erschrecken, nicht aber zu vernichten. Die Sozialisten aller europäischen Parlamente haben, so gut sie es verstanden und konnten, ihre Sympathie für das portugiesische Volk und die portugiesischen Republikaner erklärt und ihren Abscheu gegen die herrschenden Klassen bekundet, deren Vertreter den Mord an einem Abenteurer verurteilten und seinen Nachfolgern ihr Mitgefühl ausdrückten. Manche Sozialisten sprachen ihre Meinung im Parlament offen aus, andere verließen während der Sympathieerklärungen für die „heimgesuchte" Monarchie den Sitzungssaal. Vandervelde wählte im belgischen Parlament den „Mittelweg", den schlimmsten Weg, indem er sich den Satz abrang, daß er „allen Toten", d. h. dem König wie seinen Mördern, Ehre bezeige. Wir hoffen, daß Vandervelde unter den Sozialisten der ganzen Welt der einzige dieser Art bleiben wird. Die republikanische Tradition ist bei den Sozialisten Europas sehr geschwächt. Das ist verständlich und kann teilweise insofern gerechtfertigt werden, als die Nähe der sozialistischen Revolution die praktische Bedeutung des Kampfes für die bürgerliche Republik aufhebt. Aber oftmals bedeutet die Schwächung der republikanischen Propaganda nicht das lebendige Drängen zum vollen Sieg des Proletariats, sondern die Schwäche der Erkenntnis der revolutionären Aufgaben des Proletariats überhaupt. Nicht umsonst wies Engels 1891 in seiner Kritik des Entwurfs des Erfurter Programms mit aller Energie die deutschen Arbeiter auf die Wichtigkeit des Kampfes für die Republik hin, auf die Möglichkeit, daß ein solcher Kampf auch in Deutschland aktuell werden wird.132 Bei uns in Rußland hat der Kampf für die Republik unmittelbare praktische Bedeutung. Nur ganz klägliche kleinbürgerliche Opportunisten vom Schlage der Volkssozialisten oder des „Sozialdemokraten" Malischewski

482

'.

r W.J.Lenin

(siehe über, ihn im ;,Proletari" Nr. 7) konnten aus den Erfahrungen der russischen Revolution die Schlußfolgerung ziehen, daß der Kampf für die Republik in Rußland in den Hintergrund trete. Im Gegenteil, gerade die Erfahrungen unserer Revolution haben bewiesen, daß der Kampf für die Vernichtung der Monarchie in Rußland untrennbar verbunden ist mit dem Kampf um den Grund und Boden für die Bauern und um die Freiheit für das ganze Volk. Gerade die Erfahrungen mit unserer Konterrevolution haben bewiesen, daß ein Befreiungskampf, der die Monarchie verschont, kein Kampf ist, sondern spießbürgerliche Feigheit und Schwäche öder direkte Irreführung des Volkes durch die Karrieristen des bürgerlichen Parlamentarismus. „Proletari" 5Vr. 22, (3. März) 19. Jebruar 1908.

'

Nadh dem 7ext des „Proletari".

483

DIE LEHREN DER KOMMUNE133 Nachdem der Staatsstreich die Revolution von 1848 abgeschlossen hatte, war Frankreich auf 18 Jahre unter das Joch des napoleonischen Regimes geraten. Dieses Regime hatte dem Land nicht nur den wirtschaftlichen Ruin, sondern auch die nationale Erniedrigung gebracht. Das Proletariat, das sich gegen das alte Regime erhob, übernahm zwei Aufgaben - eine gesamtnationale und eine Klassenaufgabe: die Befreiung Frankreichs von der Invasion Deutschlands und die sozialistische Befreiung der Arbeiter vom Kapitalismus. Diese Verknüpfung der beiden Auf gaben ist ein höchst charakteristisches Merkmal der Kommune. Die Bourgeoisie bildete damals eine „Regierung der nationalen Verteidigung", und das Proletariat sollte unter der Leitung dieser Regierung für die Unabhängigkeit der ganzen Nation kämpfen. In Wirklichkeit war das eine Regierung des ^nationalen Verrats", die ihre Aufgabe im Kampf gegen das Pariser Proletariat sah. Das Proletariat jedoch, von patriotischen Illusionen geblendet, bemerkte das nicht. Der patriotische Gedanke reichte noch in die Zeit der Großen Revolution des 18. Jahrhunderts zurück, er beherrschte die Köpfe der Sozialisten der Kommune, und Blanqui zum Beispiel, zweifellos ein Revolutionär und feuriger Anhänger des Sozialismus, fand für seine Zeitung keinen passenderen Namen als den bürgerlichen Alarmruf: „DasVaterland ist in Qefabr!" In der Vereinigung sich widersprechender Aufgäben - des Patriotismus und des Sozialismus - lag der verhängnisvolle Fehler der französischen Sozialisten. Bereits im Manifest der- Internationale, im September 1870, warnte Marx das französische Proletariat davor, sich von der trügerischen nationalen Idee hinreißen zu lassen134: Seit der Großen Revolution haben

484

r

W. 1. Lenin

sich tiefe Wandlungen vollzogen, die Klassengegensätze haben sich verschärft, und wenn damals der Kampf gegen die Reaktion ganz Europas die gesamte revolutionäre Nation zusammengesdiweißt hat, so darf das Proletariat nunmehr seine Interessen schon nicht mehr mit den Interessen anderer, ihm feindlicher Klassen verbinden; möge die Bourgeoisie die Verantwortung für die nationale Erniedrigung tragen - Sache des Proletariats ist es, für die sozialistische Befreiung der Arbeit vom Joch der Bourgeoisie zu kämpfen. Und in der Tat: Das wahre Wesen des bürgerlichen „Patriotismus" trat gar bald zutage. Nach dem Abschluß des schmachvollen Friedens mit den Preußen wandte sich die Versailler Regierung ihrer unmittelbaren Aufgabe zu - und unternahm einen Vorstoß gegen die von ihr so gefürchtete Bewaffnung des Pariser Proletariats. Die Arbeiter antworteten mit der Ausrufung der Kommune und dem Bürgerkrieg. Obwohl das sozialistische Proletariat in viele Sekten gespalten war, gab die Kommune ein glänzendes Beispiel dafür, wie es das Proletariat versteht, einmütig die demokratischen Aufgaben zu lösen, die die Bourgeoisie nur zu proklamieren fähig war. Ohne jede besondere komplizierte Gesetzgebung, einfach und sachlich, führte das Proletariat, nachdem es die Macht ergriffen hatte, die Demokratisierung der Gesellschaftsordnung durch; es beseitigte die Bürokratie und führte die Wählbarkeit der Beamten durch das Volk ein. Zwei Fehler machten jedoch die Früchte des glänzenden Sieges zunichte. Das Proletariat blieb auf halbem Wege stehen: statt zur „Expropriation der Expropriateure" zu schreiten, gab es sich Träumen darüber hin, daß in dem durch die gesamtnatiönale Aufgabe geeinigten Lande die höchste Gerechtigkeit Wirklichkeit werde. Solche Einrichtungen wie zum Beispiel die Bank wurden nicht in Besitz genommen, unter den Sozialisten herrschten noch die proüdhonistischen Theorien des „gerechten Tausches" usw. Der zweite Fehler war die übermäßige Großmut des Proletariats: Es hätte seine Feinde vernichten müssen, statt dessen aber bemühte es sich, sie moralisch zu beeinflussendes unterschätzte die Bedeutung rein militärischer Aktionen im Bürgerkrieg; und statt seinen Pariser Sieg durch einen entschlossenen Angriff auf Versailles zu krönen, zögerte es und gab der Versailler Regierung Zeit, die Kräfte der Finsternis zu sammeln und zur blutigen Maiwoche zu rüsten. •-

Die Lehrender Xommune

485

Doch trotz all ihrer Fehler bietet die Kommune das großartigste Beispiel der größten proletarischen Bewegung des-19. Jahrhunderts. Marx schätzte-die historische Bedeutung der Kommune, hoch ein — hätten die Arbeiter während des verräterischen. Vorstoßes der Versailler Bande gegen die Bewaffnung des "Pariser Proletariats-sich kampflos die Waffen" wegnehmen lassen, so wäre -die verhängnisvolle1 Wirkung der durch eine derartige Schwäche in die proletarische Bewegung hineingetragenen Demöralisation unendlich viel größer gewesen als der Schaden infolge der Verluste, die die Arbeiterklasse im Kampfe für die Verteidigung ihrer Waffen erlitten hat.135 Wie groß die Opfer der Kommune auch waren, sie werden durch ihre Bedeutung für den Kampf des gesamten Proletariats aufgewogen: die Kommune hat die-sozialistische Bewegung in Europa in Fluß gebracht, sie hat die;Kraft des Bürgerkriegs gezeigt, sie hat die patriotischen Illusionen zerstreut und den naiven Glauben an die gesamtnationalen Bestrebungen der Bourgeoisie zerstört. Die Kommune hat das europäische Proletariat gelehrt, die Aufgaben der sozialistischen .Revolution konkret.zu stellen. '-.'•.'" Die Lehren, die das Proletariat gewonnen hat, werden nicht in Vergessenheit geraten. Die Arbeiterklasse wird von ihnen Gebrauch machen, wie sie das bereits in Rußland im Dezemberaufstand getan h a t Die.Epoche, die der russischen Revolution vorausging, und sie vorV bereitete, weist eine gewisse Ähnlichkeit mit der Epoche des näpoleonischen Jochs in Frankreich auf. Auch in Rußland brachte die absolutistische Clique dem Land die Schrecken des wirtschaftlichen Ruins und die nationale Erniedrigung. Doch lange Zeit hindurch, solange die soziale Entwicklung nicht die Voraussetzungen für eine Massenbewegung geschaffen hatte, konnte die Revolution nicht zum Ausbruch kommen, und trotz all ihres Heldenmuts zerschellten in der vorrevolutionären Periode die isolierten Angriffe gegen die Regierung an der Gleichgültigkeit der Volksmassen. Erst die Sozialdemokratie hat durch zähe und planmäßige Arbeit die Massen zu den höchsten Kampfformen erzogen - zu Massenaktionen und zum bewaffneten Bürgerkrieg. Die Sozialdemokratie hat es verstanden, in dem jungen Proletariat die „gesamtnationalen" und „patriotischen" Verirrungen auszumerzen, und nachdem es dank ihrer unmittelbaren Einmischung gelungen war, dem Zaren das Manifest vom 17. Oktober abzutrotzen, machte sich das Pro-

486

"W.l Lenin

letariat daran, die weitere unausbleibliche Etappe der Revolution - den bewaffneten Aufstand - tatkräftig vorzubereiten. Frei von „gesamtnationalen" Illusionen, konzentrierte es seine Klassenkräfte in seinen Massenorganisationen, den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten usw. Und ungeachtet des großen Unterschieds der Ziele und Aufgaben, vor denen die russische Revolution/: gemessen an der französischen von 1871, steht, mußte das russische Proletariat zu derselben Kampfmethode greifen, zu der die Pariser Kommune den Grund gelegt hatte - zum Bürgerkrieg. Eingedenk ihrer Lehren wußte es, daß das Proletariat friedliche Kampfmittel nicht-verschmähen darf - sie dienen seinen Tagesinteressen, den- Interessen des Alltags, sie sind in den Zeiten der Vorbereitung deir Revolution notwendig -, jedoch darf das Proletariat auch niemals-vergessen, daß der Klassenkampf unter bestimmten Bedingungen die Form des bewaffneten Kampfes und des Bürgerkriegs annimmt. Es gibt Augenblicke, wo die Interessen des Proletariats eine rücksichtslose Vernichtung der Feinde in offener Schlacht erfordern. Das hat das französische Proletariat in der Kommune zum erstenmal gezeigt, und das rassische Proletariat hat es im Dezemberaufstand glänzend bestätigt. Sind diese beiden gewaltigen Aufstände der Arbeiterklasse auch niedergeschlagen worden - ein neuer Aufstand wird kommen, dem gegenüber sich, die Kräfte der Feinde des Proletariats als zu schwach erweisen werden und in dem das sozialistische Proletariat den vollen Sieg -davontragen wird. „Sagranitsdbnaja Qaseta" 7Jr. 2, 23. TAärz i908. ,

Oiaäo dem7extder „Sagranitsdmaja Qaseta".

487

POLIZEILICH-PATRIOTISCHE DEMONSTRATION AUF BESTELLUNG Der „große Tag des Parlaments", die Dumasitzung vom 27. Februar, findet bei unseren bürgerlichen Parteien eine rührend, einmütige Beurteilung. Alle sind zufrieden, alle freuen siehy alle sind gerührt, von den Schwarzhundertern und dem „Nowoje Wremja" bis zu den Kadetten und der „Stolitschnaja Potschta", die „vor ihrem Ableben" gerade noch schreiben konnte (in der Nummer vom 28. Februar): „Der allgemeine Eindruck (von der Dumasitzung vom 27. Februar) ist überaus günstig... Zum ersten Male im öffentlichen und staatlichen Leben Rußlands macht die Regierung das Land offen mit ihren Auffassungen über außenpolitische Fragen bekannt." . . Auch wir geben gern zu, daß der große Tag im Parlament, wenn nicht „zum ersten Male",-so doch besonders anschaulich, die tiefe Einmütigkeit von Schwarzhundertern, Regierung, Liberalen und „Demokraten" vom Schlage der „Stolitschnaja Potschta" demonstriert hat, eine Einmütigkeit in den Grundfragen des „öffentlichen und staatlichen Lebens". Daher scheint es uns unbedingt notwendig, die Stellung, die alle Parteien an diesem Tag und aus Anlaß dieses Tages eingenommen haben, aufmerksam zu studieren. Führer der Regierungspartei der Oktobristen ist Herr Gutschkow. Er richtet „an die Regierungsvertreter die Bitte", über die wirkliche Lage im Fernen Osten AufSchluß zu geben: Er erläutert von der Dumatribüne herab die Bedeutung der Sparsamkeit - zum Beispiel soll der Botschafter in Tokio statt 60000 Rubel ein Jahresgehalt von 50000 Rubel beziehen. Wir reformieren, Spaß beiseite! Er erklärt ferner, beunruhigende Nach-

488

"W. J.Lenin

richten über die Fernostpolitik, über einen drohenden Krieg mit Japan, hätten „in der Presse Eingang gefunden". Daß der russischen Presse ein Maulkorb angelegt ist, davon spricht der Führer der Kapitalisten natürlich nicht. Wozu auch? Im Programm mag Pressefreiheit stehen. Das ist unerläßlich für eine „europäische" Partei. Wirklicher JQimpf gegen die Knebelung der Presse, rücksichtslose Entlarvung der notorischen Korruptheit der einflußreichen russischen Presseorgane - es wäre lächerlich, dergleichen von Herrn Gutschkow wie auch von Herrn Miljukow zu erwarten. Dafür hat aber Herr Gutschkow über den Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik die Wahrheit gesagt, das heißt, er hat ausgeplaudert, was in Wirklichkeit hinter der Komödie steckt, die am 27. Februar von der Duma aufgeführt wurde. „Die Tatsache", verkündete er, „daß wir mit raschen Schritten auf dem Wege der Beruhigung und Befriedung'vorwärtsschreiten, muß unseren Gegnern zeigen, daß der Versuch (Rußlands), seine Interessen zu wahren, diesmal zweifellos erfolgreich sein wird." Die Schwarzhunderter und Oktobristen-spenden-Beifall. Wie denn auch nicht! Haben sie doch von Anfang an ausgezeichnet verstanden, daß der "Kern der zur Erörterung ste-: henden Frage und des ganzen feierlichen Auftretens der Regierung in der Person des Herrn Iswolski darin besteht, die konterrevolutionäre Politik unserer Nachfolger Murawjows des Henkers als Beruhigungs- und Befriedungswerk zu proklamieren. Europa und der ganzen Welt soll gezeigt werden, daß dem „äußeren Feind" ein „einiges Rußland" gegenübersteht, das ein kleines Häuflein von Rebellen (gar nicht viel - etwa hundert Millionen Arbeiter und Bauern!) zu Ruhe und Frieden bringt, um den „Versuchen, seine Interessen zu wahren", den Erfolg zu sichern. •: Ja, Herr Gutschkow hat es verstanden auszusprechen, was ihm not tat, was den vereinten Gutsbesitzern und Kapitalisten not tat! Professor Kapustin, ein „linker" Oktobrist, die Hoffnung der Kadetten,: die Zuversicht der Anhänger des Friedens zwischen Gesellschaft und Staatsmacht, beeilte sich, in die Fußtapfen. Gutschkows zu treten und seine Politik durch widerlich salbungsvolle liberale Heuchelei schmackhaft zu machen: „Gebe Gott, ihr (der Duma) werde nachgerühmt,- daß wir mit dem Gelde des Volkes sparsam umgehen." 50000 Jahresgehalt für einen Botschafter - ist das nicht eine Ersparnis von vollen 10000 Rubel? Ist es nicht ein „herrliches Beispiel, das unsere höchsten Würdenträger, im Be-i

Polizeilidj-patriotisdhe Demonstration auf Bestellung

489

wußtsein der ernsten und schweren Zeit, die Rußland heute durchmacht, geben werden" ... . „ A u f den verschiedensten Gebieten im Leben des Landes stehen wir vor durchgreifenden Reformen, und das erfordert große Mittel." ..'. Juduschka Golowljow* ist ein Waisenknabe im Vergleich mit diesem Parlamentarier! Ein-Professor auf der Dumatribüne, in Verzückung über das herrliche Beispiel höchster Würdenträger Aber was soll man von einem Oktobristen reden r werm Liberale und bürgerliche Demokraten in puncto Stiefelleckerei kaum zurückstehen. - Nun zur Rede des Ministers des Auswärtigen, des Herrn Iswolski. Etwas Besseres als einen solchen Anhaltspunkt, wie Kapustin ihn auf dem Tablett präsentierte, konnte er sich natürlich gar nicht wünschen. Und so redete der Minister des langen und breiten von der -Notwendigkeit, die Ausgaben einzuschränken — oder den Personaletat zu revidieren, um Botschaftern, die „nicht über eigene Mittel verfügen", zu. helfen. Iswolski betont t daß er mit Genehmigung Nikolaus' II. spricht, und preist „Kraft, Vernunft und Patriotismus des russischen Volkes", das „seine gesamten Kräfte, die materiellen wie die geistigen, einsetzen wird, um Rußland seine heutigen asiatischen Besitzungen zu sichern und sie zu allseitiger Entwicklung zu bringen". Der Minister sagte, was zu sagen ihn die Kamarilla beauftragt hatte. Das Wort gehört nunmehr dem Führer der Opposition, Herrn Miljukow. Er erklärt auf der Stelle: „Die Partei der Volksfreiheit, in Gestalt ihrer hier anwesenden Fraktion, hat mit tiefer Genugtuung die Worte des Ministers des Auswärtigen vernommen und hält es für ihre Pflicht, seine erste Rede zu begrüßen, die der Vertretung des Landes über Fragen der russischen Außenpolitik Auskunft gibt. Es steht außer Zweifel, daß im gegenwärtigen Zeitpunkt... die russische Regierung... sich bei der Verfolgung ihrer Absichten auf die russische öffentliche Meinung stützen muß." .-. . , In der Tat, das steht ganz außer Zweifel. Die Regierung der Konterrevolution muß sich bei der Verfolgung ihrer Absichten darauf stützen, was im Ausland als die russische öffentliche Meinung aufgefaßt (oder dafür ausgegeben) werden könnte. Sie muß es tun insbesondere, um eine Anleihe * Hauptfigur des Romans „Die Herren Golowljow" von Saltykow-Schtschedrin. Der "Übers. 32 Lenin, Werke, Bd. 13

490

W. 7. Lenin

zu bekommen, ohne die der ganzen Stolypinschen Politik des. Zarismus, berechnet' auf viele Jahre systematischer Gewaltmaßnahmen gegen die Masse des Volkes, Bankrott und Zusammenbruch drohen. Herr Miljukow ist der wahren Bedeutung des feierlichen Auftretens der Herren Iswolski, Gütsdikow und Co.'ganz nahe gekommen. Dieses Auftreten war von der: Schwarzhunderterbande Nikolaus' II. bestellt. Jede Einzelheit dieser polizeilich-patriotischen Demonstration war im voraus abgekartet. Die Dumamarionetten tanzten in dieser Komödie.nach der Pfeife der absolutistischen Kamarilla: ohne Unterstützung der westeuropäischen Bourgeoisie kann sich Nikolaus II. nicht halten. So muß die ganze russische Bourgeoisie, die rechte sowohl als auch die Unke, bewogen werden, der Regierung, ihrer „Friedenspolitik", ihrer Festigkeit, ihren Absichten und Fähigkeiten zur Beruhigung und Befriedung feierlich ihr Vertrauen auszudrücken. Die Regierung brauchte das als Blankounterschrift auf einem Wechsel. Das ist der Zweck^ warum man Herrn Iswolski, der bei den Kadetten am „beliebtesten" ist, vorgeschoben hat, warum man diese ganze unverschämte Heuchelei über sparsames Umgehen mit dem Gelde des Volkes, über Reformen, darüber, daß die Regierung „offen" über die Außenpolitik „Aufschluß gibt", bestellt hat, obwohl es jedermann klar ist, daß man keinerlei Aufschluß geben wollte und keinerlei Aufschluß gegeben hat. . Und die liberale Opposition ließ sich von der Polizei- und Schwarzhundertermonarchie gehorsam als Marionette gebrauchen! Während eine entschlossene Verkündung der Wahrheit durch die bürgerliche Dumaminderheit zweifellos eine große Rolle gespielt und der Regierung die Aufnahme einer Milliardenanleihe für neue Strafexpeditionen, Galgen, Gefängnisse - und verstärkte Sicherheitsmaßnahmen unmöglich gemacht (oder erschwert) hätte, sank die Kadettenpartei dem vergötterten Monarchen zu Füßen, war sie bestrebt, sich lieb Kind zu machen. Herr Miljukow tat das, indem er seinen Patriotismus bewies. Er spielte sich als Kenner der .Außenpolitik auf, einzig weil er in irgendwelchen Vorzimmern Informationen über Iswolski als Liberalen gesammelt hätte. Herr Miljukow hat durchaus.bewußt den Wechsel unterschrieben, als er den Minister des Zaren.im Namen der ganzen Kadettenpartei feierlich „begrüßte", denn er wußte sehr gut, daß am nächsten Tag alle europäischen Zeitungen wie auf Kommando erklären würden: die Duma hat einstimmig (mit Aus-

Tolizeilidh-patriotisdhe Demonstration auf "Bestellung

491

nähme der Sozialdemokraten) der Regierung ihr Vertrauen ausgesprochen, hat ihre Außenpolitik gebilligt.... -In einer Zeitspanne von drei Jahren hat der russische Liberalismus eine Evolution: durchgemacht, für die in Deutschland über 30 Jahre, in Frankreich sogar über 100 Jahre erforderlich waren: die Evolution vom Freiheitsanhänger zum willenlosen und niederträchtigen Helfer des Absolutismus. Die spezifische Waffe, über die die Bourgeoisie im Kampfe verfügt — die Möglichkeit, auf den Geldbeutel zu drücken, die Aufbringung von Geldmitteln zu erschweren, „fein gesponnene" Schliche zum Erhalt neuer Anleihen zu durchkreuzen — diese Waffe zu gebrauchen, hatten die Kadetten in der russischen Revolution vielfach Gelegenheit. Doch jedesmal, sowohl im Frühjahr 1906 als auch im Frühjähr 1908, lieferten sie dem Feinde eigenhändig ihre Waffen-aus, leckten sie den Pogrommachem die Hände und schworen ihnen Loyalität. Herr Struve hat rechtzeitig dafür gesorgt, daß diese Praxis auf eine feste theoretische Grundlage gestellt werde. In der Zeitschrift „Russkaja Mysl", die in Wirklichkeit „Tschernösotennaja Mysl" heißen müßte136, propagiert Herr Struve bereits die Idee eines „Gfoßrußlands", die Idee des bürgerlichen Nationalismus, zetert über die „feindselige Einstellung der Intellektuellen zum Staat" und bringt zum tausendundersten Mal den „russischen Revoltrtionarismus", den „Marxismus", die „Abtrünriigkeit", den „Klassenkampf", den „banalen Radikalismus" zur Strecke. ü b e r diese ideologische Evolution des russischen Liberalismus können wir uns nur freuen. Denn in Wirklichkeit bat sidb dieser Liberalismus in der russischen Revolution bereits dergestalt gezeigt, wie ihn Herr Struve als systematischen, einheitlichen, durchdachten, „philosophischen" Liberalismus schaffen will. Die Herausarbeitung einer konsequenten konterrevolutionären Ideologie stellt einen Schlüssel dar, sobald es eine bereits voll ausgebildete Klasse gibt, die in den wichtigsten Lebensperioden des Landes konterrevolutionär gehandelt hat. Eine der Klassenstellung und Klassenpolitik der Bourgeoisie entsprechende Ideologie wird allen helfen, die Überreste des Glaubens an den „Demokratismus" der Kadetten zu überwinden. Die Überwindung dieser Überreste aber ist nützlich, ja sie ist notwendig, damit man im wirklichen Massenkampf um die Demokratisierung Rußlands vorwärtsgehen kann. Herr Struve will einen offen konterrevolutionären Liberalismus. Auch wir wollen ihn, denn die

492

W. 7. Lenin

„Offenherzigkeit" des Liberalismus wird sowohl die demokratische Bauernschaft als auch das sozialistische Proletariat am besten aufklären. Wenn wir uns nun wieder der Dumasitzung vom 27. Februar zuwenden, so müssen wir sagen, daß das einzige ehrliche und stolze Wort eines Demokraten von einem Sozialdemokraten gesprochen wurde. Der Abgeordnete Tschcheidse betrat die Tribüne, erklärte, die sozialdemokratische Fraktion werde gegen den Gesetzentwurf stimmen, und begann, das zu begründen. Doch bereits nach seinen ersten Worten: „Unsere Diplomatie im Westen war stets Stütze der Reaktion und der Interessen ..." hieß der Vorsitzende den Arbeitervertreter schweigen. „Die Geschäftsordnung gestattet die Begründung der Stimmabgabe" stammelten die Kadetten. „Außer den Gründen ist auch die Form von Bedeutung" - antwortete der Bandit, der sich Vorsitzender der III. Duma nennt. . Er hatte von seinem Standpunkt aus recht: was sollte hier die Geschäftsordnung, da es um die geschlossene Durchführung einer polizeilich bestellten patriotischen Demonstration ging? Der Arbeiterabgeordnete stand in dieser Frage isoliert da. Um so größer ist sein Verdienst. Das Proletariat muß und wird zeigen, daß es fähig ist, allen Verrätereien des Liberalismus und allen Schwankungen des Kleinbürgertums zum Trotz, das Vermächtnis der demokratischen Revolution zu verteidigen. „Proletari" JVr. 25,

(25.) 12. März 1908.

Jiaö] dem Text des „Proletari'.

493

WIE DIE LIBERALEN DAS VOLK BETRÜGEN Auf dem jüngsten, dem Londoner, Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands wurde die Frage der Stellung zu den bürgerlichen Parteien behandelt und eine entsprechende Resolution angenommen. Besonders heftige Diskussionen rief dabei auf dem Parteitag jene Stelle der Resolution hervor, in der vom Betrug der Liberalen am Volk die Rede ist.* Den Sozialdemokraten des rechten Flügels unserer Partei schien diese Stelle im hödisten Grade falsch. Sie erklärten sogar, es sei unmarxistisch, in einer Resolution von einem „Betrug" der Liberalen am Volk zu sprechen, d. h. den Anschluß gewisser Bevölkerungsschichten an eine gegebene Partei (im vorliegenden Fall die der Kadetten) nicht mit den Klasseninteressen dieser Schichten, sondern mit den „unmoralischen" Methoden der Politik dieser oder jener Gruppe von Parlamentariern, Advokaten, Journalisten usw. zu erklären. In Wirklichkeit aber verbarg sich hinter diesen wohlanständigen, in ein wohlanständiges scheinmarxistisches Gewand gekleideten Argumenten eine Politik, die darauf abzielt, die Selbständigkeit des Proletariats als Klasse zu schwächen und es (in der Praxis) der liberalen Bourgeoisie unterzuordnen. Denn die Interessen des demokratischen Kleinbürgertums, das den Kadetten Gefolgschaft leistet, werden von diesen Herrschaften nicht ernstlich gewahrt, sondern vielmehr durch ihre Politik des Kokettierens und Paktierens mit der Regierung, mit den Oktobristen, mit der „historischen Macht" der zaristischen Selbstherrschaft verraten. Außerordentlich interessantes Material für eine auf neuen Tatsachen beruhende Beleuchtung dieser Frage - einer1 der grundlegenden Fragen * Siehe Werke, Bd. 12, S. 505/506. Die Red.

494

TV. J. Lenin

der sozialdemokratischen Taktik in allen kapitalistischen Ländern liefert uns der gegenwärtige Kampf um das allgemeine Wahlrecht zum preußischen Landtag. Die deutsche Sozialdemokratie hat das Banner dieses Kampfes entrollt. Das Proletariat Berlins, und danach auch das aller anderen Großstädte Deutschlands, ging auf die Straße, organisierte grandiose Demonstrationen von Zehntausenden und legte den Grundstein zu einer breiten Massenbewegung, die bereits jetzt, ganz an ihrem Anfang, zu Gewalttaten der konstitutionellen Behörden, zum Einsatz von Militär, zu bewaffnetem Vorgehen gegen wehrlose Massen geführt hat. Kampf erzeugt Kampf! Stolz und kühn antworteten die Führer des revolutionären Proletariats auf diese Gewalttaten. Aber hier erhob sich die Frage nach der Stellung zur demokratischen (und liberalen) Bourgeoisie im Kampf um das Wahlrecht. Und die Debatten, die hierüber zwisdien den deutschen revolutionären Sozialdemokraten und den Opportunisten (Revisionisten, wie man sie in Deutschland nennt) geführt wurden, kommen unserem Streit über das Thema: wie die Liberalen das Volk betrügen, erstaunlich nahe. Das Zentralorgan der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der „Vorwärts", hat einen Leitartikel gebracht, dessen Inhalt und Grundgedanke klar in der Überschrift ausgedrückt sind: „Wahlrechtskampf — Klassenkampf!" Obgleich dieser Artikel nur allgemein bekannte sozialdemokratische Wahrheiten in positiver Form darlegte, wurde er doch wie auch zu erwarten war - von den Opportunisten als Herausforderung aufgefaßt. Der Fehdehandschuh wurde aufgenommen. Genosse Südekum, eine bekannte Persönlichkeit auf dem Gebiet des Mimizipalsozialismus, unternahm einen energischen Feldzug gegen diese „Sektentaktik", gegen die „Absonderung des Proletariats", gegen die „Unterstützung der Schwarzhunderter" (Reaktionäre - sagen die Deutschen ein wenig milder) „durch die Sozialdemokraten". Denn auch der deutsche Opportunist betrachtet es als Unterstützung der Schwarzhunderter, wenn man den Klassenkampf in eine dem Proletariat und den Liberalen gemeinsame Sache hineinträgt! „Die Einführung des'Reichstagswahlrechts an Stelle der Dreiklassenschande in Preußen ist keine Angelegenheit einer einzigen Klasse", schrieb Südekum. Und er verwies darauf, daß dies eine Angelegenheit „der städtischen Bevölkerung gegen die Agrarier, der Demokratie gegen die Bürokratie, der Bauernschaften gegen die Gutsbezirke, Westelbiens

Wie die Liberahn das Volk betrügen

495

gegen Ostelbien" sei (d. h. des industriell und kapitalistisch überhaupt fortgeschrittenen Teils des Landes gegen den wirtschaftlich rückständigen). „Es kommt jetzt darauf an, die Freunde der Umgestaltung, was sonst immer sie auch trennen mag, in diesem Punkte zusammenzuführen." Der Leser sieht, daß das alles ganz bekannte Argumente sind, daß auch hier die Kostümierung streng orthodox-„marxistisch" ist und auch der Hinweis auf die wirtschaftliche Lage xmd die Interessen bestimmter Elemente der bürgerlichen Demokratie („städtische Demokratie", Bauernschaft usw.) nicht fehlt. Und man braucht wohl nicht hinzuzufügen, daß die deutsche bürgerlich-liberale Presse dieses Liedchen bereits jahrzehntelang unablässig singt und die Sozialdemokratie des Sektierertums, der Unterstützung der Schwarzhunderter und der Unfähigkeit, die Reaktion zu isolieren, beschuldigt. ••...„•; Mit welchen Argumenten widerlegten nun die deutschen revolutionären Sozialdemokraten diese Gedankengänge? Wir wollen- ihre Hauptargumente aufzählen, damit die Leser - die über die deutschen Angelegenheiten „als Außenstehende", „ohne Haß und Voreingenommenheit" urteilen — feststellen können, ob hier Hinweise auf besondere örtliche und zeitliche Bedingungen oder solche auf die allgemeinen Prinzipien! des Marxismus vorwiegen. , • . ' . • Unsere Freisinnigen „fordern" zwar in ihren Programmen das allgemeine Wahlrecht, schrieb der „Vorwärts": Und darüber schwingen sie jetzt besonders eifrig feierliche Reden. Aber kämpfen sie für die Reform? Sehen wir nicht im Gegenteil; daß die wirkliche Volksbewegung, die Straßendemonstrationen, die breite Massenagitation, die Mobilisierung der Massen in ihnen ein schlecht verhehltes Gefühl der Angst, des Abscheus und in seltenen Fällen bestenfalls ein Gefühl der Gleichgültigkeit hervorruft? ,; . ; . Man muß verstehen, die Programme der bürgerlichen Parteien, die Bankett- und Parlamentsreden liberaler Karrieristen von ihrer wirklichen Teilnahme am wirklichen Kampf des Volkes zu unterscheiden. In Worten waren alle bürgerlichen Politikaster in allen pärlamentarisdien Ländern stets Feuer-und Flamme für die Demokratie, gleichzeitig aber verrieten sie die Demokratie. • ' „Nun gibt es allerdings innerhalb des Zentrums und des Freisinns Elemente, die am allgemeinen und gleichen Wahlrecht interessiert sind",

496

• : • • • •

W.l

Lenin

'

schrieb der „Vorwärts". Aber nicht diese Elemente, nicht die kleinen Handwerker, nicht die Halbproletarier, nicht die halbruinierten Bauern sind die Führer der bürgerlichen Parteien. Sie folgen den liberalen Bourgeois, die sie vom Kampf abzulenken suchen, hinter ihrem Rücken Kompromisse mit der Reaktion schließen, ihr Klassenbewußtsein korrumpieren und sich nicht wirklich für ihre Interessen einsetzen. Um solche Elemente in den Kampf für das allgemeine Wahlrecht hineinzuziehen, muß man das Klassenbewußtsein in ihnen wecken und sie von den schwankenden bürgerlichen Parteien loslösen. „Innerhalb des Freisinns bilden sie eine ohnmächtige, immer wieder vertröstete und dann stets von neuem düpierte Minorität, deren politische Energie völlig brachgelegt ist. Soll aber der Freisinn, und sollte das Zentrum wirklich durch Stimmenverluste zu Konzessionen an die Demokratie zu zwingen sein, so wäre gerade das Mittel des Klassenkampfes und der durch ihn verursachten Schwächung dieser Parteien das einzige Mittel, das widerstrebende Bürgertum nach links zu drängen." Denn die politischen Tatsachen haben längst bewiesen, daß den Freisinnigen die Reaktion weniger verhaßt ist als die Sozialdemokratie. „Es gilt nicht nur, mit schonungsloser Schärfe die Sünden aller bürgerlichen Parteien zu geißeln, sondern es gilt auch vor allen Dingen, die Wahlrechtsverrätereien des Freisinns und des Zentrums als notwendige Konsequenz des Klassencharakters dieser Parteien darzustellen." Ob unsere Kadetten fähig sind, für die in ihrem Programm aufgestellten demokratisdien Forderungen zu „kämpfen", oder ob sie diese nur aufstellen, um die den Liberalen folgenden Kleinbürger und Bauern an die Oktobristen zu verraten - früher oder später wird diese Frage immer wieder an die russischen Sozialdemokraten herantreten, wie sie schon im Verlauf der Revolution mehr als einmal aufgetaucht ist. Darum wird es mandi einem aus unserer Partei nicht schaden, über die Argumente des „Vorwärts" nachzudenken. PS. Der vorliegende Artikel war bereits in Satz gegeben, als wir in Nr. 52 der „Retsch" (vom 1. März) den Artikel „Die Krise des deutschen Liberalismus" von Herrn K. D., dem Berliner Korrespondenten dieser Zeitung, lasen. Die Polemik des „Vorwärts" mit Südekum erwähnt der Verfasser im üblichen Ton und mit den üblichen Manieren unserer libera-

Wie die Liberalen das Volk betrügen

497

len Fälscher. Die Argumente der einen wie der anderen Partei darzulegen, genaue Zitate anzuführen - daran denkt der Verfasser gar nicht. Er erklärt einfach: „Der offizielle ,Vorwärts' überschüttet den Ketzer sofort mit Kübeln von Schmutz und beschuldigt ihn in einem seines leichtfertigen, provozierenden Tones wegen äußerst unappetitlichen Leitartikel der Unwissenheit und unerlaubten Vergeßlichkeit gegenüber den Parteidogmen." Wir überlassen es dem Leser, zu beurteilen, ob.Südekum selber es „appetitlich" finden wird, dergestalt von den Kadetten verteidigt zu werden. Aber das ist nun einmal das Schicksal der Revisionisten eines jeden Landes: verstärkte Unterstützung und gefühlvolle „Anerkennung" ihrer Bemühungen bei der Bourgeoisie zu finden. Ein Bündnis der Südekum mit den Herren Struve - man kann wohl kaum etwas „Appetitlicheres" erdenken, um die Richtigkeit unserer Position zu bekräftigen. ,J>roletari° "Nr. 25, (25.) 12."März1908.

Wacfo dem 7ext des „Proletari".

498

MARX. IM, URTEIL DES INTERNATIONALEN ' ; LIBERALISMUS , . Der Held eines Turgenjewschen Werkes verändert : die Worte des großen deutschen Dichters folgendermaßen: Wer den Feind will versteh'n, Muß in Feindes Lande geh'n* d. h., er muß sich unmittelbar mit den Gewohnheiten, Sitten und Methoden, nach denen der Feind urteilt und handelt, bekannt machen. Auch den Marxisten kann es nicht schaden, wenn sie einen Blick darauf werfen, wie sich einflußreiche politische Organe der verschiedenen Länder anläßlich des fünfundzwanzigsten Todestages von Marx äußern, vor allem die liberalen und „demokratischen" bürgerlichen Zeitungen, die die Möglichkeit, die Lesermassen zu beeinflussen, mit dem Recht vereinigen, im Namen der offiziellen, amtlichen, titelgeschmückten Professorenwissenschaft zu sprechen. Wir beginnen unsere Übersicht mit den „Russkije Wedomosti", dem ruhigsten (und langweiligsten), gelehrtesten (dem wirklichen Leben völlig fernstehenden) Professorenblatt. In dem kleinen Artikel anläßlich der fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Todestages von Karl Marx (Nr. 51i vom 1. März) ist ein trockener, hölzerner Ton vorherrschend - „Objektivität", wie es in der Sprache der „Ordinarien" und „Extraordinarien" h e i ß t . . . Der Verfasser des Artikels sucht sich auf Tatsachen und Tatsächelchen zu beschränken. Und er ist, als unparteiischer Historiker, bereit, Marx Gerechtigkeit widerfahren zu lassen — wenigstens für Vergangenes, das schon dahin ist und über das man sprechen kann, ohne sich * Bei Lenin deutsch. Der Ubers.

Marx im TArteil des internationalen Liberalismus

499

zu ereifern. Die „Jlusskije WedomosWj erkennen in Marx sowohl'„die einzigartige Gestalt" wie den „in der Wissenschaft großen" Menschen, den „hervorragenden Führer des Proletariats" und-den Organisator der Massen an. Aber diese Anerkennung gilt nur dem Vergangenen: „Heute", meint die Zeitung, „sind wahrlich neue Wege notwendig", d.h. neue Wege der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, die keine Ähnlichkeit mit dem „alten Marxismus""-aufweisen. Was das;nun für neue Wege sind/ davon spricht die Zeitung nicht direkt — das wäre ein zu "wirklichkeitsnahes Thema für Professoren und ein allzu „unvorsichtiger" Gegenstand für die Virtuosen der Kunst, „taktvoll zu schweigen". Aber es werden deutliche Anspielungen gemacht: „Viele von seinen (Marx3) Konstruktionen sind durch die wissenschaftliche Analyse und die unerbittliche Kritik der Ereignisse zerstört worden. Unter den Gelehrten gibt es kaum Anhänger, die seinem System als Ganzes treu sind. Marx' geistiges Kind - die deutsche Sozialdemokratie - hat sich recht stark von dem revolutionären Wege abgewandtj der von den Begründern des deutschen Sozialismus vorgezeichnet war." Man sieht: nur wenig ist es, was der Verfasser nicht ausspricht: den Wunsch, Marx auf revisionistische Art zu korrigieren. Eine andere einflußreiche Zeitung, die „Retsdb", das Organ der politischen Partei, die im Konzert des russischen Liberalismus die erste Geige spielt, tritt mit einer weitaus lebendigeren Würdigung von Marx hervor. Die Tendenz ist selbstverständlich dieselbe wie bei den „Russkije WedomosXi", aber wenn wir dort die Vorrede zu einem dicken Buch sahenf so finden wir hier politische Losungen, die unmittelbar für eine ganze Reihe von Reden von der Tribüne des Parlaments herab, bei der Einschätzung aller Tagesereignisse, aller Fragen-der Gegenwart, richtunggebend sein können. Den Artikel „Karl Marx und Rußland" (Nr. 53 vom 2. März) schreibt der bekannte Überläufer Herr Isgojev - ein Muster jener russischen Intellektuellen, die hn Alter von 25 bis 30 Jahren „in Marxismus machen", im Alter von 35 bis 40 Jahren liberalisieren und sich später als Schwarzhunderter betätigen. Herr Isgojew ist (wie er selbst erklärt und wie es ihm der Großmeister des Renegatentums, Herr Struve, bestätigt hat) von den Sozialdemokraten zu den Liberalen hinübergewechselt, gerade damals, als nach den ersten verblüffenden Erfolgen der Revolution die schwere Zeit des langen

500

TV.I.Lenin

und- hartnäckigen Kampfes mit der sich konsolidierenden Konterrevolution begann. Und Herr Isgojew ist in dieser Beziehung außerordentlich typisch. Er erklärt und demonstriert vortrefflich, wem das professorenhafte Getue bei der Würdigung von Marx dient, wessen Arbeit diese mit Titeln geschmückte „Wissenschaft" besorgt. „Dieser politikasternde Taktiker", donnert Isgojew über Marx, „ist dem großen Gelehrten recht hinderlich gewesen und ist für ihn zur Ursache nicht weniger Irrtümer geworden." Der Grundirrtum ist selbstverständlich, daß neben dem' richtigen, vernünftigen, von der „Mehrheit" (der Mehrheit der Philister?) gebilligten „evolutionären Marxismus" der verderbliche, unwissenschaftliche, phantastische und „durch das volkstümlerische Dünnbier verfälschte" revolutionäre Marxismus ans Tageslicht getreten ist. Die Rolle dieses Marxismus in der russischen Revolution empört unseren Liberalen besonders. Bedenkt doch nur: man ist so weit gegangen, von der Diktatur des Proletariats zur Durchführung eben dieser „bürgerlichen Revolution" oder gar von der „im Munde von Marxisten ganz phantastisch klingenden Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" zu sprechen. „Kein Wunder, daß der revolutionäre Marxismus in der Form, in der er in Rußland von den Bolschewiki verschiedener Färbung vertreten wird, Bankrott machte." „... Man muß an den Ausbau einer gewöhnlichen ,bourgeoisen' (die ironischen Gänsefüßchen stammen von Herrn Isgojew) Verfassung denken." Da haben wir einen ideell ganz fertigen und politisch reifen Oktobristen, der völlig überzeugt ist, daß der Marxismus und die revolutionäre Taktik und nicht die Kadettentaktik der Kompromisse und des Verrats Bankrott gemacht hat! Gehen wir weiter. Von der russischen Presse gehen wir zur deutschen über, die in freier Atmosphäre wirkt, angesichts einer legalen sozialistischen Partei, die in Dutzenden von Tageszeitungen ihrer Meinung Ausdruck gibt. Eine der reichsten, verbreitetsten und „demokratischsten" bürgerlichen Zeitungen Deutschlands, die „Frankfurter Zeitung", widmet der fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Todestages von Marx einen langen Leitartikel (Nr. 76 vom 16. März n.St., Abendblatt). Die deutschen „Demokraten" packen den Stier sogleich bei den Hörnern. „Es versteht sich", erzählen sie uns, „daß die sozialdemokratische Presse an diesem Tage in zahlreichen Artikeln ihres Meisters gedachte. Aber sogar in einem

'Marx im lirteil des internationalen Liberalismus

501

angesehenen nationalliberalen Blatte wurde Marx,, wenn auch mit den üblichen Verwahrungen, als ein'Großer gefeiert. Nun, ein Großer gewiß, aber ein großer Verderber." Die Zeitung, in der die Blüte jener Spielart des geistigen Schwarzhundertertums vertreten ist, die sich europäischer Liberalismus nennt, fügt erläuternd hinzu, daß sie die persönliche Ehrenhaftigkeit von Marx in keiner Weise anzweifelt. Aber seine Theorien brachten unabsehbaren Schaden. Dadurch, daß er den Begriff der Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit in das Gebiet der gesellschaftlichen Erscheinungen einführte, dadurch, daß er die Bedeutung der Moral und die Relativität und Bedingtheit unserer Kenntnisse leugnete, schuf-Marx eine äntiwissenschaftliche Utopie und geradezu eine „Kirche" seiner sektiererischen Anhänger. Die schädlichste unter seinen Ideen aber ist die Idee des Klassenkampfes. Darin liegt alles Übel! Marx nahm den alten Ausspruch von den two nations ernst, den zwei Nationen, die innerhalb jeder zivilisierten Nation bestehen, der Nation der „Ausbeuter" und der Nation der „Ausgebeuteten" (diese beiden unwissenschaftlichen Ausdrücke setzt die Zeitung in todlich-ironische Gänsefüßchen). Marx vergaß die selbstverständliche, klare, allen gesunden Menschen verständliche Wahrheit, daß im sozialen Leben „nicht Kampf, sondern sich Vertragen der Zweck ist". Marx „hat das Volk auseinandergerissen, denn er hat seinen Leuten in die Köpfe gehämmert, daß zwischen ihnen und den anderen keine Gemeinschaft bestehe und daß sie Todfeinde seien". „Was wäre natürlicher", fragt das Blatt, „als daß die Sozialdemokratie, die in ihren praktischen Forderungen mit vielen Bürgerlichen übereinstimmt, eine Annäherung an sie suchte? Dazu ist es aber nie gekommen, dank der marxistischen Theorie. Die Sozialdemokratie hat sich selber zur Isolation verurteilt. Eine Zeitlang konnte man meinen, daß da ein grundsätzlicher Wandel vor sich gehen werde. Das war damals, als die Revisionisten ihre Kampagne begannen. Aber es war ein Irrtum, und der Unterschied zwischen den Revisionisten und uns besteht unter anderem darin, daß wir diesen Irrtum eingesehen haben und sie nicht. Die Revisionisten glaubten und glauben noch, daß es möglich sei, an Marx einigermaßen festzuhalten und doch eine andere Partei zu werden. Das ist aber eine vergebliche Hoffnung. Man schluckt Marx ganz oder gar nicht, aus einem Mittelding kann nichts werden . . . " Sehr richtig, ihr Herren Liberalen! Mitunter passiert es tatsächlich, daß ihr eine unverhoffte Wahrheit aussprecht!

502

W.l

Lenin

„Solange die Sozialdemokratie Marx verehrt, solange auch kommt sie von der Idee, des Klassenkampfes und all den arideren Dingen nicht, los, die das Leben mit ihr schwer machen. Die gelehrte Welt ist darüber einig, daß von den .nationalökonomischen Lehren des Marxismus keine einzige sich als stichhaltig erwiesen hat." So, so. Ihr Herren habt das Wesen der bürgerlichen Wissenschaft, des bürgerlichen Liberalismus.tmd seiner ganzen Politik vortrefflich zum Ausdruck gebracht. Ihr habt begriffen, daß man Marx nicht in Teilen schlukken kann. Die Herren Isgojew und die russischen Liberalen haben das noch nicht begriffen. Bald werden auch sie es begreifen. . Und zum Schluß das konservative Organ, einer bürgerlichen Republik: „Journal des Debats'\ In seiner -Nummervom 15. März schreibt das Blatt anläßlich des Jahrestages, daß die Sozialisten, diese „rohen Gleichmadier", den Kult ihrer großen Männer predigen,-daß das Hauptübel an der Lehre von Marx, der „die Bourgeoisie haßte", die Theorie des Klassenkampfes sei. „Er predigte den arbeitenden Klassen nicht vorübergehende Konflikte, die Verständigungen nach sich ziehen, sondern den heiligen Krieg, den Vernichtungskrieg, den Krieg der: Expropriation, den Krieg um das gelobte Land des Kollektivismus . . . eine ungeheuerliche Utopie." Die bürgerlichen Zeitungen schreiben gut,, wenn sie irgend etwas wirklich empfindlich trifft. Und es läßt sich fröhlicher leben, wenn man sieht, wie die ideelle Einheit der liberalen Feinde des Proletariats in der ganzen Welt sich bildet und konsolidiert, denn diese Einheit ist ein Unterpfand für die Einigung der. Millionen des internationalen Proletariats, das sich, : koste es/was es wolle, sein gelobtes Land erobern wird. „Proleten" Nr. 25, (25.) i2. März 1908.

Nach dem 7ext des „Proletari".

ANMERKUNGEN

505

1

Der Artikel „Qegen den "Boykott" wurde Ende Juli 1907 in der Broschüre „Ober den Boykott der dritten Duma" veröffentlicht. Die "Broschüre wurde in einer illegalen sozialdemokratischen Druckerei in Petersburg gedruckt, auf dem Umschlag wurde jedoch der fingierte Erscheinungsort „Moskau 1907, Druckerei Gorisontow, Twerskaja 40" angegeben. Im September 1907 wurde die Broschüre beschlagnahmt. 1 ' 2 Der 4. Delegiertenkongreß des Qesamtrussisdben Cebrerverbandes fand vom 19. bis 24. Juni (2. bis 7. Juli) 1907 in Finnland statt. Auf dem Kongreß waren 91 Delegierte anwesend, die über 2000 Lehrer vertraten. 3 3 Der Staatsstreid) vom 3. (l,6.) Juni 1907 war ein reaktionärer Umsturz, der in der gewaltsamen Auflösung der II. Reichsduma durch die Regierang . und i» der Abänderung des Wahlgesetzes für die. Dumawahlen seinen Ausdruck fand. Durch das neue Wahlgesetz wurde die Zahl* der Vertreter der Gutsbesitzer und der Handels- und Industriebourgeoisie in der Duma um ein vielfaches erhöht, während die ohnehin geringe Zahl von Vertretern der Bauern und der Arbeiter stark verringert wurde. Das Gesetz beraubte den größten Teil der Bevölkerung des Asiatischen Rußlands des Wahlrechts und verkleinerte die Vertretung der Bevölkerung Polens und des Kaukasus um die. Hälfte. Die auf der Grundlage dieses Gesetzes gewählte III. Duma, die im November 1907 zusammentrat, war ihrer Zusammensetzung nach eine Duma der Schwarzhunderter und der Kadetten. 3 4 Hulyginsche T)uma - beratende „Vertretungskörperschaft", die die zaristische Regierung im Jahre 1905 schaffen wollte. Der Gesetzentwurf über dieGründung der Reichsduma.und die Verordnung über die Dumawahlen wurden von einer Kommission unter dem Vorsitz des Innenministers Bulygin ausgearbeitet und am 6. (19.) August 1905 veröffentlicht. Die Bolschewiki erklärten der Bulyginschen Duma den aktiven Boykott. Der Regierung 32a Lenin, Werke, Bd. 13

506

Anmerkungen

gelang es nicht, die Duma einzuberufen; sie wurde durch die Kraft der Revolution hinweggefegt. 4 5 Wittesdje Duma - erste Reichsduma, einberufen am 27. April (10. Mai) 1906 auf Grund einer Verordnung, die der Vorsitzende des Ministerrats, S. J. Witte, ausgearbeitet hatte. Trotz des undemokratischen Charakters des Wahlgesetzes, nach dem die Wahlen zur ersten Duma erfolgten, gelang es dem Zaren nicht, eine gänzlich gefügige Duma zu schaffen. Die Mehrheit in der Duma bildeten die Kadetten. Am 8. (21.) Juli 1906 wurde die Duma von der zaristischen Regierung auseinandergejagt. 7 6 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 18, Berlin 1969, S. 533. iO 7 Der Vierte (V-ereinigungs-) Parteitag der SDAPR fand vom 10. bis 25. April (23. April bis 8. Mai) 1906 in Stockholm statt. Auf dem Parteitag waren 112 Delegierte mit beschließender Stimme, die 57 örtliche Organisationen der SDAPR vertraten, und 22 Delegierte mit beratender Stimme anwesend. Vertreten waren auch die nationalen Organisationen: die Sozialdemokratie Polens und Litauens, der „Bund" und die Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die Finnische Arbeiterpartei. Am Parteitag ' nahm ferner ein Vertreter der Bulgarischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei teil. Unter den Delegierten der Bolschewiki waren: W. I. Lenin, M. W. Frunse, J. M. Jaroslawski, M. I. Kalinin, N. K. Krupskaja, A.W. Lunatscharski, S. G. Schaumian, F. A. Sergejew- (Artjom), I.I. SkworzowStepanow, J. W." Stalin, K. J. Woroschilow und W. W. Worowski. Die Mehrheit auf dem Parteitag hatten die Menschewiki. Das erklärte sich daraus, daß viele bolschewistische Parteiorganisationen, die an der Spitze der bewaffneten Massenaktionen gestariden hatten, zerschlagen worden waren und keine Delegierten entsenden konnten. Die Zentralgebiete, der Ural, Sibirien, der Norden - die Bollwerke der Bolschewiki - waren nur durch einige wenige Delegierte vertreten. Den Menschewiki aber, die besonders viele Organisationen in den Gebieten ohne große Industrie besaßen, wo es keine revolutionären Massenaktionen gegeben hatte, war es möglich gewesen, mehr Delegierte zu entsenden. Der Parteitag erörterte folgende Fragen: 1. die Revision des Agrarprogramms; 2. die Beurteilung der gegenwärtigen Lage und die Klassenaufgaben des Proletariats; 3. die Stellung zur Reichsduma; 4. der bewaffnete Aufstand; 5. Partisanenaktionen; 6J die Vereinigung mit den nationalen sozialdemokratischen Parteien und 7. das Parteistatut.

Anmerkungen

507

Lenin sprach zu allen wichtigen Tagesordnungspunkten (siehe Werke, Bd. 10, S. 277-310) und arbeitete in der Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs des Statuts der SDAPR mit. Das zahlenmäßige Übergewicht der Menschewiki auf dem Parteitag bestimmte den Charakter seiner Beschlüsse. Nach hartnäckigem Kampf bestätigte der Parteitag menschewistische Resolutionen über die Reichsduma, über den bewaffneten Aufstand und nahm das Agrarprogramm der Menschewiki an. \ In bezug auf die Stellung zu den bürgerlichen Parteien beschränkte sich der Parteitag auf die Bestätigung der Resolution des Amsterdamer Kongresses der II. Internationale. Ohne Diskussion nahm der Parteitag eine Kompromißresolution über die Gewerkschaften und eine Resolution über das Verhältnis zur Bauernbewegung an. • -• Der Parteitag bestätigte ein neues Statut der Partei, dem das Prinzip des demokratischen Zentralismus zugrunde lag. Der erste Paragraph des Statuts wies die Leninsche Formulierung auf. Der Parteitag beschloß die Vereinigung der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens und der Lettischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit der SDAPR. Sie wurden als territoriale Organisationen, die unter dem Proletariat aller Nationalitäten des jeweiligen Territoriums arbeiten, in die SDAPR aufgenommen. Dem vom Parteitag gewählten Zentralkomitee gehörten 3 Bolschewiki und 7 Menschewiki an. Die Redaktion des Zentralorgans, der Zeitung „Sozial-Demokrat", bestand nur aus Menschewiki. Der Parteitag ging in die Geschichte der Partei als „Vereinigungsparteitag" ein. Jedoch wurde auf dem Parteitag nur die formale Vereinigung der SDAPR vollzogen. In Wirklichkeit hatten die Menschewiki und die Bolschewiki ihre eigenen Anschauungen, ihre eigene Plattform zu den wichtigsten Fragen der Revolution und bildeten faktisch zwei Parteien. Lenin analysierte die Arbeit des Parteitags in der Broschüre „Bericht über den Vereinigungsparteitag der SDAPR (Brief an die Petersburger Arbeiter)". (Siehe Werke, Bd. 10, S. 317-386.) U 8

Dubassow - Moskauer Generalgouverneur, der den bewaffneten Dezemberaufstand niederwarf; Stolypin - Vorsitzender des Ministerrats. 45

9

Kadetten - Mitglieder der Konstitutionell-Demokratischen Partei, der führenden Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie in Rußland. Die Partei der Kadetten wurde im Oktober 1905 gegründet; ihr gehörten Vertreter der Bourgeoisie, Semstwopölitiker aus den Kreisen der Gutsbesitzer und bürgerliche Intellektuelle an. Später wurde die Partei der Kadetten zur Partei der imperialistischen Bourgeoisie. Während des ersten Weltkriegs

508

10

11

12

13 14

13

Anmerkungen

unterstützten die Kadetten aktiv die räuberische Außenpolitik der zaristischen Regierung. 17 • „Jotvarisdhtsdh" (Der Gefährte) - bürgerliche Tageszeitung, erschien von März 1906 bis -Januar 1908 in Petersburg; formell kein Parteiorgan, war sie jedoch faktisch Sprachrohr der linken Kadetten. Auch Menschewiki arbeiteten an der Zeitung mit. 1 8 Tlugbhtt des ZK - „Brief an die Parteiorganisationen" Nrl'l. Ohne zu einer sofortigen Aktion aufzurufen, forderte das ZK der SDAPR die Parteiorganisationen auf: ••„.':-. die entstehenden Massenbewegungen zu unterstützen und konsequent zu entwickeln und dort, wo mit Sicherheit mit einer aktiven und entschiedenen Unterstützung durch die breiten Massen gerechnet werden kann, sofort die Initiative der Bewegung in die Hand zu nehmen und zugleich dem ZK davon Mitteilung zu machen." 22 Karl Marx, Brief an Kugelmann vom 3. März 1869, in'Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 32, Berlin 1965, S. 596. 24 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, Berlin 1968,S.277. 27 Oktobristen, Partei der Oktobristen (mich „Verband vom 17. Oktober'") entstand in Rußland nach der Veröffentlichung des Zarenmanifests vom 17. (30.) Oktober 1905, in dem der Zar unter dem Druck der revolutionären Bewegung einige bürgerliche Freiheiten versprach. Die Oktobristen waren eine konterrevplutionäfe.Partei, die die Interessen der Großbourgeoisie und der kapitalistisch wirtschaftenden Gutsbesitzer vertrat. An der Spitze der Partei standen der Großindustrielle A. 1. Gutschkow und der Großgrundbesitzer.'M. W. Rqdsjanko. Die Oktobristen unterstützten die Innen- und Außenpolitik der zaristischen Regierung. 28 . „Proletari" (Der Proletarier) - illegale bolschewistische Wochenzeitung, Zentralorgan der SDAPR, gegründet auf Beschluß des III. Parteitags. Das Plenum des Zentralkomitees der Partei vom 27. April (10. Mai) 1905 ernannte W. L Lenin zum verantwortlichen Redakteur des.ZO. Der „Proletari" wurde vom 14. (27.). Mai bis f2. (25.) November .1905 in Genf herausgegeben,- es erschienen 26 Nummern. Der „Proletari" setzte die Lihieider alten, Leninschen „Iskra" und des bolschewistischen „Wperjod" f o r t .

' ' ' • ' • '

:

• • - • • > ' • '

•'

-•

'

''

'

'-

'

Lenin schrieb für die Zeitung etwa 90 Artikel und Notizen. ' Ständige Mitarbeiter der Redaktion waren A. W.Lunatschärski, M. S. •- Olminskiimd W. W. Worowski. Eine umfangreiche' Arbeit in der Redaktion leisteten N-K. Krupskaja,. W. A. Karpinski undW. M. Welitschkina. Der „Proletari" führte einen schonungslosen Kampf gegen die Mensche. wiki und andere opportunistische und revisionistische Elemente. Er spielte

Anmerkungen

509

eine wichtige Rolle bei der Propagierung der Beschlüsse des III. Parteitags und beim organisatorischen und ideologischen Zusammenschluß der Bolschewiki. . • • -' Bald nachdem Lenin Anfang November 1905 nach Rußland abgereist war, stellte der „Proletari" sein Erscheinen ein. Die letzten beiden Nummern (Nr. 25 und Nr. 26) erschienen unter der Redaktion von W. W. Woröwski, aber auch für, diese Nummern hatte Lenin einige Artikel geschrieben, die erst nach seiner Abreise aus Genf veröffentlicht wurden. 30 16

„Proletari" (Der Proletarier) - illegale bolschewistische Zeitung, die vom 21. August (3. September) 1906 bis 28. November (11. Dezember) 1909 unter der Redaktion W. I. Lenins herausgegeben wurde. Insgesamt erschienen 50 Nummern. Die ersten 20 Nummern der Zeitung wurden in Wiborg für den Druck vorbereitet und gesetzt. Später verlegte die Redaktion des „Proletari" auf Beschluß des Petersburger und des Moskauer Komitees der SDAPR die Herausgabe der Zeitung ins Ausland, da sich die Bedingungen für die Herausgabe eines illegalen Organs in Rußland außerordentlich verschlechtert hatten. (Die Nummern 21-40 erschienen in Genf, die Nummern 41-50 in Paris.) Faktisch war der „Proletari" das Zentralorgan der Bolschewik^ Im „Proletari" wurden über 100 Artikel und Notizen von Lenin zu grundlegenden Fragen des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse veröffentlicht. Die Zeitung hatte enge Verbindung zu den örtlichen Parteiorganisationen. In den Jahren der Stolypinschen Reaktion spielte der ^Proletari" eine hervorragende Rolle bei äer Erhaltung und Festigung der bolschewistischen Organisationen, im Kampf gegen Liquidatoren, Otsowisten, Ultimatisten und Gottbildner. , Auf dem'Plenum des ZK der SDAPR im Januar 1910 erreichten die Menschewiki mit Hilfe der Versöhnler, daß ein Beschluß über die Einstellung J des „Proletari" gefaßt wurde. 30 '\ ' ' '.'

17

Der Artikel „Qraf 3leyden zum Qedädotnis" wurde mit der Unterschrift N. L. in dem Sammelband „Stimme des Lebens", St. Petersburg 1907, mit folgender Anmerkung der Redaktion veröffentlicht:' „Geschrieben bereits im Juni; unmittelbar nach dem-Erscheinen der Lobredeim ,Towarischtsch', konnte der Artikel aus vom Autor ,unabhängigen' Gründen bisher'nicht veröffentlicht werden. Die Redaktion bringt ihn im vorliegenden Sammelband, da; sie der Meinung ist, daß, obwohl der Anlaß zu diesem Artikel heute nicht mehr von Bedeutung ist, sein Inhalt auch jetzt seinen vollen W e r t b e h a l t e n h a t . " 3 8 -••••••

-

510 18

19

20 21

22

Anmerkungen

„Jtusskije Wedomosti" (Russische Nachrichten) - Zeitung, die die Anschauungen der gemäßigten liberalen Intelligenz vertrat. A b 1905 wurde sie zu einem O r g a n des rechten Flügels der bürgerlichen Kadettenpartei. Sie erschien von 1863 bis 1918 in Moskau. 38 „Jriedlidoes Srneuerertum" - „Partei der friedlichen Erneuerung" - konstitutionell-monarchistische Organisation der Großbourgeoisie u n d der Gutsbesitzer, die sich endgültig 1906 nach der Auseinanderjagung der I. Reichsduma formiert hatte. Die Partei vereinigte „linke Oktobristen" und „rechte Kadetten". Lenin nannte die „Partei der friedlichen Erneuerung" „Partei der friedlichen Ausplünderung". 43 Siehe Goethes „ Z a h m e Xenien", VII. 46 Die Petersburger Stadtkonferenz der SDAPX. fand am 8. und 14. ( 2 1 . und 27.) Juli 1907 in Terijoki (Finnland) statt. Berichte von der Konferenz sind nicht erhalten geblieben. An der ersten Sitzung der Konferenz nahmen 61 Delegierte mit beschließender und 21 mit beratender Stimme teil. Lenin hielt das Referat über die Stellung zu den W a h l e n zur III. Duma. Die Konferenz billigte die Leninsche Linie gegen den Boykott der III. Duma, die er in seinen Thesen und in seinem Referat vertrat. 47 Die Dritte Konferenz der SDÄPR („Zweite Qesamtrussisdbe Konferenz") fand vom 2 1 . bis 23. Juli (3. bis 5. August) 1907 in Kotka (Finnland) statt. An der Konferenz nahmen 26 Delegierte teil: 9 Bolschewiki, 5 Menschewiki, 5 polnische und 2 lettische Sozialdemokraten und 5 Bundisten. Auf der Tagesordnung der Konferenz standen folgende Fragen: Teilnahme an den W a h l e n zur III. Reichsduma, Wahlabkommen mit anderen Parteien, Wahlplattform und Gesamtrussischer Gewerkschaftskongreß. Z u r ersten Frage nahm die Konferenz drei Referate entgegen: von den Bolschewiki ein Referat Lenins (gegen den Boykott) und ein Referat A. Bogdanows (für den Boykott) u n d von den Menschewiki und vom „Bund" ein Referat Dans. Die Konferenz nahm als Grundlage den Leninschen Resolutionsentwurf an, der die Partei aufrief, an der W a h l k a m p a g n e teilzunehmen u n d den Kampf sowohl gegen die rechten Parteien als auch gegen die Kadetten zu führen. Z u r Frage der Wahlabkommen mit anderen Parteien beschloß die Konferenz, daß die Sozialdemokraten im ersten Stadium der W ä h l e n keinerlei Abkommen mit anderen Parteien schließen sollten. Bei Stichwahlen wurden Abkommen mit allen Parteien, die links von den Kadetten standen, für zulässig erklärt. Im zweiten und in den weiteren Stadien der W a h l e n waren Abkommen mit allen revolutionären u n d oppositionellen Parteien zum Kampf gegen die Rechten erlaubt. In der Arbeiterkurie jedoch sollten die Sozialdemokraten keine Abkommen mit anderen Parteien eingehen, mit

Anmerkungen

511

Ausnahme der nationalen sozialdemokratischen Parteien, die nicht der S D A P R angehörten, und. der P P S . Z u r Frage der Wahlplattform schlug die Konferenz dem Z K vor, sie auf der Grundlage der angenommenen Resolution über die Beteiligung an den W a h l e n zur III. Reichsduma auszuarbeiten. Z u m Gesamtrussischen Gewerkschaftskongreß nahm die Konferenz zwei Referate entgegen: in dem einen wurde das Prinzip der Parteilichkeit der Gewerkschaften verteidigt, das andere vertrat die Neutralität der Gewerkschaften. Die Konferenz beschloß, die eingebrachten Resolutionsentwürfe zu dieser Frage als Material dem Z K der S D A P R zu übergeben. Dem bolschewistischen Entwurf lag ein von W . I. Lenin vorgeschlagener Text zugrunde. (Siehe „Die K P d S U in Resolutionen und Beschlüssen, der Parteitage, Parteikonferenzen und Plenartagungen des Z K " , 7. Auflage, Teil I, Moskau 1954, S. 180, russ.) 50 23

24

25

26

Parteilose Progressisten - politische Gruppierung der russischen liberalmonarchistischen Bourgeoisie, die bei den W a h l e n zu den Reichsdumas und in den D u m a s selbst bestrebt war, unter der Flagge der „Parteilosigkeit" Kräfte aus verschiedenen bürgerlich-gutsherrlichen Parteien u n d Gruppen zu vereinigen. In der III. Reichsduma bildeten die Progressisten eine Fraktion, der Vertreter der Parteien der „friedlichen Erneuerung" und der „demokratischen Reformen" angehörten. 52 „Obrasowanije" (Die Bildung) - legale literarische, populärwissenschaftliche u n d . gesellschaftspolitische Monatsschrift, die von 1592 bis 1909 in Petersburg erschien. In den Jahren 1902-1908 wurden in dieser Zeitschrift Artikel von Sozialdemokraten veröffentlicht. In N r . 2 des „Obrasowanije" von 1906 erschienen die Kapitel V - I X von Lenins Arbeit „Die Agrarfrage und die ,Marxkritiker'". (Siehe Werke, Bd. 5, S. 97-221.) 53 ' Burenins Zeitung nannte Lenin die Zeitung „Nowqje W r e m j a " ( N e u e Z e i t ) , das O r g a n der Monarchisten und Schwarzhunderter. Burenin war Mitarbeiter des „Nowoje W r e m j a " ; er betrieb eine wüste H e t z e gegen die Vertreter aller fortschrittlichen Strömungen des gesellschaftlichen Denkens. 57 Jrudowiki, Trudowikigruppe (abgeleitet von russ. „trud" ^ Arbeit) - eine Gruppe kleinbürgerlicher Demokraten, die im April 1906 entstand und sich aus Bauernabgeordneten der I. Reichsduma zusammensetzte:" : Die Trudowiki forderten die Abschaffung aller ständischen u n d nationalen Beschränkungen, die Demokratisierung der ländlichen und städtischen Selbstverwaltung u n d die Verwirklichung des allgemeinen Wahlrechts bei den W a h l e n zur Reichsduma. Das Agrarprogramm der Trudowiki basierte auf den volkstümlerischen Prinzipien der ausgleichenden Bodennutzung: Bildung eines allgemeinen Volksfonds aus Staats-, Apanage-, Kabinetts-

512

Anmerkungen

"und Klosterländereien und auch aus Privatländereien, wenn die Größe des Besitzes die festgelegte Arbeitsnorm übersteigt; für enteignete Privatländereien sollte eine Entschädigung gezahlt werden. Die Durchführung der Bodenreform sollte örtlichen Bauernkomitees übertragen werden. 60 27 „Retsdb" (Die R e d e ) - - Tageszeitung, Zeritralorgän d e r Kadettenpartei; erschien in Petersburg a b Februar 1906. Im Oktober 1917 wurde sie vom • Revolutionären Militärkomitee beim Petrograder Sowjet verboten. 60 28 Rat des vereinigten Adels - konterrevolutionäre Organisation der Gutsbesitzer, die im M a i 1906 gegründet wurde. Sie übte einen großen Einfluß auf die Politik der Regierung aus. Z u r Zeit d e r III. Reichsduma gehörten viele Mitglieder dieses Rats dem Reichsrät'und den leitenden Zentren der Schwarzhtmderterorganisatiorien an. 61 29 „Volkssozialisten" - Mitglieder, der kleinbürgerlichen Volkssözialistischen Arbeitspartei, die 1906 aus dem rechten Flügel der Partei der Sozialrevolutionäre hervorging. Sie stellte gemäßigt-demokratische Forderungen auf, die nicht über den Rahmen einer konstitutionellen Monarchie hinausgingen. Die Volkssozialisten lehnten die im Programm der Sozialrevolutionäre enthaltene Sozialisierung des Bodens a b und waren für die Enteignung dei" Gutsbesitzerländereien gegen Entschädigung. Lenin nannte die Volkssozialisten „kleinbürgerliche Opportunisten", „Sozialkadetten" und „sozialrevolutionäre Menschewiki". ' • Die "Führer d e r Volkssozialisten waren A. W . Peschechönow, N . F. Annenski, W . A.Mjäkotin und andere. 65 30 Der Stuttgarter Kongreß der II. Internationale tagte vom 18. bis 24. August 1907. A n dem Kongreß nahmen 884 Delegierte, Vertreter von sozialistischen Parteien und Gewerkschaften, teil. Die SDAPR war durch 37 Delegierte vertreten.'Von den Bolschewik! nahmen W . I . Lenin, M:-M. Litwinow, A. W.Lunatscharski n. a. teil. .'-•.-.. ' -••":' • • Der Kongreß beschäftigte sieh mit folgenden Fragen: 1. der Militarismus u n d d i e internationalen Konflikte,-'2. die Beziehungen zwischen den poli. tischen:Parteien und den,Gewerkschaften; 3. die Kolonialfräge,- 4. die Einund Auswanderung der Arbeiter und 5. Frauenstimmrecht. W . I. Lenin nahm zum erstenmal an einem internationalen Sozialisten- kongreß teil. Er arbeitete in der Kommission zur Frage „Der Militarismus und die-internationalen Konflikte" mit und führte während des Kongresses Beratungen mit den hervorragendsten Vertretern der revolutionären Kräfte j (Clara Zetkin, Rosa Luxemburg u . a . ) über die Grundsätze und die Taktik :.- für ihre Haltung auf dem Kongreß durch. Das bedeutendste Ergebnis des Stuttgarter Kongresses für die Strategie

Anmerkungen

513

und Taktik der sozialistischen Parteien im Kampf gegen den imperialistischen Krieg war die Resolution zum Tagesordnungspunkt: Der Militaris- m u s und die internationalen Konflikte. D e r Kongreß nahm den von Äugast Bebel verfaßten Resolutionsentwurf an, der durch Zusatzanträge von Lenin, Rosa- Luxemburg und Martow. im Geiste des revolutionären Marxismus konkretisiert worden war. Die Sozialisten wurden durch diese Resolution verpflichtet, nicht nur gegen den Ausbruch von Kriegen bzw. für deren rasche Beendigung zu kämpfen, sondern auch „die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen". 66 31 In N r . 17 des „Proletari", in der der vorliegende Artikel veröffentlicht wurde, sind auch die Resolutionen des Internationalen Sozialistenkongresses in Stuttgart wiedergegeben. 66 32 Siehe Karl M a r x , „Das Kapital", Bd. I, Berlin 1961, S.625, oder Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1969, S. 621. 68 33 „ Qeselhdhaft der Jabier" - reformistische Organisation, die 1884 in England gegründet wurde. Die Gesellschaft nannte sich nach dem römischen Feldherm Fabius Cunctator („der Zauderer"), bekannt durch seine abwartende Taktik und sein Ausweichen vor Entscheidungsschlachten. Die Mitglieder der Gesellschaft der Fabier waren vorwiegend Vertreter der bürgerlichen Intelligenz: Wissenschaftler, Schriftsteller, Politiker. Sie leugneten die Notwendigkeit des proletarischen Klassenkampfes und der sozialistischen Revolution und predigten den friedlichen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus mittels kleiner Reformen. Im imperialistischen Weltkrieg 1914-1918 waren die Fabier Sozialchauvinisten. Eine Charakteristik der Fabier findet sich in Lenins Vorwort zur russischen Übersetzung des Buches „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. '. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl M a r x u. A. an F. A. Sorge und Andere" (Werke, Bd. 12, S. 368/369), im „Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der russischen Revolution" (Werke, Bd. 15, S. 170/171), „Der englische Pazifismus und die englische Abneigung gegen die Theorie" (Werke, Bd. 21, S. 258/259) u. a. 68 34 Woinow - A. W . Lunatscharski. 70 35 „Die Qieidbhdt" - sozialdemokratische Frauenzeitschrift, die von 1891 bis 1923 halbmonatlich in Stuttgart erschien, zunächst unter dem Titel „Die Arbeiterin", seit 1892 als „Die Gleichheit". Von 1892 bis 1917 wurde sie von Clara Zetkin redigiert. Ab 1907 war die Zeitschrift Publikationsorgan des Internationalen Frauensekretariats, der Zentralstelle der deutschen u n d

514

36 37

38

Anmerkungen

internationalen sozialistischen Frauenbewegung. Bis 1917 war sie einer der Sammelpunkte der revolutionären Kräfte in Deutschland. 70 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 36, Berlin 1967, S. 478. 77 „Vorwärts" - Zentralörgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands; wurde seit dem 1. Oktober 1876 in Leipzig herausgegeben, dann durch das Sozialistengesetz verboten; erschien 1890-1933 (aus dem 1884 gegründeten „Berliner Volksblatt" neu hervorgegangen) i n Berlin. Z u seinen Redakteuren gehörte u . a. Wilhelm Liebknecht. Friedrich Engels führte in d e r Zeitung einen Kampf gegen alle Erscheinungsformen des Opportunismus. Anfang des 20. Jahrhunderts gelangte die Redaktion immer mehr unter den Einfluß revisionistischer Kräfte, die jedoch 1905 a u s der Redaktion („Vorwärts"-Konflikt) entfernt wurden. M i t dem Entstehen des Zentrismus in der deutschen Arbeiterbewegung nahm auch der Einfluß der zentristischen Kräfte auf den „Vorwärts" zu. W ä h r e n d des imperialistischen Krieges 1914 bis 1918 vertrat der „Vorwärts" zunächst einen sozialpazifistischen Standpunkt. Im Oktober 1916 wurde unter Bruch der Statuten die Redaktion durch Sozialchauvinisten ersetzt und der „Vorwärts" zum Sprachrohr des Sozialchauvinismus; nach d e r Großen Sozialistischen Oktoberrevolution wurde er zu einem Z e n t r u m der Antisowjetpropaganda. 79 Im Jahre 1907 plante der Buchverlag „ S e m o " (Das Samenkorn), eine dreibändige Sammlung von Lenins Schriften unter dem Gesamttitel „12 J a h r e " herauszugeben. Von den geplanten drei Bänden konnten n u r der erste Band u n d der erste Teil des zweiten Bandes herausgegeben werden. In den ersten Band wurden folgende Arbeiten Lenins aufgenommen: „Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung u n d die Kritik a n ihr in dem Buch des Herrn Struve", „Die Aufgaben d e r russischen Sozialdemokraten", „Die Verfolger des Semstwos und die Kannibale des Liberalismus", „ W a s t u n ? " , „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück", „Die Semstwokämpagne u n d der Plan d e r ,Iskra'" u n d „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in d e r demokratischen Revolution". D e r erste Band erschien im November 1907 (auf dem Umschlag ist 1908 angegeben) und wurde bald nach seinem Erscheinen beschlagnahmt. Ein beträchtlicher Teil der Auflage konnte jedoch gerettet werden, und das Buch wurde weiterhin illegal verbreitet. Für den zweiten Band waren Arbeiten z u r Agrarfrage vorgesehen. In dieser Form wurde der Band nicht herausgegeben. Anfang 1908 erschien lediglich- der erste Teil d e s zweiten Bandes (aus konspirativen Gründen ohne den Gesamttitel „12 Jahre"), worin die folgenden legalen Schriften Lenins aufgenommen w u r d e n i „ Z u r Charakteristik der. ökonomischen Romantik", „Die Kustarzählung von 1894/95 im Gouvernement Perm.und

Anmerkungen

515

die allgemeinen Fragen der ,Kustar'industrie" u n d „Die Agrarfrage und die ,Marxkritiker"' (Kapitel I-XI). D e n zweiten Teil des zweiten Bandes bildete die Arbeit „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907". Er wurde von der Polizei in der Druckerei beschlagnahmt und vernichtet. D e r dritte Band, sollte polemische Zeitungsartikel enthalten, die in den bolschewistischen Organen („Iskra", „Wperjod", „Pröletari" u n d „Nowaja Shisn"). erschienen waren^ Durch die Verschärfung der Repressalien und der Zensur konnte der dritte Band nicht herausgegeben werden. 86 89

St.-

40

„Tfowbje Slowo" (Neues W o r t ) - wissenschaftlich-literarische und politische Monatsschrift, die ab 1894 in Petersburg von den liberalen Volkstümlern und a b Frühjahr 1897 von den „legalen Marxisten" herausgegeben wurde. Im „Nowoje Slowo" wurden Lenins Artikel „Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik" u n d „Anläßlich einer Zeitungsnotiz" veröffentlicht. Im Dezember 1897 wurde die Zeitschrift von der Regierung verboten. 90

41

„Sarja" (Die Morgenröte) - marxistische wissenschaftlich-politische Zeitschrift, die von der Redaktion der „Iskra". in den Jahren 1901 u n d 1902 legal in Stuttgart herausgegeben wurde. Es erschienen 4 Nummern (3 Hefte). In der „Sarja" wurden folgende Arbeiten W . I . L e n i n s veröffentlicht: „Zufällige Notizen", „Die Verfolger des Semstwos u n d die Hannibale des Liberalismus", die ersten vier Kapitel des Werkes „Die Agrarfrage und die ,Marxkritiker'" (unter dem Titel „Die Herren ,Kritiker' in der Agrarfrage"), „Innerpolitische Rundschau" u n d „Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie". 91

42

„Iskra" (Der Funke) - die erste gesamtrussische politische illegale marxistische Zeitung, die 1900 von Lenin gegründet wurde. Nach dem II. Parteitag der SDAPR war sie Zentralorgan der SDAPR. W e n n Lenin von der alten „Iskra" spricht, so meint er die „Iskra" von N r . 1 bis 51. Beginnend mit N r . 52 verwandelten die Menschewiki die „Iskra" in ihr Fraktionsorgan. 91 „Tiessaglawzen" - halbkadettische, halbmenschewistische Gruppe der russischen bürgerlichen Intelligenz; sie entstand in der Zeit, als die Revolution von 1905-1907 abzuflauen begann. Die Gruppe nannte sich nach der politischen Wochenschrift „Bes Saglawija" (Ohne Titel). 93

43

44

W . W . Starkow/R. - St. I. Rädtschenko, X. - R. E. Klasson. 90

„Jn Hand 3 der vorliegenden Ausgabe", d. h. im dritten Band des Sammelbandes „12 Jahre". Der Band konnte nicht herausgegeben werden. 94

516

Anmerkungen

45

„9Jowaja Shisn" ( N e u e s Leben) - erste legale bolschewistische Tageszeitung, die vom 27. Oktober (9. November) bis 3. (16.) Dezember 1905 in Petersburg erschien. Als Lenin Anfang November 1905 ans der Emigration nach Petersburg zurückgekehrt war, erschien die Zeitung unter seiner unmittelbaren Leitung. Die „Nowaja Shisn", war faktisch das Zentralorgan der SDAPR. Ständige Mitarbeiter waren W . W . Worowski, M . S. Olminski, A. W . Lunatschärski und andere. Maxim Gorki beteiligte sich rege an der Zeitung und erwies ihr: auch große materielle Unterstützung. Die tägliche Auflage erreichte bis zu 80000 Exemplare. Die „Nowaja Shisn" war zahlreichen Repressalien ausgesetzt. Von 27 Nummern wurden 15 beschlagnahmt und eingestampft. Nach Erscheinen der Nr. 27 vom 2. (15.) Dezember wurde die „Nowaja Shisn" Von der Regierung verboten. Die letzte Ausgabe, Nr. 28, erschien illegal. 97

46

„Wperjod" (Vorwärts) - illegale bolschewistische Wochenzeitung, die vom 22. Dezember 1904 (4. Januar 1905) bis zum 5. (18.) Mai 1905 in Genf herausgegeben wurde,- es erschienen 18 Nummern. Die organisatorische und ideologische Leitung lag in den Händen W . I. Lenins. Dem Redaktionskollegium gehörten ferner W . W . Worowski, M . S. Olminski und A. W . Lunatschärski an. . D e r III. Parteitag der SDAPR hob in einer besonderen Resolution die hervorragende Rolle hervor, die' der „Wperjod" im Kampf gegen den Menschewismus, für die Wiederherstellung des Parteiprinzips und bei der Erörterung und Klärung der durch die revolutionäre Bewegung aufgeworfenen taktischen Fragen gespielt hatte, und sprach der Redaktion der Zeitung seinen Dank aus. Der Parteitag beschloß, an Stelle des „Wperjod" die Zeitung „Proletari" herauszugeben. 99

47

Die Losung der Bildung eines „Exekutivkomitees der Unken Dumagruppen" wurde von den Bolschewiki aufgestellt, um die selbständige Klassenlinie der Arbeiterabgeordneten in der Duma, den Einfluß auf die Tätigkeit der Banernabgeordneten und ihre Isolierung von den Kadetten zu gewährleisten. Die Menschewiki stellten dieser Losung die Bildung einer „gesamtnationalen Opposition" gegenüber, d. h. die Unterstützung der Kadetten durch die Arbeiter- und Bauernabgeordneten. Nach der Auflösung der I. Duma im Juli 1906 schloß sich ein „Exekutivkomitee der Linken"-faktisch um die sozialdemokratische Dumafraktion zusammen. Auf Initiative des „Exekutivkomitees der Linken" wurden herausgegeben: der Aufruf „An die Armee und Flotte", unterzeichnet vom Komitee der sozialdemokratischen Dumafraktion u n d vom Komitee der Trudowikigruppe,' u n d das „Manifest an die gesamte russische Bauern-

Anmerkungen

517

schaft", das auch vom Gesamtrussischen Bauembund, vom ZK der SDAPR, vom ZK der Partei der Sozialrevolutionäre, vom Gesamtrussischen Eisenbähnerverband sowie vom Gesamtrussischen Lehrerverband unterzeichnet war. Die Manifeste riefen das Volk zum revolutionären Kampf gegen die Regierung auf und proklamierten die Losung der Einberufung einer Konstituierenden Versammlung. 103 48

Gemeint sind die Instruktionen und Kommentare zu dem Gesetz vom 11. (24.) Dezember 1905 über die Wahlen zur Reichsduma, die vom Dirigierenden Senat herausgegeben wurden. Mit der Veröffentlichung der „Erläuterungen" zu den Artikeln des Wahlgesetzes entzog der Senat einzelnen Wählern und ganzen Bevölkerungskategorien das Wahlrecht. 108

49

Karl Marx, „Die preußische Kontrerevolution und der preußische Richterstand", in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 6, Berlin 1968, S. 138. {

50

51

1

{



• • •

-



'

:

-

-

-



„Russkoje Snamja" (Reußerifahne) - Zeitung der Schwarzhunderter, Organ des „Bundes des russischen Volkes";'erschien in Petersburg von November 1905 bis zum Jahre 1917. 119 „ Qolos !Moskwy° (Die Stimme Moskaus), - Tageszeitung, Organ der Partei derOktobristen; erschien von Dezember 1906 bis Juni 1915: 119

52

Die Notiz Lenins „Tiber einen Artikel Pledhanows" erschien als Nachwort „Von der Redaktion" des „Proletari" zu dem Artikel J. P. Goldenbergs (Meschkowskis) „Auch eine ,Polemik'". 127 .. .

53

Die Xonferenz der St.-J>etersburger Organisation der SVAPR fand am 27. Oktober (9. November) 1907-in Terijoki statt. An ihr nahmen 57 Delegierte mit beschließender und 11 mit beratender Stimme teil. Auf der Tagesordnung der Konferenz standen folgende Punkte: 1. Bericht des Petersburger Komitees der SDAPR über die Wahlkampagne zur III. Duma,2. Bericht über die Tätigkeit des Z K der SDAPR; 3. Gesamtrussische Konferenz,-.4. D a s Gerichtsverfahren gegen die sozialdemokratische Dumafraktion; 5. Die Arbeitslosigkeit; 6. N e u w a h l der Stadtkonferenz u n d andere organisatorische Fragen. Lenin hielt auf der Konferenz Referate zur Vorbereitung der gesamtrussischen Konferenz: über die Taktik der sozialdemokratischen Fraktion in der III. Reichsduma und über die Mitarbeit von Sozialdemokraten an der bürgerlichen Presse. Z u r Frage der Taktik der sozialdemokratischen Fraktion in der Duma sprach sich die Konferenz mit einer Stimmenmehrheit von 37 gegen 12 Stimmen für die von Lenin vorgeschlagene Resolution aus. Gegen die Resolution stimmten die Menschewiki, die vorschlugen, in der III. Duma, die „linken" Oktobristen zu unter-



518

-

54

55

Anmerkungen stützen n n d bei der W a h l des Präsidiums für einen „linken" Oktobristen zu stimmen. Die Konferenz schloß sich, dem Antrag der Bolschewiki an, in dem die Mitarbeit von Sozialdemokraten ah der bürgerlichen Presse füriunzulässig erklärt wurde,- sie faßte den Beschluß, a m Tage des Beginns des Gerichtsverfahrens gegen die sozialdemokratische Fraktion der II. D u m a einen vierundzwanzigstündigen Streik der Arbeiter u n d Arbeiterinnen Petersburgs und des Gouvernements durchzuführen. Die Konferenz wählte zwei bolschewistische Delegierte für die gesamtrussische Konferenz. 129 . D e r Dresdener Parteitag der deutschen Sozialdemokratie fand vom 13. bis 20. September 1903 statt; D e r Parteitag w a r in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914 ein Höhepunkt der Auseinandersetzungen der Marxisten mit den Revisionisten in Theorie und Praxis. Es erfolgte jedoch keine organisatorische Trennung von den Opportunisten, so daß ihnen die M ö g lichkeit blieb, sich innerhalb der Partei auszubreiten. D e r Parteitag nahm einen Beschluß über die Zulässigkeit der Mitarbeit von Sozialdemokraten an der bürgerlichen Presse an. 134

Die Vierte Konferenz der SDAPR („Dritte Gesamtrussische Konferenz") fand vom 5. bis 12. (18. bis 25.) November 1907 in Helsingfors statt. An der Konferenz nahmen 27 Delegierte teil: 10 Bolschewiki, 4 Menschewiki, 5 polnische Sozialdemokraten, 5 Bundisten und 3 lettische Sozialdemokraten. Auf der Tagesordnung der Konferenz standen folgende Punkte: die Taktik der sozialdemokratischen Fraktion in der Reichsduma, die Fraktioriszentren, die Festigung der Verbindung des ZK mit den lokalen Organisationen und die Mitarbeit von Sozialdemokraten an der bürgerlichen Presse. Außerdem erörterte die Konferenz die Frage der Benennung der sozialdemokratischen Vertretung in der Reichsduma. Lenin hielt das Referat über die Taktik der sozialdemokratischen Fraktion in der III. Reichsduma. Gegen die Leninsche Einschätzung des Regimes des 3. Juni und der Aufgaben der Partei traten die Menschewiki und die Bundisten auf, die sich für eine Unterstützung der Kadetten und der „linken" - .: Oktobristen in der Duma einsetzten. Die Konferenz nahm mit Stimmenmehrheit die im Namen der Petersburger Stadtkonferenz eingebrachte bolschewistische Resolution an. ' •; Die Konferenz schloß sich auch der bolschewistischen Resolution über •". die Unzulässigkeit der Mitarbeit von Sozialdemokraten an der bürgerlichen - Presse an und benannte die sozialdemokratische Vertretung in der Duma „Sozialdemokratische Fraktion". • .'. .

Anmerkungen

519

D a d a s menschewistische Zentrum ohne Wissen des Z K d e r S D A P R Verbindung mit d e n lokalen Komitees aufnahm, umriß die Konferenz M a ß n a h m e n zur Verstärkung der Verbindung des Z K der S D A P R mit den Örtlichen Parteiorganisationen. 135 56 Lenin meint die von Stolypin in den Jahren 1906/1907 erlassenen Agrargesetze. A m 9. (22.) November 1906 wurde ein Erlaß veröffentlicht, d e r den Bauern das Recht gab, aus der Dorfgemeinde auszuscheiden, u n d ihnen Anteilländereien als Eigentum "zuwies. Bereits vor dem Erlaß vom 9. (22.) November 1906 wurden die Verordnungen vom 12. (25.) August über den . Verkauf eines Teils der Apanageländereien, vom 27.-August (9. September) über den Verkauf von fiskalischen Ländereien über die Bauernbank u n d vom 15. (28.) November „ ü b e r die Gewährung von Darlehen durch die Bäuerliche -Bodenbank unter Verpfändung d e r Anteilländereien" erlassen. 137

57

.

. - . . • - - - • . . •

'



.

/ •

Der Artikel Franz Mehrings „Deutscher Liberalismus und russische D u m a " („Die-Neue Zeit", 1906/1907, Bd. I, N r . 23) wurde von Lenin übersetzt und für den Artikel „Franz Mehring über die zweite D u m a " benutzt, der in dem Sammelband „Fragen der Taktik" "II, St. Petersburg 1907, veröffentlicht wurde. (Siehe Werke, Bd. 12, S. 382-389.) 141 - 58 Siehe Karl M a r x u n d Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei", Kapitel IV, in% Karl, Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 4, Berlin . 1964, S. 492/493. 146 . 59 „ Snamja -Truda" (Banner der Arbeit) - Zentralorgan der Partei der Sozialrevolutionäre,- erschien von Juli 1907 bis April 1914. 148 60 D a s Vorwort zur Ttrosdbüre Woinows (A. W. Eunatsdnarskis) über das Verhältnis der "Partei zu den Qewerksdhaften schrieb Lenin im November 1907. Die Broschüre- Lunatschärskis ist nicht erschienen. Lenin hatte- sich mit ihrem Inhalt an Hand des Manuskripts bekannt gemadit: - Das Dokument trägt keine Überschrift. Sie stammt vom Institut für . Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSLL 157 61 Gemeint ist der Mannheimer Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der vom 23. bis 29. September 1906 stattfand. Hauptpunkt der Tagesordnung war der politische Massenstreik. Auf dem Parteitag in Jena 1905 war er als wichtigstes Mittel des politischen Kampfes anerkannt worden. In Mannheim wurde dieser Beschluß faktisch wieder aufgehoben, da der Parteitag gegen die opportunistischen Kräfte in den Gewerkschaften nicht entschieden genug auftrat, die zuvor auf dem Kölner Gewerkschaftskongreß eine Resolution durchgesetzt hatten, in der selbst die Propagierung des politischen Massenstreiks abgelehnt und die Diskussion über den poli-

520

Anmerkungen

tischen Massenstreik für verwerflich erklärt wurde. Der Mannheimer Parteitag verurteilte die Haltung der Opportunisten in den Gewerkschaftsleitungen nicht direkt. Er empfahl allen Parteimitgliedern, in die Gewerkschaftsorganisationen, und den Gewerkschaftsmitgliedern, in die Partei einzutreten, damit „die gewerkschaftliche Bewegung von dem Geiste der Sozialdemokratie erfüllt werde". 158 62 „DieNeue Zeit" - theoretische Zeitschrift der Sozialdemokratischen Partei : ' Deutschlands, die von 1893 bis 1923 in Stuttgart erschien und bis 1917 von . Karl Kautsky redigiert wurde. In der „Neuen Zeit" wurden erstmalig einige Arbeiten von Marx und Engels veröffentlicht. Engels half der Redaktion der Zeitschrift ständig und übte oft Kritik daran, daß sie Abweichungen vom Marxismus in der Zeitschrift zuließ. An der „Neuen Zeit" arbeiteten hervorragende, Führer der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung mit: August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin, G. W. Plechanow, Paul Lafargue u. a. Bis Anfang des _- 20,.Jahrhuriderts eine marxistische Zeitschrift, ging „Die Neue Zeit" mehr und mehr auf zentristische Positionen über. Während des. imperialistischen Weltkriegs 1914^1918 bezog sie einen sozialpazifistischen Standpunkt und unterstützte faktisch die Sozialchauvinisten. i58 -..,... 63 \,,Osu?oboshdenije" (Die Befreiung) - Halbmonatsschrift, die unter der Redaktion von P. B. Struve vom 18. Juni (1. Juli) 1902 bis 5. (18.) Oktober 1905 in Stuttgart und Paris erschien. Die Zeitschrift war das Organ der •russischen liberalen Bourgeoisie und vertrat die Ideen eines gemäßigten monarchistischen Liberalismus. 1903 entstand um die Zeitschrift der „Bund der Befreiung", der sich im Januar 1904 konstituierte und bis Oktober 1905 existierte. Neben den Semstwo-Konstitutionalisten bildeten die „Oswoboshdenzen" den Kern der konstitutionell-demokratischen Partei (Kadetten), die im Oktober 1905 gegründet wurde. 162 64

Die Arbeit „Die Agrarfrage und die ^Marxkritiker' " wurde in den Jahren 1901-1907 geschrieben. Die ersten vier Kapitel erschienen im Dezember 1901 mit der Überschrift ,>Die Herren ,Kritiker' und die Agrarfrage. (Erste Abhandlung)" unter dem -Namen; N. Lenin in Nr. 2-3 der Zeitschrift „Sarja". Im Jähre 1905 wurden sie in Odessa vom Verlag „Burewestnik" (Sturmvogel) als Broschüre unter dem veränderten Titel „Die Agrarfrage und die ,Marxkritiker'" legal herausgegeben. Dieser Titel wurde vom Autor in den folgenden Ausgaben sowohl der gesamten Schrift als auch ihrer einzelnen Teile beibehalten. Die Kapitel.V-IX erschienen erstmalig im, Februar. 1906.in Nr. 2 der legalen Zeitschrift „Obräsowanije". Sie waren mit Zwischentiteln versehen,

Anmerkungen

65

66

67

68

69

70

71

72

73

521

was bei den in der „Sarja" veröffentlichten Kapiteln I-IV und bei der Ausgabe von 1905 nicht der Fall war. Das 1908 in Petersburg herausgegebene Buch W l . Hjin ( W . I. Lenin), „Die Agrarfrage", Teil I, enthielt erstmalig alle neun Kapitel und darüber hinaus zwei neue, die Kapitel X u n d XI. Die Kapitel I bis IV waren mit Zwischentiteln versehen, a m Text waren eine Reihe redaktioneller Änderungen vorgenommen und einige Anmerkungen hinzugefügt worden. Das XII. (letzte) Kapitel wurde zum erstenmal 1908 in dem Sammelband „Tagesgeschehen" veröffentlicht. " Die ersten neun Kapitel siehe Werke, Bd. 5, S. 9 7 - 2 2 1 . Der vorliegende Band enthält die im Jahre 1907 geschriebenen Kapitel X, XI und XII. i67 Lenin meint das Buch Franz Bensings „Der Einfluß der landwirtschaftlichen Maschinen auf Volks- und Privatwirtschaft", Breslau 1897. 170 Lenin meint das Buch M . H e c h t s „Drei Dörfer der badischen Hard", Leipzig 1895. 172 . Siehe Karl M a r x , „Das Elend der Philosophie", in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1964, S, 92/93. 173 Lenin meint die Briefe des bekannten Volkstümler-Publizisten A. N . Engelhardt „Aus.dem Dorfe", die in der Zeitschrift „Otetschestwennyje Sapiski" (Vaterländische Blätter) erschienen waren. 173 Siehe Karl M a r x , „ D a s Kapital", Bd. III, Berlin 1961, S. 794, oder Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 25, Berlin 1969, S. 753. Bei Hinweisen auf Band III des „Kapitals" von M a r x benutzt Lenin die deutsche Ausgabe von 1894; er bringt alle Zitate in eigener Übersetzung. 179,. Siehe Karl M a r x , „Theorien über d e n Mehrwert", 2. Teil, Berlin 1959, S. 152-583, oder Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd.'26.2, Berlin 1967, S. 158-588. i80 -, . IV. "W. (Pseudonym W. P. Woronzows) - Ideologe der liberalen Volkstümlerrichtung der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts. 185 Siehe Karl M a r x , „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1961, S.864, oder Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 25, Berlin 1969, S. 820. 204 Die Arbeit „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russisdben Revolution von 1905 bis 1907" schrieb Lenin von November bis Dezember 1907. Im Jahre 1908 wurde diese Arbeit in den zweiten Teil des zweiten Sammelbandes „12 J a h r e " aufgenommen. Aber d a s Buch wurde bereits in der Druckerei von der Polizei beschlagnahmt und vernichtet. Es blieb h u r ein Exemplar erhalten, in dem ani Schluß einige Seiten fehlten.

522

Anmerkungen

Das Buch erschien erstmalig 1917 unter dem Titel: W . Iljin ( N . L e n i n ) , „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907" (Petrograd, Verlag „Shisn i Snanije" [Leben und Wissen]). ; . . In der Ausgabe von 1917 ergänzte "Lenin den Schhißteü, der mit dem nicht vollendeten Satz abbrach: „Der.reformerische W e g der Schaffung eines junkerlich-bürgerlichen Rußlands bedingt notwendigerweise die Erhaltung der.Grandlagen des alten Grundbesitzes u n d eine langsame . . . " (siehe den vorliegenden Band, S. 431) mit den W o r t e n : „systematische qualvollste Vergewaltigung der Bauernmassen. Der revolutionäre W e g der Schaffung eines bäuerlich-bürgerlichen Rußlands bedeutet unweigerlich einen Bruch mit dem ganzen alten Grundbesitz, die Abschaffung des privaten Eigentums a n Grund und Boden." . Im vorliegenden Band wird die Arbeit nach dem Manuskript gedruckt, das von Lenin mehrere Jahre nach dem Erscheinen des Buches im Jahre 1908 korrigiert wurde. Diese Korrekturen waren bei der Ausgabe von 1917 nicht berücksichtigt, d a das Buch nicht nach dem Manuskript, sondern nach dem erhalten gebliebenen Exemplar von 1908 gesetzt wurde. Bisher konnte dieses Exemplar nicht aufgefunden werden. 213 74 Die „ Qurko-Eidvattsdben Metboden in der Verwaltung" - Unterschlagungen, Schiebungen u n d Raub, die unter den höchsten zaristischen Beamten und Geschäftsleuten florierten. Lidvall hatte 1906 durch Vermittlung des stellvertretenden Innenministers Gurko mit der Regierung einen Vertrag über Getreidelieferungen in die von der Hungersnot betroffenen Gouvernements Rußlands abgeschlossen. Lidvall, der von Gurko eine beträchtliche Summe staatlicher Gelder als Vorschuß erhalten hatte, k a m seinen Verpflichtungen nicht nach. Die Enthüllungen über diese Unterschlagung und die Spekulation mit dem Hunger drangen an die Öffentlichkeit und zwangen die zaristische Regierung, die Angelegenheit vor Gericht zu bringen. Für Gurko aber zog das Verfahren außer seiner Amtsenthebung keinerlei Folgen nach sich. 248 ; ," . 75 76

77

Jobn - der Menschewik P . P . Maslow. 256 Vendee - französisches Departement, w a r während der französischen bürgerlichen Revolution Ende des-18. Jahrhunderts der H e r d eines konterrevolutionären Aufstands der rückständigen Bauernschaft gegen den revolutionären Konvent. D e r Aufstand wurde unter religiösen Losungen durchgeführt u n d von konterrevolutionären Geistlichen u n d Gutsbesitzern geleitet. 257 -•••.-•;.-" Kostrow - N . N. Shordanija, Führer der kaukasischen Menschewiki. 258

Anmerkungen 78

Qesamtrussisdher Bauernbund - revolutionär-demokratische Organisation, die 1905 entstand. Auf dem ersten und dem zweiten Kongreß des Bundes, die im August und November 1905 in Moskau stattfanden, wurden das Programm und die Taktik des Bundes ausgearbeitet. Der Bauernbund forderte politische Freiheit und sofortige Einberufung einer Konstituierenden Versammlung; er befolgte die Taktik des Boykotts der I. Reichsduma. Das Agrarprogramm des Bundes enthielt die Forderung nach Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden und nach Übergabe der Kloster-, Kirchen-, Apanage-, Kabinetts- und Staatsländereien ohne Ablösung an die Bauern. In der Politik des Bauernbundes, der unter dem Einfluß der Sozialrevolutionäre und der Liberalen stand, zeigten sich kleinbürgerliche Halbheiten, Schwankungen und Ünentschlossenheit. Er forderte zwar die Liquidierung des gutsherrlichen Grundeigentums, billigte aber eine teilweise Entschädigung der Grundbesitzer. Von Anfang seiner Tätigkeit an wurde der Bauernbund von der Polizei verfolgt. Anfang 1907 löste er sich auf. 258

79

523

-



-







"

.

.

"

,



.

• .

„Rossija" (Rußland) - Tageszeitung d e r Schwarzhunderter, die von 1905 bis 1914 in Petersburg herausgegeben wurde. V o n 1906 a n w a r sie d a s offizielle O r g a n des Innenministeriums. Lenin nannte die Zeitung „Rossija" ein „korruptes Polizeiblättchen". 259

80

Eine Analyse der Ansichten von Rodbertüs siehe in K a r l M a r x , „Theorien über den Mehrwert", 2. Teil, Berlin 1959, S. 82-85, oder Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 85-88. Eine Analyse der Theorie Ricardos siehe in Karl Marx, „Theorien über den Mehrwert", 2. Teil, Berlin 1959, S. 229-233, oder Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 235-239. Lenin benutzt bei Hinweisen auf das Marxsche Werk „Theorien über den Mehrwert" die deutsche Ausgabe von 1905 und bringt alle Zitate in eigener Übersetzung. 271 st Siehe Karl Marx, „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1961, S. 665, oder Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, Berlin 1969, S. 630. 273 82

Siehe Karl M a r x , „Theorien über d e n Mehrwert", 2. Teil, Berlin 1959, S. 100, oder Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 103. 273

83

Die Qesetzgeburu) über die Jiomesteads in deriKSA fällt in die Mitte des 19. Jahrhunderts. N a c h dem Gesetz von 1862 hatte jeder Bürger der U S A das Recht, vom Staat unentgeltlich oder gegen sehr geringe Bezahlung ein Grundstück (homestead) bis zu 160 Acres ( 6 4 Hektar) z u erhalten. Nach

524

84

85 86

87

Anmerkungen spätestens fünf Jahren ging das Grundstück in das Eigentum des Besitzers über. 273 Lenin zitiert in eigener Obersetzung die Schrift von Karl M a r x und Friedrich Engels „Zirkular gegen Kriege". Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1964, S. 8. 274 Borissott? - S. A. Suworow. 288 „Russkoje Bogatstwo" (Russischer Reichtum) - Monatsschrift, die von 1876 bis 1918 in Petersburg erschien. Anfang der neunziger Jahre ging sie in die Hände der liberalen Volkstümler über; Redakteur war N . K. Michailowski. A b 1906 wurde das „Russkoje Bogatstwo" zum Organ der halbkadettischen „Volkssozialistischen Arbeitspartei". 289 Siehe Karl Marx, „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1961, S. 858, oder Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, Berlin 1969, S. 815. 291

88

Lenin meint die Erörterung der Agrarfrage auf der Ersten Konferenz der SDAPR, die vom 12. bis 17. (25. bis 30.) Dezember 1905 in Tammerfors tagte. Lenin hielt auf der Konferenz das Referat über die Agrarfrage. In der. „Agrarresolution" (zu Lenins.Referat) schlug die Konferenz vor, den Punkt des auf dem II. Parteitag angenommenen Agrarprogramms über die Bodenabschnitte durch die Forderung nach Konfiskation aller Staats-, Gutsbesitzer-und Kirchenländereien zu ersetzen. 293

89

Siehe K a r l M a r x , „Theorien über den Mehrwert",. 2. Teil, Berlin 1959, S. 336, oder Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 342. 296

90

91

92

./•"•••

Siehe Karl M a r x , „Theorien über d e n Mehrwert", 2. Teil, Berlin 1959, S. 84. Die entsprechenden Seiten zum Vergleich:: ebenda, S. 96 und 236/237, oder Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 26.2, Berlin 1967, S . 8 7 , S. 99/100 und 242/243.297 . D e r Abschnitt „Wie Teter Maslow die Rohentwürfe von Xarl TAarx korrigiert" wurde in N r . 33 des „Proletari" vom 2 3 . Juli (5. August) 1908 veröffentlicht. 299 ••:•._ '•.•..." Siehe Karl M a r x , „Theorien über den Mehrwert", 2. Teil, Berlin 1959, S. 36, oder Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 38. 301

93

94

Siehe Karl M a r x , „Das Kapital", Bd. III, Berlin -1961, S. 699-786, oder Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 25, Berlin 1969, S. 662-746. 303 Siehe Karl M a r x , „ D a s Kapital", Bd. III, Berlin 1961-, S. 831, oder Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 25, Berlin 1969, S..789. 304

95

96

97

98

99

100

Anmerkungen

525

Siehe Karl M a r x , „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1961, S . 8 3 1 , oder Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 25, Berlin: 1969, S. 789. 305 Siehe Karl M a r x , „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1961, S. 859, oder Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 25, Berlin 1969, S. 816. 314 Siehe K a r l M a r x , „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1961, S. 859, oder Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 25, Berlin 1969, S. 815. 314 Siehe Karl M a r x , „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1961, S. 862, oder Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, Berlin 1969, S. 818/819. 3 IS Siehe Karl M a r x , „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1961, S.864, oder Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 25, Berlin 1969, S. 820. 316 Siehe Karl M a r x , „Das Kapital", Bd. III, Berlin 1961, S. 856/857, 862, Karl Marx/Friedrich'Engels, W e r k e , Bd. 25, Berlin 1969, S. 812/813,

Karl

Karl Karl Karl oder 818.

.

318 101

Karl

Siehe Karl Marx, „Theorien über den Mehrwert", 2. Teil, Berlin 1959, S. 36, oder Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 39. 321

.

..

102

Lenin zitiert hier eine Stelle aus dem zweiten Kapitel der „Beiträge zur Gogolschen Periode der russischen Literatur" von N . CTschernyschewski, wo die unwürdige Polemik des Journalisten Senkowski C,Baron Brambeus") verspottet wird. (Siehe N . G. Tschernyschewski, Gesamtausgabe, -Bd. III, Moskau 1947,S. 54/55, russ.) 347 103 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 39, Berlin 1968, S. 8. 360 104 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 18, Berlin 1969, S. 233. 361 105 „"Prawda" (Die Wahrheit) - ihenschewistische Monatsschrift für Kunst, Literatur und Gesellschaft; erschien in Moskau 1904-1906. 368 106 „Afopajewsker Republik" nannten die zaristischen Beamten den Amtsbezirk Alapajewsk, Kreis Werchoturje im Gouvernement Perm. Dem von Lenin genannten Sozialrevolutionären Bauern G. I. Kabakow, einem Abgeordneten der II. Reichsduma, war es im Jahre 1905 gelungen, im Amtsbezirk Alapajewsk einen Bauernbund zu gründen, der etwa 30000 Mitglieder zählte. 406 11)7

Tfarodowzen (Nationaldemokraten) - reaktionäre, chauvinistische Partei der polnischen Gutsbesitzer: und Bourgeoisie,- gegründet 1897. Unter der Losung der „Klassenharmpnie" und der „nationalen Interessen" waren die Narodowzen bestrebt, die Volksmassen unter ihren Einfluß zu bringenund sie für ihre reaktionäre Politik zu gewinnen. Während der Revolution von 1905-1907 wurden die Narodowzen zur Hauptpartei der polnischen Kon-

526

Anmerkungen

terrevolutiön, zu polnischen Schwarzhundertern, wie Lenin sie nannte. In der Reichsduma unterstützten sie die Oktobristen. 409 108 Wakuf-Ländereien - Ländereien in den Gebieten mit muselmanischer Bevölkerung, die weder verkauft noch an andere übergeben werden durften. über die Einkünfte aus den Wakuf-Ländereien verfügte hauptsächlich die muselmanische Geistlichkeit. Die Sowjetmacht übergab die Wakuf-Ländereien an den staatlichen Bodenfonds. 413 109 Es handelt sich u m die satirische „ H y m n e des neuesten russischen Sozialisten", die in Nr. 1 der „Sarja" (April 1901) mit der Unterschrift „Narziß Tuporylow" veröffentlicht wurde. Der Verfasser des Gedichts war L. Martow. 433 110 Das Nachwort schrieb Lenin bei der Herausgabe des Buches „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907" im Jahre 1917. 436 111 Lenins Artikel „Zu den Debatten über die Erweiterung der "Budgetredbte der T)uma" wurde erstmalig im Februar 1908 in Nr. 1 des „Sozial-Demokrat" veröffentlicht. Er wurde zusammen mit einem Postskriptum Lenins . (siehe den vorliegenden Band, S. 445) in Nr. 27 des „Proletari" vom 26. März (8. April) desselben Jahres nachgedruckt. „Sozial-Demokrat" - Zentralorgan der SDAPR,- wurde illegal vom Februar 1908 an herausgegeben. Die erste Nummer erschien in Rußland. Nachdem Redaktion und Druckerei aufgeflogen waren, wurde die Herausgabe der Zeitung ins Ausland verlegt, zuerst nach Paris, später nach Genf. Es erschienen 58 Nummern. Die Redaktion des Zentralorgans bestand laut Beschluß des ZK der SDAPR aus Vertretern der Bolschewiki, der Menschewiki und der polnischen Sozialdemokraten. Im „Sozial-Demokrat" wurden über 80 Artikel und Notizen W. I. Lenins veröffentlicht. Innerhalb der Redaktion des „Sozial-Demokrat" kämpfte Lenin für die konsequente bolschewistische Linie. Die menschewistischen Redakteure, Martow und Dan, sabotierten die Arbeit in der Redaktion des Zentralorgans und verteidigten gleichzeitig in ihrer Fraktionszeitung „Golos Sozial-Demokrata" offen das Liquidatorentum. Der unversöhnliche Kampf Lenins gegen die Liquidatoren führte im Juni 1911 zum Ausscheiden Martows und Dans aus der Redaktion. Ab Dezember 1911 wurde der „Sozial-Demokrat" von W. I. Lenin redigiert. Ab 1912 erschien die Zeitung mit großen Unterbrechungen: in den Jahren 1912/1913 erschienen insgesamt 6 Nmnmern. Vom Beginn des imperialistischen Krieges an wurde der „Sozial-Demokrat" regelmäßiger herausgegeben. Die letzte Nummer erschien in Genf am 18: (31.) Januar 1917. 438

Anmerkungen

527

112

„Stolitsdhnaja Votsdhta" (Hauptstädtische Post) - Tageszeitung, erschien in Petersburg von Oktober 1906 bis Februar 1908. Zunächst war sie ein Organ der linken Kadetten, ab Februar 1907 der Trudöwikigruppe. Sie wurde von der zaristischen Regierung verboten. 458 113 „Sascha Qaseta" (Unsere Zeitung) - Zeitung halbkadettischer Richtung; -erschien in Petersburg von 1904 bis 1908. 445 114 Am 16. (29.) April 1908 wurde ein Brief des ZK der SDAPR an die lokalen Organisationen über die Arbeit der sozialdemokratischen Dumaabgeordneten in Nr. 29 des „Proletari" veröffentlicht. 445 '•••-. 115 Lenin meint möglicherweise den Artikel „Politische Skizzen" mit der Unterschrift W. M-d-m (Medem), der in dem Sammelband „Unsere Tribüne", Erstes Buch, Wilna 1907, erschien. Medem, ein bekannter Bundist, führte den Gedanken aus, daß die russische Sozialdemokratie nach der Niederlage der, Revolution 1905-1907 auf solche revolutionären Losungen wie die Losungder konstituierenden Versammlung verzichten müsse. 451 116

117

118

Es handelt sich um A. M. Gorkis Artikel „Die Zerstörung der Persönlichkeit", dessen erste Variante Gorki als „Notizen" im „Proletari" veröffentlichen wollte. Der Artikel erschien dann in dem Sammelband „Beiträge zur Philosophie des Kollektivismus" (Verlag „Snanije", St. Petersburg 1909). AI AI - A.A. Bogdanow. 454 : . Lenin meint den Anfang 1908 erschienenen Sämmelband „Beiträge zur Philosophie des Marxismus" mit Artikeln von W. Basarow, J. Berman, A. Bogdanow, O. Gelfond, P. Juschkewitsch, A. Lunatscharski und S. Suworow, der den unmittelbaren Anstoß dazu gab, daß Lenin sein Werk „Materialismus und Empiriokritizismus" (Werke, Bd. 14) schrieb. 454 Es handelt sich um Lenins Werk „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück (Die Krise in unserer Partei)". (Siehe Werke, Bd. 7, S. 197-430.) 457

119

Gemeint ist A. Bogdanows Buch „Empiriomonismus", Moskau 1904. 457

120

Der Sämmelband „Beiträge zu einer realistischen Weltanschauung" mit Artikeln von W. Basarow, A. Bogdanow, A. Finn, W. Fritsche, A. Lunatscharski, P. Maslow, W. Schuljatikow, u. a. erschien 1904 in Petersburg, jedoch ohne Artikel von Plechanow und Lenin. 457 Die „"Betrachtungen eitles einfachen Marxisten über Philosophie" wurden bis heute nicht aufgefunden. 458 In dieser Zeit begann W . I. Lenin mit d e r Niederschrift seines Buches „Materialismus u n d Empiriokritizismus". (Siehe W e r k e , Bd. L 14;) 458 Der dritte Redakteur - J. F. Dubrowinski. 460

121

122

m

528

Anmerkungen

m

-Lenin bezieht sich auf seinen Artikel „Volitisdoe "Notizen". (Siehe den vorliegenden Band, S. 446—452.) Eingehender wurde die Frage des Partei..programnis im „Proletari" in dem Artikel „Wie Peter Maslow die Rohentwürfe von Karl Marx korrigiert": (siehe den vorliegenden Band, S. 299 bis 306) beleuchtet. 464 125 „9/leonen" - Abkürzung für „Partija mirnowo obnowienija" - Partei der friedlichen Erneuerung. 464 126 Lenins Artikel „Neutralität der Qewerksdbaften" wurde, geringfügig g e kürzt, mit der Unterschrift Wl. Iljin in dem Sammelband „Die Zeichen der Zeit" (St. Petersburg 1908, Verlag „Twortschestwo" [Das Schaffen]) veröffentlicht. 467 127 Die Resolution des ZK der SDAPR über die Gewerkschaften wurde in Nr. 21 des „Proletari7' vom 13. (26.) Februar 1908 veröffentlicht. Den Parteimitgliedern wurde empfohlen, Innerhalb der Gewerkschaftsorganisationen Parteigruppen zu bilden und in ihnen unter der Leitung der lokalen Parteizentren zu arbeiten. In Fällen, wo die Verfolgungen durch die Polizei es unmöglich machten, eine Gewerkschaftsorganisation zu gründen oder wiederaufzubauen, empfahl das ZK, illegal Gewerkschaftszellen und Gewerkschaften zu schaffen. 467 128

„Nasdß "Weh." (Unser Jahrhundert) - Zeitung; populäre Ausgabe des Organs der linken Kadetten „Towarischtsch"; erschien von 1905 bis 1908 in Petersburg. 467 129 „Wperjod" (Vorwärts) - bolschewistische Massenzeitung der Arbeiter, die - v o n Lenin geleitet wurde. Sie wurde vom 10. (23.) September 1906 bis 19. Januar (1. Februar) 1908 von der Redaktion des „Proletari1" illegal in Wiborg herausgegeben. Es erschienen 20 Nummern. Von Nr. 2 an erschien der „Wperjod" als Organ lokaler Komitees der SDAPR: Nr. 2 als Organ des Moskauer und des Petersburger Komitees sowie des Moskauer Bezirkskomitees; die Nummern 3-7 als Organ des Moskauer und des Petersburger Komitees, des Moskauer Bezirkskomitees sowie der Komitees von Perm und Kursk; die Nummern 8-19 außerdem als Organ des Kasaner Komitees. In der letzten Nummer (Nr. 20) des „Wperjod" wurde statt der Komitees von Perm und Kasan das Gebietskomitee des Urals genannt. 468 130

Das Buch D. Firsows (D. Rosenblums) und Mr Jakobis (M. Gendelmans) „Zur Revision des Agrarprogramms und zu seiner Begründung" erschien im Verlag „Ära", Moskau 1908. Das Buch wurde beschlagnahmt. Die von Lenin angekündigte Besprechung des Buches im „Proletari" erschien nicht. 4

7

3



-

-

-





"





.

-





Anmerkungen 131

132

133

134 135

136

529

„Sowremenny TAir" (Die Welt der Gegenwart) - Monatsschrift für Literatur, Wissenschaft und Politik, die von Oktober 1906 bis 1908 in Petersburg erschien. Die engsten Mitarbeiter der Zeitschrift waren Menschewiki. In der Periode des Blocks der Bolschewiki mit den parteitreuen Menschewiki arbeiteten am „Sowremenny Mir" auch Bolschewiki mit. Ab 1914 wurde die Zeitschrift zum Sprachrohr der Sozialchauvinisten. 473 Siehe Friedrich Engels, „ Z u r Kritik des Sozialdemokratischen P r o g r a m m entwurfs 1891", in Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 22, Berlin 1963, S. 233-236. 4SI D e r Artikel „Die Lehren der Kommune", die Niederschrift eines Vortrags von Lenin, wurde in N r . 2 der „Sagranitschnaja Gaseta" (Auslandszeitung) vom 23. M ä r z 1908 veröffentlicht. Die Redaktion der Zeitung schickte dem Artikel folgende Erklärung voraus: „Am 18. M ä r z fand in Genf eine internationale Kundgebung anläßlich dreier proletarischer Gedenktage statt: der 25. Wiederkehr des Todestages von Karl M a r x , des 60. Jahrestages der Märzrevolution von 1848 und des Jahrestages der Pariser Kommune. Auf der Kundgebung sprach im N a m e n der S D A P R Genosse Lenin über die Bedeutung der Kommune." 4S3 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, W e r k e , Bd. 17, Berlin 1968, S. 277. 483 Eine Einschätzung der historischen Rolle der Kommune als „Bahnbrecherin einer neuen Gesellschaft" findet sich in der Schrift von Karl Marx „Der Bürgerkrieg in Frankreich" und in den Briefen an Kugelmann vom 12. und 17. April 1871. (Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, Berlin 1968, S. 313-365, und Bd. 33, Berlin 1966, S. 205/206 und 209.) 485 „Russkaja !Mysl" (Der russische Gedanke) - Monatsschrift für Literatur und Politik, die von 1880 bis 1918 in Moskau erschien. Bis zum Jahre 1905 vertrat sie die liberal-volkstümlerische Richtung. Dennoch veröffentlichte sie in den neunziger Jahren verschiedentlich auch Artikel von Marxisten. Nach der Revolution von 1905 wurde sie unter der Redaktion von P. B. Struve zum Organ des rechten Flügels der Kadettenpartei. 49 i

DATEN AUS DEM LEBEN UND WIRKEN W. I. LENINS i 1907 bis April 1908)

533

1907 2Vad> dem 22. 'Juni (5. Juli) 25. Juni (8. Juli) 26. Juni (9. Juli)

Juni-Juli Juli, vor dem 8. (21.) 8. und 14. (21. und 27J Juli

16. (29 J Juli

2i.-23.-JuU (3.-5. August)

Lenin schreibt für den Sammelband „Stimme des Lebens" den Artikel „Graf Heyden zum Gedächtnis (Was lehren unsere parteilosen ,Demokraten' das Volk?)". Lenin wird vom ZK der SDAPR als Vertreter der Partei in das Internationale Sozialistische Büro gewählt. Lenin beendet den Artikel „Gegen den Boykott (Aus den Notizen eines sozialdemokratischen Publizisten)". Der Artikel wird in der Broschüre „über den Boykott der dritten Duma" veröffentlicht, die Ende Juli 1907 erscheint. Lenin weilt in Styrs Udde (Finnland) zur Erholung. Lenin schreibt die „Thesen zum Referat über die Stellung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zur dritten Duma, erstattet auf der Petersburger Stadtkonferenz vom 8. Juli". Lenin nimmt an der Petersburger Stadtkonferenz der SDAPR in Terijoki teil. Er hält das Referat über die Stellung der Sozialdemokratie zur III. Reichsduma. Die Konferenz nimmt Lenins Resolution gegen den Boykott der III. Duma an. Die Thesen zum Referat Lenins werden als Sonderdruck herausgegeben. Lenin wird auf Beschluß des ZK der SDAPR als Mitglied der Delegation der SDAPR für den Internationalen Sozialistenkongreß in Stuttgart bestätigt. Lenin nimmt an der Dritten Konferenz der SDAPR („Zweir ten Gesamtrussischen Konferenz") in Kotka (Finnland) teil. Er hält das Referat zur Frage der Teilnähme an den Wahlen

Daten aus dem Leben und "Wirken W. 1. Lenins

534

zur III. Reichsduma und eine Rede über den Gesamtrussischen Gewerkschaftskongreß. Die Konferenz nimmt die von Lenin vorgeschlagene Resolution gegen den Boykott der Wahlen zur III. Reichsduma an. Der Leninsche Resolutionsentwurf über den Gesamtrussischen Gewerkschaftskongreß wird dem ZK als Material übergeben. Juli

Lenin bereitet die zweite Auflage des Buches „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland" vor: er fügt Ergänzungen auf der Grundlage neuer Daten über die ökonomische Lage Rußlands ein, gibt eine Analyse der Ergebnisse der allgemeinen Volkszählung von 1897 und schreibt das Vorwort zur zweiten Auflage.

i. (14.) August

Lenin lädt A. M. Gorki in einem Brief ein, am Internationalen Sozialistenkongreß in Stuttgart teilzunehmen; er teilt Gorki mit, daß das ZK der SDAPR ihn mit beratender Stimme bestätigt habe.

5.-11. (18.-24.) Lenin nimmt am Stuttgarter Kongreß teil. Er gehört dem Präsidium des Kongresses sowie der Kommission an, die die August Resolution „Der Militarismus und die internationalen Konflikte" vorbereitet. Zwischen dem 5. und 11. (18. und 24.) August 6.und 7. (19. und 20.) August

Lenin lernt Clara Zetkin kennen,- er schätzt ihr Referat auf dem Kongreß über das Frauenstimmrecht hoch ein.

Lenin organisiert eine Beratung der Bolschewiki mit Vertretern der linken deutschen und mit polnischen Sozialdemokraten und führt diese Beratung durch.

"Nadjdem 11. (24.) August

Lenin kehrt aus Stuttgart nach Kuokkala (Finnland) zurück.

Glitte August

Lenin redigiert den bolschewistischen Sammelband „Stimme des Lebens" und schreibt Bemerkungen zur Resolution des Stuttgarter Kongresses „Der Militarismus und die internationalen Konflikte". • -; •. - ' ,

22. August Lenin schreibt für den Sammelband „Stimme des Lebens" (A.September) den Artikel „Notizen eines Publizisten", der Fragen der bol• ; ; schewistischen Taktik gegenüber der III. Reichsduma behan,





d e l t .

• • •

••

. . . - . : .

-;

. . : . - : !

Daten aus dem Leben und Wirken W. 1. Lenins

535

Zwischen dem In Petersburg erscheint unter der Redaktion Lenins der 3i. August und Sammelband „Stimme des Lebens" mit den Artikeln „Graf dem 7. September Heyden zum Gedächtnis" nnd „Notizen eines Publizisten". (13. und 20. September) August Lenin wird vom ZK der SDAPR zum Hauptredakteur des Zentralorgans der Partei, des „Sozial-Demokrat", gewählt. August bis Lenin schreibt zwei Artikel mit der Überschrift „Der InterSeptember nationale Sozialistenkongreß in Stuttgart". Ein Artikel war für die bolschewistische Publikation „Kalender für alle für das Jahr 1908" bestimmt, der andere für den „Proletari". August bis Oktober

Lenin redigiert die russische Übersetzung der Berichte der Sozialdemokratischen Partei Österreichs und der Italienischen Sozialistischen Partei an den Internationalen Sozialistenkongreß in Stuttgart. August bis Lenin bereitet die dreibändige Sammlung seiner Werke Dezember „12 Jahre" zum Druck vor. Anfang SepLenin hält auf der Petersburger Stadtkonferenz der SDAPR tember in Terijoki ein Referat über den Internationalen Sozialistenkongreß in Stuttgart. 7. (.20.) SepLenin wird vom ZK der SDAPR in das Redaktionskollegium tember des „Sozial-Demokrat" und in den leitenden Ausschuß der Redaktion gewählt. Die Funktion des Hauptredakteurs des " Zentralorgans wird auf dieser Sitzung aufgehoben. September Lenin schreibt das Vorwort zum I. Band der Sammlung seiner Werke „12 Jahre". 8. (21J In der bolschewistischen Massenzeitung „Wperjod" erscheint Oktober Lenins Artikel „Die antimilitaristische Propaganda und die Verbände der.sozialistischen Arbeiterjugend". Zwischen dem In Petersburg erscheint unter der Redaktion Lenins der i9. und 26. Ok- Sammelband „Wetterleuchten". tober (i. und \n dem Sammelband erscheint Clara Zetkins Artikel „Der 8. November) Internationale Sozialistische Kongreß zu Stuttgart" mit Anmerkungen Lenins. In Petersburg erscheint der „Kalender für alle für das Jahr •••',' 1908" mit Lenins Artikel „Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart".

"DaUn aus dem £eben und WirkenW.3, Lenins

536 2O.Qktober (2.November) .'•.•••:.•

27. Oktober (9. November)

Lenins Artikel ^Revolution und Konterrevolution" und „Der Internationale Sozialistenköngreß in Stuttgart" erscheinen in N r . 17 des „Proletari".

•-.•.••"

-.,'.;.

.

Lenin nimmt an der Konferenz der Petersburger Örgänisation der SDAPR in Terijoki teil; er hält die Referate „über die III. Reichsduma" und „Ober die Mitarbeit von Sozialdemokraten an der bürgerlichen Presse". Die Konferenz nimmt Lenins Resolution • III. Reichsduma" an.

„über

die

29. Oktober . Lenins Artikel „Die dritte Duma" und die redaktionelle Be(ll.November) merkung „über einen Artikel Plechanows" erscheinen in Nr. 18 des „Proletari". ' Vor dem 5.(18.) Lenin ist bei der vorbereitenden Beratung der Bolschewiki, November die an der „Vierten Konferenz der SDAPR" teilnehmen, anwesend. . : 5.(l8.)NovemberLenins Artikel „Vorbereitung einer »widerlichen Orgie'", „Und wer sind die Richter?" und die „Resolution, über die III. Reichsduma", angenommen von der Konferenz der St.-Petersburger Organisation der SDAPR, erscheinen in . Nr. 19 des „Proletari". , • . 5.-12.(18-25.) November .:

Lenin nimmt an der Vierten Konferenz der SDAPR („Dritten Gesamtrussischen Konferenz") in Helsingfors teil. Er hält das Referat „über die Taktik der sozialdemokratischen Fraktion in der III. Reichsduma". Die Konferenz nimmt die Resolution Lenins zu dieser Frage an.

Zwiscüien dem 16. und 23. November (29. November und 6. "Dezember) November

In Petersburg erscheint der erste Band der Sammlung der Werke W. I. Lenins (Wl. Iljins) „12 Jahre". Er enthielt die wichtigsten Artikel und Broschüren Lenins aus der Zeit von 1895 bis 1905. , \._, • . , . . . - 1-.,. , In Nr. 18 der bolschewistischen Massenzeitung ;,Wperjod" erscheint Lenins Artikel „Die dritte Reichsdumä und Sie Sozialdemokratie".

.•-••'.

Lenin schreibt das „Vorwort zur Broschüre Woinows (A. W. Lunatscharskis) über das Verhältnis der Partei zu den Gewerkschaften". . •..-.., ...:..•

-X>aten aus dem Leben und Wirken W.J. Lenins

537



•'••• ••" ; ; Der' erste Band der Sammlung, der Werke W.L Lenins .-. r'•"• ••-. „12 Jähre" wird von der Polizei beschlagnahmt. Gegen Lenin . :-wird, ein Gerichtsverfahren eingeleitet. ' - ".Lenin verbirgt sich vor der Polizei und fährt von Küokkala • nach Agelby (nahe Helsingfors). Herbst Lenin schreibt die Kapitel X-XII der Arbeit „Die Agrarfrage und die ,Marxkritiker'". ^November bis Lenin arbeitetan deni Buch „Das Agrarprogramm der Soziair "Dezember v Demokratie in der ersten rassischen Revolution von 1905 bis • . .: 1907?.Dezember Lenin fährt von Agelby ins Ausland. Er hält sich einige Tage in Stockholm auf, wo er N. K. Krupskaja erwartet. ' 22. Dezember Das St.-Petersburger Kammergericht ordnet die Vernichtung (4. "Januar 1908) von Lenins Schrift „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution" an. 22.-25. Dezember Auf der Reise nach Genf machen Lenin und NT. K. Krupskaja (•4.-7. Januar in Berlin halt. Sie verbringen den Abend des 22. Dezember 1908) . bei Rosa Luxemburg. . 25. Dezember -Lenin fährt mit N. K. Krupskaja nach Genf. Beginn der zwei(.7. Januar 1908) ten Emigration Lenins.

1908 Januar bis Februar Zwisdhen dem 11. und 18. (24. und 31.) Januar " 20. Januar (2.7ebruar)

Lenin bereitet die Herausgabe des „Proletari" in Genf vor.

In Petersburg erscheint Teil I des zweiten Bandes der Sammlung der Werke W.I.Lenins (Wl.lljins) „12 Jahre" unter dem Titel „Die Agrarfrage", Teil I. Der Band enthält die Kapitel X und XI der Arbeit „Die Agrarfrage und die ,Marxkritiker'". Lenin wendet sich mit der Bitte an A. M. Gorki, ihm für den „Proletari" publizistische Artikel oder Auszüge aus neuen belletristischen Werken zu schicken. 1 i.(24.)7ebruar Lenin nimmt an einer Beratung der Redaktion des „Proletari" anläßlich einer Notiz in der „Neuen Zeit" über Auseinandersetzungen in philosophischen Fragen innerhalb der SDAPR teil. Die Beratung bestätigt einstimmig den von Lenin verfaßten Text einer Erklärung der Redaktion des „Proletari".

538

Daten aus dem Leben und Wirken W. 1. Lenins

I2.(25.)7ebruar Lenin weist in einem Brief an A. M. Gorki auf die Notwendigkeit hin, einen unversöhnlichen Kampf gegen die russischen Machisten (Bogdanow und andere) zu führen. I3.(26.)7ebruar In Genf erscheint Nr. 21 des „Proletäri" mit Lenins Artikel „Politische Notizen" und eine „Erklärung der Redaktion des JPröletari'" über Auseinandersetzungen in philosophischen Fragen innerhalb der SDAPR. : . Zwisdhen dem 15. und 20. 7ebruar(2S. 7ebmar und 4. März)

In Petersburg erscheint der bolschewistische Sammelband „Tagesgeschehen", in dem unter der Überschrift „Das Jdealland' vom Standpunkt der Gegner des Marxismus in der Agrarfrage" Kapitel XII von Lenins Schrift „Die Agrarfrage: und die ,Marxkritiker'" veröffentlicht wird.

Zweite Tebruar- In Rußland erscheint illegal Nr. 1 des Zentralorgans der hälfte (Anfang SDAPR, des „Sozial-Deniokrat", mit Lenins Artikel „Zu den 'März) Debatten über die Erweiterung der Budgetrechte der Duma". 19.7ebruar Lenins Artikel „Die neue Agrarpolitik", „Neutralität der (3. März) .. . • ' Gewerkschaften" und „Das Attentat auf den König von-Portugal" werden in Nr. 22 des „Proletari" veröffentlicht. Zwischen dem In Petersburg erscheint die zweite, erweiterte Auflage von 27.7ebruarund Lenins Werk „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußdem 6. März land". (li.undi9. März) .. . . . J-ebruar Lenin beginnt die Arbeit an dem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus". 5. (18.) März

Lenin hält im Namen der SDAPR auf einer drei Gedenktagen, der 25. Wiederkehr des Todestages von Karl Marx, dem 60. Jahrestag der Revolution von 1848 und dem Jahrestag der Pariser Kommune, gewidmeten internationalen Kundgebung in Genf eine Rede über die Bedeutung der Pariser Kommune. 10. (23.) März Lenins Artikel „Die Lehren der Kommune" erscheint in Nr. 2 der „Sagranitschnaja Gaseta". 12.(25.)März Lenins Artikel „Polizeilich-patriotische Demonstration auf ' • : •' Bestellung", „Wie die Liberalen das Volk betrügen" und „Marx im Urteil des internationalen Liberalismus" werden in Nr. 25; des „Proletari" veröffentlicht. ,

539

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort..

..

.,

..

..

..

..

VII-VIII

1907 Gegen den Boykott (Aus den Notizen eines sozialdemokratischen Publizisten .... .. . . ... ... ....

I

II

..

..

. . . . . . .-,.. -•..

...........

...-• . . . . . .

III

..

..

;.

.„

..

....

:..

.:

..

IV

..-

.:

..

.:

.:

..

..

..

..

V VI VII

.. ..

..

..

..

4

. . . .

10

.:•- . .

. . . ... ..

..

..

..

..

.. ..

..

..

1-37

....

..

..

13

..'-'•

20

..-

23 31 36

..

Graf Heydeh zum Gedäditnis (Was lehren unsere parteilosen „Demokraten" das Volk?)

38-46

Thesen zum Referat über die Stellung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zur dritten Duma, erstattet auf der Petersburger Stadtkonferenz vom 8. Juli ... . . . . ..

47-49

Resolutionsentwürfe zur dritten Konferenz der SDAPR („Zweiten Gesamtrussischen Konferenz") .. .. .. .. 1. Resolutionsentwurf zur Frage der Teilnahme an den Wahlen zur III. Reichsduma .. . . . . .. .. 2. Rohentwurf einer Resolution über den Gesamtrussischen Gewerkschaftskongreß Notizen eines Publizisten . .

..

..

.'..

..

..

..

...

..

50-52 50 51 53-65

540

Inhaltsverzeichnis

Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart

66-73

Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart

74-85

Vorwort zum Sammelband „12 Jahre"

86-105

Revolution und Konterrevolution

106-115

Die dritte Duma

116-126

ü b e r einen Artikel Plechanows

127-128

Konferenz der St.-Petersburger Organisation der SDAPR. 27. Oktober (9. November) 1907 •':•'.- ".'.' V: . ! . . . ' ' .

129-134

1. Referat über die III. Reichsduma. Aus einem Zeitungsbericht

129

2. Resolution über die III. Reichsduma

132

3. Referat über die Mitarbeit von Sozialdemokraten an der bürgerlichen Presse. Aus einem Zeitungsbericht

134

Vierte Konferenz der SDAPR („Dritte Gesamtrussische Konferenz"). 5.-12. (18.-25.) November 1907 ., .. . . . . .. 1. Referat über die Taktik der sozialdemokratischen Fraktion in • der III. Reichsduma. Aus einem Zeitungsbericht

135-140 135

2. Resolution über die Taktik der sozialdemokratischen Fraktion. in der III. Reichsduma Vorbereitung einer „widerlichen Orgie"

..

. . . . . .

. . . .

..

..

..

..

Und wer sind die Richter? . . . . . . . .

..

138 141-147

. . . 148-156

Vorwort zur Broschüre Woinows (A. W . Lunatscharskis) über das Verhältnis der Partei zu den Gewerkschaften

157-165

Die Agrarfrage und die „Marxkritiker"

167-212

X. Das „Werk" des deutschen Bulgakow, E. David . . XI. Die Viehzucht im Klein-und Großbetrieb

..

. . . . . .

. . . . 169 ..

XII. Das „Idealland" vom Standpunkt der Gegner des Marxismus in der Agrarfrage ' . : :. , . .. .. .. . . . . .. Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907 . . . . . . . . . .. .. .. .. Kapitel I.

180 192 213-437

Die ökonomischen Grundlagen und das Wesen der Agrarumwälzung in Rußland

..

..

. . . .

1. Der Grundbesitz im Europäischen Rußland . . 2. Worum geht der Kampf ?

..

.. :

. . . .

..

216

..

216

..

221

Inhaltsverzeichnis

:

54f

: •.' 3; Die Vertuschung des. Wesensirihältes. des Kampfes ; - dü^ch diei kadettischen Publizisten . . . . . . . . .. : 4.; Der •'ökonomische Wesenskern der Agrärumwälzung und. ihre ideologischen Gewandungen .. . . . 5 . Zwei Typen, der bürgerlichen Agrarentwicklüng . . • 6. Zwei Linien-der Ägrärprögranime in der Revolu. tion

v

. i , .-.:. ••.•'.. ••: . . . , ; . . . J

•;..'. • . . .

...

..

228 230 235 2 4 0

• • 7. Die Bodenfläche Rußlands. Die Kolonisationsfrage 245 . 8.; Zusammenfassung der ökonomischen Schlußfolger; ,'. : rangen aus Kapitel I .. ..-..- ... ,...•,". . . . . 251 Kapitel II. Die Agrarprpgramme der SDAPR und ihre Erprobung durch die erste Revolution ..'.'. 252 1. Worin besteht der Fehler der früheren Agrarprogramme der russischen Sozialdemokraten? .. .. 253 2. Das gegenwärtige Agrarprogramm der SDAPR . . 255 3. Prüfung des Hauptarguments der Munizipalisterungsanhänger durch das Leben .. 258 4. Das Agrarprogramm der Bauernschaft .. . . . . 265 5. Mittelalterlicher Grundbesitz und bürgerliche Revolution . . . . •-...•- ,,-• ... •• .,-•; •• 270 6. Warum mußten sich die Kleinbesitzer in Rußland für die Nationalisierung aussprechen"? . . .. ^ .. 274 7. Die Bauern und die Volkstümler über die Nationalisierung ,desf Anteillandes . . . . 281 8. Der fehler M. Schanins und anderer Anhänger der "Aufteilung .. ".'.' . . . . . . .... .. 285 Kapitel III. Die theoretischen; Grundlagen der Nationalisierung -•• '•.•'• • • und der Munizipalisierung- . - . ' • . . .. . . . . .. 292 : 1. W a s heißt Nationalisierung des Grund u n d Bodens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .-,.-.; >..-. .. 293 • 2. W i e Peter Maslowdie Rohentwürfe von Karl M a r x korrigiert . . . . . . . . , 299 3. M u ß man zur Widerlegung der Volkstümlerrichtang M a r x widerlegen? . . . . . . ! . 307 4. Hängt die Leugnung der absoluten Rente mit dem . Munizipalisieningsprogramm; zusammen? . . ' . . 310

542

Jhhaltsverzeidbnis 5. Kritik des Privateigentums am Grund und Boden vom Standpunkt der Entwicklung des Kapitalismus 6. Die Nationalisierung des Grund und Bodens und die „Geld"rente ... .. . . 7. Unter welchen Bedingungen kann die Nationalisierung verwirklicht werden? . . . . 8. Ist die Nationalisierung ein Übergang zur Aufteilung?

Kapitel IV. Politische und taktische Erwägungen in den Fragen des Agrarprogramms . . . . . . .: 1. Die „Garantie gegen eine Restauration" .. .. 2. Die örtliche Selbstverwaltung als „Schutzwall gegen die Reaktion" .. 3. Die Zentralgewalt und die Festigung des bürgerlichen Staates .. 4. Das Ausmaß der politischen Umwälzung und das Ausmaß der Agrarumwälzung 5. Bauernrevolution ohne Eroberung der Macht durch die Bauernschaft? .. . . . . 6. Ist die Nationalisierung des Grund und Bodens ein genügend elastisches Mittel? 7. Munizipalisierung des Grund und Bodens und Munizipalsozialismus .. .. 8. Einige Beispiele der durch die Munizipalisierung hervorgerufenen Konfusion . . Kapitel V. Die Klassen und Parteien im Lichte der Agrardebatten der zweiten Duma 1. Die Rechten und die Oktobristen .. . . . . .. 2. Die Kadetten . . . . . . . . 3. Die rechtsstehenden Bauern .. 4.' Die parteilosen Bauern 5. Die intellektuellen Volkstümler . . 6. Die Trudowikibauern (Volkstümler) 7.. Die Sozialrevolutionäre

313 316 319 323 326 326 332 337 345 352 357 360 365 368 370 376 383 386 392 398 404

Inhaltsverzeichnis 8. Die „Nationalen" 9. Die Sozialdemokraten Schlußfolgerungen Nachwort

543 ....

409 419 426 436

1908 Zu den Debatten über die Erweiterung der Budgetrechte der Duma 438-444 Postskriptum zum Artikel „Zu den Debatten über die Erweiterung der Budgetrechte der Duma" Politische Notizen

445 446-452

Erklärung der Redaktion des „Proletari"

453

An A.M.Gorki

454-461

Die neue Agrarpolitik

462-466

Neutralität der Gewerkschaften

467-477

Das Attentat auf den König von Portugal

478-482

Die Lehren der Kommune

483-486

Polizeilich-patriotische Demonstration auf Bestellung

487-492

Wie die Liberalen das Volk betrügen

493-497

Marx im Urteil des internationalen Liberalismus

498-502

Anmerkungen

503-529

Daten aus dem Leben und Wirken W. J. Lenins

531-538

ILLUSTRATIONEN Umschlag des „Kalenders für alle für das Jahr 1908", in dem Lenins Artikel „Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart" veröffentlicht wurde. Lenins persönliches Exemplar

75

Titelblatt des Sammelbandes der Werke W. I. Lenins „12 Jahre" . .

87

Letzte Seite von W. I. Lenins Manuskript „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907". November-Dezember 1907 434-435 Erste Seite von W. I. Lenins Brief an A. M. Gorki. 25. Februar 1908

455