Lektüre zu de Sade 3878771630

Herausgegeben und ins Deutsche übertragen von Bernhard Dieckmann und François Pescatore. Mit Beiträgen von: Chantal

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Lektüre zu de Sade
 3878771630

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Lektüre zu de Sade Stroemfeld/Roter Stern

Lektüre zu de Sade herausgegeben und ins Deutsche übertragen von Bernhard Dieckmann

und François Pescatore

Umschlagmotiv aus einem kolorierten Stich vom Ende des 18. Jh. Innentitel: Karl von Fischer, Längsschnitt Opernhaus-Entwurf fUr Wien, Feder, grau, rosa und gelb laviert, 1803

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lektüre zu de Sade / hrsg. u. ins Dt. übertr. von Bernhard Dieckmann u. Francois Pescatore. Basel: Stroemfeld, Frankfurt am Main: Roter Stern, 1981. ISBN 3-87877-163-0 NE: Dieckmann, Bernhard [Hrsg.]

Alle Rechte für diese Ausgabe: Stroemfeld/Roter Stern Copyrighthinweise für die einzelnen Beiträge am Ende des Bandes Stroemfeld Verlag, Postfach 102, CH-4006 Basel und Verlag Roter Stern, Postfach 180 147, D-6000 Frankfurt am Main. Printed in W. Germany Bitte fordern Sie unseren kostenlosen Almanach mit dem Gesamtverzeichnis an!

Inhalt

Editorische Vorbemerkungen 7

Chantal Thomas Juliette, oh Juliette! (Studie über eine sadianische Libertine) 19

Philippe Roger Im Namen Sades 35 Pierre Klossowski Justine und Juliette 49

Philippe Sollers Der Buchstabe Sade 61

Marcel Hinaff Alles sagen oder Die Enzyklopädie des Exzesses 71

Maurice Blanchot Sade 99 Pierre Klossowskl Das Androgyne in der sadianischen Repräsentation 111

Jean Joseph Goux Kalkül der Wollüste 115 Marceün Pleynet Der lesbare Sade 135

Jean Pierre Faye Den Tod verändern. Sade und das Politische 153

Alain Robbe-Grillet Die Ordnung und ihr Double 183

Maurice Bianchot Einige Bemerkungen über Sade 191 Gilles Deleuze Was ist der Todesinstinkt? 203 Pierre Klossowski Sade und Fourier 213

Marcei Moreau Die Pflicht zur Monstrosität 235 Bernhard Dieckmann Lektüre zu de Sade 243

zu den Autoren 257

Editorische Vorbemerkungen

An keinem Autor so sehr wie an Sade ließe sich beweisen, daß die Literatur wohl das Objekt der Kritik bleibt, die Kritik aber die Li­ teratur nicht manifestiert. Es gibt ein befremdliches Verhältnis zwischen de Sade und der Lektüre seines Werks, die sich bisher schon für schöpferisch hielt, weil sie den Sinn des Werks erkannt und seine Entwicklung durch die Geschichte hindurch aufgezeigt zu haben glaubte. Diese Art der Lektüre gehörte stets zum Jour­ nalismus, zum vergehenden Tag. Und doch hat sich in der Hybris der Kritik eine andere Lek­ türe Sades angekündigt, die ihr eigenes Verschwinden vor dem ge­ lesenen Poem nicht fürchtete, die ihren eigenen Abstand zum Werk als offenen Raum begriff, in dem das sadianische Werk sich selbst reflektiert, in dem es seine eigene wesentliche Uneinheit­ lichkeit begriff und als Unmöglichkeit einverleibte: als Raum, in dem das Werk erscheint. Die eine Lektüre interessierte nur der Wert der sadianischen Texte; die andere macht sich untrennbar vom Werk, weil in ihr widerhallt, was im Werk unaufhörlich, dauerhaft als Konflikt ge­ genwärtig bleibt. Die eine hält sich nur an den offensichtlichen Zustand des Werks, seine traditionellen Formen; die andere schreibt dunklen Kräften, Rätseln und Verbergungen gleiche Fähigkeiten zu wie der reflektiertesten Kunst, da doch bei Sade die vorgetra­ genen Worte oft gleichgültig sind gegen den erschienenen Sinn. Spätestens seit der Lektüre Blanchots lesen wir den Marquis de Sade anders: die Lektüre wird zur Suche nach der Möglichkeit literarischer Erfahrung - keine theoretische Suche, sondern Su­ che als Sinn, durch den literarische Erfahrung sich gründet und der erst möglich wird durch diese Suche als schöpferische. Man kann sicherlich auch eine kritische Lektüre für das literarische

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Werk Sades für erforderlich halten. Doch wenn ein Leser auf­ taucht, der - sobald er liest oder schreibt - seine innere Bewegt­ heit in der Schwebe hält, durch die er doch gerade dem gelesenen Werk Wirklichkeit, Leben und Freiheit schenkt, substituiert dieser dem geschriebenen Werk feststehende Ausdrücke, neue Beziehun­ gen, klare Perspektiven, in denen das Werk sich deutlich fixiert, verständlich wird. In dieser klaren Ruhe bringt der Leser dem Werk den Tod. Vielleicht ist dieser Tod das Leben des sadianischen Werks, vielleicht überlebt das Werk nur in der ihm imma­ nenten Lektüre. . . Das Lesen ist der Ruhm Sades und zugleich dessen Verleugnung, wenn es, wie Roland Barthes es nannte, das Werk explizit macht. Das Werk ist nur, was es werden kann. Denn die Lektüre ist doppelt, sobald sich ihr die Hellsichtigkeit des Au­ tors und die überlegene Passivität des Leser, die Freiheit des Schrei­ benden mischen. Der Leser ist unangefochten Herr des sadianischen Textes, doch er libertiniert, befreit sich von ihm, wenn er sich einem von ihm selbst geschaffenen Text unterwirft. Wir wollen im folgenden kurz die wesentlichen Entwicklun­ gen skizzieren, die die Lektüre zu de Sade erfahren hat. 1904 publizierte Ivan Bloch unter dem Pseudonym Eugen Dühren die erste Ausgabe der 120 Tage von Sodom. Bereits im Jahre 1900 war seine Schrift Der Marquis de Sade und seine Zeit erschienen. Für Dühren ist der Marquis Produkt seines Jahrhun­ derts vollständig abhängig von einem medizinischen Diskurs. Diese Problematik war sicherlich nicht neu, da die Behauptung einer Kausalitätsbeziehung zwischen dem Milieu (der Aristokra­ tie), einem Regime (der Terrorherrschaft) und einem Individuum (Sade als Libertin/als Autor) bereits formuliert war. Doch diese Beziehung wird bei Dühren erstmals als wissenschaftliche These vorgestellt. Sade wird zum Kind seiner Zeit, zum Ergebnis des Frankreich des 18. Jahrhunderts. Entsprechend besteht Dühren auf den Charakteristiken des französischen Geistes; Sades Werk sei zunächst getreue Reproduktion dieser Wirklichkeit. (Auch O. Flake wird 1930 in seiner Studie Marquis de Sade behaupten, daß Sade nicht aus dem Zeitlosen, sondern dem Boden seiner Zeit wachse.) Also müht sich Dühren, alle in Sades Werk repräsentier­ ten Perversionen in der Gesellschaft dieser Zeit wiederzufinden: z.B. die Koprolagnie bei den Parisern des 18. Jahrhunderts. Auch der ethische Gesichtspunkt fehlt nicht. Bei Dühren lastet ein Ver­

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bot auf dem sadianischen Text als Text, das sich kundtut mittels der Dissoziation zwischen der wissenschaftlichen Aussage Sades und seiner mentalen Debilität. Diese Trennung korrespondiert in der Lektüre zu de Sade einer zweifachen Möglichkeit: entweder die verstehbaren Bedeutungen, die äußerliche Form des Werks le­ sen, die unweigerlich „Aversionen” hervorrufen, oder zum Opfer dieser Kollision von Bedeutendem und Bedeutung werden, d.h. ohne diese Kollision analysieren, deren Sinn begreifen zu können. Während bis dahin geglaubt wurde, der Marquis habe in sei­ nem literarischen Werk die Perversion des Sadismus oder der Al­ golagnie durchformuliert, erfährt nach 1945 die Lektüre des Werks im Anschluß an Guillaume Appolinaire, Robert Desnos so­ wie die Surrealisten André Brenton, Louis Aragon und Paul Elu­ ard durch die Arbeiten von Maurice Heine und Gilbert Lely eine entscheidende Wende. Die Texte Sades verlassen endgültig den Kanon des Kuriosen und den Bereich der Adoration. Denn Maurice Heine bemühte sich erstmals um die Verbreitung des sadianischen Werks. Nach Dühren edierte er die erste kritische und vollständige Ausgabe der 120 Tage von Sodom in einer zunächst begrenzten Auflage für Subskribenten der Société du Roman philosophique, ebenso den Dialog zwischen einem Priester und einem Sterbenden und die Mißgeschicke der Tugend als der ersten von Sade verfaßten Version der Justine. Durch die Publikation zahlreicher bisher unveröffentlicher Archivdokumente über Sades Affairen in Arcueil und Marseille schreibt zwar auch Heine sich ein in die Linie einer historischen Kritik de Sades, doch vervollständigt er durch sein Projekt einer umfassenden und vollständigen Veröffentlichung des corpus sadianum eine entscheidende Geste. Wenn dieses Pro­ jekt durch Heine selbst auch nicht zu Ende geführt werden konn­ te, so stellte es doch eine traditionelle Hierarchie in Frage, die zu­ vor das Werk Sades ganz einem medizinischen Diskurs überant­ wortet hatte. Heine unterstreicht zwar, daß das Werk wohl wis­ senschaftliche Aussage und so durchaus Angelegenheit der Klinik sei, doch sich vorrangig als literarischer Text auszeichne. Entspre­ chend blieben Heines Einlassungen doppelt, wenn er Sade einer­ seits für einen Vorläufer des durch Krafft-Ebing und dann Freud erarbeiteten Tableaus der Perversionen hält, Sade andererseits je­ doch als von seinen Opfern und ihrer „Sprache” untrennbar glaubt; Sade einerseits dem 18. Jahrhundert inseriert und seine

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romanesken Techniken für überaltert ausgibt, doch andererseits behauptet, der Autor entgehe jeder Reduktion durch die Litera­ turgeschichte. Nach dem Tode Heines setzte Gilbert Lely dessen Arbeiten fort. Seine erstmals 1952 erschienene Arbeit Leben und Werk des Marquis de Sode wurde um wesentliche und unveröffentlichte Do­ kumente zu de Sade bereichert und muß auch heute noch als au­ thentisches Porträt sowie als Referenzwerk für alles betrachtet werden, was die Kreuzung zwischen biographischen Ereignissen aus dem Leben Sades und den sadianischen Aussagen seiner Texte betrifft. Der markanteste Aspekt dieses unermüdlichen Werks Lelys ist die Konfrontation zweier heterogener Praktiken: einer­ seits der Lyrismus des gefeierten und von Lely verehrten Sade und andererseits das eifrige und peinlich genaue Referat des vom Marquis Gelebten. In der von Heine schon vorgezeichneten Per­ spektive wird Sade auch bei Lely zum Vorläufer der Sexologen, zum Atheisten und Libertin. Aufmerksamer noch als Heine auf das Literarische des Werks unternimmt Lely eine Lektüre, die den Anteil des Bedeutenden in den sadianischen Produktionen, also jenseits des Sinns der Worte den „Rhythmus” des gelesenen Werks nicht verbirgt. So sehr durch die Unermüdlichkeit Lelys Sade endlich als Literat rehabilitiert wird, so sehr bleibt doch sei­ ne Behauptung problematisch, Sade sei verfrühter Sexologe und seine Motivation soweit noch ästhetisch, was ja dem literarischen Werk einen didaktischen Wert beimißt. Doch die sadianische Aus­ sage ist kein Ersatz eines wissenschaftlichen Projekts. Unter der Direktion Lelys wurden seit 1962 die Oeuvres complètes im Cercle du Livre precieux herausgegeben. Seit den Arbeiten von Heine und Lely hat die Zahl der Stu­ dien, der Vorworte und Artikel über Sade erheblich zugenommen. Entsprechend konkurrieren verschiedene Hypothesen: wurde Sade in einen Konsumkreislauf integriert, der sein Phantasma kommerzialisierte und dadurch auch den Sinn der Reproduktion seines Werks veränderte? Führt die Anreicherung der Aussagen über Sade notwendig dazu, daß sein Text gelesen und verstanden wird, oder repräsentiert sie nur die Unmöglichkeit posthumer Re­ habilitationen, wenn gerade in der Sättigung mit leeren Worten die Verbotsgesellschaft ihre Beharrlichkeit und Ausdauer bezeich­ net?

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Zwei Linien können seitdem unterschieden werden: - unter dem Zeichen des Unbehagens bezeichnet die eine in der Lektüre zu de Sade eine Beruhigung des Subjekts, dessen Einzig­ artigkeit das Werk aufzeigt und zerstört. Die Debatte über die Totalitarismen des nazistischen Schreckens hält an der alten An­ näherung zwischen dem sadianischen Text und dem revolutionä­ ren Terror fest. Diese Diskurse über Sade bestehen jenseits aller Nuancen auf der Präsenz des sadianischen Aussagens im literari­ schen und ideologischen Kontext einer Epoche. Doch bleibt sol­ che Lektüre über den Umweg einer Theoretisierung instabil und entkommt trotz ihrer ganzen Unterschiedlichkeit nicht dem Di­ lemma, wie man die sadianische Aussage in das Feld einer Institu­ tion einschreiben kann, wo sie doch gerade die Subversion dieses Feldes aussagt; — dieser korrespondiert eine zweite Linie der doppelten Verän­ derung. Ihre wichtigsten Autoren sind Bataille, Klossowski und Blanchot. Sie erkennen die Heterogenität und Materialität des Signifikanten und schreiben ihre Theorie des Subjekts in das durch den Marxismus und die freudianische Entdeckung geöffne­ te Feld ein. Gegen einen Begriff des Subjekts als geschlossene To­ talität werden im Widerspruch zum medizinischen Diskurs und der schöngeistigen Literatur zwei Konzeptionen vorgeschlagen: eine Teilung und Verwerfung des Subjekts im Feld der Psycho­ analyse sowie eine Splitterung und Zerstückelung des Subjekts im Feld der textuellen Praxis. Mit der Lektüre Batailles, Klossowskis und Blanchots stellt sich eine neue Praxis des Textes ein. Das Substitutive - der Name Sades, das Leben, der Titel, die Bibliographie — hat seine Glaub­ würdigkeit eingebüßt. Noch nahe an den Insulten surrealistischer Provokation verlängern die Texte Batailles wie die Erzählungen Klossowskis Züge des sadianischen Phantasmas, nimmt hier die blasphemische Umkehrung repressiver Techniken durch Bezug auf „schwarze” Zeremonien einen wesentlichen Platz ein. Diese Lek­ türe wird bestimmt durch ein Verständnis sadistischen Denkens, das die Divergenzen und Trennungen des Werks in ihrer literari­ schen Dimension erfaßt. Wiewohl noch an den Grenzen philoso­ phischer Abhandlung hängt diese Lektüre von keiner herrschen­ den Theorie mehr ab, noch weniger von einer gelehrten Methode.

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Sie reflektiert eher die Grundlosigkeit, die Zirkulation, den Um­ lauf des Sinns. Obgleich diese verschiedenen Diskurse und Lektüren sich kreuzen, sind sie doch unterschieden, je nachdem, welches Ob­ dach sie dem Verlangen, der Schreibweise, den Dissonanzen ge­ währen. Das Werk Batailles ist dem de Sades benachbart: sowohl in den konzeptuellen und kritischen Studien, die Sade direkt gewid­ met sind (Der heilige Eros), wie in seinen Werken der Fiktion (Madame Edwarda), die den Namen Sades keineswegs ausschlies­ sen. Der Text Sades repräsentiert sich in den Texten Batailles, ein Text spielt mit dem anderen, das Gleiten der Begriffe und For­ meln konstituiert unzuweisbaren Sinn. Die Lektüre kann nicht mehr mit der Linearität eines Durchlaufs des sadianischen Werks identifiziert werden. Jeder Text wird im Netz anderer Texte ge­ fangen und durch seine ihm eigenen Artikulationen von ihnen ge­ trennt. Die Grenzen jedoch bleiben provisorisch. Jede den gängi­ gen Genres gemäß (als Erzählung oder Theorie, als Fiktion oder Diskurs) definierte Schrift kann hier in unaufhörlichen Additio­ nen wiederholt werden, die schließlich die narrative oder theore­ tische Identität der Schrift entregeln. Indem die von Bataille ein­ geführten Begriffe der Verausgabung und der Souveränität sich nie von der Erfahrung des Unmöglichen, des Unwahrscheinlichen trennen lassen, bleiben sie an der Grenze des Wissens, den Krüm­ mungen der Sprache verbunden. Eine der beeindruckendsten Lektüren zu de Sade erfolgte durch Pierre Klossowski, der 1947 in Sade mon prochain noch die Beziehung Sades zur Theologie, 1967 jedoch in Le philosophe scélérat die einfache Tatsache der Perversion bei Sade untersucht. Dieser Lektüre zufolge gründet die artspezifische Notwendigkeit, sich zu erhalten und zu reproduzieren, einen einheitlichen Code, in dessen Funktion die gemäß den Geschlechterdifferenzen ver­ teilten Körper ihren Sinn nur als Ausdruck dieser normativen Struktur annehmen. Die Sprache wiederholt diese Notwendigkeit: die Kommunikation der Individuen unterstellt die Universalität des Identitätsprinzips. Die logische Struktur der Sprache, die uni­ verselle Vernunft regelt die Verwandlung des Besonderen ins All­ gemeine. Das sadianische Unternehmen beruht auf dieser Artiku­ lation der Vernunft und der Artgesetze. 12

Klossowski hat die diversen Ebenen sadianischen Aussagens rekonstruiert: — manche Aussagen bei Sade verweisen ohne Doppeldeutigkeit auf die Repräsentation eines bewußten Subjekts; — zugleich wird die sadianische Reflexion vorgestellt als gleich­ sam implizite Absicht, die nicht mehr dem Bewußtsein unterwor­ fen ist. Darin markiert diese Lektüre den für Sade wesentlichen Schnitt zwischen dem Denken und der normativen Vernunft; — den Knotenpunkt sadianischer Erfahrung bildet jedoch der Wille, das Motiv des Mißbrauchs und des Zügellosen auf eine Wei­ se zu erkennen, daß das, was mißbraucht und frevelhaft beleidigt wurde, festgehalten wird, um der Überschreitung zu dienen. Sade hat gefühlt, daß jede Überschreitung mit Zensur verbunden ist und es daher keine positive Formulierung der Perversion geben kann. Er kann die Formen der Perversion nur strukturie­ ren, wenn er auf bestehende Institutionen und Normen rekur­ riert. Die Klossowski zufolge aktive Opposition zwischen Vernunft und Denken wird durch Sade nicht explizit artikuliert; sie fällt mit dem Spiel des Aussagens zusammen und verweist auf ein Un­ gedachtes. So wird eine Vernunft unterschieden, deren Prinzipien das Einzigartige ausschließen, und ein Denken Sades, das die Des­ organisation dieser Vernunft sowie die von der Vernunft aus dem Feld der Sprache ausgeschlossenen Abweichungen umfaßt. Das Sadistische Sades: daß er nicht unterscheidet zwischen dem Fak­ tum des Denkens und dem, sich auf eine hypostasierte universelle Vernunft zu beziehen. Die Konsequenzen dieser Verwirrung zu ersetzen, wird zur Funktion des abweichenden Aktes. Die in die Fiktion der Erzählung projizierte sadistische Erfahrung macht Klossowski an drei fundamentalen Begriffen fest: der (integrale) Atheismus, die (vollständige) Monstrosität und die Überschrei­ tung. Indem die nicht-dialektische Erfahrung einer Sprache die Er­ fordernisse des dialektischen Diskurses doppelt, erscheint sie in Blanchots Lektüre zu de Sade als notwendige Distanz, in der die Lektüre zum Schweigen zurückkehrt und hier die gewöhnliche Logik (der Lektüre als Aneignung des Textes) suspendiert. Maurice Blanchot unterstellt als Möglichkeitsbedingung der Lektüre un13

formulierte Regeln, von denen wir hier nur einige nennen wollen: - das Raisonnement, das die Zerstörung um den gewaltsamen Umsturz privilegiert, wird vom sadianischen Text abgehoben, um die Konstruktion einer dialektischen Ordnung zu ermöglichen; - Die Aussagen sind vom Aussprechen getrennt. Wenn der Na­ me der Personen (Saint-Fond/Clairwil) zuweilen ihre Aussagen einführt, so ist deren Beziehung zum Status dieser Person im Werk nur der Punkt, an dem eine Aussage sich spricht; die Personen sind nur Träger von Aussagen; - das Denken Sades identifiziert sich mit der Bewegung der Aussagen und scheint nicht durch dem Werk selbst fremde Ele­ mente bezeichnet werden zu können. Im sadianischen Werk ist jedes Ereignis der Sprache Vorbehalten und somit schon immer vollständig gedachtes Ereignis; - Im Gegensatz zum Code der schöngeistigen Literatur sind die Wiederholungen Sades für Blanchot kein Zufall oder gar Fehler. Sie sind auch nicht Zeichen einer im Werk deponierten statisti­ schen oder quantitativen Wahrheit, aus denen der Forscher Pro­ fit ziehen könnte, sondern Negation der Natur, Zeichen der Neu­ tralisation und des Unpersönlichen. Obschon das Werk Sades selbst die Analogie zwischen der Re­ dundanz des Theoretischen und der Vervielfachung der Opfer nicht aussagt, sind Negation und Destruktion doch Mächte im Feld der Schrift und des Werks. Als Wiederholung des Werks kann die Lektüre sich mit der noch virulenten Aktivität der sadia­ nischen Wiederholungen kombinieren, bleibt die sadianische Aus­ sage in der wiederholten Bewegung einer Beziehung mit der Spra­ che gefangen, in der nach Blanchot der Wahnsinn zu schreiben den Grund eines Denkens ausspricht, das unablässig auf die Be­ jahung seiner Verirrung verwiesen bleibt. Bezeichnend für die Lektüreentwicklung bleiben neben der Linie Heine/Lely sowie Bataille/Klossowski/Blanchot noch die Gruppe Tel Quel sowie Roland Barthes. Für die Tel Quel Gruppe (Philippe Sollers/Marcelin Playnet) schreibt sich der Gebrauch des sadianischen Textes in die Proble­ matik der Schreibweise und des Bruchs ein. Die über ein Werk ausgesagten Thesen können in keinem Wissen und keiner Ideen­ geschichte Halt finden, sondern sich selbst nur in eine Verände­ rungsbewegung inserieren. Diese transformative Praxis des Lesens 14

sagt sich aus und konstituiert sich in der je geschichtlichen Beson­ derheit eines Raums / einer Zeit; leugnet nicht, daß es sich das Werk selbst zurecht gemacht hat. So weist diese Gruppe im Feld der Literatur gleichermaßen die Praxis einer Verschiebung in Richtung auf den Totenkult des „Werts” oder einer Zuweisung eines literarischen Genres zu einem Autor wie auch die Verschie­ bung in Richtung auf den (mythischen) Namen einer von den Produktionen des Textes abgeschnittenen Repräsentation zurück. Die Entdeckung der Bedeutung ist nicht länger letztes Ziel der Lektüre, da die Liste sadistischer Akte und der Ausschweifungs­ szenen nicht auf jene Repräsentation reduziert werden darf, die eben diese anbietet. Jede interpretative Lektüre Sades im Text, die ausgeht von einer sadistischen Wirklichkeit als präverbaler Wildheit oder Unordnung, die sich endlich in der Erzählung re­ flektiere, wird ausgeschlossen; ebenso die Extraktion eines Gedan­ kens, wenn nicht diese Extraktion, diese Rekonstitution als Den­ ken ihrerseits gedacht wird. Roland Barhes liest in seinem 1971 erschienenen Sade, Fou­ rier, Loyola das Werk Sades unter der Maxime, das Buch der Lo­ gotheten, der Begründer von Sprache zu schreiben. Diese sind keine Autoren neuer Systeme, sondern formulieren. Jenseits der zur Gründung einer Sprache erforderlichen Operationen (isolie­ ren, artikulieren, anordnen) muß man Barthes zufolge „theatralisieren”, „Sprache entgrenzen”, indem man ihre Bedeutungs­ funktion aufhebt. So weigert sich diese Lektüre, aus den sadianischen Aussagen ein Substrat des Werks zu machen. Die Unter­ scheidung zwischen Dissertation, Raisonnement und Szenen bei Sade ist für viele Leser oftmals Vorwand für eine Asymmetrie ihres Kommentars; nur die Dissertationen werden analysiert und über den Umweg einer Überschreitung bearbeitet. Die Szenen in ihrer Literarität werden verworfen. Die jedem institutionalisierten kri­ tischen Diskurs inhärente Schwierigkeit, von einer Benennung Re­ chenschaft abzulegen, deren Auslöschen Möglichkeitsbedingung von Aussagen ist, erklärt den in die Lektüre eingeschriebenen Me­ taphereffekt. Der kritische Diskurs erweist sich als Statthalter des diskursiven Paradoxes, dessen Illustration die sadistischen Szenen selbst werden, dessen äußerlicher Rand sie sind. Durch einen parzellären Gebrauch der sadianischen Texte, der den Respekt vor dem Linearen verloren hat und mit Verdichtungen und Verschie­ 15

bungen spielt, zirkuliert aufs Neue, was die Zensur an Sinn para­ lysiert hatte. Im deutschsprachigen Raum zeichnete sich die Lektüre zu de Sade darin aus, mit Sade als Literat nichts zu tun zu haben. Wenn sie nur wüßte, wie Sades Blut sich einst zusammensetzte, würde sie ernstlich glauben, schon tiefer zu sehen. Die von Marion Luckow besorgte Ausgabe Ausgewählter Werke mag dies verdeut­ lichen. Ihren Kommentaren zufolge habe Sade Ideen in die Form des Romans zu bringen versucht, „für die er kaum begabt war”. Aufgrund „langweiliger Wiederholungen” und „ermüdender Erklä­ rungen” sei Sade einfach „ein schlechter Romanschreiber”. Ent­ sprechend beabsichtigt die Auswahl, „die interessanten Epi­ soden vom Ermüdenden zu befreien”, das doch nur „einer mono­ tonen Phantasie weit" entspringt. Und was am Ende noch bleibt, scheint immer noch zuviel, bleibt stereotyp und allenfalls für das „Verständnis seines abnormen Verhaltens aufschlußreich”. Die ganze Literatur Sades ist nur noch aus den Fingern gesogen. Was ihr nicht passen wollte, hat diese Ausgabe gestrichen und „um einen sinnvollen Schluß zu erhalten, haben wir Absätze vertauscht”. Da in dieser in Deutschland bisher umfassendsten Werkausgabe „unterbewußte Wunschträume” als „Sadesches Grundthema” erkannt werden, sei auch der Autor Sade mit seinen Protagonisten zu identifizieren. Das nennt man dann poetischen Realismus. Und da alles Scheußliche in der psy­ chischen Struktur des Marquis verwurzelt wird, verkommt die Auswahl seiner Werke zum kommentierten Psychogramm, das alles schon im voraus verstanden hat. Das nennt man dann ana­ logische Psychologie. Doch eine Vergewaltigung verläuft nicht anders. In Deutschland wird von Sade nur in Zusammenhang mit Versuchen über den Schmutz gesprochen. Doch man kom­ mentiert wirklich kein Werk, um es reinzulegen. Wir verfolgen daher mit der Herausgabe dieser Lektüretexte die doppelte Absicht, die Notwendigkeit einer Edition der voll­ ständigen Werke de Sades zu erweisen und ineins eine Lektüre zu de Sade zu motivieren, weil diese die Befragung der Möglich­ keitsbedingungen all unserer Erfahrungen selbst ist. Einerseits lesen wir in Sade die große Zahl möglicher Bewegungen der Wor­ te und Figuren und können doch in unserer Lektüre nicht alles ans Licht bringen. Sade zu lesen heißt, dem Widerspruch zwischen 16

dem Alles und dem Rätsel zu begegnen, vielleicht sogar, ein Ver­ langen zu systematisieren, das der menschliche Geist bisher unter der Bezeichnung Wahnsinn zu verstehen versuchte: im Inneren des sadianischen Werks so zu sprechen, als wäre man draußen. Berlin und Münster, Juli 1981 Die Herausgeber

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Chantal Thomas

Juliette, oh Juliette! (Studie über eine sadianische Libertine)

Lesen des Einschließens, Ein Schlafsaal ist kein Fickraum. Man muß zu bestimmten Stun­ den einschlafen können. Die Müdigkeit ändert daran nichts. Die Verwaltung übernimmt das Wecken. Alle Träume hören zur gleichen Zeit auf. Das reicht nicht, um euch das Gefühl einer Ge­ meinschaft zu geben. Sogar wenn man sich die letzten fünfzehn Minuten vorstellt, in denen jede mit allen möglichen Metamor­ phosen des Klingelzeichens kämpft. Die Begabtesten, die philo­ sophisch Gewieften: ich träume, ich höre eine Klingel; die weni­ ger Nüchternen (da sie weniger selbstsicher sind): ich träume, Des­ cartes ist ein Wasserkessel, den man auf dem Feuer vergaß. Je­ desmal, wenn ich mich ihm nähere, um zu lesen, pfeift er mir unerträglich in den Ohren. Er könnte mich verbrühen, dieses Schwein. Ärmliches Drehbuch für die in die Enge getriebenen Träumerinnen. Doch das Folgende ist noch schlimmer. Bordeaux. Romanistik. Ein Jahr lang eingeschlossen sein im grauen, schweren und sanften Umschlag einer unendlich verhin­ derten, längst geschehenen Katastrophe. Toter Hafen. Um sich schlagen heißt tiefer versinken. Besser noch die Qualen eines ver­ schleierten Leidens spielen. Mechanischer, aber biegsamer Gang unter einem dunklen Flanellrock. Das symmetrisch und der Länge nach von der feinen Naht eines fleischfarbenen Strumpfes zweigeteilte Oval der Waden (die Schönheitschirurgie und die Sexologie verbessern sich täglich. Bittere Siege, so nah am unver­ meidlichen Verderben des Fleisches und am unbeweglichen Widerstand der Perversionen, so nah an all dem, was sich nur verbessert, indem es schlimmer wird). Die Eleganz des Cours de l'lntendance. Der Wahnsinn ist eine Pause. Das Gegenteil eines Rückzuges oder einer falschen Bewegung. Die Dame bleibt 19

stehen. Sie öffnet ihre Puderdose und wirft einen Blick in den Spiegel. Mit der Spitze eines Messers verfolgt sie das Labyrinth ihrer Falten. Unheilbar kokett, zudem eine geborene Geschäfts­ frau, scheint sie von nun an das Spiel mit dem Messer dem Spiel mit ihren Hüften vorzuziehen. Man muß zugeben, daß sie die Konjunktur ausnutzt. Warum sollen wir nicht einen Spaziergang machen. Die Auslagen der Schuhgeschäfte sind riesig und anzie­ hend. Das Aufwachen ist nicht der Mühe wert. Die Mündung soll sich schließen. Die schlafenden Insassinnen ziehen sich an, ohne sich zu sehen. Seit langem verlassen die Schiffe den Hafen nurmehr zum Schein. Romanistik. Aus welchen sublimierten Ab­ gründen, aus welchen überwundenen, schmutzigen Wurzeln. In diesem Punkt gibt es ein stillschweigendes Übereinkom­ men. Die Frage stellen heißt die Antwort ausschließen. Die auf dem Lehrplan stehenden Autoren klingen in ihren Ohren wie das Obristenregime. Vor dem gleichen Hintergrund von Stech­ schritten und geheimen Hinrichtungen. Einige Selbstmörder kommen zurück. Romantiker. Wie dem auch sei, ohne weiter darauf einzugehen, wenn man sich an die Aussage hält, ist es immer möglich, saubere literarische Arbeit zu leisten. Der Pro­ fessor entblößt beim Reden sein Zahnfleisch. Die jungen Mädchen kotzen. Nichts hatte sie auf diesen rohen Akt der Aussage vor­ bereitet. Einige kommen nie wieder zu sich und sehen mit ge­ schlossenen Augen weiterhin zwischen zwei Ekeln, wie das so blaue und glatte Meer sich mit dem Blut der verwundeten Fische zerreißt. Nach ihren abendlichen Hausaufgaben gehen sie in den Schlafsaal. Abgenutzt durch das verzweifelte Unternehmen der Wiederherstellung toter Sprachen sucht das Wort sich einen müden Weg, der Entmutigung unvermittelt zugänglich. Und die lebendigsten Gespräche geraten in den Verdacht, sich heimlich in einer letzten und schweigenden Anstrengung des Erinnerns zu verdoppeln. Das hat man schnell den Leiden der Reminiszenz abgewonnen, und die Nacht wird um so besser werden. Dann schreiben sie ihr Tagebuch, bevor sie dem Schlaf nachgeben (höfliches Bemühen seitens der physiologischen Funktion. Ein Ton-fall voll weiser Autorität und bescheidener Zurückhaltung eines alten Dieners - eines Negers? -). R. hat uns gesehen, M. und mich, als wir während der Pause zusammen spazierengingen. Ich liebe R. sehr. Die Verzerrung zwischen ihren schweren Brü-

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sten und ihren so leichten Armen. Sie besitzt so etwas wie eine geniale Ungeschicklichkeit, die mich zu Tränen rühren kann (sie weint). Ich denke an Rousseau in den Pariser Salons. Sie hat auch ein sehr schönes Französisch-Heft; mit glattem, schwarzem Deckel, unendlich weich unter dem Druck der Finger; und das Weiß der Seiten ist von sanftem Licht, trägt auf Distanz eine per­ fekte Beleuchtung. Eine Freundin hat es ihr aus Venedig mitge­ bracht. Frau Professor T. haßt mich. Vielleicht haßt sie auch jede. Ich bemitleide sie deshalb nicht. Keine Briefe von S. Der Tag war länger als sonst. Als ich die Tür zum Arbeitszimmer öffnete (nach einem kleinen Ausflug aufs Klo), schrieb sich die metallene Klinke mit einem harten Gefühl der Kälte in meine Hand ein. Ich zitterte vor Grausamkeit und spürte einen Schmerz am Herzen. Als ich mich wieder hinsetzte, um weiter Xenophon zu übersetzen, schienen alle Linien sich in einem Kreis zusammen­ zuziehen und in einem zitternden Schwindel blieb nur das Zen­ trum lesbar. Wenn ich diese Lektüre ausgehalten hätte. . ./Dreh dich Tote. Gespaltene Sonne des Anfangsbuchstabens. Befreie dich vom Werk des Todes. Sprich und deine Worte werden dich übersetzen. Sie gibt dem Schlaf nicht nach. Die Augenlider von gelbem Licht verbrannt. Der Nacken schmerzt. Sie sabbert. In feuchten Tröpfchen bläht sich die Seite. Dieses Buch ist ungesund. Es be­ dürfte eines Scheiterhaufens, um seine bösartigen Säfte auszu­ trocknen. Meine Freundin sagt über die „Verbrechen der Liebe”, daß man manchmal im Theater ähnlich schreckliche Sachen sehen könne, doch die Darstellung weniger gefährlich sei als die kaltblüti­ ge Lektüre dieser gleiche Schrecken ä froid. Sie schlafen im glei­ chen Schlafsaal. Sie teilen nur den Atem. Eingeschlossene, die nichts verbindet außer die tägliche Müdigkeit des Aufwachens und manchmal vielleicht das wirkliche Versprechen eines blendenden Wissens. Libido sciendi. Die absolute Sünde. Flüchtige Entfaltung. Durch den Gebrauch der Zeit schließt sich der Raum über dem auf­ geteilten Tag. Der Tag wird durch eine Langeweile befriedet, deren immerwährende Gegenwart sie schon unmerklich machte. Aber es gab die Entfesselung. Und die Strenge des Festes soll uns nicht täuschen: man muß glauben, daß sie sich von der Seele her lieben. Was ihnen darüber hinaus noch schöne Beine gibt. Daher auch schlafen sie leider in Frieden. Aber blutrot, mit flammenden Wan­ 21

gen liest sie weiter. Im Unnahbaren dieser so weißen und rheto­ risch glatten Körper. In der Verehrung und im Zusammenbruch. Große blaue Augen vom zärtlichsten Interesse und die Taille der Grazie, blond, braun, ihre Haare, schwarz wie Ebenholz, reich­ ten ihr bis zu den Waden, sie hatte eine schmale enge Zunge, vom schönsten Pupur, und ihr Atem erst, es war unmöglich, schöner gebaut zu sein, eine weißere, sanftere, frischere Haut zu haben, der Arsch, aufs Genaueste und Künstlerischste gezeichnet vom reinsten Rund. . . In ihrer wahnsinnigen Genauigkeit läßt sie ihre Lust in das Feld der Geometrie einbrechen, sie liest und die Sätze verwüsten sie. In die bestens geregelte Interpunktion, in die streng geführten Erzählungen schreiben sich verstörte Lek­ türen ein, in ihrem spasmischen Rhythmus, unterbrochen, wieder­ aufgenommen, am gleichen Punkt woanders. Das Erlebnis ihrer Verzückung aufzeichnend, wie sich auf dem Körper des Opfers die Figur der ihm vorbehaltenen Marter liest. Von einem unfehl­ baren und herrschaftslosen Wissen, da sein Ursprung im Geheim­ nis und in der Klarheit einer Komplizität der Formen liegt. — Ohne jede Beziehung zu dem, was sich in der falschen Rezipro­ zität des Sado-Masochismus und seiner Techniken zu denken versucht oder auch in den festgefugten Fronten eines Spiels der je nach den Regeln unendlich beweglichen Differenzierung. Die Definition eines Arsches ist genauso frei wie die eines Krei­ ses. Es geht nur darum, sich auf keine Prämissen einzulassen. Kein Wesen, sagt er, hat das despotische Recht, mich dem zu unterwerfen, was es sagt oder denkt. Sie glaubt nicht an das, was sie liest. Die Worte verifizieren sich nicht auf der Ebene der Wahrscheinlichkeit, sondern im Unbekannten ihres Körpers. Das schneidet ihr den Atem ab, den Atem dieser massiven und soli­ tären, ungleichen Atmung, nach der sie schlafen und träumen. Die Schlaflosigkeit ist sicherlich die für sie vorgesehene Marter. Mit einem Streichholz verbrennt er ihr die Augenwimpern, und sie findet ihre Nachtruhe nicht mehr und kann die Augen zum Schlafen nicht mehr schließen. Es gibt hinter dem Vorhang der Augenlider keine mögliche Kompensation, keine Befriedigungen mehr. Um 22.30 Uhr löscht man das Licht. Regelmäßig Gewalt in der ruhigen Verantwortungslosigkeit einer göttlichen Willkür. In einigen Lichtpunkten hält sich ein verstreuter Widerstand, ein Kreis mit den Ausmaßen eines Vergrößerungsglases wird

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auf die Buchseite geworfen, und die Leserin klammert sich im Dunkeln ängstlich daran. Und bei fortschreitender Lektüre scheint sie die Buchstaben aus dem Tintendunkel zu schöpfen und herauszusaugen. Diese gespannte, unsicher und so gewiß aufgegebene Lektüre vermittelt den gleichen Eindruck von Ver­ trauen und gewolltem Risiko, den man beim Autofahren in der Nacht hat. Fahren, Lektüre am offenen Grab. Doppelte Hecke von nackten Mädchen, pflanzlich und kalt, unmöglich sterben zu lassen, nicht eines etwaigen Widerstandes wegen, sondern wegen der unglaublichen Verzögerung, die sie dabei an den Tag legen. Und ihr unmerklicher Tod löscht den Mord, läßt ihn in der Leere einer Unbeweglichkeit ohne Markierungen für das Gedächt­ nis oder die Imagination verschwinden. Sie schlafen im Geruch ihrer Haare, in der Sicherheit und Undurchsichtigkeit ihrer Bil­ der. Sie besitzen die einzige Kraft. Der Schlaf, zuletzt, nimmt sie mit sich. Die Szene wiederholt sich jede Nacht. Sie liest, während sie erfindet. Das Wörterbuch ist vorhanden, um den klarsten Aufregungen Recht zu geben: Lockvogel: für die Falken. Ein Stück rotes Leder in Form eines Vogels, das dazu dient, den Raubvogel zurückzurufen, wenn er nicht sofort wieder auf die Faust zurückkehrt. Libertin: sagt man von einem Raubvogel, der wegfliegt und nicht wiederkehrt. Ein Punkt im Himmel. Man erkennt den Liber­ tin an seiner Fähigkeit sich zu entfernen. Das täuscht nicht. Und die Libertine? Femininum von Libertin: grammatisch ist alles möglich. Aber trotzdem. Bestimmt auch sie sich durch eine Abweichung ohne Rückkehr? Sicherlich hält auch sie ein Stück Leder nie für einen Vogel. Als ihre Freundschaft mit der Clairwil am größten ist, erklärt Juliette ihr: mein Atheismus ist auf seinem Gipfel. Aber auch das ist ungenügend. Sich zu libertinieren besteht in der Intransivität einer ruhelosen Forderung, im Paradox einer Aufforderung zum Vergnügen, das keine Schwäche duldet. Die sadianische Libertinage ist eine Philosophie der Kompromißlosigkeit. Ihre Wollust ist terroristisch. Eine Wiederholung, die nirgendwo eine Summe liefert, eine Manie der Zahlen in einer mystischen Problematik des Alles oder Nichts (Du wirst nichts kennen, wenn du nicht alles kennst). 23

Eine Produktion, die nirgendwo eine Reproduktion liefert. Diese Vermehrung der Libertinage übt sich im wesentlichen gegen das „Gesetz der Vermehrung” aus. Ein Brand, eine Überschwemmung, eine Katastrophe. Eine restlose Verausgabung. Ein unausstehlicher Diskurs, der sich nur ordnet, um sich zu verlieren, sich nur aufbaut in Voraussicht seines Nullpunkts. Entladung/Gotteslästerung. Alles ist gesagt oder „...” Das Ende des Orgasmus, das Akme der Orgie punktuiert sich im Unbestimmten dieser drei Punkte. In dieser Aussetzung des libertinen Diskurses stellen wir die Frage der Libertine, und die, ob die Chiffre dieser drei Punkte, ihre Unleserlichkeit (denn was die Schrift punktuiert, kann per definitionem nicht gelesen wer­ den) nicht gemäß der Triangulation des weiblichen Geschlechts zu rekonstruieren wäre. Oder auch: „Was antwortet und entspricht sich zwischen dem Ende des libertinen Diskurses, seinem Aufklaffen — seinen aufgetrennten Nähten — und der unerhörten Idee jener mütter­ lichen Qualen: mach die Beine breit, Mutti, damit ich dich nähe, damit ich weder Schwester noch Brüder mehr bekomme. (Madame de Saint-Ange gab Eugénie eine große Nadel mit einem dicken roten Wachsfaden; Eugénie näht.) Wir können darin die ähnliche und umgekehrte Verbindung zwischen den Handarbeiten der Damen und dem Delirium der Hysterikerinnen sehen. (Wir glauben, daß sie sich aus „Tagträumen" entwickelt, die auch bei gesunden Leuten so häufig sind und zu denen die Handarbeiten der Damen zum Beispiel so viele Gelegenheiten bieten.) Davon ab­ gesehen, daß hier das Aufgetrennte oder das „Wahnsinnige” ihrer bisher so geregelten, so wohl artikulierten Worte — man kommt zurück zum Gleichen eines genähten Mundes**; in der bekannten Ethik des ich habe es dir genäht*** — nicht auf der Seite der libertinen Wollust steht, sondern zu den Schreien des Opfers ge­ hört. Nur die weder perverse noch hysterische Dame (Madame) fährt friedlich in ihrer Arbeit fort, zur Zufriedenheit ihrer Familie und der morbiden Jünglingsträume. Doch die Frau, sie genießt und schreit wie eine Wahnsinnige, wenn man ihr solchermaßen ganze Nachmittage lang die Fotze zunäht. 24

Die Erzählerin, Anscheinend und mit offensichtlichem und reichem Schein be­ schreibt die sadianische Libertinage einen Raum, in dem Frauen das Wort haben. Die Duclos als Erzählerin des Monats, in sehr leichtem und sehr elegantem Deshabillé, mit viel Rouge und Diamanten... Ein Lockvogel. Inszenierung eines Worts, die nur die Schauspielerin täuschen kann. Die Zuschauer sehen nichts - oder nur ein Fragment dieser unter dem Namen Hölle geordneten Totalität der Perversionen Das heißt, sie hören sich nichts davon an. Die Erzählerin ist fast stimmlos (die Beschreibung der Szene besteht aus visuellen Eindrücken. Nichts über das Timbre oder die Schönheit der Stimmen der Historikerinnen. Sie erschaffen sich in der Aphonie.) Aphonie in der Transparenz zum Konzept. Ekstase des Worts. Dieses Schweigen durch Streichung der stimmlichen Einzigartigkeit erlaubt die freie Entfaltung des Diskurses. Dieser steht auf der Seite des Schweigens, dieses Vorspiels zur Entfesse­ lung der Orgie. Im Gegensatz zu der vom Libertin all dem aufge­ zwungenen Reduktion, was nicht in seine Welt paßt, die nur im Dienst des Verbrechens existiert und nicht zu seinem Sprechen gehört (Schnee auf die Außenwelt, Watte in den Hals der Ge­ folterten). Zugunsten einer sinnvollen Libertinage schweigend über­ gangene Stimme. Ein gleichzeitig vielheitlicher und homogener (homosexueller) Sinn. Die Libertine: Vergessen/Opfer ihres Stimmorgans, oder Knebel in der Fotze. Schweigen nicht durch Ersticken, sondern weil irgendetwas versteckt oder abschirmt. Für den Libertin kann es keine andere Stimme geben. Obgleich ich Frau bin, denke ich auch so und ich sage es laut: wenn ich Mann wäre, würde ich nur in den Arsch ficken ... Der gute Wille der Libertine ist grenzenlos. Sie verzichtet nur auf je­ nen Punkt der physiologischen Klarsicht (und Demut), an dem sie Schwierigkeiten hätte, den Imperativ des Arschfickens unbe­ dingt zu behaupten. Oder sie entwickelt eine gewisse Phantastik der Klitoris (und Volmar fickte sie mit ihrer glühenden Klitoris in den Arsch).

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Es gibt die Libertine nur im Paradox eines vollständigen Ein­ gehens auf einen Diskurs, der sich wie ein automatisch ausgelöstes Tonband ohne subjektiven Eingriff entrollt. Er funktioniert um so besser, je mehr Stimmen er verliert, in der wahnsinnigen Si­ cherheit einer rein logischen Energie. Die Libertine ist eine gute Schülerin, sie lernt mit Vergnügen und wiederholt begeistert ein Wissen, von dem sie nichts weiß außer die verschaffte Verirrung. Der Kopf dreht sich ihr: der Be­ weis, daß sie in den Schwindel der Libertinage eingetreten ist und daß sie selbst nun die Richtung angeben kann. Ihre Lektion, ihr Lied: unendliche Entwicklungen, unermüd­ liche Klammern über das Thema Gehen wir alle ficken und lassen wir uns ficken (nur in den Arsch). Die Tugendhafte, das stumme und virtuell schon tote Opfer ist somit diejenige, die über den „guten Rat” hinaus noch die brutale Verweigerung, die ausgedrückte Feindschaft hört — über die großherzige Denotation hinaus noch die beleidigenden Kon­ notationen. Aber das Verbrechen ist taub. Es ignoriert die Posi­ tion des Zuhörens in dem Maß, wie seine Ausübung eins ist mit der Ausübung einer radikalen, jedoch begrenzten Polysemie. Der libertine Humor bedingt eine immerwährende Kontrolle über alle Wortspiele, die auf Kosten der Opfer gehen. Daher duldet die libertine Straflosigkeit keinen Stillstand des Diskurses. Das Opfer zu hören würde bedeuten, von der Sprache überschwemmt zu werden, den Kopf nicht mehr verlieren zu können. Und man versteht, daß der Gipfel des Rausches mit einer kal­ ten Klarheit zusammenfällt, die des Morgengrauens, Besoffen/Grau, Wenn die Volmar schon besoffen und schöner als Venus selbst in diesem Zustand des Rausches .. . Die Libertine steht im ersten Tageslicht. Während die Nüchternheit den Schatten und das Dunkle wiederaufkommen läßt, aus der Geborgenheit des Verbrechens und des Traumes, den der Ausschluß heimsucht, auf dem die Li­ bertinage gründet. Das Relief einer stillstehenden Bewegung. Weder Schwester noch Mutter, In einer systematisch durch das Verbrechen gewebten Existenz (als integrale Verwirklichung der Perversion) kann der Traum sich

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nur in einer Stockung, in einem Fehler einschreiben — im Zit­ tern einer Neurose. Ich glaubte, eine schreckliche Gestalt zu se­ hen, die mit einer Fackel meine Möbel und mein Haus in Flam­ men setzte; in diesem Brand streckte ein junges Mädchen mir die Arme entgegen . . . versuchte mich zu retten und kam selbst in den Flammen um. Justine: das Verdrängte von Juliette, das, was sie nicht hört. Man findet die gleiche Geste der ausgestreckten Hand, der ohnmächtigen Bitte in einem Traum von Sade. Warum jammerst du auf dieser Erde? sprach sie zu mir. Komm zu mir. Keine Übel mehr, keine Sorgen, keine Störungen in dem unendlichen Raum, den ich bewohne. Hab doch den Mut, mir zu folgen. Bei diesen Worten warf ich mich ihr zu Füßen und sagte zu ihr: „Oh meine Mutter! . . .” Und die Tränen erstickten meine Stimme. Eine Hand, die sie mir hinhielt, bedeckte ich mit meinen Tränen; und auch sie vergoß Tränen. Die Libertine berührt keine ausgestreckte Hand. Zuerst weil sie den Kontakt mit einem Körper nur zur direkten und unvermit­ telten (und zwar lokalisierten) Lust eingeht, die sie daraus zieht. Sodann weil sie kein leibliches Band, keine fleischliche Sympathie für ein anderes Wesen kennt. Daher der Erotismus als kombinato­ risches Spiel auf der Basis von Vollem und Leerem. Doch von Hand zu Hand springt das Verlangen nicht über. Die Zugehörig­ keit zur Kaste der Libertinage verlangt von der Libertine eine doppelte Überschreitung, jene, die sie aus der Gemeinschaft der Männer ausschließt und die weitaus hinterlistigere und leiden­ schaftlichere, mit der sie sich zur Ausnahme von der weiblichen Regel macht.

Tribaden, Bacchanten, Frevlerinnen, In der sadianischen Welt kann nur eine Frau mit all dem Stolz und der Ergebenheit, die man in den Dienst der Leidenschaft setzt, ausrufen: Ich liebe die Frauen Was die Libertines als Element der Libertinage, als Beweis von Ver­ derbtheit und philosophischem Geist zulassen und ermutigen. Was man nicht als eine Erklärung des Lesbianismus oder der Homo­ sexualität lesen kann. Wenn die Libertine sagt, sie zöge die Frauen vor (Juliette: ich machte mir wenig aus Männern und ich befrie­ digte mein Verlangen mit zwei liebenswerten Frauen; zwei meiner

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Begleiterinnen kamen manchmal zu uns: wir verzichteten auf kei­ ne Extravaganz) oder radikaler noch, sie hasse die Männer (Clairwil: gerne räche ich mein Geschlecht für die Schrecken, die es von ihnen erdulden mußte, wenn die Scheusale in der stärkeren Posi­ tion sind), dann verzichtet sie niemals ganz darauf, sie zu gebrau­ chen und zu genießen. Sie handelt konform mit dem Libertin, dessen Gebrauch der Frau zwischen dem nuancierten Ekel und dem absoluten Widerwillen festgeschrieben ist. Das System der Libertinage wird durch eine Trennlinie der Homosexualität geregelt (Ich kenne nichts Ungerechteres als die Regel, die Geschlechter zu mischen, um sich eine reine Lust zu verschaffen), die symmetrisch durch schlichte Verdoppelung der männlichen Figur bestimmt werden. Diese Linie wird ein wenig verwischt und sogar schwierig zu verfolgen, da sie streng jenem Prinzip der Indifferenz unter­ worfen ist, demzufolge auf dem Gebiet des Lasters alles gleich ist. Sichere Quelle eines Vergnügens des surrealen Nebeneinan­ derstellens, das sogar erlaubt, sich mit einem anderen Geschlecht zu verbinden. In diesem Punkt beweisen die Libertinen eine bei­ spiellose Philosophie und handhaben den Penis mit der vollkom­ mensten Gelassenheit. Die Libertines hingegen sind zu einer sol­ chen Gleichgültigkeit dem gegenüber, was sie nicht haben, unfähig. Wenn er ihnen endlos steht, im Sinne vom „bösen Macker”****, reicht eine Fotze, um ihn klein zu kriegen. Die Libertine jedoch tritt hervor und bleibt versteckt — weißes Viereck auf weißem Hintergrund — und kennt die Geheimnisse des Meisters, wo dieser sich zu entziehen versucht. Weil sie ihr fremd ist, spricht sie die Sprache der Libertinage mit einer so formellen Eleganz, einer solchen Freiheit. Was sie sagt, ist ihr vollkommen gleichgültig. Eine überbegabte Schülerin, deren Talent die Lehrer begeistert. Die Libertins gestehen ihr das Privileg eines Exzesses der Grausamkeit zu, interpretieren es je­ doch in Funktion einer (wenig libertinen) größeren Sensibilität; nicht als fundamentalen „Fehler” (die Falschheit als wesentliche libertine Qualität, Trägerin einer steten Gefahr für die Existenz einer auf der logischen Aporie beruhenden libertinen Gesell­ schaft). Als Abwesende bestimmt sie sich in dem von ihr gehal­ tenen Diskurs nur durch ihr Gegenüber. Daher dieser Wahnsinn, dieses Weggerissen-Sein der Überlegung hin zu dem, was mit gutem Grund der unendliche Fluchtpunkt sein will. Die Libertine 28

beweist die Unmöglichkeit einer Ökonomie des Diskurses, die auf dem Verlust gründet. Nur durch das Extrem ihrer Enteignung im Raum einer sie ignorierenden Gesellschaft kann sie den Buch­ staben der Libertinage selbst verwirklichen. Als Clairwil Juliette dort einführt, wird die Gesellschaft der Freunde des Verbrechens von den Frauen beherrscht. Ich fragte Noirceuil, ob er in die Gesellschaft meiner Freundin gehe. - Solange die Männer, antwortete er mir, dort die Übermacht hatten, ging ich mit der pflichtvollsten Regelmäßigkeit dorthin; ich habe darauf verzichtet, seit alles dort in den Händen eines Ge­ schlechts liegt, dessen Autorität ich nicht liebe. Saint-Fond ist meinem Beispiel gefolgt. Es reicht ihnen, sich abzuwenden. Die Autorität der Frauen kann ihnen nicht m.ßfallen; sie kann keine Drohung darstellen, da sie nur darin besteht, auf absolut Nichts zu beruhen. Dieses Nichts treibt sie so kraftvoll in die Sphäre der Libertinage, nimmt ihnen jeden Ort der Ruhe, jede amouröse Identität. Die Bündnisse unter den Libertinen sind vielfältig und lei­ denschaftlich, ganzheitlich und inkonsistent. Sie knüpfen sich in einem geschützten und daher unsicheren Raum. Im Schutz der Libertinage und unter ihrem Gesetz. Sie folgen einem gebro­ chenen Rhythmus. Die sadianischen Frauen verbinden sich in kopflose Überstürztheiten, in barocken Windungen, im Herzen des Unbegreiflichen. Sie betrachten sich schweigend und ficken. Unter dem Deckmantel des libertinen Diskurses und seiner me­ chanischen Entwicklungen (den Stecker einfach in eine rhetori­ sche Steckdose tuend) geben sie sich der Lust ihrer beweglichen und vermischten Münder, Lippen und Zungen hin. Indem sie die Sprache nur als Kennwort benutzen, verbinden sie ihre Körper und setzen in dieser unbekannten Materie die Gesten ihrer pro­ fessionellen Zärtlichkeit aufs Spiel. In den Tiefen ihrer Umar­ mungen finden sie ihre Zunge wieder. Amouröse Zunge. Stumme Zunge. Sie schreibt sich ins verbotene des Libertinen Diskurses ein, für den alles außer die Liebe möglich ist. Pluralismus der Li­ bertinage, unbegrenzt in der Verschiedenheit des Geschmacks, doch ohne Raum für die Liebe, die Leidenschaft des Einen. Er stößt sich am Widerspruch einer Lektüre, die sich nur an der Sin­ gularität interessiert und sich trotzdem unendlich wiederholen muß. Jeder Stillstand in der Konsumtion der Subjekte wird von

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mangelnder Apathie verschuldet, einer amourösen Versuchung, gegen die der Libertin sich immerfort schützen muß. — Sie lieben sie, Juliette? — Ich liebe nichts, Saint-Fond, ich habe nur Launen ... Diesseits der offiziellen Erklärung, hinter der Sicherheitslinie ei­ ner sentenzartigen Antwort behält Juliette die Wirklichkeit ihrer inneren Aufregung für sich, das Stimmlose ihrer Bewegtheit (Ich liebe Palmira. Sie diesem Menschenfresser auszuliefern, kostete mich viel: doch wie sollte ich den Gehorsam verweigern). Die For­ mel „Ich liebe die Frauen” gilt nur als Abweichung von der Libertinage und behält als solche etwas Unvertretbares: die Frau. Die gegenseitige Anziehung der libertinen Frauen darf keine weibli­ che Aufwertung mit sich bringen, darf kein neues System einfüh­ ren. Sie begegnen sich im Prinzip einer radikalen Trennung vom „Rest” der Frauen, sie haben mit einer fundamentalen Homo­ sexualität gebrochen, deren Persistenz allein jedoch ihren Gesten diese Strahlung der Lust und der Sinnlichkeit gibt, die sie unter dem Blick der anderen erfaßt. Und meine Freundin zog sich so nackt aus wie ich; sofort betrachteten wir uns einige Minuten lang schweigend. Clairwil erglühte beim Anblick der Schönheiten, die die Natur mit verliehen hatte. Ich wurde nicht satt in der Be­ wunderung ihrer Schönheiten. Übertragung von Bildern ber ver­ lorenen Körpern. Unendliche Rücksendung eines Rätsels ohne Wahrheit. Sie betrachten sich und sehen die Schönheit. Ihre Haut ist aus feinem Sand. Sie schließen die Augen, geblendet von die­ sem weißen Strand. Sie machen sich ganz weit auf, Genossinnen in der Blendung. Ich verehre dich, ohne dich zu lieben. Ich verrate dich, weil ich dich liebe. Im Austausch keiner Stellung bewohnen sie den Raum des Opfers. Einen wesentlich verräterischen Raum. In der Logik strengster Äquivalenz der Libertinage belegen sie ihre Vorliebe mit einem Minuszeichen. Das Objekt wird in seiner Ausmerzung selbst bezeichnet. In einem Spiel von Wahlverraten, wo man die Liebe an der Geste erkennt, die ihr den Tod bringt.

Sprechen und im Verrat genießen. Was wir in der beispiellosen Figur der sadianischen Libertine errei30

eben und dies unter dem Vorwand der absoluten „Kostenlosigkeit” solcher Wahl (ein Phantasma ist nur soviel wert wie die Lust, die wir dafür hergeben) / das ist das Wunder dieses Hohlspie­ gel-Wissens, in dem wir uns begegnen und umarmen, am NichtOrt einer verlorenen Kommunikation, ohne Nostalgie und ohne Projekt, im umwerfenden Augenblick des erreichten Kontinents / das ist das Theater eines Diskurses, den wir wahnsinnig spielen, dessen Herrschaft wir stolz ignorieren, dessen Praxis wir aber wohl kennen, da wir den anderen die Illusion seiner Meisterschaft lassen und uns unsererseits auf das definitiv unbegründete Recht beschränken, uns zu verraten / das ist die uns überkommende Lust zu lachen, wenn wir uns sol­ chermaßen mit dem überzeugendsten Schein bewegen, in der Si­ cherheit eines verpaßten Worts, das wir nach den Regulierungen unseres Rausches von der einen zur anderen modulieren. Denn ein wohlverstandener Atheismus darf sich die Kindereien des Frevels nicht versagen, sonst wird er ebenso langweilig wie eine Religion. Nur, zweifeln wir nicht daran, wenn wir (vor Lachen) ster­ ben, sterben wir ganz. Und niemals allein, jedoch der Komplizität eines Mordes zurückgegeben, der Teilnahme an einer Abwesen­ heit, dem Gewicht eines liebevoll von Begegnung zu Begegnung verschobenen Selbstmordes. Vielleicht findet niemand, schreibt er, die psychische Kraft, sich zu töten, wenn er nicht zuerst und gleichzeitig ein Objekt tötet, mit dem er sich identifiziert hat. In das erste Gericht, das ich der Clairwil serviere, mische ich heimlich das Gift, das ich an meinen meinem Finger verstecke. Vision von Juliettes Fingern in Großaufnahme, Aufblitzen einer verzichteten Zärtlichkeit: Spitz zulaufende Nägel, das Glän­ zen der Steine ihrer Ringe betört uns und liefert uns dem tödli­ chen Blitz ihrer so weißen Finger voll unsichtbaren Giftes aus.

Juliette: Fingerhut Digitalis purpurea: es verändert die Frequenz der Herzschläge, vermindert sie — bis zum weißen Fleck der Synkope. Und ihre eigenen Diener, die sie nicht ausstehen konnten und die mir überaus dankbar waren, sie einer so bösartigen Herrin 31

entledigt zu haben, erklärten sich bereit, sobald es Nacht sein wür­ de, sie heimlich zum Meer zu bringen (wenn es je eine Liquidierung gab). Das geheime Meer, obskur in seiner absoluten Transparenz, der unendliche Sturz eines Körpers zeichnet eine dunkle Vertikalität. Fingerhut: Fossil eines Seeigels. Irgendwo auf dem Meeresgrund der Körper der Clairwil.

Der von ihr bewohnte Raum ist unermeßlich. Ich kann mich dir zuwenden, ohne daß ich mich orientieren muß. Deine Haare fließen über deinen Kopf, mit einem Heiligenschein aus braunen Algen, und wenn du auftauchst, ziselieren sie auf deiner Haut ein Relief aus feinen Federn. Im Goldmuseum habe ich die Federpon­ chos der Inkakönige gesehen. Überreste aus Luft, Abfall des gna­ denlosen imperialistischen Rupfens, das mit der Zeit schon so manches Museum öffnete. Federmuseum. Hübscher Name für eine Bibliothek. Ich denke lieber an deinen weißen und sanften Schä­ del unter deinen roten Locken, und es stimmt nicht, daß sie wie Feuerschlangen auf mich lauern und mich bedrohen, nichts neh­ me ich für nichts, ich verfüge über die Hartnäckigkeit des Buch­ stäblichen, so stark wie Reseda. Ich bin nicht die Wahnsinnige, für die ihr mich haltet, sie sagen das alle, sagt er sich. Aber du tauchst wieder unter und ich erwarte dich, eingebettet unter den Wellen, Schaum und zugleich Trieb, um mir ein Geschenk zu machen, gehst du in dieses Geschäft, ich verlange einen Diabolo menthe, und ich verfolge dich mit dem Blick hinter der Scheibe, zwischen den Blasen, so stelle ich fest, daß deine Pupillen grün sind, ich muß nicht mehr lesen, um dem sexuellen Verkehr zu entgehen (oder wie kommen die Frauen zu Geist), das macht mir nichts aus, denn ich hatte meine Bibliothek schon durchgelesen, gehen wir auf die Straße, Via delle donne, ich nenne zufällig einen Namen, und sie ist es, und es ist Florenz, ich weiß genau, was ich gern möchte, und du wählst es aus, sie liegen in einem Korb aus weis­ sem Prozellan, es heißt nichts, wenn ich sage, daß sie vielfarbig sind, ich mag das rote, du reichst es mit, Ei aus Porphyr, ovaler und glatter Vulkan, im Hohlen meiner Hand, welche Frische, leih mir deine Vagina, du verlierst Fuß, und es ist Purpur.

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Der zerschnittene Brief, Eines Tages erhält sie in einem zu großen Umschlag eine recht­ eckige Karte. Sie denkt: es ist eine Todesanzeige, an der man den schwarzen Rand abgeschnitten hat, die Augenringe der Trauer. Die­ ser fließende Raum zwischen Umschlag und Karte scheint ihr eine Ausmerzung zu verdecken. Gefühl einer unbekannten Delikatesse oder die Lust, Papier zu zerschneiden ... Sie liest die Karte nicht, sondern stellt sich nur die Abwesenheit dieses dunklen Randes vor.

Anmerkungen der Übersetzer

déconnage - umgangssprachlich; von con - Fotze - heißt Spinnerei, Wahnsinn. ** la bouche cousue - sprichwörtlich: das Verschweigen (la bouche — der Mund; cousue-main — handgenäht). *** Die Autorin setzt hier „genäht” für „gesagt”. ****dans le sens du mal/mäle. Le mal - das Übel, das Böse; le mâle — das Männliche, der Macker. *

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Philippe Roger

Im Namen Sades

Und wir werden uns die Zeit nehmen dieses Tier zu finden - das soviel reist...

Rimbaud „Der Mißbrauch des Ausdrucks sadistisches Verbrechen kann nicht geduldet werden und nur deshalb ist mein Name manchmal so schwer zu tragen.” Diese Klage brachte vor einiger Zeit Graf Xavier de Sade vor, der erste dieses Namens, der sich auf eine kompromittierende Verwandschaft beruft. Aber was sich im Übergang von einem Familiennamen zu einem gemeinen Namen abspielte, in der Ver­ änderung des Eigennamens durch seine von seiner Enteignung au­ torisierten Ungenauigkeiten, diese Geschichte ist nicht nur die Entehrung einer alten provenzalischen Familie. Was Jean Gillibert „Sades schwindelerregenden Sturz in den Sadismus” nannte, ist ein ideologischer Eingriff in die Sprache, dessen Dechiffrierung noch vor uns liegt, sowohl um neue Lektüren Sades zu ermögli­ chen, als auch um mittels eines privilegierten Signifikanten das Zusammenspiel verschiedener Mächte (Medizin, Justiz, Politik) zu analysieren. Ihre Funktion als Schiedsrichter und Wächter der Neologismen kann man an den Veränderungen von Sadismus und Sadist ablesen. Die Termini dieses Eingriffs sind folgende: zu Beginn des 19. Jahrhunderts heißt „sade” noch „angenehm, anmutig". Das alte hübsche Wort sade hat den Gegensatz maussade (verdrießlich). Am Ende des Jahrhunderts triumphiert der Neologismus: Sadis­ mus. Antonym: Masochismus. Man muß die Evidenz eines hun­ 35

dertjährigen Gebrauchs aufrütteln und fragen: warum Sadismus? Warum mußte Sade - mit Masoch - den bitteren Sieg der Sub­ stantivierung und der Adjektivierung kennenlernen? Oder, anders gefragt: warum nicht „Bretonnismus", um die sicherlich besser unterscheidbaren Parästhesien von Restif zu bezeichnen? Welch fremdes Privileg verschaffte Sade diese Universalisierung? Welches Unglück hat ihn so vollständig vom „Sadismus” getrennt, daß man sich, wie gegen den eigenen Willen zum Text und zum Men­ schen zurückkehrend, fragen kann, „ob Sade Sadist war” (Hesnard) oder behaupten kann, daß Restif Sade auf dem eigenen Ter­ rain geschlagen hat, indem er eine „neue Form des Sadismus” (H. Ellis) schuf? Um dieses Wort spielte sich eine wesentliche ideologische Partie ab. Manchmal kann die Auflösung des Eigennamens anek­ dotisch und die neologische Schöpfung harmlos sein. Aber die Metonymien der Erfindung und der Autorität, die uns mansarde und poubelle* verschafften, sind weit von der Entwicklung Sadis­ mus und Sadist entfernt. Wie wurde in diesem Fall die Wahl des Sinns getroffen und in welcher Perspektive? Der semantische Film von Krafft-Ebing bis zur Zeitschrift Détective enthüllt eine lange Arbeit, der nur mühevoll der gewöhnlichen Sprache ein Pseudo­ konzept aufzudrängen gelang, dessen Prägnanz ebenso stark wie seine Gültigkeit zweifelhaft ist. In diesem Prozeß gibt es drei Etappen: - die Erfindung des Sadismus und seine Verkoppelung mit dem Masochismus; - Die Auflösung des Sadismus als medizinischer Begriff und seine Ausdehnung ad infinitum; - die Spaltung des Sadismus in einen Sternennebel, in eine ver­ schwommene weite Freske heterokliter Verhaltensweisen und in einen „harten Kern”, das Phantombild des Mörders.

Eine Psychiatrie der Illusionen Krafft-Ebing wird in der Psychopathia sexuaiis (1865) die Vater­ schaft für den Sadismus zuerkannt, um damit eine Kategorie Per­ verser zu bezeichnen, die die Lust im zugefügten Schmerz suchen. 36

Der Kommentator von Krafft-Ebing, Albert Moll, verglich dieses Phänomen mit dem Daltonismus. Es zeichnet sich die Figur Sades als Autor eines zutreffenden und kohärenten klinischen Bildes, durch das man eine (?) Perversion, oder was man damals eine Pa­ rästhesie nannte, bezeichen konnte. Sadismus wird endgültig dem von Schrenck-Nötzing gebildeten Ausdruck Algolagnie vor­ gezogen. Der dafür angegebene Grund ist offensichtlich nicht befriedi­ gend. Zuerst, weil die Komplexität der sadianischen Libertinage in ihren sexuellen Praktiken und ihren theoretischen Implikatio­ nen die Abtrennung eines für den Sadismus repräsentativen Cor­ pus an Symptomen willkürlich erscheinen läßt. Auch wenn man sich auf angebliche Konstanten beruft: es scheint mir z.B. nicht gesichert, daß die Grausamkeit für die sadianische Libertinage grundlegend ist. Die Entscheidung für eine Vokabel mit menschlichem Ge­ sicht dort, wo ein medizinischer Neologismus möglich war (wie Algolagnie), ist auch nicht unwichtig: sie bevorzugt und verbindet zwei „Tendenzen”, zwei „Parästhesien”, aber auch zwei Werke, zwei Menschen: Sade, Masoch. Auch wenn die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts von Vigny bis Mérimée schon mehr oder weni­ ger offen von Sade fasziniert war, so läßt sich doch behaupten, daß der Sadismus seinen wirklichen Körper durch die Verkopp­ lung des Körpers-Sade mit dem Körper-Masoch erhält. Diese Gefangennahme durch die Psycho-Pathologen ist gleichzeitig eine Verkupplung (der posthum medikalisierten Körper) und eine Verwerfung des (textuellen) Corpus. Wesentlich ist auch, daß der Sadismus der Psychopathologen schon bei seiner Ge­ burt der Zwillingsbruder des durch die Venus Im Pelz dechiff­ rierten, doch schnell von seiner textuellen Matrix abgetrennten Masochismus ist. Man kann sagen, daß der Sadismus und der Masochismus Krafft-Ebings unbegreiflich sind - außer als in ihrem Gegensatz komplementäre Einheiten. Das Kapitel Masoch folgt dem Kapitel Sade und die Psychopathia kennt keine Nuan­ cen, um das eine mit dem anderen zu definieren: „Das Gegenteil des Sadismus ist der Masochismus.” Nun ist das fatale Paar an den Karren der Psychiatrie ge­ spannt. Mit diesen Zwillingen, dieser idyllischen Thebais** muß Freud sich abgeben.

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Welchen Sinn hat diese erste Etappe? Einerseits einen medi­ zinisch legalen. Krafft-Ebing wie auch Ellis (The Criminal) bezie­ hen ihr Material aus Strafprozeßen. Darauf muß man noch zu­ rückkommen. Wesentlicher jedoch ist die Bildung eines Paares in zwei Begriffen. Dieses Paar ist, wie man es bei Freud sehen wird, unhaltbar, jedoch nützlich: wenn er dem Sadisten einen Masochi­ sten zur Seite stellt, verbietet sich der Psychiater des 19. Jahrhun­ derts zu denken, daß einerseits der Partner eines Perversen jemand anders als ein Perverser sein könnte; daß es andererseits eine nicht genau zuschreibbare Perversität gebe. Es gibt bei Freud wenig so explizit widersprüchliche Texte wie die dem Masochismus gewidmeten. Der erste stammt von 1915, der zweite von 1924. Zwei voll­ kommen verschiedene Erklärungen und Beschreibungen. 1915 macht Freud aus dem Masochismus die dritte Stufe eines Prozes­ ses, der den Sadismus auf die eigene Person verlagert und die akti­ ve Triebausrichtung in eine passive verwandelt (1). 1924 jedoch verzichtet er auf einen sadistischen Ursprung des Masochismus und stellt die Hypothese dreier Masochismen auf, von denen einer „ursprünglich" und „erogen" ist (2). Stellen wir dazu kurz fest, daß Freud 1915 das Paar schon in der Tradition verankert findet, dessen täuschend vernünftige Überzeugungskraft Gilles Deleuze (3) seitdem endgültig zerstört hat. Man kann jedoch die Hypothese aufstellen, daß für Freud, der kommentarlos den Widerspruch seiner beiden Texte feststell­ te, 1915 die Genauigkeit der Beschreibung des Sadismus und des Masochismus weniger wichtig war als das Beharren auf einem Be­ griff, den er sowohl in die Materie des „Triebschicksals" wie auch in die Interpretation des Traummaterials einführen mußte - und zwar den dar Ambivalenz. Um dieses zugleich begrenzte und strategisch kapitale Ziel zu erreichen, war ihm eine wenn auch ungewisse Darlegung „ge­ gensätzlicher Triebpaare" unerläßlich. Daher auch setzte er diese Erinnerung an den Sadismus und den Masochismus parallel mit der „Lust zu schauen/Lust zu zeigen". Später wird keine Rede mehr vom Sadismus sein, es sei denn als infantile Phase (Unter­ scheidung: analsadistisch/oralsadistisch); ebenso wenig vom Ma­ sochismus, es sei denn, um das Dreier-Schema von 1915 aufzulö­ sen und das illegitime Paar schließlich diskret zu scheiden.

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Proust mit Sade

Zur gleichen Zeit, im Jahrzehnt des I. Weltkrieges beginnt das Wort bekannt zu werden. Es gehört jetzt einer Allgemeinheit, die sich für den Augenblick noch auf das kultivierte Publikum be­ schränkt. Die Wucherung des Sinns beschleunigt sich. Für KrafftEbing konnte der Sadismus schon blutig oder harmlos, mörderisch oder moralisch sein. Man findet einen „Sadismus gegenüber Tie­ ren” oder auch eine ganze Bandbreite von „Sadofetischismen” (wenn, so scheint es, ein unverzichtbares Objekt im Zentrum eines Phantasmas steht, dessen Realisierung „ohne zuviel wirkli­ che Gewalt” erfolgt). Dieser kontrollierte Mißbrauch jedoch, der den SignifikantenSade mit einem relativ kodifizierten Betrug umgab, entwickelt sich rasch zu einer Zersplitterung des Sinns, einer Verallgemeine­ rung des Gebrauchs, der eher dem unwiderstehlichen Bedürfnis entspricht, eine vielfältige Zahl von Verhaltensweisen zu etiket­ tieren, als daß, wie Hesnard meint, die „sozialen Umwälzungen den Sadismus Wiederaufleben lassen". Diese Phase hat einen außergewöhnlichen Zeugen: Proust. Es gibt in der Suche nach der verlorenen Zelt nicht nur „Sadismus” wie den des Erzählers gegenüber Albertine. Es gibt einen Sadisten. Und es ist Charlus. Es gibt zudem noch eine unveröffentlichte Ökonomie des Signifikanten, dessen wenn auch seltene Erschei­ nungen mit einer ironischen Genauigkeit den „erweiterten Sadis­ mus” des beginnenden Jahrhunderts schildern. Der erste Sadismus in der Suche ist der von Charlus, Grandsigneur und Bösewicht: „Mit welch schönen Worten er seinen Haß auch ausmalte, man spürte, daß dieser Mann, wenn er sich auch zuweilen von einem beleidigten Stolz, von einer enttäuschten Liebe, von der Rache, vom Sadismus, von Spott, von einer fixen Idee bewegen ließ, dazu fähig war zu morden und nachher mit Logik zu beweisen, daß er Recht hatte, es zu tun. . .” Ein un­ streitig sadianischer Gebrauch des Ausdrucks, wenn man hier­ mit eine mimetische Treue zum Text Sades bezeichnet, hat hier den Sadismus zwischen „den Spott” (bei Sade ist der „Spott" das Vorspiel zu „stärkeren Dingen”) und den durch seine logische Apologie beleuchteten, wohl überlegten Mord gestellt.

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Einige Jahre später nun, nach dem Kriege also tauchen Sadis­ mus und Sadist in der Wiedergefundenen Zeit erneut auf; eine zahlenmäßig starke Rückkehr im Lauf der Episode von Jupiens „Haus”: drei Nennungen auf derselben Seite; doch eine mit dem Original wenig konforme Rückkehr: man kann wohl sagen, daß der Sadismus im Verhältnis zum Referenztext seine volle Unab­ hängigkeit gewonnen hat. In diesem Stundenhotel, in dem der Erzähler Charlus über­ rascht, der sich von falschen Dieben und angeblichen Mördern auspeitschen läßt, wohnt der Leser einer überraschenden Aus­ breitung des Sinns bei, der gleichzeitigen Zurschaustellung ganz besonderer Sadismen: der Sadist als Masochist; der Sadist als Per­ verser; der Sadist als Deklassierter. „Jupien wollte nicht über die sadistischen Szenen sprechen, denen ich eben beigewohnt hatte, und über die Ausübungen des Laster des Barons”. Diese vom Erzähler beobachtete Szene nun ist nichts anderes als die theatralisierte Algolagnie des Ausgepeitsch­ ten, die Generationen von Psychopathologen zum Archetypus des Masochismus zu erheben versuchten:,,. . . und sah dort an sein Lager gefesselt wie Prometheus an seinen Felsen, im Begriff, die Schläge einer wirklich mit scharfen Spitzen versehenen Klopf­ peitsche entgegenzunehmen, die Maurice auf ihn niederfallen ließ, bereits in seinem Blute schwimmend und mit Striemen bedeckt, die bewiesen, daß diese Züchtigung nicht zum ersten Mal erfolgte, den Baron de Charlus.” Wären der Sadist und der Masochist dem Proustschen Text zufolge also der gleiche Mann? Diese grundlegende Unterscheidung ist kaum verwischt, als eine einfache Klammer den anderen Sadismus, den moralischen Sadismus der Janins hinwegfegt. Nun ist der Sadist „gut” in seinem „Durst nach Bösem”: „Es gibt übrigens beim Sadisten wie gut er auch ist, mehr noch, je gutmütiger er ist - einen Durst nach Bösem, den die zu anderen Zwecken handelnden Bösen nicht befriedigen können.” Nach diesem zweiten Anschlag auf den Signifikanten betritt nun eine neue Person die kulturelle Szene: unter der Maske des Sadismus verbirgt sich anstatt des Bösen der Perverse: der „wirkliche” Perverse, der dem Diskurs der Arzte und Kriminologen wie auch dem der Moralisten entgeht, da er durch seine Unschuld, durch seine „Reinheit” die Frage „Ist er gut, ist er böse?” gegenstandslos macht, auch wenn er sich

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wegen eben dieser Unschuld an der Wollust stoßen wird, ewig das Nie-Genug einer qualitativen Unbefriedigtheit leben, nur noch gutmütige Lügner sehen wird anstatt wirkliche, jedoch stumme Mörder: „Und sogar der entschlossenste Dieb und Mörder hätte ihn nicht befriedigt, denn dieser spricht nicht von seinem Ver­ brechen.’’ Der Proustsche Text registriert den Tod eines bestimmten Sadisten des 19. Jahrhunderts. Nacheinander sagt er aus: es gibt kein Paar Sadist-Masochist; es gibt den „Sadismus” nur als diversen, perversen, polymorphen und logozentrierten. Doch das ist noch nicht alles. Die wunderbare — und inso­ fern sehr sadianische - Maschine des Alles-Sagens in der Suche fügt noch einen weiteren Sinn hinzu, der mit dem anderen nicht übereinstimmt, den der Text aber unbeirrbar einschreibt. Als Richter und Partei dieses Prozeßes der Sprache geht Proust den Dingen auf den Grund. Diesmal entführt er den Signifikanten ebenso weit vom sadianischen Original wie vom perversen Porträt, indem er bei Charlus „ein sadistisches Vergnügen, sich in ein schmutziges Leben zu verwickeln” feststellt. Dieser Sadist ist schon der „Übergangssadist”, durch den der Diskurs der Psycho­ pathologen ein politischer wird, der den Sadismus „der Unter­ grabung der Ethik” zuschreibt, der das falsche Funktionieren des „Gestörten” mit seiner sozialen Deklassierung in Zusammenhang bringt. Mit diesem „sadistischen Vergnügen”, sich in „ein schmutziges Leben zu verwickeln”, bezeichnet Proust einen Topos der Strafprozesse, die zu seiner Zeit einen der wenigen Orte der sozialen Vermischung, der Klassenbegegnung darstellen: das Thema der schlechten Bekanntschaften. Wenn der „Schmutz” den Perversen kriminalisiert, wird es zumindest ebenso inter­ essant, den Schmutz zu medikalisieren und das Erklärungsschema der Ansteckung auf die Delinquenz und die Revolte anzuwenden (so wird die Ermordung König Alexanders und Königin Dragas 1903 in Belgrad von Moll (4) als „typisches Beispiel unbeschreib­ licher Bestialität, nicht unähnlich dem Mord aus Lüsternheit, der vornehmlich in Zeiten politischer Revolution auftaucht”, beschrieben). Es macht Proust Spaß, alle seine Sadisten in eine Reihe zu stellen, auch den letzten, den schmutzigen Wüstling, dessen Immoralität sich durch eine Komplizität mit den gefährlichen

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Klassen noch verschlimmert. Doch er läßt sich nicht täuschen, wie der letzte Gebrauch des Substantivs beweist. In seiner wunder­ lichen, und wie der Text sie nennt „antijüdischen und prophebräischen” Rede, die ihm sein Verlangen nach Bloch eingibt, ge­ braucht Charlus es zweimal. Durch die Gegenwart des Erzählers, Brichots und Morels verhindert, wird dieses Verlangen in ein Delirium der Orte kanalisiert: wenn die Familie Blochs die Commanderie angemietet hat, deren Namen ein früheres Besitztum des Malteserordens bezeichnet, wenn das Büro von M. Bloch, dem Vater, in Paris, Rue des Blancs-Manteaux liegt, benannt nach den Namen der die Jungfrau Maria verehrenden Bettelbrüder, dann ist das ganz einfach Sadismus! Individueller Sadismus: „Ihr Freund bewohnt die Commanderie, der Unglückliche! Welcher Sadismus! Sie werden mir den Weg zeigen. . .”, der bei Bloch nur das Symptom eines seiner „Rasse” eigenen kollektiven Sadis­ mus ist: „Seien sie sich gewiß, der Instinkt für das Praktische und die Gier vermengen sich bei diesem Volk immer mit dem Sadismus, und die Nähe der hebräischen Straße, von der ich ihnen schon sprach, die Annehmlichkeit, die Schlachthäuser Israels schnell erreichen zu können, hat ihren Freund zur Wahl der Rue des Blancs-Manteaux bewogen. Wie komisch!” Nun ist das Delirium von Charlus nur eine leichte Parodie jener politischen Diskurse, die man zwischen den beiden Kriegen hören wird. Nur ein genialer Hörer wie Proust, so aufmerksam für das Abdriften der Worte, wie z. B. auf jenen Seiten, die er der Analyse der „Kriegsneologismen” widmet, konnte so genau re­ gistrieren, was damals in der Welt Sades geschah, um viel weniger verlangende, viel weniger verlangbare Delirien als das von Charlus vorwegnehmen zu können.

Sternennebel

Woher kommt dieser dynamische Sadist, der vom Individuum zur Gruppe, zur Klasse, zur Rasse springt? Gewiß aus dem gleichen Fundus wie der alte medizinische Sadist, aus der Literatur der Gerichtspsychiatrie, deren Diskurs immer „soziologischer" und politischer wurde. In Krafft-Ebing steckte schon Doktor Hesnard, der Sänger des allgegenwärtigen Sadismus. Aber dieser

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neue Sadismus erweitert bis ins Unendliche sein Anwendungs­ feld - das wie zufällig mit der Straffähigkeit übereinstimmt. Weit davon entfernt, diese Bewegung aufzuhalten, schlägt die Psycho­ analyse den gleichen Weg ein. Lesen wir Doktor Hesnard (5). Wer „entstellt Kunstwerke und zerstört Dokumente”? Der Sadist. Und zwar der „mindere Sadist". Wer ist der „große Unterwanderer der Ethik”? Auch der Sadist. Diesmal der „moralische". „Ein neuer Aspekt des Sado­ masochismus" ist auch „der Anstifter zu den meisten Konflikten zwischen Individuen und Gruppen”. Jetzt steht es fest: der Sa­ dismus ist die Büchse der Pandora. Wie es das hellsichtige Grün­ dungsmitglied der Französischen Gesellschaft für Psychoanalyse sagt: „Die perversen Sadisten haben oft einen komplexen Ge­ schmack". In groben Zügen erscheint bei Hesnard die Strategie, aus dem neuen Sadismus eine Erklärungstechnik zu machen, die eine ur­ sprüngliche Perversität („moralische Mängel oder allgemeiner ge­ sprochen, die geistigen Charakteristika der Befähigung zur Delin­ quenz und zum Verbrechen”) mit der berühmten Massenpsycho­ logie verbindet („der Vandalismus wie der gewöhnliche oder verbrecherische Sadismus entstehen im Laufe ideologischer Kriege und sozialer Umwälzungen. Denn der Sadismus ist ansteckend: er charakterisiert bestens die moralische Regression der Massen”). Dieser Blumenstrauß krönt die Periode; am Ende der ideologi­ schen Bearbeitung des Singnifikanten ist klar, daß sowohl der Nazi wie auch ein Autofahrer, der Igel überfährt, Sadisten sind. Der der Amerikanisierung der 50er Jahre entsprechende indivi­ dualistische Diskurs erhält in seinen Gemeinplätzen über die „Massenreaktionen” die theoretische Schützenhilfe eines „unab­ hängigen Schülers Freuds”. Es ist wissenschaftlich: „Die Massen­ psychologie beinhaltet stets ein sadistisches Element". Nun fehlte nur noch die „Ansteckungsgefahr”, damit das „üble Molekül”, wie Sade es in seinem für Psychopathologen unverständlichen Humor nannte, molare Katastrophen hervorrufe. Glaubte man, der Sadist und der Sadofetlschlst begnügten sich mit der „Be­ schmutzung und Befleckung gewisser weiblicher Kleidungs­ stücke”? Irrtum! Sie haben es auf „alle Beweise der für die Ge­ meinschaft nützlichen, produktiven menschlichen Aktivität" abgesehen. Das heißt im Klartext - aber lassen wir besser Doktor

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Hesnard sprechen: „Die sexuelle Perversion, wenn es sie gibt (!), grenzt hier an die Bösartigkeit, an die antisoziale Perversität”. Alle Perversen geben sich die Hand, der Zopfabschneider, der Arschpiekser, der Stierkampffan, die Vivisezierer des Tausend­ jährigen Reiches, der Lebemann und der Vandale, sie tanzen den Reigen der antisozialen Elemente, die schlimme Rund der Übeltäter. Der Widerspruch dieser semantischen Phase ist das Unwirk­ samwerden der unterstellten Sadismen durch ihre panische Ver­ vielfältigung. Der Sadismus verzettelt sich. Und in dem Maß, wie der Ausdruck sich durchsetzt und die Massenliteratur und die Presse erobert, werden die Karten neu verteilt: von immer weni­ ger spezialisierten Ebenen der Sprache aufgenommen, spaltet „Sadismus” sich, um eine theoretische Dekadenz zu überleben, die man nicht länger leugnen kann. Aus den Verirrungen der medizinischen Tugend und aus dem Schweigen Freuds geht nämlich klar hervor, daß Sadismus kein Begriff (concept) ist: daher hatte man auch die falsche Symmetrie Sadist — Masochist erfunden. Die beiden Ausdrücke ergänzten sich nicht: sie legiti­ mierten sich gegenseitig, die Beine des einen stützten den Körper des anderen. Die theoretische Spaltung dieses Paares hätte das Verschwinden der beiden Ausdrücke bedeuten sollen. Es geschah jedoch das Gegenteil. Es gibt jetzt einen nebulösen Sadismus. Er kann willkürlich jede gewalttätige Praktik, ob individuell oder kollektiv, erklären, ohne daß die Sexualität explizit darin auftauchen muß. Diese Nebel findet man auf den Schulhöfen, um einen zu wilden Fuß­ ballspieler zu bezeichnen („ein richtiger Sadist!”), und auch auf einer anderen Ebene in der Metapher vonSa/d bei Pasolini. Wenn ein Wort die Synonyma höhnisch und faschistisch zuläßt, ist sein Gebrauchswert bedroht. Es bleibt der „harte Kern”, der noch zu etwas nutzen kann, auf den sich der von Auflösung bedrohte Sinn zurückgezogen hat. Dieser harte Kern ist die unersetzliche Gestalt des sadistischen Mörders, ein alter Liebling der psychopathologischen Forschung, ein stets von neuem den begeisterten Massen angebotenes wahn­ sinniges und zerstörtes Gesicht. Eine Neologismus ist immer Zeichen eines Utilitarismus. Bei Sadismus waren die Diskurse der Macht zu gierig: sie mußten zurückstecken. Dieses Zurückstecken

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wird seit 30 Jahren von der spezialisierten und einem Teil der all­ gemeinen Presse besorgt: sie ersetzen die vielfältigen Gesichter eines diffusen und unkenntlichen Sadismus durch das Phantom­ bild, die einfachen und klaren Linien des polizeilichen Erken­ nungsdienstes, den sadistischen Mörder. Diese letzte Entwicklung scheint uns schlüssig. Dem ist aber nicht so. In einem gewissen Sinn ist dieser neue Sadist vielleicht die Wiederauflage des alten. Gewiß verewigt er jede Woche in den Schlagzeilen die monotone Mittelmäßigkeit des wundervollen Moosbrugger aus dem Mann ohne Eigenschaften. Doch er be­ nötigte fast ein Jahrhundert, um die spezialisierten Bibliotheken zu verlassen und sich als Sadist in den Titeln des Parisien’1“"* breitzumachen. Er ist kein Gespenst aus der Kindheit der Krimi­ nologie. Er ist eine Schöpfung, eine sehr rezente Neuschöpfung, das Produkt einer Remodellierung des Signifikanten; man hätte Schwierigkeiten, in diesem Sadisten des harten Kerns den bei Krafft-Ebing noch „gutmütigen” oder „moralischen" Sadisten wiederzufinden; genauso wenig trifft man den umherschweifen­ den Polymorphismus eines universellen Sadismus à la Hesnard. Dieser verarmte, gefallene, schweigsame, auf die Wildheit seiner Instinkte reduzierte und der Guillotine geweihte Sadist kommt nicht aus einem schlechten Folgeroman der Jahrhundertwende. Er ist absolut modern und funktional. Sehen wir uns diese weit verbreitete Literatur an, diese Folgeromane, diese Kriminalaben­ teuer oder Horrorromane; werfen wir einen Blick in die besseren, lesen wir Maurice Leblanc, der den Vorteil hat, in dieser Schlüssel­ periode um 1914 zu schreiben. Bei Leblanc gibt es nicht den Schatten eines Sadisten. Nehmen wir das scheußlichste Abenteuer Arsène Lupins, die von dem grausamen und degenerierten Vorski beherrschte Insel mit den 30 Särgen. Während der Messerstiche und Kreuzigungen, der moralischen Qualen und physischen Folter warten wir vergebens auf das Beiwort, das Guy des Cars unweiger­ lich benutzen würde. Nein: Vorski ist ein „Monster” und, da die Handlung 1917 spielt, ein „Super-Deutscher”. Er ist kein Sadist. Dieser neue Sadist ist nach dem letzten Regen im Bois de Bologne gewachsen, als das Wort Satyr zu pittoresk wurde, um noch zu erschrecken. Und der Graf de Sade kann befürchten, daß dieser Zustand des Signifikanten, mehr Kern als Nebel, sich für einige Zeit stabilisiert. Denn er bietet einen doppelten Vorteil.

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Der harte Kern bietet den Vorteil, einen asozialen und ver­ antwortlichen Delinquenten zur Verfügung zu stellen. Bemerkens­ wert ist, daß fast alle von Krafft-Ebing als „Sadisten” identifizier­ ten Mörder zurechnungsfähig genug waren, um hingerichtet zu werden. Wenn auch die einfache Eliminierung seltener geworden ist, hat die Kategorie des sadistischen Verbrechens im Diskurs der Ordnung noch ihren Ort. Umfragen und Urteile der letzten Zeit haben erwiesen, daß die sogenannten sadistischen Mörder in den Augen der Mehrheit der Bevölkerung die Existenz und die Anwendung der Todesstrafe rechtfertigen (in dieser Umfrage wurde der Ausdruck sadistisches Verbrechen ohne weitere Präzi­ sierung benutzt; der „harte Kern” ist also direkt gebrauchsfähig, auch wenn die Meinungsforscher die Stelle der Gerichtsexperten eingenommen haben). Der Nebel hat auch einen Vorteil: den Gedanken der erb­ lichen Belastung (auch hier darf man den Ursprung nicht aus den Augen verlieren, wo schon Krafft-Ebing, dessen Bemerkungen systematisch mit „schwere erbliche Belastung” oder auch „trunk­ süchtiger Vater. Keine andere erbliche Belastung in der Familie” oder auch „soweit man es beurteilen kann, ist die Familie nicht erblich belastet” beginnen, eine Psychopathologie der Degenereszenz erarbeitet hatte) in einem Sadismus fortleben zu lassen, dem man eine willkürliche Anzahl von Kämpfen und Revolten zuschreiben kann; und vielleicht noch den weiteren Vorteil, extreme und trotzdem normale Erscheinungen gewisser diszipli­ närer staatlicher Systeme (von Folterungen bis zu Konzentra­ tionslagern. . .) sadistisch nennen zu können, um sich die Analyse dieser Zwischenfälle als konstitutive zu ersparen. Der Weg führt hier zurück: von der alten Offenheit einer durch die Commune gewarnten Bourgeoisie, die gern zugab, daß das Volk gefährlich sei, zurück zu einem Vernebelungsversuch der politischen Natur gewisser Gewaltphänomene. Muß ich es noch sagen: dieses Aufrollen des Fadens Sadismus hat nichts mit einem hagiographischen Wunsch nach einer Rehabi­ litation des verleumdeten Marquis zu tun. Man dürfte auch der Schöpfung von Sadismus und Sadist aus einem partiellen, wenn nicht minderen Aspekt seines Werks nicht widersprechen, wenn es sich tatsächlich um wirkliche Konzepte handeln würde. Es ver­ hält sich aber nicht so. Und dieser vagabundierende Sadismus,

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Gast der Gerichte und der Asyle, ehe er müßiger Spaziergänger wurde („Wir kenne Sadisten, die sich nur in Tiergärten, bei ge­ fährlichen Zirkusübungen, in anatomischen Museen herumtrei­ ben”, Hesnard), den man heute nurmehr ab 5 Uhr in den Alleen des Bois antrifft, hat nur eine klar unterschiedene Seite: seinen Nutzen für den Diskurs der Ordnung und die Ausübung der Macht. Die von der Medizin in dieser Angelegenheit gespielte Rolle kann nicht verwundern. „Jeder weiß, daß der Engel der Medizin, wenn er den Debatten der Juristen einige Zeit beigewohnt hat, seine eigentliche Aufgabe vergißt. Er klappt dann seine Flügel zu­ sammen und man kann ihn im Saal des Gerichts mit dem Reserve­ engel der Rechtssprechung verwechseln”, schreibt Musil. Man kann sich zudem die Frage stellen, und wir reden nicht mehr al­ lein von Doktor (Ange, Louis, Marie) Hesnard, ob die von der Psychoanalyse diesen Theorien gegenüber an den Tag gelegte Zurückhaltung nicht zu engelhaft ist.

Anmerkungen

1.

2. 3. 4. 5.

S. Freud, Trieb und Triebschicksal. Studienausgabe, Bd. III. Frankfurt 1975. S. Freud, Das ökonomische Problem des Masochismus. Ebda. G. Deleuze, Présentation de Sacher Masoch. Kommentierte Ausgabe der Psychopathia sexualis (1923). Zit. vor allem nach: Le Manuel de sexologie normal et patho­ logique (1951 ); Moral sans péché; Conférence prononcée à la 47

la Société de lutte contre le crimi, Psychoanalyse du lien inter-humain; Rechercher le sembable, découvrir l’homme dans Sade.

Anmerkungen der Übersetzer mansarde — Dachgeschoßwohnung; benannt nach dem Ar­ chitekten Mansart. Poubelle — Mülleimer; benannt nach dem Polizeipräfekten Poubelle, der den Gebrauch von Mülleimern verallgemeinerte. ** Thebais bezeichnet die Geschichte der beiden feindlichen Brüder Eteokles und Plyneikes, die abwechslend nach dem Tode Ödipus' über Theben herrschen sollten. Eine weitere Bedeutung: Name einer oberägyptischen Wüste, die seit dem 4. Jahrhundert von vielen christlichen Anakoreten und Zönobiten bewohnt wurde, u.a. auch vom Hl. Antonius, dessen Versuchungen das Thema vieler Bilder der frühen Moderne sind. *** Parisien libéré - ein der Bild-Zeitung vergleichbares Boule­ vardblatt. *

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Pierre Kiossowski Justine und Juliette

Der eigentliche Charakter des Werkes des Marquis erschöpft sich nicht in Begriffen reiner Erotologie. Seine beiden wichtigsten Ro­ mane Justine und Juliette haben wohl den Charakter eines, wenn nicht „Thesen”-, so doch „Ideen”-Romans, deren Absicht ist, zwei Dinge zu beweisen: erstens, daß der Anschluß an den inte­ gralen Atheismus die zwingende Folge einer absoluten Amoralität mit sich bringt. Dieses ist die negative Konsequenz seiner These. Zweitens entwickelt sich mittels seiner Personen eine Metaphysik der uni­ versellen Prostitution als positive Konsequenz des Atheismus. Er beschreibt durch diese Figuren Experimente, die an sich im dop­ pelten Sinn dieses Ausdrucks unvermittelbar, d.h. den rationalisti­ schen Psychologiebegriffen seines Jahrhunderts vollkommen fremd, doch den Praktikern des Lasters aller Zeiten sehr wohl zu­ gänglich sind. Wenn die Handbücher des Lasters seit jeher ein be­ sonderes, aber universell verbreitetes Genre bilden, hatte indes vor ihm noch niemand daran gedacht, diese Experimente sui generis zu interpretieren und eine philosophische Theorie des Lasters in der Form der Anthropologie, einer Wissenschaft vom Menschen zu konstruieren - ausgehend von einem widersprüchlichen Prin­ zip: die Wollust durch die Zerstörung des Objekts der Wollust. Sade war intellektuell durch sein Jahrhundert zu sehr gezeichnet, um auf diesem Gebiet seine tiefe Wahlverwandschaft mit Religio­ nen vergangener Kulturen wahrzunehmen. Trotzdem konnte die Macht seiner Phantasie sich nicht mit einem Publikum aus Stammkunden der Bordelle oder Liebhabern der traditionellen Pornographie begnügen. Für Sade ist das Verlangen absolut: un­ trennbar von der Tatsache der Existenz bleibt das Verlangen trotzdem eine Herausforderung an alles, was existiert; und alles

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Existierende wird das Verlangen niemals befriedigen. Welche Be­ ziehung nun gibt es zur Prostitution? Die Prostitution ist die er­ zwungene oder freiwillige Vergemeinschaftung seiner selbst. Wenn es Gott als Garanten der Identität des Ich, seines Eigentums und seines Geheimnisses nicht gibt, dann müssen alle Wesen sich ge­ genseitig gehören und gehören sich daher sowohl virtuell wie tat­ sächlich, um die höchste Wollust zu verwirklichen: nämlich die Zerstörung ihrer individuellen, sowohl gesellschaftlichen wie auch moralischen Grenzen. Das ist das Grundthema der beiden Roma­ ne, die trotz dieser philosophischen Absicht im eigentlichen Sinn des Worts Romane bleiben. Tatsächlich! Sade konstruiert nämlich keine Utopie der universellen Prostitution. Er beschreibt höchstens eine Utopie der Überschreitung oder zumindest eine Utopie des Verbrechens. Seine Phantasie arbeitet anhand der Verbote und bestehenden Tabus. Er weiß wohl um den zufälligen Charakter seiner vorgetragenen Ideen, aber auch um die Effekte des Ro­ mans, die er auszubeuten versteht. Sein ideologisches Phantasma interessiert ihn nur wegen der Erschütterungen, die es hervorzu­ rufen vermag, und nicht wegen einer friedlichen und freiwilligen Organisation ohne Widerspruch: daher bleibt er in seinem Voka­ bular und seinen Inszenierungen im konventionellen Rahmen, den seine Personen entweder aufbrechen oder verteidigen. Wenn alles auf die Vergemeinschaftung der Individuen hinausläuft, dann sagt diese sich nur aus und verifiziert sich nur durch die Begriffe, durch die überschrittenen Tabus, eigentlich also durch die Versün­ digung* der Individuen in einer totalen Entdifferenzierung der Geschlechter als Gesetz der Kommunikation der Wesen. Darauf bezieht sich auch die Rollenverteilung, der sich die Personen un­ terwerfen: die Passiven stellen die Verbote dar, die anderen sind aktiv und überschreitend. Sade verweilt natürlich nicht bei dieser schematischen Verteilung; er beschreibt eine in sich selbst gespal­ tene Natur - die der Passiven durch-die Desintegration des „Ich" ihres Bewußtseins, die der Aktiven, die ihrerseits durch die Über­ schreitungen neue Tabus und Imperative kennenlernen. Die Personen Sades gehorchen also einer dreifachen ideolo­ gischen, psychologischen und romanesken Regel. Als handelnde Ideen haben ihre Entwicklungen einen didaktischen Charakter, der einen möglichen „Schüler” zur Befragung über seine eigene Veranlagung, seine Kräfte und Schwächen bringen soll, ehe er ent­

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scheidet, was er in die Praxis umsetzt. Deshalb auch sammeln sich seine Personen in geheimen Freimaurer- und Initiationsgesellschaf­ ten nach dem Geschmack der Epoche. Der zeitgenössische intellektuelle Kontext zwang Sade, Phä­ nomene zu rationalisieren, die er auf andere Art in die Sprache und die Normen seiner Zeit nicht übersetzen konnte; doch die von Sade in die Literatur eingeführten Phänomene sprengen diese Normen. Was die gängige Sprache unter „Leidenschaft" versteht, hat mit der Sadeschen Bedeutung dieses Begriffs nichts zu tun. In seinen Augen sind die Leidenschaften von den gebräuchlichen Normen zurechtgestutzte Perversionen, die weiterhin dem univer­ sellen Betrug sowohl auf der Ebene der Erkenntnis wie auch der Moral dienen. Nur eine Kritik der Normen könnte herausstellen, wie sehr dieser Betrug selbst vom obskuren Spiel der Perversionen abhängt. Sade ist jedoch weit davon, die passende Terminologie zu entwickeln, nach Begriffen zu suchen, die den Ruin der Ver­ nunft beweisen könnten. Er beschränkt sich darauf, Romane zu schreiben, sich durch Personen auszudrücken, die die „normale” Sprache seines zeitgenössischen und uneingestandenen Publikums sprechen und trotzdem aber nur dessen Wachtraum sind. In den langen Reden, die sie halten, wird die Vernunf nur an­ gerufen, der gesunde Menschenverstand nur bemüht, wenn die Person selbst sich eine „Idee” vom eigenen Fall, von der von ihr dargestellten Anomalie machen will. Sie kann sich diese Idee nur in der Sprache der gängigen Normen bilden, denen sie unterwor­ fen bleibt. Ob sie nun sprechen will, bevor sie ihren Trieben nach­ gibt, oder sich im Diskurs wieder faßt, nachdem sie ihnen stattge­ geben hat - nicht, um mildernde Umstände vorzutragen, sondern um durch Worte besser zu verewigen, was sie in Gesten nicht schaffte - das beweist, daß die Sorge der Personen Sades keine moralische, sondern eine intellektuelle ist, daß ihr Wort noch glaubt, frei gedachte Akte der Sklaverei der Leidenschaften zu entreißen. Sogar der Perverse will und glaubt sich „vernünftig”, er könnte niemals seine intrinsische Monstrosität zugeben - obschon er sie sehr wohl benutzt, um die Wächter der Normen zu erschrekken er sucht im Gegenteil die Normen, die mit seiner unver­ ständlichen Organisation korrespondieren, denen er mit genauso viel „Vernunft” gehorcht, auf widersprüchliche Art jedoch, so­ lange er sie wie die traditionellen Normen formuliert. Tatsächlich 51

scheint es, daß er sich soweit nicht verirren würde, wenn diese Akte in seinen Augen keinen Sinn hätten, und sei es der Sinn des Unsinns. Somit reagiert die Überlegung, mit der der Perverse seine Akte einführt, auf seine besondere Art, seine Anomalie zu gebrau­ chen, ebenso stark wie letztere auf den Gebrauch seiner Vernunft agiert. Es wird also der Idee gegenüber eine Verpflichtung einge­ gangen, obschon es zu Beginn nur das Bedürfnis nach Befriedi­ gung eines dunklen Triebes gab. Aber je vernünftiger ihm diese Idee im Lichtseiner eigenen Syllogismen erscheint, desto unerläß­ licher erscheint ihm die Verirrung, desto mehr wird ihm seine Verirrung als die würdige und gerechte Erfüllung seiner Anomalie erscheinen. Aber es reicht nicht, sie wirklich zu erfüllen, da die Anomalie niemals die von ihr projizierte Idee erschöpfen kann. Unter den Personen verschiedener Wichtigkeit hat Sade das Abenteuer seiner Ideen zwei weiblichen Figuren anvertraut, die jede auf ihre Art — für die Kosten aufkommen, die eine leidend, die andere experimentierend: es sind die Schwestern Justine und Juliette, in die er sich ganz hineingelegt zu haben scheint, unter Vernachlässigung seiner männlichen Figuren. Es war für Sade von großem moralischen Interesse und für seine Beweisführung von Vorteil, die parallelen Lebensläufe dieser beiden jungen Frauen zu erzählen, beide von gleicher Schönheit, jedoch verschiedenen Temperamenten, in analoge Situationen geworfen, doch jede nach entgegengesetzten Prinzipien und Launen reagierend. Es liegt zu­ dem auf der Hand, daß der Schöpfer von Justine und Juliette, wenn er sich mit diesen beiden weiblichen Figuren identifiziert, wenn er selbst Gefühle lebt, wie sie nur Frauen leben können, die Substanz seiner beiden Figuren aus seinen eigenen Tiefen wie auch aus seinen heterosexuellen Erfahrungen zog. In der Person Justines könnte Sade die Qualen und die Bitter­ nis seines eigenen Bewußtseins ausgedrückt haben, die Demüti­ gung und Qualen seiner eigenen Ehrlichkeit. Das Schicksal Justines, die die christliche Moral in der Naivität ihrer eigenen Sensibilität personifiziert, konnte mutatis mutandis sehr wohl das Schicksal desjenigen darstellen, der alle moralischen Konsequenzen aus sei­ nem Atheismus-Bekenntnis gezogen hat und sich so allen Verfol­ gungen einer scheinbar christlichen Gesellschaft ausgesetzt sieht. Justine bewegt sich im Innern dieser Gesellschaft, deren Spiel sie ehrlich zu spielen glaubt. Diese Gesellschaft existiert jedoch nicht, 52

wie es auch keine „normale” menschliche Natur gibt. Justine bleibt dieser Illusion treu und wird selbst zum Vorwand und zum Ausgan&punkt dieser Schändlichkeiten, aller Perversionen, aller Verbrechen, d.h. aller „Anomalien”. Mehr noch: wegen dieser Illusion ihrer eigenen Reinheit provoziert Justine durch ihr bloßes Erscheinen an jedem Ort das Böse in den verschiedenen Personen, die sie trifft. Wegen ihrer auf Männer und Frauen ausgeübten An­ ziehungskraft lernt sie von den anderen immer nur neue Formen der Perversität, wird aber durch die von der Reinheit ihrer Seele in jeder neuen Situation hervorgerufenen Dilemma zur Komplizin der sie umgebenden Verbrechen. Justine personifiziert also ganz allein das für das sadistische Unternehmen unentbehrliche Tabu. Die Handlung entwickelt sich aus dem bestehenden Zustand, aus den angenommenen Normen, aus den Institutionen, die es umzu­ stürzen gilt im Innern der weiblichen Person selbst, die Verteidi­ gerin des Bestehenden gegen jeden Widerspruch, alle Gewalt und alle Tränen. Wenn Sade eine Justine zeigt, die sich von ihrer er­ sten Vergewaltigung bis zu den schlimmsten Schändungen stets gleich bleibt, dann hat er die Hilflosigkeit und den Schrecken eines Bewußtseins auszunutzen verstanden, das in seine letzte Enge getrieben wird, das sich im unverletzlichen Besitz seiner selbst getroffen sieht, in der Repräsentation, die das Ich von sei­ ner eigenen Integrität hat, wo doch das Bewußtsein untrennbar bleibt vom Körper, der in Justines Augen schon in dem Maß ver­ loren ist, in dem die fleischlichen Reflexe ihr Geheimnis immer zu verraten drohen. Dieses Geheimnis besteht im Risiko der Selbst­ entfremdung des Ich, also des Identitätsverlustes. Justine macht so die Erfahrung des unglücklichen Bewußtseins, da sie die abso­ lute Wirklichkeit des Bösen in ihrem eigenen Fleisch und der Per­ versität in ihrer Natur nicht zugegeben hat: denn die schlimmste Demütigung ist, die ihr von den Henkern aufgezwungene verbote­ ne Wollust selbst zu verspüren. Dies ist das Ziel des sadistischen Unternehmens als Experiment auf der Person Justines. Die Ori­ ginalität besteht hier darin, es so zu beschreiben, daß der Leser das Echo jeder Operation im Bewußtsein der Heldin verfolgen kann, bis er Justine außer sich sieht, die jetzt die Prinzipien ihres eigenen Bewußtseins angreift: „Immer zwischen Laster und Tu­ gend - wird denn die Straße des Glücks sich mir nur öffnen, in­ dem sie mich Infamien ausliefert?” 53

Die Figur Juliettes wurde später als die Justines erfunden und ist daher viel komplexer: Justines Perspektive war die des über die Wirklichkeit der Institution und Normen illusionierten Opfers. Ju­ liettes Perspektive ist die der Henker und Monstren, in deren Hän­ den die Institutionen zum Zweck ihrer Anomalien ausgenutzt werden. Auch Juliette will sich selbst gleich bleiben. Jedoch nur im Verbrechen, nachdem sie dessen Karriere durchlaufen hat. Wenn es also für sie und ihre Partner, die sie aushalten, notwendig ist, sich bei jeder Gelegenheit hinzugeben, um die Überschreitung sowohl in der eigenen wie auch in der anderen Person zu genießen, muß es andererseits auch die Repräsentation einer Kontinuität ge­ ben, deren Forderung es ist, sich regelmäßig hinzugeben. Seiner­ seits also instituiert sich die Lust in der Überschreitung als Gesetz. Juliette wird zur Bekennerin eines neuen Moralkodes, desjenigen der Gesellschaft der Freunde des Verbrechens. Nicht aus Notwen­ digkeit prostituiert sich Juliette, nicht aus reiner Suche nach der Lust, sondern als ständig wiederholtes Bekenntnis zum integralen Atheismus. Sie liefert sich der Prostitution und den Monstrositä­ ten nur aus, um die Inexistenz eines Gottes als Garanten der Mo­ ral und der Integrität unter Beweis zu stellen. Sie verwirft zu­ gleich den Respekt und die Verehrung, mit denen die Institutio­ nen die Frauen zu behandeln vorgeben: für Juliette sind es nur Ketten der Sklaverei. Von vorneherein akzeptiert sie alle Schmä­ hungen, d.h. die gleichen Schrecken, die ihrer Schwester wider­ fuhren, solange diese Schrecken — Vergehen gegen die Integrität des Ich - für Juliette eine unerschöpfliche Quelle der Freuden bleiben. Ehe sie jedoch diese Form der „Meisterschaft” errungen hat, die durch die Macht und den Reichtum Juliettes gegenüber dem Unglück Justines am Ende ihrer Abenteuer gekrönt wird, mußte sie verschiedene Stufen einer Initiation durchlaufen. Eine fundamentale Regel dieser Praktik des integralen Atheismus ist, „im Augenblick kaltblütig das Gleiche zu wiederholen, was, im Rausch begangen, Gewissensbisse verschafft hat. So trifft man die Tugend stärker, wenn sie wieder auftaucht, und diese Gewohnheit, sie absichtlich in dem Augenblick zu mißachten, in dem die Ruhe der Sinne ihr Erscheinen erleichtert, ist das sicherste Mittel, die Tugend für immer auszumerzen". Die hemmungslose Verfolgung der Wollust, die der Akt der Überschreitung der Verbote und der Normen verschafft und die dazu zwingt, einen ununterbrochenen

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Kampf gegen die Rückkehr der Sensibilität in der Form des Ge­ wissensbisses zu führen, bis man sich ein apathisches Gewissen zu­ gelegt hat, diese Übungen entwickeln bei Juliette nach und nach eine männliche Energie, mittels der sie sich nicht nur mit ihren männlichen Partnern identifiziert, sondern sie sogar übertrifft: als Frau, Objekt ihrer Aggressivität, verinnerlicht Juliette ihre Gewalt und ihre Grausamkeit und macht daraus ihr eigenes Wollen. Was der Persönlichkeit Justines äußerlich blieb, wird derjenigen Ju­ liettes implizit. Die Energie jedoch und ihr Imperativ der Norm­ überschreitung gehen schließlich über das Ziel der Suche hinaus und kehren den Ausgangspunkt um: die Wollust. Diese ist dann nurmehr Mittel und Zeichen zur Verifikation der energetischen Fähigkeiten der Seele. In der Wollust am Schrecken und am Bö­ sen soll die Seele beweisen, daß ihre Energie auf dem Höhepunkt ist. Am Ende ihrer Erzählung zeigt Juliette, daß diese Energie nichts anderes als das Verlangen ist. „Wenig Frauen können sich jetzt noch schmeicheln, das Leben besser genossen zu haben. Und trotzdem verlange ich immer noch; ich finde mich arm; meine Be­ gierden übersteigen meine Fähigkeiten um das Tausendfache; ich würde doppelt so viel ausgeben, wenn ich es hätte und es gibt nichts, was ich nicht täte, um mein Vermögen zu vergrößern: Ver­ brechen oder nicht, ich würde alles tun." Dieses Eingeständnis der Armut inmitten der Reichtümer und Mittel, über die Juliette verfügt, dieses Eingeständnis der Unver­ hältnismäßigkeit ihres Verlangens und ihrer Möglichkeiten zeigt, daß die Doktrin der Überschreitung, die sie praktizierte und die darin besteht, die organischen Grenzen zwischen Mann und Frau aufzuheben, zwischen der „menschlichen und der tierischen Na­ tur”, zwischen der „tierischen Natur" und den übrigen Kräften des Universums, daß diese Doktrin für Juliette nur eine geistige Perspektive auf der gleichen Ebene wie die Normen ist. Juliette bleibt die Gefangene dieser „Normen", an deren Überschreitung sie solchen Gefallen findet, weil sie ihr weibliches Temperament bewahrt und immer wieder auf die Sprache und die Argumente zurückgreifen muß, um sich über ihrer Weiblichkeit zu halten, um sich zu überzeugen, daß sie nur als gegenüber den Normen mon­ ströse Frau auch vollkommen Frau ist. So bleibt das letzte Wort eine Herausforderung: „Ich gebe zu, ich liebe das Verbrechen lei55

denschaftlich, nur das Verbrechen erregt meine Sinne und ich werde seine Maximen bis zu meinen letzten Augenblicken beken­ nen. Ich kenne keine religiöse Furcht; ich weiß mich über das Gesetz zu stellen, welche göttliche oder menschliche Macht könnte mein Verlangen begrenzen?” Justine, die während der Erzählungen und der „skandalösen Details” ihrer Schwester viele Tränen vergossen hat, wird genau deshalb von ihrer Schwester und deren Freunden dazu verurteilt, die Probe des himmlischen Feuers zu erleiden. Sie wird vom Blitz erschlagen und der Anblick ihres Kadavers gibt Juliette Anlaß zu ihren Konklusionen und zur letztlichen Referenz auf die „Natur”, jene höchste Identifikation, die diese doktrinäre Frau anstrebt, die höchste „Norm", die alle möglichen „Anomalien" beinhaltet: „Oh Natur, rief sie in ihrer Begeisterung: ist dieses Verbrechen, das die Dummen zu bekämpfen suchen, denn notwendig für deine Pläne? Du wünscht es also, da deine Hand solchermaßen die be­ straft, die es fürchten oder das Verbrechen nicht betreiben . . . Oh, das sind Ereignisse, die mein Glück krönen und meine Ruhe vervollkommnen.” Durch diesen letzten Zug zeigt Juliette, wie übrigens während der ganzen Erzählung, ihre Verbundenheit mit Sades Ironie. Die Ruhe ist wohl das Letzte, was man von einer solchen Person erwarten kann, deren großartige Frechheit ihr Ver­ führerisches wohl am besten ausdrückt So wird denn auf unvorhergesehene Weise die Anomalie ein­ geschrieben, d.h. die Monstrosität im Postulat des integralen Atheismus, wie Sade ihn durch seine Personen formuliert. Was ist nun die Anomalie, die Monstrosität, die Perversion? Eine der Konservierung der Gattung des Menschen schädliche und konträre Organisation. Was ist der Atheismus? Ein Akt der Ver­ nunft, demzufolge der Glaube an die Existenz Gottes, die Reli­ gion, ihre Dogmen und Institutionen der Konservierung der menschlichen Gattung gleichermaßen schädlich sind. Die Ver­ nunft selbst und ihre Normen bilden also die Garantie dieser Kon­ servierung, und der Gebrauch der Vernunft ist universell nur gül­ tig, insofern er mit einer Definition des Menschen zusammenfällt. Aber wenn es mit der auf diese Art formulierten Vernunft kon­ form ist, die arbiträre Existenz eines Gottes zu leugnen, wie kann dann die Praxis dieser Vernunft zu so monströsen Akten führen und, um integral zu werden, die integrale Monstrosität erreichen, 56

also den Triumph der Anomalie? Der atheistische Moralismus wird Sade die Öffnung dieser Perspektive niemals verzeihen. Mehr noch - wird der Moralist in seiner Sprache antworten — gibt es keinen schreienden Gegensatz zwischen der Vernunft und einem Verlangen, das nicht einmal durch die monströsesten Woll­ lüste befriedigt wird, wie es in Juliette dargelegt wird; steht die Religion nicht auf der gleichen Seite wie das Verlangen, ist sie nicht das Produkt seiner Nichtbefriedigung? Und wenn sie im Verlangen das Sensible unterdrückt, um es im Geist und in der Imagination wuchern zu lassen, antwortet sie als kollektive und individuelle Anomalie dann nicht auf einen Instinkt der Grausam­ keit und der grausamen Wollust, der von der Vernunft im Namen der Menschheit verurteilt wird? Warum fühlen sich die Anhänger der Grausamkeit in der Religion nicht wohl? Tatsächlich fühlen sie sich wohl, ob eingestanden oder nicht, wie Sade es in Justine beschrieben hat. In welcher anderen Sphäre könnte die Wollust an der Gotteslästerung, am Frevel, an der Gewalt und der Falschheit sich sonst freien Lauf lassen? (Daß die Lästerung, die Frevel und die anderen Überschreitungen in sich schon Ausdruck und Phäno­ mene der Religion sind, das konnte einer Vernunft, die Wider­ sprüche ausschließt, nicht aufgehen.) Nun wird aber durch Juliettes Geschichte bewiesen, daß die Monstrosität keine andere Berechtigung hat, als Zeugnis des Athe­ ismus zu sein, und daß der Atheismus das einzig rationale Motiv für ein Ausharren in der Anomalie ist. Daran erkennen Sades Per­ sonen auch die Perversen unter den Perversen, d.h. die ihrigen: die, die anomale Natur passiv ertragen und die, die sie derart be­ haupten, daß die durch Gottes Abwesenheit gelassene Leere sofort von der integralen Monstrosität ausgefüllt wird. Aber diese „pränietzscheanische" Haltung — insofern die integrale Monstrosität Nietzsches Dionysismus ankündigt — bleibt nicht nur dem begriff­ lichen Kontext der Sadeschen Personen fremd, sie überdeckt auch eine den Begriffen, mit denen Sade denkt und sich ausdrückt, selbst inhärente Widersprüchlichkeit. Da die Monstrosität oder die Anomalie, die Perversion ein partikuläres Faktum des Sensiblen ist, der Atheismus jedoch ein Akt der Vernunft, berufen sich die Personen Sades auf die athe­ istische Vernunft als Doktrin mit Universalanspruch, während das Monstrum wegen der von ihm gebildeten Ausnahme diesen An­ spruch nicht halten könnte. 57

Der Widerspruch taucht spätestens dann auf, wenn der Be­ griff eines unverständlichen Gottes als „monströs” im Namen der Vernunft verworfen wird, die Vernunft jedoch sich Phänomene, die auf die Struktur der Vernunft nicht reduzierbar sind, assimi­ lieren muß und die Notwendigkeit, in einer gültigen Definition des Menschen auf der Basis seiner virtuellen und grundlegenden Monstrosität zu bleiben, dazu zwingt, neue Normen und neue Be­ griffe zu schaffen. Aber weil diese Definition, um gültig zu sein, nur in schon existierenden Begriffen gebildet werden kann, d.h. in der Sprache der alten Normen, und wenn sie dann die Monstrosität, die nach den alten Normen nur ein Negativum sein kann, miteinschließen will, kann sie nie Rechenschaft geben über ihren positiven Inhalt, d.h. die Polymorphie des Sensiblen, aus der die Anomalie hervor­ geht, und kann sich also sowohl auf der Ebene des Verhaltens wie auch auf der der Handlungen nur als willkürliches Postulat anbie­ ten. Weil Sade sich nicht darum gesorgt hat, gegenüber der geleb­ ten Erfahrung der Anomalie die Vernunft aus ihren Widersprü­ chen wiederaufzubauen, verwechseln seine Personen mangels Be­ griffen, die mit den Phänomenen, die sie repräsentieren, zusam­ menfallen, die allerdings durch alte Begriffe verformte, jedoch authentische Erkenntnis ihrer Erfahrung mit den daraus entste­ henden Handlungen. So drücken sie den Widerspruch des parti­ kulären Sensiblen zur Universalität der Vernunft aus, die sie unter der Form des Atheismus als Freiheit für alle zwar beanspruchen, deren Prinzip aber jeder in seinen partikulären Handlungen zerstört. Das erklärt, warum ein so „vernünftiges” Mädchen wie Ju­ liette im Unsinn ihrer Handlungen das Prinzip einer Garantie der universellen Freiheit und Gleichheit sieht und wie in der befremd­ lichen Diskussion über das Dogma der ewigen Strafe (mit Saint Fond) die gleiche Juliette und ihre Freundin Lady Clairwil ver­ suchen, die Argumente der raisonnierenden Anomalie dieses libertinen und perversen Grandsigneurs zurückzuweisen. Letzterer fühlt sich in den existierenden Begriffen, die die Frauen benutzen, eingeengt und versucht, den zwingenden Unsinn seiner eigenen Anomalie als Folge eines universellen, jedoch transzendentalen

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Versklavungsprinzips zu interpretieren, das ihm erlaubt, andere seiner eigenen Anomalie zu unterwerfen. Dieses Prinzip bildet das intrinsische Böse und gibt Saint Fond Anlaß zu bemerkenswerten religiösen Spekulationen, die nicht weniger häretisch für die atheistische Vernunft Juliettes als für das christliche Dogma sind. Die Theologie des „höchsten bö­ sen Wesens”, zu der diese Person sich bekennt und die sie mit ge­ nauso viel Ernst wie Ironie entwickelt, ist nur die Umkehrung des Dogmas der Notwendigkeit des unschuldigen Opfers für das Heil des Schuldigen und hebt gleichermaßen die Ungerechtigkeit Got­ tes hervor. Dem christlichen Mysterium unterschiebt die skandalisierte Vernunft einen blasphemischen Inhalt, der genau den skan­ dalösen Eindruck wiedergibt, den das Geheimnis der Religion auf die auf sich selbst reduzierte Vernunft macht. Dem Christentum wird der Anspruch zugeschrieben, die Verbrechen des Schuldigen durch die sühnenden Leiden des Unschuldigen zu rechtfertigen; und eben dies gibt die skandalisierte Vernunft in der negativen Theologie Saint Fonds als eine Doktrin wieder, die zumindest den Vorteil hat, einen übernatürlichen Ursprung des Verbrechens an­ zunehmen. So ist Saint Fond weit davon entfernt, wie ein Atheist Gott zu leugnen oder ihn wie ein Deist von aller Schuld reinzuwa­ schen, sondern akzeptiert ihn mit all seinen „Lastern”. Doch Lady Clairwil und Juliette, denen er diese Theologie erklärt, fal­ len auf seine Improvisationen nicht herein. „Ich ziehe es vor, sagt Clairwil, nicht an Gott zu glauben, als mir einen zu basteln, um ihn zu hassen." So formuliert sie den Ausweg, den die skandalisierte Ver­ nunft moralisch in der Amoralität des Atheismus zu finden hofft. Und da Juliette, „tief gottlos, geschworene Feindin des Dogmas der Unsterblichkeit der Seelen”, erklärt, lieber die Gewißheit des Nichts zu haben als die Angst vor einer Ewigkeit an Schmerzen, worauf Saint Fond ihr antwortet, daß das nur „ein perfider Ego­ ismus ist, Ursache aller Irrtümer und daß man ein philosophisches System ohne Leidenschaften erarbeiten muß”: „Ah, Saint Fond, sagt Clairwil, wie leicht könnte man beweisen, daß dein System nur die Frucht jener Leidenschaften ist, auf die du uns bei unse­ ren Studien verzichten lassen willst. Mit weniger Grausamkeit in deinem Herzen wären deine Dogmen auch weniger blutig. Und du siehst dich selbst lieber zu ewigen Qualen verurteilt, als daß du

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auf die köstliche Wollust verzichtetest, die anderen damit zu er­ schrecken.” Da erscheint wiederum der Widerspruch der atheistischen Vernunft, die die beiden Frauen vertreten, im Kampf mit dem von Saint Fond dargestellten partikulären Sensiblen, der Monstro­ sität. Tatsächlich darf das partikuläre Sensible sich nicht der All­ gemeinheit des Fühlens substituieren, denn nur das Letztere sichert prinzipiell die freie Ausübung der Monstrosität eines jeden.

Anmerkung der Übersetzer

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adultération (Fälschung) wird hier von Klossowski in Anleh­ nung an altération (Veränderung) und an den juristisch-kano­ nischen Begriff adultère (Ehebruch, fleischliche Sünde) ge­ braucht.

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Philippe Sollers Der Buchstabe Sade*

„Sie wissen, daß niemand die Dinge analysiert wie ich." Sade, Brief an seine Frau, 1783

„Er schreibt wie ein Engel." Mlle de Rousset

Wie ist Sade zu einem Adjektiv geworden? Wie und warum hat seine mythische Desinkarnation bewirkt, daß mit seinem Namen gleichgültig welches Verbrechen und einige Triebdefinitionen ver­ bunden werden? Wie, warum, mit wessen Hilfe bezeichnet dieser maßlos beschmutzte Eigenname eine kindliche Leidenschaft, die hinter dem Rücken der geängstigten Menschheit geistert, die wie eine Puppe bei jeder Wahrnehmung eines ihr mit Gewalt in den Hals oder den Hintern gesteckten Dinges seufzt: „sade”? Warum bestehen denn unsere Gattung und unsere Kultur so sehr darauf, den Mund voll Sade zu haben, ihn sich im Arsch zu halten? Oral-sadistisch, anal-sadistisch: wie oft am Tag spricht oder schreibt sich das Wort sadistisch? Wie oft wird es phantasmiert, gedacht? Unbewußte Interpunktion, rituelle Beschwörung. Der Idealismus sagt: Sade war niemand. Vor allem darf es ihn nicht als jemanden gegeben haben. D.h. folglich, daß er jeder­ mann war, das globale, unverantwortliche Baby, der andere, der andere in sich, der Vogel Strauß, das sehr-böse-andere-selbst (trds-mechant-autre-soi). Ich, nicht wahr, ich habe nichts mit dem Verschlingen oder dem Anus zu tun, es ist der andere. Von nun an brauchen wir keine Beweise der Existenz Gottes. Aber die des Teufels hat Gesetzeskraft. Fickt Gott gut, findet er das Arsch­ loch, spritzt er ab? Altmodische Frage eines schwachsinnigen

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Richters. Der Urgroßvater des Präsidenten Schreber hätte zu den Verfolgern Sades gehören können. Aber die Frage: ist der Teufel da? Fickt er auch Gott als das Unbewußte, das Tote, das Maskier­ te, das Unauffindbare? Das ist die Sorge des zeitgenössischen The­ ismus, der, wie jeder weiß, vernünftig ist. Und dieser Ort hat einen Namen: Sade. Aber — nochmals — ohne jemanden. Niemand wagt zu wollen, daß Sade eines Tages gestorben ist. Und dennoch, Sade war jemand und ist eines Tages gestor­ ben. Und alles oder fast alles, was er je mit der ihm eigenen Em­ phase über dieses Abenteuer aussagte, ist wiederzulesen. Ein Aben­ teuer — und das ist nicht das Unwichtigste — das auch lächerlich war. Beispiel: diese Pflegenotiz in seinem Tagebuch zwei Monate vor seinem Ende am 30. Oktober 1814: „Man legt mir zum ersten Mal Bandagen auf die Haut" (es handelt sich um die Hoden). Oder über Madeleine Ledere, seine letzte Eroberung (sie ist 18, er 74): „In ihrem Besuch die ganze Libertinage der Bälle Rousseaus." Sade wollte nicht nur leben und frei sein, er hielt sich auch noch für einen wichtigen dramatischen Autor. Er lebte jedoch nur ver­ folgt und eingeschlossen („Die Pausen in meinem Leben waren viel zu lang."), war endlos deliriert worden, seine Stücke waren offensichtlich langweilig, ohne Vergleich mit der strahlenden Größe von Juliette oder den 120 Tagen. Außerdem hatte er bis zum Schluß nichts von dem verstanden, was ihm geschah, doch der Einsatz liegt woanders. War Sade ein Held, ein Monster? Nicht einmal das. Die trick­ reiche Psychoanalyse hat also ein Kind aus ihm gemacht Die Ope­ ration verdient Aufmerksamkeit. Ein Kind muß nicht Vater/ Mutter sein. Das Problem seines Namens, seines Geschlechts stellt sich nicht. Also hat es keins oder kaum, es ist unbewußt, der/das arme Kleine, kann nicht durch die üblichen Körperöffnungen Lust empfinden, uff. Sade muß also ein Säugling sein (oral-/anal-/ sadistisch). Er wird sogar wie Mozart göttlich sein. Kein Zufall in dieser Annäherung. Zur gleichen Zeit, am Wendepunkt der glei­ chen Revolution tönen die Klänge von Don Giovanni und werden die Sätze der Justine geschrieben. Alles, was eine Musik und eine Literatur an Wollust und sexueller Erfahrung enthalten, werden ihre Nachkommen ertragen, bewundern und hassen müssen. Sind der göttliche Mozart und der göttliche Marquis nicht die Anti­ these des göttlichen Kindes? Ist das Gotteskind wirklich geboren,

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wenn es Sade und Mozart gegeben hat? Und an der Grenze: benö­ tigt man einen Vater/eine Mutter, einen Sohn, eine Tochter, ein Kind, kurz eine heilige Familie? Man kann sich wohl denken, was im Heiligen zu wackeln beginnt. Mit wem hat Don Giovanni zu tun? Er verfolgt einen toten Vater, den er provoziert hat, ihm ist eine unerbittliche Hysterikerin auf den Fersen, an deren Seite sich wie durch Zufall ein effe­ minierter Dauerverlobter und eine frustrierte, rechtmäßig Ver­ sprochene befinden. Alle lieben ihn. Bereue, sagen sie, anders ge­ sagt: liebe uns. Nein. Wie, nein? In die Hölle! Wenn diese kleine Familiengruppe es geschafft hat, den Libertin vom toten Vater nehmen zu lassen (nehmen oder sodomieren, wie man will), d.h. eigentlich von der Witwe, dann ist sie zufrieden. So konnte die Tochter im Namen des Vaters den Vater und das posthume Kind des Vaters retten (es gibt keinen anderen). Bewundernswertfest­ zustellen, wie man von Giovanni noch spricht, als ob es ihn und sein Drama wirklich gegeben hätte (es gelingt ihm nicht, eine Frau zu finden, er irrt sich in seinen Aufzählungen, er ist impotent, na­ türlich homosexuell, da er genau das Gegenteil tut und sagt). Was Mozart betrifft, der verdächtig ist, zuviel über die Kindheit (die Zauberflöte) und über den sexuellen Markt (Cosi fan tutte) zu wissen, vergöttern wir ihn und versteinern ihn als menschliches Element in seinem siebten Lebensjahr vor dem Klavier: lieben sie mich? fragt der kleine Mozart (denn er ist stets der kleine Mozart geblieben, nicht wahr?). Ja? Wenn die Damen es besonders wün­ schen, werde ich ihnen noch eine Sonate spielen. Niedlich ist er, dieser Mozart. Sade ist noch gefährlicher, also läßt man ihn in der Wiege. Er wird „monoton" sein, „langweilig”, tragisch verkindlicht wie ein wehrloser Schimpanse. Daher ist auch seine Sprache wirklich un­ persönlich. Er gehört sich nicht, dieses arme (sadistische) Baby benötigt ununterbrochen einen Vormund. So wie man sich das Wunderkind Mozart nicht ohne seine Eltern vorstellen kann, die nach dem Konzert sammeln. Sade wird niemals die Freuden der phallischen und genitalen Reife kennenlernen: ewig oral-anal kann er weder schreiben noch lesen. Sie sagen, daß er schreibt? Aber nein, er ruft, er leidet, er kotzt, er näßt, man muß ihm die Brust geben, ihn kitzeln, ihm einen Klaps geben. Eine Wiege, ei­ nen Sarg, eine Zelle, ein Asyl: das ist sein Ort.

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Übrigens wichsen die Eltern nie, am allerwenigsten, wenn sie Sade lesen. Ich nehme die Überlegung wieder auf: dieser Sade ist ein Teufel, ein so schrecklicher Teufel, daß er nur ein Kind sein kann. Oder auch: man erzählt uns, daß ein Mensch Wollust emp­ finde und seine Zeit damit zubringe, dies zu sagen, also gibt es ihn nicht Sonst wäre es zu schlimm. Ja, wir hatten nur als Kinder solch große Angst

Ein Psychoanalytiker hat letzthin Sade sogar den Sinn für das Komische abgesprochen (1 ). Dieser gehe Sade ganz ab, schreibt er. Sade, schreibt er, habe überhaupt nichts davon. Das kann man doch nur so verstehen: er hat ihn im höchsten Grade, den, der mich berührt. Aber verfolgen wir einen Augenblick seine Opera­ tion: diesem Mann zufolge ist die „Erudition” von Sade schwach, besteht der physiologische Aspekt seiner Bücher aus „Ammenratschlägen” (sic). In der Sexualerziehung in der „Philosophie im Boudoir" glaubt man, „eins der medizinischen Elaborate von heu­ te zu dem Thema zu lesen. Das sagt wohl genug.” Sade habe nicht einmal die „Bissigkeit eines Renan” in seinem Buch „Vie de Jésus”. „Sade stand, schreibt dieser Doktor, seiner eigenen Bösar­ tigkeit nicht nahe genug, als daß er seinem Nächsten hätte begeg­ nen können.” Dies solle auch der Irrtum von Freud gewesen sein. Waren Sade und Freud also keine Christen? Ist das möglich? Nicht ganz. Der Beweis bleibt, daß die Weigerung Sades, sich wirklich in den Dienst der Todesstrafe zu stellen, sicherlich ein „Korrelat der Nächstenliebe” ist (man darf darin natürlich keine Sache des Geschmacks sehen). Und wie denn Sade besser charak­ terisieren, als ihn mit den Worten des Apostels Paulus einen „maßlosen Sünder” zu nennen? Wie seine Erfahrungen definieren, wenn nicht als „Kreuz”? Sade habe also gegen seinen Willen die Allmacht des Gesetzes bekannt und der Beweis sei, daß in der Phi­ losophie im Boudoir „die Mutter verboten bleibt"? Aber durch wen, für wen verboten? In Wirklichkeit sagt es der Text: für ihre Tochter. Wenn Sade seinem Buch voranschickt: „Die Mutter wird ihrer Tochter die Lektüre vorschreiben”, ist es nicht leicht zu ver­ stehen, was er in diesem Punkt anspricht? Sollte man darin nicht vor allem einen Rat an seine Frau und deren Schwester bezüglich ihrer Mutter sehen, dieser Präsidentin de Montreuil, deren Kinder er über das vom Gesetz vorgeschriebene Maß hinaus verführt hat? 64

Die Gesetzesfrau, das ist die reaktive Figur, die Matrix sadianischen Schreibens. Gesetzesfrau: die des fehlenden Herrn, des Richters, des Bul­ len, des Lehrers, der Partei, des Priesters: eine Migräne instituierter väterlicher Figuren, die eine Frau zu erfüllen verpflichtet ist, wenn ein Spalt sie bedroht. Tochter des für impotent gehaltenen Vaters, Mutter der Hysterikerin, die sich von der Möglichkeit be­ droht fühlt, daß eine Wirkung-Frau irgendwo stattfinden könnte. Ihr wirft Sade den Handschuh, ihrer umso falscheren und listige­ ren Macht, je mehr sie sich hinter dem Rücken des Herrn ver­ steckt. Zeig, daß du ein Mann bist, sagt eine Frau dem Gesetz. Anders gesagt: zeig mir, daß kein Mann außerhalb von dir das Recht hat, Wollust zu empfinden, und daß jede Regression der Wollust bei mir zum Zweck der legitimen Fortpflanzung depo­ niert werden muß. Versichere mir, daß die wollüstig empfundene Regression, der sprechende zerstückelte Körper, das Jenseits des Diesseits des Spiegels, die Aufhebung der kindlichen Amnesie un­ möglich sind. Sei eins, damit wir eins werden. Was ist in jedem Fall verboten? Daß es zugleich Wollust emp­ finden und sprechen könnte, in vervielfältigter Gleichheit; daß so­ mit sexuelle Wollust als chiffrierte erscheinen kann. Denn wenn die Wollust gehandelt und gesprochen wird, wenn sie chiffriert ist, zeigt sich automatisch die Tatsache, daß sie auf einem Markt zirkuliert. Jede sexuelle Operation besteht nun darin, Tauschwert zu sein, der Gebrauchswert nur in Funktion des geleugneten Tau­ sches ist. Der Sex als Gebrauchswert und als Entschleierung seines Tauschwertes impliziert einen Diskurs, der ihm einen Ort nicht als Verneinung, Substitution oder als „Diskurs über den Sex” gibt, sondern als voller Bestandteil der geteilten Operation. Während der Wollust sprechen: niemand kann sich dieser Empfindung er­ wehren, doch es ist verboten, sie hinzunehmen. Das Schreiben sitzt also im Gefängnis. Und Sade will, daß man es weiß. Am 14. Juli ruft er es von der Bastille dem Volk so­ gar zu. Aber wem schreibt er aus seiner Zelle nicht nur Briefe, sondern ganze Bücher? Der Gesetzesfrau, deren dunkle und ver­ steckte Macht er erkannt hat: dem Jenseits der Attrappe der „weiblichen Wollust”, deren Spiegelung durch die männliche Homosexualität und ihrem paranoischen Apparat gestützt werden muß. Im Grunde möchte Sade sich gerne mit dieser Gesetzesfrau

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einig werden, die das soziale Geheimnis versiegelt: sie soll sich bil­ den, sie soll sich der gestandenen perversen Dimension des Ge­ setzes nähern. Daher das Delirium der „Zeichen” und des „Chiff­ ren-Systems”. Die Präsidentin ist voller „Chiffren” ohne Relief, frigide, nur: sie weiß es nicht oder will es nicht wissen. Wie ein Huhn legt sie weiterhin ihre Chiffren-Eier und Diskurse und kon­ sequenterweise sind die Verfolgungen, deren Opfer Sade ist, si­ cherlich chiffriert; aber es ist unmöglich, dies aufzudecken, d.h. daraus eine Kombinatorik zu erstellen, damit zu spielen. Mutig würde Sade soweit gehen, mit seiner Gefangenschaft einverstan­ den zu sein, wenn er nicht als einziger sagen müßte, daß er es ge­ nießt. Gebt doch zu, daß ihr es genießt, mich einzusperren, mich zu zensieren; gesteht, daß die Literatur, die euer Staatsgeheimnis berührt, unduldbar ist; dann wird alles klar sein. Verlorene Mühe, weil das Gesetz in der Form seiner Frau nicht sagen kann, daß es unterstützt, was es verbietet. Die Folter bleibt platt, sie hat kei­ nen Sinn. „Ich überlege mir, daß es unabhängig von der revoltierenden Absurdität des Chiffrensystems, das einfache Dummköpfe gegen mich verwenden, noch den Nachteil hat, mich überall als Objekt der Lächerlichkeit hinzustellen, das man ungestraft verspotten darf, ein großer Nachteil, den meine Kinder nie hätten zu lassen dürfen; es bleibt übrigens ein kleiner Triumph der Dummheit über den Geist, sie haben nur den, man muß ihn ihnen lassen.” (Tage­ buch, 14. Mai 1808) Wem schreibt Sade, als ihm die Vaterschaft abgesprochen wurde? An seine Frau, an Mlle de Rousset, an seinen Diener, sei­ nen Anwalt, an die Präsidentin? Nein: an das Gesetz selbst. An­ statt daß es stets nur im gleichen Sinn zählt, als ob es niemanden gäbe, auf den man zählen könnte, will er, daß das Gesetz mit ihm rechnet und mit ihm z.B. Scherze macht (beispielsweise Pakete mit Köpfen von Toten schicken etc.). Kurz, es soll Phantasie, Un­ vorhergesehenes beweisen und wenigstens so tun, als ob es das liebte. „|ch umarme sogar Leute, die mich schneiden, weil ich in ihnen nur ihre Fehler hasse.” „Genieße und urteile nicht.” „Ich würde dir deinen Moralismus verzeihen, wenn du ein besserer Phy­ siker wärest.” Warum das Gefängnis? „Zu meinem Besten, sagt man. Göttlicher Satz, in dem man gut die Sprache der triumphie­ renden Dummheit erkennt.”

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Wie heißt diese Präsidentin? Mapoulie? (mein Flaschenzug?), Magrue? (mein Kran?), Monlevier? (mein Hebel?). Nein, Montreuil (meine Winde), zusätzlich geborene Cordier (Seiler). Daher: „Re­ den wir nicht vom Strick im Haus des Gehängten." Der GattePräsident ist natürlich eine Marionette, Sade hat ihm schon einige Ärsche geliefert. Die Präsidentin jedoch, geborene Cordier, hat eine Winde unter ihrer Schürze. Außerdem bemerkt Sade sehr wohl, inwiefern er Opfer einer (Klassen )Abrechnung ist: Adel vom Schwert (er) gegen Roben­ bourgeoisie (sie). Natürlich versteckt die Robe das Schwert. Wie die der Pfaffen läßt sich diese Robe nicht so leicht schürzen: es ist die transzendierende Majestät selbst. Sie kleidet den schwarzen Ritus der geheimen Haft des Schreibens mit dem Flügel ihres zu­ recht so genannten Siegelbriefes**. Wer verlangt die Internierung des „Wahnsinnigen”? Natürlich die Hysterikerin. Das ist ganz sie. Ihr Traum ist, mittels eines zwi­ schengeschalteten Psychiaters zu herrschen, solange sie nicht Wächterin am Heiligen Grabe ist. In ihren besten Augenblicken, wenn die Hysterikerinnen eine Gruppe bilden, wie nennt man sie dann? Die Nonnen des Vaters***. Wenn, wie Freud behauptet, das Christentum ein SühnePhantasma für den (nicht eingestandenen) Vatermord ist, dann entspricht es dieser Logik, daß Sade in bezug auf diese ursprüng­ liche „masochistische” Position einen unüberschreitbaren Mythos bildet. Der Christ träumt davon, seine Henker zu foltern. Und Sade antwortet - in einem Sinn - auf diese Nachfrage: foltert mich besser, sagt er ihnen. Sie geben also zu, daß sie ein Henker sind? Aber nein, ich fordere sie auf, die Lust ihres Phantasmas zu genießen. Zu spät, für sie ist das ganze Imaginäre Sades wirklich. Sie sind verrückt, also muß er verrückt sein. Ein erschwerender Umstand ist, daß seine Frau ihn liebt. Von ihren eigenen Töch­ tern wurde die Gesetzesfrau verraten (2). Von der Mutter zur Tochter: wer erreicht diesen Punkt als Mann? Überschreitung ohne Rückkehr, denn sie stellt das Wesen des Tauschwertes in Frage. Der Beweis: für Sade geht nach seinem Abenteuer mit seiner Schwägerin (bemerken wir, daß er nicht dar­ über spricht) alles unwiderruflich schief. Er nimmt eine Tochtermehr. Vollkommen gratis also. Eine Tochter-mehr, das ist sicher­ lich ein verhöhnter Vater (im homosexuellen Tausch ist der Com-

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mendatore nur eine wert), besonders betroffen jedoch ist die Mut­ ter; denn sie kommt im Namen des Vaters, in Ablösung der väter­ lichen Funktion. Daß der Phallus des Vaters diesen Kindern fehlt, das kann man noch durchgehen lassen. Aber wenn es der Phallus der Mutter ist, das ist zuviel. Und dazu noch zwei Töchter als Komplizinnen, die eine nennt ihre Mutter sogar „Hyäne” und scheint zudem nicht sonderlich eifersüchtig auf ihre Schwester (umgekehrt auch nicht). Sie inzestieren mit einem Vater, der we­ der der ihre noch der ihrer Mutter ist. Deshalb ist der meist Ge­ schädigte auch nicht der Vater der Tochter, sondern der Vater der Mutter, der Großvater mütterlicherseits (an den die Enkelin in keinem Fall rankommt, den ein inzestuöser Sohn jedoch von sei­ nem Ort im Verhältnis zur Mutter vertreiben könnte: daher auch haßt diese Mutter ihn). Den einfachen Vater überwinden: ödipale und sehr empfohlene läßliche Sünde. Aber den Vater der Mutter: Todsünde, symbolische Entführung. Wie wenn alles wieder-be­ nannt wäre. Die Präsidentin findet sich also als Tochter gegenüber diesem anderen Vater, der ihr ihre Töchter wegnimmt. Thron und Altar sind in Gefahr. Wenn Sade nur homosexuell (oder nur Libertin) gewesen wäre, hätten wir wahrscheinlich nie von ihm gehört. Aber was er zersetzt, ist der soziale Vertrag selbst. Und woraus besteht dieser Vertrag? Aus der Wiederholung eines geleugneten Mordes, dessen Wollust prinzipiell ewig verdrängt bleiben muß. Aber nun weiß Sade, daß jeder Diskurs per definitionem nur einen anderen zu decken versuchen kann (vgl. die Art, wie er sein eigenes Verlangen bezeichnet, indem er umschreibt, was seine Frau ihm schreibt). Wenn er die Interpretation entdeckt, schließt er sie mit dem Universellen kurz und übeträgt sie musikalisch in Sprache. Der ganze Rest (die Bonbons von Marseille etc.) ist Lite­ ratur, schlechte Literatur: die der Polizisten, Gerichtsvollzieher, Richter, der Präsidentin mit den Gedärmen voll „Chiffren”, mit der „schmutzigen, schlammigen Seele”. Im Grunde die der „gött­ lichen Chimäre”. Es ist also ein Skandal aufzudecken, daß die Mutter niemals mit dem Vater (dem Mann) zu tun hatte, sondern mt ihrem Va­ ter. Die Mutter ist ein kleines Mädchen. Und die ganze Geschichte wird also oral-anal: ihr Mund, ihr Arsch (mehr noch als ihre Brust 68

und ihre Vagina). Eine Mutter umdrehen: schwierig. „Man kann sich alle Mißbräuche und alle möglichen Infamien zuschulde kom­ men lassen, solange man die Ärsche der Huren respektiert.” „Die Mutter wird ihrer Tochter die Lektüre vorschreiben”, liest man als Vorspann zur „Philosophie im Boudoir". Eben darin liegt die Unmöglichkeit. Man versteht nicht, was eine Mutter und eine Tochter zusammen lesen könnten. Sade hat übrigens nur den Satz eines revolutionären Pamphlets von 1771 umgedreht: Die Mutter wird ihrer Tochter die Lektüre verbieten. Der Titel dieses Pamphlets: „Furore im Unterleib von Marie Antoinette, Frau von Ludwig XVI.". Zwischen einer Mutter und einer Tochter gibt es aus gutem Grund eine Unterbrechung der Symbolisierung: in dieser Unter­ brechung schreibt Sade. Das ist auch der Grund seiner Inhaftie­ rung (anders gesagt: seine Unleserlichkeit). Letzte Ironie Sades: seine Philosophie der ihre Töchter erziehenden Mutter zu wid­ men. Sades Akt besteht also darin, die Töchter seiner Mutter zu haben und sie als Vater zu inzestieren: um diese Achse läßt er die Homosexualität kreisen und ist somit auch als erster explizit nicht mehr ihr Satellit. Die Homosexualität offen zwischen die Frauen einzuschreiben und sie als solche zu unterwandern, das beschreibt das Gesetz an seiner Grenze. Wenn er den sozialen Vertrag bricht (Tausch der Frauen zwischen den Männern und Negation der Frauen), dann verschwendet er die obszöne Reserve, auf deren Verschleierung die paranoische Maschine sich aufbaut Die Tat­ sache, daß eine Frau gegen Sade kämpft, zeigt, wie sehr er über das hinausgeht, was vom Mann in der Frau die Frau verweigert (im Gegensatz zum Homosexuellen in seinem Verlangen nach der Mutter und seiner hysterischen Verwirklichung des Verlangens). Noch weiter als das Hysterische: Sade. Freud hat ihn nicht gelesen. Die Geschichte vergeht: vom libertinen Adeligen wurde Sade zum wahnsinnigen Schriftsteller, der die Asyle tanzen läßt Er wird zum superklinischen Fall und es hat noch kein Ende. Er wußte jedenfalls, daß er „unter jedem Regime gefangenge­ halten würde”. „Sie wissen, daß weder mein Blut noch mein Kopf sich je an eine genaue Begrenzung halten konnten.”

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Der Materialist Sade berauscht sich im vorhinein an der Un­ endlichkeit des Vergessens, die er vor uns, vor sich sieht. Wenn er verlangt, spurlos zu verschwinden (tatäschlich wurde der Commendatore zur Statue auf seinem Friedhof; Don Giovanni hat das Recht auf eine direkte Vernichtung), „schmeichelt” er sich, aus dem „Gedächtnis der Menschen" zu verschwinden. Er vergißt sie ganz und macht sich so unvergeßlich. Nur mit Mühe kann der Idealismus sich an ihn erinnern, als geworfenen Schatten. „Die Mittelmäßigkeit meines Genies erlaubt mir nicht, seine Grenzen zu erkennen ...” Alles, was Sade schreibt, ist Humor. Und eines Tages ist er gestorben. Absolut.

Anmerkungen 1.

2.

Jeder denkt sofort an Jacques Lacan, Kant mit Sade (1962). In: J. Lacan, Schriften II. Olten/Freiburg 1975. Die Anti-Gesetzesfrau ist selbstverständlich die des poetischen Verlangens. Vgl. den wunderbar erzählten Traum einer in­ zestuösen Generation, den Sade (er schreibt eigentlich nichts anderes) wie zufällig seiner Frau bezüglich Laura mitteilt, die Laura von Petrarca, von der er abstammt. (Brief, 1779)

Anmerkungen der Übersetzer Lettre de Sade; weitere mögliche Übersetzungen: Brief von/über Sade; Sade als Brief/Buchstabe. ** „Lettres de cachet” heißen geheime Order des Königs, eine Person ohne weiteren Haftbefehl gefangenzusetzen. Vgl. auch vorstehende Anmerkung der Übersetzer. Cachet — das Siegel, aber cachete - das Versteck. *** nonnes du père - onomatopoetisch zu ,noms du père’ - die Namen des Vaters.

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Marcel Hénaff

Alles sagen oder Die Enzyklopädie des Exzesses

„Die Philosophie muß alles sagen.” Juliette

„Wenn wir nicht alles gesagt und alles analysiert hätten, wie hätten wir dann erraten können, was dir gefällt.” 120 Tage von Sodom „Die Gewalt trägt jene wahnsinnige Verneinung in sich, die jeder Möglichkeit eines Diskurses ein Ende setzt.” G. Bataille, Der heilige Eros.

1. Das Alles und das Zuviel.

„Alles sagen”: dies ist ein Plakat von großer Kühnheit, das an­ scheinend maßlose Programm, das der sadianische Diskurs sich auferlegt und nach dem er sich bestimmen will. Die Formel ist von einer entwaffnenden Einfachheit, doch es gibt beim näheren Hinsehen keine paradoxere; zwei widersprüchliche Konnotationen verweben sich in ihr: - die der Totalität: „alles sagen" ist das enzyklopädische Projekt, alle Signifikate aufzuzählen, alle Angaben zu sammeln, alle Argumente anzuhäufen. Kurz, dieser erste Standpunkt, „alles sagen”, wäre also die monumentale und erschöpfende Pflicht, das Ganze zu sagen; es wäre schon die Hegelsche Ambition. - die des Exzeßes: „alles sagen” wäre damit die Forderung, nichts zu verstecken, alles offenzulegen, im Sinne der - manch­ mal drohenden - Ankündigung „ich werde alles sagen” oder der Komplizität, wie sie manchmal eine Person Sades in seinen Ge­ 71

sprächspartnern zu entdecken glaubt, wenn er ihnen die Erzäh­ lung seiner Schandtaten zumutet. „Ich habe das Gefühl, daß ich ihnen alles erzählen kann.” Diese Formel ist die des Aufbrechens, der Aufhebung jeder Zensur, der Sichtbarmachung des Verdräng­ ten; „alles sagen” ist aber auch genau und wortwörtlich die Freudsche Formel, die Grundregel der Analyse als Technik des Erkennens und des Eingeständnisses des Verlangens. „Alles sagen” hieße dann nach Sade, zugleich den Exzeß und die Totalität zu wollen; und dies ist seine Herausforderung; denn bisher war der Diskurs gezwungen, sich zwischen diesen beiden Termini zu entscheiden; beide gleichzeitig zu wollen konstituiert vielleicht die fundamentale Aporie des Sagens, solange der Dis­ kurs der Totalität nur darin besteht, sich vom Verbot blenden zu lassen, das erlaubt, ihn zu beschließen und seine Überreste aus dem Weg zu räumen: das Ganze gibt es nur, wenn man das Zu­ viel vermeidet; diesem Verbot entgegenzutreten und es zu über­ schreiten ist die Bewegung des Exzeßes selbst, der die Aufteilun­ gen stört, die Grenzen verwischt und jede Totalität unmöglich und sogar lächerlich macht. Totalität und Exzeß: die Situation ist also eine des „sowohl - als auch”; man kann nicht an beiden Ansprüchen zugleich fest­ halten, ohne von diskursiver Lähmung befallen zu werden oder besser gesagt zu stottern. Man kann im gleichen Diskurs nicht auf beiden Seiten des Verbotes stehen. Und diese Aporie jedoch will der sadianische Diskurs aushal­ ten; indem er verwirklicht, was man eine Enzyklopädie des Ex­ zeßes nennen könnte; durch die Verbindung der zwei wider­ sprüchlichen Konnotationen in einem Spiel des ständigen Sprin­ gens vom Theoretischen zum Narrativen, von der Dissertation zur Szene werden die logischen Blockaden des „sowohl - als auch” überspielt (sowohl die Abhandlung wie auch die Erzählung fliehen, eine Form durch die andere pervertieren, dieses komische theoretische narrative Mixtum produzieren, das ist eine Strategie, auf die wir noch zurückkommen müssen). Der enzyklopädische Dauerlauf war eine Leidenschaft des 18. Jahrhunderts, das eine Unzahl von Wörterbüchern kennt: der Ideen, der Sprachen, der Zivilisationen, der Künste, der Techniken, an denen außer Wissenschaftlern und Spezialisten

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auch alle Philosophen und Schriftsteller (wie Voltaire, Diderot, d’Holbach und Rousseau) mitarbeiteten. Sade fügt ein neues Lexikon hinzu: das verrückteste, das ver­ botenste: das der „Perversionen”; ein Lexikon aber, das weder den Titel noch die Form eines Lexikons hat, vielleicht eben den Aufbau; es ist ein parodiertes Lexikon, in einem erzählerischen Gewebe gefangen, in eine Fiktion gehüllt, die ihm jede falsche „wissenschaftliche” Garantie entzieht, um besser zu bezeichnen, was auf dem Spiele steht: nicht das Wissen, sondern das Verlan­ gen, oder im Wissen das Verlangen. Das Werk Sades, das diesem Projekt am besten entspricht, sind natürlich die „120 Tage”. Sade bezeichnet selbst die beiden Prinzipien, die der Organisation seines Textes vorstehen: a. dieses Repertoire der „Leidenschaften” verwirklichen, in dem jeder Leser nach seiner Wahl etwas finden kann; b. dieses Repertoire in eine Erzählung einfügen, die jeden analysierten Ausdruck in einer Situation, in einem Schema der Verwirklichung erscheinen läßt. Repertoire: „Ohne Zweifel werden viele der Abweichungen, die du hier dargestellt finden wirst, dir mißfallen, man weiß es, doch es werden sich sicherlich einige finden, die dich so erhitzen, daß es dich deinen Samen kostet; und das ist alles, worauf es uns ankommt; wenn wir nicht alles gesagt und alles analysiert hätten, wie hätten wir dann erraten können, was dir gefällt. An dir, das deine rauszunehmen und den Rest zu lassen. Ein anderer wird das Gleiche tun und so wird alles nach und nach seinen Ort ge­ funden haben.” Erzählung: „Außerdem haben wir die 600 Leidenschaften in die Erzählung der Historikerinnen eingearbeitet. Darauf müssen wir den Leser noch hinweisen. Es wäre zu monoton gewesen, sie auf eine andere Art, eine nach der anderen zu detaillieren, ohne sie in den Körper der Erzählung eintreten zu lassen.” Eindringen des Repertoires in die Erzählung: „Aber da sonst ein Leser, der mit dieser Materie wenig ver­ traut ist, die bezeichneten Leidenschaften mit dem Abenteuer oder dem einfachen Ereignis im Leben der Historikerinnen ver­ wechseln könnte, haben wir jede dieser Leidenschaften am Rand mit einem Strich verzeichnet, über den wir den Namen geschrie­ ben haben, den man dieser Leidenschaft geben kann. Dieser

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Strich ist die Zeile, in der die Erzählung der Leidenschaft beginnt, und es gibt stets einen Absatz, wenn sie zu Ende ist." Die Sorge, die Effizienz oder das Skelett eines Lexikons unter dem „Körper der Erzählung" zu wahren, geht bis zum pein­ lichst Didaktischen, bis zur Gebrauchsanweisung fürs Werk; denn der Text fährt so fort: „Aber da es viele handelnde Personen in dieser Art Drama gibt, trotz der Sorgfalt, mit der wir sie in dieser Einleitung dargestellt und bezeichnet haben, werden wir eine Aufstellung vorwegschicken, die den Namen und das Alter jedes Handelnden und ein kleines Porträt enthält. Wenn man nun in den Erzählungen einen Namen findet, mit dem man nichts an­ fangen kann, braucht man nur einen Blick auf diese Aufstellung zu werfen und von da aus zu den ausführlicheren Porträts in der Einleitung überzugehen, wenn dieses kleine nicht ausreicht, um daran zu erinnern, was die Textstelle sagt." Dann folgt eine Aufstellung der Personen, in der wie in einer Polizeikartei ihre Charakteristika erfaßt sind: Alter, sozialer Stand, allgemeines Aussehen, sexuelle Veranlagung, spezifische Leidenschaften. In dieser synoptischen Darstellung und in der genauen typo­ graphischen Disposition („der Strich am Rand” und „der Ab­ satz") wird eigentlich nur die leichtere Handhabung des Wörter­ buches zu erreichen versucht. Und wie in ein Lexikon jeder Ein­ gang gut ist, ist es auch hier möglich, rein- und rauszugehen. Denn das Wichtige ist nämlich hier, stets zu wissen, wo man dran ist, sich nie in den Zuschreibungen zu irren. Daher muß man auf der Referenztafel immer alles verifizieren können. Man weiß, wer wer ist, wozu ein jeder fähig ist, was jeder will. Alles wird von Anfang an beschrieben. Der Zweideutigkeit wird kein Raum gelassen. Und trotzdem bleibt es ein komisches Lexikon, das an Ort und Stelle von Definitionen nur Erzählungen anbietet und anstatt einer alphabetischen Klassifizierung nur eine logische Ordnung liefert, die aufsteigend vom Einfachen zum Komplexen verläuft. Also eher das Trugbild (simulacre) eines Lexikons, da man sich nur an sein Negativ hält, sein formales Schema und auf den In­ halt verzichtet. Aber die Erzählung ist nicht weniger komisch („diese Art Drama”), die auf jede Spannung verzichtet, die von Beginn an

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all ihre Karten offenlegt und ihren Plan zugibt. Man braucht sich nur Rechenschaft zu geben, wie paradox es ist, eine Erzählung mit einer Einleitung zu beginnen (in der die Personen, ihre Ziele und Programme vorgestellt werden). Die Einleitung ist ein Ein­ stieg in die Materie, der eher zur Kategorie der Abhandlung als zu der der Erzählung gehört, man stellt in ihr das Objekt und die Methode eines Diskurses vor. Die traditionelle List der Er­ zählung ist im Gegenteil, die Information in den Zwischen­ räumen der Diegese unterzubringen oder sie der Struktur aufzu­ pfropfen. Daran arbeiten hauptsächlich die Indizien, die Infor­ manten (1) und die Beschreibung (2). Diese Informationen gehen ins narrative Element bis zu ihrer Auflösung ein, verlieren somit ihren Charakter als Information und produzieren eine maximale „Naturalisierung” der Erzählung. Der Eintritt in die Fiktion muß unvermittelt sein und die ganze graduelle Verteilung der referen­ tiellen Zeichen auf der narrativen Kette sollte unsichtbar bleiben. Der „Autor” sollte sich aus der Erzählung zurückziehen, um seinen „Personen” den ganzen Vorteil der Wirklichkeit zu lassen. Das sind einige der elementaren Spielregeln, die Sade in den 120 Tagen so offensichtlich nicht beachtet, indem er z. B. die indirekte, implizite Information durch ein didaktisches Exposé ersetzt, das mit einem Schlag alle Angaben liefert, und indem er den Leser oft anspricht, somit den Raum der Fiktion bezeichnet und ihn dem Illusionseffekt entzieht. Man weiß also alles sofort und der Leser hat nurmehr die Aufgabe, seine Informationen zu verifizieren. Man fragt sich, ob die didaktische Instanz (Wörterbuch, Abhandlung) nicht verder­ ben oder sogar lahmlegen kann. Weil Sade sich dieser Gefahr be­ wußt ist, injiziert er in die 120 Tage eine ganze Serie von RätselKlauseln (Bitte zu warten, Versprechen zukünftiger Aufdeckun­ gen), die ihm erlauben, den zu massiven Synchronismus des Ex­ posés kräftig zu diachronisieren und die für jede Spannung not­ wendige hermeneutische Sprungfeder anzuziehen. „Überstürzen wir nichts, diese Raffinement hängt mit Details zusammen, bei denen wir noch nicht angelangt sind.” „Währenddem gab sich Durcet schweigend gewissen Infamien hin, über die wir noch einen Schleier werfen müssen.” „Die kleine Hébé kam in Tränen aufgelöst zurück. Es gab so­ gar etwas mehr als Tränen, aber wir wagen noch nicht zu sagen,

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worum es sich handelte; die Umstände erlauben uns dies noch nicht. Ein wenig Geduld, Freund und Leser, bald werden wir dir nichts mehr vorenthalten.” „Adelaide ging nur mit den beiden Alten Louison und Fan­ chon ... in den Cafésalon, doch die Umstände zwingen uns, einen Vorhang vor die dortigen Geschehnisse zu ziehen.” Der Rekurs aut das hermeneutische Argument des Rätsels kann nicht eindeutiger sein, seine Handhabung ist direkt indis­ kret und hat wenig mit dem geschickten Aufbau eines Indiziensystems zu tun, das sich in einer guten narrativen Montage unbe­ merkt in die Diegese einschleichen muß. Hier hingegen fällt der Augenblick des Rätsels mit einem sehr offensichtlichen Hervor­ treten des Schreibers zusammen — in seinem didaktischen „wir” und in seiner Ansprache an den Leser. Die vorgetragene Bitte zu warten gehört also eher zu einem methodologischen Imperativ als zu einer narrativen Technik und hat weniger die Aufgabe, die zu schwache Narrativität zu unterstützen, sie gehört ganz zur Kategorie der Abhandlung. Diese Einschnitte im Faden des Tex­ tes bereiten weniger die Entdeckung eines Geheimnisses oder einer verhüllten Wahrheit vor, sondern bezeichnen eher den skru­ pulösen Respekt vor der logischen Abstufung des Vorzutragen­ den, so wie man es sich vorgenommen hat und wie es auch klar aus den anderen „rätselhaften” Ankündigungen hervorgeht: „Durch die Ordnung, die wir uns in dieser Materie selbst auf­ erlegt haben, sind wir leider gezwungen, das Vergnügen, das der Leser beim Vernehmen der Details dieser religiösen Zeremonie sicherlich empfinden würde, noch etwas zurückzustellen, aber der Augenblick wird kommen, in dem wir sie enthüllen können.” „Wir sind verzweifelt, daß die Ordnung unseres Plans uns da­ ran hindert, diese geile Bestrafung hier zu beschreiben. Möge der Leser uns nochmals verzeihen. Er wird die Unmöglichkeit ein­ sehen, in der wir uns befinden, ihn jetzt zu befriedigen. Er kann sicher sein, daß er nichts dabei verliert.” In dem Maß, wie das Programm der Ordnung des Exposés ge­ mäß erfüllt wird — eine Ordnung der Beweisführung —, werden die eher zurückgestellten als verschleierten Angaben geliefert. „Je weiter wir fortschreiten, je besser können wir den Leser über gewisse Dinge unterrichten, dir wir zu Anfang gezwungen waren, verhüllt zu lassen. Jetzt z. B...

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Unter diesem simulierten Rätsel-Code bleiben die dissertative Instanz und das dissertative Modell intakt, wie auch das Gerüst der Aufzählungen. Lexikon und Geschriebenes, doch weder das eine noch das andere; die Aporie des „sowohl — als auch" wird durch das Alternanzspiel des „und - und” und „weder - noch" vermieden. Das Wörterbuch — wie auch die Abhandlung — gehören zur ernsten Gattung, zur akademischen Würde des Wissens. Ein ernst­ haftes Wissen über die „Leidenschaften” kann sich nur auf den normativen, letztlich doch moralisierenden Wegen des metaphysi­ schen Diskurses einschreiben; ein Repertoire der Perversionen kann nur die tonlose und prätentiöse Form des medizinischen Diskurses annehmen. In seiner klassischen Form ist das Wörterbuch grob, neutrali­ sierend und unfähig, eine Nuance, die die ganze Spezifizität einer Leidenschaft ausmacht, verständlich zu machen; es entschärft und verallgemeinert. Aber es hat einen Vorteil: es benennt und da es seinen Funktion ist, die Namen zu sammeln und ihren Sinn zu erklären, hat das Wörterbuch ein unbegrenztes Recht zu inven­ tarisieren, sogar Dinge, die man nur als „anstößig” klassifizieren kann; allgemein wird der anhäufenden Beharrlichkeit der Wissen­ schaft ein Status vollkommener Unschuld zugebilligt: alles muß erforscht und bezeichnet werden. Diesen kostbaren Vorteil des Lexikons gilt es zu nutzen. Im Gegenteil dazu partikularisiert die Erzählung die „Leiden­ schaft”, gibt ihr einen präzisen Referenten und setzt die Mar­ kierungen ihrer Spezifizität in Szene; traditionell jedoch be­ nennt diese Inszenierung nicht, sie suggeriert; und je näher die „Leidenschaft” dem Verbot kommt, je metaphorischer wird die Erzählung. Man sieht also die Alternative: das Wörterbuch kann benennen, aber bleibt unfähig, sein Ob­ jekt zu partikularisieren; - die Erzählung verwirklicht diese Partikularisierung um den Preis einer Zensur der Benennung seines Objekts. Indem er zugleich mit dem einen und dem anderen spielt und ihre gegensätzlichen Positionen kurzschließt, erlaubt Sade sich, alles zu sagen. Der Gebrauch der Erzählform reduziert sich nämlich nicht darauf, Nomenklaturen zu beleben, um ihre Lange­

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weile zu beschwören, sondern ist Antwort auf eine wichtigere Forderung, daß es kein Lexikon der Wollust geben kann (wie auch genausowenig eine Wissenschaft der Wollust, sagt Lacan): die Wollust benötigt ein Schreiben (écriture), d.h. das, wodurch der Körper Spuren in der Sprache hinterläßt. Er hinterläßt diese Spuren durch die Figurationen einer story, in der sich das wider­ holte Ereignis der Wollust ständig einschreibt; auf dem Spiel steht eine Erfahrung des Körpers, die alle Klassifizierungen durch­ quert und in der Hingerissenheit eines Abenteuers zerstört (die Reise ist somit für Sade ein notwendiges Apriori zur Inszenierung des Verlangens). Lexikon also und Erzählung: diese doch eigentlich exklusive Beziehung (wie jede paradigmatische Struktur) verführt das liber­ tine Denken zu perversen Permutationen: das Lexikon als Erzäh­ lung verkleiden, der Erzählung die geordnete Strenge des Wörter­ buches aufzwingen; eins durch das andere untergraben, sie dazu zwingen, ihren Status auszutauschen: die Erzählung kann im Klartext benennen, was das Lexikon in Szene setzt. Man findet darin den Weg, der den Inzest legitimiet: instruierte Unterschiede verwischen, widersprüchliche Prädikate auf dem gleichen Subjekt anhäufen etc. Der sadianische Text verwirklicht dieses Mixtum, dieses Monstrum: der Abenteurer-Philosoph, die Bordell-Akade­ mie, das Laster-Wissen, die Orgie-Dissertation; nur indem er es wagt, zuviel zu sagen, wird es ihm möglich, alles zu sagen. Von der Enzyklopädie hat er nur den Exzeß.

2. Der Weg und die Erschöpfung: die Angst vor dem Rest. „Alles sagen” als Anspruch, das Ganze zu sagen, ist eigentlich eine paranoische Aufgabe; wie im perversen Modus das Ende er­ reichen? Indem man der (undifferenzierenden, verallgemeinern­ den) Synthese den aufmerksamen Weg des Wissens und der Situa­ tion substituiert; dazu reicht es, zu zerschneiden, zu unterteilen, zu wiederholen; die Abfolge der Sequenzen, ihre Variationen, die Verteilung der Argumente, ihr Wieder-Holen breiten den narra­ tiven Körper aus (wie der libertine Blick den begehrten Körper zerschneidet und parzelliert); das Inventar ist eine Zergliederung, eine unendliche Entfaltung. 78

Tatsächlich war das enzyklopädische Vorhaben im vorhegelia­ nischen Sinn des Wortes genau diese methodische Aufzählung, diese Klassifizierungsarbeit, diese Bestandsaufnahme, die es auf dem Gebiet des Wissens zum Äquivalenten all dessen machte, was die großen Entdeckerfahrten zur See (Bougainville, La Pérouse etc.) für die Erforschung des Planeten, das Inventar der bekannten und die Aneignung der neuen Welt darstellten; alles wird sich endlich in den geduldigen Aufzählungen der Papier­ register einschreiben; das heißt: das Buch wird nicht mehr als mysteriöses Köfferchen, das das Geheimnis jeden Wissens birgt, phantasmiert (der Mythos vom Stein der Weisen), sondern wird als unbegrenzte Oberfläche des Schreibens dargestellt, es be­ zeichnet alles gewonnene Wissen, inventarisiert alle wirklichen Gegenstände, ist ein unendlich entfaltbares Tableau der Kennt­ nisse. Oberfläche des Buches, der Erde, des Körpers: Häute reich an Falten und Orten, die man durchqueren, erforschen, erfüllen und verändern muß; der Diskurs, die Reise, die Lust zeichnen in ver­ schiedene Register die gleiche Geste des genauen, beharrlichen Weges - mit dem impliziten Bezug auf das, was als die funda­ mentale materialistische Hypothese erscheint, daß nämlich die Welt fertig sei und ihre Bilanz möglich. Es gibt keine reservierte Domäne mehr, also auch kein Verbot. Auf einen Teil des Wissens zu verzichten heißt, es zum Mysterium und zum Tabu zu machen, heißt, einen Gott auf diesem weißen Fleck der Igno­ ranz zu inthronisieren und heißt zugleich, alle anderen Kennt­ nisse zu verderben. Auf dem Spiel steht alles oder nichts; Sade sagt es ausdrücklich: „Du wirst nichts wissen, wenn du nicht alles weißt.": es handelt sich hier um den verlangenden Körper und die Variationen der Lust, eine besonders verdrängte Domäne, von der Sade weiß, daß er ihr erster kühner Entdecker ist; er weiß es: wenn alles über das Verlangen und den Sex — ultima terra incognita - gesagt sein wird, wird wiklich alles gesagt sein und das Tableau ist voll. In dem Maß jedoch, in dem diese Tabelle die eines Exzeßes ist, wird man niemals die vollkommene Sicherheit erreichen, auch die letzte Eintragung gemacht zu haben, ein neuer Exzeß ist stets vorstellbar. Das sadianische Paradox ist der Versuch einer syste­ matischen Beschreibung dessen, was sich nur definieren läßt 79

durch seine Flucht aus dem System. Andererseits wäre ein Schei­ tern im erschöpfenden Inventar eine Resignation vor dem NichtGesagten und ein Verzicht, tatsächlich alles zu sagen. Diese Sorge, ein Element zu verfehlen, ein Feld leer zu lassen, löst eine Mecha­ nik des Widerkäuens aus: Wiederaufnahme der gleichen Szenen, der gleichen Dissertationen, der gleichen Argumente. Man wohnt einem wirklichen Beschwörungsritual von zwanghaftem Typus mit seinen unwiderstehlichen Rückgriffen bei, seinen Vergewisse­ rungen, daß es keine Nachlässigkeit gab, daß nichts vergessen wurde, um jede hinterlassene Spur, jeden Markstein, jede mög­ liche Entwicklung zu erfaßen. Es handelt sich also darum, ein vollkommenes Repertoire, eine Sättigung ohne Rest zu erreichen, damit das Zuviel im Alles aufgehe. Die narrative Versessenheit, die dissertative Wiederkäuung verraten, wie schwer Sade sich damit tut, die Totalität in den Griff zu bekommen, seinen Weg zu Ende zu gehen. Erkennt man nicht die gleiche enzyklopädische Absicht im romantischen Traum vom absoluten Wissen: von Novalis’ abgebrochenem Ver­ such bis zur monumentalen Enzyklopädie Hegels (monumental nicht durch die Zahl ihrer Bände und die erfaßten Informationen, sondern durch den rein architektonischen und umfassenden Charakter seiner Logik)? Eigentlich nicht, denn für Hegel heißt alles zu sagen nicht, das Inventar zu erschöpfen, das riesige Terri­ torium des Bekannten zu durchmessen, nicht, auf jener Fläche hin- und herzurennen, auf der sich alles addiert, sich folgt, sich verliert, sich wiederfindet. Nein, es heißt, das Alles in jedem Teil zu sagen, seine Entwicklung vom ersten Moment bis zur letzten Figur auszusagen. Die Reise ist hier unbeweglich: es ist eine Me­ tamorphose der subjektwerdenden Substanz, wodurch jede Etappe ihrer Entwicklung ins Gedächtnis eindringt; die perfekte Retention aller Momente dank der immerwährenden Arbeit des Negativen erlaubt jeder überwundenen Form, sich als verinner­ lichte, d. h. als Essenz der folgenden Form zu bewahren. Die Aufhebung* ist somit jene bewundernswerte Maschine zur Ab­ fallverwertung, zur restlosen Akkumulation, zur überraschungs­ losen Produktion, da die endgültige Hülle schon im ersten Mo­ ment eingeschrieben steht und jedes Ereignis immer schon als eine Notwendigkeit des Diskurses verstanden wird. Man ist nicht mehr auf dem Weg, sondern deduziert nur noch.

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Bei Sade hingegen wird der Rest nicht reduziert, sondern in seiner Differenz bewahrt, und schon die Unmöglichkeit einer Negativität und somit einer dialektischen Assimilation (es gibt ja keine Widersprüche) garantiert die reine Heterogenität der Momente,ihre Abfolge ohne innere Einheit, ohne logische Inte­ gration, ihre künstliche Akkumulation, ihre irreduktible Einzig­ gart igkeit; behauptet und bewahrt wird hierdurch jedoch die eigentliche Lust an der Reise, und zwar die Überraschung, punk­ tuelle Lust, sukzessive und erneuerbar, solange wie die Reise dauert; der Libertin will nichts anderes, er verfolgt keine innere Metamorphose, er kennt für sich keine Subjektivität. Die Sub­ stanz kann also nicht Subjekt werden, sondern nur unendlich aus­ gebreitet, allen Durchquerungen offen bleiben. Die Körper resor­ bieren sich nicht, die Kulturen bleiben heterogen (die älteren und primitiveren können der unsrigen voraus oder vorzuziehen sein), die Verlangen transzendieren sich nicht, die Zeit bleibt eine Folge getrennter Augenblicke. Die Entfaltung des Buches enthüllt kein Inneres; man ist stets draußen, immer auf der Oberfläche. Das Unendliche war nur die Illusion des Unmeßbaren, des Maß­ losen, das Innere nur ein Dichtigkeitseffekt der Oberflächen.

3. Der Herr des Diskurses, sein Komplize und sein Anderes.

„Es gibt kein Anderes des Anderen.” Jacques Lacan Wenn also der Weg zu Ende gegangen werden muß, dann haupt­ sächlich, um dem Verbot keinen Raum mehr zu lassen, aber auch und vor allem, um dem Widerspruch keine Chance zu geben; der Widerspruch etwa eines böswilligen Gegners, so etwas wie ein böser Geist, von dem sich z. B. durch einen methodischen Kunst­ griff zeitig genug zu befreien Sade nicht die List oder die Naivi­ tät hatte und den er nun bis an das Ende des Weges zu bekämp­ fen hat Aber wer könnte dieser unsichtbare quälende Geg­ ner anders sein, wenn nicht der Andere des Herrn? Aber ist es seine Kehrseite, d. h. der Sklave, das Opfer? „Alles sagen” ist in der Tat der unteilbare Anspruch des Herrn, sein konstitutives Privileg, sein Recht der ersten Nachtauf 81

das Wort: wenn alles gesagt ist, ist der Diskurs ohne Antwort, ist jedem Widersprecher das Wort abgeschnitten; wenn alles ge­ sagt ist, gibt es nichts mehr zu sagen. Am Ende der Beweisführung verlangt der Herr nur Zustimmung; diese Verwertung des Wider­ spruchs setzt den Gegner in die Position des Opfers und nimmt ihm dadurch jedes Recht auf das Wort (3). Stellen wir fest: nicht, wie wenn das Opfer widersprechen könnte, sondern widerspre­ chen wollen heißt, sich den Status des Opfers zu geben und von all dem nichts mehr sagen können. Wenn alles gesagt ist, bleibt der Herr allein: sein Diskurs ohne Rest und er ohne Anderes: alle seine Opfer sind geopfert und die Erzählung erschöpft sich (so ist in der Geschichte von Juliette das allerletzte Opfer, das widerstandsfähigste, Justine jene, die selbst diskurieren wollte). Die einzige Figur des Anderen, die man sich noch vorstellen kann, könnte die desjenigen sein, der die Erzählung und die Beweisführung vorgelegt bekommt: der Leser. Das ganze Dispositiv der sadianischen Fiktion jedoch ar­ beitet daran, den Leser zum Komplizen zu machen; ein Kom­ plize, der zum Auserwählten im Kreis der Herren wird, dem ein­ zigen Ort einer möglichen Gegenseitigkeit, wodurch man auch jeden Anspruch auf einen anderen Diskurs, der zum Diskurs des Anderen würde, ausgeschaltet hätte. Die Komplizität des Lesers vermeidet das letzte Risiko eines Widerspruchs: die Eroberung ist vollständig. Doch sie geschieht nicht von selbst; die Komplizität ist nur dann gewonnen, wenn man ihr nicht mehr entgehen kann, d.h. wenn der Weg der Argumente und der Situationen zu Ende gegangen ist und die Adhäsion (wie die Adhäsion an die Wahr­ heit bei Spinoza) notwendig daraus folgt (4). Dann erst, am Ende dieser Entwicklung der Beweisführung, getragen durch die Maßlosigkeit der Erzählung, wenn nach und nach die Körper der Opfer verschwunden sind, bildet sich der aus dem Text geborene Körper des Lesers, Herr-Komplize. Diese Beziehung zum Leser drückt dem sadianischen Diskurs dieses ständige Schwanken zwischen Verdacht und Verführung auf. Ein (formeller oder taktischer) Verdacht, daß der Leser dem vorgetragenen Argument nicht zugänglich sei, daß man ihm die Beweisführung wiederholen müßte; ein Zweifel, der in der Erzäh­ lung durch einen Gesprächspartner symbolisiert wird, dem die Dissertation zugemutet wird und der, um sie weiterzubringen, so 82

tut, als ob ein Punkt der Doktrin ihm noch unbekannt sei oder er von ihrem Wert oder ihrer Formulierung noch nicht überzeugt sei. Eine Verführung auf der anderen Seite, denn es geht darum, den Leser in der Bewegung seines eigenen Verlangens einzufangen, ihn zum Eingeständnis der Investierung seines Begehrens in den gan­ zen Diskurs, wenn nicht in jeden Diskurs zu bringen. (Die Bezie­ hung Szene/Dissertation ist also nicht nur ein ständiger Tausch ein bißchen Sex gegen ein bißchen Philosophie —, sondern der intratextuelle Beweis der libidinösen Kraft der Beweisführung; es setzt das Axiom: je richtiger du denkst, je wahnsinniger wirst du genießen.) Die Anrede an den Leser ist in den Erzählungen des 18. Jahr­ hunderts geläufig, die dadurch ihren Status als Fiktion klar zu­ gaben (wenig später wird die realistische Erzählung diesen Status verleugnen). Sade scheint also nur einer weit verbreiteten Tradi­ tion zu folgen; der Gebrauch dieses Verfahrens entspricht aber bei ihm einer ganz spezifischen logischen Notwendigkeit, nämlich der - man hat es gesehen - aus dem Leser einen Herrn zu machen, damit es keinen Anderen des Herrn gebe. Es gibt keinen Raum für den Anderen, weil der Herr den ganzen Raum ein­ nimmt. Die Opfer stellen die Frage der Alterität nicht: die Sprache ist ihnen verboten, die Symbolik ihnen verschlossen, sie sind ab­ solut nichts; es gibt bei Sade kein Herr-Knecht Verhältnis vom hegelschen; d. h. dialektisierbaren Typus, da der sadianische Herr sich als solcher nicht durch einen „Kampf auf Leben und Tod” konstituiert, sondern durch seine Geburt, durch sein er­ erbtes oder gestohlenes Vermögen; es gibt kein Gegenüber, keinen Affront, außer mit anderen Herren im Innern der Machtpositio­ nen, die man ausschließlich durch Verrat oder Mord erobert. Der Herr entsteht im Diskurs und bleibt darin; die Opfer können sich nicht gegen ihn stellen, denn in ihrer Position außerhalb des Diskurses bleiben sie ohne Rekurs und ohne Vermittlung, ins Schweigen einer anonymen, zur Revolte unfähigen Masse exiliert. Die als Evidenz gesetzte grenzenlose Herrschaft des Herrn ist der Maßlosigkeit eines widerspruchslosen Diskurses koextensiv. Der einzig vorstellbare Widerspruch, der des Lesers, wird durch die Form — und also eigentlich die List — der Erzählung reduziert. Die Beziehung vom Schreiber zum Leser, d. h. von Herr zu Herr,

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ist kein Kontr kt, sondern ein Komplott. Lesen heißt schon kon­ spirieren. Alles sagen bezeichnet somit keine Weisheit, sondern eine Macht. Eine Macht, die der Leser, der durch Hypothese wie auch durch Konklusion Libertin und Komplize ist, zu teilen ein­ geladen bleibt. Lesen heißt schon auserwählt sein.

4. Das Ungestehbare, das Obszöne, das Detail. „Wie schön ist doch die verdorbene Natur in ihren Details.” Juliette

Es gibt also ein sadianisches enzyklopädisches Projekt, doch es wird insofern als Herausforderung verstanden, als die zur Herr­ schaft des Diskurses vorgesehene Domäne sich als diejenige de­ finiert, von der zu sprechen verboten ist. Sonderbare Herrschaft, die sich auf dem errichtet, was die Herrschaft sonst ausschließt. Alles sagen, was man sonst verschweigen muß, heißt, mit der Legalität zu brechen. Der Einsatz dieser Überschreitung, dieses Verbrechens der Grenzverletzung, wird die Zerstörung des letzten Versteckes des Geheimen sein, der letzten Möglichkeit des Ver­ bots. Alles muß gesagt werden, um dem Unsäglichen keine Chance zu lassen. Solange nicht alles gesagt ist, was auf der Seite des Exzeßes gespielt wird, hat man nicht nur nicht Alles gesagt, sondern Nichts gesagt, nach dem gleichen Prinzip, daß man nichts weiß, bevor man nicht alles weiß. „Es darf keine Wollust geben, die wir nicht genossen, keine Schandtat, die wir nicht verbrochen haben.” Dieses Alles des Exzeßes läßt die Natur des Wissens sich ändern: nicht mehr ein­ faches Wissen des Objekts, sondern Erfahrung einer Wollust, die den „geregelten” Körper in einen libertinen Körper verwandelt. Was im und durch den Exzeß erfahren wird, wird nicht einfach zu den anderen Kenntnissen hinzugezählt, sondern kehrt diese radikal um, indem es das Verdrängte ihres Funktionierens auf­ weist: die Gewalt und das Verlangen. Diese Offenlegung, dieses erzwungene Geständnis des Ungestehbaren ist vielleicht der ge­ fährlichste Versuch, der unwiderstehlichste Angriff auf egal welche soziale Ordnung, den man sich vorstellen kann, wenn es denn wahr ist - wie Freud sagt -, daß „jede Gesellschaft auf 84

einem gemeinsam begangenen Verbrechen” (5) beruht, von dem man aber nichts wissen darf. Die Konstituierung des Gesellschaft­ lichen wird durch die Verdrängung der anarchischen Gewalt der einzelnen Triebe der Individuen oder der Gruppen gewonnen; der Verzicht auf diese Gewalt geschieht im Opfer (6), das die Gewalt mimt, um sie zu exorzisieren und in den Griff zu bekom­ men; so wird das Übel umschrieben, bezeichnet, besiegt. Aus diesem Verzicht wird eine symbolische Ordnung geboren, ein Tauschabkommen, kurz: ein kontraktuelles System (7), das so etwas wie eine Gemeinschaft ermöglicht. Jeder Wertordnung wie auch jede Organisation von Kenntnissen gründet sich auf diesen Kompromiß, der auch ihr erstes Verbot bleibt. Das eingeschlafene und gezähmte Monstrum nicht wecken, um jeden Preis dieses drohende Chaos aufhalten, das aus einer freien Entfesselung der Kräfte entstehen könnte, die das Opfer und der Kontrakt eben neutralisiert, kurzgeschlossen, außerhalb des Diskurses gehalten haben, darüber wacht mit unerbittlicher Strenge die daraus resul­ tierende Ordnung. Daraus geht auch unvermittelt die politische Genese jeden Wissens hervor, das Anerkennung nur erreicht, wenn es seine kontraktuellen Beglaubigungen zeigt, wenn es ein Wissen der Ord­ nung ist. (Daher sind Akademismus und Sklerose auch keine Zu­ fälle, sondern Zeichen einer unvermeidbaren Ermüdung einer solchen Struktur; die Dummheit hat keine andere Geschichte.) Vom Wissen verlangt man nur, nicht zu wissen oder besser ge­ sagt: Nichts zu wissen über den Trieb, wenn er in sich Verlangen und Gewalt, Sex und Blut trägt, dieses unzüchtige und mörde­ rische Tier, die beiden gekreuzten und rotierenden Achsen des Chaos. Der Sex wird in einem System der Differenzen und Verbote, die die Familie bilden, gefangen werden, die Gewalt - haupt­ sächlich der Mord - wird in der Struktur des Staates als Erken­ nungszeichen seiner Autorität institutionalisiert und geregelt wer­ den (z. B. der Krieg oder die Todesstrafe). Das steht auf dem Spiel: und weil er es unmißverständlich erkannt hatte, kennt Sade auch das Maß der unverzeihlichen Kühnheit, mit der er das „grundlegende Geheimnis" aufbricht und das nun durch ihn, durch seine letzte Erzählung des Sagbaren endlich ausgesagt wird:

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„Nun, Freund und Leser, bereite dein Herz und deinen Ver­ stand auf die unreinste Erzählung, die seit Anbeginn der Welt je gemacht wurde, vor, da ein solches Buch sich weder bei alten noch neuen Schriftstellern findet. Stell dir vor, daß jede ehrliche Wollust und jede, die von diesem Tier, von dem du ständig sprichst ohne es zu kennen, und welches du Natur nennst, vor­ geschrieben wird, daß all diese Wollüste, sage ich, ausdrücklich aus diesem Buch gestrichen wurden. Und wenn per Zufall doch eine von dir gefunden werden sollte, dann sei gewiß, daß ein scheußliches Verbrechen oder eine besondere Infamie sie beglei­ ten werden.” Den unsäglichen Schrecken ans Tageslicht ziehen heißt nun auch, ihn in den Diskurs eintreten zu lassen, dessen offensicht­ liche Form der Kontrakt ist; das ist das eigentlich sadianische Paradox, seine Wette: in der Form der Herrschaft sagen, wo­ gegen die Herrschaft gerichtet ist; die Forrii als solche wird nicht angegriffen, man kann sich einen solchen Angriff auch nicht vor­ stellen; die klassische Sprache ist als natürliche Gegebenheit er­ erbt und läßt der Aussage keine Alternative; die Frage ist nicht, sie zu verwerfen, sondern sie sagen zu lassen, was ihr widerspricht, was sie verleugnet: es geht darum, auf ihrem Körper alle verbote­ nen Signifikate einzuschreiben, deren Verdrängung sie zur Auf­ gabe hatte: Sex, Blut, Exkremente, Verbrechen, Lüge. Sade sieht nicht, daß die Sprache selbst der Ort des Verbots ist, die absolu­ te Form des Gesetzes; doch diese Vision verdanken wir Saussure und Freud; im 18. Jahrhundert durchdrang der Blick die Sprache und las: Natur; im Diskurs hörte man nur den Referenten. Ein Angriff konnte also nur auf den Signifikanten als blinden Punkt geschehen. Die klassische Sprache wird sich zum Äther, Milieu der Evidenz des Sagens, zum dichten Schleier der Transparenz. In dem Augenblick verbleibt als einzige Waffe gegen sie die lexika­ lische Ordnung: die permanente Strategie des Jahrhunderts bleibt, wieder und wieder Lexika zu erschaffen (man ändert die Welt, indem man die Definitionen ändert, indem man neue einführt). Darum hat Sade es auch mit den Worten. Er verführt ihren ehr­ baren Gebrauch, er deplaziert ihren hergebrachten Ort, mischt sie mit Verbotenem, d.h. mit „vulgären” Worten und richtet somit den Angriff auf den Sinn; keinen Augenblick geht es darum, die Struktur der Sprache anzugreifen (da man sie nicht sieht);

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in diesem Angriff wird die Sprache mit allen Aussagen vollge­ stopft, die sie gerade auszuschließen die Aufgabe hat. Die obszöne Wirkung liegt in der Produktion dieses instituierten Abstands zwi­ schen der syntaktischen (und sogar rhetorischen) traditionellen Form und dem lasterhaften Signifikant, dessen Grundvoraus­ setzung eine Gesellschaft (also ein politisches System mit seinen Werten und Rechtsstrukturen etc.) ist, die die Sprache der ehr­ baren Leute und Literaten nicht sprechen dürfte. Diese Impli­ kation wird als unleidlich empfunden, dieses geheime Einver­ ständnis ist skandalös. Der politische und literarische Einschüchterungsversuch der klassischen Sprache bestand darin, dieses geheime Einvernehmen unvorstellbar zu machen; die (unverzeihliche/unverziehene) Her­ ausforderung Sades ist, es in der Praxis zu ermöglichen. Daher auch steht bei ihm die Überschreitung in der Ordnung des alles sagen: durch das Schreiben beweisen, daß die geläufige Sprache materiell alles sagen kann, was sie nicht sagen darf. Es reichte nicht, nur daran zu denken; man mußte es wagen. Seine Hypo­ these - sein Risiko - waren, keine Aussage - wie pervers sie auch sei — für unaussagbar zu halten. Die Sperrung wird nicht auf der Seite der Struktur, sondern auf der der Imagination ausgemacht; sie muß emanzipiert werden, ihr Raum muß ihr integral zurückgegeben werden. Die Aussage muß daher auch bis zu ihrer Grenze gehen, sich minutiös bis ins Kleinste ausdehnen, den unmerklich­ sten Unterschied einfangen, absolut alle Signifikate bedecken und somit auch entblockieren, kurz: sie muß ins Detail gehen. Die Frage nach dem Detail ist Bestandteil der Erzählung. „Noirceuil hatte nichts Eiligeres zu tun, als mich nach Mittei­ lungen über meine Beziehung zu Mme Clairwil zu befragen; mein Lob bewies ihm meine Dankbarkeit. Er wollte Details, die ich ihm auch gab.” „Die zwei Mädchen wurden dann von unserem Libertin bis aufs Blut gepeitscht, der - wie sie sich wohl denken können - zu­ erst mit größtem Vergnügen die Details genoß.” In den 120 Tagen jedoch wird die Theorie des Imperativs der Detailaussage am ausdrücklichsten formuliert, sofort nach der ersten Erzählung der Duclos: „Duclos, unterbrach hier der Präsident, hat man euch nicht gewarnt, daß sie in ihren Erzählungen die größten und genauesten

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Details geben müssen, daß wir nur beurteilen können, was die Leidenschaft, die sie schildern, mit den Sitten und dem Charakter des Mannes zu tun hat, wenn sie uns keinen Umstand verheim­ lichen und daß die kleinsten Umstände den Erwartungen, die wir für die Erregung unserer Sinne an eure Erzählung stellen, unend­ lich dienlich sein können. Ja Monsigneur, sagte die Duclos, ich wurde gewarnt, kein Detail zu vernachlässigen und die kleinsten Einzelheiten zu behandeln, jedesmal wenn sie dazu dienen, ein Licht auf den Charakter oder die Art zu werfen. Habe ich in die­ sem Sinn einen Fehler begangen? Ja, sagte der Präsident, ich habe keine Vorstellung, wie der Schwanz des zweiten Mönches aussah und auf welche Art er abspritzte, übrigens, kitzelte er ihre Fotze oder berührte er sie mit seinem Schwanz? Sie sehen, wieviel De­ tails sie vernachlässigen.” Duclos gibt also die gewünschten Präzi­ sionen und erntet dafür den folgenden Kommentar eines Libertin: „Das ist es, Duclos, sagt Durcet, der Präsident hatte Recht; ich konnte mir am Anfang ihrer Erzählung nichts vorstellen und jetzt sehe ich ihren Mann vor mir.” Das Detail: der Punkt, wo das Wirkliche die Imagination überrascht. In diesem Sinn ist das Detail in der Entwicklung der Laster, wo die Gesten und Situationen global vorhersehbar sind, das Zeichen des Unerwarteten; der Zug, der partikularisiert und zugleich die Grenzen des Erfüllbaren erweitert. Im Inventar des Exzesses bezeichnet es die Erfindungsgabe des Verlangens. Und wenn das Verlangen im Detail erfindet, wenn es in den Rändern, Resten und Abfällen des Diskurses sich einnistet, dann nur, weil es von der (offiziellen) Szene der anerkannten Allgemeinheiten ausgeschlossen ist; wo die Allgemeinheiten entgleisen und sich verfehlen, verbreitert sich der Abstand, der das Verlangen zeigt. Somit hat die Aussage des Details einen engen Bezug zum An­ stößigen, d. h. zum Obszönen, zum Uneingestehbaren der Wol­ lust. („Wie diese Details doch meinen Kopf erhitzen!") Daher ist es auch die spezifisch libertine Probe im Ehrgeiz, alles zu sagen, denn genau dort widersteht das Sagen. Freud versteht dies, wenn er aus dem alles sagen* die Regel des Aussagens des Analysanden macht und aus der Aufmerksam­ keit fürs Detail die Regel des Zuhörens des Analytikers: „Diese psychoanalytischen Dinge werden nur verständlich, wenn sie re­ lativ komplett und detailliert sind, wie auch die Analyse selbst

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nur funktioniert, wenn der Patient von den substitutiven Ab­ straktionen bis zu den kleinsten Details herabsteigt.” (Brief an Pfister, 1910) Das Detail: dort geschieht es, dort lockert sich die durch sekundäre Formationen bewirkte Zensur, dort ist der Trieb nicht mehr Symptom in den Wucherungen der Fehlhandlungen und lapsus, weil es/Wollust dort geschieht (