Leipziger Germanistik: Beiträge zur Fachgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert 9783110288674, 9783110288407

In a series of individual essays, this volume presents the important contributors and major trends in the field of Germa

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Leipziger Germanistik: Beiträge zur Fachgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert
 9783110288674, 9783110288407

Table of contents :
Einleitung. Germanistik in Leipzig - Wissenschaftsgeschichte als Regionalgeschichte
Die Leipziger Germanistik. Wissenschafts- und institutionsgeschichtliche Einleitung
Historische Sprachwissenschaft im altgermanistischen Rahmen. Moriz Haupt und Friedrich Zarncke
Eduard Sievers und die Junggrammatiker
„Ist das Gehirn so eng, daß nur eine Betrachtungsweise darin Platz hat?“ Albert Köster und Georg Witkowski als Vertreter der historischphilologischen Methode in Leipzig
Die Leipziger Nordistik
Die Leipziger Niederlandistik
Sprachgeschichte und Kulturmorphologie. Theodor Frings
Hermann August Korff. Geistesgeschichte in drei politischen Systemen
Kontinent Hans Mayer. Zur historischen Kartierung eines Leipziger Mythos
Personenregister

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Leipziger Germanistik

Leipziger Germanistik Beiträge zur Fachgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Günther Öhlschläger, Hans Ulrich Schmid, Ludwig Stockinger und Dirk Werle

ISBN 978-3-11-028840-7 e-ISBN 978-3-11-028867-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Einleitung Germanistik in Leipzig – Wissenschaftsgeschichte als Regionalgeschichte   1 Günther Öhlschläger, Ludwig Stockinger Die Leipziger Germanistik Wissenschafts- und institutionsgeschichtliche Einleitung 

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Hans Ulrich Schmid Historische Sprachwissenschaft im altgermanistischen Rahmen Moriz Haupt und Friedrich Zarncke   16 Günther Öhlschläger Eduard Sievers und die Junggrammatiker 

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Uwe Maximilian Korn, Ludwig Stockinger „Ist das Gehirn so eng, daß nur eine Betrachtungsweise darin Platz hat?“ Albert Köster und Georg Witkowski als Vertreter der historischphilologischen Methode in Leipzig   78 Julia Zernack Die Leipziger Nordistik 

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Jan Goossens Die Leipziger Niederlandistik 

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Hans Ulrich Schmid Sprachgeschichte und Kulturmorphologie Theodor Frings   180 Ludwig Stockinger Hermann August Korff Geistesgeschichte in drei politischen Systemen  Dirk Werle Kontinent Hans Mayer Zur historischen Kartierung eines Leipziger Mythos  Personenregister 

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Einleitung Germanistik in Leipzig – Wissenschaftsgeschichte als Regionalgeschichte Die Germanistik an der Universität Leipzig kann auf eine wechselvolle, illustre Vergangenheit zurückblicken. In der Phase der Etablierung der wissenschaftlichen Disziplin ‚Germanistik‘ im 19. Jahrhundert hat Leipzig durch die Gründung eines der ersten germanistischen Seminare in Deutschland eine wichtige Rolle gespielt. Ziel des vorliegenden Bandes ist es, die Geschichte der Leipziger Germanistik von der durch die Seminargründung markierten Institutionalisierung Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Nachkriegszeit in exemplarischen Beiträgen zu rekonstruieren. Die Beiträge sind gedacht als Bausteine zu einem Panorama, das ein Kapitel der Wissenschaftsgeschichte in einem breiten kultur-, institutionsund regionalhistorischen Kontext entwickelt.¹ Der Band versammelt die Ergebnisse einer Vortragsreihe, die das Institut für Germanistik der Universität Leipzig im Sommersemester 2009 anlässlich des 600jährigen Universitätsjubiläums ausgerichtet hat und die von Institutsangehörigen sowie von auswärtigen Fachleuten bestritten wurde. Zur Einleitung sei auf eine Reihe konzeptioneller Entscheidungen aufmerksam gemacht, die der Vortragsreihe wie dem sie dokumentierenden Band zugrunde liegen:

1.) Wissenschaftsgeschichte als Regionalgeschichte Seit den 1980er Jahren hat die Erforschung der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik einen beeindruckenden Schub erfahren – allerdings mehr auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft als auf dem der Sprachwissenschaft. Im Rahmen vieler einschlägiger Publikationen wurde diese Geschichte intensiv erforscht, so dass sich mittlerweile ein big picture, eine ‚große Erzählung‘ ergibt, die in einschlägigen Lexikonartikeln in reduzierter Form nachlesbar ist.² Eine erste Ausgangsüberlegung für den vorliegenden Band geht aus von der Beobachtung, dass sich beim Blick auf lokale und regionale Besonderheiten das big picture als zu großflächig und mit zu groben Strichen gemalt erweist. Ungleichzeitigkeiten und regionale Besonderheiten zeigen die Differenziertheit der Wissenschaftsgeschichte erst in ihrer ganzen Komplexität. Das Unternehmen zur Geschichte

1 Ausgangspunkt ist die Überblicksdarstellung Öhlschläger / Stockinger (2009). 2 Vgl. etwa Weimar (1997); Meves (2006); Werle (2007). Vgl. des Weiteren Meves (1994); Meves (2001).

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der Leipziger Germanistik knüpft in diesem Sinne in regional-diachroner Perspektive an die aufschlussreichen Forschungen zur Leipziger Gelehrtengeschichte des 18. Jahrhunderts an,³ in überregional-synchroner Perspektive an ähnliche Vorhaben etwa zur Geschichte der Rostocker, Jenaer und Hamburger Germanistik.⁴ An seine Grenzen stößt das Unternehmen dort, wo Regionalgeschichte die spezifische Wechselwirkung und Verflechtung unterschiedlicher Institutionen und Personen zeigen könnte. Dieser Aspekt muss im vorliegenden Band, der nur als erster Schritt und als Ausgangspunkt für weitere Forschungen verstanden sein will, unterbelichtet bleiben. In diesem Sinne überschreiten die Beiträge des Bandes die Grenzen der Fachgeschichte nicht. Es bleibt künftigen Forschungen vorbehalten, den Zusammenhang der Geschichte der Leipziger Germanistik mit anderen lokalen Institutionen zu zeigen, mit Messe, Akademie, Hochschule für Buchdruck und Gestaltung, Literaturinstitut, dem Theater, den Verlagen, der Universitätsbibliothek, der Deutschen Bücherei sowie den anderen philologischen und geisteswissenschaftlichen universitären Instituten sowie nicht zuletzt dem Stadtbürgertum der traditionellen Universitäts- und Handelsstadt.

2.) Wissenschaftsgeschichte als Personengeschichte Wissenschaftsgeschichte in ihrer avancierteren Form muss im komplexen Ineinander struktureller beziehungsweise systemischer Prozesse verstanden werden – diese Einsicht hat sich die neuere Geschichtsschreibung der Germanistik mit gutem Recht zu eigen gemacht.⁵ Hinzu tritt die Erkenntnis, dass eine angemessene Beschreibung der Komplexität von Wissenschaftsgeschichte nicht ohne wissenschaftssoziologische und wissenschaftstheoretische Perspektivierungen auskommt.⁶ Bei allen theoretisch-methodologischen Fortschritten in der Rekonstruktion wissenschaftshistorischer Prozesse geriet jedoch nie der Umstand aus dem Blick, dass Wissenschaft von Menschen gemacht wird. Personengeschichte bildet immer schon und nach wie vor einen wichtigen Stützpfeiler der Wissenschaftsgeschichte.⁷ Personengeschichtlich ist in diesem Sinne auch die leitende Perspektive des vorliegenden Bandes, allerdings nicht in dogmatischer Form: 3 Döring (1999); Marti / Döring (2004); Mulsow (2007); Döring (2012). 4 Rostocker Tagung Geschichte der DDR-Germanistik, Mai 2008; Jenaer Ringvorlesung Geschichte der Germanistik an der Universität Jena, Wintersemester 2008/09; vgl. die Publikation Hahn / Pöthe (2010); zur Hamburger Germanistik Richter / Nottscheid (2011). 5 Wegweisend waren die Sammelbände Fohrmann / Voßkamp (1991) sowie Fohrmann / Voßkamp (1994). 6 Vgl. exemplarisch Schönert (2000); Danneberg / Höppner / Klausnitzer (2005); Kaiser / Krell (2005). 7 Unentbehrlich in dieser Hinsicht König (2003). Mit ironischem Blick für die unausweichlich

Einleitung 

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Manche Elemente und Entwicklungen der Geschichte der Leipziger Germanistik lassen sich in der Abfolge von einfachen Personengeschichten nicht adäquat erfassen. Dem tragen die Beiträge des vorliegenden Bandes Rechnung, wenn sie bestimmte Entwicklungen in Gestalt der Doppelbiographie (Moriz Haupt und Friedrich Zarncke, Albert Köster und Georg Witkowski), der Untersuchung des Verhältnisses eines Akteurs zu einer wissenschaftlichen Schule (Eduard Sievers und die Junggrammatiker) und der Institutionengeschichte (die Abteilungen für Nordistik und Niederlandistik) in den Blick nehmen. Betreibt man Wissenschaftsgeschichte als Personengeschichte, dann ist eine mehr oder weniger gewaltsame Auswahl unumgänglich. Bei der Auswahl von Leipziger Germanisten, die im vorliegenden Band mit einem eigenen Beitrag gewürdigt werden, haben sich die Herausgeber unter anderem von der Frage leiten lassen, ob der betreffende Germanist eine ordentliche Professur in Leipzig bekleidet hat.⁸ Dass diese Entscheidung anfechtbar ist, dessen sind wir uns bewusst.⁹ Nahe liegt – gerade aus ideologiekritisch affizierter Richtung – der wohlfeile Vorwurf, man wolle eine Geschichte der Sieger schreiben; dabei bleibe die Geschichte der Außenseiter und Opfer institutioneller Machtstrukturen ausgeblendet, ja man schreibe gar deren Marginalisierung fort. Wenn die Herausgeber gleichwohl bei ihrer Entscheidung bleiben, dann geschieht das vor dem Hintergrund der Einsicht, dass Ordinarien in der Regel für die lokale institutionelle Entwicklung des Faches einflussreicher waren als Nicht-Ordinarien. Inwiefern die Orientierung lokaler Wissenschaftsgeschichte an Ordinarien notwendig affirmative Geschichte der Sieger ist, ist ohnehin durchaus nicht ausgemacht – Gilt etwa Albert Köster als Sieger der Wissenschaftsgeschichte? Ist nicht Eduard Sievers, insbesondere in der lokalen Rezeption, hinter der dominanten Figur Theodor Frings ins zweite Glied gerückt? Oder wird nicht Hans Mayer trotz des Leipziger Ordinariats immer wieder auch aus anderen Gründen als germanistischer Außenseiter beschrieben? Hier wird wie auch im Falle anderer berühmter Außenseiter eine bemerkenswerte ‚negative Dialektik‘ der Ideologiekritik sichtbar: Sie konstruiert manchmal eine eigene Siegergeschichte der Außenseiter, die sich dann in the long run häufig als Erfolgsgeschichte durchsetzt.

hagiographieverdächtigen Momente personengeschichtlicher Darstellungen Gumbrecht (2002). Zur Biographik exemplarisch Martus (2009). 8 Eine begründete Ausnahme bildet Georg Witkowski. Vgl. zu den Gründen die Ausführungen von Uwe Maximilian Korn und Ludwig Stockinger in dem betreffenden Beitrag. 9 Dass Wissenschaftsgeschichte in Leipzig nicht nur von Ordinarien und nicht einmal nur von Professoren gemacht wurde, zeigt für das frühe 18. Jahrhundert Detlef Döring, „Das gelehrte Leipzig der Frühaufklärung am Rande und im Umfeld der Universität“, in: Marti / Döring (2004), S. 11–53.

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3.) Historische Begrenzung Die diesem Band vorangehende Vortragsreihe stieß im Jubiläumsjahr der Universität Leipzig auf reges Interesse, das zunahm, je näher die chronologisch angelegte Vortragsreihe der Gegenwart kam, je mehr Zuhörerinnen und Zuhörer das Gesagte mit eigenen Erlebnissen unterlegen und abgleichen konnten. Umso enttäuschender musste der Entschluss der Veranstalter wirken, die Vortragsreihe mit Hans Mayer als letztem ‚Heros‘ der Leipziger Germanistik enden zu lassen. Der Entschluss, den wir für den Sammelband übernommen haben, nötigte den Berichterstatter der Lokalpresse zu der ironischen Frage, ob Mayer die Germanistik 1963, bei seinem Weggang aus der DDR, in seinen Koffer gepackt und mit nach Westdeutschland genommen habe, ob sich nach seinem Abgang in der Leipziger Germanistik nichts Überliefernswertes getan habe.¹⁰ Das ist natürlich nicht der Fall. Im Gegenteil, die Leipziger Germanistik seit den 1960er Jahren war vielleicht die profilierteste der gesamten DDR. Die historische Erforschung eines Gegenstands erfordert aber einen einigermaßen distanzierten Beobachter. Wenn Leipziger Germanisten die Geschichte ihrer eigenen Institution erforschen, dann ist die erforderliche Distanz nicht durch einen räumlichen oder institutionellen, sondern nur durch den zeitlichen Abstand gegeben.¹¹ Deshalb haben wir uns entschieden, die Zeitgeschichte im engeren Sinne aus Vortragsreihe wie Band auszuklammern – allerdings in dem Bewusstsein, dass die hier unternommenen ersten Schritte auch in dieser Hinsicht in viele Richtungen weitergeführt werden müssen, vor allem auch durch die verstärkte Erforschung der Zeitgeschichte der Germanistik seit den 1960er Jahren. Vergessen werden soll jedoch bei aller Enttäuschung über das Fehlen der Zeitgeschichte nicht der Hinweis, dass auch die Festlegung auf einen Anfangspunkt des Rekonstruktionszeitraums Verluste zeitigt. So wäre es gerade mit Blick auf die Leipziger Germanistik aufschlussreich, neben dem wichtigen Vorläufer einer germanistischen Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, Theodor Wilhelm Danzel, die Vorgeschichte in der Philologie des 18. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, zuvörderst die Bemühungen solch prominenter Leipziger Professoren wie Johann Christoph Gottsched und Christian Fürchtegott Gellert um eine Erneuerung der Poetik oder auch die Verdienste von Gelehrten wie Gottsched und Johann Christoph Adelung um die Entwicklung der Sprachwissenschaft. Trotz der angezeigten Defizite hoffen wir, mit dem vorliegenden Band einen Beitrag zur Erforschung regionaler Wissenschaftsgeschichte zu leisten, der 10 Schmidt (2009). 11 Das führt unter Rückgriff auf Jan Assmanns Unterscheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis Stockinger (2005) näher aus.

Einleitung 

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bereits Geleistetes aufgreift und Anstoß zu weiteren Forschungen geben kann. Die Geschichte der Leipziger Germanistik zeigt bei allen Diskontinuitäten, die in den einzelnen Beiträgen sichtbar werden, doch eine Kontinuität in der Tradition einer an philologischen Idealen orientierten Konzeption von Germanistik, die die Einheit von Sprach- und Literaturwissenschaft auch in Zeiten disziplinärer Ausdifferenzierung zu ‚retten‘ versucht. Die Herausgeber danken Heike Becher und Christiane Klein (beide Jena) für wertvolle Hilfe bei der Schlussredaktion des Bandes sowie Henriette Slogsnat und Daniela Zeiler vom Walter de Gruyter Verlag für die professionelle und geduldige Betreuung der Publikation. Leipzig, im Mai 2012

Günther Öhlschläger, Hans Ulrich Schmid, Ludwig Stockinger, Dirk Werle

Literatur Danneberg / Höppner / Klausnitzer (2005): Lutz Danneberg / Wolfgang Höppner / Ralf Klausnitzer (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt/M. u. a. 2005. Döring (1999): Detlef Döring, Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Stuttgart, Leipzig 1999. Döring (2012): Detlef Döring, „Die Anfänge der literatur- und sprachwissenschaftlichen Studien an der Universität Leipzig bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 44 (2012), S. 103–138. Fohrmann / Voßkamp (1991): Jürgen Fohrmann / Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Wissenschaft und Nation. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991. Fohrmann / Voßkamp (1994): Jürgen Fohrmann / Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994. Gumbrecht (2002): Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, München, Wien 2002. Hahn / Pöthe (2010): Reinhard Hahn / Angelika Pöthe (Hrsg.), „...und was hat es für Kämpfe gegeben.“ Studien zur Geschichte der Germanistik an der Universität Jena, Heidelberg 2010. Kaiser / Krell (2005): Gerhard Kaiser / Matthias Krell (Hrsg.), Zwischen Resonanz und Eigensinn. Studien zur Geschichte der Sprach- und Literaturwissenschaften im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2005. König (2003): Christoph König (Hrsg.), Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, 3 Bände, Berlin, New York 2003. Marti / Döring (2004): Hanspeter Marti / Detlef Döring (Hrsg.), Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld, 1680–1780, Basel 2004. Martus (2009): Steffen Martus, Die Brüder Grimm. Eine Biographie, Berlin 2009.

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Meves (1994): Uwe Meves, „Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie. Die Periode der Lehrstuhlerrichtung“, in: Jürgen Fohrmann / Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994, S. 115–205. Meves (2001): Uwe Meves, „Die Entstehung und frühe Entwicklung der Germanischen Philologie“, in: Sylvain Auroux / E. F. K. Koerner / Hans-Josef Niederehe / Kees Versteegh (Hrsg.), Geschichte der Sprachwissenschaften. 2. Teilbd., Berlin, New York 2001 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 18/2), S. 1286–1294. Meves (2006): Uwe Meves, „Germanistik“ [Art.], in: Horst Brunner / Rainer Moritz (Hrsg.), Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2006, S. 141–146. Mulsow (2007): Martin Mulsow, Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig, 1740–1745, Göttingen 2007. Öhlschläger / Stockinger (2009): Günther Öhlschläger / Ludwig Stockinger, „Germanistik“, in: Ulrich von Hehl / Uwe John / Manfred Rudersdorf (Hrsg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 4: Fakultäten, Institute, Zentrale Einrichtungen. 1. Halbbd., Leipzig 2009, S. 534–561. Richter / Nottscheid (2011): Myriam Richter / Mirko Nottscheid (Hrsg.), 100 Jahre Germanistik in Hamburg. Traditionen und Perspektiven, Berlin, Hamburg 2011 (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 19). Schmidt (2009): Olaf Schmidt, „Endet die Geschichte der Leipziger Germanistik mit Hans Mayer?“ in: Kreuzer. Das Leipzig Magazin 2009, Nr. 4. Schönert (2000): Jörg Schönert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, Stuttgart, Weimar 2000. Stockinger (2005): Ludwig Stockinger, „Vom Recht der Literatur und des Literaten. Rede zur Enthüllung der Gedenktafel für Hans Mayer am 19. März 2005“, in: Leipziger Universitätsreden. Neue Folge, Heft 100. Vorträge an der Universität Leipzig 2004/2005, Leipzig 2005, S. 71–78. Weimar (1997): Klaus Weimar, „Germanistik“ [Art.], in: ders. u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 706–710. Werle (2007): Dirk Werle, „Germanistik“ [Art.], in: Dieter Burdorf / Christoph Fasbender / Burkhard Moennighoff (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart, Weimar 2007, S. 280–282.

Günther Öhlschläger, Ludwig Stockinger

Die Leipziger Germanistik Wissenschafts- und institutionsgeschichtliche Einleitung* Die Universität und die Stadt Leipzig waren schon vor der Entstehung einer wissenschaftlichen Disziplin mit der Bezeichnung ‚Germanistik‘ bzw. ‚Deutsche‘ oder ‚Germanische Philologie‘ und vor der Ausbildung entsprechender universitärer Institutionen Orte der Produktion von Wissen über ‚germanistische‘ Inhalte. Nach den ersten Anfängen der Beschäftigung an der Universität Leipzig mit sprachlichen und literarischen Themen im Spätmittelalter und im Humanismus wurde Leipzig im 18. Jahrhundert ein Schwerpunkt einschlägiger Wissensproduktion. Zu nennen sind hier vor allem die Leistungen von Johann Christoph Gottsched, Johann Georg Wachter und Johann Christoph Adelung. ¹ In der Phase der Entstehung der wissenschaftlichen Disziplin Germanistik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Universität Leipzig zunächst keine Vorreiterrolle: Die erste Professur wurde 1811 in Breslau errichtet, 1813 folgte Göttingen, 1827 Berlin und Tübingen, 1835 Basel. 1837 habilitierte sich Moriz Haupt an der Universität Leipzig in Klassischer Philologie und begann seine Lehrtätigkeit als Privatdozent mit Vorlesungen zu Themen der Klassischen Philologie und gleichzeitig der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters. Damit begann in Leipzig die regelmäßige Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der Germanistik. Nachdem Haupt 1841 zum Extraordinarius für Philosophie ernannt worden war, gab das Sächsische Kultusministerium 1843 die Erlaubnis zur Berufung Haupts zum Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur; die offizielle Verpflichtung erfolgte aber erst im Jahre 1848. Seiner streng philologischen Ausrichtung entsprechend lag der Schwerpunkt von Haupts Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Texteditionen. Diese hoffnungsvollen Anfänge fanden allerdings schon 1850 ein jähes Ende, da Haupt aufgrund seiner Beteiligung an der Revolution von 1848/49 wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt und seines Amtes enthoben wurde. Trotz der Aufhebung dieses Urteils in der Revisionsinstanz 1851 und trotz der Bemühungen der Universität, die Entlassung Haupts aus dem sächsischen Staatsdienst zu verhindern, beharrte das Staatsministerium auf

* Der vorliegende Abriss geht auf einen umfangreicheren Beitrag zurück, der ausführlichere Erläuterungen, Hinweise und genaue Quellenangaben enthält: Günther Öhlschläger / Ludwig Stockinger, „Germanistik“, in: Ulrich von Hehl / Uwe John / Manfred Rudersdorf (Hrsg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 4/1, Leipzig 2009, S. 534–561.

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der Suspendierung, so dass er 1853 dem Ruf nach Berlin auf die Professur Karl Lachmanns folgte, die er bis zu seinem Tod 1874 innehatte. Gleichzeitig mit Moriz Haupt bot der aus der philosophischen Ästhetik kommende Theodor Wilhelm Danzel, der sich 1845 über Platon habilitiert hatte, Vorlesungen zur deutschen und europäischen Literaturgeschichte der Neuzeit, vor allem über Literatur des 18. Jahrhunderts und der Goethezeit, an. Das Ersuchen der Philosophischen Fakultät um ein entsprechendes Extraordinariat 1849 wurde von der sächsischen Regierung jedoch abschlägig beschieden, und mit dem Tod Danzels 1850 war dann der erste Versuch, die Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Leipzig zu etablieren, für lange Jahre gescheitert. Die durch Haupts Suspendierung entstandene Lücke konnte ab 1852 durch die Lehrtätigkeit von Haupts Schüler Friedrich Zarncke gefüllt werden, der in diesem Jahr für das Gebiet der deutschen Philologie, älteren Literaturgeschichte, Mythologie und Altertümer habilitiert wurde. 1854 wurde Zarncke zum Extraordinarius für Philosophie ernannt, und 1858 trat er die Nachfolge von Haupt als Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur an. Wie Haupt war auch sein Schüler Zarncke durch die strenge Methodik der aus der Klassischen Philologie stammenden Textkritik geprägt. Charakteristisch für ihn waren sein hohes wissenschaftliches Ethos, seine Vorliebe für die exakte, strikt an den Quellen orientierte Forschung und seine ausgeprägte Abneigung gegen nicht auf fester, gesicherter Grundlage beruhende Annahmen und Spekulationen. Auf Zarncke geht auch die Gründung des „Königlichen Deutschen Seminars“ am 15. September 1873 zurück, mit dem die Phase der Etablierung und Institutionalisierung des Fachs Germanistik an der Universität Leipzig zu einem ersten Abschluss kam. Im Unterschied zur Errichtung des ersten Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Leipzig gehörte die Universität Leipzig bei der Gründung eines Deutschen Seminars zu den ersten in Deutschland – nach Rostock 1858, Tübingen 1867, Straßburg 1872 und im gleichen Jahr wie Heidelberg und Würzburg, wobei die Seminare in Tübingen und Heidelberg keine reinen Deutschen Seminare, sondern Seminare für neuere Sprachen waren. Außer Zarncke, der das Deutsche Seminar bis zu seinem Tod 1891 leitete, lehrten als Extraordinarien noch Wilhelm Braune (1876–1880), Anton Philipp Edzardi (1880–1882) sowie Karl von Bahder (1886–1918) am Seminar. Nicht zum Deutschen Seminar gehörte die 1869 zunächst als Extraordinariat errichtete, 1874 in ein Ordinariat umgewandelte Professur für Neuere deutsche Sprache und Literatur, die Rudolf Hildebrand bis zu seinem Tod 1894 innehatte. Die Gründe dafür sind nicht mehr zu ermitteln, man darf aber vermuten, dass Zarncke, der diese Professur eigentlich mit Michael Bernays hatte besetzen wollen, den gegen seinen Willen berufenen Hildebrand als ungeeignet für diese Professur angesehen hat, weil er sich auf dem Gebiet der Neueren deutschen Literatur durch wis-

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senschaftliche Publikationen nicht ausgewiesen hatte. Von Hildebrand gingen während seiner Tätigkeit als Ordinarius auch in der Tat keine Impulse zur Entwicklung der Neueren deutschen Literaturgeschichte aus; stattdessen lagen seine Schwerpunkte im Bereich der Lexikographie – er war seit 1863 nach dem Tod von Jacob Grimm Herausgeber des Deutschen Wörterbuchs – und vor allem in der Deutschdidaktik, die er noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein stark beeinflusste – als maßgeblicher Vertreter einer Funktionalisierung des Deutschunterrichts für die Bildung nationaler Identität im Geiste antirationaler, antiwestlicher und antimoderner Kulturkritik. Nachfolger von Zarncke wurde Eduard Sievers, ein Schüler Zarnckes, der nach Stationen in Jena, Tübingen und Halle 1892 nach Leipzig zurückkehrte und dreißig Jahre lang, bis zu seiner Emeritierung 1922, das Ordinariat für deutsche Sprache und Literatur innehatte. Sievers war einer der bedeutendsten Germanisten seiner Zeit und ist als eine der zentralen Persönlichkeiten der junggrammatischen Richtung eine wichtige Figur in der Geschichte der Sprachwissenschaft. Sievers hatte auch wesentlichen Anteil daran, dass die Neuere deutsche Literaturgeschichte auf angemessene Weise – wie es schon Zarncke vorgesehen hatte – in das Deutsche Seminar integriert wurde. Nach Hildebrands Tod 1894 wurde dessen Professur dem Deutschen Seminar zugeordnet, 1899 mit Albert Köster besetzt, und der neuen Konstellation entsprechend wurden zwei Abteilungen errichtet, eine ‚Ältere Abteilung‘ mit Eduard Sievers als Direktor und eine ‚Neuere Abteilung‘ mit Albert Köster als Direktor. Albert Köster, der Leipzig trotz einiger Rufe an andere bedeutende Universitäten bis zu seinem Tod 1924 treu blieb, hatte seine Schwerpunkte in der philologischen Textedition sowie in der Beschäftigung mit dem Drama der europäischen Neuzeit in seiner Verbindung mit der Geschichte des Theaters – dieser theaterwissenschaftliche Zugang zur Analyse und Interpretation von Dramentexten war in der Germanistik der damaligen Zeit ein Novum. Außer Sievers und Köster lehrten zu dieser Zeit noch Karl von Bahder – 1897 zum planmäßigen Extraordinarius für Ältere deutsche Sprache und Literatur ernannt –, Georg Holz – seit 1896 außerplanmäßiger, ab 1902 planmäßiger Extraordinarius für Ältere deutsche Sprache und Literatur –, Ernst Elster – 1892 bis 1901 außerplanmäßiger Extraordinarius für Neuere deutsche Literatur –, Georg Witkowski – seit 1896 als außerplanmäßiger, seit 1919 als planmäßiger Extraordinarius für Neuere deutsche Literatur – sowie Eugen Mogk – von 1893 an als außerplanmäßiger, seit 1901 als planmäßiger außerordentlicher Professor für Nordische Philologie. Besonders hervorzuheben sind dabei Georg Witkowski, dem eine bedeutende Rolle in der Entwicklung von Textkritik und Editionstechnik zukommt, sowie Eugen Mogk, der zu seiner Zeit als der bedeutendste Skandinavist in Deutschland galt.

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Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg brachten eine Reihe einschneidender Veränderungen, und zwar sowohl strukturell als auch personell. 1919 kamen zu den beiden schon bestehenden Abteilungen – der Älteren und der Neueren – zwei weitere Abteilungen hinzu: Eine nordische, deren Leitung Eugen Mogk übernahm, der 1923 auch zum Ordinarius ernannt wurde, und eine flämisch-nordniederländische Abteilung, für die ein neues Extraordinariat eingerichtet wurde, das mit André Jolles besetzt wurde. Personell ergab sich ein noch gravierenderer Einschnitt, da auch alle anderen Professuren in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg neu besetzt werden mussten: Wie schon erwähnt, wurde Georg Witkowski 1919 auf dem für die Neuere Literatur umgewidmeten Extraordinariat Nachfolger von Karl von Bahder, Georg Holz, der zweite Extraordinarius, starb 1921, Albert Köster 1924, Eduard Sievers wurde 1922 und Eugen Mogk 1925 emeritiert. Nachfolger von Sievers wurde Friedrich Neumann, der zunächst für ein Jahr das Extraordinariat von Georg Holz innegehabt hatte, aber schon 1927 auf ein Ordinariat in Göttingen wechselte. Eine der Zeit von Sievers und Köster vergleichbare, sogar noch längere Kontinuität stellte sich erst ein, als Theodor Frings 1927 auf den Lehrstuhl von Sievers berufen wurde, nachdem Hermann August Korff schon 1925 die Nachfolge von Albert Köster angetreten hatte. Hermann August Korff, ein bedeutender Vertreter der geistesgeschichtlichen Richtung in der Literaturwissenschaft, und Theodor Frings, ein ebenso bedeutender Vertreter der kulturhistorisch orientierten Sprachwissenschaft, prägten über Jahrzehnte hinweg die Leipziger Germanistik: Korff hatte den Lehrstuhl für Neuere deutsche Sprache und Literatur bis 1954 inne und lehrte noch bis 1957, Frings wurde als Ordinarius für Ältere deutsche Sprache und Literatur 1957 emeritiert, blieb aber – da sein Lehrstuhl unbesetzt blieb – bis zu seinem Tod 1968 kommissarischer Institutsdirektor. Auf der Ebene der Extraordinarien gab es demgegenüber wesentlich mehr Fluktuation: Nachfolger von Holz und Neumann als Extraordinarius für Ältere deutsche Sprache und Literatur wurde 1924 Julius Schwietering, nach dessen Weggang 1928 nach Münster Fritz Karg, wobei die Denomination dieser Professur um den Bereich der Volkskunde erweitert wurde. Die Professur für Nordische Philologie übernahm 1926 – als Extraordinarius – Helmut de Boor; nach dessen Berufung auf ein Ordinariat in Bern 1930 folgte ihm 1931 Konstantin Reichardt. Von der Entlassung des Juden Georg Witkowski abgesehen, brachte das Jahr 1933 keine Veränderungen. Witkowskis Professur wurde zunächst von einem Korff-Schüler, dem fanatischen Nationalsozialisten Karl Justus Obenauer, vertreten, besetzt wurde sie jedoch 1934 mit Alfred Hübner – gleichfalls überzeugter Nationalsozialist –, wobei die Professur in eine Professur für Mittlere deutsche Sprache und Literatur umgewandelt wurde. Dies war notwendig geworden, da die Professur von Fritz Karg nach dessen Entlassung 1934 – die nicht aus politischen oder rassischen Gründen erfolgte – in eine reine Professur für Volkskunde

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umgewidmet wurde. Besetzt wurde diese Professur mit Bruno Schier; 1943 wurde sie sogar zu einem Ordinariat. Eine weitere politisch motivierte Veränderung ergab sich erst 1937, als Konstantin Reichardt Leipzig verließ, um über Schweden in die USA zu emigrieren, wo er 25 Jahre Professor für Germanische Sprachen und Literaturen an der Yale University war. Nachdem Hans Kuhn 1938 Reichardts Nachfolger als Professor für Nordische Philologie geworden war, hatte man es mit der nicht uninteressanten Konstellation zu tun, dass alle Extraordinariate mit überzeugten Nationalsozialisten besetzt waren – Jolles, Schier, Hübner, Kuhn –, während die beiden Lehrstuhlinhaber Frings und Korff eine gewisse Distanz gegenüber dem NS-Regime einzuhalten verstanden. Wie im Jahr 1933 gab es auch im Jahr 1945 keinen gravierenden personellen und strukturellen Bruch der Kontinuität – die größten Veränderungen waren die Auflösung der Abteilung für Volkskunde und die Entlassung von Jolles. Die Professur für Nordische Philologie war schon seit 1941 vakant, da Hans Kuhn einen Ruf nach Berlin angenommen hatte, und auch Alfred Hübner hatte seit Anfang 1944 kriegsbedingt nicht mehr am Institut gelehrt. Leiter der Nordischen Abteilung wurde 1946 – als Ordinarius – Walter Baetke, der schon von 1935 an ordentlicher Professor für Religionsgeschichte gewesen war und dieses Amt gleichzeitig mit seiner Tätigkeit in der Nordistik weiterhin versah. Er wurde 1955 emeritiert, blieb aber bis 1958 Leiter der Nordischen Abteilung. Nachfolger von Jolles wurde 1945 – als Extraordinarius für Deutsche und Niederländische Philologie – der Frings-Schüler Ludwig Erich Schmitt, der nach einigen Querelen Leipzig 1953 verließ und Ordinarius und Direktor des Deutschen Sprachatlas in Marburg wurde. Nach dessen Weggang übernahm Frings kommissarisch die Leitung der Abteilung; die Hauptlast der Lehre trug der 1952 eingestellte Assistent Gerhard Worgt, der die Leipziger Niederlandistik für mehrere Jahrzehnte prägen sollte. Die Stellung der beiden Ordinarien Frings und Korff blieb unangetastet. Mit der Berufung von Martin Greiner zum Professor mit vollem Lehrauftrag für Deutsche Sprache und Literatur im Jahre 1948 – Greiner verließ im November 1952 die DDR und wurde 1958 Professor in Gießen – und der Sievers-Schülerin Elisabeth Karg-Gasterstädt, einer langjährigen Mitarbeiterin von Theodor Frings, als Professorin mit vollem Lehrauftrag für Deutsche Philologie 1952 – sie wurde 1955 emeritiert – kehrte man in gewisser Weise zu den Strukturen aus der Zeit der Weimarer Republik zurück: zwei Lehrstühle, zwei Extraordinariate für Neuere bzw. Ältere deutsche Sprache und Literatur und je eine Professur für Nordische bzw. Niederländische Philologie. Schon im WS 1949/50 zeichneten sich jedoch erste wissenschaftliche, personelle und strukturelle Veränderungen unter dem Einfluss der politischen Instanzen der DDR ab, und zwar durch die Ernennung von Hans Mayer zum Ordinarius am Germanistischen Institut, nachdem er seit 1948 ordentlicher Professor für

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Kultursoziologie an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät gewesen war. Mit Hans Mayer kam ein Literaturwissenschaftler ans Institut, der den Versuch unternahm, im Rahmen der marxistischen Geschichtsphilosophie einen Ansatz für die Deutung der literarischen Überlieferung und für die Kritik der Gegenwartsliteratur zu entwickeln, der Raum ließ für die Berücksichtigung der künstlerischen Individualität, für die Würdigung der Romantik und für die Integration von ästhetischen Innovationen der Moderne in die Literatur der sozialistischen Staaten. In Vorbereitung der 2. Hochschulreform 1952 kam es schon 1951 zu einer Neuordnung des Instituts durch die Errichtung einer Abteilung für „Allgemeine Germanistik und vergleichende Literaturgeschichte“, deren Leitung Hans Mayer übernahm, und 1956 – nach der Emeritierung von Korff, dessen Lehrstuhl nicht wieder besetzt wurde – wurde das Institut in zwei Institute aufgeteilt, in ein ‚Institut für deutsche und germanische Philologie‘ mit einer nordischen und einer niederländischen Abteilung unter dem Direktor Theodor Frings und ein ‚Institut für Deutsche Literaturgeschichte‘ unter dem Direktor Hans Mayer mit den Unterabteilungen ‚Neue deutsche Literatur‘, ‚Neueste deutsche Literatur‘ und ‚Außerdeutsche Literaturen‘. Um die daraus entstehenden Organisationsprobleme zu regeln, wurde 1959 eine ‚Fachrichtung Germanistik‘ etabliert, bei der die Direktoren der beiden Institute als gleichberechtigte Fachrichtungsleiter fungieren sollten. Da Hans Mayers Konzept großen Einfluss hatte – auch auf viele Schriftsteller, die in Leipzig studierten – und in deutlichem Gegensatz zur literaturpolitischen Doktrin der SED stand, kam Mayer zunehmend in Konflikt mit der Obrigkeit, so dass er schließlich im August 1963 von einer Westreise nicht mehr zurückkehrte und seine Professur aufkündigte. Nach Mayers Weggang wurde das Institut für Deutsche Literaturgeschichte zunächst von Siegfried Streller und Walter Dietze geleitet, bis 1964 mit Horst Haase ein Nachfolger für Mayer berufen wurde, der zusammen mit Edith Braemer für eine ideologische Reorganisation des Instituts sorgte. Nach getaner Arbeit verließ Haase Leipzig 1969 und wurde Dozent am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED in Berlin. Schon vor Haases Wechsel nach Berlin hatte allerdings – 1967 – Claus Träger die Leitung des Instituts für Deutsche Literaturgeschichte übernommen, der in den folgenden Jahren eine zentrale Rolle spielen sollte. Am Institut für deutsche und germanische Philologie gab es demgegenüber zur gleichen Zeit keine einschneidenden Veränderungen, denn obwohl Theodor Frings 1957 emeritiert wurde, blieb – wie schon erwähnt – sein Lehrstuhl bis zu seinem Tod 1968 unbesetzt, und er amtierte auch weiter als kommissarischer Direktor des Instituts und als kommissarischer Leiter der nordischen und der niederländischen Abteilung. Erst nach Frings’ Tod wurde der Lehrstuhl – nun als Lehrstuhl für Geschichte der deutschen Sprache bezeichnet – wieder besetzt,

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und zwar mit dem Schmitt- und Frings-Schüler Rudolf Große, der schon 1964 zum Professor mit Lehrauftrag ernannt worden war. Während Große die historische Sprachwissenschaft vertrat – darüber hinaus hat er sich aber auch intensiv mit Dialektologie, Soziolinguistik und Grammatik beschäftigt –, wurde die Gegenwartssprache erstmals von einer eigenen Professur repräsentiert, dem Lehrstuhl für Deutsche Sprache der Gegenwart, auf die – gleichfalls 1969 – Wolfgang Fleischer berufen wurde – auch er ein Schüler von Frings und seit 1965 zuerst Dozent, dann Professor mit Lehrauftrag am Institut. Seine Schwerpunkte waren in erster Linie die Wortbildung, die Lexikologie (Phraseologie) und die Stilistik. Und schließlich bekamen im gleichen Jahr 1969 auch die Niederlandistik und die Nordistik wieder eine eigene Professur, wobei „Nordistik“ allerdings im Wesentlichen nur noch in Sprachausbildung bestand, da die nordistische Forschung in der DDR im Zuge der 3. Hochschulreform in Greifswald konzentriert wurde. Inhaber dieses Lehrstuhls wurde Gerhard Worgt, der seit den fünfziger Jahren die Niederlandistik fast im Alleingang betreut hatte; seine Hauptinteressengebiete waren die niederländische Gegenwartssprache und die Sprachbeziehungen zwischen Niederländisch, Englisch und Deutsch. Zum Zeitpunkt der Ernennungen von Große, Fleischer und Worgt gab es allerdings kein Institut für deutsche und germanische Philologie mehr, und auch das Institut für Deutsche Literaturgeschichte gehörte schon der Vergangenheit an, denn im Zuge der 3. Hochschulreform in der DDR wurden die Institute als Organisationseinheiten aufgelöst und stattdessen unter dem Dach der formal weiter bestehenden Fakultäten als neue zentrale Einheiten Sektionen gebildet, die neue Vernetzungen in Forschung und Lehre ermöglichen sollten. So wurden zum 1.  Februar 1969 innerhalb der Philosophischen Fakultät zwei Sektionen gegründet, die Sektion „Theoretische und angewandte Sprachwissenschaft“ und die Sektion „Kulturwissenschaften und Germanistik“, der neben der Germanistik einschließlich der Deutschmethodik die Literaturwissenschaften der anderen Philologien sowie ein breites Spektrum geisteswissenschaftlicher Fächer angehörten. Demnach war die Germanistik das einzige philologische Fach, bei dem Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft nicht auf zwei getrennte Sektionen aufgeteilt wurde; begründet wurde dies mit bildungs- und allgemeinpolitischen Argumenten, nicht zuletzt mit der zentralen Rolle der Germanistik beim Ausländerstudium – schon 1966 war eine entsprechende Abteilung „Ausländerstudium“ eingerichtet worden. Erster Direktor der Sektion war – bis 1974 – der schon erwähnte Claus Träger, der eine Professur für Literaturtheorie innehatte. Trägers Programm war eine konsequente Neuformulierung von Literaturtheorie und Literaturgeschichte auf der Grundlage der marxistischen Philosophie, da er die bisherigen Versuche der DDR-Germanistik für noch unvollendet hielt. Das bedeutendste Dokument seiner Arbeit ist das 1986 von ihm herausgegebene

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Wörterbuch der Literaturwissenschaft, das den Stand der marxistischen Literaturwissenschaft am Ende der DDR repräsentiert. Die weiteren germanistischen Professoren in der Sektion waren Walter Dietze als Professor für Deutsche Literatur – seine Hauptarbeitsgebiete waren die Literatur der Goethezeit und des Jungen Deutschland –, Joachim Riehme als Professor für Deutschmethodik – einer der wichtigsten Deutschdidaktiker in der DDR und mit seinen Arbeiten zur Rechtschreibdidaktik von großem Einfluss weiter darüber hinaus – sowie die schon erwähnten Sprachwissenschaftler Rudolf Große, Wolfgang Fleischer und Gerhard Worgt. 1975 wurde die Sektion „Kulturwissenschaften und Germanistik“ in kleinere Einheiten aufgeteilt, wobei die nunmehr gebildete Sektion „Germanistik und Literaturwissenschaft“ die literaturwissenschaftlichen Anteile der philologischen Fächer zusammenführte, für die Germanistik aber erneut die Einheit von Sprach- und Literaturwissenschaft erhalten blieb. Gleichzeitig wurden innerhalb der Sektionen Fachbereiche gebildet und zusätzlich neue Professuren in der Literaturwissenschaft errichtet, sodass die Sektion 1978 folgendes Aussehen hatte: – Germanistische Linguistik: Deutsche Sprache der Gegenwart (Wolfgang Fleischer), Sprachgeschichte und Sprachsoziologie (Rudolf Große) – Deutsche Literaturgeschichte: Literatur des 18. Jahrhunderts (Günter Mieth), Literatur des 19. Jahrhunderts (Helmut Richter), DDR-Literatur (Klaus Schuhmann), Deutschsprachige Literatur der kapitalistischen Länder (Dozent: Klaus Pezold) – Deutschmethodiken: Methodik des Faches deutsche Sprache und Literatur (Joachim Riehme) – Literaturtheorie (Claus Träger, Roland Opitz) – Germanistisches Ausländerstudium (Werner Schubert, Gerhard Worgt, Hans Dahlke) Im Bereich der Sprachwissenschaft kam 1981 noch eine ordentliche Professur für Germanistische Linguistik hinzu, die Wolfgang Heinemann bis zu seiner Emeritierung 1991 innehatte. 1987 bzw. 1989 wurden Wolfgang Fleischer und Rudolf Große emeritiert. Großes Nachfolger als Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der deutschen Sprache wurde Gotthard Lerchner, auch er ein Schüler von Theodor Frings; gleichzeitig mit Lerchner wurde Peter Porsch ordentlicher Professor für Sprachtheorie und Sprachsoziologie. Im Fachbereich „Deutsche Literaturgeschichte“ blieb die Struktur der 70er Jahre im Wesentlichen erhalten, wobei allerdings die Kapazität nochmals ausgeweitet wurde – gegenüber dem Stand von 1978 kamen noch hinzu bzw. wurden umbenannt: der Bereich „Ältere deutsche Literatur“ (Dozent: Rainer Kößling), „Literatur des 20. Jahrhunderts bis 1945“ (Klaus Schuhmann), „Literatur der DDR“

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(Walfried Hartinger), „Deutschsprachige Literatur der Schweiz, Österreichs und der BRD“ (Klaus Pezold). Die Inhaber dieser Professuren waren allesamt Schüler von Hans Mayer, so dass die eigentümliche Situation entstand, dass implizit Traditionen eines Lehrers fortgeführt wurden, der wegen seiner ‚Republikflucht‘ zur persona non grata geworden war. Mit den Montagsdemonstrationen und dem Fall der Mauer im Herbst 1989, die 1990 zum Ende der DDR führten, begann innerhalb der Universität ein konfliktreicher Prozess der Umwandlung und Erneuerung, dessen Konsequenzen in den folgenden Jahren auch in der Germanistik spürbar wurden. Dieser Prozess führte letztendlich zur Gründung der Philologischen Fakultät und im Zusammenhang damit zur Gründung des Instituts für Germanistik am 2. Dezember 1993 und kam mit dem Sommersemester 1994 zu einem ersten Abschluss, als die letzten neuberufenen Professoren ihren Dienst antraten. Damit begann ein neues Kapitel der Geschichte der Germanistik in Leipzig, das in diesem Überblick aber keine Berücksichtigung mehr finden soll und kann, da die Autoren dieses Beitrags selbst zu den handelnden Personen dieses Kapitels gehören.

Hans Ulrich Schmid

Historische Sprachwissenschaft im altgermanistischen Rahmen Moriz Haupt und Friedrich Zarncke Rudolf Friedrich Moriz Haupt und Friedrich Karl Theodor Zarncke waren zwei herausragende Vertreter der frühen Leipziger Germanistik, deren Bedeutung weit über ihren Wirkungsort ausstrahlte. Ihre Biographien sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Den älteren Haupt und den jüngeren Zarncke verband zunächst ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Später waren sie Kollegen, sogar Freunde – und schließlich erbitterte Gegner. In diesem Beitrag soll versucht werden, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen beiden in Leipzig wirkenden Gelehrten und ihre Bedeutung für das Fach Germanistik herauszuarbeiten, und in aller gebotenen Kürze ihre sich begegnenden und  –  wohl auf eine für beide schmerzliche Weise – wieder trennenden Lebenswege nachzuzeichnen.

1. Biographisches Moriz Haupt wurde am 27. Juli 1808 in Zittau geboren. Sein Vater war städtischer Beamter mit humanistisch-literarischen Ambitionen (1841 erschienen seine Carmina Goethii, lateinische Übersetzungen von Gedichten Goethes). Von 1821 bis 1826 besuchte der Junge das Gymnasium in Zittau und betrieb schon als Schüler Privatstudien des Althochdeutschen und des Gotischen. 1826 immatrikulierte er sich an der Universität Leipzig, begann ein Theologiestudium, das er jedoch wenig später zugunsten eines Studiums der Klassischen Philologie (bei Gottfried Hermann) abbrach. 1831 promovierte er mit einer Arbeit über die mittelalterlichen deutschen Übersetzungen der Disticha Catonis (insofern spielt auch bei ihm die antike Literatur eine bedeutende Rolle). Wenig später kehrte er in seine Heimatstadt zurück, um sich der Pflege seines an Depressionen leidenden Vaters zu widmen. Von dort aus unternahm er Reisen und knüpfte Kontakte mit namhaften Gelehrten wie Karl Lachmann (Berlin) und Hoffmann von Fallersleben (Wien), mit dem er gemeinsam die Altdeutschen Blätter herausgab. 1837 habilitierte sich Haupt an der Universität Leipzig mit einer Arbeit über Catull (Quaestiones Catullianae). Dann folgte jedoch eine entschiedene Hinwendung zur Altgermanistik mit einer beeindruckenden

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Reihe von Editionen.¹ 1841 wurde Haupt zum Außerplanmäßigen Professor der Universität Leipzig ernannt, im Jahr darauf heiratete er Louise Hermann, die Tochter seines einstigen akademischen Lehrers. 1843 erfolgte die Ernennung zum Ordentlichen (Gründungs-)Professor für Deutsche Sprache und Literatur. Im Revolutionsjahr 1848 wurde Haupt zum Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig gewählt, im selben Jahr auch zum Korrespondierenden Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Im folgenden Jahr musste er sich zusammen mit seinen Kollegen Theodor Mommsen und Otto Jahn gegen Anschuldigungen im Zusammenhang mit der Märzrevolution verteidigen. Alle drei wurden zwar freigesprochen, dennoch erfolgte 1851 die Amtsenthebung. In diesem Jahr verstarb in Berlin Karl Lachmann, auf dessen Lehrstuhl für Römische Philologie Moriz Haupt 1853 berufen wurde. 1853 erfolgte die Wahl zum Ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1861 zum Sekretar der Philosophisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften. 1871 erhielt Moriz Haupt den Orden pour le mérite. Er starb am 5. Februar 1874 in Berlin.² Der Jüngere, Friedrich Zarncke, wurde am 7. Juli 1825 im mecklenburgischen Zahrensdorf geboren. Sein Vater war Pastor und gleichzeitig Lehrer an einem Rostocker Gymnasium. Bei ihm erhielt Friedrich Unterricht bis zur Untersekunda (die in etwa der heutigen 10. Klasse entspricht). 1844 legte er das Abitur ab, im folgenden Jahr begann er ein altphilologisches Studium in Leipzig, wo ihn Moriz Haupt als Famulus einstellte (heute hieße das Studentische Hilfskraft). 1845 wechselte Zarncke nach Berlin, studierte bei Lachmann und kam durch Haupts Vermittlung auch in Kontakt mit den Grimms. Die Promotion (mit einer vergleichenden Arbeit über Sophokles und Shakespeare) erfolgte 1847 allerdings in Rostock. 1848 trat er in die Dienste des Freiherrn Hartwig Gregor von Meusebach, dessen Bibliothek mit reichen Beständen an Handschriften, Inkunabeln und Frühdrucken er zu inventarisieren hatte. 1850 kehrte Zarncke wieder nach Leipzig zurück und begründete hier das Literarische Centralblatt für Deutschland. Im Jahr 1852 habilitierte er sich mit einer Arbeit über die Disticha Catonis und hielt im Rahmen seines Verfahrens eine Probevorlesung über die Beziehungen der französischen und provenzalischen Literatur zur deutschen. 1853 nahm er zusammen mit dem Göttinger Kollegen Wilhelm Müller die lexikographischen Arbeiten an dem von Friedrich Benecke hinterlassenen mittelhochdeutschen Wörterbuchmaterial auf. 1854 wurde Zarncke zum Privatdozenten ernannt. Als solcher übernahm er die Aufgaben des suspendierten Moriz Haupt. Gleichzeitig wurden die Arbeiten

1 Siehe Absatz 3. 2 Zur Person Moriz Haupts vgl. Becker (1969) und Wenzel (2000), S. 41–46.

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am Mittelhochdeutschen Wörterbuch fortgeführt. 1863 erschien der Band M bis R. Zarncke war nicht mit derselben Exklusivität wie Haupt Altgermanist: 1865 erschienen verschiedene Studien über Lessing, Goethe und Schiller, 1874 seine umfangreiche Sammlung von Goethebildnissen.³ Von 1869 bis 1871 und erneut 1881/82 war Zarncke Rektor der Universität Leipzig. 1888 erfolgte die Wahl zum Vorsitzenden der Philologisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig. Friedrich Zarncke starb am 15. Oktober 1891.⁴

2. Moriz Haupt und Friedrich Zarncke als Klassische Philologen Beide Gelehrte begannen ihre wissenschaftliche Laufbahn noch nicht in der Germanistik, die erst im Begriff war, sich als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, sondern in der Klassischen Philologie. Bei Haupt blieb das altphilologische Interesse zeitlebens erhalten. Zarncke wandte sich stärker der Germanistik zu. Beide studierten – nach einem jeweils rasch abgebrochenen Theologiestudium – bei Gottfried Hermann, der an Moriz Haupt dessen große Belesenheit, Gelehrsamkeit, seinen Scharfsinn, seinen gefälligen Stil und seine Bescheidenheit rühmte. Hermann selbst war Begründer einer Societas Graeca. Parallel dazu gründete Haupt 1838 die Societas Latina. Eine Reihe von kleineren Studien, die in den dreibändigen Opuscula (Leipzig 1875–1876) erschienen sind, gibt Zeugnis von einer immensen thematischen Breite und wissenschaftlichen Produktivität. In seiner frühen Schaffensphase besorgte Haupt Editionen der Germania von Tacitus, eine Sammeledition von Catull, Tibull und Properz, ferner Ausgaben von Vergil, Ovid und weiteren klassischen Autoren. Zu Haupts altphilologischen Leistungen schreibt sein Biograph Wilhelm Scherer in der Allgemeinen deutschen Biographie: Darin enthüllt sich ein staunenswerther Reichthum litterarhistorischer Anschauung und eine verblüffende, dem Verfasser in unvergleichlicher Weise gegenwärtige Gelehrsamkeit. Das im Anhange gegebene Verzeichniß von Schriftstellern, die er textkritisch behandelt hat, umfaßt beinahe die gesammte griechische und lateinische Litteratur, die Neulateiner eingeschlossen […]. Haupt’s Interesse scheint allgegenwärtig. Er verfährt nach dem Grund-

3 Abhandlungen der Philologisch-historischen Classe der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 11/1890. 4 Zur Person Friedrich Zarnckes vgl. Lyon (1891), S. 721–730; Vogt (1893), S. 71–90. Dieser Beitrag enthält eine Kurzbiographie und auch ein Verzeichnis aller Schriften von Friedrich Zarncke. Außerdem Sievers (1898), S. 700–706; Zarncke (1930), S. 420–432; Große (1965), S. 49–55.

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satze, den er einmal aufstellt […]. ‚Die Philologie verachtet wie die Botanik kein Unkraut.‘ Demgemäß fördert er mit philologischer Sorgfalt sogar das Testament des Schweinchens, das Buch von den Wundern, das von den Paradiesesflüssen, das griechische Kräutergedicht, griechisch-lateinische Uebersetzungs- und Gesprächsbücher zu Tage. Nimmt man zu dem Eigenen das, was er den Arbeiten Anderer an Textbesserungen und gelehrten Nachweisen, tactvollen Winken, maßgebenden Rathschlägen beigesteuert hat, so erhebt sich das Bild einer Thätigkeit, welche an die Wirkungen gewaltiger Naturkräfte erinnert. ⁵

Haupts Schüler Friedrich Zarncke hat ebenfalls noch bei Gottfried Hermann, später in Berlin bei Lachmann Altphilologie studiert. Er habilitierte sich gewissermaßen an der Schnittstelle von Altphilologie und Germanistik, nämlich mit einer Arbeit über die mittelalterlichen deutschen Übersetzungen der Disticha Catonis. Insofern spielt auch bei ihm die antike Literatur eine bedeutende Rolle. Wie Haupt, so hat auch Zarncke in großem Umfang lateinische Texte ediert und erforscht, allerdings nicht ausschließlich Texte der klassischen Antike, sondern auch Dokumente der humanistischen Universitätskultur. Das Inhaltsverzeichnis zum Quellenwerk⁶ über die deutschen Universitäten im Mittelalter enthält unter dem Sammelthema Quaestiones fabulosae folgende Titel: – Jodocus Gallicus, Monopolium des Leichtschiffs – Bartholomäus Gribus, Monopolium der Schelmenzunft – Jacob Hartlieb, De fide meretricum – Paul Olearius, De fide concubinarum – Johannes Schramm, Monopolium der Schweinezunft – De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda Darüber hinaus sind enthalten ein Libellus formularis Lipczensis und Dokumente zur Leipziger Schusterfehde im Jahr 1471. Es handelt sich also, wie schon der Blick auf das Inhaltsverzeichnis verrät, nicht um Dokumente des trocken-akademischen Lebens, auch nicht um ausschließlich lateinische Texte, sondern um eine durchaus vergnügliche lateinisch-deutsche Mixtur. Im selben Jahr erschienen Die urkundlichen Quellen zur Geschichte der Universität Leipzig in den ersten 150 Jahren ihres Bestehens. 1859 folgten die Acta rectorum studii Lipsiensis, 1861 Die Statutenbücher der Universität Leipzig aus den ersten 150 Jahren ihres Bestehens.

5 Scherer (1880), S. 74–75. 6 Zarncke (1857).

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3. Moriz Haupt und Friedrich Zarncke als Germanisten – und der „Nibelungenstreit“⁷ Die Mitte und die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die große Zeit altgermanistischer Editionen und damit verbunden textkritischer Studien. In beiden Bereichen haben Haupt und Zarncke Bahnbrechendes geleistet. Dabei war Haupt nicht ausschließlich, aber von der Gewichtung her eher der Editor, Zarncke eher der Textkritiker. Eine Reihe kritischer Textausgaben, die in hohen Auflagen heute noch Standard sind, geht auf Haupt und Zarncke zurück. Moriz Haupt besorgte folgende Ausgaben: 1839 Hartmann von Aue, Erec, 1840 Rudolf von Ems, Der guote Gerhart, 1842 Hartmann von Aue, Lieder und Armer Heinrich, 1844 Konrad von Würzburg, Engelhard, 1845 Winsbeke und Winsbekin, 1851 Gottfried von Neifen, 1852 die 3. Auflage von Lachmanns Nibelungenlied-Edition, 1858 Neidhard-Lieder, 1867 die 4. Auflage von Lachmanns Nibelungenlied-Edition, 1871 Moritz von Craûn. Friedrich Zarncke brachte 1854 Sebastian Brants Narrenschiff heraus, 1856 den C-Text des Nibelungenliedes, eine Edition, die eine Reihe von Neuauflagen erlebte. Diese Arbeit war auch die Ursache für den Bruch zwischen Haupt, dem Lehrer, und Zarncke, dem Schüler. Was war geschehen? Der damalige Papst der Editionswissenschaft und Textkritik, Karl Lachmann, hatte die Ansicht vertreten, das Nibelungenlied, so wie es in einer Anzahl von Handschriften überliefert ist, sei wie Homers Ilias aus einer Kombination von ursprünglich selbständigen Einzelliedern hervorgegangen. Dabei stützte er sich auf Wiederholungen und andere Ungereimtheiten in der Handlungsdarstellung, aber auch auf formale Kriterien. Im Jahre 1826 erschien Lachmanns Nibelungenausgabe „in der ältesten Gestalt“, wie es im Titel⁸ heißt. In einer Untersuchung von 1836 glaubte der Herausgeber genau zwanzig ursprünglich separate Einzellieder feststellen zu können, die erst von einem späteren Redaktor zum Großepos zusammengefügt worden seien. Am nächsten kam der Urredaktion Lachmann zufolge die Hohenems-Münchner Handschrift A. Diese Handschrift legte er folgerichtig dann seiner Ausgabe von 1826 zugrunde. Ihr gegenüber stellten, so Lachmann, die St. Galler Handschrift B und der Donaueschinger (jetzt Karlsruher) Codex C jüngere, glättende Bearbeitungsstufen dar. Selbst vom gesamten Stro-

7 Einen Überblick über die beteiligten Personen und ihre Standpunkte gibt Ehrismann (1986). Vgl. ferner Hoffmann (1992), S. 7–12 sowie Kofler (1998). 8 Der Nibelungen Not mit der Klage. In der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der gemeinen Lesart (Lachmann (Hrsg.) 1826).

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phenbestand der von ihm favorisierten Hs. A kennzeichnete Lachmann in seiner Ausgabe von 1841 stattliche 879 Strophen als unecht, nur 1437 als echt. Nur diese sollten die ursprünglich selbständigen Lieder repräsentieren. Die anderen waren für Lachmann später hinzugedichtetes Beiwerk, gewissermaßen Klebstoff zwischen und Tünche über den alten Einzelliedern, die es herauszupräparieren galt. Gegen diese Ansicht wandte sich vehement der Heidelberger Indologe Adolf Holtzmann. Er sprach sich für die Einheitlichkeit der Dichtung und einen einzigen Verfasser aus, glaubte allerdings, diesen ins 10. Jahrhundert datieren zu können. Die überlieferten Textgestalten in A, B, C seien späte Abkömmlinge. Zu Lachmann schreibt Holtzmann im Vorwort zu seinen Untersuchungen zum Nibelungenlied: Vielleicht scheint es manchem, dass ich gegen einen so bedeutenden Mann wie Lachmann war, zumal nach seinem Tode, die schuldige Rücksicht verletzt habe, indem ich den Widerspruch trocken hinstelle, ohne ihn mit den herkömmlichen Lobeserhebungen und Ausrufungen der Bewunderung einzuhüllen. Aber ich sehe keinen Grund, jetzt zurückzuhalten, was ich viel lieber und dann viel schärfer dem Lebenden gegenüber ausgesprochen haben würde; und ich gestehe es, dass ich bei Lachmann, dessen Verdienste meiner Anerkennung nicht bedürfen, einen Ton herrschend finde, der mein Gefühl (um auch einmal vom Gefühl zu sprechen) verletzt. Wie ein Unfehlbarer aufzutreten, in geheimnisvollen Winken seine Weisheit entrathen zu lassen, statt der Beweise Schmähungen vorzubringen, das sollte nie und nirgends, auch dem größten Gelehrten nicht gestattet sein; und dass es unter uns möglich war, einen solchen Ton auch nur anzuschlagen, und gar Erfolge damit zu haben, das gereicht der Bildung unserer gelehrten Welt nicht zur Ehre.

Der Ton wurde im Anschluss daran freilich noch erheblich schärfer, und Holtzmann selbst hatte daran großen Anteil. Friedrich Zarncke – und das ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung – schlug sich auf Holtzmanns Seite und legte seiner Ausgabe die Hs. C zugrunde (Karl Bartsch und Wilhelm Braune ihren Editionen B). Zarncke stützte in einer Rezension Holtzmanns in seinem Literarischen Centralblatt für Deutschland dessen Argumentation, soweit sie die Priorität von C betrifft. Weitere Holtzmannsche Hypothesen machte er sich allerdings nicht zu eigen. Weitere Gelehrte bezogen in der Auseinandersetzung, die sich nun zum „Nibelungenstreit“ auswuchs, Stellung. Heftig Partei für Lachmann ergriff Karl Müllenhoff, der dessen Auffassung um weitere Hypothesen zusätzlich vermehrte und mit üblen und gehässigen Ausfällen gegen Holtzmann und Zarncke nicht sparte. Holtzmann seinerseits setzte den Streit in seiner Schrift Kampf um der Nibelunge Hort gegen Lachmanns Nachtreter (1855) fort und attackierte darin auch Moriz Haupt – einen dieser Nachtreter (heute würde man Nachbeter sagen) Lachmanns. Moriz Haupt als einstiger Freund und Nachfolger Karl Lachmanns verstand sich als Hüter des Erbes des 1851 Verstorbenen. Neuauflagen von Lachmanns Ausgabe

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wurden von Haupt besorgt, ergänzt und aktualisiert. In diesen Editionen und in eigenen Arbeiten folgte Haupt dem Grundsatz Lachmanns, aus erhaltenen Handschriften ein in aller Regel nicht erhaltenes Original zu rekonstruieren. Begründungen für textkritische Entscheidungen zu geben, erachtete Haupt vielfach als überflüssig. Im Vorwort zu seiner Neuausgabe der Neidhart-Edition von Benecke schreibt er beispielsweise: „wo also meine anmerkung oder mein schweigen von beneckes ausgabe abweicht, verlange ich glauben“. Dieses Verlangen nach „Glauben“ rechtfertigte sich für ihn aus einer hohen Wissenschaftsethik. Ab 1854 gehörten Haupt und Zarncke zwei feindlichen Lagern an: Haupt dem Lachmannschen, Zarncke – wenn auch mit Einschränkungen – dem Holtzmannschen.

4. Haupts letzter Brief an Zarncke Aus dem Jahre 1854 datiert auch ein Brief Haupts an Zarncke, der sich in der Universitätsbibliothek Leipzig im Zarncke-Nachlass befindet. Allem Anschein nach ist es der letzte. Haupt verzichtet auf eine Anrede. Briefe aus den Jahren davor begannen zumeist mit „Lieber Freund“, spätere mit distanziertem „Sehr geehrter Herr“. Nun, im Juli 1854, würdigte Haupt seinen einstigen Schüler und Freund nicht einmal mehr einer solchen Anrede. Der Brief hat folgenden Wortlaut: Wenn Ihre Gesinnung gegen mich darauf beruht, daß ich ohne Mißgefühl Sie nach meiner Absetzung habe in meine Stelle eintreten sehen, so schätzen Sie zu hoch, was jeder Mann wußte, der nicht ein ganz erbärmlicher Geselle war. In meiner Seele ist keine Stelle, die solcher Kleinlichkeit Raum gäbe. Vielmehr sowie ich Sie sehr gern hätte neben mir wirken sehen, und allmählich auch wohl über mir (denn es ist ganz recht, daß junge Kräfte den alternden zuvorkommen), so habe ich mich von Herzen gefreut, daß durch meine Beseitigung doch unser Fach in Leipzig nicht verwaiste. Ich dachte damals, daß Sie in meinem Sinne fortfahren würden. Hätte ich solange ich in Leipzig war, gemerkt, daß Sie in wesentlichen Dingen auf ganz anderer Stelle stehen, so würde mich das zwar geschmerzt haben, aber meine Gesinnung gegen Sie nicht geändert. Ihre Rezension oder Anzeige des Holtzmannschen Wissens hat mich allerdings ganz eigentlich aufgebracht, und sittlich indigniert... Ich habe Ihnen seitdem Briefe geschrieben, die stark, ja grob gewesen sind, aus denen Sie aber doch, wenn Sie auch einigermaßen konnten, herausfinden konnten, wie ich es meinte. Sie haben es nicht herausgefunden, sondern schreiben mir jetzt, daß Sie mir um meines früheren Benehmens willen ‚Unverzeihliches‘ verzeihen. Ich wiederhole es, mein Verhalten gegen Sie ist gar nicht absonderlich gewesen, vielmehr müßte ich mich blamieren, wenn es anders gewesen oder ich eines anderen fähig wäre. Ihrer Verzeihung aber, zumal so formulierter, entsage ich. Was Sie wissenschaftlich Künftiges und Nachhaltiges leisten, wird mich immer freuen und kann ich es fördern, so wird es mir lieb sein. Polemisch gegen Sie aufzutreten wie Sie mir in Überschätzung Ihrer Kraft und Ihrer Kenntniß auf falschen Wegen herumzuirren scheinen, habe ich nicht die geringste Lust. Ich fühle mich zu Streitschriften sehr wenig tauglich, habe Besseres zu thun, und habe gesehen, daß

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es zwecklos und wissenschaftliche Verständigung unmöglich ist. Nach meiner Ansicht (die übrigens von der Holtzmannschen ganz unabhängig ist) bricht allerdings die Barbarei aller Orten in die deutsche Philologie ein. Ich, der ich des bescheidenen Maßes meiner Kräfte mir sehr wohl bewußt bin, werde diese Barbarei nicht hemmen. Versuchen will ich, meinen stillen Weg weiter zu gehen, und wenigstens in meinen Vorlesungen will ich suchen die Strenge wirklicher Philologie gegen die undisziplinierte Genialität den schiefen Spitzsinn, den geistlosen Notizenkram, die Naseweisheit und Hirnlosigkeit aufrecht zu halten, die lange vor Holtzmanns Albernheiten sich breit machte, obwohl dieser Herr allerdings den Gipfel des Albernen erstiegen hat. Was Sie betrifft, so thut es mir leid, daß Sie von einem Felde, wo Sie alle übertreffen und besonders Tüchtiges leisten und auch leisten würden, ich meine im 15. und 16. Jh., sich geflissentlich auf ein anderes werfen, wo Ihnen keine Lorbeeren wachsen, der Beifall der Menge aber wahrscheinlich zu Theil werden wird. Hiermit breche ich für jetzt unseren Briefwechsel ab, der weder Ihnen noch mir wohlthätig ist. Es wird ja wohl einmal eine Zeit kommen, wo die Dinge, die uns jetzt trennen, vergessen sind. Leben Sie wohl.

Aus diesen Worten spricht deutlich die persönliche Kränkung, dann aber auch das Überlegenheitsgefühl des Älteren und Lehrers, aber nicht zuletzt auch der Wunsch nach Aussöhnung. Mittlerweile ist der ganze „Nibelungenstreit“ längst Forschungsgeschichte. Die Nibelungenlied-Forschung wurde von Zarnckes Schüler Wilhelm Braune gewiss nicht zum Abschluss, wohl aber in ruhigeres philologisch-wissenschaftliches Fahrwasser gebracht.

5. Haupt und Zarncke als Zeitschriftenherausgeber Nachdem Haupt zusammen mit Hoffmann von Fallersleben von 1836 bis 1840 die Altdeutschen Blätter herausgegeben hatte, erschien im Jahr 1841 erstmals die Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur. In der älteren Forschung wird sie häufig schlicht als Haupts Zeitschrift apostrophiert. Primäre Zielsetzung waren zunächst Edition und Textkritik. Im Vorwort zum ersten Heft kündigt Haupt an: ich werde dafür sorge tragen dass hier nur würklich merkwürdiges gedruckt wird; von vielem genügt es dasein und inhalt zu wissen und es scheint mir in neuerer zeit manches altdeutsche wider verdienst gedruckt worden zu sein. Aber die bedeutsamkeit ist eine sehr verschiedene und die forderung dass auch alles schön oder unterhaltend sei lehne ich ab.⁹

9 Haupt (1841), S. V.

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Der Herausgeber behält sich also das letzte Urteil darüber vor, was überhaupt wert ist, ediert zu werden. Auch darüber, wie zu edieren ist, hat Haupt sehr genaue Vorstellungen: man legt heutzutage denen die ihre kräfte der deutschen philologie widmen oft zur last dass sie sich vornehm abschließen, ihre bücher nur für wenige geheimer lehren mitkundige leser berechnen […]. diese vorwürfe sind meist ungerecht und treffen viele der ausgezeichnetsten arbeiten nicht einmal mit einem scheine […]. nicht jeder leser hat geräth übung oder zeit genug um von dem edeln erze das taube gestein zu scheiden oder den rost zu tilgen der alte kunstwerke überzieht. das ist also eine billige forderung, dass wer leser verlangt soviel möglich lesbares bringe. die behauptung was nur in einer einzigen handschrift vorhanden sei müsse immer buchstäblich abgedruckt werden ist in solcher allgemeinheit ausgesprochen ungiltig und oft nur eine beschönigung der arbeitsscheu. man meint dadurch der sprachgeschichte zu nützen; aber tausend neue beispiele schlechter sprachformen aus späten handschriften lehren nicht mehr als hundert alte. und wem nützt es denn wenn ein herausgeber sogar die interpunction hinzuzufügen sich erlässt? höchstens ihm selbst, denn nun kann niemand sehen wie vieles er nicht verstanden hat.¹⁰

Sprachliche Erklärungen und Sachkommentare sind für Haupt überflüssiges Beiwerk. Allein die Forderung danach zeugt für ihn von „träger bequemlichkeit, leichtfertiger neugier oder dem wunsch, bald aburtheilen zu können.“¹¹ Haupt sah seine ZfdA nicht nur im Dienste der Textkritik, sondern auch der Sprachwissenschaft: In gleichem sinne meine ich dass diese zeitschrift der sprachforschung die nützlichsten dienste leisten werde wenn in ihr die betrachtung grammatischer dinge bis in das genaueste und feinste getrieben wird. es scheint mir kein geringes verdienst der bewunderungswürdigen arbeiten Jacob Grimms dass sie nirgend zweifel zurückhalten oder darauf ausgehen die untersuchung vorschnell abzuschließen, sondern überall die puncte bezeichnen oder deutlich erkennen lassen an die neue forschungen anzuknüpfen sind. die deutsche sprachforschung, die in wenigen jahren an mehr als einer stelle der classischen philologie vorausgeeilt ist und sie zur nachfolge genöthigt hat, darf das geständnis nicht scheuen dass sie vieles erst angeregt, noch nicht vollständig untersucht hat. jede neue beobachtung ist ihr willkommen und ihr gilt nichts gering.¹²

Der Inhalt des ersten Bandes von 1841 zeigt, dass Haupts Konzept umgesetzt worden ist. Enthalten sind insgesamt 40 Beiträge (das Vorwort von Haupt eingerechnet). Den größten Posten machen die Editionen aus (J. Grimm, Eine Marien-

10 Ebd. 11 Ebd., S. VI. 12 Ebd., S. VII.

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klage, K. Lachmann, Nibelungenfragmente, F. Pfeiffer, Barlaam und Josaphat, Deutung der Messgebräuche, Predigten des 12. Jahrhunderts, Zeichen des Jüngsten Gerichts, M. Haupt, Eine Margarethenlegende, die Warnung). Weitere Aufsätze befassen sich mit Textkritik (M. Haupt zum Guoten Gerhard, J.  A. Schmeller zum Ruodlieb), Etymologie (J. Grimm über Haupt [!] und Haube sowie sum, sumelich), historischer Lexikographie (W. Benecke, Über ein mittelhochdeutsches Wörterbuch, H. F. Massmann, Langobardisches Wörterbuch) und Mythologie (J. Grimm, Altfriesische Kosmogonie, W. Müller, Gefjon). Eine völlig andere Zielrichtung hatte das bei Avenarius erscheinende Literarische Centralblatt für Deutschland,¹³ das Friedrich Zarncke von 1850 (die erste Nummer erschien am 1. Oktober dieses Jahres) bis zu seinem Tode 1891 herausgab. Es handelt sich um ein Rezensionsorgan, das nicht nur sprach- und literaturwissenschaftliche Neuerscheinungen besprach, sondern auch theologische, philosophische, naturwissenschaftliche, juristische, wirtschaftswissenschaftliche und pädagogische Titel kritisch anzeigen sollte. Wie wenige Jahre davor Haupt seiner neuen ZfdA, so stellte auch Zarncke der ersten Nummer ein programmatisches Vorwort voran. Darin heißt es: Das Blatt, welches hiemit in seiner ersten Nummer vor das Publikum tritt, hat sich die Aufgabe gestellt, eine vollständige und schnelle Uebersicht über die gesamte literarische Thätigkeit Deutschlands zu vermitteln. Zu diesem Zwecke wird es jedes in Deutschland erscheinende Buch, sowie diejenigen im Auslande verlegten Werke, welche unserm Buchhandel einverleibt werden, bibliographisch möglichst genau anzeigen [...]. […] es wird ferner von allen bedeutenden wissenschaftlichen Zeitschriften eine gedrängte Uebersicht des Inhalts bringen, und endlich zu allen wichtigern Büchern, und zu solchen, deren Inhalt und Titel allein nicht erkennbar ist, erklärende Notizen und kurze Berichte liefern, deren Aufgabe es sein soll, den Leser mit dem Werke, seinem Inhalte und seiner Form nach im Allgemeinen bekannt zu machen, und die Stellung desselben zu der übrigen Literatur kurz anzudeuten. Das Erscheinen eines Blattes, welches den angegebenen Zweck verfolgt, bedarf keiner Rechtfertigung. Nur wenige Gelehrte werden so gestellt sein, um schnell und vollständig auch nur die Erscheinungen in ihrem bestimmten Fache übersehen zu können; einen schnellen Ueberblick über das Ganze der Literatur zu erlangen, ist aber mit den bisher gebotenen Mitteln durchaus unmöglich.¹⁴

Theodor Mommsen war skeptisch, was die Überlebenschancen des Unternehmens betraf, und schrieb an Otto Jahn: „Gestern haben wir […] Martins erste Hosen und das erste Centralblatt feierlich begangen; was länger hält, die Hosen oder die Zeitung, wissen die Götter“.¹⁵

13 Dazu Lick (1993). 14 Zitiert nach ebd., S. 32. 15 Zitiert nach ebd., S. 38.

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Die Skepsis war unbegründet. Wie lange Martins Hosen hielten, ist nicht überliefert. Das Centralblatt jedenfalls erschien trotz Anfeindungen und zunehmender Konkurrenz (u. a. durch Argo, das von Theodor Fontane herausgegeben wurde) jeden Samstag bis zu Zarnckes Tod und darüber hinaus. Zarncke selbst betätigte sich über Jahrzehnte als Herausgeber, Redakteur und Rezensent. Nach dem Tod des Vaters führte zunächst der Sohn Eduard Zarncke das Centralblatt weiter. In der Nummer vom 24. Oktober 1891 erschien denn auf der ersten Seite auch eine Art Nachruf auf Zarncke: Am 15. October früh 2 Uhr verschied nach fast vierwöchigem schweren Krankenlager der Begründer und bisherige Herausgeber und redacteur dieses Blattes Friedrich Zarncke. Länger denn 40 Jahre hat er es allein geleitet, mit der Kraft und Frische eines Jünglings, sich niemals Rast noch Ruhe gönnend. Die Sorge für sein Centralblatt hat ihm immer am meisten am Herzen gelegen, sie ließ ihn nicht ausruhen, auch wenn die anderen Gebiete seiner vielseitigen und mühevollen Thätigkeit ihm eine kurze Erholung hätten gestatten können.

6. Haupt, Zarncke und die Wörterbücher Moriz Haupt ist zwar nicht selbst als Lexikograph hervorgetreten, reiste jedoch im April 1838 zusammen mit den Verlegern Salomon Hirzel und Karl Reimer nach Kassel, um mit Jacob und Wilhelm Grimm Beratungen über das Projekt eines umfassenden Deutschen Wörterbuchs aufzunehmen. Noch im selben Sommer kam Jacob Grimm seinerseits nach Leipzig und trug sich wohl sogar mit dem Gedanken, dorthin überzusiedeln (wozu es aber bekanntlich nicht gekommen ist). Im Vorwort zum 1. Band wird Moriz Haupt auch unter den Personen genannt, die dem Wörterbuch in irgendeiner Weise zuarbeiteten.¹⁶ Friedrich Zarncke war – anders als Moriz Haupt – nicht nur Initiator oder Mitinitiator eines Wörterbuchunternehmens, sondern auch praktizierender Lexikograph. Bis heute ist das Mittelhochdeutsche Wörterbuch von Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke nicht (jedenfalls nicht zur Gänze) ersetzt. Von Zarncke stammt der Band mit den Buchstaben M bis R. Eine Erkrankung an Tuberkulose hinderte ihn daran, auch den umfangreichen Buchstaben S zu bearbeiten.

16 Vgl. DWB I, LXVII.

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7. Haupt und Zarncke als Universitätslehrer Moriz Haupt wurde auf Initiative von Gottfried Hermann und ohne sein Wissen 1841 zum Extraordinarius (heute würde man sagen apl. Prof.) ernannt. Zwei Jahre später, zum Wintersemester 1843, wurde er der erste Ordinarius für Deutsche Sprache und Literatur, hielt aber weiterhin auch Vorlesungen in beiden Fächern.¹⁷ In seinem ersten Semester als Ordinarius las Haupt über Catull und das Nibelungenlied. 1844 führte er eine Doppelvorlesung über Nibelungenlied und Ilias durch. Hintergrund war die Vorstellung, dass es zu unterschiedlichen Zeiten, aber auf vergleichbaren Kulturstufen, so etwas wie eine ‚Naturgeschichte des Epos‘ gebe. Die Ära Haupt währte in Leipzig genau zehn Jahre. Sie endete mit seiner Amtsenthebung 1851. Gegenstände seiner Vorlesungen waren im Bereich der Klassischen Philologie neben Catull auch Horaz, Persius, Lukrez, Plautus, Terenz, ferner die griechischen Autoren Aeschylos, Sophokles, Aristophanes und Theokrit. Gleichzeitig las Haupt im Rahmen seiner germanistischen Lehrtätigkeit über Minnesang, Parzival, Nibelungen und Kudrun. Zusätzlich zu solchen werk- oder autorenbezogenen Vorlesungen las Haupt auch über klassisch-antike und ältere deutsche Literaturgeschichte, über deutsche Grammatik – was natürlich hieß historische Grammatik – und mehrmals auch über altfranzösische Grammatik. Nach dem Weggang aus Leipzig nach Berlin änderte sich sein Schwerpunkt in der Lehre: Die Germanistik hat Haupt zwar nie aufgegeben (in Berlin wiederholte er die Parallelvorlesung über Ilias und Nibelungenlied), doch vertrat er dort stärker als in Leipzig die Klassische Philologie. Friedrich Zarncke übernahm 1854 die seit 1851 vakante Professur von Moriz Haupt. Am 28. Juli hielt er seine Antrittsvorlesung über das Nibelungenlied, in der er für Holtzmann und gegen Lachmann Stellung nahm. Am 29. September 1858 wurde er wie sein Vorgänger Moriz Haupt zum Ordentlichen Professor ernannt. Zarncke – nicht Haupt – ist damit auch der eigentliche Gründungsordinarius des Deutschen Seminars (damit auch des heutigen Germanistischen Instituts), denn auf seine Initiative vom 6. August 1873 hin erfolgte schon am 15. September eine entsprechende Verordnung, und am 7. November 1873 wurde „das Königliche Deutsche Seminar an der Universität Leipzig“ eröffnet. In der Folge gehörten dem neuen Seminar bzw. Institut als Extraordinarii vorübergehend Wilhelm Braune, Anton Philipp Edzardi und Karl von Bahder an. Der Name des vielleicht bedeutendsten Zarncke-Schülers Eduard Sievers sei hier nur erwähnt (siehe dazu den Beitrag von Günther Öhlschläger in diesem Band).

17 Vgl. Belger (1879).

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Von 1873 bis zu seinem Tod 1891 war Zarncke ununterbrochen Institutsdirektor (also auch gleichzeitig mit seiner dritten Amtszeit als Rektor 1881/82). In der Lehre deckte er das Fach Germanistik (nicht nur Sprachwissenschaft) in seiner ganzen damaligen Breite ab: Er hielt Vorlesungen über das Gotische, Altnordische, über historische Grammatik mit dem besonderen Schwerpunkt Wortbildung. Im Bereich Literaturwissenschaft lag sein Schwerpunkt natürlich auf Mittelalter und früher Neuzeit, doch bot er auch Vorlesungen über Goethe an.

8. Moriz Haupt, Friedrich Zarncke und die neuere deutsche Literatur Haupt und Zarncke haben jeweils auf sehr verschiedene Weise auch mit der neueren deutschen Literatur zu tun: Zarncke als Germanist, Haupt jedoch ganz anders, nämlich als Romanfigur. Friedrich Zarncke schrieb über Goethes Leben und Werke, über die Faustdichtung vor Goethe sowie über den fünffüßigen Jambus bei Lessing, Schiller und Goethe. Von ihm stammt eine umfängliche Akademieschrift über Goethebildnisse mit einem reichhaltigen Tafelanhang. Moriz Haupt hat sich in Forschung und Lehre nicht um die neuere deutsche Literatur gekümmert. Er ist aber auf andere Weise mit der zeitgenössischen Literatur verbunden, denn in dem Roman Die verlorene Handschrift seines Freundes Gustav Freytag trägt die Hauptfigur Professor Felix Werner Züge Moriz Haupts. Dass sich hinter seinem Adlatus, im Roman meist nur „der Doktor“ genannt, Friedrich Zarncke verbirgt, ist möglich, aber ungewiss. Bei Freytag sind ein Professor und sein Adlatus, der „Doktor“, hinter einer Handschrift der Germania von Tacitus her, die angeblich im Gemäuer eines alten Gutshofes verborgen liegt. Sie fahren dorthin und werden vom Gutsherrn, der mit solchem Unsinn wie Philologie und Altertumswissenschaft nichts am Hute hat, zunächst ziemlich kühl empfangen. Die beiden gelehrten Herren bleiben aber ein paar Tage am Ort, und dem Landwirt werden die beiden Fremden zunehmend sympathisch. Der ältesten Tochter – sie heißt Ilse – wird der Professor sogar mehr als sympathisch. Eines schönen Sommerabends sitzt man zusammen in einer Gartenlaube (wo auch sonst?). Während der etwas jüngere „Doktor“ mit Ilses kleineren Geschwistern herumtollt, klärt der Professor den Gutsherrn über den Nutzen der Geisteswissenschaften auf. Dabei könnte durchaus einiges zum Ausdruck kommen, was dem Wissenschaftsethos Moriz Haupts entsprochen haben mag. Prof. Felix Werner, der Haupts Züge trägt, führt nämlich Folgendes aus:

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Gerade jetzt ist man eifrig bemüht, was in der Arbeitsstube des Gelehrten gefunden wird, auch dem Volke zugänglich zu machen. Daß dafür nach mancher Richtung noch mehr geschehen sollte, leugne ich nicht. Aber zu allen Zeiten hat ernste wissenschaftliche Forschung, selbst wenn sie zunächst nur einem sehr kleinen Kreise verständlich ist, ganz unsichtbar und in der Stille Seele und Leben des gesamten Volkes beherrscht. Sie bildet die Sprache, sie richtet die Gedanken, sie formt allmählich Sitte, Rechtsgefühl und Gesetz nach den Bedürfnissen jeder Zeit. Nicht nur die praktischen Erfindungen und der steigende Wohlstand werden durch sie möglich, auch, was Ihnen nicht weniger wichtig erscheinen wird, die Gedanken des Menschen über sein eigenes Leben, die Art, wie er seine Pflichten gegen andere übt, der Sinn, in welchem er Wahrheit und Lüge auffaßt, das alles verdankt jeder von uns der Gelehrsamkeit seines Volkes, wie wenig er sich auch um die einzelnen Forschungen kümmern möge. Und lassen Sie mich einen alten Vergleich gebrauchen. Die Wissenschaft ist wie ein großes Feuer, das in einem Volke unablässig unterhalten werden muß, weil ihm Stahl und Stein unbekannt sind. Ich gehöre zu denen, welche die Pflicht haben, immer neue Scheite ins Feuer zu werfen. Andere haben die Aufgabe, die heilige Flamme durch das Land, in Dörfer und Hütten zu tragen. Jeder, der an der Verbreitung des Lichtes arbeitet, hat sein Recht, und keiner soll vor dem anderen gering denken.‘ ‚Darin liegt Wahrheit‘, sagte der Landwirt aufmerksam.¹⁸

Literatur Abhandlungen der Philologisch-historischen Classe der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 11 (1890). Becker (1969): Carl Becker, „Haupt, Rudolph Friedrich Moriz“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 8, Berlin 1969, S. 101–102. Belger (1879): Christian Belger, Moriz Haupt als Academischer Lehrer. Mit den Bemerkungen Haupts zu Homer, den Tragikern, Theokrit, Plautus, Catull, Properz, Horaz, Tacitus, Wolfram von Eschenbach und einer biographischen Einleitung, Berlin 1879. Ehrismann (1986): Otfrid Ehrismann, Nibelungenlied 1744–1920. Regesten und Kommentare zu Forschung und Rezeption, Gießen 1986. Freytag (1923): Gustav Freytag, Die verlorene Handschrift, 2 Bde., Berlin, Leipzig 1923. Große (1965): Rudolf Große, „Friedrich Zarncke (1825–1891)“, in: Bedeutende Gelehrte in Leipzig, zur 800-Jahr-Feier der Stadt Leipzig im Auftrag von Rektor und Senat der Karl-Marx-Universität hrsg. von Max Steinmetz, Bd. I, Leipzig 1965, S. 49–55. Haupt (1841): Moriz Haupt, „Vorwort“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 1 (1841), S. I. Hoffmann (1992): Werner Hoffmann, Nibelungenlied, 6. Auflage Stuttgart, Weimar 1992. Kofler (1998): Walter Kofler, „Das Ende einer wunderbaren Freundschaft. Der Briefwechsel Holtzmann – Pfeiffer – Zarncke – Bartsch“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 127 (1998), S. 247–270. Lachmann (Hrsg.) (1826): Karl Lachmann (Hrsg.), Der Nibelungen Not mit der Klage. In der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der gemeinen Lesart, Berlin 1826.

18 Freytag (1923), Bd. 2, S. 73.

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 Hans Ulrich Schmid

Lick (1993): Thomas Lick, Friedrich Zarncke und das „Literarische Centralblatt für Deutschland“, Wiesbaden 1993. Lyon (1891): Otto Lyon, „Friedrich Zarncke“, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 5 (1891), S. 721–730. Vogt (1893): Friedrich Vogt, „Friedrich Zarncke“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 25 (1893), S. 71–90. Wenzel (2000): Edith Wenzel, „Moriz Haupt (1808–1874)“, in: Christoph König / Hans Harald Müller / Werner Röcke (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin, New York 2000, S. 41–46. Scherer (1880): Wilhelm Scherer, „Haupt, Moritz“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 11, Leipzig 1880, S. 72–80. Sievers (1898): Eduard Sievers, „Zarncke, Friedrich“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 44, Leipzig 1898, S. 700–706. Zarncke (1930): Eduard Zarncke, „Friedrich Zarncke“, in: Sächsische Kommission für Geschichte (Hrsg.), Sächsische Lebensbilder, Bd. 1, Dresden 1930, S. 420–432. Zarncke (1857): Friedrich Zarncke, Die urkundlichen Quellen zur Geschichte der Universität Leipzig in den ersten 150 Jahren ihres Bestehens, Leipzig 1857.

Günther Öhlschläger

Eduard Sievers und die Junggrammatiker 1. Eduard Sievers, der 1892 als Nachfolger von Friedrich Zarncke auf die ordentliche Professur für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Leipzig berufen wurde und der dieses Amt dreißig Jahre – bis 1922 – innehatte, war einer der bedeutendsten Junggrammatiker, ein Vertreter jener Richtung also, die seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Leipzig aus die Sprachwissenschaft für mehrere Jahrzehnte dominierte und Leipzig zum Zentrum der sprachwissenschaftlichen Welt machte: Nicht wenige der bedeutendsten Sprachwissenschaftler des 20. Jahrhunderts – ich nenne nur die Namen von Ferdinand de Saussure, Leonard Bloomfield, Nikolai Trubetzkoy, Jean Baudouin de Courtenay, Lucien Tesnière – studierten bei den Junggrammatikern in Leipzig. Da drei der sechs zentralen Vertreter der junggrammatischen Richtung Germanisten waren, die u. a. bei Friedrich Zarncke studiert und alle bei ihm promoviert und sich habilitiert haben – Hermann Paul, Wilhelm Braune und eben Eduard Sievers –, kommt der junggrammatischen Richtung eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Leipziger Germanistik zu, auch wenn diese Richtung institutionell erst durch die Berufung von Eduard Sievers 1892 in der Germanistik verankert war – wenn man von den drei Jahren absieht, die Wilhelm Braune von 1877 bis 1880 als Extraordinarius tätig war; Friedrich Zarncke selbst war ja kein Junggrammatiker, sondern stand eher in einer gewissen skeptischen Distanz zu ihnen. Die junggrammatischen Zentren in Leipzig waren bis zur Berufung von Eduard Sievers die Slavistik – mit August Leskien – sowie die Indogermanistik – mit Karl Brugmann; beide lehrten vierzig Jahre in Leipzig. Der Indogermanist Hermann Osthoff – um die Reihe der sechs zentralen Junggrammatiker zu vervollständigen – war nur einige Jahre in Leipzig tätig; er nahm schon 1877 einen Ruf auf eine Professur in Heidelberg an, die er bis zu seinem Tod 1909 innehatte.¹ 1 August Leskien (1840–1916) war von 1870 an zuerst außerordentlicher, ab 1876 bis zu seinem Tod ordentlicher Professor für Slavistik, Karl Brugmann (1849–1919) habilitierte sich 1877 in Leipzig und war nach drei Jahren in Freiburg (1884–1887) bis 1919 Ordinarius für Indogermanistik, Hermann Osthoff (1847–1909) habilitierte sich 1875 in Leipzig und lehrte bis zu seiner Berufung nach Heidelberg als Privatdozent. Nähere Informationen zu Brugmann und Osthoff finden sich – außer in den üblichen biographischen Nachschlagewerken – u. a. in Einhauser (1989), S. 31–36 bzw. S. 26–31. Verwiesen sei auch auf die Beiträge zu Leskien, Osthoff und Brugmann in Sebeok

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 Günther Öhlschläger

Die bedeutende Rolle, die die junggrammatische Richtung in der Geschichte der Leipziger Germanistik spielt, ist der wichtigste Grund, warum ich – bevor ich näher auf Eduard Sievers eingehe – im ersten Teil meines Beitrags einige Bemerkungen zu den Junggrammatikern machen möchte. Es kommt hinzu, dass das Spezifische von Eduard Sievers, seine Position innerhalb der junggrammatischen Richtung vor diesem allgemeinen Hintergrund deutlicher herausgearbeitet werden kann, und schließlich wird dadurch auch ein weiterer Traditionsstrang sichtbar, der in der Geschichte der Germanistik im Allgemeinen wie auch in der Geschichte der Leipziger Germanistik im Besonderen neben der auf die Klassische Philologie zurückgehenden Traditionslinie² von großer Bedeutung ist: die zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandene, vor allem von Jacob Grimm, Franz Bopp und Rasmus Rask begründete historisch-vergleichende Sprachwissenschaft. Ausgehend von der 1786 von William Jones erstmals vorgetragenen Hypothese, dass das Sanskrit, das Griechische, das Lateinische sowie die anderen europäischen Sprachen eine gemeinsame Quelle haben, gelang es insbesondere Grimm, Bopp und Rask, durch den historisch orientierten Vergleich verschiedener Sprachen – vor allem im Hinblick auf ihre lautlichen und morphologischen Eigenschaften – den Nachweis der genetischen Verwandtschaft der – wie man sie nannte – indogermanischen Sprachen³ zu erbringen. Sie kamen dabei zu z. T. bis heute gültigen Erkenntnissen – ich nenne hier nur als wohl bekanntestes Beispiel die erste Lautverschiebung, die in den angelsächsischen Ländern noch heute als Grimm’s Law bezeichnet wird.⁴ Während für Jacob Grimm die Beschäftigung mit der Sprache eng mit der Erforschung der älteren deutschen bzw. germanischen Literatur und Kultur im weiten Sinne verbunden war, verselbständigte sich – insbesondere bei Franz Bopp – die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache, genauer, besser, aber auch etwas parteiisch formuliert: emanzipierte sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache als Sprachwissenschaft von ihrer dienenden, ihrer Hilfsfunktion –

(Hrsg.) (1966), Bd. 1. Zu den Junggrammatikern in Leipzig vgl. auch Steube (2009), S. 597–601, sowie zu August Leskien: Autorenteam (2009), S. 657–660. Die Auffassungen darüber, wer zur zentralen Gruppe der Junggrammatiker gehört, gehen in der Forschung auseinander – so gehört beispielsweise für Einhauser Leskien als Lehrer der Junggrammatiker nicht zu dieser Gruppe, wohl aber Berthold Delbrück (vgl. Einhauser (1989), S. 9 sowie Einhauser (2001), S. 1338–1339), während Jankowsky – außer den im Text genannten sechs Sprachwissenschaftlern – ebenfalls auch Delbrück sowie zudem noch Friedrich Kluge der engeren Gruppe der Junggrammatiker zuordnet (vgl. Jankowsky (1972), S. 127–128, sowie Jankowsky (2001b), S. 1351). 2 Vgl. hierzu Schmid (2013). 3 Heute spricht man meist von indoeuropäischen Sprachen. 4 Zum Ursprung dieser Bezeichnung vgl. Collinge (2001), S. 1217, sowie Koerner (1989), S. 309, Anm. 3.

Eduard Sievers und die Junggrammatiker 

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eine Entwicklung, die weiterführt zu August Schleicher, der den Gegensatz durch die Begriffe Philologie einerseits, Linguistik andererseits charakterisierte.⁵ Die Germanistik, genauer: die deutsche bzw. germanische Philologie, war von ihren Aufgaben her eindeutig ‚philologisch‘ geprägt, d. h. für sie war die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft nicht Selbstzweck, sondern nur – allerdings unabdingbares – Mittel bei der durch die Methoden der klassischen Philologie geprägten Beschäftigung mit älterer Literatur – und dies hieß ja im Wesentlichen Edition älterer literarischer Werke.⁶ Die Kontroversen innerhalb der deutschen Philologie, ob sich die deutsche Philologie darauf beschränken oder – in Grimms Sinne etwa – ihr Interesse (auch) auf den durch Sprache und Literatur zum Ausdruck kommenden „Volksgeist“ richten solle, ist für unseren Gegenstand nicht von Bedeutung und kann deshalb außer acht gelassen werden.⁷ Während Haupt und Zarncke dezidiert Philologen in dem erläuterten Sinne waren, ist bei den germanistischen Junggrammatikern Paul, Braune und Sievers erstmals auch innerhalb der Germanistik – und zwar nicht nur auf Leipzig, sondern generell auf die Germanistik bezogen – eine starke Tendenz zur Verselbständigung, zur Emanzipation der Sprachwissenschaft, zur Etablierung einer eigenständigen germanistischen Sprachwissenschaft festzustellen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: bei Hermann Paul und Eduard Sievers wohl wesentlich stärker als bei Wilhelm Braune. Insofern spielt dieser Abschnitt in der Geschichte der Leipziger Germanistik auch für die Fachgeschichte generell eine wichtige Rolle. Im Zusammenhang mit Eduard Sievers komme ich noch einmal auf diese Entwicklung zurück.

2. Wie die Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert generell waren auch die Junggrammatiker stark vom Vorbild der Naturwissenschaften geprägt. Während jedoch Grimm, Bopp, vor allem dann August Schleicher die Sprache als natürlichen Organismus betrachteten, der wächst, gedeiht, zur Blüte kommt und dann verfällt,⁸ 5 Vgl. zur Geschichte der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft u. a. Robins (1979), S.  164–182, Collinge (1995), Jankowsky (1996), Morpurgo Davies (1998), S.  124–225, Collinge (2001), Bynon (2001) sowie Jankowsky (2001). Zum Verhältnis der Begriffe Philologie und Linguistik vgl. Koerner (1997). 6 Vgl. hierzu auch die beiden ersten Beiträge in diesem Band: Öhlschläger / Stockinger (2013) und Schmid (2013). 7 Vgl. zur Fachgeschichte Fohrmann / Vosskamp (Hrsg.) (1994) sowie Meves (2001) und Storost (2001). 8 Vgl. die in Anm. 5 genannte Literatur.

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 Günther Öhlschläger

war für die Junggrammatiker – und dies ist eine ihrer entscheidenden Innovationen – Sprache kein natürlicher Gegenstand, kein Gegenstand der Natur mehr, sondern – von Hermann Paul besonders klar formuliert – ein kultureller Gegenstand, der nur wie natürliche Gegenstände betrachtet wird.⁹ Sprachwissenschaft ist daher in den Augen der Junggrammatiker keine Naturwissenschaft – was den Gegenstand betrifft –, sondern eine Wissenschaft, die sich naturwissenschaftlicher Methoden bedient. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Begriff Lautgesetz – sowie das in Verbindung damit stehende Postulat von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze – beides von Anfang an kontrovers diskutiert und bis heute immer wieder missverstanden. Es scheint mir deshalb sinnvoll, auf dieses Thema etwas näher einzugehen; dabei möchte ich im Wesentlichen die Junggrammatiker selbst zu Wort kommen lassen. Im Vorwort der Morphologischen Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen von Hermann Osthoff und Karl Brugmann,¹⁰ dem Manifest der Junggrammatiker – von Osthoff und Brugmann selbst als „glaubensbekenntniss“¹¹ bezeichnet – heißt es dazu: Die zwei wichtigsten von den methodischen grundsätzen der ‚junggrammatischen‘ richtung sind folgende. E r s t e n s . Aller lautwandel, so weit er mechanisch vor sich geht, vollzieht sich nach a u s n a h m s l o s e n g e s e t z e n , d. h. die richtung der lautbewegung ist bei allen angehörigen einer sprachgenossenschaft, ausser dem fall, dass dialektspaltung eintritt, stets dieselbe, und alle wörter, in denen der der lautbewegung unterworfene laut unter gleichen verhältnissen erscheint, werden ohne ausnahme von der änderung ergriffen. Z w e i t e n s . Da sich klar herausstellt, dass die formassociation, d. h. die neubildung von sprachformen auf dem wege der analogie, im leben der n e u e r e n sprachen eine sehr bedeutende rolle spielt, so ist diese art von sprachneuerung unbedenklich auch für die älteren und ältesten perioden anzuerkennen, und nicht nur überhaupt hier anzuerkennen, sondern es ist dieses erklärungsprincip auch in derselben weise zu verwerten, wie zur erklärung von spracherscheinungen späterer perioden, und es darf nicht im mindesten auffallen, wenn analogiebildungen in den älteren und ältesten sprachperioden i n d e m s e l b e n u m f a n g e oder gar i n n o c h g r ö s s r e m u m f a n g e uns entgegentreten wie in den jüngeren und jüngsten.

An anderer Stelle betonen Osthoff und Brugmann ausdrücklich, dass diese beiden Prinzipien untrennbar miteinander verbunden und dass sie nicht gleichberechtigt, sondern gestuft wirksam sind:¹² 9 Vgl. etwa Paul (1920), S. 1–22. 10 Osthoff / Brugmann (1878). 11 Ebd., S. XIX. 12 Ebd., S. XIII–XIV.

Eduard Sievers und die Junggrammatiker 

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[…] unser nach bestem willen streng eingehaltenes princip ist es, erst dann zur analogie zu greifen, wenn uns die lautgesetze dazu z w i n g e n . Auch für u n s ist die formassociation immer noch ein ‚ultimum refugium‘, der unterschied ist nur der, dass wir uns v i e l f r ü h e r und v i e l ö f t e r vor dieses gestellt sehen als die andern, eben weil wir es mit den lautgesetzen genau nehmen und weil wir der überzeugung sind, dass die kühnste annahme von analogiewirkung, wenn sie im bereich des möglichen liegt, immer noch mehr anspruch darauf hat, ‚geglaubt‘ zu werden, als willkürliche umgehungen der mechanischen lautgesetze. ¹³

Und was mit der Rede von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze gemeint ist, bringt August Leskien in der folgenden Passage aus seinem 1876 in Leipzig erschienenen Buch Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen eindeutig zum Ausdruck: Bei der Untersuchung bin ich von dem Grundsatz ausgegangen, daß die uns überlieferte Gestalt eines Kasus niemals auf einer Ausnahme von den sonst befolgten Lautgesetzen beruhe. Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich noch hinzufügen: versteht man unter Ausnahmen solche Fälle, in denen der zu erwartende Lautwandel aus bestimmten erkennbaren Ursachen nicht eingetreten ist, z. B. das Unterbleiben der Verschiebung im Deutschen in Lautgruppen wie st usw., wo also gewissermaßen eine Regel die andere Regel durchkreuzt, so ist gegen den Satz, die Lautgesetze seien nicht ausnahmslos, natürlich nichts einzuwenden. Das Gesetz wird eben dadurch nicht aufgehoben, und wirkt, wo diese oder andere Störungen, die Wirkungen anderer Gesetze, nicht vorhanden sind, in der zu erwartenden Weise. Läßt man aber beliebige, zufällige, untereinander in keinen Zusammenhang zu bringende Abweichungen zu, so erklärt man im Grunde damit, daß das Objekt der Untersuchung, die Sprache, der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht zugänglich ist. ¹⁴

M. a. W.: Natürlich gibt es Ausnahmen von den Lautgesetzen, aber auch diese müssen erklärt werden – und zwar durch andere Gesetze. Das wohl berühmteste Beispiel hierfür ist das Vernersche Gesetz, das scheinbare Ausnahmen des Grimmschen Gesetzes der ersten Lautverschiebung erklärt. Karl Verner selbst hat diese methodologische Forderung in seinem bahnbrechenden Aufsatz Eine Ausnahme der ersten Lautverschiebung¹⁵ prägnant so formuliert: Es muss eine Regel für die Unregelmässigkeit da sein; es gilt nur, diese ausfindig zu machen.¹⁶

13 Ebd., S. XVII–XVIII. 14 Leskien (1876), S. XXVIII. 15 Verner (1876/77). Karl Verner (1846–1896), ein dänischer Sprachwissenschaftler, war als Bibliothekar in Halle tätig und ging 1882 nach Kopenhagen, um dort Dozent für Slawistik zu werden. Zu näheren Informationen zu Verner sei auf Wilbur (1977), S. XXXII–XXXIII, verwiesen. Vgl. auch Jespersen (1966). 16 Verner (1976/77), S. 101.

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 Günther Öhlschläger

Schon diese wenigen Zitate machen deutlich, dass die Rede von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze als methodologisches Postulat, nicht als empirische Aussage, die widerlegt werden könnte, zu verstehen ist,¹⁷ und dass dementsprechend die Rede von Lautgesetzen nur auf die methodologische Analogie zu den Naturwissenschaften verweist, aber nicht so zu verstehen ist, als seien Lautgesetze Naturgesetze im Sinne der Naturwissenschaften.¹⁸ Darauf wird von den Junggrammatikern auch immer wieder hingewiesen. So heißt es etwa – in diesem Beitrag naheliegend – bei Eduard Sievers: Das Wort L a u t g e s e t z ist […] nicht in dem Sinne aufzufassen, in dem man von Naturgesetzen redet. Es soll nicht ausdrücken, dass unter gewissen gegebenen Bedingungen eine gewisse Folge nothwendig überall eintreten müsse, sondern nur andeuten, dass w e n n irgendwo unter gewissen Bedingungen eine Verschiebung der Articulationsweise eingetreten sei, die neue Articulationsweise nun auch ausnahmslos in allen Fällen angewendet werde, welche genau denselben Bedingungen unterliegen.¹⁹

Ähnliche Formulierungen finden sich u. a. bei Berthold Delbrück: Nicht billigen kann ich die Bezeichnung der Lautgesetze als Naturgesetze. Mit chemischen oder physikalischen Gesetzen haben offenbar diese geschichtlichen Gleichmäßigkeiten keine Ähnlichkeit. Die Sprache setzt sich aus menschlichen Handlungen zusammen, und folglich gehören die Lautgesetze nicht in die Lehre von der Gesetzmäßigkeit der Naturvorgänge, sondern in die Lehre von der Gesetzmäßigkeit der scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen.²⁰

Und bei Hermann Paul: In dem Sinne, wie wir in der Physik oder Chemie von Gesetzen reden, ist der Begriff ‚Lautgesetz‘ nicht zu verstehen. Das Lautgesetz sagt nicht aus, was unter gewissen allgemeinen Bedingungen immer wieder eintreten muß, sondern es konstatiert nur die Gleichmäßigkeit innerhalb einer Gruppe bestimmter historischer Erscheinungen.²¹

17 Wie dies in der Dialektgeographie immer wieder unterstellt wurde, in der man die These von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze widerlegt zu haben glaubte, eine Auffassung, die teilweise noch heute vertreten wird. Vgl. hierzu auch Putschke (2001). 18 Zum Streit um die Lautgesetze vgl. u. a. die ausführliche Einleitung und die Dokumentation in Wilbur (Hrsg.) (1977), die kurze Zusammenfassung in Jankowsky (2001b), S. 1354–1357, sowie die umfangreiche, aber nicht unproblematische Studie von Schneider (1973) und die einschlägigen Ausführungen in Einhauser (1989). 19 Sievers (1901a), S. 272. 20 Delbrück (1880), S. 128. 21 Paul (1880), S. 55.

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Allerdings gibt es auch missverständliche Formulierungen wie etwa in Osthoffs oft zitiertem Diktum, dass „die Lautgesetze der Sprachen geradezu blind, mit blinder Naturnotwendigkeit wirken.“²² Teilweise ist in diesem Zusammenhang die Rede davon, dass der Begriff Lautgesetz vom ursprünglichen naturgesetzlichen Verständnis bei Osthoff und Brugmann Veränderungen hin zu Paul, Delbrück und Sievers erfahren habe.²³ Ich kann dieser Frage hier nicht weiter nachgehen, denke aber, dass schon Osthoff und Brugmann Lautgesetze nicht im Sinne von Naturgesetzen verstanden haben, wenn man etwa das folgende Zitat betrachtet, das sich im Vorwort zu den Morphologischen Untersuchungen unmittelbar vor der Formulierung der zwei grundlegenden methodischen Prinzipien (Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze und Analogie) findet: Diesen principien liegt der […] unmittelbar einleuchtende gedanke zu grunde, […] dass die sprache kein ding ist, das ausser und über den menschen steht und ein leben für sich führt, sondern nur im individuum ihre wahre existenz hat […].²⁴

Es kommt hinzu, dass natürlich auch der Kontext der Äußerungen berücksichtigt werden muss – die Frontstellung der Jungen gegen die Älteren, das Pochen auf strengeres, konsequenteres Vorgehen, das zu solchen Formulierungen wie „blinde Naturnotwendigkeit“ führt. Fast von Anfang an – sicherlich nicht zuletzt aufgrund des bald einsetzenden Streits um die Lautgesetze – wurden die Junggrammatiker häufig nur mit dem Begriff Lautgesetz und dem Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze – zudem oft falsch verstanden – assoziiert. Andere zentrale Programmpunkte rückten demgegenüber in den Hintergrund und sind vielfach gar nicht mehr präsent. So betonten sie die Notwendigkeit einer sprachtheoretischen Grundlage für jegliche Sprachforschung, die Notwendigkeit, eine klare vorstellung davon […] zu haben, wie überhaupt menschliche sprache lebt und sich weiterbildet, welche factoren beim sprechen thätig sind und wie diese factoren in gemeinsamer arbeit die fortbewegung und umbildung des sprachstoffs bewirken.²⁵

Dies erkennt man nach den Junggrammatikern nur, wenn man „den sprechenden Menschen“²⁶ erforscht, wobei sie – so Osthoff und Brugmann weiter – davon aus-

22 Osthoff (1878), S. 326. 23 So bei Schneider (1973) und Putschke (1998), S. 482–486. Vgl. dazu auch Einhauser (1989), S. 218–226. 24 Osthoff / Brugmann (1878), S. XII. 25 Ebd., S. III. 26 Ebd.

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gehen, dass „der menschliche sprechmechanismus […] eine doppelte seite [hat], eine psychische und eine leibliche:“²⁷ Denn nur auf grund einer genaueren kenntniss der einrichtung und der wirkungsweise dieses seelisch-leiblichen mechanismus kann er sich eine vorstellung davon machen, was sprachlich überhaupt möglich ist […], ferner die richtige ansicht von der art und weise bekommen, wie die von den individuen ausgehenden sprachlichen neuerungen in der sprachgenossenschaft sich einbürgern, und überhaupt die methodologischen gesichtspunkte gewinnen, die ihn bei allen seinen sprachhistorischen untersuchungen zu leiten haben.²⁸

Der Sprachwissenschaftler braucht also einerseits die Lautphysiologie bzw. Phonetik als notwendige Basis – für die Beschäftigung mit der leiblichen Seite des Sprechmechanismus –, andererseits benötigt er auch die Psychologie, d. h. eine wissenschaft, welche über die wirkungsweise der p s y c h i s c h e n factoren, die bei unzähligen lautbewegungen und lauterneuerungen sowie bei aller sogenannten analogiebildung thätig sind, umfassende beobachtungen anstellt.²⁹

Diese Überlegungen zur sprachtheoretischen Fundierung der Sprachwissenschaft, d. h. – im 19. Jahrhundert – der Sprachgeschichtsforschung, führten zu der weiteren Forderung, nicht von den ältesten uns überlieferten Sprachstufen auszugehen – mit dem Ziel einer Rekonstruktion einer indogermanischen Ursprache wie noch bei Schleicher –, sondern sich der Gegenwart zuzuwenden, wenn man als vergleichender Sprachforscher „zu einer richtigen vorstellung von der art der fortentwicklung der sprache gelangen will.“³⁰ Denn in den neueren Sprachstufen einschließlich der Gegenwart hat man zum einen eine weit größere Materialgrundlage, um „den umgestaltungsprocess der sprachformen“³¹ zu verfolgen, zum andern hat man es hier „in weit höherem grade […] mit unverfälschter volksrede, mit der gewöhnlichen verkehrs- und alltagssprache zu thun,“³² mit dem „echte[n], naturwüchsige[n], reflexionslose[n] alltagssprechen“³³ – und gerade diese letztere weise der gedankenmitteilung ist aber die, die man vor sich haben muss, um den richtigen standpunkt zu gewinnen für die beurtheilung der im volksmund

27 Ebd. 28 Ebd., S. III-IV. 29 Ebd., S. IV. 30 Ebd., S. VII. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd., S. VII-VIII.

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sich vollziehenden umgestaltung der sprache und namentlich für die beurtheilung aller vorhistorischen sprachentwicklung.³⁴

Von besonderer Bedeutung sind hier die Dialekte, da eine dialektisch reich entfaltete l e b e n d e s p r a c h e [ …] von der älteren, um jahrhunderte zurückliegenden und bloss in schriftlicher wiedergabe zugänglichen sprachgestaltung noch nicht so stark sich unterscheidet, dass sie nicht ein vortreffliches correctiv abgeben könnte gegen die irrtümer, die bei blossem verlass auf diese schriftliche wiedergabe der sprechweise früherer jahrhunderte notwendiger weise vielfach unterlaufen müssten.³⁵

Die Dialekte, die „lebenden volksmundarten“ – wie Osthoff und Brugmann sie nennen – sind für die Junggrammatiker aber noch in anderer Hinsicht „von hoher bedeutung für die methodologie der vergleichenden sprachwissenschaft,“³⁶ wobei allerdings auch hier die von ihnen immer wieder betonte Notwendigkeit einer strikten Unterscheidung von Laut und Schrift eine wichtige Rolle spielt: In allen lebenden volksmundarten erscheinen die dem dialect eigenen lautgestaltungen jedes Mal b e i w e i t e m c o n s e q u e n t e r durch den ganzen sprachstoff durchgeführt und von den angehörigen der sprachgenossenschaft bei ihrem sprechen inne gehalten als man es vom studium der älteren bloss durch das medium der schrift zugänglichen sprachen her erwarten sollte; diese consequenz erstreckt sich oft bis in die feinsten lautschattierungen hinein.³⁷

Dementsprechend stellen Osthoff und Brugmann die rhetorische Frage: Wenn der sprachforscher mit eigenen ohren hören kann, wie es im sprachleben zugeht: warum zieht er es vor, sich seine vorstellungen von consequenz und inconsequenz im lautsystem einzig auf grund der ungenauen und unzuverlässigen schriftlichen überlieferung älterer sprachen zu bilden?³⁸

Nach diesem Versuch einer Zusammenfassung der wichtigsten Programmpunkte der Junggrammatiker noch kurz eine Bemerkung zum Begriff Junggrammatiker. Ob der Begriff wirklich – wie oft behauptet – von Friedrich Zarncke stammt, sei hier dahingestellt;³⁹ offensichtlich soll die Bezeichnung – zunächst eher iro-

34 Ebd., S. VIII. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd., S. IX. 38 Ebd. 39 Vgl. dazu insbesondere die detaillierten Ausführungen in Henne (1995), S. 26–30 sowie die Übersicht in Putschke (1998), S. 474.

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nisch, spöttisch, etwas abschätzig gemeint, von den Junggrammatikern selbst dann aber aufgegriffen⁴⁰ – in Anlehnung an das Junge Deutschland das Oppositionelle der neuen Richtung zum Ausdruck bringen – und nicht zuletzt wird damit auf das Alter der zentralen Vertreter der Richtung angespielt: Oft wird 1876 als das Geburtsjahr der junggrammatischen Richtung bezeichnet – Hoenigswald spricht von einem annus mirabilis⁴¹ –, da in diesem Jahr eine Reihe bedeutender, in diesem Beitrag teilweise schon genannter Arbeiten erschienen sind: August Leskiens Buch Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen,⁴² Karl Verners Aufsatz Eine Ausnahme der ersten Lautverschiebung,⁴³ Eduard Sievers’ Grundzüge der Lautphysiologie,⁴⁴ Karl Brugmanns Aufsatz Nasalis sonans in der indogermanischen Grundsprache,⁴⁵ Hermann Osthoffs Aufsatz Die Frage des Ursprungs der germanischen n-Declination⁴⁶ sowie Jost Wintelers bedeutende Arbeit Die Kerenzer Mundart des Kantons Glarus in ihren Grundzügen dargestellt.⁴⁷ Und in diesem Jahr war Leskien als der älteste 36 Jahre alt, Hermann Paul 30, Hermann Osthoff 29, Karl Brugmann 27, Wilhelm Braune und Eduard Sievers 26 Jahre alt. Ihr Hauptpublikationsorgan, die Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, wurde sogar schon 1873 von Hermann Paul und Wilhelm Braune gegründet – deshalb noch heute in der Regel als PBB (=Pauls und Braunes Beiträge) bezeichnet: der erste Jahrgang firmiert zwar unter 1874, das erste Heft erschien jedoch schon zu Ostern 1873.⁴⁸ Die Junggrammatiker waren also, als sie mit ihrem Programm und ihren bahnbrechenden Arbeiten auf den Plan traten, in der Tat junge Leute.⁴⁹

40 Osthoff / Brugmann (1878) verwenden den Begriff junggrammatische Richtung fünfmal. 41 Vgl. Hoenigswald (1978). Ähnlich auch Koerner (1976). 42 Leskien (1876). 43 Verner (1876/77). 44 Sievers (1876). 45 Brugmann (1876). 46 Osthoff (1876). 47 Winteler (1876). Jost Winteler (1846–1929), der nach seiner Promotion mit der genannten Arbeit als Lehrer in die Schweiz zurückging, hatte mit dieser Dissertation, einer minutiösen Einzelstudie eines Ortsdialekts, großen Einfluss auf Sievers sowie die Junggrammatiker generell – Osthoffs und Brugmanns Betonung der Bedeutung der Dialekte für die historische Sprachwissenschaft geht im Wesentlichen auf Wintelers Arbeit zurück. Vgl. hierzu auch Ganz (1978), S. 48–49, Kohrt (1984) sowie Putschke (2001), S. 1504–1505. 48 Zur Geschichte der PBB vgl. Henne (1995), S. 1–11 sowie Jankowsky (1983). Trotz des Titels war in den PBB die Literaturwissenschaft der Sprachwissenschaft deutlich nachgeordnet; zudem ging es im Zusammenhang mit Literatur immer nur um Philologie i. e. S., also Textkritik – vgl. auch Fromm (1978), S. 10. 49 Ausführlichere Darstellungen der junggrammatischen Positionen sowie weitere Informationen zu den Junggrammatikern finden sich u. a. in Jankowsky (1972 und 2001b), Einhauser

Eduard Sievers und die Junggrammatiker 

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3. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen zu den Junggrammatikern, zur junggrammatischen Richtung, zurück zur Germanistik. Der älteste der drei germanistischen Junggrammatiker, Hermann Paul, wurde am 7. August 1846 in Salbke bei Magdeburg als Sohn eines Maurermeisters, Kesselflickers und Materialwarenhändlers geboren, studierte nach der Schulzeit in Salbke und Magdeburg zunächst im Wintersemester 1866/67 in Berlin, u. a. bei Heymann Steinthal, dann ab dem Sommersemester 1867 bis 1870 in Leipzig – gemeinsam mit Braune und Sievers – u. a. bei dem historisch-vergleichend orientierten klassischen Philologen Georg Curtius, dem Romanisten Adolf Ebert, dem Slavisten August Leskien sowie bei Friedrich Zarncke, bei dem er 1870 Über die ursprüngliche anordnung von Freidanks Bescheidenheit promovierte sowie sich zwei Jahre später, also 1872, habilitierte, und zwar mit einer Arbeit Zur kritik und erklärung von Gottfrieds Tristan. 1872–1874 war er Privatdozent für Germanische Sprachen und Literaturen in Leipzig, 1874 verließ er Leipzig, um einen Ruf auf eine außerordentliche Professur für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Freiburg anzunehmen. 1877 wurde er in Freiburg Ordinarius für Deutsche Philologie, bis er 1893 einem Ruf als Nachfolger Matthias von Lexers nach München folgte, wo er 1916 emeritiert wurde und 1921 im Alter von 75 Jahren starb. Hermann Paul ist zweifellos einer der bedeutendsten Germanisten überhaupt; seine 1880 erstmals erschienenen Prinzipien der Sprachgeschichte, bis zur 5. Auflage von 1920 mehrfach überarbeitet und seitdem in immer neuen Auflagen erschienen, sind sicherlich einer der großen Klassiker der Sprachwissenschaft. Jedem Germanisten bekannt sind darüber hinaus seine Mittelhochdeutsche Grammatik⁵⁰ – noch heute in immer wieder neuen Überarbeitungen verwendet –, sein gleichfalls immer wieder überarbeitetes Deutsches Wörterbuch⁵¹ sowie die fünfbändige Deutsche Grammatik⁵² – von seinen zahllosen anderen Arbeiten, Aufsätzen, Rezensionen und Editionen ganz zu schweigen; außerdem war er lange Zeit Herausgeber der von ihm zusammen mit Wilhelm Braune gegründeten Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur.⁵³ Im Kreis der Junggrammatiker war er der theoretische Kopf – wozu aber wohl auch gehört, dass er die geistige Freiheit besaß, teilweise abweichende Auffassungen zu haben und

(1989 und 2001), Putschke (1969, 1998 und 2001), Wolski (1998), Robins (1979), S. 182–192, Robins (1978), Blümel (1978), Bartschat (1996), S. 13–32 sowie Morpurgo Davies (1998), S. 226–278. 50 Paul (1881). 51 Paul (1897). 52 Paul (1916–1920). 53 Vgl. Anm. 48.

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zu vertreten. Sein hier wie auch sonst in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gepflegter Stil, der durch einen klaren analytischen Blick, aber auch durch ausgeprägte Schärfe, Sarkasmus und Ironie geprägt war, war nicht jedermanns Sache und hat seiner Universitätskarriere mehr als einmal geschadet.⁵⁴ Wilhelm Braune wurde am 20. Februar 1850 in Großthiemig/Saale als Sohn eines Pfarrers geboren. Braune erhielt zunächst Privatunterricht und besuchte dann von 1864 bis 1869 die Lateinschule der Franckeschen Stiftungen in Halle. Sein Studium der Klassischen und der Deutschen Philologie absolvierte er in Leipzig – von 1869 bis 1873 – wie Paul bei Curtius, Leskien und Zarncke, hörte aber auch bei Rudolf Hildebrand und Ernst Windisch, dem Professor für Sanskrit. 1872 promovierte er mit Untersuchungen zu Heinrich von Veldeke⁵⁵ bei Friedrich Zarncke, bei dem er sich auch 1874 habilitierte – mit einer Arbeit Über die quantität der althochdeutschen endsilben.⁵⁶ Von 1874 bis 1877 war er Privatdozent für Deutsche Philologie in Leipzig und gleichzeitig Kustos an der Universitätsbibliothek, 1877 bis 1880 – wie schon erwähnt – Extraordinarius in Leipzig. 1880 bis 1888 war er Ordinarius für Deutsche Sprache und Literatur in Gießen und von 1888 bis zu seiner Emeritierung 1919 als Nachfolger von Karl Bartsch ordentlicher Professor in Heidelberg, wo er 1926 im Alter von 76 Jahren starb. Auch er hat einige, bis heute – wenn auch in Überarbeitungen – verwendete, jedem Germanisten bekannte Standardwerke verfasst: die Gotische Grammatik⁵⁷, die Althochdeutsche Grammatik⁵⁸ sowie den Abriß der althochdeutschen Grammatik. Mit Berücksichtigung des Altsächsischen;⁵⁹ außerdem hat er 1875 erstmals das Althochdeutsche Lesebuch⁶⁰ herausgegeben, das zuletzt in der 17. Auflage 1994 erschienen ist. Darüber hinaus liegen auch von ihm zahlreiche – meist in PBB veröffentlichte – Aufsätze vor. Im Unterschied zu Hermann Paul waren Braune theoretische Überlegungen eher fremd, er war sicherlich auch der am wenigsten dezidierte Sprachwissenschaftler unter den drei germanistischen Junggrammatikern, sondern eher ein solider, aber außerordentlich kenntnisreicher und urteilssicherer Philologe und Sprachwissenschaftler, der sich selbst, wie Hans Fromm

54 Zu Hermann Paul vgl. u. a. Reis (1978), Einhauser (1989), S.  11–16, Henne / Kilian (Hrsg.) (1998) sowie die Lexikonartikel in König (Hrsg.) (2003), Bd. 2, S. 1371–1373, und in Stammerjohann (Hrsg.) (2009), Bd. 2, S. 1133–1135. 55 Braune (1873). 56 Braune (1876). 57 Braune (1880). 58 Braune (1886). 59 Braune (1891). 60 Braune (1875).

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in seiner 1978 erschienenen Studie zu Wilhelm Braune schreibt, als „guten Arbeiter im Weinberg des Herrn sah“. ⁶¹ Der jüngste der drei germanistischen Junggrammatiker schließlich ist Eduard Sievers, der gleichzeitig auch derjenige der Trias ist, der die Leipziger Germanistik – insbesondere in seiner dreißigjährigen Amtszeit als Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur – weitaus am stärksten geprägt hat und der auch im Mittelpunkt meines Beitrags steht; Sievers war der Leipziger Germanistik – mit einer etwa zwanzigjährigen Pause – über insgesamt 65 Jahre verbunden.

4. Im Folgenden möchte ich zunächst auf die Biographie von Eduard Sievers näher eingehen, um im Anschluss daran einen Überblick über seine Forschungen zu geben, den akademischen Lehrer Eduard Sievers vorzustellen, seine Aktivitäten in der akademischen Selbstverwaltung und der Wissenschaftsorganisation zu umreißen und einen kurzen Blick auf seine Persönlichkeit zu werfen. Abschließen möchte ich mit einigen Bemerkungen zu Eduard Sievers als Wissenschaftler und zu seiner Stellung in der Wissenschaftsgeschichte. Zunächst zur Biographie:⁶² Geboren wurde Eduard Sievers am 25. November 1850 in Lippoldsberg/Weser, einem Ort in der Nähe von Hofgeismar in Nordhessen. Er stammt aus einer kleinbürgerlichen Familie, sein Vater war Eisenhüttenbeamter. Nachdem er zunächst Privatunterricht bei einem Pfarrer gehabt hatte, besuchte er von 1863 bis 1867 das Gymnasium (Lyceum Fridericianum) in Kassel. Eigentlich wollte er Naturwissenschaften studieren, doch erlaubten dies die finanziellen Verhältnisse seines Elternhauses nicht. Durch eine dotierte Famulatur, die ihm Friedrich Zarncke anbot – den sein Vater durch Zufall kennengelernt hatte –, wurden die Weichen anders gestellt, und Sievers nahm im Sommersemester 1867 – also im Alter von 16 Jahren – sein Studium der Klassischen und der Deutschen Philologie an der Universität Leipzig auf – wie auch Paul und Braune vor allem bei Georg Curtius, Adolf Ebert, August Leskien und Friedrich Zarncke, bei dem er ebenso wie die beiden Freunde promovierte – 1870, mit 19 Jahren, mit Untersuchungen über Tatian. Wieder durch Vermittlung von Zarncke erhielt Sievers gleich nach seiner Promotion ein Stipendium des Sächsischen Kultusministeriums für

61 Fromm (1978), S. 15. Zu Wilhelm Braune vgl. auch Einhauser (1989), S. 16–20, sowie die Lexikonartikel in König (Hrsg.) (2003), Bd.  1, S.  265–266, und in Stammerjohann (Hrsg.) (2009), Bd. 1, S. 197. 62 Ich stütze mich hier vor allem auf Ganz (1978) sowie – wie auch bei Paul und Braune – auf König (Hrsg.) (2003), Bd. 3, S. 1730–1732.

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eine Bibliotheksreise nach England, wo er vom Frühjahr bis zum Juli 1871 mit der Abschrift und Kollation althochdeutscher und altenglischer Manuskripte in Oxford und im British Museum in London beschäftigt war. Zur Vorbereitung dieser Reise hatte er noch im Wintersemester 1870/71 ein Semester Altenglisch bei Karl Müllenhoff in Berlin studiert. Ohne Habilitation wurde er – auf Empfehlung von Julius Zacher, Friedrich Zarncke und Georg Curtius – 1871, also mit noch nicht einmal 21 Jahren, Extraordinarius für germanische und romanische Philologie an der Universität Jena.⁶³ 1876 wurde diese Professur in eine ordentliche Professur umgewandelt und die Denomination des Lehrstuhls auf Deutsche Philologie geändert, um eine Berufung an die Universität Bonn zu verhindern – damit war Sievers der erste ordentliche Professor für deutsche Philologie an der Universität Jena.⁶⁴ 1880 erhielt er einen Ruf an die Harvard University, den er jedoch 1881 ablehnte, da die Universität Jena sein Gehalt aufbesserte – auf ein Viertel dessen, was er in Harvard erhalten hätte.⁶⁵ Dennoch verließ Sievers schon zwei Jahre später – 1883 – Jena, um den Lehrstuhl von Adelbert von Keller in Tübingen zu übernehmen; auf der Berufungsliste hatten hier – in dieser Reihenfolge – Sievers, Paul und Braune gestanden.⁶⁶ Weitere vier Jahre später, 1887, wechselte Sievers als Nachfolger von Julius Zacher auf den Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Halle; hier hatte er aequo loco mit Elias Steinmeyer vor Wilhelm Braune auf Platz 1 der Berufungsliste gestanden.⁶⁷ Während er 1891 einen Ruf nach München ablehnte – diesen Lehrstuhl übernahm dann Hermann Paul –, nahm er 1892 den Ruf als Nachfolger seines Lehrers Zarncke an der Universität Leipzig an, der er auch nach seiner Emeritierung 1922 bis zu seinem Tod am 30. März 1932 verbunden blieb. Die Berufungsliste der Fakultät enthielt übrigens nur seinen Namen, nachdem die Kommission noch – den üblichen Regularien entsprechend – eine Dreierliste aufgestellt hatte, mit Hermann Paul an Platz 2 und Konrad Burdach an Platz 3.⁶⁸ Die hohe Wertschätzung, die Sievers in der akademischen Welt entgegengebracht wurde, zeigte sich außer in drei Ehrenpromotionen der Universitäten Christiania (Oslo), Jena und Leipzig in der Mitgliedschaft in zahlreichen Akademien, zunächst der Akademien in Leiden, Christiania und Kopenhagen, dann 63 Vgl. Germann (1957), S. 486–489. 64 Vgl. ebd., S. 489–491. 65 Vgl. Germann (1968), S. 311f., sowie Ganz (1978), S. 60f. Germann berichtet auch von anderen Berufungen, die Sievers während seiner Jenaer Zeit abgelehnt hat. 66 Vgl. http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/202203204JunggrDialekt.pdf (Stand 22. 4. 2009). Dort wie auch bei Germann (1968), S. 311f., findet sich auch der Hinweis, dass Sievers (1886) einen erneuten Ruf nach Harvard erhalten hatte, den er wiederum abgelehnt hat. 67 Vgl. Lemmer (1959), S 367, Anm. 25. 68 Vgl. Marquardt (1988), S. 682, sowie Krüger (1990), S. 128–129.

Eduard Sievers und die Junggrammatiker 

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auch in deutschen Akademien. So war er korrespondierendes Mitglied der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München (seit 1889), der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin (seit 1900), der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien (seit 1902), der British Academy in London (seit 1909) und auswärtiges Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften (seit 1920). Vor allem aber wurde er – zeitgleich mit seiner Berufung nach Leipzig – 1892 ordentliches Mitglied der Kgl. Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig,⁶⁹ an der er auch von 1918 bis 1926 das Amt des Sekretärs der philologisch-historischen Klasse bekleidete. Außerdem war er seit 1892 Ehrenmitglied der renommierten Modern Language Association of America.

5. Ich komme damit zum Forscher Eduard Sievers, dessen schon vom Umfang her beeindruckendes Werk – bei ebenso beeindruckender Qualität – eine ungeheure Spannweite aufweist; allein schon die Vielzahl der von ihm behandelten Sprachen – mit Ausnahme des Keltischen sind dies alle indogermanischen Sprachen in ihren verschiedenen Stadien, teilweise reicht es aber auch noch darüber hinaus – übersteigt die Vorstellungskraft eines heutigen Wissenschaftlers. Der Oxforder Germanist Peter F. Ganz, der aus Anlass des 100. Jahrgangs der PBB 1978 eine grundlegende – m. E. immer noch die beste – Studie über Eduard Sievers vorgelegt hat,⁷⁰ der auch ich sehr viel verdanke, hat dieses Faktum so formuliert: Die Anzahl seiner Schriften und die Bedeutung des Geleisteten bestürzen und beschämen den modernen Leser, der sich vielleicht gerade noch in der Germanistik auskennt, kaum je aber auch gleichzeitig Gräzist, Hebraist und Slavist sein wird⁷¹

– und Anglist, Nordist, Niederlandist usw., könnte man beliebig fortfahren. Dennoch lässt sich bei aller Vielfalt eine Konstante in Sievers’ wissenschaftlichem Werk feststellen, ein Mittelpunkt, um den alle seine Forschungen – bei allen z. T.

69 Damals noch: Kgl. Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften. 70 Ganz (1978). Die zweite wichtige Arbeit zu Sievers ist Frings (1933). Dieser Aufsatz ist wiederabgedruckt in Sebeok (Hrsg.) (1966), Bd. 2, S. 1–52, sowie in verkürzter Form in Steinmetz (Hrsg.) (1965), S. 101–108. Zu Sievers vgl. auch Einhauser (1989), S. 21–26, sowie die einzelne Aspekte thematisierenden Aufsätze Ungeheuer (1964), Sinder (1982) und Römer (2001). Hingewiesen sei auch auf zeitgenössische Artikel bzw. Nekrologe, vor allem auf Streitberg (1910), von Kraus (1931/32) sowie Luick (1932). 71 Ganz (1978), S. 40.

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einschneidenden Veränderungen in seinem Forscherleben – kreisen: das lautliche Moment von Sprache. Auch darauf hat Ganz nachdrücklich hingewiesen: Es ist ein und derselbe Impetus, der ihn die verschiedenen Übersetzer im althochdeutschen >Diatessaron< erkennen lässt, der ihn zur Phonetik, zur Metrik und schließlich zur Schallanalyse treibt: die Bemühung um den authentischen Klang und Rhythmus der Worte, denn er war immer ein Ohrenphilologe, selbst dann, wenn er sich mit altgermanischen Texten befaßte. Indem er das verklungene Wort hörbar machte, wollte er das Vergangene vergegenwärtigen und damit seine Geschichtlichkeit überwinden.⁷²

Als guter Schüler Friedrich Zarnckes beginnt Eduard Sievers als Philologe, der er zeitlebens auch bleiben sollte. Wie schon erwähnt, gilt seine Dissertation dem Tatian (1870),⁷³ dem zwei Jahre später die Edition des Tatian folgt – Lateinisch und altdeutsch mit ausführlichem Glossar herausgegeben, wie es im Untertitel heißt.⁷⁴ Mit der zweiten, neubearbeiteten Ausgabe des Tatian 1892⁷⁵ hat Sievers seine Editionstätigkeit auch im Wesentlichen beendet, wenn man von dem 1879 begonnenen und erst 1922 abgeschlossenen, gemeinsam mit Elias Steinmeyer verantworteten Projekt der Edition der althochdeutschen Glossen⁷⁶ und den Editionen unter schallanalytischen Gesichtspunkten absieht, auf die ich noch zu sprechen komme. Im Zeitraum dazwischen hat Sievers u. a. herausgegeben: Das Hildebrandslied, die Merseburger Zaubersprüche und das fränkische Taufgelöbnis,⁷⁷ die Murbacher Hymnen,⁷⁸ den Heliand⁷⁹ sowie die Oxforder Benedictinerregel.⁸⁰ In diesen Zusammenhang gehört auch Sievers’ 1875 erschienene Monographie Der Heliand und die angelsächsische Genesis.⁸¹ Die meisten seiner philologischen Arbeiten gehen dabei letztlich auf seinen schon erwähnten Bibliotheksaufenthalt in England 1871 zurück. Zunächst in Verbindung mit der Editionstätigkeit entstehen eine Reihe kleinerer Arbeiten zur historischen Grammatik, unter dem Titel Kleine Beiträge zur deutschen Grammatik in den PBB – von 1874 bis 1884 –, fortgesetzt unter dem Titel Grammatische Miscellen – ebenfalls in den PBB, von 1892 bis

72 Ebd., S. 40–41. 73 Sievers (1870). 74 Sievers (Hrsg.) (1872a). 75 Sievers (Hrsg.) (1892). 76 Sievers / Steinmeyer (Hrsg.) (1887–1922). Der 2. und 3. Band wurden von Steinmeyer allein bearbeitet, der 4. Band, in dem Sievers selbst noch größere Teile ediert hat, ist 1898 erschienen; zum 5. und letzten Band – 1922 erschienen – hat Sievers nur ein Nachwort beigesteuert. 77 Sievers (Hrsg.) (1872b). 78 Sievers (Hrsg.) (1874). 79 Sievers (Hrsg.) (1878). 80 Sievers (Hrsg.) (1887). 81 Sievers (1875).

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1902, also in seinem ersten Leipziger Jahrzehnt. Ihren Höhepunkt finden Sievers’ Arbeiten zur historischen Grammatik in der 1882 erstmals erschienenen Angelsächsischen Grammatik,⁸² die 1886 in zweiter, 1898 in dritter Auflage und schon 1885 in englischer Übersetzung erscheint und auch in dieser Übersetzung mehrfach aufgelegt wird.⁸³ Auf der Basis der Angelsächsischen Grammatik entsteht der Abriß der angelsächsischen Grammatik, 1895 erschienen⁸⁴ und noch zu Lebzeiten von Sievers insgesamt achtmal aufgelegt – die 8. Auflage datiert von 1930. Neben dem historischen Grammatiker Eduard Sievers – und in enger Verbindung mit ihm – steht der Phonetiker Eduard Sievers, repräsentiert natürlich in erster Linie mit seinen in insgesamt fünf immer wieder neu bearbeiteten Auflagen von 1876 bis 1901 erschienenen Grundzügen der Phonetik, in der ersten Auflage 1876 noch unter dem Titel Grundzüge der Lautphysiologie, genauer: Grundzüge der Lautphysiologie zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen⁸⁵ – ein Zusatz, den Sievers bis zur letzten, der 5. Auflage von 1901, beibehält.⁸⁶ Schon die erste Auflage der Grundzüge der Lautphysiologie enthält Kapitel über Akzent und Quantität, die über Beiträge Zur Accent- und Lautlehre der germanischen Sprachen (1877 bis 1878) – wieder in PBB erschienen–,⁸⁷ die ebenfalls dort herausgebrachten Beiträge zur Skaldenmetrik (1878–1882) sowie – auch dies wieder in PBB – Aufsätze zur Rhythmik des germanischen Alliterationsverses (1885–1887) zu einem weiteren Hauptwerk von Sievers führen, der Altgermanischen Metrik von 1893.⁸⁸ Dieser Strang im wissenschaftlichen Schaffen von Sievers ist auch bestimmend für seine weitere Entwicklung über mehrere Stufen hin zur Schallanalyse, in der er den Versuch unternimmt, die Klanggestalt von Texten, die Texten seiner Meinung nach innewohnenden – und mit bestimmten Körperhaltungen und -bewegungen in Beziehung stehenden – Schalleigenschaften zu erfassen.⁸⁹ Zu nennen sind hier die vier Bände der Metrischen Studien (1901–1918),⁹⁰

82 Sievers (1882). 83 Sievers (1885a); die 3. Auflage erscheint 1903. 84 Sievers (1895). 85 Sievers (1876). 86 Sievers (1901). Die „2. wesentlich umgearbeitete und vermehrte Auflage“ der Grundzüge der Lautphysiologie erscheint – unter dem neuen Titel – 1881, die 3. Auflage 1885, die „4. verbesserte Auflage“ 1893. 87 Auch als selbständige Ausgabe erschienen (Sievers (1878)). 88 Sievers (1893a). 89 Für ausführliche Darstellungen der Schallanalyse sei verwiesen auf Ungeheuer (1964), Ganz (1978), S. 65–85, sowie die zeitgenössischen Arbeiten Karg (1924/25), von Kraus (1931/32), S. 49– 57, und Frings (1933), S. 33–52. 90 Sievers (1901–1918).

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in denen sich Sievers mit dem Hebräischen und dem Altschwedischen beschäftigt – in diesem Zusammenhang erscheinen auch eine Reihe Alttestamentliche Miscellen,⁹¹ der 1912 erschienene Sammelband Rhythmisch-melodische Studien, der Arbeiten aus den Jahren 1894 bis 1912 zusammenfasst,⁹² sowie eine Reihe von Arbeiten zur Schallanalyse, etwa der in der Festschrift für Wilhelm Streitberg veröffentlichte, gleichzeitig auch selbständig erschienene Beitrag Ziele und Wege der Schallanalyse von 1924.⁹³ Ihren praktischen Niederschlag hat die Schallanalyse – die für Sievers auch ein wichtiges Mittel der philologischen Textkritik war – in der Herausgabe schallanalytisch untersuchter Texte gefunden, u. a. der Eddalieder,⁹⁴ der Johannesapokalypse,⁹⁵ der Paulinischen Briefe⁹⁶ und des Igorlieds.⁹⁷ Neben seinen zahllosen Arbeiten für die – wie man heute sagen würde – scientific community war Sievers’ Augenmerk aber auch immer auf die Vermittlung des Wissens an Studierende sowie an die interessierte Öffentlichkeit gerichtet. Davon zeugen schon seine 1874 erschienenen Paradigmen zur Deutschen Grammatik. Zum Gebrauch bei Vorlesungen zusammengestellt,⁹⁸ vor allem aber seine Beiträge für den von Hermann Paul herausgegebenen Grundriß der Germanischen Philologie und für die Encyclopedia Britannica. Für den Grundriß hat er – in der ersten Auflage – im 1. Band von 1891 die Beiträge Runen und Runeninschriften, Phonetik und Geschichte der gotischen Sprache verfasst,⁹⁹ im 1893 erschienenen 2. Band die Beiträge Gotische Literatur und Altgermanische Metrik;¹⁰⁰ für die 2. Auflage von 1901 hat er dann nur noch die Beiträge zu Runen und Runeninschriften und zur Phonetik überarbeitet.¹⁰¹ In der Encyclopedia Britannica stammen von ihm die Artikel German Language und Gothic Language, zum Hildebrandslied sowie zur Comparative Philology of the Aryan Languages,¹⁰² 1911 in neuer Fassung unter dem Titel Comparative Philology of the Indo-European Languages.¹⁰³

91 Von 1904 bis 1907 in den Sitzungsberichten der Kgl. Sächsischen Gesellschaft (Akademie) der Wissenschaften. 92 Sievers (1912). 93 Sievers (1924). 94 Sievers (Hrsg.) (1923). 95 Sievers (Hrsg.) (1925). 96 Sievers (Hrsg.) (1926/29). 97 Sievers (Hrsg.) (1926). 98 Sievers (1874). 99 Sievers (1891a, b und c). 100 Sievers (1893b und c). 101 Sievers (1901b und c). 102 Sievers (1879a und b, 1880 und 1885b). 103 Sievers / Giles (1911).

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Schließlich ist noch auf seine umfangreiche Rezensionstätigkeit hinzuweisen, die allerdings – von einer Ausnahme 1905 abgesehen – schon 1895 endet, sowie – natürlich – auf seine Arbeit als Herausgeber der PBB von 1892 bis 1906 sowie von 1925 bis zu seinem Tod 1932; übrigens ist Sievers – in den Anfängen seiner Karriere – auch als Übersetzer aus dem Dänischen und dem Niederländischen hervorgetreten. In seine Zeit als Leipziger Ordinarius fallen also einerseits – im ersten Jahrzehnt – die letzten Auflagen der Grundzüge der Phonetik und der Angelsächsischen Grammatik, andererseits – ausgehend von der Altgermanischen Metrik  – seine ersten Arbeiten auf dem Weg zur Schallanalyse, die in seinen letzten Jahrzehnten für ihn im Mittelpunkt stand.¹⁰⁴

6. Ich komme damit zum akademischen Lehrer Eduard Sievers, wobei ich mich – im Rahmen dieses Bandes naheliegend – auf seine Leipziger Lehrtätigkeit beschränken möchte. Dem Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur oblag seit den Zeiten Zarnckes die Leitung des Seminars – der „eigentlichen Seminarübung“ für die ordentlichen Mitglieder, deren Zahl auf acht begrenzt war, zu denen noch „accessorische“ Mitglieder und „Ehrenmitglieder“ hinzutreten konnten; insgesamt durfte die Mitgliederzahl von 25 aber nicht überschritten werden. Zudem leitete Sievers zusammen mit dem Extraordinarius – zuerst Karl von Bahder, dann Georg Holz – das Proseminar, wobei sich beide jährlich bei der Leitung des althochdeutschen und des mittelhochdeutschen Proseminars abwechselten.¹⁰⁵ Und selbstverständlich kamen noch Vorlesungen hinzu, in der Regel zwei in jedem Semester. Dabei hatte Sievers eine Reihe von Vorlesungen, die meist mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehrten.¹⁰⁶ So hielt er eine Vorlesung Deutsche Grammatik – zu verstehen als Historische Grammatik des Deutschen –, die zunächst über ein, ab dem Sommersemester 1898 über zwei Semester ging, wobei das erste Semester einer allgemeinen Einleitung und der Lautlehre, das zweite Semester der Formenlehre gewidmet war; diese Vorlesung hielt Sievers

104 Für genauere Angaben zum wissenschaftlichen Werk von Eduard Sievers verweise ich auf das immer noch unverzichtbare Schriftenverzeichnis, das seine Schülerin Elisabeth Karg-Gasterstädt zusammengestellt hat und das auch unveröffentlichte Manuskripte mit berücksichtigt: KargGasterstädt (1933). 105 Vgl. Öhlschläger / Stockinger (2009), S. 537–539, S. 544. 106 Bei den folgenden Ausführungen stütze ich mich auf die unter http://histvv.uni-leipzig.de zugänglichen Vorlesungsverzeichnisse der Universität Leipzig.

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in der Regel alle zwei, später alle drei Jahre. Jedes Jahr – und zwar jeweils im Sommersemester – hielt er eine Vorlesung Deutsche Phonetik, ebenfalls im zwei-, dann im dreijährigen Turnus eine Vorlesung Deutsche Metrik. Weitere Konstanten waren eine Vorlesung Einleitung in das Studium des Mittelhochdeutschen nebst Erklärung des Gregorius Hartmanns von Aue – im zweijährigen Turnus gehalten – und Einleitung in das Studium des Althochdeutschen und Erklärung ausgewählter althochdeutscher Prosatexte nach Braunes Althochdeutschem Lesebuch – dabei las Sievers immer dann über das Mittelhochdeutsche, wenn er das Proseminar zum Althochdeutschen abhielt, und umgekehrt. Außer diesen eindeutig sprachwissenschaftlichen Vorlesungen – dies gilt auch für die Vorlesung zum Mittelhochdeutschen, auch wenn es dort darüber hinaus um die Erklärung des Gregorius ging – hielt Sievers aber auch – wenn auch nicht im gleichen Umfang – Vorlesungen zur älteren Literatur: Zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, zum Parzival und zum Nibelungenlied – im zwei-, häufiger aber im dreijährigen Turnus. Vereinzelt standen auch der Heliand und der Beowulf auf dem Vorlesungsprogramm. Die Seminare – die „eigentlichen Seminarübungen“ – liefen jeweils nach einem bestimmten Schema ab; Johannes Hertel und Elisabeth Karg-Gasterstädt beschreiben dies in ihren Erinnerungen übereinstimmend für die Zeit um die Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts bzw. für die Zeit während des Ersten Weltkriegs, also zwanzig Jahre später.¹⁰⁷ Elisabeth Karg-Gasterstädt schreibt: In der ersten Hälfte des Semesters wurde gemeinsam gearbeitet, ein Text gelesen und interpretiert, Heliand, Minnesangs Frühling, Walther von der Vogelweide, oder es wurde aus Handschriftenabdrucken, wie sie das Kraus’sche Übungsbuch bietet, ein kritischer Text hergestellt […]. In der zweiten Hälfte des Semesters hatte jeder [sic!] der 8 ordentlichen Mitglieder über ein selbstgewähltes Thema einen Vortrag zu halten. Meist waren es Vorarbeiten zu einer künftigen Dissertation. Die Manuskripte mussten 8 Tage vor der betreffenden Sitzung abgeliefert werden. Zunächst bekam sie der aus den außerordentlichen Mitgliedern gewählte Opponent zur Einsicht. Vom Wochenende an – die Seminare fanden mittwochs von 11 bis 13 Uhr statt – lagen sie Sievers vor. Er war es dann, der mit überlegener Sicherheit in den Vortrag eingriff, Schiefes zurechtbog, Gedanken weiterführte und vertiefte, und die Ergebnisse, die der Autor oft selbst nicht gesehen hatte, am Ende zusammenfassend herausstellte.¹⁰⁸

107 Johannes Hertel, der in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei Sievers studiert hatte, war von 1919 bis 1937 Ordinarius für Indische Philologie und Sanskrit an der Universität Leipzig, Elisabeth Karg-Gasterstädt war von 1922 bis 1933 Assistentin, von 1946 bis 1951 Oberassistentin und von 1952 bis zu ihrer Emeritierung 1955 Professorin mit Lehrauftrag am Germanistischen Institut der Universität Leipzig, von 1935 bis 1951 zudem die wichtigste Mitarbeiterin von Theodor Frings am Althochdeutschen Wörterbuch (vgl. auch König (Hrsg.) (2003), Bd. 2, S. 892–893). 108 Karg-Gasterstädt (1958/59), S. 633–634.

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Die jeweils im ersten Teil der Seminare behandelten Gegenstände, die Vortragsthemen sowie die Namen der Vortragenden und der Opponenten sind uns bis zum Sommersemester 1898 in der zum 25jährigen Bestehen des Deutschen Seminars 1898 herausgekommenen Chronik erhalten¹⁰⁹ – dabei überwiegen die sprachwissenschaftlichen Themen; die Unterlagen für die Seminare danach sind – mit vielem anderen – ein Opfer der Bombennacht vom 4. Dezember 1943 geworden. Elisabeth Karg-Gasterstädt berichtet jedoch, dass auf Wunsch der Teilnehmer auch im ersten Teil des Seminars statt der gemeinsamen Textarbeit teilweise auch schon größere grammatische Fragen in Vorträgen behandelt wurden.¹¹⁰ Wie schon erwähnt, fanden die Seminare von Sievers mittwochs von 11 bis 13 Uhr statt, fester Termin der Proseminare war samstags 11 bis 13 Uhr. Für die jeweils zwei Vorlesungen, die Sievers in jedem Semester hielt, gab es zwei verschiedene Möglichkeiten:¹¹¹ Entweder – dies war die häufigere Variante – fand eine Vorlesung Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag von 10 bis 11 Uhr, die andere Vorlesung Mittwoch und Samstag 10 bis 11 Uhr statt, oder eine Vorlesung – dann 6stündig! – fand täglich, d. h. von Montag bis Samstag von 10 bis 11 Uhr statt, die zweite Vorlesung – als zweistündige Vorlesung – Montag und Donnerstag von 9 bis 10 Uhr. Zur Veranschaulichung möchte ich zwei Semester exemplarisch herausgreifen – das Sommersemester 1899 und das Wintersemester 1900/1901: Sommersemester 1899: Vorlesung Phonetik: Vorlesung Deutsche Metrik: Seminar: Proseminar (mhd. Abteilung):

Mittwoch und Samstag, 10 bis 11 Uhr Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag, 10 bis 11 Uhr Mittwoch, 11 bis 13 Uhr Samstag, 11 bis 13 Uhr

Wintersemester 1900/01: Vorlesung Deutsche Grammatik I: Allgemeine Einleitung und Lautlehre: täglich 10 bis 11 Uhr Vorlesung Einleitung in das Studium des Mittelhochdeutschen und Erklärung von Hartmanns von Aue Gregorius: Montag und Donnerstag, 9 bis 10 Uhr Seminar: Mittwoch, 11 bis 13 Uhr Proseminar (ahd. Abteilung) Erklärung poetischer Denkmäler nach Braune’s althochdeutschem Lesebuch: Samstag, 11 bis 13 Uhr 109 Chronik (1898). 110 Vgl. Karg-Gasterstädt (1958/59), S. 634. 111 Auch für das Folgende stütze ich mich auf die in Anm. 106 genannte Quelle.

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Ein Beitrag über das Germanistische Institut, der in der Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Universität Leipzig 1909 erschienen ist, überliefert uns Teilnehmerzahlen der Proseminare (die Zahl der Teilnehmer an den Seminaren war ja auf 25 beschränkt). Es heißt dort: Zu den Proseminarkursen, die in Hörsälen der Universität abgehalten wurden, ist der Zutritt unbegrenzt, und hier weisen die Übungen von Prof. Sievers in den letzten Semestern durchschnittlich 220 Mitglieder (Höchstzahl 281) auf, die von Prof. Köster durchschnittlich 127 (Höchstzahl 164), die von Prof. v. Bahder bzw. Prof. Holz 63 (Höchstzahl 96), die von Prof. Mogk 10 (Höchstzahl 15).¹¹²

Und über die Vorlesungen von Sievers berichtet Johannes Hertel in seinen schon erwähnten Erinnerungen, dass „die großen Hörsäle, in denen Sievers las, […] bis zum letzten Platze gefüllt [waren]“ – und dies, obwohl das Belegen dieser Vorlesungen nicht Pflicht war, die Teilnahme also – wie es Hertel formulierte – „aus wirklichem Interesse an den […] behandelten Gegenständen lag.“¹¹³ Schließlich noch einige Worte zur Charakterisierung von Sievers als akademischer Lehrer – auch hier möchte ich seine Schüler Johannes Hertel und Elisabeth Karg-Gasterstädt zu Wort kommen lassen. Ich zitiere auch hier relativ ausführlich, weil die Schilderungen als Ganzes ein – wie ich meine – plastisches Bild entstehen lassen. Im Anschluss an die schon zitierte Passage über den Ablauf des ‚eigentlichen‘ Seminars bei Sievers schreibt Elisabeth Karg-Gasterstädt: Oft unterbrach er den Redner schon nach dem ersten Satz, und da er den Inhalt genau kannte, konnte es geschehen, daß dieser erste Satz der einzige blieb, den der Verfasser von seinem Werk selbst vortrug. So waren manchmal die schlechtesten Arbeiten für uns die fruchtbarsten, denn wir lernten an Sievers’ Kritik, die, sobald er ehrliche Arbeit spürte, nie scharf und verletzend war, wie man einen Stoff hätte anfassen und welche Fehlerquellen man hätte vermeiden müssen.¹¹⁴

Und über seine Lehrveranstaltungen generell, also auch die Vorlesungen, schreibt sie: Sievers hatte […] die wunderbare Gabe, das Schwerste so einfach zu sagen, daß man ihm mühelos folgen konnte […]. Was uns in Vorlesungen und Übungen von ihm geboten wurde, war das Wissen eines genialen Forschers, das mühelos und verschwenderisch vor uns ausgebreitet wurde, eines Forschers, der uns zugleich das Suchen und Finden neuer Erkenntnisse miterleben ließ. Jede Wiederholung seines Vorlesungsturnus brachte Neues zutage, oft machte schon die folgende Stunde eine Korrektur der vorhergehenden nötig. An seinem

112 Germanistisches Institut (1909), S. 105. 113 Hertel (1923), S. 16. 114 Karg-Gasterstädt (1958/59), S. 634.

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Beispiel haben wir erfahren, daß Wissen nichts Endgültiges ist, sondern etwas Fließendes, von Stufe zu Stufe sich Entwickelndes.¹¹⁵

Karg-Gasterstädt vergleicht Sievers’ Vortragsstil auch mit dem des gleichzeitig lehrenden Literaturwissenschaftlers Albert Köster: Es gab wohl nicht leicht einen größeren Gegensatz im Vortrag zweier Fachgenossen als den zwischen Sievers und Köster. Wiederholt habe ich Sievers in privatem Gespräch klagen hören, daß seine Art zu sprechen den Stil seiner Zuhörer verderbe. Er vergaß dabei ganz, daß seine ungezwungene, natürliche Ausdrucksweise, die das Gemeinte doch so klar und lückenlos zur Geltung brachte, allem, was er sagte, den großen Vorzug und die Kraft der Unmittelbarkeit gab. Er wirkte durch das Leben, das aus ihm sprach. Köster wirkte durch die vollendete Kunst seines an Goethe geschulten Stils. Seine Sätze waren bis ins Letzte durchgefeilt und ausgewogen und wurden mit dem Vorsatz, rhetorisch zu wirken, vorgetragen.¹¹⁶

Und bei Johannes Hertel heißt es – in Übereinstimmung mit Elisabeth Karg-Gasterstädt und sie gleichzeitig ergänzend: Er war ein vorzüglicher Lehrer. Den Lehrstoff bot er vollständig, aber wohlgeordnet und nach Wesentlichem und Unwesentlichem gesichtet, mit feiner und stets treffender, durchaus sachlicher Kritik des bisher auf dem jeweilig von ihm behandelten Gebiet Geleisteten, der dann der eigene selbständige Gedankenbau folgte. Unnötige Schreibarbeit, welche das Fortschreiten der Vorlesungen gehemmt hätte und zugleich zur unvermeidlichen Quelle ungezählter Fehler geworden wäre, vermied er durch Beigabe autographierter Literaturverzeichnisse, Paradigmen, Kartenskizzen und anderer Zeichnungen. Sein Vortrag war frei, obwohl er das Manuskript immer zur Hand hatte, stilistisch glatt und durchsichtig, ohne alle Rhetorik, in seiner stets auf das Wesen der Dinge durchdringenden Sachlichkeit unendlich anregend, gesprochen mit klangvoller Stimme und bis in alle Einzelheiten auf der letzten Bank verständlich […] immer waren seine Vorlesungen unübertreffliche Muster methodischer Forschung und der Vermittlung ihrer Ergebnisse.¹¹⁷

Und – und dies ist wirklich das letzte Zitat, so reizvoll es wäre, noch weitere anzufügen – über Sievers’ Vorlesung über Deutsche Grammatik, die er damals – Mitte der 90er Jahre – noch einsemestrig hielt, schreibt Hertel: Diesen umfangreichen Stoff erledigte er damals in einem einzigen Semester, so wohl disponiert, daß er auch wirklich damit fertig wurde und uns nicht am Semesterschluß mit einem Bruchstück heimschickte. Dabei hatte er während des Vortrags stets seine gesamte Hörer-

115 Ebd., S. 633. 116 Ebd., S. 634. 117 Hertel (1923), S. 18.

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schaft im Auge und achtete sorgsamst darauf, daß jeder einzelne seinen Worten auch mit der Feder zu folgen vermochte.¹¹⁸

Eine Schule im engeren Sinne hatte Sievers nicht, auch wenn viele bekannte und bedeutende Wissenschaftler bei ihm studiert haben und wichtige Impulse von ihm empfangen haben. Außer Elisabeth Karg-Gasterstädt, die man mit Fug und Recht als seine Schülerin bezeichnen kann, waren dies u. a. Karl Bohnenberger, Franz Saran, Albert Leitzmann, Friedrich Panzer, Friedrich von der Leyen, Alfred Götze, Theodor Frings und Julius Schwietering; allerdings haben nicht alle dieser Germanisten in Leipzig bei ihm studiert, und teilweise auch nur ein Semester oder ein Jahr.¹¹⁹

7. Nun zu Sievers und seinen Aktivitäten in der akademischen Selbstverwaltung, zu Sievers als Wissenschaftsorganisator, wobei ich mich auch hier auf seine Leipziger Zeit beschränke. Als einziger Ordinarius am Deutschen Seminar bis zur Berufung Albert Kösters 1899 war Sievers gleichzeitig auch Institutsdirektor; nach der Berufung Kösters waren beide gleichberechtigt Direktoren des Germanistischen Instituts, wobei die beiden Direktoren ihre jeweiligen Abteilungen – die ältere und die neuere Abteilung – selbständig verwalteten,¹²⁰ „auch den“ – wie es in dem schon genannten Beitrag zur Festschrift 1909 heißt – „ihm [dem Direktor also] besonders unterstellten Teil der Bibliothek.“¹²¹ „Da hier“ – so heißt es in diesem Beitrag weiter – „ die Grenzlinien der Verwaltung sorgfältig gezogen sind, ist Doppelanschaffung von Büchern völlig ausgeschlossen.“¹²² „Nur die Vertretung des Instituts nach außen,“ – kann man diesem Beitrag weiter entnehmen – „der Verkehr mit den Behörden, sowie die Aufsicht über Inventarankäufe für das Institut muß in einer Hand bleiben: Und hier wechseln die beiden Direktoren Jahr um Jahr miteinander ab.“¹²³

118 Ebd., S. 19. 119 An dieser Stelle sei auch auf die beiden Eduard Sievers gewidmeten Festschriften verwiesen: Philologische Studien (1896) (mit Beiträgen u. a. von Franz Saran, Friedrich Panzer, Eduard Wechssler, Ernst Elster, Albert Leitzmann, Karl Bohnenberger und John Meier) sowie Germanica (1925) (mit Beiträgen u. a. von Victor Michels, Leonard Bloomfield, Karl Bohnenberger, Alfred Götze, Karl Luick, Helmut de Boor, Carl von Kraus, Albert Leitzmann, André Jolles und Walter Porzig). 120 Vgl. Öhlschläger / Stockinger (2009), S. 544. 121 Germanistisches Institut (1909), S. 100. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 101.

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Der Bibliothek galt Sievers’ Augenmerk von Anfang an; so entwarf er gleich zu Beginn seiner Leipziger Tätigkeit einen neuen Plan für den Aufbau der Bibliothek, entwickelte die für die Katalogisierung im Folgenden gültigen Grundsätze und ersetzte die bis dahin verwendeten Buchkataloge durch einen Zettelkatalog. Dabei katalogisierte Sievers bis 1915 – bis eine Augenkrankheit ihm dies nicht mehr erlaubte – alle Bücher seiner Abteilung selbst und schrieb auch eigenhändig die Karteikarten.¹²⁴ Die Weltgeltung, die die Bibliothek des Germanistischen Instituts bis zu ihrer Vernichtung 1943 hatte, ist also zu großen Teilen das Werk von Eduard Sievers, der sich auch intensiv um die notwendige finanzielle Ausstattung gekümmert hat, wobei allerdings ausdrücklich vermerkt werden muss, dass sich auch Albert Köster große Verdienste um die germanistische Bibliothek erworben hat. Wie Elisabeth Karg-Gasterstädt in ihrem unbedingt lesenswerten, hier schon mehrfach genannten Bericht Das alte Germanistische Institut schreibt – sie war selbst 1918 von Eduard Sievers als Bibliothekarin des Instituts eingesetzt worden – hat Sievers höchstpersönlich auch dafür gesorgt, dass die Studierenden so, wie es nötig ist, in der Bibliothek arbeiten konnten: „Jeden Morgen, vor oder nach der täglichen Vorlesung, ging Sievers selbst durch alle Säle und kontrollierte, ob seine zum Schutz des Bücherbestandes erlassenen Vorschriften auch eingehalten wurden.“¹²⁵ Aber natürlich erschöpfte sich Sievers’ Tätigkeit für das Institut darin nicht. Die neue Struktur des Instituts mit der Teilung in Ältere und Neuere Abteilung oder – weit später – die Erweiterung des Instituts bzw. Seminars um eine Nordische und eine Niederländische Abteilung gehen auf ihn zurück¹²⁶ – Letzteres zusammen mit Albert Köster –, und auch alle Personalentscheidungen in seiner Amtszeit sind wesentlich von ihm geprägt. Dies beginnt schon mit der Berufung von Albert Köster, bei der Sievers natürlich der Berufungskommission angehörte und wesentlichen Anteil sowohl daran hatte, dass der alte Lehrstuhl Hildebrands ausdrücklich für die neuere Literatur ausgeschrieben wurde, als auch daran, dass der Lehrstuhl – nachdem der als einziger vorgeschlagene Züricher Professor Jakob Bächtold 1895 aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt hatte (er starb auch schon zwei Jahre später, im Alter von 49 Jahren) – aus wohlerwogenen Gründen für mehrere Jahre unbesetzt blieb: Laut Protokoll der Sitzung der Fakultät vom 13. November 1895 räumte Sievers zwar ein, dass die ins Auge gefassten Kandidaten „zu den Führern auf diesem Gebiete“ zählten, sie seien

124 Vgl. Chronik (1898), S. 4, Karg-Gasterstädt (1958/59), S. 631. 125 Ebd., S. 632. 126 Zur Einrichtung der Nordischen Abteilung vgl. Krüger (1990), S.  123–125, sowie Zernack (2013), zur Einrichtung der Niederländischen Abteilung Krüger (1990), S. 125–126, Hipp (1992), S. 235–236, sowie Goossens (2013).

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aber „nicht gerade hervorragend.“ Zwar werde sich „in zwei Jahren […] nichts geändert haben“, dennoch sei es aber – so Sievers – „bedenklich, das Kriterium anzunehmen, da es gerade jetzt bei der Hebung der germanistischen Studien darauf ankomme, die Lücke möglichst gut auszufüllen.“¹²⁷ Auf Sievers geht auch die Ernennung von Karl von Bahder zum planmäßigen Extraordinarius 1897 sowie die von Eugen Mogk zum planmäßigen Extraordinarius 1901 zurück, dessen Ernennung zum Ordinarius 1922 gleichfalls von Sievers beantragt und begründet wurde. Über das Institut hinaus war Eduard Sievers auch in Verantwortung als Dekan der Philologischen Fakultät 1899/1900 sowie als Rektor der Universität Leipzig 1901/02; 1881/82 war er übrigens auch schon Prorektor in Jena gewesen. Von 1918 bis 1926 war er – wie schon erwähnt – Sekretär der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, deren Mitglied er – wie gleichfalls schon erwähnt – 1892 geworden war; und in den Jahren 1920 bis 1929 war er als Vertreter der Geisteswissenschaften Mitglied im Hauptausschuss der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, einer Vorläuferin der heutigen Deutschen Forschungsgemeinschaft.

8. In den Beschreibungen von Hertel und Karg-Gasterstädt kommt auch schon einiges von der Person, dem Menschen, der Persönlichkeit Eduard Sievers zum Ausdruck. Doch scheint dies noch nicht die ganze Wahrheit zu sein – insbesondere Peter F. Ganz nimmt in seiner schon genannten grundlegenden Studie zu Eduard Sievers auch auf Briefe Bezug, die ein etwas anderes Licht auf Sievers werfen und die Komplexität seiner Persönlichkeit sichtbar machen. So war Sievers offensichtlich oft krank und litt an Depressionen, an – wie er selbst in einem Brief an Friedrich Zarncke 1886 schreibt – „angeborener hypochondrischer Grübelsucht und Unzulänglichkeitsgefühlen“, die ihn – so in einem Brief an Hermann Paul 1888 – das Beantworten von Briefen und das Senden versprochener Manuskripte hinausschieben ließen. In einem etwas früheren Brief an Zarncke von Ende 1885 führt er Lähmungserscheinungen, die ihn 1879 befallen hatten, auf einen psychosomatischen Ursprung zurück. Wie er Hermann Paul 1888 schreibt, versuchte er seine ihm selbst bewusste Empfindlichkeit und leichte Verwundbarkeit hinter einer „Maske von Leichtsinn“ zu verbergen, die teilweise solche Reaktionen her127 Universitätsarchiv Leipzig, Phil. Fak. 84 (1885–1899), Protokoll der Sitzung der Fakultät vom 13.11.1895, S. 268–269. Vgl. hierzu auch Krüger (1990), S. 131–135, sowie Marquardt (1988), S. 682–684.

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vorriefen wie die von Wilhelm Braune, der an Hermann Paul 1912 schreibt:¹²⁸ „[…] als er [Sievers] schrieb, daß Du nach Pontresina weitergingst, so wurde ich doch rückgängig [in der Zusage, Paul und Sievers in der Schweiz zu treffen] […]. Um Sievers allein, den ich hier zu sehen hoffte, ging ich nicht hin: er ist an solchem Orte mit aller Welt frère et cochon, so daß man nicht viel von ihm hat, wenn man nicht alles mitmacht.“ Während er auf der einen Seite sehr verletzlich war, konnte er selbst – etwa in Rezensionen – nicht nur spöttisch, sondern öfter auch ausgesprochen scharf und verletzend sein – eine Verbindung, die allerdings so selten ja nun auch nicht ist.

9. Ich komme damit zum letzten Teil meines Beitrags, in dem ich versuchen möchte, das wissenschaftliche Werk von Eduard Sievers zu würdigen, den Wissenschaftler, die wissenschaftliche Persönlichkeit Eduard Sievers zu charakterisieren und seine Stellung in der Wissenschaftsgeschichte zu umreißen. Dieser Versuch muss im gegebenen Rahmen notwendigerweise skizzenhaft bleiben. Wohl am problematischsten sind seine Arbeiten zur Schallanalyse, mit der sein Name – zumindest in Deutschland – oft zuerst verbunden wird. Schon zu Sievers’ Lebzeiten wurde sie heftig bekämpft und teilweise als unwissenschaftlich oder Okkultismus bezeichnet. Trotz aller Bemühungen seiner Schüler konnte sich die Schallanalyse nicht durchsetzen – zum einen, weil sie intersubjektiver Überprüfbarkeit nicht zugänglich und dementsprechend als wissenschaftliche Methode problematisch bis unangemessen ist, zum andern, weil sie zu sehr an Sievers’ extreme Sensibilität hinsichtlich klanglicher, hinsichtlich lautlicher Erscheinungen gebunden war.¹²⁹ Sievers hat die Problematik durchaus auch selbst gesehen, wenn er in seinem kleinen Aufsatz Zur Schallanalyse 1928 schreibt: „Gründe ausschlaggebender Art gibt es hier nicht und k a n n es nicht geben: nur der t a t s ä c h l i c h e B e f u n d kann entscheiden. Und deswegen befindet sich die Schallanalyse wirklich in einer üblen Lage, weil man diese Befunde n u r b e i m ü n d l i c h e m V e r f a h r e n feststellen kann.“¹³⁰

128 Für weitere Ausführungen sowie die genauen Quellenangaben zu den erwähnten Briefen verweise ich auf Ganz (1978), S. 58–59. Das folgende Zitat aus einem Brief von Wilhelm Braune vom 29. 9. 1912 entnehme ich allerdings aus Fromm (1978), S. 14, Anm. 14. 129 Zur Kritik an der Schallanalyse sei auf die in Anm. 89 genannte Literatur verwiesen; dort werden auch die durchaus positiven Aspekte der Schallanalyse näher beleuchtet. 130 Sievers (1928), S. 4.

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Demgegenüber hatten Sievers’ Arbeiten zur altgermanischen Metrik weit größeren Einfluss. Seine Theorie, die zwischen gesprochenem und gesungenem Vers unterscheidet, sowie die Theorie seines Antipoden Andreas Heusler haben den Grundstein für die Entwicklung metrischer Theorien zur altgermanischen Dichtung bis in die Gegenwart hinein gelegt.¹³¹ Auch als Philologe genießt Sievers einen ausgezeichneten Ruf: seine Editionen gelten als vorbildlich in ihrer Sorgfalt und Genauigkeit – ein echter Schüler Zarnckes eben. Wesentlich beigetragen zu diesem guten Ruf hat nicht zuletzt auch seine 1875 in Der Heliand und die angelsächsische Genesis vorgetragene, durch stilistische und metrische Gründe gestützte Theorie, die angelsächsische Genesis enthalte eine auf altsächsischer Grundlage beruhende Interpolation – eine Theorie, die knapp zwanzig Jahre später durch einen Bibliotheksfund bestätigt wurde.¹³² Über jeden Zweifel erhaben ist auch der historische Grammatiker Eduard Sievers, dessen Angelsächsische Grammatik, in der erstmals nicht nur poetische, sondern auch altenglische Prosatexte die Basis bildeten, ein ebensolches Standardwerk ist wie Braunes und Pauls Grammatiken für das Gotische, Althochdeutsche und Mittelhochdeutsche. Und seine vielen vor allem in den PBB erschienenen Beiträge zur historischen Grammatik haben z. T. entscheidende Fragen gelöst und beeindrucken noch heute durch ihre akribische, reflektierte Argumentation und das in ihnen zu Tage tretende umfassende Wissen von Eduard Sievers. Zumindest – vielleicht aber nicht nur – wissenschaftshistorisch am bedeutendsten sind zweifellos die Grundzüge der Lautphysiologie bzw. – wie sie seit der 2. Auflage von 1881 heißen – Grundzüge der Phonetik. Wissenschaftshistorisch bedeutsam sind sie schon wegen ihrer zentralen Rolle für die Junggrammatiker, denn ohne diese Basis wären viele der – zum großen Teil noch heute gültigen – Erkenntnisse hinsichtlich des Lautwandels – und auch des morphologischen Wandels – nicht möglich gewesen. Und man darf nicht vergessen, dass der große Einfluss der Junggrammatiker nicht nur auf ihrem innovativen Programm beruhte, sondern – vielleicht noch zum größeren Teil – auf dem eindrucksvollen Ergebnis ihrer Forschungen auf der Grundlage dieses Programms. Nicht umsonst hat der Wissenschaftshistoriker, der sich in den letzten Jahrzehnten am intensivsten mit den Junggrammatikern beschäftigt hat – Kurt Jankowsky – Sievers’ Grundzüge der Phonetik als das wichtigste und einflussreichste junggrammatische Werk neben Hermann Pauls Prinzipien der Sprachgeschichte bezeichnet.¹³³ 131 Vgl. auch hierzu Ganz (1978), S. 41, S. 62–66. 132 Vgl. ebd., S. 56, und Fromm (1978), S. 33–34. 133 Vgl. Jankowsky (2001b), S. 1357. Wörtlich heißt es dort, dass die beiden Werke „proved to be the most powerful and influential guidelines for the reorientation of linguistic research in

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Wie schon erwähnt, betonten die Junggrammatiker die Notwendigkeit einer sprachtheoretischen Fundierung für jegliche Sprachforschung – für die Beschäftigung mit der „leiblichen Seite des Sprechmechanismus“ bedeutete dies die Notwendigkeit einer fundierten Lautphysiologie bzw. Phonetik: Und diese notwendige Grundlage boten Sievers’ Grundzüge – wie ja auch der Zusatz zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen zum Ausdruck bringt. Die in der deutschen Phonetik bis dahin vorliegenden, rein naturwissenschaftlich, ausnahmslos rein lautphysiologisch orientierten Arbeiten hätten diese Aufgabe nicht erfüllen können; Sievers war demgegenüber dezidiert auf die praktische Anwendung der Phonetik beim Studium von Sprachen ausgerichtet, wobei er Einflüsse der englischen und skandinavischen Phonetik (Sweet, Storm) aufnahm, die vor allem ab der 2. Auflage der Grundzüge von 1881 zum Tragen kamen – auch deshalb der neue Titel ab der 2. Auflage, Grundzüge der Phonetik.¹³⁴ Neu für die deutsche Phonetik war auch Sievers’ Behandlung der Vokale, indem er die in der deutschen Phonetik bis dato übliche Orientierung an der Klangfarbe durch die auf den englischen Phonetiker Bell zurückgehende, noch heute übliche Behandlung der Vokale und ihres Systems auf der Grundlage der Artikulation ersetzte.¹³⁵ Wissenschaftshistorisch bedeutsam waren die Grundzüge aber nicht nur im Hinblick auf ihre Funktion für die Junggrammatiker,¹³⁶ sondern auch als eine der bahnbrechenden Arbeiten für die Entwicklung der Phonetik als linguistische Disziplin.¹³⁷ Es kommt hinzu, dass in den Grundzügen auch bedeutende theoretische Erkenntnisse und Innovationen enthalten sind, die bis heute nachwirken. So hat Sievers nicht nur die Einzellaute behandelt, sondern auch die Kombination der einzelnen Laute miteinander zu Silben, Wörtern und Sätzen – unter Einbezug von Akzent und Quantität –, also Erscheinungen, die für das Verständnis und die Erfassung von Lautwandelphänomenen ebenso wichtig sind wie für die synchrone Beschreibung der Lautsysteme von Sprachen.

that both monographs offered an abundance of detailed methodological reflection unavailable through any other existing publication.“ 134 Vgl. hierzu Kohler (1981), Galazzi (2001), S. 1487–1488, sowie Tillmann (1994), S. 3082–3086, und Kemp (1994), S. 3110–3114. Zur praktisch orientierten englischen Phonetik vgl. auch Kemp (2001), S. 1474–1477. 135 Vgl. hierzu Ganz (1978), S. 50, Kemp (1994), S. 3110–3113, Kemp (2001), S. 1475–1476, sowie Sievers’ Vorwort zur 2. Auflage seiner Grundzüge: Sievers (1881), S. V-VII. 136 Bei Hoenigswald (1978), S. 19, findet sich – generell bezogen auf die Indogermanisten – die zugespitzte Formulierung: „What Sievers taught remained for a long time all that many of them ever knew about sound production.“ 137 Vgl. etwa Galazzi (2001), S. 1489–1490, Tillmann (1994), S. 3086.

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Dabei war Sievers auch der erste, der die Bedeutung der Silbe als phonetische – bzw. phonologische – Einheit erkannt hat, einer Einheit, deren Bedeutung erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wieder entdeckt wurde und die in der heutigen Phonologie eine zentrale Rolle spielt. Seine Ausführungen zum Silbenbegriff¹³⁸ sind heute noch höchst lesenswert, seine Ausführungen beispielsweise zum Silbenschnitt bewegen sich auf der Höhe der heutigen Forschung,¹³⁹ und auch die heute als Allgemeingut und selbstverständliche Basis für jegliche Beschäftigung mit der Silbe geltende Sonoritätshierarchie und das darauf beruhende universelle Silbenbaugesetz gehen auf Sievers zurück.¹⁴⁰ So heißt es im § 526 der Grundzüge: Die Fähigkeit, Sonant zu werden, hängt bei jedem Laute zunächst von seiner Schallfülle ab. Beim Zusammentreffen mehrerer Laute muss also jedes Mal derjenige zum Sonanten werden, welcher an und für sich die grösste Schallfülle besitzt. Nur Laute, welche auf gleicher oder nahezu gleicher Stufe der Schallfülle stehen, können neben einander abwechselnd Sonanten oder Consonanten sein. In diesem Falle gibt die jeweilige Druckstärke statt der natürlichen Schallfülle den Ausschlag.¹⁴¹

Und im nächsten Paragraphen wird dann – fast beiläufig, ohne besondere Hervorhebung – das formuliert, was wir heute als universelles Silbenbaugesetz kennen: Ein ähnliches Verhältnis gilt für die Consonanten unter einander: je näher dem Sonanten, umso grösser muss die Schallfülle sein. Daher ist die Reihenfolge der Lautarten, welche einem Sonanten unsilbisch vorausgehen können, genau entgegengesetzt der Reihenfolge der Lautarten, welche dem Sonanten als Consonanten folgen können; nur sind die Gesetze für den Silbenauslaut strenger als die für den Anlaut.¹⁴²

Und dann folgen die näheren Ausführungen zur Sonoritätshierarchie – genauso, wie wir sie noch heute bei jeglicher Beschäftigung mit der Silbe zugrundelegen. Ausgangspunkt für Sievers ist – auch dies ist ausgesprochen modern – nicht der Einzellaut, sondern der Satz, den er definiert als 138 Vgl. Sievers (1901a), S. 198–225. 139 Vgl. ebd., S. 222–225. So hat etwa Theo Vennemann in verschiedenen Arbeiten explizit an Sievers angeknüpft, wie etwa in Vennemann (1991), wo es u. a. heißt: „Die musikalischen Zeichen für Crescendo und Decrescendo benutze ich in Anlehnung an Sievers (1901: § 578), dem ich auch in der Auffassung der Silbenschnitte am engsten folge (§ 589–598)“ (S. 87, Anm. 2). 140 Übrigens knüpft Vennemann mit seinen Silbenpräferenzgesetzen auch hier explizit bei Sievers an: vgl. etwa Vennemann (1988). 141 Sievers (1901a), S. 203. – Unter einem Sonanten versteht Sievers den die Silbe beherrschenden, den silbischen Laut – den Silbenkern –, unter einem Consonanten einen unsilbischen Laut; statt von Schallfülle spricht man heute von Sonorität. 142 Ebd., S. 204.

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eine jede selbständige gesprochene Aeusserung […], d. h. eine jede in sich geschlossene Lautmasse, die in einem gegebenen Zusammenhang, sei es der Rede, sei es der Situation überhaupt, einen bestimmten Sinn […] zum Ausdruck bringen soll und in diesem bestimmten Sinn von dem Hörer verstanden wird.¹⁴³

Nach Sievers muss eine streng systematisch vorgehende Phonetik bei der Untersuchung des Satzes beginnen […], denn der Satz allein ist ein in der gesprochenen Sprache selbst gegebenes, direct zu beobachtendes Object […]. So sollte […] zunächst der ‚Satz‘ untersucht werden, mit allen denjenigen Veränderungen, die er beim mündlichen Ausdruck erfahren kann […]. Erst nachdem man gelernt hat, diesen veränderlichen Eigenschaften des Satzes Rechnung zu tragen, sollte man zur Zerlegung des Satzes selbst fortschreiten, d. h. zur Untersuchung der einzelnen S p r e c h t a k t e und der S i l b e n als Glieder dieser Sprechtakte. Daran erst hätte sich dann die Analyse der Silben als solcher und die ihrer E i n z e l l a u t e anzuschließen. Was sich dann am Ende als Definition des Einzellautes ergibt, ist schliesslich doch nur eine zum guten Theil von willkürlich gewählten Gesichtspunkten abhängige Abstraction von den vielfach veränderlichen Gestalten, unter denen derselbe sogenannte Einzellaut in der zusammenhängenden menschlichen Rede auftreten kann.“¹⁴⁴

Nebenbei bemerkt: methodologische Reflexionen wie in der gerade zitierten Passage finden sich bei Sievers immer wieder – auch deshalb sollten seine Grundzüge noch heute zur Pflichtlektüre für jeden gehören, der sich ernsthaft mit Phonetik und Phonologie beschäftigt. Teilweise hat man Sievers auch als Wegbereiter der Phonologie bezeichnet,¹⁴⁵ u. a. wegen Formulierungen wie der folgenden: Vor allen Dingen suche man sich also einen genauen Einblick in den B a u jedes zu behandelnden L a u t s y s t e m s zu verschaffen. Man wird gut thun, dabei stets im Auge zu behalten, dass dieser nicht so sehr durch die Anzahl der zufällig in ihm zusammengewürfelten Laute an und für sich, als durch das Verhältniss dieser einzelnen Glieder unter einander bedingt wird.¹⁴⁶

Ob solche Formulierungen als ‚phonologisch‘ zu verstehen sind, kann hier nicht verfolgt werden; ich denke, eher nicht, zumal sich Formulierungen dieser Art ohnehin bei den Junggrammatikern sehr häufig finden – die auch heute noch geläufige Formel vom Atomismus der Junggrammatiker ist weit eher ein Topos der strukturalistischen Sprachwissenschaft als eine realitätsbezogene Aussage.¹⁴⁷

143 Ebd., S. 229. 144 Ebd., S. 8–9. 145 So z. B. Ganz (1978), S. 50–51, und Sinder (1982). 146 Sievers (1901), S. 7. 147 Vgl. hierzu auch Kohrt / Kucharczik (2001), S. 1720–1721, S. 1724–1728.

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Die gerade vorgetragenen Zitate von Sievers haben vielleicht auch schon – ebenso wie die zu Beginn meines Beitrags zitierten Ausführungen zum Begriff Lautgesetz – einen ersten Eindruck vermittelt von Sievers’ Ausdrucksweise, der sich mit dem deckt, was Hertel und Karg-Gasterstädt über Sievers als akademischen Lehrer gesagt haben: Sein Stil ist äußerst klar, präzise, sachbezogen, unprätentiös – dem heutigen Linguisten ausgesprochen ‚modern‘ vorkommend. Seine scharfe Beobachtungsgabe und seine Berücksichtigung auch kleinster Details – bei selbstverständlicher Einbindung in den Gesamtzusammenhang – sind ebenso beeindruckend wie seine klare Strukturierung des behandelten Stoffes und seine akribischen Argumentationen. Auch insofern zeigt er sich als typischer Junggrammatiker – er ist zwar kein programmatischer Theoretiker wie Hermann Paul, aber er setzt die methodologischen und wissenschaftstheoretischen Postulate der Junggrammatiker in seiner wissenschaftlichen Praxis kompromisslos um. Insofern unterscheidet er sich auch von Braune, der weniger streng und eher ausgleichend, moderat, konventioneller war.¹⁴⁸

10. Eduard Sievers war zu seiner Zeit ohne Frage einer der bedeutendsten und renommiertesten Germanisten und Sprachwissenschaftler und zusammen mit Hermann Paul auch derjenige, bei dem sich die Auseinanderentwicklung von Literatur- und Sprachwissenschaft innerhalb der Germanistik, die starke Tendenz zur Etablierung einer eigenständigen germanistischen Sprachwissenschaft am deutlichsten und stärksten zeigt. Seine mit nicht einmal 21 Jahren beginnende Universitätskarriere war herausragend, Quantität und Qualität seiner Arbeiten sind ebenso beeindruckend wie die Spannweite der von ihm behandelten Themen, seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung sowohl innerhalb der junggrammatischen Richtung als auch im Hinblick auf die Entwicklung der Phonetik als einer lingu-

148 Sievers selbst hat den Unterschied zwischen den drei germanistischen Junggrammatikern in seinem Nachruf auf Wilhelm Braune so formuliert: „In Leipzig hatten Paul, Braune und ich uns im jahre 1870 als studenten zusammengefunden, sehr bald in herzlicher freundschaft, trotz aller verschiedenheit von natur und sinnesart: Paul schon damals ein etwas schwer ringender denker von stark deductiv-theoretischer veranlagung bei weitestem interessenkreis, ich noch etwas geplagt von naturwissenschaftlichen neigungen und daneben von vornherein mehr sprunghaft und instinctiv als vollbewußt auf allerhand sprachliches und lautliches eingestellt: Braune ausgezeichnet durch die sicherheit und klarheit seines wesentlich auf inductivem wege fortschreitenden denkens, dabei innerlich die bei weitem ausgeglichenste natur von uns dreien.“ (Sievers (1927), S. I)

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istischen Disziplin steht außer jedem Zweifel, und auch seine im engeren Sinne philologischen Arbeiten sind Forschungsbeiträge von bleibendem Wert. Dennoch ist sein Nachruhm leider verblasst und steht in keinem angemessenen Verhältnis zu seiner Bedeutung – zumindest in Deutschland, zumindest in der germanistischen Sprachwissenschaft. Um nur drei Beispiele zu nennen: In Gerhard Helbigs Geschichte der neueren Sprachwissenschaft wird Sievers im Teilkapitel „1.2 Die junggrammatische Schule“ überhaupt nicht erwähnt,¹⁴⁹ ebensowenig im Kapitel über „Die junggrammatische Schule“ in Brigitte Bartschats Methoden der Sprachwissenschaft¹⁵⁰ – dort werden nicht einmal Sievers’ Grundzüge bei der Übersicht über wichtige Arbeiten der Junggrammatiker aufgeführt –, und in Andreas Gardts Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland wird Sievers im Teilkapitel über „Die Junggrammatiker“¹⁵¹ nur zweimal erwähnt.¹⁵² Ein Grund für diese Entwicklung ist sicherlich, dass die alles andere als unproblematische, teilweise ja als unwissenschaftlich und als Okkultismus bezeichnete Schallanalyse seinen Ruf in Deutschland beeinträchtigt hat, zumal – wie schon erwähnt – die Schallanalyse oft das erste ist, das viele mit dem Namen Sievers verbinden.¹⁵³ Es kommt hinzu, dass Sievers – anders als Paul, Brugmann, Osthoff und auch Leskien – ebenso wie Braune keine programmatischen Äußerungen gemacht hat, so dass er in wissenschaftshistorischen Darstellungen der Junggrammatiker in den Hintergrund tritt. Zudem sind in der germanistischen Sprachwissenschaft Hermann Paul und Wilhelm Braune auch deshalb viel stärker im Bewusstsein als Eduard Sievers, weil ihre Grammatiken – des Mittelhochdeutschen bzw. des Althochdeutschen –, die fünfbändige Deutsche Grammatik und das Deutsche Wörterbuch von Hermann Paul sowie das Althochdeutsche Lesebuch von Wilhelm Braune Generationen von Germanisten geprägt haben und dies 149 Vgl. Helbig (1983), S. 14–20. 150 Vgl. Bartschat (1996), S. 13–32. 151 Vgl. Gardt (1999), S. 278–288. 152 Im ersten Fall heißt es: „Zur Gruppe der Junggrammatiker im engeren Sinne zählen zunächst die Leipziger Sprachwissenschaftler August Leskien, Hermann Osthoff, Karl Brugmann und Berthold Delbrück, schließlich auch Eduard Sievers, Wilhelm Braune und Hermann Paul“ (Ebd., S.  278). Und im zweiten Fall wird nur erwähnt, dass zu den 1876 erschienenen Arbeiten auch Sievers’ Grundzüge der Lautphysiologie zählen (vgl. ebd., S. 284). 153 In den einschlägigen biographischen Nachschlagewerken steht die Schallanalyse ebenfalls meist im Mittelpunkt. Vgl. etwa Vierhaus (Hrsg.) (2008), Bd. 9, S. 447, Killy (Hrsg.) (1993), S. 32– 33, oder Zischka (1961), S. 604. Auch auf der schon genannten Internetseite zur Geschichte des Deutschen Seminars der Universität Tübingen (vgl. Anm. 66) ist fast nur von der Schallanalyse die Rede, und in einem kurzen Text zur Geschichte des Instituts für Germanistik der Universität Leipzig, der bis zum Wintersemester 1996/97 das kommentierte Vorlesungsverzeichnis des Instituts einleitete, wird Sievers nur als „Vater der sog. Schallanalyse“ (Germanistik Leipzig (1996), S. 1) vorgestellt.

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heute noch tun – Eduard Sievers dagegen hat eine Angelsächsische Grammatik geschrieben, eine Grammatik des Altenglischen und steht damit außerhalb des heutigen Faches Germanistik. Außerhalb Deutschlands, außerhalb der germanistischen Sprachwissenschaft ist es um Sievers’ Nachruhm besser bestellt – vor allem in den angelsächsischen Ländern: So ist in Thomas A. Sebeoks zweibändiger Sammlung Portraits of Linguists, die bedeutenden Sprachwissenschaftlern seit dem 18. Jahrhundert gewidmet ist,¹⁵⁴ auch Eduard Sievers vertreten, und zwar mit dem umfangreichen Nachruf von Theodor Frings von 1933.¹⁵⁵ Wichtige linguistische Enzyklopädien enthalten eigene Artikel über Sievers,¹⁵⁶ auf die Einschätzung des Wissenschaftshistorikers Kurt Jankowsky, die Grundzüge der Phonetik seien neben Hermann Pauls Prinzipien der Sprachgeschichte das wichtigste und einflussreichste junggrammatische Werk, habe ich bereits hingewiesen,¹⁵⁷ und ebenso auf Hoenigswalds zugespitzte, auf die Grundzüge bezogene Formulierung: „What Sievers taught remained for a long time all that many of them ever knew about sound production.“¹⁵⁸ Sievers’ zentrale Rolle sowohl für die junggrammatische Richtung als auch für die Entwicklung der Phonetik als linguistischer Disziplin steht hier außer Frage und wird immer wieder nachdrücklich hervorgehoben.¹⁵⁹ Und ein Zitat wie das folgende auf Eduard Sievers bezogene ist durchaus kein Einzelfall: „To say that this scholar was one of the giants in the field of Germanic Linguistics in to say the least.“¹⁶⁰ Ein Grund dafür, dass Eduard Sievers außerhalb Deutschlands, außerhalb der germanistischen Sprachwissenschaft offensichtlich mehr geschätzt wird, ist sicherlich darin zu sehen, dass er dort nicht primär als der Schallanalytiker gesehen wird, sondern in erster Linie – bzw. ausschließlich – als Phonetiker, als historischer Grammatiker, als Junggrammatiker. Und dies wiederum steht in einem gewissen Zusammenhang mit einem weiteren, einem tieferen, vielleicht dem entscheidenden Grund für den unterschiedlichen Nachruhm von Eduard Sievers in und außerhalb Deutschlands – der unterschiedlichen Rezeption, dem unterschiedlichen Umgang mit den Junggrammatikern. 154 Sebeok (Hrsg.) (1966). 155 Vgl. hierzu Anm. 70. 156 So in Bright (Hrsg.) (1992), Bd.  3, S.  432 (J. Kelly), Asher / Simpson (Hrsg.) (1994), Bd.  7, S. 3884 (K. Grotsch) und in der Neuauflage von Asher / Simpson: Brown (Hrsg.) (2006), Bd. 11, S. 288–290 (E. Einhauser). 157 Vgl. S. 58 sowie Anm. 133. 158 Vgl. Anm. 136. 159 Ich verweise hier u. a. auf die bereits in den Anmerkungen 49, 134 und 137 genannte einschlägige Literatur. 160 Wilbur (1977), S. XXXII.

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In Deutschland, in der deutschen Sprachwissenschaft waren die Junggrammatiker – trotz ihrer bis zur Wende zum 20. Jahrhundert und teilweise noch darüber hinaus bestehenden Dominanz – massiver Kritik von unterschiedlichen Seiten ausgesetzt: vor allem von Seiten der Dialektgeographie sowie – allerdings erst später, erst nach der Jahrhundertwende einsetzend – von Seiten der Geistesgeschichte. Von der Dialektgeographie aus kritisierte man vor allem das – allerdings meist missverstandene – Postulat von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, das man durch die Wenkerschen Karten im Deutschen Sprachatlas widerlegt sah; demgegenüber betonte man die Bedeutung geographischer, kultureller und historischer Faktoren. Die in der Regel noch wesentlich schärfere Kritik geistesgeschichtlich orientierter Wissenschaftler (Voßler, Burdach, Naumann) richtete sich gegen die Beschränkung der Junggrammatiker auf Laute und Formen, gegen die Ausklammerung aller inhaltlichen Aspekte, gegen die – wie sie es nannten – Negierung aller geistigen, schöpferischen, ästhetischen Gesichtspunkte, die Isolierung der Sprache vom Sprachträger, die Verdinglichung der Sprache usw.¹⁶¹ Das verbindende Moment der Kritik an den Junggrammatikern war dabei – bei allen Unterschieden – die dezidierte Ablehnung der junggrammatischen Orientierung an den Naturwissenschaften, am junggrammatischen „Positivismus“, wie man es oft nannte – und bis heute oft nennt.¹⁶² Während jedoch die Geistesgeschichtler die junggrammatischen Positionen vollständig ablehnten und diametral entgegengesetzte Auffassungen vertraten, verstanden sich die Vertreter der Dialektgeographie eher als Überwinder der Junggrammatiker, als Überwinder insofern, als sie sich gleichfalls – zumindest lange Zeit – auch auf Laute und Formen konzentrierten, die strikten methodischen Vorgaben der Junggrammatiker – die sie als Schranken, als Verengungen empfanden – aber aufgaben und – in ihrem Verständnis – den Blick weiteten durch den Einbezug von geographischen, kulturellen und historischen Gesichtspunkten. Sie übernahmen also im Wesentlichen die Ergebnisse der junggrammatischen Forschungen – einschließlich der Grammatiken der verschiedenen deutschen bzw. germanischen Sprachstufen –, gingen aber in ihrer Arbeit von völlig anderen methodologischen Voraussetzungen aus.¹⁶³ 161 Vgl. auch die zusammenfassende, zahlreiche Zitate und Quellen anführende Darstellung der Kritik an den Junggrammatikern – die allerdings nicht frei von Fehlern ist – in Helbig (1983), S. 22–32, sowie die Ausführungen in Robins (1979), S. 187–190. 162 Wobei man – wie oben schon erwähnt – oft Gegenstand und Methode verwechselte (und verwechselt). 163 Insofern sahen die späteren Bearbeiter der Grammatiken von Braune, Paul und auch Sievers offensichtlich auch kein Problem darin, diese Grammatiken – deutlich gegen deren ursprüngliche Konzeption – durch dialektgeographisches Material anzureichern bzw. zu verfremden. Vgl. kritisch dazu Fromm (1978), S. 17–18, Anm. 19.

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Die im Wesentlichen negative Einstellung den Junggrammatikern gegenüber hielt sich bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein – und zwar sowohl in West wie in Ost, in der Bundesrepublik wie in der DDR. Im Fall der DDR kam noch hinzu, dass die Junggrammatiker mit ihrem Ausblenden aller gesellschaftlichen Zusammenhänge, mit ihrer als positivistisch bezeichneten Vorgehensweise im offenen Widerspruch zu marxistischen Positionen standen.¹⁶⁴ Teilweise hält sich die negative Bewertung der Junggrammatiker noch heute – teils unterschwellig, teils offen. So dominieren in den verschiedenen Überblicksarbeiten fast immer die negativen Bemerkungen zu den Junggrammatikern und finden sich immer wieder die oben genannten Kritikpunkte.¹⁶⁵ Noch 1999 stimmt Gardt ausdrücklich der Formulierung Spechts aus seinem vielzitierten und einflussreichen Aufsatz Die ‚indogermanische Sprachwissenschaft‘ von den Junggrammatikern bis zum ersten Weltkriege von 1948 von „der großartigen Einseitigkeit ihrer überschätzten Methode“¹⁶⁶ zu, wiederholt einige der traditionellen Kritiktopoi und hält als Leistungen der Junggrammatiker fest: „die Reduzierung des überhöhten Status des Sanskrit, die sehr detaillierte Beschreibung des Konsonantismus, Vokalismus und der Flexion indogermanischer Einzelsprachen, die Hinwendung zur gesprochenen Sprache, schließlich die wichtigen Impulse für eine systematisch angelegte Sprachgeographie.“¹⁶⁷ Zwar wurde auch außerhalb Deutschlands, außerhalb der germanistischen Sprachwissenschaft z. T. sehr massive Kritik an den Junggrammatikern geübt, vor allem in der strukturalistischen Linguistik im Anschluss an Saussure bzw. Bloomfield – die Hauptkritik galt hier jedoch vor allem dem sog. Atomismus, d. h. der Beschäftigung mit den einzelnen Erscheinungen, den Lauten und Formen einer Sprache ohne Berücksichtigung ihres systematischen Zusammenhangs,¹⁶⁸ sowie der historischen Ausrichtung, d. h. – in Saussures Begriffen – der rein diachroni-

164 Vgl. hierzu die Hinweise in Helbig (1983), S. 15, Anm. 19 und S. 19, Anm. 38. 165 Vgl. etwa Arens (1969), S.  314–317, Arens (1980), S.  104–105, Helbig (1983), S.  14–20 – das Teilkapitel, in dem Helbig die Kritiker der Junggrammatiker behandelt (S. 20–32) trägt den Titel „Die Überwindung der Junggrammatiker“ –, Bartschat (1996), S. 27–30. 166 Specht (1948), S.  233. – Im Zusammenhang heißt es dort über die Junggrammatiker: „In Wirklichkeit haben sie das vielgestaltige Leben der Sprache, das noch bei den Zeitgenossen Schleichers zu seinem Rechte kam, in der Forschung verkümmern lassen. Ihre unleugbaren, gewaltigen Verdienste liegen allein in der großartigen Einseitigkeit ihrer überschätzten Methode, mit der sie das riesige Material kritisch untersuchten und weiter vermehrten.“ Und an anderer Stelle schreibt Specht: „Das wirklich greifbare Leben in der Sprache macht vielfach einer rein mechanischen Spracherklärung Platz“ (Ebd., S. 243). 167 Vgl. Gardt (1999), S. 287–288. 168 Darauf, dass dieser Vorwurf nur teilweise seine Berechtigung hat, habe ich schon hingewiesen (Anm. 147).

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schen Arbeitsweise der Junggrammatiker. Das Innovative, das Moderne der Junggrammatiker, ihr bahnbrechender Beitrag für die Entwicklung der Sprachwissenschaft durch ihre strenge Methodologie, ihre theoretische Reflexion und ihre rigorose Forderung nach äußerster Präzision wurde – zumindest in den angelsächsischen Ländern – nie in Zweifel gezogen und wird immer wieder nachdrücklich betont. So heißt es z. B. bei Robins: „Much of our linguistic theory, in particular our theory of historical linguistics, would not bear the form it bears today but for its direct dependence on the neogrammarians. In this sense they are part of the contemporary linguistic scene, and ‚we are all neogrammarians nowʻ.“¹⁶⁹ Und bei Anna Morpurgo Davies lesen wir: „[…] perhaps the greatest single achievement of the neogrammarians is to have shown that even a data-oriented movement needs a coherent methodology and that such a methodology is only possible within an explicit theoretical framework.“¹⁷⁰ Charles F. Hockett bezeichnet die ersten Arbeiten der Junggrammatiker als einen der vier „major breakthroughs“ in der Geschichte der Sprachwissenschaft – neben dem schon erwähnten Vortrag von William Jones 1786, mit dem letztlich die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft und damit auch die eigenständige wissenschaftliche Disziplin Sprachwissenschaft begründet wurde, Saussures Cours de linguistique générale¹⁷¹ und Chomskys Syntactic Structures:¹⁷² „All else that we have done relates to those four in one way or another.“¹⁷³ Und Frederick J. Newmeyer sieht die Junggrammatiker als Vertreter einer autonomen Sprachwissenschaft, einer Sprachwissenschaft also, die dezidiert von nicht-sprachlichen Faktoren absieht, in einer Traditionslinie mit dem Strukturalismus und der generativen Grammatik.¹⁷⁴ Es ist ja auch sicherlich kein Zufall, dass zentrale Vertreter des Strukturalismus wie Saussure, Trubetzkoy und Bloomfield bei den Junggrammatikern studiert haben, die Fundamente für die moderne Linguistik also letztlich durch die Junggrammatiker, durch ihre wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Grundsätze und die konsequente Umsetzung dieser Grundsätze in ihrer wissenschaftlichen Praxis gelegt wurden. Dies lässt im übrigen die Kritik an den Junggrammatikern 169 Robins (1979), S. 182. 170 Morpurgo Davies (1975), S. 646. – Ähnliche Formulierungen finden sich – um nur noch einige wenige Beispiele zu nennen – in Bynon (1977), S.  23, Ohala (1994), S.  4052, oder Seuren (1998), S. 89. 171 Saussure (1916). 172 Chomsky (1957). 173 Hockett (1965), S. 185. 174 Vgl. Newmeyer (1994), S.  283. – Diese Einschätzung wird auch dadurch bestätigt, dass in zahlreichen Aufsätzen immer wieder die Affinität zu den Junggrammatikern betont, großer Respekt bezeugt und betont wird, dass die Arbeiten „im junggrammatischen Geist“ geschrieben seien – ich nenne nur als einige wenige Beispiele Labov (1981), Kiparsky (1995) und Hale (2003).

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in Deutschland, in der deutschen Sprachwissenschaft noch in einem anderen Licht erscheinen, nämlich – zumindest in gewisser Weise – als Konflikt zwischen Philologie und Linguistik, zwischen eher philologisch und eher an Verallgemeinerungen, am Erkennen von Regelmäßigkeiten orientierter Sprachwissenschaft. Auch insofern kann also von einer „Überwindung“ der Junggrammatiker etwa durch die Dialektgeographie in keiner Weise gesprochen werden, da es sich um zwei völlig unterschiedliche wissenschaftliche Paradigmen handelt mit völlig entgegengesetzten methodologischen und wissenschaftstheoretischen Grundannahmen, was durch die Übernahme der Erkenntnisse und Ergebnisse der Junggrammatiker allerdings nicht so offen zu Tage trat. Es ist offenkundig – um wieder auf den Ausgangspunkt zurückzukommen –, dass Eduard Sievers bei einer solchen Bewertung der Junggrammatiker, wie ich sie kurz umrissen habe, einer wesentlich positiveren Bewertung also, die zudem deutlich andere Gewichtungen vornimmt, deutlich andere Perspektiven auf die Junggrammatiker hat, auch in einem wesentlich positiveren Licht erscheint, dass man erst bei einer solchen Sicht auf die Junggrammatiker seine wissenschaftshistorische Bedeutung angemessen erfassen kann – für die Junggrammatiker, für die wissenschaftshistorischen Auswirkungen der Junggrammatiker. Und seine Bedeutung auch für eine synchron orientierte Phonetik bzw. Phonologie konnte nur da erkannt werden, wo man nicht (nur) historisch orientiert war wie in der deutschen Sprachwissenschaft bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Dass Wilhelm Braune in dieser Rezeption keine große Rolle spielt, ist verständlich, da er keine wesentlichen theoretischen und methodologischen Impulse zu den junggrammatischen Positionen gab: sein gegenüber Sievers weit größerer Nachruhm in der germanistischen Sprachwissenschaft ist – wie schon erwähnt – vor allem auf seine Arbeiten zurückzuführen, mit denen seit Generationen jeder Germanist groß wird. Anders dagegen bei Paul, der nicht nur – wie Braune – durch seine germanistischen Standardwerke, seine Grammatiken und sein Wörterbuch jedem Germanisten bekannt ist, sondern der auch – zusammen mit Karl Brugmann – der theoretische Kopf der Junggrammatiker war und dementsprechend auch und vor allem dadurch hohes Ansehen genießt und dessen bedeutende Rolle in der Geschichte der Sprachwissenschaft völlig unbestritten ist. Auch in der Geschichte der Leipziger Germanistik, im Bewusstsein der Leipziger germanistischen Sprachwissenschaft ist Eduard Sievers – wie ich meine, zu Unrecht – in die zweite Reihe hinter Theodor Frings gerückt.¹⁷⁵ Außer den für die 175 Um nur ein charakteristisches Beispiel zu nennen: In dem in Anm. 153 schon erwähnten Text aus dem kommentierten Vorlesungsverzeichnis des Instituts für Germanistik der Universität Leipzig, der bis zum Wintersemester 1996/97 in Gebrauch war, heißt es: „Im Jahre 1892 über-

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deutsche Sprachwissenschaft, für die germanistische Sprachwissenschaft allgemein geltenden Gründen – die ich kurz zu umreißen versucht habe – spielt hier sicherlich auch der schon erwähnte umfangreiche Nachruf auf Eduard Sievers von Theodor Frings aus dem Jahre 1933 eine Rolle – bis zu Ganz’ Aufsatz von 1978 die umfangreichste Arbeit über Sievers–,¹⁷⁶ in dem Frings Sievers zwar alles in allem recht differenziert würdigt, in dem sich aber auch Urteile über Sievers finden, die das Bild von Sievers – nicht zuletzt in Leipzig – nachhaltig geprägt haben, die aber – was nicht immer ausreichend berücksichtigt wurde – im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Situation der damaligen Zeit zu sehen sind, in der die Kritik an den Junggrammatikern, an ihrer Methode, an ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung ohnehin Usus war. So heißt es bei Frings u. a., wenn er Sievers mit Wilhelm Braune und dessen späterer Entwicklung vergleicht:¹⁷⁷ Braunes entschlossenem Schritt von der Philologie zur Geschichte, vom Wort zu den geographischen und kulturgeschichtlichen Lebensbedingungen seines Körpers und seines Inhaltes hat er verständnislos, ja mit einer nicht zu verschweigenden Feindseligkeit gegenüberstanden. Hier tauchen die Schranken auf, von denen wir sprachen und die wir auch an anderer Stelle beobachten werden. Die an sich begrenztere Persönlichkeit [Braune] hat die materiellen Leistungen ihrer Generation in den Fluß der Entwicklung hineingeleitet und damit an dieser Stelle den genial Eignen und Einseitigen [Sievers] überholt.¹⁷⁸

nahm Eduard SIEVERS, Vater der sog. Schallanalyse, den nach dem Tode Zarnckes verwaisten germanistischen Lehrstuhl. Er begründete den Weltruhm des Leipziger Instituts. Wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamer waren jedoch die Leipziger Arbeiten zur Erforschung der deutschen Mundarten, die fast vier Jahrzehnte mit dem Wirken von Theodor FRINGS verbunden waren […]. Mit dem (aus moderner Sicht) interdisziplinären Ansatz von Frings, den Einfluß historischer, kulturhistorischer und räumlicher Phänomene auf die Sprache und ihre Entwicklung zu erforschen, erreichte die germanistische Forschung in Leipzig als kulturhistorisch-soziologische Disziplin erneut einen Glanzpunkt. Anläßlich einer Feier zu seinem 70. Geburtstag nannte Frings Moritz Haupt den praeceptor philologorum, Friedrich Zarncke den praeceptor Germaniae und Eduard Sievers den praeceptor mundi. Die gleiche Weltbedeutung, die er Sievers zuerkennt, kam auch dem germanistischen Institut unter der Fringsschen Leitung zu; es war eine schola mundi. Ein verpflichtendes Erbe, das die an der späteren Sektion Germanistik und Literaturwissenschaft lehrenden Frings-Schüler Rudolf GROßE, Wolfgang FLEISCHER und Gotthard LERCHNER, letzterer seit 1989 Ordinarius auf dem ehemaligen Fringsschen Lehrstuhl, mit einer stattlichen Zahl von Promovierten und Habilitierten aus aller Welt ganz bewußt weiterführten“ (Germanistik Leipzig (1996), S. 1). 176 Vgl. Anm. 70. 177 Frings spielt hier auf Braunes Aufsatz „Althochdeutsch und Angelsächsisch“ (Braune (1917)) an, in dem Braune auch den kultur- und allgemein historischen Hintergrund mit einbezieht. 178 Frings (1933), S. 5–6.

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Und zu Sievers’ Verhältnis zur Dialektgeographie heißt es – bezogen auf Wenkers Sprachatlas und Fischers Geographie der schwäbischen Mundart:¹⁷⁹ […] beide Werke brachten die Hauptthese der Junggrammatiker, den Satz von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, auf Grund breiten Erfahrungsmaterials ins Schwanken, beide wiesen von der individualistischen auf die soziologische Sprachbetrachtung, auf die geschichtlich gewordene Sprachgemeinschaft, ihren Aufbau, ihre Geschicke und ihre Bindungen im Raum. Von der naturwissenschaftlich genauen Beschreibung drängte alles fort auf die Beobachtung der Dynamik im sprachlichen Geschehen, wodurch einmal der Sprachwissenschaft schlechthin, ein andermal der Vereinigung von Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte ganz neue Erkenntnisse erstanden und neue Aufgaben gestellt wurden. Das haben die Junggrammatiker, hat insbesondere E. Sievers nicht gesehen, obgleich nach Kenntnis der deutschen Sprachgeschichte, insbesondere der deutschen Mundarten, kein zweiter so wie er imstande gewesen wäre, den beiden Unternehmungen den Weg zu bahnen.¹⁸⁰

Es ist m. E. an der Zeit, Eduard Sievers wieder den Platz in der Leipziger germanistischen Sprachwissenschaft, in der germanistischen Sprachwissenschaft und in der Sprachwissenschaft allgemein – auch in Deutschland – zuzuerkennen, der ihm gebührt.

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Uwe Maximilian Korn, Ludwig Stockinger

„Ist das Gehirn so eng, daß nur eine Betrachtungsweise darin Platz hat?“ Albert Köster und Georg Witkowski als Vertreter der historisch-philologischen Methode in Leipzig Albert Köster und Georg Witkowski sind die repräsentativen Gestalten in der ersten Phase der Etablierung der Neueren deutschen Literaturwissenschaft als Teildisziplin der Germanistik an der Universität Leipzig. Köster war in Leipzig von 1899 bis 1924 Ordinarius für Neuere deutsche Sprache und Literatur, Witkowski seit 1886 Privatdozent, ab 1896 unbesoldeter, ab 1919 besoldeter Extraordinarius und von 1930 bis 1933 ‚persönlicher Ordinarius‘ für Neuere deutsche Sprache und Literatur. Beide vertreten auf je individuelle Weise eine Richtung des Faches, die Wolfgang Höppner mit Blick auf die Verhältnisse zur selben Zeit an der Berliner Universität als „historisch-philologische Methode der Literaturbetrachtung“¹ bezeichnet, eine Methode, die sich auf die Anfänge der Germanistik als wissenschaftlicher Disziplin an den deutschen Universitäten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beruft und sich in Berlin auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch gegen die neuere Konzeption von Literaturwissenschaft als ‚Geistesgeschichte‘ behaupten konnte.² In der wissenschaftsgeschichtlichen Wahrnehmung werden die Vertreter dieser Richtung als ‚Positivisten‘³ von den Repräsentanten innovativer, zum Teil auch zukunftsträchtigerer Neukonzeptionen der germanistischen Literaturwissenschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert oft verdunkelt – vor allem von der ‚Geistesgeschichte‘⁴ und von

1 Höppner (2005), S. 266. 2 Symptomatisch sind hierbei die Kämpfe um die Nachfolge Erich Schmidts 1913. Vgl. Höppner (2007), S. 56: „Die Berliner Fakultät konnte […] verhindern, dass mit Friedrich Gundolf ein Exponent der Geistesgeschichte […] berufen wurde, so dass schließlich mit Julius Petersen ein Wissenschaftler die Nachfolge antrat, der sich sowohl der philologischen als auch geistes- und ideengeschichtlichen Richtung in ihrer Verbindung verpflichtet fühlte.“ Im Hinblick auf die Leipziger Situation ist hinzuzufügen, dass vor Petersen der Ruf aus Berlin an den Leipziger Ordinarius Albert Köster ergangen war und Köster nach Bleibeverhandlungen mit dem Sächsischen Ministerium den Ruf ablehnte. Zu diesen Vorgängen vgl. UAL, PA 650, Bl. 26–29. 3 Zur Problematik dieses „Kampfbegriffs“ vgl. Kruckis (2009) und Höppner (2007), S. 38f. Die Grenzen zwischen der ‚historisch-philologischen‘ Germanistik und dem Schererschen ‚Positivismus‘ sind durchaus fließend. 4 Vgl. Klausnitzer (2007), S. 94–99.

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der ‚Deutschkunde‘⁵ –, und so kann die folgende Darstellung und Würdigung der Leistungen von Albert Köster und Georg Witkowski auch als ein Beitrag gelesen werden, der diese im Universitätsbetrieb durchaus bedeutsame und keinesfalls folgenlose Variante der Neugermanistik wieder stärker ins Licht heben soll.

1. Institutionsgeschichtliche Grundlagen 1.1 Etablierung der neugermanistischen Professur am ‚Deutschen Seminar‘ – Konzeptionelle Voraussetzungen und Vorgeschichte Die Errichtung und Besetzung eines neugermanistischen Ordinariats in Leipzig im Jahr 1899 und eines besoldeten Extraordinariats im Jahr 1919 erfolgte im Vergleich zu anderen deutschen Universitäten ziemlich spät, und dies ist begründet in einer Vorgeschichte, die hier nur knapp skizziert werden kann.⁶ Die Anfänge der Leipziger Universitätsgermanistik bei Moriz Haupt, seit 1843 Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur, stehen im Zeichen der Entscheidung, das Fach als wissenschaftliche Disziplin durch den Anschluss an das „konzeptuelle Wissen“⁷ der Klassischen Philologie zu legitimieren, das heißt die Festlegung auf ein „philologisch-textkritische[s] Konzept“⁸ von Germanistik. Das bedeutet neben der historischen Grammatik in der Sprachwissenschaft in der Literaturwissenschaft die weitgehende Begrenzung auf die Hauptaufgabe der Bereitstellung der Quellen durch die Arbeit der Textedition, was Textkritik als Methode der Herstellung des ‚besten‘ Textes und Textkommentar als Erschließung des sprachlichen und inhaltlichen Verständnisses mit umfasst. Dazu gehört auch die Bereitstellung von Informationen über die biographischen und geschichtlichen Kontexte der Entstehungszeit der Texte. Da Moriz Haupt 1853 Nachfolger von Karl Lachmann in Berlin wurde, wurde auch – unbeschadet der Kontroversen über das Nibelungenlied zwischen der Berliner und der Leipziger Germanistik in der

5 Vgl. dazu Höppner (2007), S. 56–59. 6 Zum Folgenden vgl. Krüger (1990), Öhlschläger / Stockinger (2009), S.  540f., Stockinger (2009), S. 88–91, sowie den Beitrag von Stockinger zu Hermann August Korff in diesem Band, S. 200–204. 7 Fohrmann (1991), S. 116. 8 Meves (2001), S. 1286.

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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts⁹ – die Übereinstimmung in der methodischen Ausrichtung begründet. Dass diese methodische Entscheidung mit dem vorläufigen Verzicht auf die Legitimation des Faches durch den Nachweis einer politisch-sozialen Leistung und Funktion verbunden war,¹⁰ war Moriz Haupt durchaus bewusst. Er sieht aber, wie er in einer Rezension der Lachmannschen Edition der Werke Wolframs von Eschenbach ausführt, in der Konzentration der Aufgaben und Methoden ein notwendiges Durchgangsstadium, eine unerlässliche Voraussetzung für eine künftige nationalpolitische Wirkung der Germanistik, die er durchaus nicht ausschließt: Und wie wir von der Philosophie, deren Wirksamkeit nach Außen keineswegs dieselbe ist, die sie auf früheren Stufen ihrer Ausbildung verbrachte, die dereinstige Wiedergeburt des religiösen Lebens mit Zuversicht hoffen, so wird auch die jetzt isolirte Philologie nicht für immer ohne allgemeinere Anerkennung und ohne Frucht für das Leben bleiben.¹¹

Aus dieser Sicht kann die Germanistik das Bedürfnis nach einer Darstellung der nationalen Literaturgeschichte im Zusammenhang politischer, religiöser und philosophischer Kontexte derzeit noch nicht befriedigen, es sei denn um den Preis des Dilettantismus.¹² In der konsequenten Weiterführung dieser Tradition ist es begründet, dass Moriz Haupts Schüler und – seit 1858 – Nachfolger auf dem Leipziger Lehrstuhl Friedrich Zarncke sich bei seinem Bemühen um die Errichtung und Besetzung einer neugermanistischen Professur in Leipzig am tradierten historisch-philologischen Konzept orientierte.¹³ Nachdem der erste Anlauf, das Fach durch die

9 Vgl. dazu Kolk (1990). 10 Vgl. Klausnitzer (2007), S. 91–96. 11 Haupt (1835), S. 918. 12 Vgl. Haupt (1835), S. 921: „Die Rechte der Philosophie bleiben ungekränkt, wenn wir uns gegen die anspruchsvollen Versuche, die im Grunde ebenso wenig philosophisch als historisch sind, unumwunden erklären. […] Jene philosophischen Historiker […] raffen die durch den ernsten Fleiß Anderer bisher gewonnene Kenntniß mit flüchtigem Danke für geleistete Dienste eilfertig zusammen, um sie nach ihrer Weise zurecht zu stellen; die Lücken dieser Kenntniß ahnen sie nicht oder füllen sie durch eigne Zutat erfindsam aus. Die Werke, die aus einem solchen Verfahren hervorgehen, sind nicht nur […] unnütz, sondern durchaus verderblich, indem sie bei Denen, die sich blenden lassen, den Sinn für ernste Forschung unausbleiblich abstumpfen und auf der andern Seite Manche, denen gelehrtes Wissen noch etwas gibt, durch ihr abschreckendes Beispiel auf das entgegengesetzte Extrem bloßer Empirie zurückdrängen, wie sich dies namentlich an einigen Historikern zeigt.“ 13 Zarncke selbst hat auch zu Themen aus der Mittleren und Neueren deutschen Literatur gearbeitet und publiziert. Vgl. z. B. Zarncke (1865), Zarncke (1868) und Zarncke (1884).

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Errichtung eines Extraordinariats für Theodor Wilhelm Danzel zu institutionalisieren, 1849 an der Ablehnung durch die sächsische Regierung gescheitert war, beantragte Zarncke 1868 die Errichtung eines Ordinariats für Neuere deutsche Sprache und Literatur und schlug vor, dieses mit Michael Bernays zu besetzen.¹⁴ Das war zu diesem Zeitpunkt einigermaßen mutig, da Bernays zwar seine Qualifikation hinsichtlich der kreativen Übertragung philologischer Methoden auf Gegenstände der Neueren deutschen Literatur durch eine wegweisende textkritische Untersuchung der Fassungen von Goethes Jugendwerken, insbesondere des Werther,¹⁵ schon 1866 eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte, aber noch nicht habilitiert war. Zarnckes Pläne scheiterten, da 1869 zwar ein Extraordinariat errichtet, dies aber – nach persönlichem Druck von Bismarck auf die Sächsische Regierung – mit Rudolf Hildebrand, seit 1863 Herausgeber des Deutschen Wörterbuchs, besetzt wurde.¹⁶ Dass diese Besetzung Zarnckes Vorstellungen von der erforderlichen Qualifikation nicht entsprochen haben dürfte, lässt sich daraus schließen, dass Hildebrands Lehrveranstaltungen, die auch Gebiete der Neueren deutschen Literatur berührten, unter den Lehrveranstaltungen des ‚Deutschen Seminars‘ nicht aufgeführt worden sind. In der Tat war Hildebrand für die Wahrnehmung der Aufgaben einer Professur für Neuere deutsche Sprache und Literatur nicht qualifiziert, weil er auf dem Gebiet der Literaturgeschichte keine relevanten wissenschaftlichen Publikationen vorweisen konnte.¹⁷ Hildebrand entfaltete allerdings in der deutschen Germanistik auf einem anderen Feld eine erhebliche Wirkung, weil er aufgrund seiner Publikationstätigkeit auf dem Gebiet der Deutschdidaktik, vor allem mit der gemeinsam mit Otto Lyon 1887 gegründeten Zeitschrift für den deutschen Unterricht, die spätere Durchsetzung der ‚Deutschkunde‘ maßgeblich vorbereitet hat.¹⁸ Hildebrands Aktivitäten füllten somit in gewisser Weise

14 Zu den Einzelheiten dieses Versuchs und zu den Gründen des Scheiterns vgl. Krüger (1990), S. 55–66. 15 Vgl. Bernays (1866), zum Werther S. 10–44; zum methodischen Programm vgl. S. 8, wo als Ziel knapp und präzise eine Untersuchung der Texte Goethes „nach jener strengen Methode“ angekündigt wird, „welche den Schriftwerken des classischen und unseres eigenen Alterthums schon längst zu Gute gekommen ist“. Zu Bernays’ textkritischen Prinzipien vgl. Schlott (2000), S. 69–71. 16 Michael Bernays habilitierte sich 1872 in Leipzig mit einer Arbeit über die „Schlegelsche Shakespeare-Übersetzung“ – vgl. Bernays (1872) –, war kurz in Leipzig Privatdozent und wurde 1873 als Extraordinarius nach München berufen, wo er von 1874–1890 als Ordinarius für Neuere Sprachen und Literaturen lehrte. 17 Dass Hildebrand aber in der Fakultät präsent gewesen ist, zeigt sich z. B. an seiner nicht unwichtigen Rolle in den die Neugermanistik betreffenden Habilitationsverfahren von Georg Witkowski und Ernst Elster. 18 Vgl. Frank (1973), S. 508–533, S. 594–752.

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eine der Lücken in der politisch-sozialen Legitimation des Faches, es fehlte ihnen aber die Anerkennung durch die Vertreter des Faches.

1.2 Geschichte der Besetzung des Ordinariats durch Albert Köster Erst mit dem Tod von Rudolf Hildebrand im Jahr 1894 eröffnete sich die Möglichkeit für die Fakultät und das ‚Deutsche Seminar‘, die Professur für Neuere deutsche Sprache und Literatur gemäß den eigenen Vorstellungen zu besetzen. Dass sich die Besetzung der Professur erst 1899 durch die Berufung Albert Kösters realisieren ließ, lässt allerdings auf einige Schwierigkeiten und Kontroversen schließen, von denen die im Archiv der Universität überlieferten Dokumente ein aufschlussreiches Bild ergeben. Bei der Deutung dieser Vorgänge ist mit zu berücksichtigen, dass etwa seit der Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts die philologisch-historische Methode der Germanistik neben den Legitimationsdefiziten bezüglich der politisch-gesellschaftlichen Leistungen und Funktionen auch innerhalb der Disziplin selbst zunehmend unter Legitimationsdruck geraten war, und dies nicht nur durch die schon genannten Programme der ‚Geistesgeschichte‘ und der ‚Deutschkunde‘, sondern auch durch verschiedene Versuche, die Literaturwissenschaft als eigenständige Wissenschaft mit spezifischen Methoden jenseits der Anlehnung an das Paradigma der Klassischen Philologie zu begründen und dabei erste Ansätze zu einer modernen Literaturtheorie zu entwickeln.¹⁹ In die Diskussion um die Besetzung der Leipziger Professur spielt diese Problemlage insofern hinein, als Ernst Elster, der sich 1888 in Leipzig habilitiert hatte und 1892 zum unbesoldeten Extraordinarius ernannt worden war, sich mit einem gewichtigen Beitrag an diesen Versuchen beteiligt hatte²⁰ und diese Leistung in der Diskussion über die Besetzung der Professur eine Rolle spielte. Gemäß dem Entwurf eines Berufungsvorschlags der Philosophischen Fakultät an das Ministerium des Kultus und des öffentlichen Unterrichts, datiert auf den 28. Juni 1895, wird eine Persönlichkeit gesucht, deren Schwerpunkt auf dem Gebiete der Literaturgeschichte, und zwar speziell auf dem der Geschichte der neueren deutschen Literatur liegt, die aber andererseits auch mit den übrigen Disciplinen des Faches soweit vertraut ist, dass sie eventuell auch an den Geschäften der verschiedenen Prüfungskommissionen teilnehmen könnte.²¹

19 Vgl. Klausnitzer (2007), S. 89–91. 20 Vgl. Elster (1894) und Elster (1897). 21 UAL, PA 650, Bl. 1.

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Damit umschreibt die Fakultät den Wunsch nach einer Spezialisierung auf dem Gebiet der Neueren deutschen Literatur, ohne die Kompetenz in allen übrigen Bereichen der Germanistik zu vernachlässigen.²² Rudolf Hildebrand wird dabei großzügig unterstellt, dass er diesem Profil voll und ganz entsprochen habe, aber die Formulierung zeigt, dass man nach einem Kandidaten Ausschau gehalten hat, dessen Qualifikation sich von der Hildebrands deutlich unterscheiden sollte.²³ Offenbar nach einer längeren Diskussion über verschiedene Kandidaten schlägt die Fakultät in ihrem Schreiben nur eine Person vor, den Züricher Professor Jakob Bächtold, dessen Publikationen die Literatur des Mittelalters, der Goethezeit und des Realismus (Gottfried Keller) abdeckten. Hervorgehoben werden auch Bächtolds Leistung einer größeren literaturgeschichtlichen Darstellung für ein breiteres Publikum, die er in seiner Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz²⁴ durch „ungekünstelte und geschmackvolle Darstellung“, die „auch dem Nichtfachmann reiche Anregung bietet“,²⁵ nachgewiesen habe, und seine Begabung als akademischer Lehrer.²⁶ Als am 10. September 1895 das Ministerium der Fakultät mitteilt, dass Bächtold den Ruf aus gesundheitlichen Gründen nicht angenommen hat,²⁷ reagiert diese am 15. November 1895 mit dem Vorschlag, „das gedachte Ordinariat vorläufig offen zu halten, indem sie sich vorbehält zur geeigneten Zeit, und zwar spätestens in zwei Jahren auf die Angelegenheit zurückzukommen“.²⁸ Dies wird begründet mit der Einschätzung, dass sich derzeit keine ausreichend qualifizierte Persönlichkeit für die Besetzung der Professur finden lasse. Als Zwischenlösung wird vorgeschlagen, die Wahrnehmung der Aufgaben der Professur den beiden

22 Damit wird eine die Sprach- und Literaturwissenschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart umfassende Kompetenz umschrieben, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein unter der Bezeichnung ‚Deutsche Philologie‘ z. B. in Habilitationsverfahren in Geltung geblieben ist und zum Teil bis heute die Anforderungen bei den Staatsexamina, an der Universität Leipzig auch bei den BA- und MA-Studiengängen der Germanistik, bestimmt. 23 Von der Didaktik, zu der Hildebrand publiziert hat, ist in den überlieferten Dokumenten nicht die Rede. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass es an der Fakultät für diesen Bedarf ein ‚Pädagogisches Seminar‘ mit den Abteilungen ‚Praktisch-pädagogisches Seminar‘ (gegründet 1895) und ‚Philosophisch-pädagogisches Seminar‘ (gegründet 1894) gegeben hat. Vgl. Flöter (2009), S. 701–703. 24 Vgl. Bächtold (1892). 25 UAL, PA 650, Bl. 4. 26 Vgl. ebd.: „In allen seinen Publikationen erscheint Bächtold als eine durchaus frische und kernige Natur, und als eine solche hat er sich auch auf dem Katheder bewährt.“ 27 Vgl. ebd., Bl. 5. 28 Ebd., Bl. 7.

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außerordentlichen Professoren Karl von Bahder²⁹ und Ernst Elster³⁰ zu übertragen.³¹ In einem Antwortschreiben vom 14. Dezember 1895 erklärt sich das Ministerium mit diesem Vorschlag einverstanden.³² Erst im Frühjahr 1898 kommt die Fakultät auf die Angelegenheit zurück und erwägt zunächst, „den gegenwärtigen Zustand bis auf weiteres fortbestehen zu lassen“,³³ um dann doch eine Kommission einzusetzen, die einen Berufungsvorschlag ausarbeiten soll. Laut Protokoll einer Kommissionssitzung vom 11. Juni 1898 „werden die Namen Creizenach,³⁴ Weissenfels,³⁵ Köster, Elster genannt und erörtert“.³⁶ Am 23. Juni 1898 wird „Einstimmigkeit für Creizenach und Köster“³⁷ erzielt; über die Frage, ob Weissenfels oder Elster auf die Vorschlagsliste gesetzt werden sollen, ergibt sich „Stimmengleichheit pro und contra“.³⁸ Am 13. Juli 1898 kommt dann die Philosophische Fakultät, wie der im Archiv der Universität Leipzig aufbewahrte Entwurf des Schreibens an das Ministerium dokumen29 Karl von Bahder (1856–1932) war seit 1886 Extraordinarius für Deutsche Sprache und ältere deutsche Literatur in Leipzig (bis 1918). Zu den biografischen Daten folgen wir hier und in den folgenden Fällen den Angaben bei König (2003). 30 Ernst Elster (1860–1940) hat in Leipzig 1884 bei Friedrich Zarncke mit einer Arbeit zur „Kritik des Lohengrin“ promoviert. Die Habilitation erfolgte 1888 in Leipzig mit einer Arbeit zur „Entstehungsgeschichte des Don Carlos“. Elster war seit 1892 Extraordinarius für Neuere deutsche Sprache und Literatur in Leipzig; er wechselte 1901 an die Universität Marburg, wo er ab 1901 als Extraordinarius, ab 1903 als Ordinarius wirkte. 31 Im Schreiben der Fakultät wird allerdings auch auf die „abweichenden Auffassungen“ (UAL, PA 650, Bl. 7) einer Minderheit hingewiesen, dass das Provisorium wegen der Aufgaben in der „Ausbildung der Lehrer“ in diesem dafür „hochwichtigen Fach“ „ungünstig wirken“ werde (ebd.). Die Angehörigen der überstimmten Minderheit seien auch nicht der Auffassung, dass es derzeit keine geeigneten Kandidaten gebe (vgl. ebd., Bl. 8). 32 Vgl. ebd., Bl. 9–10. 33 Ebd., Bl. 12. 34 Wilhelm Creizenach (1851–1919) hat in Leipzig 1875 bei Friedrich Zarncke mit einer Arbeit über „Judas Ischariot in Legende und Sage des Mittelalters“ promoviert. Die Habilitation erfolgte 1879 mit einer Arbeit zur „Entstehungsgeschichte des neueren deutschen Lustspiels“. Ab 1883 war er Extraordinarius, ab 1886 Ordinarius an der Universität Krakau. Zum Zeitpunkt der Diskussion um eine Berufung nach Leipzig war auch schon der erste Band seiner auf fünf Bände angelegten Geschichte der neueren Dramas (1893–1916) erschienen, die das Drama aller europäischen Literaturen erfassen sollte. 35 Richard Weissenfels (1857–1944) hat in Freiburg/Br. 1885 bei Hermann Paul mit einer Arbeit über den „daktylischen Rhythmus bei den Minnesängern“ promoviert. Die Habilitation erfolgte 1887 mit einer Arbeit über „französische und antike Elemente im Stil Heinrich von Kleists“. Zum Zeitpunkt der Diskussion um eine Berufung nach Leipzig war Weissenfels Extraordinarius für Deutsche Philologie an der Universität Freiburg/Br. 36 UAL, PA 650, Bl. 13. 37 Ebd., Bl. 14. 38 Ebd., Bl. 14.

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tiert,³⁹ zu einem abschließenden Ergebnis mit folgendem Listenvorschlag: auf Platz 1 Albert Köster (einstimmig), auf Platz 2 Wilhelm Creizenach (19 gegen 7 Stimmen), auf Platz 3 Richard Weissenfels (14 gegen 12 Stimmen). Die Umschreibung des Profils lässt erkennen, dass im Verlauf der Diskussion der Schwerpunkt der Anforderungen sich von der ursprünglichen Erwartung einer umfassenden germanistischen Kompetenz mit besonderer Berücksichtigung der Neueren deutschen Literatur hin zu einer stärkeren Spezialisierung auf das Gebiet der Neueren deutschen Literatur verlagert hat,⁴⁰ wenngleich die Bezeichnung der Professur weiterhin ‚Neuere deutsche Sprache und Literatur‘ hieß. Das Qualifikationsprofil der auf der Liste Genannten lässt zwei zusätzliche Implikationen durchscheinen, zum einen die Doppelqualifikation in Älterer und Neuerer deutscher Literatur – ausgewiesen durch die Themengebiete von Dissertation und Habilitationsschrift –, zum andern eine Zusatzkompetenz auf dem Gebiet von Sprachen und Literaturen außerhalb Deutschlands. Während über die Platzierung von Köster Konsens erzielt werden konnte, waren die an zweiter und dritter Stelle aufgeführten Kandidaten umstritten, wie das jeweilige Stimmenverhältnis anzeigt. Besonders kontrovers wurde offenbar die Frage diskutiert, ob statt Richard Weissenfels besser Ernst Elster auf Platz 3 der Liste gesetzt werden sollte. Das auf den 10. Juli datierte Sondervotum der unterlegenen Minderheit,⁴¹ das für Elster plädiert, und das auf den 13. Juli 1898 datierte Gegengutachten von Eduard Sievers⁴² sind wissenschaftsgeschichtlich aufschlussreich, weil hier in Umrissen erkennbar wird, welchen Einwänden das von der Mehrheit der Fakultät und insbesondere vom ‚Deutschen Seminar‘ favorisierte historisch-philologische Konzept ausgesetzt war. Das Sondervotum bezieht sich vor allem auf den 1897 publizierten Band 1 von Elsters Prinzipien der Litteraturwissenschaft: Elster gibt hierin eine zusammenhängende Untersuchung der dem litteraturgeschichtlichen Forschen zu Grunde liegenden psychologischen und ästhetischen Hauptbegriffe. Hiermit hat er eine Arbeit zu leisten unternommen, wie sie, trotz ihrer Wichtigkeit, in der literaturgeschichtlichen Forschung bis jetzt gefehlt hat. […] Es erscheint uns wünschenswert, daß die neuere deutsche Literaturgeschichte auf der einen Seite mit Sprache und Philologie,

39 Vgl. ebd., Bl. 15–18. 40 Vgl. ebd., Bl. 15: „Wie bei ihrem Antrag vom 27. Juli 1895 ist die Fakultät auch diesmal von der Anschauung ausgegangen, dass unter den obwaltenden Verhältnissen nur an die Berufung eines Literaturhistorikers gedacht werden könne, und zwar eines solchen der den Schwerpunkt seiner Thätigkeit auf das Gebiet der neueren deutschen Literatur lege und neben wissenschaftlicher Bewährung auch sichere und ausgesprochene Erfolge als akademischer Lehrer aufzuweisen habe.“ 41 Vgl. ebd., Bl. 19–20. 42 Vgl. ebd., Bl. 21–22.

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auf der anderen in enger Berührung mit Kulturgeschichte und Geschichte der Philosophie, sowie mit psychologischen und ästhetischen Gesichtspunkten behandelt werde.⁴³

Damit mahnt die Minderheit an, dass bei der Besetzung der Professur die schon erwähnten Tendenzen zu einer methodologischen Grundlegung der Literaturwissenschaft im Anschluss an andere Disziplinen als die Klassische Philologie berücksichtigt werden müssten, und dies wird verbunden mit der Forderung, die Anschließbarkeit an ganz bestimmte Disziplinen und deren aktuellen Diskussionsstand – Kulturgeschichte, Psychologie und philosophische Ästhetik – herzustellen, die in Leipzig stark vertreten waren. Diese Kompetenz wird nur Ernst Elster zuerkannt, und dies nicht nur explizit im Vergleich zu Richard Weissenfels, sondern implizit auch im Vergleich zu Albert Köster und Wilhelm Creizenach, in deren Publikationen ein entsprechendes Interesse ja nicht erkennbar war.⁴⁴ Bezeichnenderweise kamen diese Einwände nicht aus dem Fach selbst, denn das Sondervotum ist unter anderem unterschrieben von Johannes Volkelt,⁴⁵ Wilhelm Wundt⁴⁶ und Karl Lamprecht.⁴⁷ Elsters Prinzipien der Litteraturwissenschaft, deren Titel bewusst auf Hermann Pauls Principien der Sprachgeschichte⁴⁸ anspielt, stellen ihrerseits den Versuch dar, den Forschungsstand der „modernen Psychologie“,⁴⁹ den Elster mit der Psychologie Wundts gleich-

43 Ebd., Bl. 19f. 44 Dass Elster auch Kompetenz im Bereich der Philologie ausweisen könne, begründet das Sondervotum mit dem Verweis auf dessen 1887–1890 publizierte Edition der Werke Heinrich Heines. 45 Johannes Volkelt war seit 1894 Professor an der ‚philosophisch-pädagogischen‘ Abteilung des Pädagogischen Seminars der Universität Leipzig; in seinen Publikationen zeigt sich ein starkes Interesse an ästhetischen Fragen, insbesondere an der Ästhetik des Tragischen. Seine Lehrveranstaltungen widmeten sich primär der Vermittlung von philosophischen und literarischen Texten der Goethezeit; sie wurden von ausgewählten Volksschullehrern und von Lehramtsstudenten für das Gymnasium besucht – vgl. Flöter (2009), S. 702f . 46 Wilhelm Wundt, seit 1875 Professor der Philosophie in Leipzig, war Begründer der experimentellen physiologischen Psychologie und der ‚Völkerpsychologie‘– vgl. Meischner-Metge (2009), S. 1198–1206. 47 Karl Lamprecht, seit 1891 Professor für Geschichtswissenschaft in Leipzig, propagierte die „Verlagerung des historischen Interesses von der politischen hin zur allgemeinen Sozial- und Kulturgeschichte und die Einbeziehung sozialpsychologischer wie überhaupt fachübergreifender Fragestellungen“ – von Hehl (2009), S. 165. 48 Vgl. Paul (1880). Vgl. dazu Elster (1897), S. III. 49 Ebd.: „Und zwar erwarte ich […] eine förderliche Wendung des litteraturhistorischen Betriebes von einer einsichtigen Verwertung der modernen Psychologie.“ Vgl. auch S. 4: „Die moderne Psychologie hat uns […] Massstäbe an die Hand gegeben, durch welche die Zergliederung des Inhalts mit nahezu derselben wissenschaftlichen Exaktheit ausgeführt werden kann wie die der Sprache oder Metrik eines Autors.“

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setzt,⁵⁰ für die Interpretation von Dichtung zu benutzen und damit – jenseits der Alltagspsychologie der gängigen literaturwissenschaftlichen Praxis – als wissenschaftlich abgesicherte Methode zu legitimieren. Elster fordert auch – mit expliziten Verweisen auf Karl Lamprecht⁵¹ – die Verbindung von Literaturwissenschaft und ‚Kulturgeschichte‘,⁵² und in den Abschnitten über die Begriffe der Ästhetik ist Johannes Volkelt ein mehrfach erwähnter Referenzautor.⁵³ Die Stellungnahme von Eduard Sievers betont dagegen die für das Fach entscheidende Schwäche von Elsters Prinzipien, indem er darauf hinweist, „dass die im engeren Sinne des Wortes philologischen Partien dieses Buches weit weniger gelungen sind und sich zum Theil kaum über den Charakter des Elementaren erheben. Ebensowenig liegen andere philologische Arbeiten Elsters von principieller Bedeutung oder erheblicher Originalität vor […].“⁵⁴ Elsters Heine-Edition wird von Sievers der dafür erforderliche wissenschaftliche Wert abgesprochen. Das Ministerium teilt der Fakultät mit Schreiben vom 30. August 1898 mit, dass Albert Köster den Ruf nach Leipzig erhalten und angenommen hat und zum 1. April 1899 sein Amt antreten wird, das mit der Funktion eines zweiten Direktors des ‚Deutschen Seminars‘ neben Eduard Sievers verbunden sein soll.⁵⁵ Auf die Argumente des Sondervotums geht das Ministerium nicht ein, da die Frage der Erstplatzierung davon nicht berührt war.⁵⁶ Was qualifizierte Albert Köster im Rahmen dieser Anforderungen und Erwartungen für die Leipziger Professur? Köster wurde 1862 in Hamburg als Sohn eines Weingroßhändlers geboren. Er studierte Jura, Neuere deutsche Philologie und Geschichte in Tübingen, Leipzig und Berlin und promovierte 1887 in Leipzig im

50 Vgl. Elster (1897), S.  V: „Die psychologischen und philosophischen Auseinandersetzungen lehnen sich an die Werke Wilhelm Wundts an […].“ Auf Wundt bezieht sich Elster in seinem Buch an vielen Stellen. 51 Vgl. ebd., S. 100 und S. 205. 52 Vgl. ebd., S.  6: „Wer von den tiefgreifenden und innigen Wechselwirkungen von Poesie und Leben durchdrungen ist, wird die genaueste Berücksichtigung der Kulturgeschichte für den Litteraturhistoriker als unerlässlich erachten.“ Schon vorher auf S.  2 behauptet er programmatisch, „dass der Gegensatz zwischen der älteren ästhetischen, der neueren überwiegend philologischen und der leider weniger gepflegten eng an die Kulturgeschichte sich anlehnenden Litteraturforschung nicht für unüberbrückbar gelten muss“. 53 Vgl. ebd., S. 45, S. 280, S. 313. Wichtigster Referenztext ist hier Volkelt (1897). 54 UAL, PA 650, Bl. 21. 55 Vgl. ebd., Bl. 23. 56 Vgl. dazu auch die subjektive Erinnerung bei Witkowski (2010), S.  134: „Als durch Hildebrands Tod der Lehrstuhl unseres Faches frei wurde, kämpfte ich, der dabei nichts zu sagen hatte, wie ein Löwe, um die Fakultätsmitglieder davon zu überzeugen, daß Elster der beste Mann für diese Stelle sei. Sievers […] trat für Köster ein und stellte mich zornwütig zur Rede, weil ich gegen ihn arbeitete.“

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Fach Geschichte mit einer Arbeit über die Wormser Annalen.⁵⁷ Seit 1892 war er – bis zu seiner Berufung nach Leipzig – Extraordinarius für Neuere deutsche Sprache und deutsche Literaturgeschichte an der Universität Marburg. 1891 war mit der Monographie Schiller als Dramaturg⁵⁸ die erste selbstständige Publikation erschienen, mit der er sich als Literaturwissenschaftler ausweisen konnte. In der Marburger Zeit entstand dann auch seine zweite literaturwissenschaftliche Monographie, Der Dichter der geharnschten Venus.⁵⁹ Mit diesem Werdegang wich Köster vom üblichen Qualifikations- und Karrieremuster ab, dem die übrigen auf der Liste platzierten Kandidaten folgten: Es fehlt eine im engeren Sinn germanistische Dissertation auf dem Gebiet der Älteren deutschen Literatur, und es fehlt offenbar auch ein förmliches Habilitationsverfahren. Das scheint aber bei der Diskussion um die Berufung Kösters keine Rolle gespielt zu haben. Jedenfalls ist in den überlieferten Dokumenten davon nirgends die Rede. Die Laudatio im Berufungsvorschlag der Fakultät ist – dem Textmuster gemäß – knapp gehalten. Explizit genannt werden die zwei schon erwähnten Monographien, um dann resümierend zu urteilen: Alle Arbeiten Kösters bis zu den kleinsten Recensionen herab zeugen ebenso für umfassende Gelehrsamkeit wie für Gedankenreichtum, für die Fähigkeit zu tief eindringender und scharf sondernder Kritik wie zu geschmack- und reizvoller Darstellung. Neben dem Interesse für das Literaturgeschichtliche tritt, namentlich in seinen neuesten Arbeiten, auch ein Interesse und Verständnis für sprachliche und metrische Fragen hervor. […] Eine fesselnde Beredsamkeit steht ihm in ungewöhnlich hohem Grad zu Gebote;⁶⁰ nicht weniger die Fähigkeit, seine Schüler zu eigener Forschung anzuregen und systematisch auszubilden.“⁶¹

In dem Entwurf des Schreibens ist dazu als Ergänzung am Rand eingefügt: Nicht weniger ist hervorzuheben, daß er auch die Methodik der literaturgeschichtlichen Forschung in den Kreis seiner Vorlesungen aufgenommen hat.⁶²

Im Kontext der durch das Minderheitenvotum dokumentierten Forderungen kann man diesen nachträglichen Einschub als vorsorgliche Entkräftung eines

57 Vgl. Köster (1887). 58 Köster (1891). 59 Köster (1897). 60 Im Vergleich zu den Würdigungen von Creizenach und Weissenfels hat man den Eindruck, als sei gerade diese Qualität als Hochschullehrer der entscheidende Vorzug Kösters aus der Sicht der Fakultät gewesen. 61 UAL, PA 650, Bl. 16. 62 Ebd.

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möglichen Einwands gegen den Erstplatzierten deuten: Wenn er schon nicht, wie Elster, auf diesem Gebiet durch Publikationen hervorgetreten ist, dann kann man ihm wenigstens zubilligen, dass er sich damit auseinandergesetzt und die einschlägigen Probleme in den Lehrveranstaltungen behandelt hat. So zeigt sich, dass bei diesem Berufungsverfahren der Jahrhundertwende die Vertreter der historisch-philologischen Methode auf die intra- und interdisziplinäre Herausforderung reagieren müssen, die durch den Trend zu einer neuen methodologischen Grundlegung der Literaturwissenschaft entstanden ist. Ab 1899 bleibt das ‚Deutsche Seminar‘ der Universität Leipzig Kösters akademische Wirkungsstätte. In den Jahren bis zu seinem Tod 1924 sind, was die äußeren Veränderungen angeht, drei Einschnitte bemerkenswert. 1913 ergehen an ihn zwei Rufe, aus Wien auf die Nachfolge von Jakob Minor, aus Berlin auf die Nachfolge von Erich Schmidt.⁶³ Wie sich aus den im Archiv der Universität Leipzig bewahrten Dokumenten erschließen lässt, wollte Köster bei den Bleibeverhandlungen die Zusicherung einer Unterbringung und Archivierung seiner theatergeschichtlichen Sammlung in den Räumen der Universität erreichen.⁶⁴ Am 4. Juni 1913 teilte Köster dem Dekan den Erfolg seiner Bleibeverhandlungen mit,⁶⁵ was am 6. Juni 1913 durch ein Schreiben des Ministeriums an die Fakultät offiziell bestätigt wurde.⁶⁶ 1914 bis 1915 war Köster Rektor der Universität Leipzig. Schließlich ist zu erwähnen, dass Köster von 1918 bis 1924 Mitdirektor des staatlichen Forschungsinstituts für neuere Sprache und Literatur an der Universität Leipzig war.⁶⁷ Die letzten Jahre seiner äußerlich glänzenden und als Hochschullehrer

63 Zur Perspektive Berlins vgl. Kirschstein (2009a), S. 13f. Im Nachlass befinden sich zahlreiche Briefe zwischen Schmidt und Köster, die ein sehr freundschaftliches Verhältnis dokumentieren. Der Sohn Erich Schmidts war Kösters Patenkind (vgl. UBL, Nachlass Köster 2). 64 Vgl. den Entwurf eines Schreibens der Fakultät an das Ministerium vom Mai 1913, UAL, PA 650, Bl. 26–27. 65 Vgl. ebd., Bl. 28: „Ich bleibe in Leipzig, bleibe freudig und weiß, daß ich nun bis ans Ende meiner Lehrtätigkeit hier bleiben und wirken werde.“ 66 Vgl. ebd., Bl. 29. 67 Die Einrichtung solcher Forschungsinstitute geht auf eine Initiative von Karl Lamprecht in dessen Rektoratsjahr 1910/11 zurück. Vgl. dazu Lamprecht (1917): Er dachte an den Ausbau der bestehenden Institute und deren „Krönung […] durch eine reine Forschungsabteilung“ (S. 68). Zur Finanzierung wurde auf Betreiben Lamprechts 1913 die ‚König-Friedrich-August-Stiftung‘ gegründet, die mit staatlichen Mitteln, Mitteln aus dem Vermögen der Universität und Geldern privater Sponsoren reich ausgestattet war. Unter dem Dach der Stiftung wurden 1914 insgesamt 12 geisteswissenschaftliche Forschungsinstitute gegründet. Die Mittel wurden ab 1914 allerdings für Zwecke des Krieges umgewidmet, nach dem Krieg wurde infolge der Inflation das Stiftungskapital „nahezu völlig vernichtet“ – Hehl (2010), S.  66. Aus diesem Grund kam die von Lamprecht gedachte Tätigkeit der Institute nie so recht in Gang. Am 1. April 1936 wurden die Forschungsinstitute von staatlicher Seite aufgehoben, das Restvermögen ging an die Sächsische

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auch erfolgreichen Laufbahn⁶⁸ waren überschattet von schweren Krisen seines Privatlebens, die zu Depressionen, Arbeitsstörungen und schließlich am 29. Mai 1924 zum Suizid führten.⁶⁹

1.3 Georg Witkowskis Leipziger Universitätslaufbahn Merklich anders verlief die Karriere des zweiten prominenten Vertreters der historisch-philologischen Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig. Georg Witkowski, 1863 in Berlin geboren, studierte in Leipzig und München, v. a. bei Michael Bernays. In München promovierte er mit einer Arbeit über den Köthener Barockliteraten und Übersetzer Diederich von dem Werder.⁷⁰ Nach Leipzig zurückgekehrt, versuchte sich Witkowski mit einer Arbeit über die europäischen Einflüsse auf die deutsche Anakreontik zu habilitieren. Gutachter waren Rudolf Hildebrand, Friedrich Zarncke sowie der Altphilologe Justus Hermann Lipsius. Nach Einspruch Rudolf Hildebrands, der inhaltliche und methodische Mängel auswies, wird die Habilitationsschrift abgelehnt, der Kandidat jedoch zum neuerlichen Einreichen aufgefordert. Witkowski nutzt diese Möglichkeit; 1889 wird die Arbeit mit dem Titel Geschichte der anakreontischen Dichtung in Deutschland als Habilitationsschrift angenommen. Gutachter waren diesmal Zarncke, Lipsius und der Romanist Adolf Ebert. Ab dem Jahr seiner Habilitation für „Deutsche Sprache und Literatur“ lehrte Witkowski an der Leipziger Universität: bis 1896 als Privat-

Akademie der Wissenschaften. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass das ‚Forschungsinstitut für neuere Sprache und Literatur‘, das interdisziplinär angelegt war und neben der Germanistik auch die Anglistik und Romanistik beheimatet hat, in der Geschichte der Leipziger Germanistik keine nennenswerten Spuren hinterlassen hat. Zur Geschichte der Forschungsinstitute vgl. die ausführliche Darstellung bei Middell (2005), S. 335–409 und S. 501–513. 68 Unter den von ihm betreuten Promovenden finden sich so klangvolle Namen wie Ernst Beutler, Reinhard Buchwald, Werner Deetjen, Paul Merker, Anton Kippenberg und Kurt Pinthus. Nach Petersen (1925), S. III, war er ein „bis zur Selbsthingabe sich aufopfernder wissenschaftlicher Erzieher“. 69 Vgl. hierzu die Andeutungen bei Witkowski (2010), S. 137f.: „Denn nur zu leicht konnte er in die Hände von Erpressern geraten sein, als die Willenskraft nicht mehr ausreichte, um die verhängnisvolle Naturanlage zu unterdrücken. Damit zugleich brach auch durch die Maske, die er zeitlebens tragen mußte, das wirkliche Gesicht des schwachen, unglücklichen Menschen. […] Die Gerüchte über ihn wurden immer stärker, er gab sich auch amtlich gefährliche Blößen und mußte wissen, daß er jeden Augenblick der Schande bloß werden konnte. Rettung von diesem elenden Dasein gab es nur durch den großen Erlöser.“ Eine anschauliche Vorstellung von Kösters Lebensumständen kann man gewinnen, wenn man Stephan Zweigs 1927 erschienene Novelle Verwirrung der Gefühle liest. 70 Witkowski (1887), Teildruck 1886 in München als Dissertation.

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dozent, dann 1896–1919 auf einem nichtplanmäßigen Extraordinariat, das 1919, offenbar nach einem Antrag von über 100 Studenten, in ein planmäßiges Extraordinariat umgewandelt wurde.⁷¹ 1930, mit 63 Jahren, wurde ihm ein Persönliches Ordinariat⁷² eingerichtet. Zu Beginn des ersten Weltkriegs meldet sich Witkowski, mit 51 Jahren, freiwillig zum Militärdienst; er wird aus Altersgründen abgelehnt. Hierauf hält er in Leipzig und in sächsischen Kleinstädten „Kriegsabende“ ab, bei denen berühmte Wissenschaftler, u. a. Wilhelm Wundt, Vorträge hielten. Für seine Tätigkeiten erhält er das Kriegsverdienstkreuz.⁷³ 1931 wird Witkowski aufgrund seines Alters emeritiert, lehrt aber mangels Nachfolge weiter. Reichspräsident Hindenburg verleiht ihm 1932 noch die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft, ein Jahr später verliert er die Lehrbefugnis nach § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aufgrund seiner jüdischen Abstammung. Ab 1934 werden ihm sämtliche Ruhegehälter verweigert. 1937 wird er zwei Wochen von der Gestapo gefangen gehalten. Befremdende Schilderungen seiner Eindrücke liefern die Briefe aus dem Gefängnis, die der gedruckten Autobiographie beigefügt sind.⁷⁴ Im Frühjahr des Jahres 1939 emigrierten Georg Witkowski und seine Frau Petronella in die Niederlande. Die mehr als 30.000 Bände umfassende Privatbibliothek Witkowskis und das Wohnhaus wurden verkauft. Die Erlöse erreichten die Familie Witkowski nicht. Wenige Monate später starb Georg Witkowski in Amsterdam am 21. September 1939.⁷⁵ Sind die letzten Jahre Witkow-

71 Vgl. UAL, PA 1074, Bl. 32, 33. 72 Vgl. Paletschek (2001), S. 264f. „1919 wurde […] die Ernennung zum ‚persönlichen Ordinarius‘ eingeführt, um verdiente Gelehrte auf einer Extraordinariatsstelle zu halten oder zum Kommen zu bewegen. Die mit den Rechten eines persönlichen Ordinarius ausgestatteten Extraordinarien verdienten weiterhin weniger als ihre Kollegen auf den Ordinariatsstellen, besaßen aber dieselben Rechte und entsprechendes Ansehen.“ Die genannte Jahreszahl und auch die Beschreibung des Titels beziehen sich auf die Universität Tübingen. Vgl. auch Lux (2003), S. 95: „1926 setzten sich daher die Professoren Friedrich Neumann, Hermann August Korff und Levin L. Schücking dafür ein, Witkowski zum ordentlichen Honorarprofessor zu ernennen. Er sei ein ‚beliebter Lehrer‘ und sein Name ‚in Fachkreisen sehr geachtet‘, jedoch habe die ‚Ungunst der Konstellation‘ eine Ernennung zum Ordinariat verhindert. [vgl. UAL, PA 1074, Bl. 57, 58, d. Verf.] Doch erst vier Jahre nach diesem Gesuch wurde Witkowski ein Titel zuerkannt. Allerdings wurde er 1930 nicht Honorarprofessor, sondern zum persönlichen Ordinarius ernannt.“ In der zugehörigen Fußnote führt Lux aus: „In ihrem Schreiben der Fakultät ans MfV vom 10. Juni 1926 heißt es, sie berufe sich ‚auf ein vielfach geübtes Herkommen, wonach eine solche Ehrung demjenigen zuteil zu werden pflegt, der nach allen seinen Leistungen einem Ordinarius gleichzuachten ist, durch die Ungunst der Konstellation aber Ordinarius nicht hat werden können und infolge seines vorgerückten Alters auch kaum noch zu werden vermag.‘“ (vgl. UAL, PA 1074, Bl. 72) 73 Vgl. Witkowski (2010), S. 184f. 74 Vgl. ebd., S. 470–476. 75 Vgl. das Nachwort von Bernd Weinkauf ebd., S. 459–478, hier besonders S. 477f.

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skis vom biologischen Rassismus der Nationalsozialisten bestimmt, so kann eine Beeinträchtigung seiner Karriere schon durch den sich in der Kaiserzeit verstärkenden kulturellen Antijudaismus angenommen werden. Durch die äußerliche Gleichberechtigung nach der Reichseinigung 1871 werden an fast allen deutschen Universitäten jüdische Studenten zugelassen, es gibt bald schon jüdische Privatdozenten, Extraordinarien und Ordinarien. Eine gläserne Decke, d. h. eine nicht sichtbare, öffentlich nicht thematisierte, den Akteuren aber bewusste Behinderung ermöglichte dabei zwar den Aufstieg verhältnismäßig vieler Juden in die Positionen des Privatdozenten und die eines Extraordinarius, verwehrte dann aber fast allen Anwärtern einen eigenen Lehrstuhl, die zentrale Organisationsebene an einer deutschen Universität: Es kam also oft vor, […] daß Privatdozenten jüdischer Abkunft doppelt so lange und länger als ihre christlichen Kollegen auf einen Ruf warten mußten. Herausragende Leistungen allein genügten zumeist nicht, besondere zusätzliche Qualitäten mußten mit hinzukommen, um eine akademische Karriere zu ermöglichen. Der schon früher genannte Umstand, daß auffallend viele aus diesem Personenkreis sich in ‚wissenschaftlichen Randgebieten‘ hervortaten – Disziplinen, die freilich oft Notwendigkeiten und Bedürfnissen der modernen Welt gerecht wurden, wie Hygiene, Dermatologie, Kinderheilkunde und Arbeits- und Steuerrecht –, entsprach diesen institutionellen Voraussetzungen.⁷⁶

Es lassen sich auch ohne weiteres Beispiele innerhalb der Germanistik hierfür finden: Der Berliner Schulkamerad Witkowskis, Max Herrmann, einer der ersten Theaterwissenschaftler, gründet 1923 in Berlin das Theaterwissenschaftliche Institut. Auch Georg Witkowski, mit seinem Engagement für die aktuelle und aktuellste Literatur, seiner Lehrtätigkeit am Leipziger Institut für Zeitungskunde und seinem vielfältigen Einsatz für die Bibliophilie in Deutschland, erweitert die Grenzen der engeren Nationalphilologie. Diese ‚Randgebiete‘, in denen Juden arbeiteten, waren dann auch oft ein Motor für neue Entwicklungen: „Die Marginalisierung ist allgemein ein Grund, warum deutsche Juden wissenschaftlich besonders innovativ waren: Am Rand konnte man sich ungestört spezialisieren.“⁷⁷ Die Konversion, besonders zum Protestantismus, stellte für viele Juden eine wichtige Voraussetzung zur Assimilation in die deutsche Gesellschaft dar. Die Brüder Bernays können als illustrierendes Beispiel dienen. Michael Bernays, Sohn des promovierten Rabbiners Isaak Bernays,⁷⁸ und dessen Bruder Jacob stehen für unterschiedliche Wege: Während Michael Bernays schon 1856, mit 22 Jahren, zum Protestantismus konvertierte und im Jahr 1874, schon zwei Jahre

76 Hammerstein (1995), S. 73. 77 Barner / König (2001), S. 16. 78 Vgl. Schlott (2000), S. 73.

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nach seiner Habilitation, das erste Ordinariat für Deutsche Sprache und Literaturen in Deutschland, an der Universität München,⁷⁹ besetzte, musste sein Bruder Jacob, der nicht konvertierte, trotz glänzenden Ruhmes bis 1866, 18 Jahre nach seiner Habilitation, auf eine Berufung nach Bonn warten.⁸⁰ Der Zusammenhang zwischen dem Karriereverlauf Georg Witkowskis an der Universität und seiner jüdischen Abstammung ist nicht leicht zu erweisen. Anna Lux formuliert vorsichtig: „Der beschwerliche akademische Werdegang ist wohl auch damit in Verbindung zu bringen, daß Witkowski aus einer jüdischen Familie kam.“⁸¹ Dagegen meint Ehrhard Bahr forscher: During the Weimar Republic, not a single Jew or left-winger was appointed full professor in Germanistik. The following scholars, who were prominent in the field, were only associate professors, because they were Jewish: Max Herrmann, Wolfgang Liepe, Max von Waldberg, and Georg Witkowski.⁸²

In privaten Äußerungen stellt auch Georg Witkowski diesen Zusammenhang heraus. Allgemein äußert er sich zur Situation jüdischer Germanisten in seiner Autobiographie: Wilhelm Creizenach, ebenfalls ein Schüler Friedrich Zarnckes, […] saß trotz der großartigen Leistung seiner ‚Geschichte des neueren Dramas‘ jahrzehntelang in dem unglückseligen Krakau, und der geistvolle, unendlich produktive Richard M. Meyer [ein Schüler Erich Schmidts, d. Verf.] kam, trotz aller Mühen […], nie über eine Titularprofessur in Berlin hinaus, weil Nichtarier in der Germanistik zwar als Dozenten zugelassen, aber vor 1918 nie befördert wurden.⁸³

Georg Witkowski begründet seine eigene Konversion in seiner Autobiographie jedoch mit religiösen Argumenten: „Aus ganzem Herzen bekannte ich mich zu der Lehre der Bergpredigt.“⁸⁴ Dennoch steht seine Taufe, auch innerhalb der Autobiographie, in einem engen Zusammenhang mit seinen beruflichen Ambitionen. Dort leitet er den Abschnitt, der sich mit seiner Konversion beschäftigt, folgendermaßen ein:

79 Vgl. König (2003), Bd. 1, S. 153f. und Kolk (1990), S. 95. 80 Vgl. Hammerstein (1995), S. 70f. 81 Lux (2005), S. 356. 82 Bahr (2007), S.  51. Es ist anzumerken, dass diese Behauptung nur unter kuriosen Bedingungen richtig ist: Wolfgang Liepe war, entgegen der Behauptung, seit 1928 Ordinarius in Kiel, jedoch war er weder Jude noch Kommunist (wegen seiner jüdischen Frau wurde er 1933 nach Frankfurt versetzt und 1936 zwangsweise emeritiert, woraufhin er emigrierte). Er ist also kein Gegenbeispiel für die Behauptung. Vgl. hierzu König (2003), S. 1092. 83 Witkowski (2010), S. 133 und König (2003), S. 1218ff. 84 Witkowski (2010), S. 139.

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Er [Eduard Sievers, d. Verf.] sagte mir eines Tages ganz unerwartet, die Fakultät wolle meine Ernennung zum Professor in Dresden beantragen, und fügte hinzu, ich würde dieses Vorhaben sehr erleichtern, wenn ich mich entschließen könnte, zum Christentum überzutreten.⁸⁵

Kurze Zeit nach der Konversion wird Witkowski zum nichtplanmäßigen Extraordinarius ernannt. In einem späteren Brief an den Leipziger Theaterintendanten Max Martersteig schildert Witkowski deutlich seine persönliche Einsicht in die Gründe für seine stockende Karriere: Als Nachfolger des verstorbenen Albert Köster komme er „unter heutigen Umständen nicht in Betracht […]; die Aussicht darauf“ sei ihm „acht Tage nach der Geburt abgeschnitten worden.“⁸⁶ Gerade im Vergleich zu Michael Bernays wird die Entwicklung der Diskriminierung deutlich. Während jener durch seine Konversion seinen Aufstieg noch beschleunigen konnte, kann Witkowski bei dem zunehmend biologisch-rassistisch begründeten Antisemitismus Ähnliches nicht mehr gelingen. Erstaunliche 700 Titel listet eine leider verloren gegangene, aber gut bezeugte Bibliographie der Schriften Witkowskis auf, die sein Schüler Friedrich Michael, der spätere Lektor und Leiter des Insel-Verlags, zum 70. Geburtstag Witkowskis anfertigte.⁸⁷ Einige Monographien daraus sollen kurz genannt werden; das Bild bleibt notwendigerweise schemenhaft. Große Werkgruppen lassen sich erkennen: Biographisches Schreiben – Goethe (1899), Lessing (1921), Cornelia, die Schwester Goethes (1903) – und Literaturgeschichte – Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig (1909), Die Entwicklung der deutschen Literatur seit 1830 (1912), Das deutsche Drama des 19. Jahrhunderts in seiner Entwicklung dargestellt (1904). Daneben gibt es einige pädagogische und methodologische Schriften mit anleitendem Charakter – Was sollen wir lesen und wie sollen wir lesen? (1906) und natürlich die Editionseinführung Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke (1924). Die lokale Literaturgeschichte von 1909 rekonstruiert die Zeit von der Gründung der Universität – 1409 – bis zum Wirken von Christian Felix Weiße in Leipzig. Sie umstellt die literarischen Produktionen mit vielen erklärenden Perspektiven: Verbindungen zur Theaterpraxis, zur Literaturdistribution, zur Universität, zur Politik und zur Presse treten in den Fokus. Durch die regionale Einschränkung

85 Ebd. 86 Georg Witkowski an Max Martersteig vom 8. Juli 1924, zitiert nach Dietze (1973), S. 41. 87 Die Angaben über den Umfang der Bibliographie schwanken. Friedrich Michael erinnert in seinem Aufsatz über Witkowski an eine Bibliographie, die Witkowski zum 60. Geburtstag überreicht wurde. Sie soll 600 (!) Titel umfasst haben (Michael (1952), S. 67). In dem Beitrag zu Witkowskis 70. Geburtstag wird vom Überreichen einer 700 Titel starken Bibliographie gesprochen (Zobeltitz (1933)). Im Nachwort der Autobiographie spricht Mark Lehmstedt in Witkowski (2010), S. 482, sogar von 1000 Titeln, die das Verzeichnis von Witkowskis Arbeiten 1933 enthalten habe.

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kann Witkowski auch feine kulturelle Zusammenhänge mit einer überwältigenden Faktenfülle belegen. Hinzu treten zahlreiche Editionen; wobei sich viele, etwa die Gesamtausgabe der Werke Schillers, an ein breites Publikum richten, einige jedoch wegweisenden Charakter haben, etwa die erste wissenschaftliche Edition von Büchners Woyzeck oder die Neuedition der Literaturgeschichte Hermann Hettners. Seine Faustausgabe war nicht nur sehr verbreitet, sie enthielt als erste Leseausgabe eine große Anzahl Paralipomena und machte die derben Teile der Walpurgisnachtszene zugänglich. Die Witkowskische Ausgabe der Schriften Lessings wird sogar heute noch, als zeilen- und seitengetreuer Reprint, gedruckt.⁸⁸ Namhafte Künstler und Wissenschaftler promovierten bei Witkowski: Erich Kästner, Alfred Kerr, Friedrich Michael, der Bibliothekswissenschaftler Horst Kunze und der Dichter und spätere Nationalsozialist Hanns Johst.

2. Albert Kösters und Georg Witkowskis Leistungen als neugermanistische Philologen 2.1 Kösters Qualifikationsschriften Aus der Sicht der rekonstruierenden Wissenschaftsgeschichte lässt sich fragen, durch welche – in der Laudatio der Fakultät nicht explizit genannten – Merkmale die Erstplatzierung Albert Kösters auf der Berufungsliste begründet sein mochte. Dies lässt sich mit einem knappen Blick auf Inhalt und Methode seiner frühen Monographien annähernd beantworten. In Schiller als Dramaturg befasst sich Albert Köster mit Friedrich Schillers Bearbeitungen und Übersetzungen von Dramen der deutschen und europäischen Literatur für das Weimarer Hoftheater. Berücksichtigt werden Goethes Egmont, Shakespeares Macbeth, Lessings Nathan der Weise, Gozzis Turandot und Racines Phädra. Offenbar geht es dem Verfasser dabei nicht nur um die Darstellung eines bestimmten Sektors des Werks von Schiller aus den letzten zehn Jahren seines Lebens, sondern um eine exemplarische Untersuchung, aus der auch allgemeine 88 Witkowski (2006). Der verantwortliche Studienkreis-Verlag veröffentlicht günstige Materialien für den Literaturunterricht und die eigene Arbeit in der außerschulischen Lernförderung. Neben dem Lessing Witkowskis wird auch eine Edition des Faustdramas Goethes angeboten. Grundlage ist hierfür die Weimarer Ausgabe. Offenbar spielen ökonomische Erwägungen bei der Auswahl eine Rolle. Das Vorwort der Lessingausgabe preist jedoch vor allem auch die Qualität der Beigaben (Vorwort, Kommentar) Witkowskis an und nicht nur die kostenlose Textgrundlage.

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Aussagen über die Tätigkeit der Übersetzung oder Bearbeitung abgeleitet werden können. So heißt es programmatisch zu Beginn des Kapitels über die Macbeth-Bearbeitung: Ist nun der nachdichtende Künstler gar Übersetzer und Bearbeiter in Einer Person und ist er in beiden Eigenschaften so selbständig und gewissenhaft, dann muß eine Vergleichung seiner Arbeit mit dem Original die tiefsten Einblicke in das Wesen dieses letztern und in die Werkstatt des Bearbeiters gewähren. Dann sind seine Änderungen am Original so bedeutsam, wie die Beispiele treuen Anschlusses an den Urtext […]. Aber selbst der zielbewußteste Dramaturg vermag nicht immer seine ganze Selbständigkeit zu bewahren; es gibt eine Macht, die ihn stark beeinflussen kann, das ist die Tradition.⁸⁹

Gemäß diesem Programm bringt Köster im ersten Schritt jeweils eine Interpretationsskizze des Originals. Dem folgt eine Übersicht über die Publikations- und Bearbeitungsgeschichte, um dann – bei den nichtdeutschen Dramen – zur Darstellung der Geschichte der Übersetzungen ins Deutsche und der Bearbeitungen für die deutsche Bühne im 18. Jahrhundert überzugehen. Auf diese Weise informiert er den Leser über die Hauptaspekte dessen, was er „Tradition“ nennt, also jener Einflussfaktoren, die für Schillers Arbeit ebenso bestimmend waren wie seine eigenen Intentionen. Erst dann folgt jeweils ein Abschnitt mit einer Analyse von Schillers Übersetzung bzw. Bühnenbearbeitung, bei der immer auch die Zusammenarbeit mit Goethe im Kontext der Umstände am Weimarer Hoftheater berücksichtigt wird. Ein Ausblick auf die Wirkung der Schillerschen Texteinrichtungen in Kritik und Bühnenpraxis im 19. Jahrhundert schließt die Kapitel jeweils ab. Es bleibt also nicht bei einer isolierten Betrachtung der Arbeiten Schillers,⁹⁰ vielmehr gelingt Köster eine weit ausgreifende Darstellung der Rezeption Shakespeares, Racines und Gozzis in der deutschen Literatur- und Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts, bei der die Darstellung der großen Zusammenhänge immer gebunden bleibt an die philologische Kleinarbeit am bedeutsamen Textdetail und an die Ausrichtung auf die Analyse der Arbeit Schillers.⁹¹ Insofern präsentiert sich dieses Buch in der Tat als ein musterhaftes Exemplar historisch-philologischer Wissenschaft. Dass Köster dabei reiche und tiefe Kenntnisse der englischen, französischen und italienischen Sprache und Literatur mit lockerer Souveränität

89 Köster (1891), S. 19. 90 Wie ein Blick in aktuelle Handbücher zeigt, sind die inhaltlichen Ergebnisse unüberholt gültig. Direkt genannt wird Kösters Arbeit noch bei Koopmann (1998), S. 741. 91 Vgl. als Beispiel die Diskussion über den Alexandriner im Französischen und im Deutschen und über die Probleme, die bei der Übertragung des französischen Alexandriners in den deutschen Blankvers entstehen: Köster (1891), S. 239–242.

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einfließen lässt, mag ihn im Hinblick auf die schon erwähnte Erwartung, dass der Inhaber der Professur über das Gebiet der deutschen Nationalliteratur hinaus blicken soll, aus der Perspektive der Leipziger Fakultät zusätzlich qualifiziert haben.⁹² Mit der Berücksichtigung der theater- und bühnengeschichtlichen Kontexte deutet sich zudem schon hier Kösters Erweiterung der historisch-philologischen Interessen auf das Gebiet der Theatergeschichte an, die sich erst in den nächsten Jahrzehnten in seiner Leipziger Forschung und Lehre entfalten werden. Da Köster vom sprachlichen, formalen und biographischen Detail ausgehen will, vermeidet er mit einer gewissen Konsequenz die systematische Formulierung von Thesen über literaturgeschichtliche Zusammenhänge bzw. Epochen oder über methodische Prinzipien. Wenn er derartige Ausblicke für nötig hält, dann wählt er die Form einer improvisiert erscheinenden Ad-hoc-Explikation,⁹³ woran man sieht, dass Kösters Interessen im Hinblick auf die theoretische Grundlegung der Literaturwissenschaft und auf die Konstruktion epochaler Zusammenhänge eher begrenzt waren – aber daran war die Mehrheit der Fakultät ja auch nicht sonderlich interessiert. Mit seiner zweiten Monographie der neunziger Jahre, mit der Köster erstmals Kaspar Stieler als Dichter der Lieder- und Gedichtsammlung Geharnschte Venus identifizierte,⁹⁴ präsentierte er sich der wissenschaftlichen Öffentlichkeit mit einem scheinbar peripheren Gegenstand im Vollbesitz aller Kompetenzen und Finessen der philologischen Methode. Die 1660 unter dem Pseudonym ‚Filidor‘

92 In seinen Urteilen bleibt Köster allerdings den antifranzösischen Vorurteilen des zeitgenössischen deutschen Kulturnationalismus verhaftet, was man vor allem im Abschnitt über Racines Phädra auf Schritt und Tritt bemerken kann. 93 Als Beispiel vgl. die Bemerkungen zu einer Poetik des Märchens, mit der Köster seine Kritik an Gozzis und vor allem auch an Schillers Versuch, den Turandot-Stoff mit einer moralischen Vertiefung zu versehen, begründet; Köster (1891), S. 233f.: „Denn das Märchen ist wie der Schmetterling, der nur schön ist, wenn er launisch hin- und hergaukelt. […]. Wollte aber Einer ihn lenken, er würde gar zu leicht ihm von den Flügeln die schillernden Schuppen streifen, die keine Kunst ersetzen kann […]. So auch das Märchen. Wem es sich in seiner unbefangenen Schönheit zeigen soll, der muß ihm folgen, wohin es ruft, aber er darf ihm keine neuen Wege weisen. […] Das Märchen ist eine Art Undine, ein schönes Kind ohne Seele, das heißt, ohne Menschenseele. Würden wir ihm von unserer menschlichen Gerechtigkeit, Wahrheit, Liebe reden, es würde uns gar nicht verstehen und uns lachend seine Willkür entgegensetzen. Das haben manche nicht bedacht, welche den Volksmärchen eine neue Seele einhauchen und ihnen neue Wege weisen wollten.“ Weniger metaphorisch ist Kösters etwas weiter ausgreifende Skizze seiner Grundsätze bei der Interpretation von metrischen Phänomenen, bei der er auch die Metrik-Diskussion um 1800 mit einigen sicheren Strichen kompetent erfasst; vgl. Köster (1891), S. 93–102. 94 Die Zuschreibung gilt seither als unangefochtenes Wissen in der Barockforschung. Vgl. dazu Zeman (1984), S. 577, wo er von der „beispielhaften literaturwissenschaftlichen Studie“ Kösters spricht.

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publizierte Sammlung, die schon im späten 18. Jahrhundert wegen ihrer individuellen Abweichungen von den Mustern der Barocklyrik Interesse erweckt hatte, war im 19. Jahrhundert Jacob Schwieger zugeschrieben und mit diesem Namen auch in einer ersten wissenschaftlichen Edition veröffentlicht worden.⁹⁵ In einem geradezu kriminalistischen Indizienbeweis trägt Köster in einer geschickt disponierten Abfolge seine Argumente gegen Schwieger und für Stieler so vor, dass der Leser, der bei der Lektüre mit wachsender Aufmerksamkeit dem Spannungsbogen folgt, am Ende von der neuen Zuschreibung voll überzeugt ist. In dieser Hinsicht ist die vergleichsweise kurze Abhandlung ein gutes Beispiel für die mehrfach gerühmten rhetorischen Qualitäten von Kösters Schriften und Vorlesungen. In der Einleitung geht Köster von der Beobachtung aus, dass es in der Lyrik des 17. Jahrhundert im Kontext der zeitgenössischen Auffassung von Dichtung wenig Platz für den Ausdruck individueller Erfahrungen und Empfindungen gegeben habe. Da Köster unreflektiert in der Tradition des goethezeitlichen Kunstbegriffs steht, ist diese Eigenschaft für ihn nichts als das Symptom eines epochentypischen Mangels an „Ehrfurcht vor der Kunst“.⁹⁶ Dennoch sei auch bei einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Lyrik dieser Epoche die Frage nach dem Autorindividuum legitim: Hinter jeder Sammlung von lyrischen Gedichten, sie mag noch so dürftig sein, steht ja ein Mensch von Fleisch und Blut […]. Und den wahren Charakter einer Zeit […] lernt man doch erst dann recht kennen, wenn es gelungen ist, in das Seelenleben vieler Einzelmenschen wie in den Busen eines Freundes tief hineinzuschauen. […] Es ist mir von jeher leid gewesen, daß der Dichter der ‚Geharnschten Venus‘, einer der begabtesten Lyriker seiner Zeit, namenlos herumlief, oder, was noch schlimmer war, daß man seine Lieder einem künstlerisch ganz Unwürdigen zuschreibt.⁹⁷

Köster verteidigt hier das Recht, die biographische Kontextualisierung auf Texte einer Epoche anzuwenden, deren eigenes Literaturverständnis eher von einer Trennung von Biographie und Dichtung ausgegangen ist; gleichzeitig deutet er aber auch schon an, dass es sich bei diesen Gedichten um eine Ausnahmeerscheinung handelt, gerade deswegen, weil Stielers Gedichte eine stark individuelle Prägung und einen vergleichsweise konkreten Bezug zur Biographie des Autors haben.⁹⁸ Die Wahl gerade dieses Gegenstandes aus der Literatur des 17. Jahrhun-

95 Raehse (1888). 96 Köster (1897), S. 1. 97 Ebd., S. 4f. 98 Vgl. ebd., S. 31, wo er davon spricht, dass der Dichter „offenbar aus eigenem Erleben heraus“ geschrieben habe; S. 33 ist von „Liebesklagen voll Wahrheit und Tiefe“ die Rede, S. 34 davon, dass der Dichter „ein echtes Gefühl zum Ausdruck bringt“. Da die Sammlung auch einige Derb-

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derts ist also nicht so zufällig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Vielmehr ist es das Ziel, einen Lyriker des Barock, der sich schon bestimmten Elementen der goethezeitlichen, also der ‚wahren‘ Dichtung annähert, ins Licht der Literaturgeschichtsschreibung zu heben. Nachdem Köster in einem ersten Abschnitt seiner Argumentationskette durch einen Vergleich von Wortschatz, Metrik, Rhythmus und Inhalt zwischen der Geharnschten Venus und Gedichten Jacob Schwiegers die Zuschreibung an den letzteren destruiert hat,⁹⁹ kreist er mit Hilfe von damals neuen sprachgeographischen Methoden¹⁰⁰ den Geburtsort ‚Filidors‘ Schritt für Schritt ein, bis er zu dem Ergebnis kommt, dass „die Städte Mühlhausen, Eschwege, Eisenach, Gotha, Erfurt mit ihrer weiteren Umgebung in Betracht“¹⁰¹ kommen. Aus dem Nachweis von Formen und Motiven aus dem Leipziger Dichterkreis um Paul Fleming¹⁰² und von Elementen, die aus dem Einfluss der Königsberger Lyrik um Simon Dach herrühren können,¹⁰³ schließt Köster im nächsten Schritt, dass der Autor in beiden Städten gelebt und studiert haben müsse. Dann wird der Autor durch Entschlüsselung von Anagrammen einiger Adressaten und des Flussnamens ‚Gera‘ auf einen Erfurter und dann mit Hilfe der Matrikel der Königsberger Universität auf einen Erfurter Studenten dieser Universität eingegrenzt,¹⁰⁴ wobei nur mehr Kaspar Stieler in Frage kommt, der ja der Literaturwissenschaft als Mitglied der ‚Fruchtbringenden Gesellschaft‘ und aufgrund seiner vielfältigen sprachwissenschaftlichen, lexikographischen und sprachpraktischen Aktivitäten bereits bekannt war. Diese Zuschreibung wird abgerundet durch einen Vergleich der bekannten biographischen Daten mit den biographischen Anspielungen sowie mit einer Liste von in den Gedichten individuell gebrauchten Wörtern, die Jahr-

heiten und obszöne Anspielungen enthält, ist sich Köster freilich nicht sicher, „ob hier ein ursprünglich fein empfindender Jüngling durch widrige Lebenseinflüsse zeitweise zur Gemeinheit hinabgezogen wurde, oder ob ein roher Bursch vorübergehend sich durch eine tiefe Herzensliebe veredelt fühlte“ (S. 37f.). Man sieht hier, dass Köster im Rahmen jenes alltagspsychologischen Biographismus argumentiert, den Elster mit der Adaption der zeitgenössischen wissenschaftlichen Psychologie überwinden wollte. 99 Da Köster den Begriff ‚Rhythmus‘ eher vage umschreibt, kann er bei diesem Aspekt seine Argumentation weitgehend auf intuitive Geschmacksurteile stützen. Vgl. ebd., S. 14–27. Die dort erkennbaren Berührungen mit der Methode der Taktmetrik bleiben ohne expliziten Bezug zu vorhergehenden oder zeitgenössischen Diskussionen. 100 Köster bedient sich hier explizit der Methoden und Ergebnisse von aktuellen sprachgeographischen Arbeiten seiner Marburger Kollegen Georg Wenker und Ferdinand Wrede; vgl. Wenker (1881), Wenker (1895), Wrede (1895). 101 Köster (1897), S. 51. 102 Vgl. ebd., S. 60–64. 103 Vgl. ebd., S. 65–76. 104 Vgl. ebd., S. 91.

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zehnte später in Stielers Wörterbuch der deutschen Sprache von 1691¹⁰⁵ noch aufgeführt sind.¹⁰⁶ In einer wirkungsvoll gesetzten Schlusspointe kann dann das in der Geharnschten Venus gebrauchte Anagramm „Peilkarastres“ ohne Probleme als „Kaspar Stieler“ aufgelöst werden.¹⁰⁷ Dass Köster mit dieser spannend aufgebauten und elegant formulierten Präsentation seiner Kompetenz als Philologe die Bewunderung seiner Leipziger Kollegen, gerade auch aus der Sprachwissenschaft, erhalten hat, ist einleuchtend. In seiner wissenschaftlichen Arbeit war Albert Köster während seiner Leipziger Jahre einerseits bemüht, seinem Ruf als Repräsentant der historisch-philologischen Literaturwissenschaft gerecht zu werden, andererseits versuchte er, die Grenzen dieser fachlichen Ausrichtung durch den Ausbau seiner theatergeschichtlichen Interessen zu erweitern und damit auch einen Beitrag zur Kompensation des Legitimationsdefizits der traditionellen Philologie zu erbringen.

2.2 Beiträge zu Theorie und Praxis der Textedition – Kösters Stormedition Kösters Beitrag zur Entwicklung der historisch-philologischen Methode kann beispielhaft an seiner Edition der Werke Theodor Storms eingeschätzt werden,¹⁰⁸ zu der er separat programmatisch gemeinte Prolegomena publiziert hat,¹⁰⁹ die an prominenter Stelle als „eins der wichtigsten Dokumente moderner editionskritischer Theorie“¹¹⁰ bezeichnet worden sind. Die Edition selbst entfaltete im 20. Jahrhundert eine erhebliche Wirkung, denn der von Köster hergestellte Text bildete bis zur Storm-Edition von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier von 1987¹¹¹ die Textgrundlage aller maßgeblichen Storm-Editionen des 20. Jahrhunderts. Nach den Vorgaben des Insel-Verlags war keine historisch-kritische Edition, sondern eher eine Leseausgabe geplant, wenngleich Köster nicht, wie Witkowski, über eine klare und begründete Unterscheidung verschiedener Editionstypen verfügte und deswegen in seinen editorischen Entscheidungen eher uneinheitlich und intuitiv verfuhr. Von den Gedichten werden nur die vom Autor selbst zum

105 Stieler (1691). 106 Vgl. Köster (1897), S. 108–111. 107 Vgl. ebd., S. 112. 108 Köster (1919). 109 Köster (1918). 110 Müller (1980), S. 404. 111 Vgl. Laage / Lohmeier (1987).

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Druck beförderten Texte aufgenommen,¹¹² und nur bei den Gedichten bringt der Herausgeber – separat im 8. Band – einen kritischen Apparat, der für die Bedürfnisse wissenschaftlicher Arbeit die „vollständige Textgeschichte“¹¹³ vorführt. Bei diesem Werkteil verfährt Köster also nach dem zukunftsträchtigen Prinzip der textgenetischen Edition. Anders bei den Novellen; hier wird auf die vollständige Darstellung der Textgenese verzichtet,¹¹⁴ aber nicht gänzlich, denn Köster will zumindest die unterschiedlichen Varianten der Drucke der Novellen so weit dokumentieren, dass „jeder Leser sich mit Hilfe der Anmerkungen die letzte Fassung einer Novelle in ihre erste wieder zurückübersetzen kann“.¹¹⁵ Dies stellt sich freilich in der Praxis als sehr schwierig dar, da Köster für seine Edition aus den verschiedenen Drucken einen „Mischtext“¹¹⁶ herstellt, der von Storm so nirgendwo autorisiert worden ist, sondern das Ergebnis nicht immer durchschaubarer Entscheidungen des Editors ist.¹¹⁷ Es fehlt vor allem ein „Editionsbericht […], der über den textgeschichtlichen Wert der verschiedenen Drucke, die zugrunde gelegte Druckvorlage und die an ihr vorgenommenen Änderungen Auskunft“¹¹⁸ gibt. Man könnte erwarten, dass diese Informationen, die in der Edition keinen Platz gefunden haben,¹¹⁹ in den

112 Von einer großen Zahl handschriftlich überlieferter Gedichte werden nur drei Beispiele gebracht – vgl. Köster (1918), S. 2. 113 Ebd., S. 3. 114 Vgl. ebd., S. 3: „Dagegen wäre bei den Prosawerken ein ganzer sogenannter ‚Apparat‘ ein Unding gewesen. Was Goethe in der Weimarer Ausgabe recht war, ist Storm darum noch nicht billig; die Karikatur einer Storm-Philologie soll nicht aufkommen.“ Unklar bleibt, ob der Verzicht den Verlagsvorgaben geschuldet ist oder der Einschätzung, dass Storm als Dichter nicht so bedeutend ist wie Goethe. 115 Ebd., S. 4. 116 Laage / Lohmeier (1987), S. 740. 117 Vgl. ebd.: „Kösters Verfahren ist […] insofern problematisch, als er zumeist ohne ausdrückliche Begründung entschieden hat, ob die Abweichungen der letzten Drucke von den Handschriften und den Erstdrucken seiner Meinung nach auf Absichten des Autors oder Eigenmächtigkeiten der Setzer zurückzuführen sind. […] Im Endergebnis bietet Köster deshalb Storms Werke in Textfassungen, die – zuweilen gegen ausdrückliche Entscheidungen des Autors und sehr häufig gegen seine stillschweigende Autorisation – aus Handschriften, Erstdrucken und den Schriften kontaminiert sind […].“ Laage und Lohmeier entscheiden sich dagegen bei den Novellen für den Text der Schriften von 1889, also für die Ausgabe letzter Hand, als Textgrundlage und verändern ihn äußerst sparsam mit wenigen Emendationen nach Maßgabe früherer Drucke, die präzise nachgewiesen werden. Größere Abweichungen zwischen den früheren Drucken und den Schriften werden im Stellenkommentar dokumentiert – vgl. z. B. ebd., S. 1027–1030 zu Immensee. 118 Ebd., S. 739. 119 Im 8. Band der Textausgabe zeigt sich, ohne dass dies explizit gesagt wird, dass Köster von der Textgestalt späterer Drucke ausgeht, also von den Fassungen von 1868 und 1889. Im Kom-

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Prolegomena gegeben werden, aber auch hier sucht man präzise Angaben im Sinne eines Editionsberichts vergeblich. Diese Problematik lässt sich verstehen, wenn man berücksichtigt, dass Köster bei den Novellen letztlich im Rahmen der überlieferungskritischen Editionsmethoden der Klassischen Philologie und der Altgermanistik verblieben ist und versucht hat, diese auf ein Textkorpus der Literatur des 19. Jahrhunderts zu übertragen. Wie in einer überlieferungskritischen Edition, in der aus unterschiedlichen Überlieferungsträgern ein hypothetischer Ursprungstext rekonstruiert wird, behandelt Köster die verschiedenen Drucke der Novellen als Überlieferungsträger, von denen aus er sich auf die Suche nach „dem alten reinen Klang“¹²⁰ von Storms Prosa macht. Damit meint er aber nicht eine ursprüngliche Fassung, die tatsächlich vorhanden ist, sondern eine Art Ideal, das sich der Editor nach „längerer Beschäftigung mit dem Dichter“¹²¹ vom ‚eigentlichen‘ Storm gebildet hat. Für die entstellenden Abweichungen der gedruckten Texte von diesem Ideal werden zum großen Teil die Setzer in den Druckereien verantwortlich gemacht, die mit den Schreibern antiker bzw. mittelalterlicher Handschriften in Analogie gebracht werden. So ist vom „Schlendrian einer antiken Handschriftenfabrik und einer neuzeitlichen Druckerei“¹²² die Rede, und so wie es in früheren Zeiten typische Schreibfehler gegeben habe, die der Editor berücksichtigen müsse, so gebe es in der Neuzeit typische „Versetzungsfehler“,¹²³ über deren Entstehung aber noch keine Theorie formuliert worden sei. Aber nicht nur die Setzer werden als Quelle von Entstellungen namhaft gemacht, sondern auch der Autor selbst, der „viele gute Lesungen seiner Handschriften bei der Drucklegung übersehen“,¹²⁴ Fehler der Setzer nicht bemerkt und mit Absicht in der Ausgabe letzter Hand gelegentlich auch eine „Schlimmbesserung“¹²⁵ vorgenommen habe. Der Editor hat demgemäß die Aufgabe, nach Maßgabe dessen, was er „dem Dichter zutrauen darf oder nicht“,¹²⁶ „den Wortlaut festzuhalten, den man nach

mentarteil bringt er zwar die angekündigten Zitate aus den maßgeblichen Textvarianten früherer Fassungen, er macht aber keine Angaben über die Emendationen, so dass man seine Textherstellung nicht überprüfen kann. Ansonsten beschränkt sich der Kommentar ganz im Sinne der positivistischen Methode auf Angaben zum biographischen Hintergrund der Motive und zur Textentstehung sowie zu literaturgeschichtlichen Quellen und Anregungen. Man vgl. hierzu den Kommentar zu Immensee – Köster (1919), S. 199–208. 120 Köster (1918), S. 3. 121 Ebd., S. 30. 122 Ebd., S. 37. 123 Ebd., S. 37. 124 Ebd., S. 18. 125 Ebd., S. 33. 126 Ebd., S. 18.

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bestem Wissen als Ausdruck von des Dichters letztem Willen ansehen darf“.¹²⁷ Das ist, auch wenn Köster mit vielen Beispielen nachzuweisen versucht, dass „Storms bessernde Hand“¹²⁸ erst in mehreren Überarbeitungsphasen seinen unverwechselbaren Stil hergestellt hat, nicht der Text der Schriften von 1889, sondern ein Text, den der Editor in einer nicht nachvollziehbaren Vermischung verschiedener Überlieferungsträger hergestellt hat. Worauf er sich dabei letztlich verlässt, ist sein „sicheres Gefühl für den Klang seiner [das ist: Storms; d. Verf.] Sätze“.¹²⁹ Diese Tatsache wird freilich am Ende der Prolegomena mit einem problematischen Vergleich verdeckt: „Ich kam mir immer wieder wie ein Bilderrestaurator vor, der eine große Reihe von Gemälden eines Meisters von häßlichen Übermalungen befreit.“¹³⁰ Der Restaurator legt etwas frei, was als authentisches Werk des Malers schon vorhanden ist; der Editor Köster stellt etwas her, was der Dichter so nie verfasst hat.¹³¹ Dass Köster bei diesem Verfahren in den Prolegomena gemäß seiner spezifischen Begabung zur treffenden Beobachtung am sprachlichen Detail glänzende intuitive Beschreibungen der rhythmischen Form und der Entwicklung von Storms Sprachstil gelingen,¹³² sei unbenommen; die Editionswissenschaft hat sich im 20. Jahrhundert aber anders entwickelt, indem sie zunehmend auf die Herstellung und Präsentation eines von den überlieferten Handschriften oder Drucken abweichenden ‚authentischen‘ Textes verzichtet hat.

2.3 Witkowskis Beitrag zur Editionstheorie Die vielen Emendationen der Kösterschen Stormausgabe nennt Witkowski in seiner Einführung in die neugermanistische Editionswissenschaft Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke als Beleg für die Wichtigkeit eigener Editionsgrundsätze für neuere Autoren. In einem Brief an Köster gibt Witkowski seinen Erstleseeindruck der Prolegomena wieder; schon im zweiten Satz wird durch die Ausdrucksweise die Verbindung zur eigenen Editionslehre deutlich: „Solche methodologische und textkritische Untersuchungen liebe ich ganz besonders.“¹³³ In einer Rezension der Stormausgabe Kösters schreibt Witkowski:

127 Ebd., S. 29. 128 Ebd., S. 53. 129 Ebd., S. 30. 130 Ebd., S. 73. 131 Nach damaliger Auffassung von Restauration war es freilich auch üblich, bei Fehlstellen farblich passende Retuschen vorzunehmen, ohne diese immer als solche sichtbar zu machen. 132 Vgl. z. B. Köster (1918), S. 26ff. und S. 53ff. 133 Georg Witkowski an Albert Köster am 05.01.1919, UBL.

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Nun übte er [Albert Köster, d. Verf.] an den Werken Seite für Seite Kritik und stellte mit Hilfe aller erreichbaren Hilfsmittel an Drucken, Handschriften, Briefen diejenige Form her, die Storm selbst seinen Werken gegeben hätte, wenn er sie als sein eigener Herausgeber mit höchster Hingabe an die Aufgabe durchredigiert hätte. […] Solche ins feine und feinste gehende Beobachtungen lassen sich an der Hand der vielgeschmähten Lesarten anstellen, wenn sie so sauber zubereitet wie hier dem Freunde des Dichters dargeboten werden.¹³⁴

Schon Karl Lachmann, der mit der textkritischen Methode der klassischen und der altdeutschen Philologie ein sicheres Fundament gibt, überträgt dieses Arbeiten auch auf Autoren der neueren deutschen Literatur.¹³⁵ Jedoch werden die Möglichkeiten einer textgenetischen Edition erst in den nachfolgend entstehenden Textausgaben angedeutet. Die Einsicht in die grundsätzlich unterschiedliche Editionstätigkeit bei Autoren, von denen es autographe oder autorisierte Überlieferungen gibt, wird erst 1924 bei Georg Witkowski explizit formuliert.¹³⁶ In einer fortschrittsgeschichtlich orientierten Geschichte der Editionswissenschaft bietet die Editionseinführung Witkowskis nur weniges, was nicht schon in praktischen Editionen ausgeführt wäre. Die Leistung liegt hier im hochschulpädagogisch sicher wertvollen Explizitmachen etablierter Verfahren der Edition. Witkowskis Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke stellt für die neugermanistische Editionswissenschaft einen ersten umfassenden Versuch dar, aus der bisherigen Praxis und Forschung allgemeine Regeln abzuleiten und diese in verbindlicher Weise darzustellen.¹³⁷

Witkowski scheidet die textkritische Methode Lachmanns von der moderneren textgenetischen Methode und weist beiden einen wichtigen Platz bei dem Vorgang des Edierens zu. Oft ist die Monographie verkürzt aufgefasst worden als Abkehr von der Lachmannschen Methode; dies verkennt aber, wie sorgfältig Witkowski auch der altphilologischen Textkritik gerecht wird. Er fordert die Herstellung eines zuverlässigen Textes, der durch den Apparat begründet wird und die Güte der verschiedenen Lesarten gegeneinander abwägt. Witkowski zufolge ist das für die Altphilologie richtig, jedoch im Hinblick auf die Norm der philologischen Genauigkeit auch für die Edition neuerer Texte wichtig. Dabei wendet er ein:

134 Witkowski (1919), S. 363f. Hervorhebungen durch die Verfasser. 135 Vgl. Lessing (1838ff.). 136 Zentrale Thesen von Witkowski (1924) werden vorher schon im Aufsatz Witkowski (1921) formuliert. 137 Meyer (1992), S. 80.

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Wo die alte Philologie schwere Gewichte zu heben hat, bedarf es für die neuere nur geringen Kraftaufwands, wenn auch gleichen Verantwortungsgefühls und gleicher Sorgfalt im einzelnen.¹³⁸

Dagegen sind dort der „Einblick in die Werkstatt des Autors, der Zeugungsvorgang vor der ersten Niederschrift, die Entstehungsgeschichte des einzelnen Werkes und die darin abgespiegelten Entwicklungsstadien der künstlerischen Persönlichkeit“¹³⁹ wichtig. Und weil die neuere Literaturgeschichte dank solcher Schicksalsgunst zu psychologisch-ästhetischen Ergebnissen weit intimerer Art gelangen kann, muß auch ihre editorische Leistung auf diese Ergebnisse eingestellt werden.¹⁴⁰

Neben einer kurzen historiographischen Einleitung werden nicht nur Methoden der Textedition dargestellt, sondern auch ganz praktische Hinweise zum Arbeiten, wie etwa Zettelkästen, vorgeführt. Zu zentralen Fragen der aktuellsten Editionstechnik kann Witkowksi jedoch nur problematische Antworten formulieren. Eine ungelöste Aufgabe der textgenetischen Edition ist das Verzeichnen unterschiedlicher Entstehungsebenen. Sollen alle dargestellt sein? Oder nur jene, die für die Textentstehung besonders wichtig sind? Wer bestimmt diese Gewichtung? Bei der Auswahl der Lesarten für den Apparat ist maßgebend die Antwort auf die Frage: Spiegelt sich in der Textänderung eine, wenn auch unbewußte Willenshandlung des Autors? Wenn dies bejaht werden kann, ist die Variante, gleichgültig gegen ihre inhaltliche oder ästhetische Wertung, […] aufzunehmen.¹⁴¹

Der Herausgeber der Stuttgarter Hölderlinausgabe, Friedrich Beißner, äußert sich in einem Aufsatz 1958 zu seinem editionstheoretischen Vorgänger Georg Witkowski.¹⁴² Die Leitfrage des Aufsatzes lautet: „Darf der Herausgeber dem Willen des Dichters zuwiderhandeln?“¹⁴³ Dabei geht Beißner auf Witkowskis Äußerungen zur Apparatgestaltung ein und kritisiert gerade ein Beispiel, welches in seiner Editionslehre eine vorbildlich richtige Lesartenverzeichnung

138 Witkowski (1924), S. 13. 139 Ebd., S. 13. 140 Ebd., S. 13. 141 Ebd., S. 37. 142 Dabei ist bemerkenswert, dass noch in diesem 34 Jahre nach Witkowskis Editionseinführung erschienenen Beitrag der Unterschied zwischen antik-mittelalterlicher und neuzeitlicher Überlieferung in der Einleitung herausgestellt werden muss. Vgl. auch Plachta (2006), S. 32f. 143 Beißner (1958), S. 9.

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zeigen soll.¹⁴⁴ Dort führt Witkowski eine Stelle aus dem Werther Goethes vor. Er zitiert eine längere Passage, die folgenden Satzteil enthält „[…] die von uns Ergebung in unvermeidliche Schicksale fordern.“¹⁴⁵ Es schließt sich direkt ein Apparat an, der neben der Darstellung anderer Lesarten berichtet, dass Goethe in der Handschrift H Ergebung aus Ergebenheit und unvermeidliche aus unvermeidlichem mit eigener Hand berichtigt. Ein Schreibfehler wird als Begründung erwogen. Witkowski meint nun in der Diskussion dieser Darstellung, diese Lesarten bräuchten nicht verzeichnet zu werden, da sie keine „Willenshandlung des Autors“¹⁴⁶ darstellen. Beißner wendet ein, dass man im Apparat deutlich machen müsste, dass die beiden Lemmata zusammen geändert wurden – eine unabhängige Änderung macht wegen der Kasusrektion keinen Sinn – und jeder der Lesarten eine genuine Bedeutung zukomme: Daraus geht wohl hervor, wie bedenklich Witkowskis Grundsatz der Lesartenauswahl ist. […] Organische Zusammenhänge sollten im Lesartenapparat nicht auseinandergerissen werden.¹⁴⁷

Georg Witkowski erkannte klar, dass ein lemmatisierter Einzelstellenapparat schnell unübersichtlich werden kann und damit ohne Erkenntniswert bleibt. Deshalb möchte er die Anzahl der vermerkten Lesarten reduzieren, etwa klare Schreibfehler ‚stillschweigend‘ korrigieren. Wie aber das von ihm gewählte Beispiel deutlich illustriert, ist es schwierig, hier klar zu trennen. Der Editor müsste dafür sowohl kongenialer Nachschöpfer als auch genialer Hermeneutiker sein. Es bleibt, eine bessere Methode der Variantenverzeichnung zu finden, was das große Verdienst Friedrich Beißners sein wird. Den Abschluss des Buches bildet eine Ausgabentypologie – hier liegt die wohl wichtigste Innovation des schmalen Bandes. Die grundlegende Forderung Witkowskis ist die folgende: Auch der einfachste, der Unterhaltung oder Belehrung dienende Abdruck, auch jede Wiedergabe von einzelnen Teilen in Zeitschriften, Lesebüchern und anderen Sammelschriften soll zuverlässigen, kritisch gesicherten Wortlaut bieten. Womit aber nicht gesagt ist, daß Form und Umfang, Art der Wiedergabe durch die wissenschaftliche Methode der Textkritik und die aus ihr hervorgehende Gestaltung nun für alle möglichen Aufgaben und Absichten festgelegt seien. Vielmehr wird sich im folgenden herausstellen, daß eine unveränderte Wiedergabe der kritischen Texte für die meisten Zwecke als unvorteilhaft erscheint. Die von der Wissenschaft gestellten Forderungen müssen insofern als absolute gelten, als sie

144 Ebd., S. 12ff. 145 Witkowski (1924), S. 36. 146 Ebd., S. 36f. 147 Beißner (1958), S. 13.

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niemals unberücksichtigt bleiben dürfen; doch stellt das Leben, der Gebrauchszweck der Ausgabe die seinigen unabhängig von der Wissenschaft, und fordert Anerkennung seiner Rechte. Beiden zugleich gerecht zu werden, ist die jedem Herausgeber gestellte, oft nicht leicht erfüllbare Aufgabe; die dazu erforderlichen Kompromisse sind in jedem Falle andere und daher bei den einzelnen Arten von Ausgaben zu erörtern.¹⁴⁸

Diese Forderung muss kritisch hinterfragt werden: Ist wirklich derselbe Text Grundlage aller verschiedenen Ausgaben? Im Weiteren wird klar, dass diese Grundidee von Witkowski nicht eingehalten werden kann. So fordert Witkowski für einige Ausgabentypen orthographische Bereinigungen, für andere jedoch nicht. Drei Differenzierungskriterien lassen sich erkennen: die kognitiven Fähigkeiten des Lesers, unterschiedliche Rezeptionsziele, der Umfang der Edition (Auswahlausgaben, Einzelausgaben, Werkausgaben oder Gesamtausgaben). Der Editor nimmt innerhalb dieser Differenzierung eine herausragende Position ein. Er soll die Bedürfnisse und Beschränkungen der Leser richtig prognostizieren und stellt sich so „zwischen Werk und Leser“.¹⁴⁹ Weitsichtig fordert Witkowski hier die Ausgabenarten, die auch noch die heutige Editionstätigkeit bedient. Er weist damit der Editionswissenschaft als zentralem Teil germanistischer Tätigkeit eine bis weit in die außeruniversitäre Wirklichkeit wichtige publizistische Verantwortung zu.

2.4 Witkowskis Faust-Edition Im letzten Kapitel seiner Autobiographie fragt Witkowski: Was wird von meiner Lebensarbeit übrig bleiben? Für die Wissenschaft im ganzen einige Handschriftenfunde, für die Lokalhistoriker als Nachschlagebuch die ‚Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig‘, für die große Menge der Fachgenossen vielleicht einige zum Gemeingut gewordene Tatsachen und Gedanken, für die große Menge vorläufig noch die Faust-Ausgabe, bis sie von einer anderen neuen über kurz oder lang verdrängt wird.¹⁵⁰

Diese Einschätzung der Wichtigkeit und des Schicksals seines Faustbuches war weitsichtig. Seine zweibändige Edition der Faustbearbeitungen Goethes erscheint 1906 zum ersten Mal, sie gehört zu den populärsten Arbeiten Witkowskis. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten konnte die neunte Auflage 1936 nur noch in den Niederlanden gedruckt werden, wo auch 1949/50 die zehnte Auflage erscheint. 148 Witkowski (1924), S. 65. 149 Meyer (1992), S. 83. 150 Witkowski (2010), S. 448.

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Witkowskis Faustbuch hebt sich von anderen Kommentaren der Zeit durch seine nüchternen Erklärungen ab; der Text wird in seiner Gemachtheit gezeigt und nicht zum klassischen Kunstwerk mit nationaler Identifikationskraft stilisiert.¹⁵¹ Schon in der Einleitung wird dies deutlich: Goethes Faust ist kein Zauberbuch, dessen geheimnisvolle Zeichen ihren Sinn nur den Eingeweihten offenbaren. […] Aber es ist nicht zu verkennen, daß hier mannigfaltige Hindernisse den Leser nicht leicht zum reinen Genießen gelangen lassen. Die Form erscheint dem strengen Stilgefühl keineswegs vollkommen. Der Plan ist unklar, zwiespältig; Episodisches drängt sich ungebührlich hervor. Wichtige Szenen sind unausgeführt. […] Und nun gar der zweite Teil! Er ist ein Erzeugnis von Goethes höchstem Greisenalter, durch ein halbes Jahrhundert von den Anfängen des Werkes getrennt.¹⁵²

Auf die Extension der Ausgabe, die sowohl die von Goethe unterdrückten Teile der Walpurgisnachtszene enthält¹⁵³ als auch viele bisher nicht gedruckte Paralipomena,¹⁵⁴ ist schon hingewiesen worden. Witkowski gibt gerade mit letzteren tiefe Einblicke in die Werkgenese. Wie der Kern des Pudels und die zwei sich eine Brust teilenden Seelen gehört auch der Chorus mysticus, also die letzten Verse des Dramas, zu den geflügelten Worten dieser Dichtung: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis / Das Unzulängliche / Hier wird’s Ereignis / Das Unbeschreibliche / Hier ist’s getan / Das ewig Weibliche / Zieht uns hinan.“¹⁵⁵ Schon Erich Schmidt, als Editor der Faust-

151 Vgl. Scholz (1993), S.  44f.: „Der eingeschränkte Wissenschaftscharakter bürgerlicher Faust-Interpretationen erweist sich auch an den großen Kommentaren des 19. und 20. Jh., für die zwei Merkmale charakteristisch sind: Zum einen baut die Forschung auf solide Faktenwissenschaft auf, die sich auf der Basis positivistischer Wissenschaftshaltung um Sachklärung, Textentstehung und biographische Bezüge kümmert. Diese Sacherklärungen werden zum anderen übergriffen von einer weltanschaulichen Interpretation, die das Faust-Drama zum sakrosankten Text stilisiert und auf übergeschichtliche Begriffe von Wirklichkeit wie ‚das Leben‘, ‚das Sein‘, ‚das Deutsche‘ bezieht. […] Dazu gehört Georg Witkowski, Goethes Faust, 1906, dessen sachlicher, nüchterner Kommentar sich durch seine historisch philologische Genauigkeit auszeichnet. Er stellt z. B. als einer der ganz wenigen die ökonomische Seite der Papiergeldszene einigermaßen richtig dar.“ Die folgende Argumentation soll zeigen, dass sich Witkowskis Faustkommentar gerade als ein Gegenmodell zum geschilderten Versuch einer nationalen Stilisierung Goethes verstehen lässt. 152 Witkowski (1950), S. 1f. 153 Erstmals gedruckt in Witkowski (1894). 154 Vgl. Bohnenkamp (1994), S. 24. Bohnenkamp weist hier auch auf ein problematisches Verfahren hin: Offenbar hat Witkowski in einem Fall aus zwei unterschiedlichen „Textbruchstücken ein ‚neues‘ Paralipomenon“ hergestellt. Das ist ohne eine ausführliche Erläuterung natürlich ein Bruch mit seinen Richtlinien der Editionswissenschaft. 155 Schmidt (1888a), S. 337.

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dichtung innerhalb der Weimarer Ausgabe, wendet in deren spärlichem Lesartenverzeichnis ein, dass in der autorisierten Fassung Goethes eigentlich „Das Unbeschreibliche / Hier ist es getan“ steht. Der Lesartenapparat erklärt die Konjektur folgendermaßen: Warum soll Goethe, um eine so gewöhnliche, eben im Parallelvers 12107 [d. i. „Hier wird’s Ereignis“, d. Verf.] gebrauchte Zusammenziehung zu vermeiden, das Ebenmass der Verse wieder zerstört haben? Ich nehme ein Versehen Johns [Johann August Friedrich John (1814– 1832), einer der Schreiber Goethes, d. Verf.] an, der ja an so manchen Stellen seine Schwäche für volle Formen gezeigt hat.¹⁵⁶

In den ersten Auflagen des Faustbuches folgt Witkowski dieser Lesart. In seinem Aufsatz „Notwendige Faust-Emendationen“ von 1930 plädiert er dagegen für die metrisch unreine Form ohne Elision und übernimmt sie in die späteren Auflagen.¹⁵⁷ Erich Trunz, auf dessen Faust-Ausgabe von 1949 gleich noch näher eingegangen wird, entscheidet sich hier jedoch, mit der gleichen Kenntnis der Überlieferungsträger, für die elidierte Variante und stellt damit eine von ihm favorisierte Textdeutung heraus: „Nur wenn hier die Harmonie Klang wird, symbolisiert die Form den Ausklang, die Läuterung, welche durch die ganze Szene sich steigert und hier ausklingt.“¹⁵⁸ Trunz stellt also eine Form des Textes her, die die Einheit der Dichtung betont; philologische Redlichkeit verbietet Witkowski diese Umdeutung. Die unterschiedliche Behandlung dieses Verses ist ein gutes Beispiel für zwei sich einander ablösende Grundausrichtungen der Editionswissenschaft: Erich Schmidt und Erich Trunz wollen eine ‚beste‘ Textvariante durch Emendation und Kollation herstellen. Witkowskis Orientierung an der autorisierten Fassung weist auf eine am konkreten überlieferten Artefakt interessierte heutige Editionswissenschaft, für die nicht mehr die Herstellung eines ‚richtigen‘ Textes, sondern die vollständige Faksimile-Edition Idealvorstellung ist. Nun sei noch das Faustbuch Witkowskis mit Erich Trunz’ Faustkommentar, der Witkowskis Edition „verdrängt“ hat,¹⁵⁹ verglichen. In der Editionseinführung

156 Schmidt (1888b), S. 168. 157 Witkowski (1930), vgl. auch Michelsen (2000), S. 205f. Erst 1928 wurde eine eigenhändige Reinschrift Goethes gefunden, die diese Lesung bestätigt. Vgl. auch Schöne (1994), S. 815f. 158 Trunz (1949), S. 745. Vgl. auch Schöne (1994), S. 816. Dort stellt Albrecht Schöne in seinem modernen Kommentar die nicht-elidierte Form wieder her, begründet es mit der Reinschrift Goethes, integriert den Befund aber in eine Deutung. Es sei ein „Ausweis dafür, daß es in dieser letzten Szene doch um das Unbeschreibliche gehe, um etwas selbst für den Chorus mysticus Überwältigendes und Unfaßliches.“ 159 Witkowski (2010), S. 448.

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geht Witkowski, seiner praxisorientierten Ausrichtung folgend, wenig auf die theoretischen Schwierigkeiten eines Kommentars ein. Die historische Fremdheit der Texte soll überbrückt werden. Immer hat eins im Vordergrund zu stehen: Dichtung will erlebt sein. Inhalt und Form sollen gemeinsam den ästhetischen Zustand der Hingabe an das Kunstwerk herbeiführen. Der bewußte Wille soll verstummen, jede egozentrische Regung entschlummern, kein Außenzweck angestrebt werden. Jeder Kommentar eines Dichterwerkes steht im Dienst dieser Wirkung. Daseinsrecht hat er nur, wo er befähigt ist, sie zu fördern oder Hindernisse hinwegzuräumen, die ihr im Weg stehen, sie unterbrechen. […] Hierzu gehört die Fähigkeit nachschaffenden Verständnisses, verbunden mit geschichtlich geschultem Blick für Zeitbedingtes und Persönliches.¹⁶⁰

Dieses „nachschaffende Verständnis“ erfordert nun aber einen Editor, der schon kongenial neben den Dichter tritt und über eine abgeschlossene Interpretation verfügt. Diese Fähigkeiten zeichnen ihn gegenüber dem Leser aus, denn die „Hindernisse ungestörter, adäquater Aufnahme des Dichterwerks […] erwachsen aus den unzutreffenden oder unzulänglichen Fähigkeiten des Lesers.“¹⁶¹ Hieraus leitet Witkowski neuerlich den Grundgedanken des Einführungsbuches ab: Editionen sollen sich nach den Leserbedürfnissen richten. Ein Kommentar, der den Leser zu einer bestimmten – evtl. einseitigen – Interpretation lenkt, ist offenbar kein Schreckensbild für Witkowski. Allein die Quantität allzu ausufernder oder kleinlicher Worterklärungen bemängelt er. Deutlicher, als es die theoretischen Äußerungen erahnen lassen, ist der Faustkommentar durch nüchterne Sachund Bedeutungskommentare gekennzeichnet. Ein neuerlicher Vergleich mit der berühmten Hamburger Ausgabe Erich Trunz’ soll dies zeigen;¹⁶² dazu wird die Kommentierung der Szene „Bergschluchten“ aus dem zweiten Teil des Faust herangezogen. Witkowski und Trunz stellen dem tatsächlichen Einzelstellenkommentar eine kurze Einleitung voran. Sie nimmt bei Witkowski weniger als eine 160 Witkowski (1924), S. 130. Vgl. die Ähnlichkeit zu einer modernen Editionseinführung: Plachta (2006), S.  124f. „Ein […] Kommentar soll Voraussetzungen für das Verständnis eines literarischen Textes oder Werks als historisches Phänomen schaffen, gleichzeitig soll die zeitliche, kulturelle und und geistige Distanz […] zwischen Werk und Leser überbrückt werden, der Text durch den Kommentar ‚rehistorisiert‘ werden.“ 161 Witkowski (1924), S. 130. 162 Der Vergleich erscheint auch deswegen passend, weil die Faustausgabe Erich Trunz’ zum Muster einer sehr modernen Art der Textausgabe wird, der Studienausgabe: Waltraut Hagen bezeichnet seinen Faust im Handbuch der Editionen als eine „Ausg[abe, d. Verf.], die durch die gelungene Kombination von philologischen und erläuternden Beigaben zum Vorbild für den Typ der modernen Studienausg[abe, d. Verf.] geworden ist“ (Hagen (1979), S. 190). Ähnlich äußert sich auch Rüdiger Nutt-Kofoth: „Das Muster für alle modernen Studienausgaben hat dabei die Hamburger Goethe-Ausgabe […] bereitgestellt.“ (Nutt-Kofoth (2005), S. 109)

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Druckseite ein, bei Trunz sind es fast sechs, diese enthalten ausgedehnte (christlich) deutende Passagen.¹⁶³ Auch die einzelnen Kommentare unterscheiden sich sehr. Das Wort Puppenstand (V. 11982) kommentiert Witkowski folgendermaßen: „Zustand der Schmetterlingspuppe“.¹⁶⁴ Trunz gibt ausführlicher und mit einer Deutung versehen: […] das alte Sinnbild von der Seele als Schmetterling. Sie soll erst zu einem solchen werden, noch ist sie der Puppe vergleichbar. […] Das Bild der Puppe sagt deutlich, daß Fausts Entelechie jetzt eine andere ist als im Leben, aber keineswegs die, welche sie werden soll und kann. Es betont das Werden. […] Wieweit dieses Bild des Aufstiegs, der Wandlung, der Metamorphose, der Stufenordnung (nicht Kluft) zwischen Erde und Licht christlich sei, hängt davon ab, was man unter Christentum versteht, ob man dieses enger oder weiter faßt. […]¹⁶⁵

Zur Kommentierung des Auftritts der „vollendeteren Engel“ (V. 11954–11965) wendet Witkowski drei Lemmata auf: 11956. Der Asbest, weil er, wie der Name besagt, unverbrennlich ist, wird als das Unvergängliche angesehen und deshalb den Stoffen, aus denen die ewigen Wesen bestehen, am nächsten gestellt. 11957. reinlich, von allem Niedrigen, Stofflichen frei. Vgl. Noten zum Divan, ältere Perser […]. 11958–11965. Geeinte Zwienatur, nicht die entgegengesetzten Triebe […] oder die zwei Seelen […], sondern die Verbindung des Himmlischen und Irdischen, Göttlichen und Menschlichen in dem hoch begabten, dem starken Geiste. Nur Gott oder die Gottesmutter, die ewige Liebe vermag das Irdische, den Erdenrest, aus der Persönlichkeit zu scheiden.¹⁶⁶

Der dritte Kommentar, der sich nicht auf eine einzelne Stelle, sondern auf sieben Verse bezieht, grenzt an eine Deutung. Erich Trunz kommentiert dagegen nur ein Lemma, in diesem entwickelt er jedoch eine den Goetheschen Figuren nachfühlende Deutung der ganzen elf Verse: 11956. Asbest: ein unverbrennbarer Stoff. Die Engel sprechen seit ihrem Erscheinen von Flammen […], die das Geistige vom Irdischen trennen […]. Während die jüngeren Engel jubilieren, die Seele dem Teufel entrissen zu haben, spüren die vollendeteren Engel, daß die Glut ihrer Rosen das Läuterungswerk erst begonnen habe und ein durch diese Flammen noch nicht verzehrter irdischer Rest geblieben sei. Fausts starke Geisteskraft hat Elemen-

163 Zur Erläuterung des Chorus mysticus etwa schreibt Trunz in dieser Einleitung: „Gott strömte aus in die Welt, nur darum kann sie ein Gleichnis sein. Als Schöpfergott erscheint er menschlichen Augen männlich. Aber alles Irdische sehnt sich ins höchste Licht zurück und wird wieder zu ihm emporgehoben. Hier aber, wo das Göttliche sich offenbart als das Liebende, Aufnehmende, erscheint es menschlichen Augen weiblich.“ (Trunz (1949), S. 626). 164 Witkowski (1950), S. 409. 165 Trunz (1949), S. 630. 166 Witkowski (1950), S. 409.

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tares und Geistiges so eng vermischt, daß nur die höchste Liebe […] beides zu trennen vermag.¹⁶⁷

Dieses zweite Beispiel zeigt, dass auch der Kommentar Witkowskis nicht nur bloße Worterklärungen liefert. Erich Trunz verbirgt jedoch hinter den Textsignalen eines Einzelstellenkommentars eine Deutung der umliegenden elf, eigentlich sogar 46 Verse, er bezieht ja die „jüngeren Engel“ mit ein. Diese Deutung gewinnt nur wenig Abstand zur Dichtung („Während die jüngeren Engel jubilieren, […] spüren die vollendeteren Engel […]“). Die Faustausgabe Witkowskis besteht nicht nur aus dem Text und dem Einzelstellenkommentar. In den kurzen Texten zu „Handlung“, „Idee“ und „Form“, die dem Kommentar vorangestellt sind, wird der Editor auch zu einem Interpreten. Aber auch hier verweigert sich Witkowski einer Deutung, die den Faust für eine bestimmte „Idee“ vereinnahmen möchte: [Es, d. Verf.] entsteht der Irrtum, als sei hier das Gebiet der Kunst vom Dichter verlassen worden und er habe sich in die luftleeren Gefilde des abstrakten Denkens verloren. Aus diesem Irrtum entspringt das Suchen nach der Idee und lockt mit verführerischem Irrlichtschein ins Bodenlose, weit fort von allem, was der Dichter selbst in seinem Faust und in seinen Äußerungen über das Werk so deutlich ausgesprochen hat. Auch der Faust ist nichts anderes als jedes Kunstwerk, nämlich Form gewordene Sinnlichkeit, die freilich einen tiefen Sinn nicht ausschließt. Der Reichtum der Bilder, die Fülle der Gestalten gewährt beim Unbefangenen diesen Eindruck, der nach der Absicht des Dichters durchaus der vorherrschende sein soll; doch sind freilich Hindernisse vorhanden, die diesen Eindruck nicht ohne weiteres ins Bewusstsein treten lassen, unter ihnen nicht das kleinste die formale Eigenart, der Stil des großen Werkes.¹⁶⁸

Innerhalb dieser Texte gibt es jedoch auch andere, drastischere Deutungen, die den überzeitlichen Charakter des Kunstwerkes herausstellen. Warum entwirft nun Erich Trunz einen so stark deutenden Kommentar? Ein Zusammenhang zu den Versuchen der Rehabilitation deutscher Hochkultur in der Nachkriegszeit lässt sich vermuten.¹⁶⁹Aber auch eine biographische Deutung bietet sich an: Erich Trunz war seit 1934 Mitglied der NSDAP und während der Naziherrschaft politisch engagiert. Er blieb im Nachkriegsdeutschland von 1946–1950 ohne universitäre Anstellung. Er „lebte von der Herausgeberschaft der Hamburger Goethe-Ausg[abe].“¹⁷⁰ Ein erbaulicher Kommentar war dann sicher einträglicher als ein nüchtern-wissenschaftlicher. 167 Trunz (1949), S. 630. 168 Witkowski (1950), S. 130. 169 Vgl. den Beitrag von Stockinger zu Hermann August Korff in diesem Band, S. 223. 170 König (2003), S. 1910. Vgl. dort auch Trunz’ Lebenslauf S. 1909ff.

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Witkowski schafft mit seiner Faustausgabe – vor Erich Trunz – ein frühes Beispiel der Studienausgabe. Die editionstheoretische Beschreibung dieser Ausgabe führt er schon in der Ausgabentypologie der Editionseinführung aus, dort heißt sie kommentierte nicht-wissenschaftliche Ausgabe für gebildete Leser.

2.5 Theaterwissenschaft und Philologie in Albert Kösters Lehre und Forschung Wie schon gesagt, hat Albert Köster versucht, den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft auch auf das Gebiet der Theatergeschichte auszudehnen. Diese Interessen Kösters führten dazu, dass er ab 1906 mit dem Aufbau einer „Sammlung bühnengeschichtlichen Materials“¹⁷¹ begann und ab 1910 Vorlesungen zur Bühnen- und Theatergeschichte anbot.¹⁷² In die wissenschaftliche Diskussion der damals innerhalb der Germanistik entstehenden Disziplin ‚Theaterwissenschaft‘ griff Köster mit zwei Monographien¹⁷³ und einem programmatischen Aufsatz ein.¹⁷⁴ In den Rekonstruktionen der Anfänge der Theaterwissenschaft in Deutschland wird Kösters Name zwar erwähnt; es wird ihm dort allerdings keine zentrale Rolle im Sinne einer Gründerfigur zugestanden,¹⁷⁵ und dies lässt sich nach einer Betrachtung seiner Aktivitäten in Lehre und Forschung durchaus nachvollziehen: Er bleibt historisch orientierter Philologe und Literaturwissenschaftler, und er entfaltet keine Aktivitäten, die – wie bei Max Herrmann in Berlin – zur Gründung eines eigenen Instituts für Theaterwissenschaft oder wenigstens einer entsprechenden Unterabteilung im Leipziger Seminar hätten führen können.¹⁷⁶ Seinen Standort als Literaturwissenschaftler markierte Köster in der Lehre schon dadurch, dass er „in der Konzeption seiner Lehrveranstaltungen […] jeden Bezug zur Theaterpraxis“¹⁷⁷ der Gegenwart vermied; auch die „Vorbereitung auf einen

171 Kirschstein (2009a), S.  6; vgl. dazu auch die knappe Zusammenfassung bei Kirschstein (2009b), S. 283. 172 Vgl. dazu Kirschstein (2009a), S. 34, S. 37f. 173 Köster (1909); Köster (1920). 174 Köster (1922). 175 Vgl. Kirschstein (2009a), S. 10f. 176 Kirschstein (2009a) verfolgt offenbar das Ziel, Kösters Stellung in der Genealogie der deutschen Theaterwissenschaft zu retten, was aus der Perspektive der Leipziger Theaterwissenschaft verständlich ist. So instruktiv ihre Arbeit auch ist: An diesem Punkt kann sie das verbreitete Bild von der Priorität literaturwissenschaftlicher Interessen bei Köster nicht wirklich revidieren. 177 Kirschstein (2009b), S. 285.

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praktischen Bühnenberuf“¹⁷⁸ gehörte nicht zu den Zielen seiner Lehrveranstaltungen.¹⁷⁹ Dem entsprach auch der besondere Charakter von Kösters theatergeschichtlicher Sammlung, deren Kern aus Bühnenmodellen bestand, die nach seinen Rekonstruktionen hergestellt wurden und die er in seinen Lehrveranstaltungen zu Demonstrationszwecken benutzte.¹⁸⁰ Die erste einschlägige Publikation zum Thema Theater, die Monographie Das Bild an der Wand,¹⁸¹ konzentriert sich auf die scheinbar nebensächliche Erscheinung in der Geschichte des europäischen Dramas,¹⁸² dass in bestimmten Dramen ein in das Bühnenbild integriertes Gemälde Bezugspunkt für das Sprechen und Handeln der Figuren ist. Der Untersuchungsgegenstand ist also der Dramentext, zu dessen Interpretation der Kontext des Bühnenbildes herangezogen wird. Am Wandel dieses Bezugs will Köster eine These von großer Reichweite für die Beurteilung des Verhältnisses von Drama und Theater überprüfen: dass die Wandlung der Bühnenform der entscheidende Faktor für die Wandlung der Dramenform sei. Köster stellt demgemäß die Frage, welcher von den beiden Faktoren […] der Mächtigere ist: ob also, wenn ein Dichter in sein Drama Regiebemerkungen einfügt, er hier, wie die gewöhnliche Auffassung ist, der Bühne

178 Ebd. 179 Das war nach Kirschstein (2009b), S. 285, auch der entscheidende Unterschied zur Konzeption von Theaterwissenschaft in Berlin, die von Max Herrmann entwickelt wurde. 180 Vgl. Kirschstein (2009a), S.  118–123 und Kirschstein (2009b), S.  283f. Bei Köster (1922), S. 503–506 wird die Sammlung von ihm selbst ausführlich beschrieben. Es handelt sich nach seiner eigenen Einschätzung nicht um museale Objekte, sondern um „Gegenstände […], die […] ihren rechten Wert erst als Hilfsmittel beim wissenschaftlichen Vortrag oder in der seminaristischen Übung erhalten“ (S. 503f.), Fotographien, Zeichnungen, 1600 Diapositive und zerlegbare Bühnenmodelle nach eigenen Entwürfen, die die „unterschiedlichen Grundformen, die sich bei den einzelnen Völkern und in verschiedenen Zeitaltern herausgebildet haben“ (S. 505), vorstellbar machen sollen. Für die Seminare ließ Köster zudem einen kleineren „theaterwissenschaftlichen Baukasten“ (S.  506) anfertigen, aus dessen Einzelelementen man rasch alle möglichen Bühnensituationen bauen konnte. Diese Bindung der Sammlung an die Lehre macht auch verständlich, dass die Universität Leipzig und die Sächsische Regierung nach dem Tod Kösters an deren Verbleib letztlich nicht interessiert waren, so dass sie 1925 vom Münchner Theatermuseum erworben wurde – vgl. Kirschstein (2009a), S. 128–134. Ein Nachfolger hätte, wenn er denn die theatergeschichtliche Tradition hätte weiterführen wollen, sich in seinen Vorlesungen an die Thesen von Köster binden müssen, denn nur in diesem Rahmen konnte man die Modelle sinnvoll verwenden. Dass es dann in München Probleme bei dem Versuch gab, die Sammlung museal zu präsentieren, liegt auf der Hand, denn dafür waren die Modelle nicht gedacht. 181 Köster (1909). 182 Wie schon im Schiller-Buch argumentiert Köster auch hier nicht als Germanist, sondern als Literaturwissenschaftler, der seine Beispiele aus allen europäischen Literaturen heranzieht.

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Anweisungen gibt, oder ob in Wirklichkeit nicht vielmehr die Anweisungen, die er von der Bühne erhalten hatte, an diesen Stellen in Worte gefasst sind.¹⁸³

Die Bühnengeschichte wird so in den Rang eines entscheidenden Movens der Dramengeschichte erhoben, und dies wird mit der bis heute geltenden Annahme begründet,¹⁸⁴ dass ein unterscheidendes Merkmal der Gattung ‚Drama‘ der Bezug zur Aufführung ist.¹⁸⁵ Auf die Frage nach dem Wandel der Funktion des „Bildes an der Wand“ bezogen, formuliert nun Köster die These, dass dieses Requisit „in die Handlung erst dann verflochten werden konnte, als die Bühnenausstattung immer reicher und realistischer wurde“.¹⁸⁶ Voraussetzung dafür sei eine Bühnentechnik, die es erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gebe. Eine zweite Voraussetzung sei ein Publikum, das fähig sei, „die Beredsamkeit der Bilder an den Wänden [zu] verstehen“.¹⁸⁷ Auf dieser Grundlage präsentiert Köster eine große Anzahl von Beispielen aus der Dramenliteratur von der europäischen Romantik bis zu den „Naturalisten, Neuromantiker[n] und Symbolisten“¹⁸⁸ als Belege für seine These. Die Entwicklung führe am Ende des Jahrhunderts zu immer feineren Methoden, „den Menschen durch die Wände seines Zimmers zu charakterisieren“.¹⁸⁹ Wie schon in den vorhergehenden Arbeiten gelingen Köster auch hier treffende Textbeobachtungen. Der Nachweis der These gelingt allerdings nicht, schon weil über die Bühnentechnik zu wenig Konkretes gesagt wird. Er muss auch von anderen Faktoren der Dramengeschichte weitgehend absehen.¹⁹⁰ Als

183 Köster (1909), S. 270. 184 Vgl. z. B. das Kapitel „Drama und Theater“ bei Pfister (1988), S. 34–66. 185 Vgl. Köster (1909), S. 270f.: „Nun soll gewiß nicht geleugnet werden, daß an jedem hohen Drama die Idee, das Psychologische, das Ästhetische, das Geistigste der Konzeption stets das Wertvollste ist. Aber alle diese feinsten Bestandteile hat ja das Drama mit allen anderen Dichtgattungen gemeinsam. Hier handelt es sich um das Unterscheidende […], das nur der dramatischen Dichtung eigen ist, das Theatralische mit einem Wort. Und für alle diese Elemente ist in jedem Zeitalter der jeweilige Zustand des Bühnenwesens das Ausschlaggebende.“ 186 Ebd., S. 271. 187 Ebd., S. 294. 188 Ebd., S. 292. 189 Ebd., S.  293. Vgl. auch S.  294: „Das zu Ende gehende 19. Jahrhundert hat nun aber bei der Ausbildung der Milieu-Lehre und dem Bemühen, immer mehr Ausdrucksmittel für innere Vorgänge zu gewinnen, das Mobiliar als ein Stück Psychologie seines Besitzers besonders schätzen gelernt.“ Es folgen dann Beispiele aus Dramen Hauptmanns und Ibsens. 190 Köster hat überdies am Ende mit dem Einwand zu kämpfen, dass das Musikdrama Richard Wagners als Gegenbeispiel herangezogen werden könnte, weil dort der Text eine Bühnentechnik erforderte, die aufgrund des Textes erst erfunden werden musste. Er behilft sich am Ende damit, dass der Dichter des Dramas auch an eine neue Bühne denken könne, „die er sich im Geist erbaut“ (S. 302). Priorität soll also nicht unbedingt die wirkliche Bühne haben, sondern dafür kann auch die Idee von einer Bühne eintreten, um die unterstellte Funktion zu erfüllen.

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theatergeschichtliche Arbeit kann dieser Versuch eigentlich nicht gelten, weil der Gegenstand das Drama ist und weil der bühnengeschichtliche Kontext nur ganz vage skizziert wird. Einige Jahre später, in seinem programmatischen Aufsatz zu den „Zielen der Theaterforschung“, bezeichnet er selber seine frühere Arbeit als „zwiefach mißglückt“,¹⁹¹ weil „unter der polyhistorischen Buntheit der vielen Einzelheiten […] die […] Grundlinien nicht klar genug zu Gesicht“¹⁹² gekommen und „im Ganzen […] die Entscheidung zu einseitig überspitzt“¹⁹³ worden sei. Aber er hält daran fest, dass die „Grundgedanken der Abhandlung richtig“¹⁹⁴ sind. Das bedeutet, dass Köster auch in diesem letzten Wort zum Thema ‚Theaterwissenschaft‘ daran festhält, dass der „Zusammenhang zwischen der Literaturforschung und der Theaterforschung ungetrennt bleibt und sich nicht etwa ein wurzelloses Spezialistentum entwickelt“.¹⁹⁵ Institutionell heißt dies, dass Köster die Gründung theaterwissenschaftlicher Institute mit entsprechenden Professuren, ja selbst spezielle Lehrbeauftragte in Germanistischen Instituten, ablehnt. Die einschlägige Forschung und Lehre soll also in der Hand von Literaturwissenschaftlern bleiben, die sie ausgehend von ihrer Kompetenz als Philologen als Teilgebiet ausbauen können. Im Hinblick auf Problemstellung und Gegenstand heißt dies, dass die Theaterforschung als Teil der Literaturwissenschaft letztlich eine Art Hilfswissenschaft bei der Interpretation von Dramentexten bleiben soll. So empfiehlt Köster zwar, „von der Geschichte des Dramas, die ein Teil der allgemeinen Literaturgeschichte ist, die Geschichte des Theaters […] zu trennen, und aus dieser dann wieder die Bühnengeschichte als einen besonders wichtigen und selbständigen Bestandteil auszuscheiden“,¹⁹⁶ aber er begründet dies, fast wortgleich wie in seiner Abhandlung von 1909, mit dem unterscheidenden Merkmal der Gattung ‚Drama‘, dem Bezug zur Aufführung auf dem Theater, so dass die Interpretation eines Dramas ohne Kenntnis der zeitgenössischen Bühnenform nicht vollständig wäre: Und drum ist es für den Literaturhistoriker von größtem Wert und sogar unerläßlich, daß er, um die Geschichte des Dramas zu verstehn […], von den Techniken der Bühne Kenntnis erhält. […] So wird denn gleich eins der vornehmlichsten Probleme aller Theaterforschung die Frage bleiben, wie sich Bühne und Drama zueinander verhalten, welches von beiden das Bestimmende ist […].¹⁹⁷

191 Köster (1922), S. 488. 192 Ebd., S. 488. 193 Ebd., S. 488. 194 Ebd., S. 488. 195 Ebd., S. 486. 196 Ebd., S. 486. 197 Ebd., S. 487.

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Was gegenüber dem Stand von 1909 neu hinzukommt, ist der Versuch, die Bühnenformen von der Einschätzung als einem nur technischen Phänomen zu befreien und ihnen einen ideellen Gehalt zuzuschreiben, indem sie selbst als Ausdruck des „Gesamtwillens“¹⁹⁸ von Nationen in bestimmten Epochen aufgefasst werden sollen. Jede europäische Nation habe eine eigene Bühnenform entwickelt, die diesen spezifischen ‚Willen‘ zum Ausdruck bringe.¹⁹⁹ Das Ziel der Theaterforschung wäre es demnach, diesen Zusammenhang zu erfassen und auf diese Weise die Semantik der Bühnenformen selbst zum Gegenstand der Interpretation zu machen. Damit hätte die Theaterforschung als Theaterwissenschaft in der Tat einen eigenen disziplinären Gegenstand konstituiert. Köster ist aber zu sehr Philologe, um an dieser Stelle nicht explizit hinzuzufügen, dass dies noch Zukunftsmusik sei: Das vermag ich allerdings vorläufig nur als ein Axiom hinzustellen; nach dem Beweise suche ich noch. Aber ich vertraue, daß er sich erbringen läßt, und zwar durch beharrliches Studium des Zusammenhangs zwischen Drama und Bühne in allen Völkern und Zeiten.²⁰⁰

Aufgrund dieser Sachlage, verbunden mit dem erheblichen Anspruch auf universale Geltung des Forschungsprojekts, verweigert sich Köster ausdrücklich der Forderung, auf der Basis des jetzigen Kenntnisstandes theatergeschichtliche Gesamtdarstellungen zu publizieren. Mit historisch-philologischen Argumenten plädiert er dafür, sich gegenwärtig auf die Lösung von Einzelproblemen zur Theater- und Bühnengeschichte vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert zu konzentrieren, die er auf mehreren Seiten exponiert,²⁰¹ und er bittet, mit explizitem Bezug auf das immer noch maßgebliche Vorbild der Klassischen Philologie,²⁰² die

198 Ebd., S. 492. 199 Köster (1922) kann dies freilich nur für England, die Niederlande, Spanien und Italien behaupten, nicht für Deutschland: „Deutschland […] ist nie zu einem festen Gesamtwillen gelangt, der dazu gehört, um eine Bühnenform zu schaffen, die die andern Völker als die unterscheidende deutsche Form eines bestimmten Zeitalters anerkennen.“ (S. 493) Kirschstein (2009a), S. 46–54 stellt dar, dass bei Max Herrmann die Bühne der Meistersinger als Typus einer spezifisch deutschen Bühnenform vorgestellt werde. Ihre Schlussfolgerung daraus, dass dies auch Kösters These gewesen sei, ist jedoch nicht überzeugend. In Kösters Text steht, wie man sieht, das Gegenteil. 200 Köster (1922), S. 493. 201 Vgl. ebd., S. 494–503. 202 Vgl. ebd., S. 507: „In der gleichen Lage [wie die Klassische Philologie in ihren Anfängen; d. Vf.] ist heute die wirklich wissenschaftliche Theaterforschung. Es würde ihr gut tun, könnte eine kleine Zahl wirklich ernster Forscher erst einmal etwas Licht in die Unzahl von Problemen bringen, die kein dilettantischer Geschwindschreiber einer Geschichte des Theaters auch nur ahnt.“

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Öffentlichkeit darum, der Theaterforschung erst einmal Zeit und Ruhe zu gewähren, bis der umfassende Entwurf eines „Zusammenhangs zwischen Drama und Bühne in allen Völkern und Zeiten“ möglich sein wird. Köster erläutert seine Sicht der disziplingeschichtlichen Lage mit ausdrücklichem Verweis auf seine eigenen Lehrveranstaltungen: Ich lese über ausgewählte Kapitel der Bühnengeschichte jetzt zum fünften Male. Jedesmal habe ich die Vorlesung von Grund auf umgebaut, ergänzt und bereichert; und der Erfolg für mich selbst war, daß ich mich mit jedem Male unsicherer fühlte. Denn bei jedem neuen Versuch hatte sich die Zahl unbeantwortbarer Fragen vermehrt. Den Keilinschriftendeuter, den Mathematiker, den vergleichenden Sprachforscher […] läßt man doch ruhig gewähren und wartet, bis sie etwas herausgebracht haben. Den Erforscher der Literatur und des Theaters aber scheint man als ein Huhn zu betrachten, das nicht Eier legen, sondern fertige Hähne zur Welt bringen soll.²⁰³

Dieses Statement liest sich wie eine nachträgliche Verteidigung der zweiten theatergeschichtlichen Monographie über die Meistersingerbühne, die Köster zwei Jahre zuvor publiziert hatte, denn hier präsentiert er die streng philologisch argumentierende Untersuchung eines der ungelösten Einzelprobleme der Bühnengeschichte mit asketischem Verzicht auf ungeprüfte Verallgemeinerungen. Ausgangspunkt ist die Rekonstruktion der Nürnberger Meistersingerbühne, die 1914 Max Herrmann vorgetragen hat.²⁰⁴ Da Herrmann seine Rekonstruktion als Teil einer größeren theatergeschichtlichen Darstellung formulierte, mag man Kösters Einwendungen auch als implizite Kritik an einer vorschnellen Synthese ohne philologische Basis verstehen, gerade weil er im Grunde „methodische Prinzipien und theatergeschichtliche Interessen verfolgt, die denen Herrmanns ähneln“,²⁰⁵ Prinzipien und Interessen, deren Ziel man mit Kirschstein als „historisch-philologische Aufführungsrekonstruktion“²⁰⁶ bezeichnen kann. Köster beginnt mit der Überprüfung der historischen und philologischen Basis von Herrmanns Rekonstruktion. Der erste Einwand gilt der mangelnden Berücksichtigung der Protokolle des Nürnberger Rats, aus denen hervorgeht, dass die Truppe von Hans Sachs nicht nur in der Marthakirche spielte, wie Herrmann annimmt, sondern an unterschiedlichen Orten. Der zweite Einwand zielt darauf, dass Herrmann als Textbasis nur einen Dramentext von Hans Sachs heranzieht und dass er bestimmte sprachliche Wendungen in den Nebentexten falsch interpretiert. Dem setzt Köster die Berücksichtigung sämtlicher Nürnberger Meister-

203 Ebd. 204 Vgl. Herrmann (1914). 205 Kirschstein (2009a), S. 59. 206 Kirschstein (2009 b), S. 290. Vgl. hierzu Köster (1920), S. 3–6.

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singer-Dramen entgegen, aus denen er seine Schlüsse für die Gestalt der Bühne ableitet.²⁰⁷ Dieses Ergebnis rein philologischer Arbeit an den Dramentexten wird bekräftigt durch Erwägungen zur Aufführungspraxis und durch Abbildungen vergleichbarer Bühnenformen. Daraus ergibt sich für Köster die Möglichkeit, dem „Bühnengerüst“²⁰⁸ der Meistersinger nicht nur einen bestimmten Platz im Kirchenschiff zuzuweisen, sondern z. B. aus der von den Heroldsreden abgeleiteten Annahme, dass die Zuschauer nicht saßen, sondern standen,²⁰⁹ die Höhe der Bühne zu bestimmen und aus der Technik der Wortkulisse²¹⁰ in der Figurenrede auch Aussagen über die Art des Bühnenbildes und den Einsatz von Requisiten abzuleiten.²¹¹ Am Ende dieses Argumentationswegs glaubt Köster eine Rekonstruktion der Meistersingerbühne – samt Abbildung²¹² – anbieten zu können, die gegenüber dem Herrmannschen Vorschlag den Vorzug habe, dass sie „in jedem kirchlichen und weltlichen Raum errichtet werden“²¹³ könne. Die Rekonstruktion aus den Dramentexten wird so in Übereinstimmung mit dem Ergebnis des Befundes aus den Ratsprotokollen gebracht. Daran schließt sich die Rekonstruktion der Aufführung von zwei Dramen des Hans Sachs an.²¹⁴ Es geht also nicht nur um die Bühnen-, sondern auch um die Aufführungsgeschichte. Die Abhandlung bleibt somit, was ihren Gegenstand angeht, erstmals bei Köster ganz im Bereich der Theaterforschung. Damit unterscheidet sie sich von der Abhandlung von 1909; es bleibt aber zu berücksichtigen, dass die Aufführungsrekonstruktion ganz nah an die Interpretation der Texte herangeführt wird und dass die Abhandlung von Köster selbst sicherlich als exemplarische Untersuchung einer Teilfrage im Zusammenhang seines umfassenden Projekts einer Deutung der Wechselwirkungen von Nationalgeist, Bühnenform und Drama verstanden wurde, eines Projekts, dessen Federführung – wie er in seinem programmatischen Aufsatz von 1922 betont – die historisch-philologische Literaturwissenschaft behalten soll. Was diese Disziplin mit ihren spezifischen Methoden zu leisten vermag, das sollte die Kritik an Max Herrmann beispielhaft vor Augen führen; sie sollte auch zeigen, welch hohem wissenschaftlichem Anspruch eine künftig zu schreibende Theatergeschichte entsprechen müsste.²¹⁵ 207 Vgl. ebd., S. 25–31 und S. 67–93. 208 Ebd., S. 31. 209 Vgl. ebd., S. 37. 210 Zu diesem Begriff vgl. Pfister (1988), S. 351–353. 211 Vgl. Köster (1920), S. 45–50. 212 Vgl. ebd., S. 94. 213 Ebd., S. 93. 214 Vgl. ebd., S. 95–101. 215 Es bleibt noch zu ergänzen, dass Köster mit seinen Studierenden am 17. Februar 1924 Hans Sachs’ Kaiser Julian im Bade in der Aula der Leipziger Universität gemäß seiner Rekonstruktion

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Kösters Meistersingerbühne hat eine Kontroverse ausgelöst, die in gewisser Weise wie eine verkleinerte Neuauflage der alten germanistischen Berlin-Leipzig-Kontroversen anmutet.²¹⁶ Die Debatte ist zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen,²¹⁷ offenbar deswegen, weil die Theaterwissenschaft, die sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten als eigenständige Disziplin emanzipiert hat, Herrmanns und Kösters Interesse an Gegenstand und Methode der historisch-philologischen Aufführungsrekonstruktion und damit auch die Bindung an das Drama in den Hintergrund gerückt hat. Es ist Georg Witkowski gewesen, der in gewisser Weise ein abschließendes Wort zur Kontroverse gesprochen hat, indem er den Gegenstand des Streits als Scheinproblem enthüllt hat. In einem Aufsatz von 1933 weist er – nach einer neuen Überprüfung der Nürnberger Ratsprotokolle – nach, dass die in Frage stehenden Theateraufführungen nicht zu den Aktivitäten der ‚Meistersinger‘ im engeren Sinn gehörten, sondern Unternehmungen Einzelner gewesen sind.²¹⁸ Aus diesem Grund sei auch die Suche nach einer bestimmten einheitlichen Bühnenform der ‚Meistersinger‘ vergebliche Mühe: „Mit dem Phantom der Meistersingerbühne zugleich schwindet auch all der Spuk, den in der Wissenschaft ihr Gerüst und ihre Ausstattung heraufbeschworen hat.“²¹⁹

2.6 Philologie und Literaturgeschichte – Albert Kösters unvollendetes Projekt Das Ziel der historisch-philologischen Germanistik ist die Darstellung der deutschen Literaturgeschichte auf der Grundlage von Einzelforschungen. Mit der Literaturgeschichte als dem ‚opus magnum‘ der Germanistik sollte die Disziplin erst die politisch-soziale Funktion eines Beitrags zur Bildung der kulturellen Identität der Nation erfüllen, und – was am Ende des 19. Jahrhunderts immer dringlicher zum Bewusstsein kommt – sie konnte und musste damit auch eine Leistung für den Deutschunterricht erbringen. Angesichts der Fülle des in Spezialforschungen zur Aufführung gebracht hat. Vgl. Kirschstein (2009a), S. 66–71; Abbildungen davon finden sich bei Kirschstein (2009c), S. 93. Die Dokumente befinden sich im Lessing-Museum Kamenz. 216 Zum Verlauf im Einzelnen vgl. Kirschstein (2009a), S. 59–65. 217 Kirschstein (2009a) beurteilt beide Standpunkte als „letztlich ergebnislose Rekonstruktionsversuche“ (S. 59). 218 Vgl. Witkowski (1933), S. 258: „Unter ‚Gesellschaft‘ ist eine eigens für die Aufführungen zusammengesetzte Truppe zu verstehen. Wenn Meistersinger an ihre Spitze traten oder in ihr mitwirkten, so geschah das nicht im Auftrag oder zum Nutzen der Nürnberger Meistersingerschule, sondern auf eigene Faust und zum privaten Erwerb.“ 219 Ebd., S. 261.

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angehäuften Wissens erscheint es zu Beginn des 20. Jahrhunderts für einen einzelnen Wissenschaftler allerdings noch schwieriger als zu den Zeiten von Moriz Haupt, diese Aufgabe ohne die Gefahr des Dilettantismus zu bewältigen. Neben diesem großen Projekt erwartete man von einem Universitätsgermanisten auch die Vermittlung von Ergebnissen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an die Öffentlichkeit. Auch dies gehört zur politisch-sozialen Funktion der Germanistik, von deren Erfüllung die Legitimation des Faches letztlich abhängt. Albert Köster war sich dieser Forderung bewusst. Wie er versucht hat, ihr Genüge zu leisten, kann zum einen an seinem – letztlich gescheiterten – Projekt einer Literaturgeschichte, zum andern an einer exemplarischen Rede vor einer breiteren universitären Öffentlichkeit verdeutlicht werden, die er in seiner Eigenschaft als germanistischer Literaturwissenschaftler gehalten hat, seiner Antrittsrede als Rektor der Universität Leipzig Ende Oktober 1914.²²⁰ Von den verschiedenen Wegen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erprobt worden sind, um das Projekt einer Literaturgeschichte zu meistern, wählte er, wie wir von Julius Petersen erfahren, den Weg einer mehrbändigen Darstellung mit einzelnen Spezialisten als Verfassern der Teilbände, „deren Organisation und Herausgabe Albert Köster im Jahr 1906 übernommen hatte“.²²¹ Er selbst sollte einen Band verfassen, der „die Entwicklung der Aufklärung zur Klassik“²²² darstellen sollte, „von Gottsched bis zu Schillers Tod, also die größte Zeit des geistigen Aufstiegs und der dichterischen Kraftentfaltung unseres Volkes“.²²³ In dieser Charakteristik des Themas formuliert ein Germanist der nächsten Generation implizit eine Auffassung von der Zentralstellung der Literatur des 18. Jahrhunderts, die bei Hermann August Korff, dem Nachfolger Kösters auf der Leipziger Professur, zu dem Anspruch führt, dass man als Literaturhistoriker die Aufgabe der Bildung von nationaler Identität eigentlich schon erfüllt hat, wenn man sich auf die Darstellung dieser Epoche, insbesondere auf jenen Teil, den Korff ‚Goethezeit‘ nennt, beschränkt.²²⁴ Die mehrbändige Literaturgeschichte ist nicht zustande gekommen, und auch der von Köster selbst übernommene Teilband ist in Entwürfen stecken geblieben, von denen er nur ein Teilkapitel – „Die allgemeinen Tendenzen der

220 Köster (1914). 221 Petersen (1925), S. III. Andere Möglichkeiten waren z. B. die Beschränkung auf eine Gattung, wie dies Wilhelm Creizenach in seiner mehrbändigen Dramengeschichte macht, oder die Beschränkung auf eine Stadt oder Region, was Georg Witkowski in seiner Darstellung der Literaturgeschichte Leipzigs vorführt. 222 Petersen (1925), S. III. 223 Ebd., S. 3. 224 Vgl. hierzu den Beitrag von Stockinger zu Hermann August Korff in diesem Band, S. 209f.

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Geniebewegung“ – im Jahr 1912 veröffentlicht hat.²²⁵ Julius Petersen hat nach Kösters Tod fünf Teilkapitel, die sich zum Teil in Maschinenschrift, zum Teil in Handschrift im Nachlass befunden haben, in der vorliegenden fragmentarischen Form publiziert²²⁶ und die Teilpublikation von 1912 im Anhang angefügt.²²⁷ Die wissenschaftsgeschichtlichen Gründe für dieses Scheitern lassen sich aus einem im Nachlass überlieferten Textentwurf zu einer Einführungsvorlesung erschließen: Was ist Litteratur-Geschichte? […] Eine Geschichte geistiger Strömungen, ohne Würdigung der bestimmenden Individuen, wäre Geistesgeschichte, nicht Litteraturgeschichte. Eine Behandlung der Werke eines Künstlers mit all ihren litterarischen Voraussetzungen, wie Erich Schmidt das bei seinem ‚Lessing‘ getan, wäre Litteratur-Philologie, nicht Litteraturgeschichte. Eine psychologische Analyse eines Künstlers, wie Dilthey sie gibt, wäre Litteratur-Psychologie, nicht Litteraturgeschichte. […] Besonders Litteraturgeschichte und Geistesgeschichte werden in jüngster Zeit oft miteinander verwechselt. Wenn neben der Geistesgeschichte […] die Litteratur-Geschichte sich eine eigenartige Aufgabe abgrenzen und erhalten will, so muß sie ein Teil der Kunstgeschichte sein, nämlich die Geschichte der Kunst, deren Ausdrucksmittel die Sprache ist. […] Noch verkehrter als die Vermengung ist aber die Überordnung einer Disziplin über die andre, also die geistesgeschichtlichen, litteraturphilologischen, litteraturpsychologischen, litteraturhistorischen und biographischen Arbeiten summarisch in wertvollere und minder wertvolle zu scheiden. […] Wer generell nur eine dieser Gattungen gelten lassen kann oder sie gar als die einzig berechtigte hinstellt, muß solch engherziges Urteil seiner eigenen Beschränktheit, seiner geistigen Unregsamkeit und Unduldsamkeit zuschreiben. […] Muß, wenn wirklich einmal eine Generation sich etwas einseitig nach Einer Richtung entwickelt hat, der Gewinn, der erzielt ist, gleich von der nächsten Generation als wertlos über Bord geworfen werden? Kann man nicht zu etwas Gutem, selbst wenn es durch Veräußerlichung teilweise entwertet ist, etwas neues gutes hinzulernen und beide Elemente durch Synthese vereinen? Ist das Gehirn so eng, daß nur eine Betrachtungsweise darin Platz hat? Hoffentlich nicht. Wir werden es hoffentlich fertig bringen, eine Dichtung sowohl philologisch zu betrachten, wie ästhetisch zu bewerten, wie psychologisch-philosophisch von ihrem Mittelpunkt aus zu ergründen, wie auch entwicklungsgeschichtlich in den Zusammenhang der Geschichte der poetischen Kunst einzugliedern. Und ich wüßte nicht, daß eine dieser Studien vornehmer und wertvoller sei als die andre.²²⁸

225 Köster (1912). 226 Köster (1925). 227 Ebd., S. 237–291. Zitiert wird dieser Text im Folgenden nach dieser Version. 228 UBL, Nachlass Köster 20, 2. Mäppchen des „Kollegs für Anfänger“, Blatt 2–5. Aus einer Literaturempfehlung auf einem eingelegten Zettel (Victor Michels: Über Begriff und Aufgabe der deutschen Philologie, Jena 1917) lässt sich erschließen, dass das Material zu dieser Lehrveranstaltung bis zu diesem Jahr immer wieder überarbeitet worden ist.

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Symptomatisch zeigen sich hier die Probleme, denen man vom Standpunkt des historisch-philologischen Paradigmas angesichts der Konkurrenz neuer Fragestellungen und Methoden der Literaturgeschichtsschreibung konfrontiert war. Köster führt eine Reihe der wichtigsten Innovationen in der Literaturwissenschaft der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts an, deren Ergebnisse er berücksichtigen will; er hält aber daran fest, dass der Literaturhistoriker sich vor deren jeweiligen Vereinfachungen des Gegenstandes hüten soll, zum einen, weil er die Komplexität der Kontexte, zum andern weil er das Verhältnis von Individualität und Allgemeinheit bei der Darstellung gerade des künstlerischen Prozesses im Auge behalten muss.²²⁹ Anders würde der eigentliche Gegenstand der Literaturwissenschaft, das sprachliche Kunstwerk, verfehlt. Dass die methodischen Reduktionen der neueren Konzepte möglicherweise der einzig gangbare Weg sind, um überhaupt literaturgeschichtliche Entwicklungen in eine übersichtliche und auf Interessen der Gegenwart bezogene Darstellung zu bringen, dieser Gedanke bleibt ihm fremd. Hinzu kommt, wie man sieht, eine defensive Abwehrhaltung gegen die Geltungsansprüche der neuen Richtungen. Köster setzt dagegen das Plädoyer für einen toleranten ‚Methodenpluralismus‘, das aber nur dazu dient, den traditionellen Standpunkt zu retten. Julius Petersen spricht die daraus resultierenden persönlichen und wissenschaftlichen Schwierigkeiten beim Verfassen des literaturgeschichtlichen Werks deutlich an, wenn er über Kösters Arbeitsprozess schreibt: Dann kamen die Jahre des Krieges, die Anstrengungen des […] Rektorats […], kam Kummer und Niedergeschlagenheit, körperliches und seelisches Leid, und erst in den letzten Jahren hatte nach Überwindung vieler Hemmungen energische Schaffensfreude wieder zu dem Werk zurückgeführt. Aber die Zeit war eine andere geworden; auch die Wissenschaft war zu neuen Problemstellungen fortgeschritten, denen gegenüber die bewährte Arbeitsmethode in hartem Kampfe sich behaupten mußte. Wie sehr die neue Betrachtungsweise philosophischer Methoden mit ihrer berechtigten Forderung nach Erkenntnis des Wesentlichen und nach Herausarbeitung geistiger Einheiten und mit ihrer Gefahr, in Konstruktionen abstrakter Begriffsspielerei zu verfassen, den Forscher zur Selbstprüfung, zum Irrewerden, zum Suchen nach neuer Gestaltung brachte, das kann man nicht ohne tragische Ergriffenheit aus folgenden Sätzen lesen, die wohl für ein Vorwort des Buches bestimmt waren.²³⁰

229 Diese Abwehr von verallgemeinernden Konstruktionen zeigt sich auch in einigen Passagen von Kösters Schiller-Gedächtnis-Rede. Vgl. Köster (1905), S. 11 zur Deutung von Schillers philosophischen Schriften: „Diese stolz-bescheidenen Fragmente, die von Phantasie und Begeisterung erfüllt sind, abstrakt zu ergänzen, sie in ein System hinein zu zwingen, das ist schon ein Verkennen ihrer Eigenart.“ 230 Petersen (1925), S. IV.

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Dann zitiert Petersen einen im Nachlass gefundenen Text, in dem Köster selbst seinen Arbeitsprozess so beschreibt, dass man daraus das offene Eingeständnis des Scheiterns ablesen kann: Ich möchte meinem Volk mit schwachen Händen ein Denkmal errichten. Wie ich dabei alle Vorarbeiten der Kulturgeschichte, der Geistesgeschichte, der Ästhetik und ihrer Geschichte, der Stilgeschichte, der Soziologie, auch der Geschichte der Musik und der bildenden Künste dankbar verwertet habe, wird jeder, der Bescheid weiß, oft an einem einzigen Wort erkennen. Aber – Kulturgeschichte, Stilgeschichte, Geistesgeschichte, Geschichte der Ästhetik und wie sie heißen, jede von hohem und höchstem Wert, sind alle keine Literaturgeschichte, keine Geschichte der Kunst, deren Ausdrucksmittel das Wort ist. Ich mußte mir – nicht eklektisch – meinen Weg selbst suchen, auch wenn er mich vielleicht fehlgeleitet hat. Auf einige wenige Abstraktionen oder gar eine einzige läßt sich das reiche Getriebe nicht bringen. Ich mußte das bunte Kräftespiel fühlen und sehen, die einzelnen Mitspieler in dem großen Drama mir bald näher, bald ferner wissen, jeden seine sonderliche Rolle verkörpern und doch keinen zu selbständig aus der Gruppe der Artverwandtheit und dem gemeinsamen Volksschicksal der Erschaffung einer Nationalliteratur heraustreten lassen. Mag sein, daß ich zu oft meine Entwürfe ins Feuer geworfen, sie zu oft umgeformt, zu oft bereichert und wieder vereinfacht habe; das ist wohl deutsche, norddeutsche Zweifelsucht. Mag sein auch, daß Literaturgeschichte nur von einem Gelehrten geschrieben werden darf und ich keiner bin.²³¹

Zu diesen Schwierigkeiten kam ein Phänomen hinzu, das Petersen das „Gegengewicht des Künstlertums, eines nie sich selbst genug tuendenden Formbedürfnisses“²³² nennt, also die Absicht, dem Text der Literaturgeschichte eine schöne sprachliche Form zu geben. Die von Köster fertig gestellten Teile lassen erkennen, dass der Versuch, alle Aspekte seines Programms zu erfüllen, eher zu einer essayistischen Darstellung geführt hat, die den Forderungen einer philologisch begründeten Wissenschaftlichkeit nicht genügt. Deshalb musste er damit unzufrieden sein. Bei der Einführung beispielsweise von sozialgeschichtlichen Kontexten bleibt es bei schön formulierten, aber in ihrer Verallgemeinerung unpräzisen Angaben ohne Nachweise, so z. B. bei der Deutung des ‚Sturm und Drang‘ als einer von Generationserfahrungen geprägten Jugendbewegung²³³ oder bei dem Exkurs über die Verhaltensweisen in der Kultur der ‚Empfindsamen‘.²³⁴

231 Zitiert ebd., S. IV f. 232 Ebd., S. V. 233 Vgl. Köster (1925), S.  241: „Sie hatten keine Welterfahrung, sondern oft eine grüne Unreife, aber eine herrliche Offenheit und Ehrlichkeit, wenig Durchbildung, aber große ursprüngliche Begabung, wenig Ausdauer und Beharrlichkeit, aber einen feurigen Eifer.“ Vgl. auch S. 266: „Die jungen Brauseköpfe […] waren außerstande, planmäßig und ausdauernd zu arbeiten. Nur in der Hitze konnten sie schreiben. Mit fliegender Feder wuselten sie den Ausdruck ihrer Gefühle aufs Papier.“ 234 Vgl. ebd., S. 270: „Man suchte die Welt nach empfindsamen Mitmenschen ab; und besonders jene Reisenden und Wanderer erachteten einen Aufenthalt nur dort als gewinnbringend,

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Die konzeptionellen Probleme verschärfen sich noch aufgrund einer Ambivalenz der politischen Bewertung, die sich vor allem in dem 1912 publizierten Teil zeigt. Köster deutet zwar die ‚Geniebewegung‘ als Beginn einer unverwechselbaren deutschen Nationalliteratur,²³⁵ betont aber – ganz zu recht –, dass es sich um ein Phänomen der europäischen Kultur handelte.²³⁶ Spezifisch deutsch ist nach Köster, dass im Unterschied zu Frankreich diese Bewegung „nur von dem Interesse enger Kreise getragen“²³⁷ worden sei und dass nicht zuletzt aus diesem Grund die Umsetzung des jugendlichen Protests in politisches Handeln in Deutschland ausgeblieben sei.²³⁸ Zwischen den Zeilen wird hier der Weg Frankreichs zur Revolution von 1789 als Normalweg beschrieben, so dass auch die politisch-sozialen Verhältnisse der Gegenwart des Kaiserreichs in ein kritisches Licht geraten: Sie sind letztlich Ergebnis des Scheiterns der Generation des ‚Sturm und Drang‘, die es nur bis zur Literatur, nicht aber zur politischen Tat gebracht hat. Die Gründe, die Köster für dieses Scheitern anführt – Isolation und Machtlosigkeit des Bürgertums, Kleinstaaterei und ihre Folgen –, sind von dem, was die damalige sozialdemokratische Literaturgeschichtsschreibung mit dem Begriff der ‚Deutschen Misere‘ zusammengefasst hat,²³⁹ nicht sehr weit entfernt. Es ist schwer denkbar, dass Köster nach 1914 diese Einschätzung von 1912 unverändert in die endgültige Gestalt seines Buches hätte einfügen können.

wo sie neue Menschen gefunden hatten. Dabei aber übte man nicht die Geduld, solche Bekanntschaften langsam ausreifen zu lassen. Ein schnelles Austauschen von Bekenntnissen und Beichten wurde zur Gewohnheit. […] Die Empfindsamen sahen, was sie zu sehen wünschten. In alle menschlichen Verhältnisse übertrugen sie ihr eignes, sich überstürzendes, sehnsüchtiges Empfinden […].“ 235 Vgl. ebd., S. 241: „An die Stelle lateinischer oder französischer Literatur in deutscher Sprache tritt endlich eine deutsche Literatur.“ Die fertigen Teile lassen deswegen auch eine Gesamtdisposition der Darstellung nach dem Muster einer wachsenden Emanzipation der deutschen Literatur vom Einfluss Frankreichs erkennen. 236 Vgl. ebd., S. 238: Die „Reaktion gegen die starre Herrschaft des Rationalismus und seiner Begleiterscheinungen“ sei „kein nationales Sondereigentum der Deutschen gewesen, sondern eine kulturelle Umwälzung, die alle zivilisierten Völker Europas haben durchmachen müssen“. 237 Ebd. 238 Vgl. ebd., S.  242: „Die entscheidenden Taten […], von denen sie träumten und sprachen, hätten von dem ganzen Volk ins Werk gesetzt werden müssen. Es waren große soziale Aufgaben. Die Not des Volkes wußten die jungen Dichter wohl zu zeigen. Aber zur Hilfe hätten besonnene Führer und arbeitsbereite Volksmassen gehört. Die fehlten ganz. Und so klingt denn nach glänzenden Anfängen die Geniebewegung in Resignation aus.“ Vgl. auch S. 247: „In Frankreich führte der Protest gegen den Despotismus […] zur Tat; in Deutschland blieb der Widerspruch und Tyrannenhaß auf die Theorie, die Literatur beschränkt.“ 239 Vgl. z. B. Mehring (1905).

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3. Philologie und öffentliche Wirksamkeit 3.1 Albert Kösters Rektoratsrede von 1914 Die Rede, die Albert Köster beim Antritt seines Rektorats am 31. Oktober 1914 gehalten hat, ist ein instruktives Beispiel für die Möglichkeiten und Grenzen, auf der Basis seines Konzepts von germanistischer Literaturwissenschaft einen Beitrag zur Bildung von nationaler Identität und Solidarität im Kontext der Erwartungen an die Germanistik zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu liefern. Den akademischen Konventionen gemäß hielt jeder neu gewählte Rektor bei Amtsantritt eine Rede, in der er ein Thema seines Faches vor der universitären Öffentlichkeit vorstellte, nachdem der abtretende Rektor vorher einen eher sachlich gehaltenen Bericht über die Ereignisse des abgelaufenen akademischen Jahres vorgetragen hatte. Köster betont zu Beginn seiner Rede, dass der besondere geschichtliche Moment ihn veranlasst habe, von dieser Konvention abzuweichen und, da auch „die Universität von dem allgemeinen Schicksal des Vaterlandes, von dem Kriege mit betroffen“²⁴⁰ sei, über das Verhältnis von Universität und Krieg in Geschichte und Gegenwart zu sprechen, denn „nicht immer hat ein so kriegsbegabtes und doch so friedliebendes Volk, wie die Deutschen, eine solche Hingabe an den Krieg gezeigt wie heute; und nicht immer haben die Universitäten diesen scheinbar so widerspruchsvollen und doch so geschlossenen Enthusiasmus begriffen“.²⁴¹ Insofern reiht sich Kösters Rede ein in die Äußerungen von Kriegsbegeisterung, die im Herbst 1914 gerade in der Gruppe der „bildungsbürgerlichen Funktionseliten“²⁴² artikuliert worden sind.²⁴³ Die einzelnen Aspekte des Themas entwickelt Köster – und hier greift er dann doch die akademische Konvention wieder auf – aus dem Material der deutschen Literatur, wobei er auf Klopstocks Hermanns Schlacht, auf Schillers Jungfrau von Orleans und Wilhelm Tell und auf Kleists Hermannsschlacht Bezug nimmt.²⁴⁴ Aus dieser Textreihe, die zum geschichtlichen Vorbild der Befreiungskriege von

240 Köster (1914), S. 1081. 241 Ebd. 242 Wehler (2003), S. 17. 243 Vgl. die Textsammlung bei Böhme (1975). Es ist heute Konsens der historischen Forschung, dass die Kriegsbegeisterung vor allem ein Phänomen des städtischen Bildungsbürgertums und der akademischen Eliten gewesen ist. Vgl. neben der Zusammenfassung bei Wehler (2003), S. 14–26 auch Mommsen (2002), S. 35 und S. 113f. 244 Vorher legt er ausführlich dar, dass Goethe zu diesem Thema nichts beigetragen hat. Köster ist zu sehr gewissenhafter Philologe, um sich an einer nationalistischen Umdeutung dieses kanonischen Autors beteiligen zu können, nicht einmal in der Stimmung des Herbstes 1914.

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1813–1815 hinführt,²⁴⁵ leitet der Redner allerdings auch die normative Vorstellung von einem ‚gerechten Krieg‘ ab, aus der nicht nur eine implizite Kritik an den bestehenden politischen und sozialen Verhältnissen im Kaiserreich ablesbar ist, sondern möglicherweise auch an den moralisch und völkerrechtlich fragwürdigen Kriegshandlungen beim Angriff auf Belgien gleich nach Kriegsbeginn. Der moralisch gerechtfertigte Krieg – so deutet Köster die von ihm herangezogenen Texte – wird von einem „Volksheer“²⁴⁶ geführt, das den Zusammenschluss aller sozialen Schichten repräsentiert,²⁴⁷ und er wird nur als „Krieg der unabwendbaren Notwehr“²⁴⁸ geführt, „den eine Nation um ihrer weltgeschichtlichen Sendung willen auf sich nimmt“.²⁴⁹ Nur unter diesen Voraussetzungen, die schon einmal 1813 gegeben waren, könne die Universität den Krieg bejahen und aktiv mitgestalten: Aus den Hörsälen strömte es hinaus, wo eben noch die Hochschullehrer selbst anfeuernde, läuternde Worte geredet hatten, Ansprachen von hoher dichterischer Schönheit.²⁵⁰

Indem der Redner behauptet, dass diese Voraussetzung auch heute gegeben, ja übertroffen sei, wird – nach dem traditionellen Verfahren der Panegyrik – die Wirklichkeit des gegenwärtigen Krieges unter das Gebot strenger moralischer Ideen gestellt, wobei aber diese Ideen nach seit den Befreiungskriegen tradiertem Muster als Begründung auch eines universalen Herrschaftsanspruchs fungieren: Wie noch niemals solche Heeresmassen einander gegenüber gestanden haben […], so ist auch der letzte Sinn und Zweck dieses Krieges erhabener als man es sonst gewohnt ist. Denn wir führen ihn nicht wie früher um unserer politischen Befreiung und Einigung willen, nicht nur für unsern Schutz, unsre Weltstellung und Existenz: wir führen ihn zugleich für die höchsten sittlichen Güter, die nicht uns allein, sondern der ganzen Menschheit gehören.²⁵¹

245 Zur Wirkung Schillers in den Befreiungskriegen mit Bezug auf den Wilhelm Tell vgl. schon Köster (1905), S. 15: „So gab Schiller noch im Tode seinem Volke zu den Waffen von Eisen die Waffen des Worts.“ Für die Gegenwart und Zukunft der Wirkung Schillers vgl. ebd., S. 19: „Die Tage friedlichen Besitzes […], das sind nicht die Tage, in denen er seine Macht beweisen kann. […] Aber wenn die Zeiten des Entbehrens kommen, die Zeiten großer nationaler Enttäuschungen und Hoffnungen, dann wird jedesmal seine Glanzgestalt sich aus der Fürstengruft von Weimar erheben und lichtspendend durch die Reihen seines Volkes gehn.“ 246 Köster (1914), S. 1086. 247 Aus diesem Grund wohl wird auch explizit betont, dass Scharnhorst, der preußische Heeresreformer, bürgerlichen Standes war – vgl. ebd., S. 1087. 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Ebd., S. 1088. 251 Ebd., S. 1090. Die Argumentationsfigur kennt man seit Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808).

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Dass aus der Sicht des Universitätsprofessors, der diese Norm aus der deutschen Dichtung herleitet, damit auch die Forderung nach Reformen in Staat und Gesellschaft verknüpft ist, bis hin zu einer Reform der Universitäten, wird am Ende der Rede angedeutet. Der letzte Satz der Rede artikuliert dann einigermaßen unverblümt den Anspruch der akademisch gebildeten Eliten auf eine künftige Führungsrolle im Land: „Wir harren zuversichtlich der künftigen Tage, wenn wieder Friede im Lande ist, dann kommt unsere Zeit.“²⁵² Inhalt und Ton dieser Rede sind so gehalten, dass sie mit dem impliziten politischen Konzept der literaturgeschichtlichen Darstellung des ‚Sturm und Drang‘ bzw. der ‚Geniezeit‘ noch nicht im Widerspruch stehen, gerade auch im Hinblick auf die Vorstellungen von einer in Deutschland versäumten Revolution. Insofern steht diese Rede noch nicht in vollem Einklang mit den bei den deutschen Eliten seit Beginn des Weltkriegs verbreiteten ‚Ideen von 1914‘, die als alternatives deutsches Modell zu den ‚Ideen von 1789‘ formuliert worden sind, als Rechtfertigung des deutschen ‚Sonderwegs‘ in Politik und Gesellschaft.²⁵³ Die Rede, die Köster dann ein Jahr später am Ende seines Rektorats am 31. Oktober 1915 gehalten hat, dokumentiert sehr eindrucksvoll, wie er seine differenzierte Position angesichts der Kriegsereignisse und der Veränderung des politischen Klimas in Deutschland²⁵⁴ preisgibt und dabei die Legitimation aus der Deutung von Dichtungen der Goethezeit stillschweigend verlässt, um stattdessen auf einen Text Nietzsches²⁵⁵ anzuspielen: Ehern wie am ersten Tage ist der Wille zum Siege und nun auch, da man uns einmal das Schwert in die Faust gezwungen hat, der Wille zur Macht, zu einer Macht, die ein Segen für die Völker werden muß.²⁵⁶

252 Köster (1914), S. 1092. 253 Vgl. dazu Wehler (2003), S. 17–21. 254 Zur Kriegszieldiskussion 1915 mit immer offeneren Annexionsforderungen vgl. zusammenfassend ebd., S. 31–38. 255 Bzw. einen Text, den man irrtümlich für ein Werk Nietzsches gehalten hat. 256 Köster (1915), S.  1093. Was noch von der früheren Erwartung von Veränderungen übrig bleibt, ist ein Appell an die Studierenden, vorerst den ‚Burgfrieden‘ zu wahren, bis der Sieg errungen ist. Vgl. S. 1094: „Drum möchte ich gerade die ungeduldige Jugend […] warnen vor den stillen Feinden, die durch unsre Reihen gehn und die jenen großen Umwandlungsprozeß unsres Volkes entweder hemmen oder überhasten wollen. Die Einen wollen das Absterben des Vermorschten verhüten, die andern das Werden voreilig beschleunigen. Die Einen sitzen ängstlich da und suchen die dürftigen Kümmernisse ihres kleinen Kulturbesitzes, wie es vor dem Kriege war, zu retten; die Andern leben in Unrast und vermeinen das Wachstum der Blüte, die einst aufbrechen soll, zu fördern, wenn sie schon an der Knospe rupfen und zupfen. Vor beiden Gruppen unerbetener Ratgeber hüten Sie sich.“

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Damit räumt Köster stillschweigend die Position und den Geltungsanspruch des Literaturhistorikers, mithilfe der Auslegung von kanonischer Dichtung der Nation in der Gegenwart moralische Orientierungen zu bieten. Dass damit auch das Projekt der Literaturgeschichte, wie er selbst es in der Zeit vor dem Krieg geplant hatte, auch in politischer Hinsicht einigermaßen obsolet geworden war, kann man gut nachvollziehen.

3.2 Georg Witkowskis Rolle im kulturellen Leben Leipzigs Georg Witkowskis schwierige Lage an der Universität findet ihren Gegenpart in einem für Hochschuldozenten ungewöhnlich starken kulturellen Engagement in vielfältigen Institutionen außerhalb der Universität. Es gelingt ihm, einige dieser Institutionen tatsächlich umzugestalten, um abseits der Universität Wissenschaft und Literatur in ein spannendes Verhältnis zu setzen. Diese Institutionen, vor allem der Leipziger Schiller-Verein und die Zeitschrift für Bücherfreunde, wurden so zu wichtigen literarischen und kulturellen Netzwerken und blieben frei von antisemitischen Diskriminierungen. Mit der Zeitschrift für Bücherfreunde hat Witkowski ein Organ betreut, dessen Ausrichtung zwischen Literaturwissenschaft, Literaturdistribution, bibliophiler Sammelleidenschaft und Bücherkunde lag. Das kann gut erklären, warum Witkowski in seiner Editionseinführung, besonders in der Ausgabentypologie, Methodenwissen einführt, welches vor und nach ihm in keiner Einführung zum Edieren von Texten mehr aufbereitet wird. Außerhalb der universitären Wissenschaft gelingt es Witkowski, die engen Grenzen der Literaturwissenschaft zu überschreiten. Und diese Erfahrungen drängen dann zurück zur Universität. Organisiert Witkowski im Schiller-Verein Lesungen mit den aktuellsten Schriftstellern, so bietet er auch an der Universität Seminare zu moderner Literatur an. Baut er die Zeitschrift für Bücherfreunde zu einem wichtigen Organ für Rezensionen literarischer und literaturwissenschaftlicher Werke aus, so werden auch die Studenten angehalten, Rezensionen zu schreiben,²⁵⁷ und bildet der Leipziger Bibliophilen-Abend ein lokales Netzwerk von allen an der Buchentstehung Beteiligten (Verleger, Buchdrucker, Illustratoren, Autoren, Literaturwissenschaftler, Leser) aus, so gelangt viel bücherkundliches Wissen in ein eigentlich rein philologisch orientiertes Einführungswerk der Editionswissenschaft.

257 Vgl. Michael (1967), S. 58ff.

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1899 wird die Gesellschaft der Bibliophilen in Weimar gegründet.²⁵⁸ Sie ist die erste derartige Vereinigung in Deutschland. Gründungsmitglieder sind Eduard Heyck, Fedor von Zobeltitz, Victor Ottman, Georg Witkowski, Carl Schüddekopf und Arthur Jellinek.²⁵⁹ Die Zeitschrift für Bücherfreunde war das zentrale Publikationsorgan des Vereins, sie wird zuerst von Fedor von Zobeltitz – bis 1909 – , dann von Georg Witkowski und Carl Schüddekopf, nach dessen Tod 1914 bis 1933 nur von Georg Witkowski herausgegeben. Schon nach einigen Jahren des Bestehens führt der Verein eine Höchstmitgliederanzahl ein. Es finden sich zu diesem Zeitpunkt viele bekannte Literaturwissenschaftler in der Mitgliederliste: Konrad Burdach, Albert Köster, Erich Schmidt, Max Morris, Anton Kippenberg, Julius Wahle, Max Hecker, Richard M. Meyer, aber auch Institutionen wie das Germanistische Institut der Universität Leipzig. Der Bibliophilenverein bildete also ein Netzwerk, in das wichtige Literaturwissenschaftler eingebunden waren, das aber auch viele Nichtwissenschaftler umfasste. Hierin ähnelt der Verein den Literarischen Gesellschaften. Nachdem Witkowski 1909 zusammen mit Carl Schüddekopf beginnt, die Zeitschrift für Bücherfreunde herauszugeben, baut er das Periodikum zu einer modernen Kulturzeitschrift aus. Neben rein bibliophilen Beiträgen, also Texten zur Tätigkeit des Sammelns von Büchern auf der einen Seite, zur Buchkunst auf der anderen, enthält die Zeitschrift Rezensionen zeitgenössischer Literatur und Literaturwissenschaft und bietet sogar editorischen Fachdiskussionen einen Raum. Dieser letzte Punkt soll mit einem Beispiel näher erläutert werden, da es nicht selbstverständlich ist, dass eine Zeitschrift, deren Adressatenkreis sich aus einer heterogenen Gruppe von Buchenthusiasten rekrutiert, sich sehr intensiv mit philologischer Textkritik auseinandersetzt. Zusätzlich wird hier auch besonders der Einfluss Witkowskis deutlich. 1915, im siebenten Jahrgang der Zeitschrift, entbrennt eine Debatte um verschiedene Lesarten in Schillers frühem Gedicht „Meine Blumen“ aus der Anthologie auf das Jahr 1782. Dort heißt es am Beginn der dritten Strophe: „Aber wenn, vom Dom umzingelt, / Meine Laura euch zerknickt, / Und in einen Kranz geringelt / Tränend ihrem Dichter schickt –“.²⁶⁰ 258 Vgl. Wittmann (2010). 259 Vgl. dazu Homeyer (1963), S. 13: Von den 262 Mitgliedern des ersten Jahres waren 24 Juden. Hohmeyer bezieht hier auch zu den methodischen Schwierigkeiten der Zuschreibung der Religionszugehörigkeit Stellung. Dieser Anteil von knapp 10% hält sich auch bei späteren wesentlich höheren Mitgliederzahlen. Nun hat auch die Untersuchung der Anteile von Juden in der universitären Wissenschaft nicht ergeben, dass Juden nicht als Wissenschaftler arbeiten durften, sondern dass die Aufstiegsmöglichkeiten sehr stark begrenzt waren. Das gilt für die Gesellschaft der Bibliophilen nicht. Mit Fedor von Zobeltitz als langjährigem Vorsitzenden und Georg Witkowski, der über 30 Jahre zweiter Vorsitzender war, sind hier auch in der Vereinsleitung Juden präsent. 260 Schiller (1992), S. 402f.

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Der spätere Direktor des Goethe-Schiller-Archivs, Rudolf Schlösser, gibt in einem kurzen Aufsatz den Anstoß zur Debatte.²⁶¹ Er meint, die Lesart „vom Dom umzingelt“ wäre widersinnig, und führt sie auf einen Setzerfehler zurück. Er schlägt die Emendation „vom Dorn umzingelt“ vor. Dafür bringt er verschiedene Argumente, insbesondere solche der Editionsgeschichte, in denen er auch auf die Schillerausgabe Witkowskis eingeht, und der Integrierbarkeit der beiden Lesarten in eine Interpretation. Die Argumentationsweise ist die einer Fachpublikation. Georg Witkowski kontert mit einer, dem Aufsatz angehängten, Verteidigung der hergebrachten Lesart.²⁶² Er zeigt Möglichkeiten einer Interpretation auf, die diese Variante plausibel machen kann. Dazu verweist er auch auf die Werkgenese. Später veröffentlicht er noch einen Artikel, in dem weitere Zuschriften kurz zusammengefasst werden.²⁶³ Diese Einsendungen stammen von so bedeutenden Germanisten wie Franz Muncker, Julius Petersen, Albert Köster, Paul Merker, Oskar Walzel, Ernst Elster, Max Herrmann, Fritz Jonas, Albert Leitzmann, Harry Maync, Erich Mennbier, Victor Michels, Ernst Müller, Max Freiherr von Waldberg und Richard Weißenfels. Sie bekräftigen entweder eine der Varianten oder stellen neue vor. Der Berliner Germanist Konrad Burdach äußert sich dann in einem langen Artikel, in dem er sehr kleinteilig auseinandersetzt, warum die Variante „vom Dom umzingelt“ richtig ist und es – anders als in Witkowskis Interpretation  – für „Laubgewölbe im Hayn“ steht.²⁶⁴ Er setzt sich darin auch noch einmal mit fast allen von Witkowski kurz gefassten Zuschriften auseinander. Abschließend gibt es einige Bemerkungen über die Rechtfertigung einer so engen gelehrten Diskussion mitten im Ersten Weltkrieg. Es sind gleichzeitig Begründungen für die Notwendigkeit einer Literaturwissenschaft. Die demonstrierte Genauigkeit in der Philologie wird auf positive deutsche Nationalcharakteristiken zurückgeführt. Neben der Weimarer Gesellschaft der Bibliophilen gründet Witkowski 1904 in Leipzig die erste lokale Bibliophilenvereinigung Deutschlands, den Leipziger Bibliophilen-Abend.²⁶⁵ Auch diese Vereinigung bildet ein wichtiges lokales Netzwerk. Viele Publikationen und editorische Leistungen Witkowskis fanden im Rahmen von „Jahresgaben“ für die Mitglieder der Leipziger Vereinigung statt.²⁶⁶ Hier waren dann häufig mehrere Vereinsmitglieder tätig: Buchillustratoren und Buchdrucker, häufig mehrere Verlage und die im Verein organisierten Sammler

261 Schlösser (1915). 262 Ebd., S. 29. 263 Witkowski (1915). 264 Burdach (1915a), vgl. auch Burdach (1915b). 265 Vgl. Kästner (2010), S. 1061f. 266 Eine Auflistung der Jahresgaben, an denen Witkowski mitarbeitete, findet sich in Witkowski (2010), S. 491ff.

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und Wissenschaftler. Über die erste derartige Gabe, die Singende Muse an der Pleiße, eine Lyriksammlung des Johann Sigismund Scholze, unter dem Pseudonym Sperontes 1736 veröffentlicht, schreibt Witkowski in seiner Autobiographie: Wir hatten keinen Pfennig Geld, und wir wollten unsere Mitglieder zu keinem Aufwand zwingen, der ihnen irgendwie drückend gewesen wäre. So kamen wir auf einen doppelten Ausweg. Alles, was zur Publikation gehörte, wurde geschenkt. Satz, Lichtdruck des Doppeltitels und Dutzende von Klischees spendete Ludwig Volkmann durch seine Firma Breitkopf & Härtel; der Umbruch wanderte zu dem Konkurrenten Drugulin hinüber, um dort gedruckt zu werden. Der Einband in prächtigem lederartigen Japan stammte von Carl Ernst Poeschel und die Zeichnung dazu von Walter Tiemann, das Exlibris von Bruno Héroux, das Nachwort von Albert Köster und die Herausgabe von mir.²⁶⁷

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Gleichschaltung vieler Institutionen, die auch an den bibliophilen Vereinen nicht vorbeiging, war der Leipziger Bibliophilen-Abend die einzige Lokalvereinigung der Gesellschaft der Bibliophilen, die sich um den Preis der Auflösung dem neuen Dachverband nicht anschloss.²⁶⁸ Der Leipziger Schiller-Verein, 1842 von Robert Blum gegründet, bittet 1906²⁶⁹ Witkowski, den Vorsitz des Vereins zu übernehmen; dieser ist zunächst skeptisch: Ich hatte nie daran gedacht, dem Schiller-Verein beizutreten, weil ich darin keinen Nutzen erkennen konnte und weil mir vor dieser Philistergesellschaft graute. Was ließ sich mit den 156 alten, dürftigen Mitgliedern erreichen, die für ihre zwei Mark Beitrag einmal in jedem Jahre zusammen schlecht essen, schlechte Redner und Konzertsänger anhören und selbst einen schläfrigen Chorus anstimmen wollten?²⁷⁰

Georg Witkowski stimmt dann doch zu und wird das Amt 20 Jahre innehaben. Wichtige Neuerungen ergeben sich durch die Umstrukturierung in einen modernen Literaturverein. Es werden Dichterlesungen abgehalten, bedeutende Schriftsteller der modernen deutschen Literatur lesen aus ihren Werken: Thomas Mann, Hermann Hesse, Kasimir Edschmid, Carl Sudermann, Franz Werfel, Arno Holz, Ricarda Huch, Gerhard Hauptmann, Cäsar Flaischlen, Herbert Eulenberg. Witkowskis Schüler Friedrich Michael betont: Witkowski „[…] hatte durch den von ihm geleiteten Schiller-Verein starken Einfluss auf den Spielplan der Städtischen Bühnen.“²⁷¹ Zur Erklärung sei die Autobiographie herangezogen:

267 Ebd., S. 241. 268 Vgl. Kästner (2010), S. 1062. 269 Vgl. Stockinger (2005), S. 40f. 270 Witkowski (2010), S 266f. 271 Michael (1967), S. 58.

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Ich schlug Martersteig [Max M., der Intendant der städtischen Bühnen, d. Verf.] vor, er solle zu Beginn jeder Spielzeit sechs literarisch bedeutsame neue Dramen oder Neueinstudierungen den Mitgliedern des Schiller-Vereins zu ermäßigten Preisen anbieten, der Vorstand sollte für diese Stücke ein Vorschlagsrecht haben.²⁷²

Der Schiller-Verein hatte zu diesem Zeitpunkt über 4000 Mitglieder. Diese große Anzahl ermöglichte auch die finanzielle Förderung von Nachwuchsautoren.²⁷³ Das Leipziger Schillerdenkmal, das am 9. Mai 1914 von Witkowski eingeweiht wurde, ist ein bis heute sichtbares Zeichen seines Wirkens. Mit seiner Modernität steht es in einem spannungsvollen Verhältnis zu bekannten Schillerdenkmälern, aber besonders auch zu der Goethestatue am Naschmarkt in Leipzig. Auch der Schiller-Verein, nun eine „Literarische Gesellschaft“, verbindet die universitäre Germanistik mit dem kulturellen Leben: Es werden Vortragsreihen mit Wissenschaftlern wie Albert Köster – der über Theatergeschichte spricht – und dem Kunsthistoriker Max Deri für die Mitglieder abgehalten.²⁷⁴ Witkowski erweitert hier, wie auch in seiner sehr praktisch angelegten Editionseinführung, die Grenzen der universitären Wissenschaft.²⁷⁵ Georg Witkowski war als Gutachter für staatliche Behörden tätig. Die spektakulärsten Beispiele hierfür sind seine Beteiligung an mehreren berühmten Literaturprozessen der Weimarer Republik, etwa gegen Frank Wedekinds Büchse der Pandora²⁷⁶ und 1921 gegen die Uraufführung von Arthur Schnitzlers Reigen,²⁷⁷ wo er seinem Leipziger Kollegen Köster gegenüberstand. Witkowski wurde zu dem im November 1921 geführten Prozess „von Amts wegen“ vom Gericht geladen, Albert Köster war beim gleichen Prozess vom Staatsanwalt geladener Sachverständiger. Witkowskis langes Gutachten ordnet das Drama literaturhistorisch ein und untersucht das Verhältnis von Dramentext und Bühnenaufführung. Er vertritt die Auffassung, dass das Schnitzlersche Stück nicht für eine Aufführung geschrieben sein konnte, da die besondere Technik der Raumgestaltung nicht auf der Illusionsbühne der Jahrhundertwende gezeigt werden konnte. Implizit wendet sich Witkowski hier gegen die These Kösters, dass die Form der Bühne direkt auf die Dramengestaltung wirken würden: „Ein Drama und die Bühne sind zwei verschiedene Dinge.“²⁷⁸ Er gibt den Richtern auch rezeptionstheoretische 272 Witkowski (2010), S. 273. 273 Ebd., S. 275. 274 Vgl. ebd., S. 274. 275 Eine Würdigung dieser literarischen Gesellschaft, die einen Höhepunkt des literarischen Lebens in Leipzig markiert, steht noch aus. Es findet sich zum Beispiel kein Eintrag über den Schiller-Verein bei Wülfing / Bruns / Parr (1998). 276 Witkowski (2010), S. 430. 277 Vgl. Heine (1922), S. 12. 278 Ebd., S. 286.

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Argumente an die Hand, indem er verschiedene Rezeptionsmöglichkeiten miteinander vergleicht.²⁷⁹ Das gipfelt in der pointierten Formulierung: „Anstoßnehmen kann nur derjenige, der nicht mit der Absicht, Anstoß zu nehmen ins Theater gekommen ist.“²⁸⁰ Albert Köster schließt sich zu „allgemeiner Überraschung“²⁸¹ den sehr liberalen Ausführungen Witkowskis an und berichtet daneben nur noch von der Leipziger Aufführung des Reigens, gegen die er sittlich-moralische Einwände geltend macht. Diese liegen jedoch, wie Köster meint, in der spezifischen Qualität der musikalischen Ausgestaltung dieser Aufführung begründet. Nach sechstägiger Verhandlung, „stets mit Unterbrechungen, damit Köster und ich [G. W., d. Verf.] zum Abhalten unserer Vorlesungen nach Leipzig fahren konnten“,²⁸² endet der wohl berühmteste Theaterskandal der Weimarer Republik mit einem Freispruch. In der Urteilsbegründung folgen die Richter in weiten Teilen der Argumentation Witkowskis.

4. Fazit Albert Köster und Georg Witkowski beginnen ihre wissenschaftlichen Karrieren in einer etablierten Disziplin, sie können auf fundierte Methoden zurückgreifen. Witkowskis stagnierende Laufbahn und das Fehlen umfangreicher Arbeiten Kösters lassen erkennen, dass wachsende Irritationen das Anwenden der historisch-philologischen Methode auf neue Gebiete begleiten. Es entstehen nach der Jahrhundertwende andere Entwürfe der Germanistik, die neue Fragestellungen, neue Anwendungsgebiete und andere Arbeitstechniken erfolgreich einführen. Gleichzeitig schwindet die gesellschaftliche Legitimation einer bloß archivarisch verfahrenden Philologie. Ein neues Nationalbewusstsein verlangt nach wissenschaftlicher Affirmation. Georg Witkowski mit einer sehr praktisch orientierten Editionswissenschaft und der weiten Öffnung des Faches hin zur Öffentlichkeit, Albert Köster vor allem mit der Anwendung der etablierten Methode auf das Gebiet der historischen Theaterpraxis stellen Entwürfe vor, dieser Methodenkrise durch eine Erweiterung der Gegenstände zu begegnen. Retrospektiv wird klar, dass die Innovationsangebote der Leipziger Professoren nicht angenommen worden sind. Eine Theatergeschichte als historisch rekonstruierende Bühnenhis279 Witkowski macht hier Eduard Sprangers Unterscheidung in unterschiedliche psychologische Grunddispositionen für die Rezeptionsanalyse fruchtbar, vgl. Spranger (1921). 280 Heine (1922), S. 281, dort findet sich auch die schöne Formulierung: „[…] denn irgend etwas gibt es immer, was einer alten Jungfer männlichen oder weiblichen Geschlechts nicht paßt.“ 281 Witkowski (2010), S. 433. 282 Ebd., S. 431.

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toriographie fällt als Aufgabe an eine sich disziplinär eigenständig entwickelnde Theaterwissenschaft; die Editionswissenschaft als Grundlagenwissenschaft der wissenschaftlichen Publizistik entwickelt sich zu einer weitgehend eigenständigen, sehr theoretisch orientierten ‚Textologie‘. Die Leipziger Literaturwissenschaft ging nach Kösters Tod und Witkowskis Ausscheiden andere Wege. Mit Hermann August Korff wird die Professur mit einem entschiedenen Vertreter der Geistesgeschichte besetzt. Die germanistische Literaturwissenschaft knüpft nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr an die durch Köster und Witkowski repräsentierte Tradition an. Die geringe öffentliche Wirksamkeit und die Legitimationskrise beschäftigen die Germanistik bis heute ungebrochen.

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„Ist das Gehirn so eng, daß nur eine Betrachtungsweise darin Platz hat?“ 

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 Uwe Maximilian Korn, Ludwig Stockinger

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Julia Zernack

Die Leipziger Nordistik Der vorliegende Aufsatz gilt einem abgeschlossenen Kapitel der Wissenschaftsgeschichte: Nordistik – man spricht auch von nordischer Philologie oder von Skandinavistik – gibt es im Fächerkanon der Leipziger Universität nicht mehr. Sie hat darin aber gut hundert Jahre lang – von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – eine Rolle gespielt: die charakteristische Rolle eines sogenannten kleinen Faches, dessen Existenz institutionell nicht immer, aber doch oft etwas unsicher ist. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein führt dieses kleine Fach (mit ganz wenigen Ausnahmen) überall im deutschen Sprachgebiet eine Randexistenz in der Germanistik; mit ihr ist die nordische Philologie entstehungsgeschichtlich verbunden. Das erklärt den Umstand, dass das Thema im Rahmen einer Ringvorlesung über die Geschichte der Germanistik und in der daraus hervorgegangenen Aufsatzsammlung behandelt wird. Es hat seinen Platz hier jedoch auch deshalb zurecht, weil sich die Nordistik in Leipzig anders als an anderen Universitäten von der Germanistik nicht völlig hat emanzipieren können. Als dies – nämlich die Gründung eigenständiger skandinavistischer Institute – seit den siebziger Jahren an mehreren bundesdeutschen Universitäten gelang, da gab es die Leipziger Nordistik schon nicht mehr. Nun ist das Fach in Leipzig aber nicht nur mit der Germanistik eng verbunden. In einem vielleicht noch stärkeren Zusammenhang steht die Nordistik hier mit der Religionsgeschichte: eine wissenschaftsgeschichtlich höchst interessante Eigenheit der Leipziger Nordistik, der im vorliegenden Kontext besondere Aufmerksamkeit gebührt. Zunächst ist jedoch kurz die äußere Entwicklung der Leipziger Nordistik zu skizzieren. Anschließend soll ihre Position zwischen Germanistik und Religionsgeschichte in den Blick genommen werden, eine Position, die sich nicht nur institutionell fassen, sondern auch von den Forschungsproblemen her beschreiben lässt. Dabei sind auch außerwissenschaftliche Einflüsse gut zu erkennen. Von alledem hat vieles bereits Beachtung in der wissenschaftlichen Literatur gefunden, allerdings meist ohne dass es in einen Zusammenhang mit der Fachgeschichte der Nordistik gebracht worden wäre.

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 Julia Zernack

1. Die Geschichte der Leipziger Nordistik Ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte ist die Nordistik in Leipzig seit 1969: Im Rahmen der dritten Hochschulreform wurde die nordistische Forschung und Lehre in der DDR endgültig an der Universität Greifswald konzentriert. Dort gab es das Fach seit 1918 in einem eigenständigen Institut.¹ In Leipzig besiegelte die Hochschulreform den Niedergang der Nordistik seit 1955, als der letzte Lehrstuhlinhaber, Walter Baetke (1884–1978), in den Ruhestand ging. Bis 1958 führte er die Institutsgeschäfte kommissarisch weiter; dann blieb dies bis 1969 den Assistenten überlassen, v. a. Ernst Walter und Rolf Heller. Studieren durfte man Nordistik ohnehin nur noch im Beifach zum Diplomstudium etwa der Anglistik oder der Geschichte. In extremer Weise wird hier – im Leipzig der sechziger Jahre – die institutionelle Unsicherheit des kleinen Faches deutlich, eine Unsicherheit, wie man sie auch aus den bundesrepublikanischen Universitäten kennt. Zu ihr gehört eine strukturelle Überlastung der Fachvertreter, die in diesem Fall die Assistenten traf. Wie wir noch sehen werden, gab es allerdings schon vorher aus den verschiedensten Gründen immer wieder Phasen der Instabilität. Die Anfänge nordistischer Forschung in Leipzig sind an Interessen und Initiativen einzelner Personen geknüpft. Rainer Kößling hat das 2003 in einem Aufsatz ausführlich dargelegt:² Die nordistischen Pioniere in Leipzig waren Theodor Möbius (1821–1890), Anton Edzardi (1849–1882) und Eugen Mogk (1854–1939). Als erster von ihnen habilitierte sich Möbius 1852 an der Leipziger Philosophischen Fakultät. Er legte dafür eine Untersuchung Ueber die ältere isländische Saga vor. Dieser Gegenstand war seinerzeit so selten, dass sich die Leipziger Gutachter überwiegend für inkompetent erklären mussten und unumwunden zugestanden, dass sie die Quellengrundlage der Untersuchungen nur aus der Habilitationsschrift selbst kannten. Das hielt sie freilich nicht davon ab, Möbius zu habilitieren, und er vertrat fortan als Privatdozent die Altnordistik in Forschung und Lehre, bis er 1865 nach Kiel berufen wurde. Unterricht im Altnordischen immerhin trauten sich in der Regel auch die Germanisten zu, so dass hier durch Friedrich Zarncke (1825–1881) und Wilhelm Braune (1850–1926) eine gewisse Kontinuität auch nach Möbius’ Weggang gewahrt blieb. Bei Kößling findet sich der Hinweis, dass gerade Zarncke nachdrücklich daran interessiert gewesen sei, die Germanistik um einen nordistisch ausgewiesenen Kollegen zu ergänzen, und es ist wohl 1 Zur Greifswalder Nordistik und zu ihrer Rolle für die (Wissenschafts-)Politik der DDR vgl. den Beitrag von Muschik (2004), in dem im übrigen die Entwicklung in Leipzig irritierenderweise gänzlich ignoriert wird. Vgl. auch Anm. 18. 2 Kößling (2003).

Die Leipziger Nordistik 

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symptomatisch für die Situation in jener Zeit, dass dabei zweimal hintereinander seine eigenen Schüler zum Zuge kamen. Der erste war Anton Edzardi. Er erhielt 1876 von der Leipziger Fakultät „die venia legendi für das Gebiet der älteren deutschen und nordischen Sprachen und Literaturen“.³ In der Folgezeit übernahm er als Privatdozent die altnordistische Lehre. 1882, im Jahr seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor, starb Edzardi, und in der Folgezeit lag die Nordistik wiederum für mehrere Jahre brach. Erst 1889 gelang es einem weiteren Schüler Zarnckes, Eugen Mogk, sich mit einem nordistischen Thema zu habilitieren, und zwar mit Untersuchungen zur Snorra Edda. In Mogks venia legendi war nun die deutsche Sprache und Literatur auffälligerweise nicht mehr vertreten; die venia lautete auf „nordgermanische Sprachen und Literatur und germanische Mythologie“.⁴ Ganz in diesem Sinne scheint sich Mogk tatsächlich einer eigenständigeren Nordistik verpflichtet gefühlt zu haben. Seit 1893 außerordentlicher Professor für nordische Philologie, wurde er 1923 als ordentlicher Professor berufen. Dies ist sicherlich mit Kößling als eine institutionelle Stabilisierung der Nordistik anzusehen, zumal mit Mogks Tätigkeit auch die Einrichtung einer eigenen ‚nordischen‘ Abteilung innerhalb des Germanischen Seminars einherging. Jedoch währte die Sicherheit nur kurz, denn nach Mogks Emeritierung 1925 wurde die Professur auf ein Extraordinariat zurückgestuft. Dieses erhielt 1926 Helmut de Boor (1891–1976). Er war der Fakultät als der einzige überhaupt infrage kommende deutsche Kandidat erschienen: Auf Platz zwei der Berufungsliste hatte man den Norweger Gustav Indrebø (1889–1942) und auf Platz drei den Schweden Erik Noreen (1890–1946) gesetzt.⁵ Wie zu erwarten, hielt es de Boor nicht lange auf dem Extraordinariat: Schon 1930 folgte er einem Ruf nach Bern. Jetzt gab es im deutschen Sprachgebiet überhaupt keinen habilitierten wissenschaftlichen Nachwuchs mehr für die Nordistik. Die Fakultät verabschiedete deshalb eine Berufungsliste mit zwei nicht habilitierten Kandidaten, Konstantin Reichardt (1904–1976) auf dem ersten und Hans Kuhn (1899–1988) auf dem zweiten Platz. Mit nur 28 Jahren wurde Reichardt 1931 zum planmäßigen außerordentlichen Professor für Nordische Philologie.⁶ Er scheint sich seiner neuen Aufgabe mit großem Engagement gewidmet zu haben, allerdings zunehmend unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen, zumal nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten. 1937 ließ er sich für einen Forschungsaufenthalt in Dänemark beurlauben, und von hier aus beantragte er seine Entlassung aus der Leipziger Universität. Über Schweden wanderte er dann

3 Ebd., S. 368. 4 Ebd., S. 372. 5 Universitätsarchiv Leipzig (UAL) PA 332. 6 UAL PA 836.

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in die Vereinigten Staaten aus. Dort war er zunächst in Minnesota und später in Yale Professor für „Germanic Languages and Literatures“. Es gab wohl mehrere Gründe für Reichardt, seine Professur aufzugeben. Selbst nennt er „mangelnde Befriedigung bei der Berufsausübung und Gewissensschwierigkeiten“.⁷ Der Kollege Andreas Heusler (1865–1940) wusste vom sicheren Basel aus zu berichten, dass Reichardt „die ganze Richtung nicht passte“.⁸ Dafür gibt es weitere Anhaltspunkte, so in den vierziger Jahren eine Notiz in der Personalakte, die festhält: „liebenswürdige Erscheinung, lehnt das 3. Reich ab“.⁹ Was genau Reichardt ablehnte, war schon 1935 offenbar geworden, als vier jüdische Mitglieder der Fakultät entlassen wurden.¹⁰ In der Folge kam es auf einer Fakultätssitzung zu einer heftigen Auseinandersetzung. Dabei protestierten Reichardt, die Physiker Friedrich Hund (1896–1997) und Werner Heisenberg (1901–1976) sowie der Mathematiker Bartel L. van der Waerden (1903–1996) in Anwesenheit des Rektors gegen die Entlassungen.¹¹ Sie mussten sich dafür vom Ministerium in Dresden zurechtweisen lassen, und der Dekan, der Althistoriker Helmut Berve (1896–1979), verlor sein Amt.¹² Alle diese Professoren einschließlich des entlassenen Joachim Wach waren Mitglieder der „Coronella“, eines kleinen inoffiziellen, inzwischen recht gut bekannten Kreises junger Leipziger Wissenschaftler um den Physiker Heisenberg. Gemeinsam war ihnen eine demokratische Einstellung; außer Berve gehörte keiner von ihnen der NSDAP an.¹³ Das alles sei hier wenigstens kurz erwähnt. Denn der Protest der Leipziger Professoren ist eines der ganz wenigen Gegenbeispiele zu der ernüchternden Feststellung Saul Friedländers: „Als jüdische Kollegen entlassen wurden, äußerte kein deutscher Professor öffentlichen Protest“.¹⁴ 7 Vgl. Wiemers (1993), das Zitat S. 143, Anm. 14. 8 Zitiert nach See (2004), S. 48 und 93. 9 UAL PA 836, 65 und 72. Nach Auskunft von Wiemers (1993), S. 143, Anm. 14, geht diese Bemerkung auf Reichardts Nachfolger Hans Kuhn zurück. 10 Nämlich der Mathematiker Friedrich Levi (1888–1966), der Religionshistoriker Joachim Wach (1898–1955), der Orientalist Benno Landsberger (1890–1968) und der Chemiker Fritz Weigert (1876–1947); vgl. Rebenich (2001), S. 480, Anm. 125. 11 Vgl. Wiemers (2010), S. 2. Danach war die Sitzung am 8. Mai und Reichardt war der erste, der nach der Rechtmäßigkeit der Entlassungen fragte. In Wiemers’ Artikel Werner Heisenberg in der Sächsischen Biografie wird zu denjenigen, die protestierten, auch noch Karl Friedrich Bonhoeffer gerechnet (http://isgv.serveftp.org/saebi/artikeldruck. php?SNR=2073 [5. März 2010]). Etwas abweichend die Informationen bei Rudolph (1962), S. 140; Reichardt wird hier nicht erwähnt. 12 Rebenich (2001), S. 479–480. 13 Wiemers (2010), S. 142f. Vgl. außerdem Lea / Wiemers (1993), S. 202f. 14 Friedländer (2007), S.  73. – Der Vollständigkeit halber sei noch angefügt, daß die Berliner Universität 1944 (?) Reichardt den dort erworbenen Doktortitel aberkannte. Erst 1998 hat sie diese Willkürentscheidung offiziell zurückgenommen: Erklärung zur Aberkennung akademischer Titel,

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Die Leipziger Nordistik nun war nach Reichardts Entlassung erneut in einer schwierigen Situation. Jetzt stand nur noch Hans Kuhn zur Verfügung, inzwischen allerdings habilitiert, so dass die Fakultät ihn dem Ministerium als einzigen Kandidaten empfahl.¹⁵ 1938 berufen, erhielt er indes schon 1941 einen Ruf auf das Ordinariat der Berliner Universität. In Leipzig konnte der Lehrstuhl erst 1946 neu besetzt werden: mit Walter Baetke, dem letzten Leipziger Vertreter des Faches. Zu diesem Zeitpunkt war Baetke allerdings schon mehr als zehn Jahre lang Leipziger Professor, und zwar für Religionsgeschichte in der Theologischen Fakultät. Zusätzlich erhielt er nun bei einer Neuordnung der Universität den Lehrstuhl für Nordische Philologie. Damit wechselte zugleich die Religionsgeschichte aus der Theologischen in die Philosophische Fakultät, und dies spiegelt zweifellos Walter Baetkes spezifische Auffassung von den Aufgaben einer historischen Religionswissenschaft.¹⁶ Für die Nordistik ist diese Verbindung mit der Religionsgeschichte ‚in Personalunion‘ ein einmaliger Vorgang. Er ist fachlich völlig gerechtfertigt durch das Forschungsprofil Baetkes und durch das große Ansehen, das Baetke bis heute in beiden Fächern genießt. Institutionell aber könnte es sich doch um so etwas wie eine Verlegenheitslösung gehandelt haben, denn man muss sich ja fragen, ob sonst 1946 überhaupt ein Wissenschaftler zur Verfügung gestanden hätte, den man als Professor für Nordistik nach Leipzig hätte berufen können. Diese Frage führt zurück zu der Beobachtung, dass in der Geschichte der Leipziger Nordistik immer wieder Phasen institutioneller Instabilität auftreten. So scheint es sich bei buchstäblich jedem Personalwechsel zumindest als schwierig erwiesen zu haben, die Kontinuität des Faches aufrechtzuerhalten: Nach dem Weggang von Möbius 1865 musste man über zehn Jahre warten, bis sich ein Nachfolger, Anton Edzardi, habilitiert hatte. Nach dessen Tod 1882 dauerte es wiederum Jahre, bis in Eugen Mogk ein habilitierter Nordist zur Verfügung stand. Da er anders als seine beiden Vorgänger recht bald wenigstens zum außerordentlichen Professor ernannt wurde, kam das Fach nun für einige Zeit in ruhigeres Fahrwasser. Es entstand eine eigene nordische Abteilung, deren Programm inhaltlich ausgebaut werden konnte, auch in Richtung der neueren skandinavischen Sprachen und Literaturen. Da dieselbe Tendenz zeitgleich auch an anderen Universitäten zu beobachten ist, beispielsweise in Berlin, kann man für die Jahrhundertwende mit großer Vorsicht von einer ersten Phase der institutionellen Etablierung einer eigenständigen Nordistik an den deutschen Universitäten sprechen. Diesen

http://ns-zeit.geschichte.hu-berlin.de/site/lang_de-DE/mid_11608/ModeID_0/PageID_567/4122/ default.aspx (Stand: 27.02.2010). 15 UAL Phil.Fak, B2/2053. 16 Dazu vgl. etwa den Nachruf von Rudolph (1980), S. 268f.

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Umstand suchte die Leipziger Fakultät für sich zu nutzen; ihr Dekan forderte 1922 im Ministerium ein Ordinariat für Nordische Philologie, denn wie seinerzeit die englische Philologie hat sich jetzt auch die nordische immer mehr als selbständiges Fach entwickelt, so dass bereits mehrere Universitäten (Berlin, Kiel, Greifswald) Ordinariate für sie haben, andere (Hamburg, Rostock) solche planen.¹⁷

Auch wenn dieser Hinweis nicht ganz den Tatsachen entsprach, denn die Ordinariate in Kiel und Greifswald gab es bereits seit geraumer Zeit:¹⁸ Leipzig erhielt das Ordinariat und besetzte es mit Eugen Mogk – zwei Jahre vor dessen Emeritierung. Die darauf folgende Herabstufung der Professur auf ein Extraordinariat hatte eine neue Phase der Unsicherheit zur Folge; sie kommt in dem raschen Wechsel der Lehrstuhlinhaber zum Ausdruck und zudem in den Schwierigkeiten, überhaupt Kandidaten für die Berufungslisten zu finden. Die Gründe dafür zeigen sich bei einem Blick auf die Situation Helmut de Boors: Schon im Vorfeld der Berufung 1926 war er bemüht, die Denomination der Professur, die auf Nordische Philologie lautete, zu erweitern, und zwar auf das Gebiet der „germanischen Philologie mit besonderer Berücksichtigung des Nordischen“.¹⁹ Dies begründete er eben damit, dass er ja auf ein Extraordinariat berufen würde, es aber Ordinariate für Nordische Philologie so selten gebe, dass er nur geringe Chancen hätte, ein solches jemals zu erlangen. Die Erweiterung seines Lehrauftrages würde ihm hingegen auch den Weg auf ein germanistisches Ordinariat offenhalten. Das Ministerium hatte Verständnis für diesen Wunsch, die Fakultät hingegen lehnte ihn vehement ab – mit einer nichtssagenden Begründung: Die Herren waren übereinstimmend der Auffassung, dass die von Prof. de Boor angestrebte Ausdehnung seines Lehrauftrags auch auf das Gebiet der germani(sti)schen Philologie unbedingt abzulehnen sei und nur zu allerlei Schwierigkeiten führen werde. Der in Leipzig seit langem bestehende Zustand der klaren Scheidung zwischen deutscher und nordischer Philologie habe sich gut bewährt und seine Beibehaltung sei daher entschieden zu fordern.²⁰

Verärgert nahm de Boor den Ruf trotzdem an, wechselte aber nach nur vier Jahren auf ein (germanistisches) Ordinariat nach Bern. Die Probleme in Leipzig hatten sich also aus dem Umstand ergeben, dass die Fakultät an einer engen Definition

17 UAL PA 755 (Eugen Mogk), S. 27. 18 Vgl. für Greifswald Anm. 1 sowie Magon (1956), Friese (1993), für Kiel: Vogt (1940). 19 UAL PA 332 (de Boor), S. 12. 20 Schreiben an den Oberregierungsrat Ulich vom 14.10.1925, UAL PA 332 (de Boor), S. 14.

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des kleinen, noch kaum etablierten Faches festhielt. Genau diese musste dem Bewerber – solange er noch kein Ordinariat erlangt hatte – als Karrierehindernis erscheinen: In der ‚reinen‘ Nordistik, wie sie in Leipzig gewünscht wurde, sah de Boor keine Zukunft für sich. Jedoch war die Berufung auf ein Extraordinariat in einem so kleinen Fach noch in einer weiteren Hinsicht ungünstig. Dies belegen ganz ähnliche und ebenfalls vergebliche Bemühungen Konstantin Reichardts, seinen Lehrauftrag auf die germanische Philologie auszuweiten.²¹ Als planmäßiger außerordentlicher Professor hatte er nämlich offenbar nur ein geringes festes Einkommen, und er war darauf angewiesen, es durch Hörergelder zu verbessern, wenn er damit eine Familie ernähren wollte. Die geringen Hörerzahlen der rein nordistischen Lehrveranstaltungen reichten dafür aber nicht aus. In gewisser Weise erscheint also die wiederkehrende Instabilität der Nordistik in Leipzig als ein hausgemachtes Problem: Einerseits hätte das vorhandene Extraordinariat erst bei einer Öffnung der Nordistik hin zur germanischen Philologie Nachwuchswissenschaftlern akzeptable Arbeitsbedingungen und Zukunftsaussichten bieten können. Andererseits hätte man die Etablierung der Nordischen Philologie als eigenständiges Fach nur fördern können, wenn man dafür eine gesicherte Position – also ein Ordinariat – zur Verfügung gehabt hätte. Warum die Fakultät das nicht erkannte und auf der klaren Abgrenzung der Nordistik von der Germanistik beharrte, ist unklar, und dies um so mehr, als die institutionelle Zugehörigkeit der ‚nordischen Abteilung‘ zum Germanistischen Institut ganz unumstritten war. Offenbar hat man also nordische und germanische Philologie zugleich als disziplinäre Einheit und als voneinander abzugrenzende Fächer betrachtet. Wer dies verstehen möchte, muss von den heutigen Grenzen zwischen den Fächern absehen und die historische Entwicklung vor allem der Germanistik bedenken.

2. Nordische und germanische Philologie Schauen wir auf die Anfänge der Germanistik, dann sehen wir ein ganz anderes Fach vor uns, als wir es heute kennen. Ursprünglich nämlich war die Germanistik konzipiert als ‚Wissenschaft von den Germanen‘ in einem umfassenden Sinn. Als solche integrierte sie germanische und nordische Philologie ebenso wie beispielsweise die Geschichte des germanischen Rechts oder der germanischen Religion. Gegenstand dieser Germanistik war also nicht primär das Deutsche – die 21 UAL PA 836 (Reichardt).

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deutsche Sprache und Literatur –, sondern prinzipiell alles, was zur Rekonstruktion des Germanischen herangezogen werden konnte: Schriftzeugnisse in den germanischen Sprachen – altenglisch, gotisch, althochdeutsch, altsächsisch, altnordisch –, volkskundliche und später auch archäologische, kunsthistorische u. a. Quellen. Das Ziel der Erkenntnis war allerdings sehr wohl ein deutsches, richtete es sich doch auf die Konstruktion einer deutschen Identität gleichsam aus den Ursprüngen nationaler Geschichte, und die suchte man bei den Germanen.²² Quellen sind hierfür auf dem Kontinent, insbesondere aus vorchristlicher Zeit, bekanntlich nur spärlich überliefert. Um so reicher fließen sie im Norden, und hier meinte man sie ausborgen zu dürfen, seit Johann Gottfried Herder Ende des 18. Jahrhunderts auf diese „Rüstkammer“ des deutschen „Genies“ aufmerksam gemacht hatte:²³ Erst durch die nordische Überlieferung ergab sich die Möglichkeit, einen Blick auf jenes germanische Altertum zu erhaschen, in dem man den nationalen Ursprung der Deutschen vermutete. Die Erforschung der volkssprachlichen Überlieferung des Nordens gehörte daher ursprünglich förmlich zum Kern jener umfassend verstandenen frühen Germanistik. Man kann das gut erkennen etwa im Werk Jacob Grimms (1785– 1863) oder auch bei Karl Müllenhoff (1818–1884) und anderen.²⁴ Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert gibt es Vertreter dieser ‚Einheit der Germanistik‘. Der prominenteste ist Andreas Heusler in Berlin und Basel,²⁵ aber auch de Boor gehört dazu und ebenso Mogk, Reichardt und andere. Vehement wird die ‚Einheit der Germanistik‘ im 20. Jahrhundert noch einmal eingefordert von Otto Höfler (1901–1987) in München, der damit allerdings bereits – mit politischer Unterstützung der SS – der nationalsozialistischen Germanenkunde vorarbeitet.²⁶ Gerade wenn man sich für die Geschichte der nordischen Philologie interessiert, findet man freilich schon im 19. Jahrhundert Anzeichen dafür, dass die ‚Einheit der Germanistik‘ brüchig war. Hierfür waren zwei Momente ausschlaggebend: Das eine ist die Aufnahme der neuzeitlichen und dann vor allem der Gegenwartsliteratur in den Kanon der philologischen Wissenschaft, das andere eine veränderte Wahrnehmung des skandinavischen Nordens, der im Bewusstsein der Deutschen zu einer eigenständigen kulturgeographischen Größe wird.²⁷ Das Interesse an der neueren Literatur führte rasch zur disziplinären Ausdifferenzierung der Germa-

22 Dies ist ausführlich dargelegt etwa bei See (1994). 23 Herder (1877), S. 74. 24 Vgl. Zernack (2008a). 25 Zu Heusler vgl. die Aufsätze in Glauser / Zernack (2005). 26 Vgl. mit weiterführenden Literaturangaben Zernack (2008a). 27 Vgl. Zernack (1996) und – allgemein zu Nordenbegeisterung und Germanenschwärmerei im Deutschen Reich – von See (1994).

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nistik – im Sinn einer Wissenschaft von der deutschen Literatur und Sprache – und z. B. auch der Anglistik, hatte mithin die Bildung von Nationalphilologien in einem engen Sinn zur Folge. Dabei wurde auch den Nordisten der Eigenwert der skandinavischen Kultur stärker bewusst. Noch innerhalb seiner Konzeption des Altgermanischen wertete Andreas Heusler vor allem die isländische Überlieferung stark auf und bemühte sich nachdrücklich darum, diese auch an ein breiteres Publikum zu vermitteln.²⁸ Das war darauf bereits vorbereitet – durch die begeisterte Rezeption, die die zeitgenössischen skandinavischen Autoren in Deutschland fanden: Skandinavien war – wie die Freie Bühne feststellte – zu einer förmlichen „Mode auf den Boulevards“ des wilhelminischen Reiches und vor allem in Berlin geworden.²⁹ Fortan konnte kaum ein Nordist mehr darauf verzichten, wenigstens einen kleinen Beitrag zu Henrik Ibsen, Björnstjerne Björnson, Ludvig Holberg oder Hans Christian Andersen zu publizieren oder doch zumindest eine Übersetzung zu versuchen. Dieser Nordistik nun, die an ihrem Gegenstand neben dem Germanischen jetzt auch das Skandinavische bzw. das Isländische interessierte, stand am Ende des Jahrhunderts eine Germanistik gegenüber, die sich zunehmend als deutsche Philologie verstand. Der germanischen Philologie und erst recht der germanischen Altertumskunde kam durch diese Entwicklung gleichsam das disziplinäre Zentrum abhanden; sie fand sich fortan in vielen verschiedenen Fächern wieder: in der nordischen Philologie, der älteren Germanistik, der Volkskunde, der Rechtsgeschichte, der Religionswissenschaft, der Ur- und Frühgeschichte usw. Auch wenn es immer wieder Germanisten und Nordisten gab, die an der Einheit der Germanistik festzuhalten versuchten, war damit doch der Weg zur Trennung der Fächer vorgezeichnet. Die Lage der Nordistik in Leipzig spiegelt genau dies und zeigt dabei recht deutlich die strukturellen Schwierigkeiten, die diese Entwicklung mit sich brachte. Selbstverständlich ist damit noch nichts ausgesagt über die Qualität der Forschung, mit der die Fachvertreter den institutionellen Rahmen ausfüllten. Das muss man für sich betrachten, wenngleich es auch hier natürlich Zusammenhänge gibt. So ist es eine Binsenweisheit, dass geisteswissenschaftliche Forschung ihre Zeit braucht. Daher hatten diejenigen Nordisten, die nur wenige Jahre

28 Das belegen Aufsätze in Publikumszeitschriften (etwa: „Die Isländersagas als Zeugnisse germanischer Volksart“, in: Deutsche Rundschau 43 (1917), H. 6, S. 375–394), die Beteiligung an populären Werken wie den Prachtbänden Walhall. Die Götterwelt der Germanen (Berlin 1900) und Urväterhort. Die Heldensagen der Germanen (Berlin 1904), Heuslers Übersetzungen aus dem Altnordischen sowie seine Mitwirkung an der Sammlung Thule (1911–1930), einem großangelegten Übersetzungswerk des Eugen Diederichs-Verlages in Jena. 29 Vgl. Zernack (1996).

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in Leipzig waren, kaum Gelegenheit, hier auch die Früchte ihrer Arbeit zu ernten. Das war denjenigen vorbehalten, die für viele Jahre in Leipzig wirkten, hier auch Schüler hatten und erst so Einfluss auf ihre Wissenschaft gewinnen konnten. Von den genannten war das eigentlich nur Eugen Mogk und Walter Baetke vergönnt, andere – etwa Helmut de Boor und Hans Kuhn – hatten ihre größte Wirkung von anderen Universitäten aus.³⁰ Am ergiebigsten für unseren Zusammenhang ist daher der Blick auf die Œuvres von Mogk und Baetke. Jedes von ihnen ist auf seine Weise eng mit der Leipziger religionswissenschaftlichen Tradition verbunden, doch wird man – darüber hinaus – zwischen ihnen vor allem Gegensätze erkennen, weniger vielleicht bei den nordistischen und deutlicher bei den religionsgeschichtlichen Ansätzen.

3. Die Leipziger religionswissenschaftliche Nordistik In der Altnordistik hat die Rekonstruktion der germanischen Religion immer eine große Rolle gespielt, keineswegs nur in Leipzig. Das hängt damit zusammen, dass für Probleme der Religion die kontinentale Überlieferung besonders wenig Aussagekraft besitzt. Man hat auch diesen Mangel traditionell mithilfe nordischer Quellen zu kompensieren versucht und ihnen dabei meist viel abverlangt: häufig mehr als sie eigentlich hergeben. Anders als auf dem Kontinent sind nämlich im Norden ausführliche volkssprachliche Mythenerzählungen überliefert, am bekanntesten die Liederedda und die Edda des Snorri Sturluson aus dem 13. Jahrhundert. Durch die Quellenlage selbst fiel also – innerhalb der Germanistik – den Spezialisten mit den entsprechenden Sprachkenntnissen, den Nordisten, die zentrale Rolle bei der Erforschung germanischer Religion zu. Die meisten von ihnen haben das seit Jacob Grimm als einen selbstverständlichen Aspekt ihrer Arbeit betrachtet und zum Teil sogar umfängliche Darstellungen der germanischen Religionsgeschichte vorgelegt. Selbst Andreas Heusler, der angesichts der Quellen gesicherte Aussagen über die Religion der Germanen erklärtermaßen für unmöglich hielt, lieferte dennoch einschlägige Artikel zu den Handbüchern Kultur der Gegenwart (1923) und Die Religion in Geschichte und Gegenwart (1928).³¹ Am bekanntesten ist aber wohl noch immer die Altgermanische Religionsgeschichte

30 Für de Boor und dessen Wirken in Bern und Berlin ist das nachgezeichnet bei Wyss (2000), Hans Kuhn lehrte die längste Zeit seines Lebens – von 1946 bis 1964 – an der Universität Kiel. 31 Heusler (1923) und Heusler (1928). Vgl. Dusse (2005).

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von Jan de Vries (1890–1964), die – obgleich umstritten – als Handbuch mit Überblickscharakter bisher nicht ersetzt ist.³² Eben auf philologische Quellenkenntnis – nicht nur der Nordistik – baute die noch junge Religionswissenschaft, gerade in Deutschland. Sie ist hier erst seit dem 20. Jahrhundert eine eigene akademische Disziplin (als solche also im Grunde genommen etwa so jung wie die Nordische Philologie). Die Leipziger Universität gründete 1912 als erste in Deutschland ein religionsgeschichtliches Seminar in der Theologischen Fakultät, nachdem man bereits 1910 in Berlin – ebenfalls in der Theologischen Fakultät – einen Lehrstuhl für Allgemeine Religionsgeschichte und Religionsphilosophie eingerichtet hatte. Schon vorher aber kann man in Leipzig ein starkes Interesse an religionsgeschichtlichen Fragen beobachten: eben in der philosophischen Fakultät – bei den Philologen. Die Leipziger Nordisten haben das ihre dazu beigetragen: zuerst Theodor Möbius im Wintersemester 1864/65 mit einer Vorlesung über „Nordische Mythologie“,³³ dann Anton Edzardi seit 1877 mit wiederkehrenden Vorlesungen zur „Deutschen Mythologie“. Eugen Mogk setzte sie bis ins Wintersemester 1903/04 fort,³⁴ bevor er sich der Religionsgeschichte im engeren Sinn zuwandte, über „Germanische Religionsgeschichte“, „Germanischen Götterglauben“ und ähnliche Themen las.³⁵ Dass dies von der Fakultät so intendiert war, belegt Mogks venia, die – wie erwähnt – außer auf nordgermanische Sprachen und Literatur auch auf „germanische Mythologie“ lautete. Damit war, zieht man die zeitgenössische Begriffsverwendung in Betracht, auch die Geschichte der germanischen Religion gemeint.³⁶ Tatsächlich stand dies: die Rekonstruktion einer Geschichte der vorchristlichen Religion der Germanen im Zentrum von Mogks Forschungen. Sie sind geprägt von starken Zweifeln am religionsgeschichtlichen Quellenwert der mythologischen Überlieferung, v. a. der schon genannten isländischen Quellen. Insbesondere die Snorra Edda betrachtete Mogk als bloß literarisch-gelehrte

32 Vries (1956–1957). Zur gegenwärtigen Sicht auf die Probleme germanischer Religion vgl. etwa Schier (2003). – Im übrigen ist zu bedenken, daß das Konzept ‚germanische Religion‘ in spezifischer Weise an die deutschsprachige Forschung gebunden ist; in Skandinavien und dem englischen Sprachgebiet gibt es die konkurrierenden Konzepte ‚skandinavischer‘ oder ‚nordischer Religion‘ und des ‚Anglo-Saxon paganism‘ – die Quellen, die zur Rekonstruktion herangezogen werden, sind aber zu einem großen Teil dieselben. 33 Rudolph (1962), S. 79. 34 Ebd., S. 95. 35 Ebd., S. 99. 36 Heute beurteilt man den religionsgeschichtliche Quellenwert der altnordischen mythologischen Überlieferung eher skeptisch; vgl. etwa Simek (2003), Maier (2003). – Eine konsequente Trennung von Mythologie und Religion mahnte allerdings schon in den dreißiger Jahren Walter Baetke (1937), S. XI an; vgl. Baetke (1973).

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Verarbeitung mythologischer Stoffe.³⁷ Religionsgeschichtliche Erkenntnisse versprach er sich eher von der Beobachtung sogenannter primitiver Kulturzustände. Wie schon vor ihm Jacob Grimm suchte er diese in der Volkskultur mit den für sie typischen „assoziativen Denkformen“.³⁸ Diese seien dem historischen Wandel entzogen und folglich in der Lage, „geistige Erzeugnisse“ über Jahrhunderte zu bewahren, unabhängig von Veränderungen in der Hochkultur. Im Volksglauben gebe es daher eine „Schicht älterer Religion, die nach dem Aufkeimen einer neuen in einem Teil der Bevölkerung zurückgeblieben“ und dort – verdrängt in die „Unterschichten“ des Volksglaubens – immer lebendig geblieben sei, zum Teil bis in die Gegenwart. Alter Kult und Ritus hätten sich so in Aberglaube, Sitte und Brauch „geflüchtet“. ³⁹ Aus ihnen – also aus volkskundlichen Zeugnissen – sei daher die „Entwicklung des altgermanischen Heidentums“ vorgeschichtlicher Zeit zu erschließen, und zwar komparatistisch: im „vorsichtigen Vergleich“ mit den religiösen Vorstellungen „primitiver Völker und den Überlebseln anderer Kulturvölker“. Dabei ergebe sich, meinte Mogk, dass der vergleichsweise junge Glaube an anthropomorphe Gottheiten bei den einzelnen germanischen Stämmen verschieden gewesen sei, die „Unterschichten“ des Volksglaubens aber „bei allen gleich“.⁴⁰ Folglich fühlte er sich berechtigt, die vorchristliche Religion der Germanen als ein in sich einheitliches Phänomen zu verstehen. Dieses nun beschrieb Mogk – eine Leipziger Anregung aufgreifend – mit Begriffen aus der zeitgenössischen religionsethnologischen Debatte: Zentral ist für ihn die bis heute umstrittene Vorstellung des Mana. Sie stammt bekanntlich ursprünglich aus den polynesischen Religionen und begann seit den neunziger Jahren in der ethnologischen Diskussion eine Rolle zu spielen.⁴¹ Dabei avancierte der Begriff rasch zum – etwas verkürzten – Terminus technicus für den Glauben an eine unpersönliche übernatürliche Kraft oder Macht. Diesen Glauben hielt man für eine Frühform fast aller Religionen, nachdem man Entsprechendes auch in anderen sogenannten primitiven Kulturen gefunden zu haben meinte. Mogk scheint mit dem Mana-Begriff durch das religionshistorische Werk des bekannten schwedischen Theologen Nathan Söderblom (1866–1931) in Berührung gekommen zu sein: Söderblom hatte als erster – wenngleich nur ganz kurz – den neu errichteten Leipziger Lehrstuhl für Religionsgeschichte inne, wie im übrigen auch

37 Vgl. Mogk (1923); Mogk (1932). 38 Zu Mogks volkskundlichen Positionen vgl. Plaul (1991). 39 Mogk (1915–1916), S. 489–490. 40 Die Zitate ebd., S. 490. 41 Vgl. Codrington (1891), sowie zu der problematischen Rezeption des Begriffs Dieter Sefrins Artikel Mana; Sefrin (1998).

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der Berliner Lehrstuhl anfangs kurzzeitig mit einem Skandinavier, dem Dänen Edvard Lehmann (1862–1930), besetzt war. In der Leipziger Zeit arbeitete Söderblom an einem seiner Hauptwerke, einer Untersuchung über die Entstehung des Gottesglaubens. Sie erschien 1914, und an ihrer Übersetzung ins Deutsche war Eugen Mogk beteiligt.⁴² In dem Buch formuliert Söderblom die Ansicht, dass Animismus, Machtvorstellungen wie Mana und das damit verbundene Tabu sowie der sogenannte Urheberglaube die frühesten Erscheinungsformen von Religion seien. ‚Macht‘ identifizierte er mit ‚Heiligkeit‘, und zum Beleg führte er unter anderem die vorchristliche Religion der Germanen an, im Anschluss an einen weiteren skandinavischen Religionswissenschaftler, den Dänen Vilhelm Grønbech (1873–1948), der 1909–1912 eine einflussreiche Schrift mit dem Titel Vor folkeæt i Oldtiden („Unser Volksstamm im Altertum“) vorgelegt hatte.⁴³ Nach Grønbechs Ansicht repräsentierte den Machtglauben bei den Germanen die Vorstellung von der hamingja – einer spezifischen Form der Lebenskraft – verbunden mit einer charakteristischen Auffassung des Heiligen. Das altwestnordische Wort heilagr („unversehrt“, „heilig“) betrachtete Söderblom nachgerade als „das altgermanische Wort für Mana, Tabu“.⁴⁴ Diesen Machtbegriff Söderbloms machte nun Mogk zum Ausgangspunkt seiner religionsgeschichtlichen Rekonstruktion. Sie ist in zeittypischer Weise evolutionistisch konzipiert: In dem Glauben an die ‚Macht‘ habe die in sich noch einheitliche germanische Religion in vorgeschichtlicher Zeit ihren Anfang genommen. Daraus habe sich dann über einen primitiven Animismus – zu einem unbestimmten Zeitpunkt, aber bereits „auf germanischem Boden“ – der Götterglaube der germanischen Stämme in seinen verschiedenen Formen entwickelt.⁴⁵ Mogk hat mit diesem Modell wenig Resonanz gefunden, wohl vor allem wegen seiner Quellenferne. Heute ist es nur noch von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse: Es belegt den großen Einfluss der skandinavischen religionsgeschichtlichen Forschung Anfang des 20. Jahrhunderts, und es zeigt exemplarisch, in welcher Weise die Leipziger Religionsgeschichte in die seinerzeit sehr aktuelle Debatte über die Entstehung von Religion eingespannt war. Hingegen hat Mogk überraschenderweise mit seiner Beurteilung von Snorri Sturlusons Mythographie eine heute aktuelle Forschungsposition vorweggenommen. 42 Vgl. Beck (1989), S. 37; Söderbloms Buch Gudstrons uppkomst von 1914 erschien 1916 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Das Werden des Gottesglaubens, 2. Auflage 1926. 43 Die deutsche Übersetzung von Ellen Hoffmeyer, seit 1937 bis zum heutigen Tag in 13 Auflagen publiziert, trägt den Titel Kultur und Religion der Germanen, der gegenüber dem Originaltitel in bezeichnender Weise verschoben ist. Zu der problematischen Rezeptionsgeschichte des Werks vgl. Behringer (1998). In der Folge wurde das Vorwort Otto Höflers in der 13. Auflage 2002 durch ein Vorwort von Heinrich Beck ersetzt. 44 Söderblom (1926), S. 66. 45 Mogk (1915–1916), S. 492.

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Außerdem gilt seine zuerst 1899 erschienene Geschichte der altwestnordischen Literatur⁴⁶ noch immer als nützliches Hilfsmittel, so dass man Eugen Mogk heute viel eher als Altnordisten kennt denn als Religionshistoriker. In den Kontext einer ganz anderen Debatte über germanische Religion, die seinerzeit aber ebenfalls höchst aktuell war, gehört knapp zwanzig Jahre später Walter Baetkes Berufung nach Leipzig. Ihre Hintergründe sind gut bekannt. 1935 wurde Baetke Nachfolger von Hans Haas (1868–1934) als Professor für Religionsgeschichte. Bis dahin war er hauptamtlich Schulleiter auf Rügen und ein wissenschaftlicher Außenseiter.⁴⁷ Seit den zwanziger Jahren jedoch hatte sich Baetke neben seiner pädagogischen Tätigkeit zunehmend mit der altnordischen Überlieferung auseinandergesetzt, von der er etliche Zeugnisse ins Deutsche übertrug.⁴⁸ Dabei hatte er sich zum Experten für die germanische Religion entwickelt, und insbesondere für die Christianisierung der Germanen. Eben dies war um 1930 ein ungemein brisantes Thema. Um seine Deutung konkurrierten nämlich die Anhänger verschiedener nationalsozialistischer Strömungen, darunter Alfred Rosenberg in seinem Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) sowie die Vertreter der sogenannten Deutschen Glaubensbewegung um den Tübinger Indologen und Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962). In Leipzig beteiligte sich an der Universität mit einer Dissertation Bernhard Kummer (1897–1962) an der oft außerordentlich polemisch geführten Debatte,⁴⁹ die im Grunde genommen der Rolle der Kirchen in der Gegenwart galt. Gegen diese spielten die Ideologen ein rassisch verklärtes Germanentum aus und verkündeten, dass mit dem völkischen Aufbruch ihrer Zeit endlich das Ende des Mittelalters erreicht sei und damit die Aussicht, die verderbliche Macht der katholischen Kirche zu beenden durch die Besinnung auf die rassischen Grundlagen des Germanentums. Die Germanenmission zog dabei deshalb Aufmerksamkeit auf sich, weil man annahm, dass durch sie die hochstehende ‚arteigene‘ Sittlichkeit der Germanen zerstört und durch eine zunehmende Sittenlosigkeit ersetzt worden sei. Diesen Prozess gedachte man nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten rückgängig zu machen. Freilich wurde die Hoffnung der Germanen- bzw. Deutschgläubigen, im ‚Dritten Reich‘ staatliche Anerkennung

46 Mogk (1904). 47 Rudolph / Heinrich (2001), S. 171. 48 Von Baetke stammen u. a. Übersetzungen der Hœnsa-Þóris saga, der Þorsteins saga hvíta, des Þorsteins þáttr stangarhöggs, der Eiríks saga rauða, der Víga-Glúms saga, der Fóstbræðra saga, der Hávarðar saga Ísfirðings, der Droplaugarsona saga, der Þórðar saga hreðu, der Hrafnkels saga Freysgóða, der Jómsvíkinga saga, der Orkneyinga saga, der Knýtlinga saga, der Íslendingabók und der Sturlunga saga; für genaue Nachweise s. Zernack (1997), Nrn. 14–36, 137, 141–142. 49 Kummer (1927).

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als ‚Dritte Konfession‘ zu erlangen, schnell enttäuscht. Die Kirchen nahmen mit einer Anzahl von Gegenschriften den Kampf gegen den nationalsozialistischen Antiklerikalismus auf und gegen die damit verbundene neuheidnische Verherrlichung germanischer Religiosität. Ebenso waren einige Theologische Fakultäten bestrebt, den Ansprüchen der Deutschgläubigen mit wissenschaftlichen Argumenten entgegenzutreten, wohl nicht zuletzt deshalb, weil viele Völkische, wie etwa Hauer und Kummer, gern im Namen der Wissenschaft sprachen.⁵⁰ Baetkes Berufung nach Leipzig muss man vor eben diesem Hintergrund betrachten: Er hatte sich seit Anfang der dreißiger Jahre als kompromissloser Kritiker der Deutschgläubigen einen Namen gemacht und sich nicht gescheut, als Redner öffentlich gegen die Deutsche Glaubensbewegung und die verstiegenen Thesen Rosenbergs und anderer aufzutreten. Dadurch war man zunächst an der Berliner Universität und dann in Greifswald und Leipzig auf ihn aufmerksam geworden. In seinem Lebenslauf schreibt er 1946: Auf Einladung der Theologischen Fakultät der Universität Berlin trat ich im Frühjahr 1933 auf großen Versammlungen in der Aula dieser Universität mehrfach als Redner gegen die ‚Deutsche Glaubensbewegung‘ und den nationalsozialistischen ‚Mythus‘ auf und veröffentlichte die dem gleichen Ziel dienende Broschüre ‚Arteigene germanische Religion und Christentum‘ […]. Der Umstand, dass der von der Partei entfesselte weltanschauliche Kampf es den Theologen als dringendes Bedürfnis erscheinen ließ einen Fachmann auf dem Gebiet der altgermanischen Religions- und Geistesgeschichte in ihren eigenen Reihen zu haben, führte dazu, dass die Theologische Fakultät von Berlin sich zunächst dafür einsetzte, dass ich einen Lehrauftrag für germanische Religionsgeschichte in der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald erhielt, was sie im Sommer 1934 auch durchsetzte, und dass ich von dort dann im folgenden Jahre auf den kürzlich freigewordenen Lehrstuhl für Religionsgeschichte in der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig berufen wurde.⁵¹

Tatsächlich geht Baetkes Kritik an der pseudowissenschaftlichen Argumentationsweise der Völkischen auch aus seinen Schriften jener Jahre hervor. So heißt es etwa 1934 in Art und Glaube der Germanen ganz unmissverständlich, dass Kummers stark idealisiertes Germanenbild „aller wissenschaftlichen Grundlagen“ entbehre.⁵² Bemerkenswert ist das unter anderem deshalb, weil Kummer diese Ansicht ja in seiner Leipziger Dissertation entwickelt hatte, und diese war von Mogk und Baetkes Vorgänger Haas positiv begutachtet worden. Darauf ist

50 Die Debatte ist kurz nachgezeichnet in Zernack (2004). Vgl. außerdem Heinrich (2002) und Heinrich (2008) sowie Horst Junginger, „Religionswissenschaft“, in: Elvert / Nielsen-Sikora (2008). 51 UAL PA 2925 (Baetke), S. 2. 52 Baetke (1934), S. 75.

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noch zurückzukommen. Baetke jedenfalls schien der Fakultät, die Schwierigkeiten hatte, den richtigen Nachfolger für Haas zu finden, einer der ganz wenigen zu sein, die in der Lage wären, die ideologischen Ansprüchen auf die germanische Religion mit wissenschaftlichen Argumenten zurückzuweisen. Das erklärt den eigentümlichen Umstand, dass mit Baetke ein Philologe als ordentlicher Professor in die Theologische Fakultät einzog. Dass das Ministerium sich damit einverstanden zeigte, ist mehr als erstaunlich, zumal Jakob Wilhelm Hauer durch eine Intrige versuchte, die Berufung seines Gegners zu hintertreiben. Er sah darin „eine ganz schwere Gefahr für die nationalsozialistische Weltanschauung und für das Dritte Reich“.⁵³ In der Tat nutzte Baetke jede Möglichkeit, die ideologische Verklärung des Germanenglaubens anzuprangern und vor deren Gefahren zu warnen. Das Regime beobachtete ihn argwöhnisch, und es scheint, als habe ihn nur dessen Zusammenbruch vor der Verhaftung bewahrt.⁵⁴ Es wäre verlockend, nun detailgenau Baetkes religionsgeschichtliche Position zu rekonstruieren und zu zeigen, wie sie sich im Laufe seiner Leipziger Jahre zu immer größerer Eigenständigkeit entwickelt hat. Freilich entspräche das kaum dem Gegenstand meines Aufsatzes, und es ist von kompetenteren Beobachtern der Religionswissenschaft längst eindrucksvoll vorgeführt worden.⁵⁵ Hier sollen statt dessen im folgenden noch zwei Aspekte wenigstens angesprochen werden, die wieder näher an das Thema der Leipziger Nordistik heranführen: Das ist zum einen die Position Bernhard Kummers und Baetkes Kritik an ihr als eine Art inner-Leipziger Konflikt und zum anderen Baetkes Leistung nicht als Religionswissenschaftler, sondern als Altnordist, der er ja nicht erst seit 1946 war. Wer Kummers demagogische Schriften kennt, der mag sich wundern, dass die Grundlegung seiner Ideologie eine Dissertation ist, betreut von zwei angesehenen Wissenschaftlern, an deren Seriosität kein Zweifel besteht, und veröffentlicht 1927 vom Forschungsinstitut für vergleichende Religionsgeschichte an der Universität Leipzig. Schon der Titel des Buches – Midgards Untergang – signalisiert, dass sich seine Botschaft vor allem auf die Gegenwart bezieht: Er spielt an auf Oskar Spenglers monumentale Kulturmorphologie vom Untergang des Abendlandes (1918–1922). Nur in zweiter Linie kommt es Kummer offenbar auf sein historisches Sujet an, jenen Germanischen Kult und Glauben in den letzten heidnischen Jahrhunderten, den erst der Untertitel erwähnt. Was Kummer nachweisen will, ist – kurz gesagt – die Überlegenheit des germanischen Heidentums über die christliche und die jüdische Religion. Dafür greift auch er auf Vilhelm Grønbech zurück und auf dessen schon erwähnte Darstellung Vor folkeæt i Old53 Zitiert nach Junginger (2008), S. 68f. 54 Rudolph / Heinrich (2001), S. 175. 55 Rudolph / Heinrich (2001).

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tiden (1909–1912). Darin hatte Grønbech den Germanen ein dualistisches Weltbild zugesprochen, in dem der friedvollen, beschützten Welt der Menschen – Midgard – das friedlose, lebensfeindliche Utgard gegenüberstehe, das Draußen der Riesen und der dämonischen Mächte. Nach Kummers kulturpessimistischer Auffassung konnte das sittlich unterlegene Christentum die eigentlich ideale Menschenwelt Midgard in der Bekehrung nur deshalb überwinden, weil diese durch den ständigen Ansturm der Utgard-Mächte bereits geschwächt war.⁵⁶ Das klingt wie der Plot eines Fantasy-Films, und es ist in der Tat viel Spekulation und Konstruktion in diesem Buch zu finden, von antikatholischen Ressentiments gar nicht zu reden. Ein Kuckucksei war die Dissertation dennoch nicht, oder nicht in jeder Hinsicht, denn sie enthält manche Anregung aus den religionsgeschichtlichen Arbeiten Mogks. Dazu gehört – außer der Offenheit für ethnologische Argumente – vor allem der Zweifel am Quellenwert der altisländischen mythologischen Überlieferung. So bezeichnet Kummer die „Edda“ – was immer er damit genau meint – in einer kuriosen Formulierung als ein „Danaergeschenk“ des Nordens an die Religionswissenschaft!⁵⁷ Diesem hält er die Isländersagas als geradezu ideale religionsgeschichtliche Zeugnisse entgegen. Das geht nur ohne die gebotene Quellenkritik: Er hält die Sagas für ein direktes Abbild spätheidnischen Lebens – „jede Saga ist ein Stück ganzen, lückenlosen Lebens“⁵⁸ – und übersieht dabei nicht nur ihre literarische Stilisierung. Er muss auch eine präzise historische Einordnung der Texte vermeiden, die ja erst im christlichen Hochmittelalter entstanden sind, lange nach den geschilderten Ereignissen. Genau diesen unkritischen Umgang mit den Quellen hat Walter Baetke im Sinn, wenn er moniert, dass hier die wissenschaftliche Grundlage fehlt. Es ist nicht ganz einfach, in seinen Schriften aus den dreißiger Jahren hinter dem zeittypischen Sprachgebrauch auf Anhieb den Gegenentwurf zur ideologischen Vereinnahmung der Zeugnisse zu erkennen. Doch mit Blick auf sein Gesamtwerk wird deutlich, dass Baetke stets und überall die nordischen Quellen gewissermaßen in Schutz nimmt: Er mahnt an, dass man ihnen gegenüber den religionsgeschichtlichen Gesichtspunkt nicht „überspannen“⁵⁹ dürfe, er bestreitet die Berechtigung, sie deduktiv mit religionsethnologischen Begriffen wie dem des Mana zu interpretieren oder kurzerhand mit volkskundlichem Material gleichzusetzen. Gerade daran wird im Gegensatz zu Mogk Baetkes Unabhängigkeit von den Forschungsmoden der Zeit deutlich. Vor allem aber pocht er auf die Notwendigkeit, den historischen Ort der Quellen genau zu bestimmen. Dafür 56 Kummer (1927), Kapitel II. 57 Ebd., S. 1. 58 Ebd., S. 8. 59 Baetke, (1934), S. 22.

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muss der Religionswissenschaftler Philologe sein: Systematisch geht Baetke im Laufe seines Wissenschaftlerlebens die altnordische Überlieferung durch, um ihre je historische Bedingtheit zu erkennen und herauszuarbeiten. Besonders wirkungsvoll ist ihm dies nach dem Zweiten Weltkrieg – als er bereits Professor für Nordische Philologie war – für die Íslendingasögur (Isländersagas) gelungen, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen. Die Isländersagas waren in der deutschen Forschung besonders lange eben jener unhistorischen Betrachtungsweise ausgesetzt, die sich auch bei Kummer beobachten lässt: Man interessierte sich insbesondere für die in den Sagas dargestellte Welt des 9. bis 11. Jahrhunderts und vernachlässigte die Tatsache, dass diese Welt eine retrospektive Konstruktion des 13. Jahrhunderts ist, vor dessen Hintergrund die Sagas historisch zu stellen sind. Gerade diesen Aspekt hob nun Baetke im Anschluss an die sogenannte isländische Schule der Sagaforschung hervor.⁶⁰ Damit relativierte er nicht nur den religionsgeschichtlichen Erkenntniswert dieser Zeugnisse, sondern er eröffnete zugleich auch einen veränderten Zugang zu ihnen: den der literaturwissenschaftlichen Sagakritik, die seine Schüler – Rolf Heller und Ernst Walter – in vielen Untersuchungen ausgebaut haben.⁶¹ Inzwischen ist dieser Ansatz der altnordistischen Forschung – auch der deutschen – derart zur Selbstverständlichkeit geworden,⁶² dass man sich Walter Baetkes quellenkritische Anstrengungen erst wieder vergegenwärtigen muss. Noch ganz präsent sind diese hingegen bis heute jedem Skandinavistikstudenten in Gestalt von Baetkes Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur. Es erschien zuerst 1965–1968, ist noch immer auf dem Buchmarkt zu haben und kann als Faksimile jederzeit online benutzt werden.⁶³ Ursprünglich begonnen als Hilfsmittel für den internen Gebrauch in der Leipziger Nordistik – Fachliteratur aus dem Ausland war in der DDR schwer zu bekommen – wuchs es sich über die Jahre zu einem Wörterbuch-Unternehmen aus, für das 1952 eine eigene Arbeitsstelle unter der Leitung von Rolf Heller an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften eingerichtet werden konnte. Sicherlich ist das Wörterbuch, das Baetke erst spät in seiner aktiven Zeit in Angriff nahm, ein Hilfsmittel, um die Quellen besser erschließen zu können, und so völlig konsequent aus dem für Baetke charakteristischen Ansatz hervorgegangen. Man kann es aber auch in die Tradition der Leip-

60 Von Baetkes Schriften ist hier v. a. zu nennen: Über die Entstehung der Isländersagas (1956). Vgl. außerdem Nordal (1953) sowie die Einleitungen zu den Textausgaben der Buchreihe Íslenzk fornrit. 61 Etwa Walter (1952), Walter (1956), Heller (1958), Heller (1960), Heller (1976). 62 Vgl. für den heutigen Forschungsstand z. B. Vésteinn Ólason (1998). 63 http://emedien.ub.uni-greifswald.de/ebooks/altnord-wb/baetke_digital.pdf/ (5. März 2010).

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ziger Nordistik stellen, denn es ersetzt Theodor Möbius’ Altnordisches Glossar von 1866.

4. Schlussbemerkung Hundert Jahre Nordistik in Leipzig lassen sich in einem kurzen Aufsatz nicht erschöpfend resümieren. Wichtige Gesichtspunkte wie die Situation der Studierenden und der Doktoranden oder die Rolle der Sprachlektoren konnten hier nicht behandelt werden, auch weil sie zum Teil quellenmäßig schwierig zu erschließen sind. Eine sehr viel gründlichere Untersuchung, als sie hier möglich war, hätten zudem die Versuche politischer Einflussnahme auf die Forschung verdient, die in Leipzig wiederholt zu beobachten sind. Dies betrifft in besonderer Weise die Tätigkeit und das Werk Walter Baetkes, das im politischen Kontext zweier totalitärer Systeme entstanden ist. Beide Systeme erhoben nicht nur ideologische Ansprüche auf die Wissenschaft (und dabei nicht zuletzt auf die Religionswissenschaft),⁶⁴ sie reglementierten zudem die internationalen Kontakte der Wissenschaftler und behinderten damit deren Teilnahme an aktuellen Forschungsdiskussionen, aber auch den Zugang zu Fachliteratur und Quellen. Gern wüßte man zudem Genaueres über die materiellen Ressourcen, die den Forschern zur Verfügung standen; den Akten des Universitätsarchivs lässt sich – wenngleich eher zwischen den Zeilen – entnehmen, daß die Lage vor allem in der DDR prekär gewesen sein muß. Nimmt man die fast immer schwierige Nachwuchssituation und die problematische Stellenpolitik der Fakultät in den Jahren der Weimarer Republik und des Dritten Reiches hinzu sowie die für Leipzig folgenschwere Entscheidung der DDR, die Nordistik in Greifswald zu konzentrieren, dann wird man – jedenfalls vorläufig – das Fazit ziehen können: Von welcher Seite und zu welcher Zeit man sich der Leipziger Nordistik auch nähert, überall sieht man die Zeichen institutioneller Gefährdung. Die wissenschaftliche Produktivität hat das erstaunlich wenig beeinträchtigt.

64 Darauf machen nachdrücklich schon Rudolph / Heinrich (2001) aufmerksam.

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Literatur Baetke (1934): Walter Baetke, Art und Glaube der Germanen, Hamburg 1934. Baetke (1937): Walter Baetke, Die Religion der Germanen in Quellenzeugnissen, Frankfurt/M. 1937. Baetke (1956): Walter Baetke, Über die Entstehung der Isländersagas, Berlin 1956 (Berichte über die Verhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 102, Heft 5). Baetke (1965–1968): Walter Baetke, Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, 2 Bde., Berlin 1965–1968. Baetke (1973): Walter Baetke, „Die Götterlieder der Edda und ihre Deutungen“ (1939), in: ders., Kleine Schriften. Geschichte, Recht und Religion in germanischem Schrifttum. Hrsg. von Kurt Rudolph und Ernst Walter, Weimar 1973, S. 195–205. Beck (1989): Heinrich Beck, „Andreas Heusler und die zeitgenössischen religionsgeschichtlichen Interpretationen des Germanentums“, in: Ernst Walter / Hartmut Mittelstädt (Hrsg.), Altnordistik. Vielfalt und Einheit. Erinnerungsband für Walter Baetke (1884–1978), Weimar 1989, S. 33–45. Behringer (1998): Wolfgang Behringer, „Das ‚Ahnenenerbe‘ der Buchgesellschaft. Zum Neudruck einer Germanen-Edition des NS-Ideologen Otto Höfler“, in: Sowi 27 (1998), S. 283–289. Codrington (1981): Rorber Henry Codrington, The Melanesians, Oxford 1891. Doepler / Ranisch (1900): Carl Emil Doepler / Wilhelm Ranisch, Walhall. Die Götterwelt der Germanen, Berlin 1900. Dusse (2005): Debora Dusse, „Andreas Heusler und die germanische Religionsgeschichte“, in: Glauser / Zernack (2005), S. 146–162. Elvert / Nielsen-Sikora (2008): Jürgen Elvert / Jürgen Nielsen-Sikora (Hrsg.), Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus, Stuttgart 2008 (Historische Mitteilungen im Auftrage der Ranke-Gesellschaft 72). Erklärung zur Aberkennung akademischer Titel: http://ns-zeit.geschichte.hu-berlin.de/site/ lang_de-DE/mid_11608/ModeID_0/PageID_567/4122/default.aspx (Stand: 27.02.2010). Friedländer (2007): Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 3. Aufl., München 2007. Friese (1993): Wilhelm Friese, „75 Jahre Nordisches Institut der Universität Greifswald“, in: skandinavistik 23 (1993), S. 110–127. Glauser / Zernack (2005): Jürg Glauser / Julia Zernack (Hrsg.), Germanentum im Fin de siècle. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum Werk Andreas Heuslers, Basel 2005 (Geschichte der Wissenschaften in Basel 3). Grønbech (1909–1912): Vilhelm Grønbech, Vor folkeæt i Oldtiden, Kopenhagen 1909–1912. Grønbech (2002), Vilhelm Grønbech, Kultur und Religion der Germanen, 2 Bde., 13., mit einem Vorwort von Heinrich Beck versehene Auflage, Darmstadt 2002. Heinrich (2002): Fritz Heinrich, Die deutsche Religionswissenschaft und der Nationalsozialismus, Petersberg 2002. Heinrich (2008): Fritz Heinrich, „Bernhard Kummer (1897–1962). The Study of Religions between Religious Devotion for the Ancient Germans, Political Agitation, and Academic Habitus“, in: Horst Junginger (Hrsg.), The Study of Religion under the Impact of Fascism, Leiden, Boston 2008, S. 229–262. Heller (1958): Rolf Heller, Die literarische Darstellung der Frau in den Isländersgas, Leipzig 1958 (Saga 2).

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 Julia Zernack

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Die Leipziger Nordistik 

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Jan Goossens

Die Leipziger Niederlandistik Der Anfang der Leipziger Niederlandistik fällt ungefähr mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zusammen, doch hat es ein kleines Vorspiel gegeben. Im Studienjahr 1909/10 wurden von den Lektoren Joseph Dupont und Charles van Gorp Mittelund Neuniederländische Übungen abgehalten, vom ersten im Wintersemester, vom zweiten im Sommersemester. Von den beiden jungen Flamen, die in Leuven studiert hatten, wird van Gorp im Vorlesungsverzeichnis dr. phil., Dupont aber cand. phil. genannt. Das vierjährige Studium der germanischen Philologie wurde damals in Belgien mit einer Dissertation abgeschlossen, die zur Promotion führte. Dupont und van Gorp gehörten zum selben Jahrgang und beendeten beide ihr Studium 1907, van Gorp mit, Dupont zunächst ohne Promotion. Sein Dissertationsthema war die Mundart seines Heimatortes Bree. Es kam erst während seines Aufenthalts als Student und Lektor in Leipzig zu einem abenteuerlichen Abschluss.¹ Ein beträchtlicher Teil dieser Dissertation ist zwischen 1910 und 1922 in den Leuvense Bijdragen erschienen. Weit überdurchschnittliche sprachhistorische Kenntnisse, feine Beobachtungen, aber auch eine ziemlich ungezügelte Phantasie kämpfen in dieser Arbeit dauernd um den Vorrang. In seinem Vorwort dankt der Autor den Leipziger Professoren Sievers, der „die Güte hatte, alle Laute der Mundart mit ihm zu besprechen“, und Hirt, der ihm „eine Anzahl wichtiger Informationen über die Akzente“ besorgte.² Die Mundart von Bree hat nämlich teil an der rheinisch-limburgischen Akzentuierung. Dupont hat sich später im Bereich der Parämiologie einen Namen erworben, indem er für Sprichwörter und Redensarten, deren etymologischer Wortsinn – im Gegensatz zu ihrer aktuellen Bedeutung – undurchsichtig ist, ein geistreiches Verkettungssystem von Homonymen und Synonymen ausarbeitete.³ Darauf kann hier aber nicht eingegangen werden. Wissenschaft war für den Gymnasiallehrer Dupont eine mit Leidenschaft betriebene geistreiche Freizeitbeschäftigung. Sein Altersgenosse van Gorp scheint dagegen in der Lehrerlaufbahn völlige Befriedigung gefunden zu haben. In ihrem Bericht über die Leipziger Niederlandistik schreibt Helga Hipp 1992: „Die Initiative zur Institutionalisierung des Niederländischen war von den beiden germanistischen Ordinarien Eduard Siewers (sic) und Albert Köster aus1 Zunächst wurde die Annahme verweigert, aber nachher promovierte Dupont mit Auszeichnung. 2 Dupont (1910), S. 194. 3 Sein Freund J. L. Pauwels schrieb 1961 über Dupont einen von Respekt und Sympathie zeugenden Lebensbericht, in dem er dessen Theorie der homonymisch-synonymischen Bindeglieder (le chaînon sémantique ternaire) mit einfachen Beispielen erläuterte (Pauwels (1961)).

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gegangen. Ihrem Antrag auf ‚Erneuerung des ehemaligen Lektorats für Vlämisch‘ hatte die Philosophische Fakultät im Januar 1916 zugestimmt.“⁴ Anderthalb Jahre später, am 9. Juli 1917, beantragte die Fakultät beim Kultusministerium in Dresden die Umwandlung dieses Lektorats „in ein etatmäßiges Extra-Ordinariat“ und die Besetzung dieser Stelle mit Dr. André Jolles.⁵ Was war inzwischen geschehen? Wir wissen, dass Köster befreundet war mit Anton Kippenberg, dem Direktor des Leipziger Insel-Verlags, der bei ihm promoviert worden war. Das Germanistische Institut erhielt regelmäßig Bücherschenkungen von Kippenberg. Dieser war im Ersten Weltkrieg Hauptmann bei der deutschen Besatzungsmacht in Belgien. Er leitete dort die Geheime Armee-Druckerei und war Herausgeber der Kriegszeitung der 4. Armee. Er besuchte in Gent die Montagabend-Zusammenkünfte einiger deutscher Akademiker, zu denen auch André Jolles und der Pädagoge und Philosoph Hermann Nohl, der nach dem Krieg Professor in Göttingen wurde, gehörten. Jolles und Nohl hatten sich Anfang 1917 in Gent kennengelernt.⁶ In einem Brief an seine Frau vom 27.11.1917 schrieb Nohl: „Er [Jolles] hat also die Berufung an d. Universität Leipzig für fläm. Lit & Kultur richtig bekommen, die wir uns – Kippenberg, ich & Jolles – an einem solchen Montag Abend ausgedacht hatten […].“⁷ Diese Zusammenkünfte fanden ab März 1917 statt. Kippenberg hat sich nach dem erwähnten Genter Gespräch mit Nohl und Jolles offenbar für letzteren engagiert. Er hatte ein deutliches Interesse daran, dass ein Kenner der niederländischen Literatur in seiner Leipziger Umgebung als Ansprechpartner fungierte, denn bereits ab 1915 „machte er sich sehr schnell daran, in großem Umfang flämische Literatur in seinem Verlag zu publizieren […]. Bekannteste Produkte sind sicher die Bände der ‚Flämischen Reihe‘ der Insel-Bücherei, jener ungeheuer populären, noch heute unzählige Sammler anziehenden Reihe.“⁸ Dass er als Verleger sich nicht scheute, beim Kultusministerium in Dresden in Ernennungsangelegenheiten zu intervenieren, zeigt ein Brief, den er am 17. 5. 1923 an Oberregierungsrat Ulich schrieb, in dem er vorschlug, die Lehrbefugnis des inzwischen schon fast fünf Jahre in Leipzig amtierenden Jolles von Niederländisch auf vergleichende Literatur zu erweitern, übrigens mit Erfolg. In demselben Brief erinnert er daran, dass er „vor Jahren“ angeregt habe, Jolles nach Leipzig zu berufen.⁹ Dieser André Jolles war mit Sicherheit keine graue Maus. 1874 im nordholländischen Den Helder in einer wohlhabenden Familie geboren, beendete er sein

4 Hipp (1992), S. 235. 5 Vgl. Thys (2000), Brief 0542. 6 Ebd., Brief 0523. 7 Ebd., Brief 0558. 8 Eickmans (2008), S. 42. 9 Vgl. Thys (2000), Brief 0786.

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Gymnasium nicht. Er hatte schon früh Umgang mit Literaten und anderen Künstlern, dichtete selbst und schrieb Theaterstücke sowie Artikel für Zeitungen und Zeitschriften über alle denkbaren Themen, mit Schwerpunkten bei der Literatur und der bildenden Kunst. Er reiste viel, heiratete 1900 die Tochter des Hamburger Oberbürgermeisters Mönckeberg, lebte mit seiner Frau zunächst in Florenz und zog dann 1902 um nach Freiburg i. Br. Hier fing er endlich an, ordentlich zu studieren, und zwar Kunstgeschichte und Archäologie. 1905 promovierte er mit einer Dissertation über Vitruvs Aesthetik. Da er kein Abitur gemacht hatte, hatte er mit Empfehlung seines Doktorvaters Otto Puchstein mehrere gedruckte Aufsätze eingereicht, die von der Fakultät als Äquivalent akzeptiert worden waren.¹⁰ Weniger als anderthalb Jahr später, am 22. 1. 1907, habilitierte er sich mit einer Arbeit über Die ägyptisch-mykenischen Prunkgefäße und erhielt die venia legendi „für das Fach der allgemeinen Kunstgeschichte [einschließlich der altorientalischen und klassisch antiken Kunst]“. 1908 folgte er seinem nach Berlin berufenen Lehrer Puchstein. Am 23.10.1909 fand dort an der Friedrich-Wilhelms-Universität mit einer Antrittsvorlesung Die Kunst des Neuen Reiches in Ägypten seine Umhabilitierung statt. Seine Venia lautete auf „Vorgeschichtlich griechische, ägyptische und altorientalische Kunstgeschichte“. Neben seinen Aufgaben als Privatdozent erfüllte er allerlei Aufträge im Theaterwesen, in Museen und Ausstellungen. Ende 1913 verzichtete er auf seine venia legendi. Bei Kriegsausbruch August 1914 meldete er sich als Freiwilliger und beantragte die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Eingebürgerte wurde an die Front in Nordfrankreich geschickt. Als er 1916 von dort nach Belgien kam, war er Leutnant der Landwehr. Am 28. 8. 1916 wurde er zum Ordinarius für Archäologie und Kunstgeschichte an der im Rahmen der deutschen Flamenpolitik neugegründeten flämischen Universität Gent (der sogenannten von Bissing-Universität) ernannt. Diese Hochschule mit niederländischer Unterrichtssprache ersetzte die vom Besatzer abgeschaffte Universität mit französischer Unterrichtssprache. Doch wurde – wie wir gesehen haben – schon bald für die Zeit nach dem Krieg vorgesorgt. Das war vernünftig, denn nach Kriegsende wurde die flämische Hochschule sofort abgeschafft, und Jolles wurde am 30. 7. 1920 von einem belgischen Schwurgericht in Abwesenheit zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Die Ernennung von Jolles zum etatmäßigen außerordentlichen Professor für flämische und nordniederländische Sprache und Literatur mit der Einrichtung einer flämischen Abteilung des Germanistischen Instituts in Leipzig galt ab dem 1. 4. 1919,¹¹ doch durfte er seine Lehrtätigkeit schon ab dem 30.10.1918 aufneh-

10 Vgl. ebd., Brief 0319. 11 Vgl. ebd., Briefe 0617 und 0674.

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men.¹² Zwischen Mai 1918 und diesem Tag ist er kaum noch in Gent gewesen. In dieser turbulenten Zeit lässt er sich von seiner Frau scheiden und heiratet seine Schülerin Grittli Boecklen. Seine Zeit als Professor in Leipzig ist im Vergleich zum vorherigen Lebensabschnitt relativ eintönig verlaufen. Er fühlte sich bald mit seinen niederlandistischen Aufgaben nicht ausgelastet und spezialisierte sich im neuen Arbeitsgebiet der vergleichenden Literaturgeschichte. Wie gesagt, versuchte er (über Kippenberg) 1923 eine Erweiterung seiner Venia zu bekommen. Die Fakultät hat dem nur mehr oder weniger widerwillig zugestimmt. Sie bestand darauf, „dass der Schwerpunkt der akademischen Tätigkeit des Herrn Jolles nach wie vor in einer umfassenden Behandlung der flämisch-niederländischen Sprache und Literatur liegt.“¹³ Ein neues wichtiges Ereignis war im Juli 1927 die Berufung von Theodor Frings auf den germanistischen Lehrstuhl von Sievers, den nach dessen Emeritierung Friedrich Neumann für kürzere Zeit innehatte. Frings, der in der Nähe der niederländischen Grenze aufgewachsen war und in den vorangehenden Jahren intensive Forschungen zu den Dialekten beiderseits dieser Grenze betrieben und weiter 1918 eine Schrift Über die neuere flämische Literatur veröffentlicht hatte, war natürlich daran interessiert, im Rahmen seiner germanistischen Aufgaben auch weiterhin Niederlandistik zu betreiben. Ab 1930 haben Jolles und Frings gemeinsam Seminare über niederländische Literatur des Mittelalters und auch des 17. Jahrhunderts veranstaltet. Sie wurden unter ‚Niederländisch‘ als Hauptseminar und unter ‚Deutsch‘ als Oberseminar angekündigt. Sie fanden bis 1940–41 in der Regel im Wintersemester, nachher sowohl im Sommersemester als auch im Wintersemester statt. In der ersten Phase wurde jedes Mal ein konkretes Literaturdenkmal behandelt. In der zweiten ist im Vorlesungsverzeichnis einfach von „Mittelniederländischen Übungen“ oder noch einfacher von „Mittelniederländisch“ die Rede. Veröffentlichungen aus der Feder von Jolles haben diese Veranstaltungen nicht hervorgebracht, wohl aber eine aus der Feder von Frings, der im Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 60 (1941) auf S. 93–109 eine weit ausholende Besprechung der zweiten Auflage von Mullers Ausgabe des Van den vos Reynaerde veröffentlichte. Im Oktober 1939 erreichte Jolles das Rentenalter. Da kein sofort geeigneter Nachfolger zur Verfügung stand, wurde er zunächst für zwei Semester, dann „bis nach Kriegsende“ mit der Verwaltung seiner Professur beauftragt. Ab Sommersemester 1937 und ebenfalls bis nach Kriegsende leitete er das Programm ‚Deutsch für Ausländer‘.

12 Vgl. ebd., Brief 0626. 13 Ebd., Brief 0791.

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Am 1. 5. 1933 war Jolles NSDAP-Mitglied geworden. Er bekam vom Reichssicherheitshauptamt (vermutlich 1937) den Auftrag, ein Buch über die Geschichte der Freimaurerei zu schreiben. Er hat es vollendet, aber der Satz ging bei einem Bombenangriff auf Berlin im Dezember 1944 verloren. Die erhaltenen Korrekturbogen verdeutlichen, dass es um eine historische Arbeit und nicht um ein Pamphlet ging. Nach der Besetzung von Leipzig durch die Amerikaner musste er im Mai 1945 Fragebögen über seine NS-Vergangenheit ausfüllen, wurde aber nicht verhaftet, weil er zu alt war. Bereits am 1. 7. 1945 wurde Ludwig Erich Schmitt zu seinem Nachfolger ernannt. Am 22. 2. 1946 starb Jolles in Leipzig, wie man vermutet durch Selbsttötung. Das wird aber von seinem Biographen Walter Thys bezweifelt. Die niederlandistischen Lehrveranstaltungen von Jolles enthielten Spracherwerbsstunden, Grammatik und Texterklärung, mittelniederländische Sprache und Literatur, auch Literatur des 17. Jahrhunderts und der nachfolgenden Zeit, aber nicht des 20. Jahrhunderts. Daneben gehörten niederländische Kunst und Kultur zu seinem Angebot, wiederholt in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit bekannten Kollegen wie Gunther Ipsen, Fritz Karg und Wolfgang Kayser. Neben der Niederlandistik war natürlich die allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft gut vertreten. Jolles scheint, wenigstens in den ersten Jahren, ein begeisternder Lehrer gewesen zu sein. Elisabeth Karg-Gasterstädt formuliert den Eindruck, den er auf sie machte, folgendermaßen: Es mag noch im Oktober [1918] gewesen sein, daß er zum erstenmal mit dem ihm eigenen raschen Schritt im Institut auf mich zukam. Mit ihm, dem geistvollen, weltoffenen Mann, der in allen Literaturen beheimatet war und es liebte, seine Meinungen eigenwillig, oft paradox vorzubringen, zog ein neues Element bei uns ein. Es ist sehr viel Anregung und Auflockerung von ihm ausgegangen, aber es war gut, wenn die Studenten nicht zu früh in seine Schule kamen und verleitet wurden, zu wagen, was nur von einer festen und gesicherten Grundlage aus gewagt werden darf.¹⁴

Die niederlandistischen Veröffentlichungen aus seiner Leipziger Zeit sind wenig zahlreich und eher essayistischer Natur; sie enthalten daneben auch einige Rezensionen. Dagegen hat Jolles seine bedeutendsten Arbeiten im Bereich der allgemeinen Literaturwissenschaft in Leipzig geschrieben. Ich nenne nur die beiden Bücher Bezieling en vorm von 1923 und Einfache Formen von 1930. Das erste ist eigentlich eine (auf Niederländisch geschriebene) Aufsatzsammlung, die deutlich auf dem Weg zum zweiten Buch zustande gekommen ist, denn literarische Formen spielen hier schon eine wichtige Rolle. Das zweite ist ein Klassiker

14 Karg-Gasterstädt (1958/59), S. 636.

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des vergleichenden Literaturstudiums geworden, vornehmlich erst nach Jolles’ Tod, mit zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen in verschiedene Sprachen. In beiden Büchern sucht man vergebens nach niederländischen Kasus oder niederländischem Illustrationsmaterial. Zur Abrundung muss noch ein Wort über das Verhältnis von Jolles zu Frings gesagt werden. In seinem Bericht über die Leipziger Niederlandistik-Tagung von 1969 schrieb Willem Pée, dass Jolles zusammen mit Fritz Karg versuchte, Frings „de voet te lichten, waarin hij echter niet slaagde.“¹⁵ Hipp, die auf Pée verweist, drückt sich aber viel vorsichtiger aus: „Wie sich das Zusammenspiel von Frings und Jolles für die Niederlandistik vollzog, ist kaum zu rekonstruieren.“¹⁶ Ich will es trotzdem aufgrund der von Thys edierten Briefsammlung kurz versuchen. Am 3. 2. 1928 stattete Frings mit seiner Frau dem Ehepaar Jolles einen Höflichkeitsbesuch ab. Der neuernannte Germanist wird von Jolles in einem Brief an seine Tochter Jeltje wie folgt charakterisiert: Vorgestern waren Herr u. Frau Frings, die Nachfolger der Neumanns zum ersten Male bei uns – ich fange an ihn sehr gerne zu mögen. Er ist ganz anders als Neumann, weniger robust, weniger gährend – aber er hat gute Seiten, greift in seiner Weise äusserst sicher in die Wissenschaft ein, weiss dass wir ganz am Anfang unserer Aufgaben stehen, und ist in keiner Weise beschränkt – ich freue mich, dass wir ihn hierher bekommen haben. Auch hat er einen prächtigen Rheingeruch an sich […].¹⁷

Am 8.11.1930 wurde aus Anlass des vermeintlichen 25-jährigen Dozentenjubiläums – 1905 fand nicht die Habilitation, sondern die Promotion von Jolles statt – im Institut eine kleine Feier abgehalten. Bei der Gelegenheit überreichte Frings Jolles einen Blumenstrauß.¹⁸ Später spürt man aber Distanz bei der Entscheidung 1937, dem NS-Mann und Antisemiten Adolf Bartels den Ehrendoktor zu verleihen. Der Vorschlag wurde bei der Fakultät von Jolles und Alfred Hübner eingereicht. Es wurden fünf Referenten bestellt: die beiden genannten und weiter Frings, Hermann Junker und Hermann August Korff. Es war offenbar nicht leicht, sich dieser Aufgabe zu entziehen. Immerhin notierte der Protokollant der Sitzung vom 10.11.1937, dass Korff und Frings „gegen eine Ehrenpromotion von Adolf Bartels keine anderen Bedenken als das eine [hatten], dass z. Zt. Ernennungen von Inländern als Ehrendoktoren gesperrt sind.“ Jolles setzte sich aber durch, und Junker und Korff schlossen sich dann seinem Urteil an.¹⁹ Offenbar hat als einziger Frings

15 Pée (1970), S. 97. 16 Hipp (1992), S. 238. 17 Thys (2000), Brief 1045. 18 Vgl. ebd., Brief 1206. 19 Vgl. ebd., Brief 1402.

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das nicht getan. Am 16. 8. 1944 erbat der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung von Korff eine gutachterliche Stellungnahme zur Verleihung der Goethe-Medaille an Jolles. Korff beantwortete in einem Telegramm vom 21. 8. 1944 die Anfrage lobend-positiv, hob die „speziellen niederländischen Leistungen“ von Jolles hervor und beendete seinen Text mit: „Genauere Auskunft Professor Frings“. Es ist m. E. undeutlich, ob hieraus Schlüsse im Hinblick auf das Verhältnis zwischen beiden am Tage der Räumung von Paris durch General von Choltitz gezogen werden dürfen. Etwas später, im Herbst 1944 floh der bekannte niederländische Altgermanist Jan de Vries, der mit der deutschen Besatzungsmacht kollaboriert hatte, nach Deutschland. In Leipzig besorgte Frings ihm eine Pension. Durch den Weggang von Hans Kuhn nach Berlin hatte Leipzig keinen Nordisten mehr. Jolles hielt de Vries für einen geeigneten Nachfolger. In einem Brief vom 7.12.1944 an Friedrich Neumann in Göttingen schrieb er, dies sei „eine gute Gelegenheit gewesen, ihn hier sofort festzuhalten. Das war aber nicht Fringsens Sache.“ Es folgt der gehässige Satz: „Sie wissen, wie er sich mit Vorliebe mit subalternen Kräften umgibt und einen instinktiven Widerwillen dagegen hat, bedeutende Menschen in seiner Umgebung zu sehen.“ Frings habe nach Jolles gegen eine Ernennung von de Vries plädiert, obwohl Jolles zugeben musste, dass Frings de Vries einen Auftrag von der Forschungsgemeinschaft besorgt hatte. Aber: „Dass Leipzig ihn [de Vries] ziehen lässt, ist eine von jenen professörlichen Dummheiten, die schlimmer als Verbrechen sind“, schreibt Jolles in seinem Versuch, den Flüchtling in Göttingen unterbringen zu lassen.²⁰ Am Ende des Krieges scheint das Verhältnis also sehr unschön geworden zu sein. Doch finden sich in den Vorlesungsverzeichnissen des Wintersemesters 1944–1945 und sogar des Sommersemesters 1945 noch gemeinsame Lehrveranstaltungen von Frings und Jolles, nämlich Seminare über Mittelniederländisch. Mein Eindruck ist, dass in der vorangehenden Zeit, wo es immer gefährlicher geworden war, offen seine Meinung zu sagen, wenigstens unterschwellige Aversionen zwischen beiden schon längst vorhanden waren. Nachfolger von Jolles wurde, wie gesagt, Ludwig Erich Schmitt. Schon als 1938 wegen der Erreichung der Altersgrenze durch Jolles die Wiederbesetzung der Stelle anstand, plädierte Frings „für die Kandidatur seines Assistenten Dr. [Ludwig Erich] Schmitt, der sich demnächst habilitieren werde und auf ein Jahr nach Amsterdam geschickt werden könne, um später für die Professur in Frage zu kommen“.²¹ Statt Amsterdam wurde es dann Groningen. Verschiedene Autoren

20 Ebd., Brief 1456. 21 Hipp (1992), S. 240.

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meinen, Schmitt sei dann von 1939 bis 1943²² oder von 1941 bis 1943²³ in Groningen gewesen. Doch sind diese Aussagen aufgrund von Dokumenten, die mir 1983 von Schmitt selbst zur Verfügung gestellt worden sind, zu berichtigen. Er hat sich in diesen fünf Jahren zweimal höchstens ein halbes Jahr an der Universität Groningen aufgehalten: einmal von Januar 1939 bis zum Sommer vor Kriegsausbruch als Assistent am germanistischen Lehrstuhl von Kapteyn und ein zweites Mal als ordentlicher Professor für „Altgermanische Philologie, Deutsche Sprachwissenschaft in vollem Umfang und Germanische Volkskunde“ von Ende November 1941 bis zum 11. 6. 1942, als er manu militari nach Deutschland zurückgeführt wurde. Obwohl bei weitem nicht alles deutlich ist, lässt sich der Gang der Dinge grob wie folgt rekonstruieren. Frings bewirkte 1938 eine Anstellung von Schmitt für zwei Jahre als Assistent bei seinem Freund Kapteyn in Groningen. Das niederländische Unterrichtsministerium stimmte am 19. 8. 1938 zu und versprach eine bescheidene Besoldung. Schmitt trat die Stelle Neujahr 1939 an, war dann aber in den Sommerferien bei seiner Familie in Leipzig. Am 1. 9. 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Schmitt kehrte zunächst nicht nach Groningen zurück, obwohl der derzeitige Dekan Kapteyn ihm am 22. 9. 1939 mitteilte, er sei wieder willkommen. Der Grund für seinen verlängerten Aufenthalt in Deutschland scheint mir nicht so sehr, dass er zunächst keine Ausreisegenehmigung bekam, sondern vielmehr, dass durch die politischen Spannungen, die dann am 1. 5. 1940 zum deutschen Überfall auf die Niederlande führten, die Lage für ihn viel zu unsicher geworden war. Probleme bei der Wohnungssuche kamen hinzu. Kapteyn bewirkte in der Folgezeit, dass Schmitt sein Nachfolger auf dem nichtfriesischen Teil seines Lehrstuhls wurde. Am 8. 8. 1941 erschienen in niederländischen Zeitungen Berichte über Schmitts Ernennung zum Ordinarius in Groningen mit der genannten weitläufigen Lehrbefugnis „ab dem Tag, an dem er sein Amt aufnehmen wird“. Schmitt teilte den Kuratoren der Universität am 5. 9. 1941 mit, er sei verpflichtet, zunächst seiner „vorgesetzten Behörde, dem Reichserziehungsministerium in Berlin, Mitteilung zu machen.“ Erst danach könne er seinerseits weitere Schritte unternehmen. Die Genehmigung, die ihm das Ministerium am 9.10.1941 erteilte, glich eher einem strammen Marschbefehl: „Ich […] ersuche Sie, Ihr neues Amt sofort anzutreten“ [Unterstreichung im Brief des Ministeriums, gezeichnet Harmjanz]. Was in den darauffolgenden Monaten geschehen ist, bleibt ziemlich dunkel. Schmitt hat wohl versucht, zu seiner Absicherung die niederländische Staatsangehörigkeit zu bekommen, was ihm von offizieller deutscher Seite übelgenommen wurde. Am 11. 6. 1942 wurde er dann von zwei SS-Leuten von Groningen ins SS-Sicher-

22 So Polenz / Munske (1988), S. XIII, Hipp (1992), S. 240, Thys (2000), S. 912. 23 Vgl. Hinskens (2002), S. 75.

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heitshauptamt in Berlin gebracht und aufgefordert, eine Erklärung an die Universität Groningen zu unterschreiben, in der er auf seine Professur verzichtete. Er weigerte sich, wurde drei Tage festgehalten und dann nach Leipzig geschickt, wo er sich wöchentlich bei der Polizei melden musste. Dort auch erhielt er ein Schreiben des Reichswissenschaftsministeriums vom 24. 7. 1942, in dem die Aufforderung wiederholt wurde. Schmitt verfasste eine Verteidigungsschrift, in der er auch auf mündlich geäußerte Beschuldigungen einging. Ich zitiere daraus ein paar Sätze, die zum Verständnis der Ereignisse beitragen: „Ich habe zunächst zugesagt, nach Groningen zu kommen, dann wieder abgesagt. Ich wisse nicht, was ich wolle. Weiter sei ich nicht zum Anfang des Vorlesungsbetriebes Ende September erschienen, sondern erst Monate später. Dies Verhalten hätte ich dann böswillig weiter fortgesetzt.“ Ein knappes Jahr später, am 17. 6. 1943, unterschrieb dann der Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete Seyss-Inquart höchstpersönlich die Entlassungsurkunde. Durch die Hilfe befreundeter Professoren konnte Schmitt ab Januar 1944 in Deutschland Aushilfe- und Vertretungsarbeiten übernehmen und seine Familie über Wasser halten. Schmitt ist kein Widerstandskämpfer gewesen, zumal er 1939, rückdatiert auf 1. 5. 1937 [nach eigener Aussage: um eine Ausreisegenehmigung zu erhalten] Parteimitglied geworden war. Man kann ihn aber ohne Bedenken ein Opfer unglücklicher Zeitumstände und des Naziregimes nennen. Was vor seiner ersten Abreise nach Groningen wie eine ideale Vorbereitung auf die künftige Leipziger Professur aussah, ist schließlich eine katastrophale Vorbereitung geworden. Schmitt, 1908 in Remscheid-Lennep geboren, aber in Dillenburg am Fuß des Schlossbergs aufgewachsen, hat sich durch eine Art ideeller Verbindung mit Wilhelm von Oranien schon als Kind für die Niederlande und das Niederländische interessiert. Nach einem Studium in Gießen und Berlin und ab Wintersemester 1930–31 in Leipzig promovierte er 1934 bei Frings mit einer Arbeit Die deutsche Urkundensprache in der Kanzlei Kaiser Karls IV., erschienen 1936. Er plante als Assistent am Lehrstuhl Frings mit diesem eine mehrbändige Geschichte der deutschen Sprache und arbeitete an einer Habilitationsschrift. Diese war bereits vor dem Krieg fertiggestellt, konnte aber erst zwischen seinen beiden Groninger Aufenthalten 1941 eingereicht werden. Nachdem ein Teil der Druckbogen in der Bombennacht vom 4.12.1943 und nachher der Stehsatz in Halle durch Demontage des Niemeyer-Verlags zerstört worden waren, erschien sie in erweiterter Form erst 1966 unter dem Titel Untersuchungen zur Entstehung und Struktur der „neuhochdeutschen Schriftsprache“, als erster Band einer Sprachgeschichte des Thüringisch-Obersächsischen im Spätmittelalter. Weitere Bände sind aber nicht erschienen. Man muss Schmitt aufgrund seiner beiden Bücher primär als Sprachhistoriker des Deutschen bezeichnen. Trotz seiner Liebe zum Niederländischen

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liegen – bis auf einen dialektologischen Aufsatz aus seiner Groninger Zeit²⁴ – keine eigentlich wissenschaftlichen niederländischen Veröffentlichungen vor. Bei Schmitts Antritt als Nachfolger von Jolles wurde die Bezeichnung der Professur geändert in „Deutsche und Niederländische Philologie“. Neben Schmitt gehörten als Oberassistentin Elisabeth Karg-Gasterstädt und als Assistentin Gabriele Schieb der Abteilung an. Schmitt hat aber wohl im Rahmen seiner Lehraufgaben das Fach Deutsch gewiss nicht vernachlässigt. Die Zahlen seiner niederländischen und seiner deutschen Lehrveranstaltungen halten sich ziemlich gut die Waage. Was zunächst fehlte, waren niederländische Spracherwerbsstunden. 1948 entstand dann ein sechssemestriger Studienplan für Niederländisch als Nebenfach. Der Dekan wies darauf hin, dass die niederlandistische Arbeit Schmitt allein zufiel und es an einem niederländischen Lektor mangelte. Der Student Gerhard Worgt erteilte dann ab 1949 als Hilfsassistent Sprachunterricht. Im Winter 1952–53 verließ Schmitt Leipzig und die DDR. Er begründete diesen Schritt im Vorwort seiner gedruckten Habilitationsschrift auf S. XXIV wie folgt: „Fast völlige Absperrung vom Westen und dem gesamten Ausland, fehlende wissenschaftliche Literatur, Vorlesungsverbot für mich Anfang Oktober 1952 und erneute politische Behinderung meiner wissenschaftlichen Arbeit zwangen mich im Frühjahr 1953 zur Rückkehr in meine hessische Heimat.“ Aber von Polenz und Munske, von denen der erste die Probleme aus nächster Nähe beobachtet haben muss, setzen noch einen zweiten Akzent: Auf dem Höhepunkt seines offensichtlichen Lehrerfolgs, als die ersten von ihm selbständig betreuten Promotionen zum Abschluß kamen, als ihm endlich eigene Forschungsmittel bewilligt wurden, als unter seiner begeisternden Leitung erste Exkursionen möglich wurden, kam über Nacht am 14. Oktober 1952 das Lehrverbot […]. Diese Maßnahme kam nicht allein von der politischen Obrigkeit, sie hing auch mit dem unausweichlichen Konkurrenzverhältnis zu seinem Lehrmeister zusammen, das seinen nach beiden Seiten hin orientierten Schülern längst hintergründig bewußt geworden war.²⁵

Auf Schmitts weiteren Lebenslauf (er starb am 3. 1. 1994), mit zunächst Lehraufträgen in Köln und Gießen und dann einem Ordinariat in Marburg mit der Leitung des Sprachatlas-Instituts, ist hier nicht einzugehen. Nur dies: Mehrere seiner Leipziger Schüler sind ihm nach Marburg gefolgt, und sein Lehrstuhl dort wurde zu einer wahren Professorenfabrik, mit Habilitationen auch einiger ehemaliger Leipziger Schüler.

24 Schmitt (1942). 25 Polenz / Munske (1988), S. XIV.

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Schmitt war als Lehrer kein enger Fachspezialist. Ich habe ihn nicht in seiner Leipziger, wohl aber in seiner Marburger Zeit gut kennengelernt. Wer das sprachund literaturwissenschaftliche Metier durch akribisches Studium dessen, was in Handbüchern zu finden ist, lernen wollte, war bei ihm nicht richtig aufgehoben. Er hatte ein sehr breites kulturhistorisches Wissen, das er in seinen Vorlesungen und Seminaren mit stark assoziativen Sprüngen, die manchmal weg vom Thema führten, ausbreitete. Man konnte bei ihm sehr viel, aber nicht echt methodisch lernen. In diesem Sinn kann man von einer Fortsetzung der Art der Wissensvermittlung und der Denkanstöße durch Jolles reden. Das änderte sich bei seinem Nachfolger Gerhard Worgt, der nach seinem Studienabschluß 1952 als wissenschaftlicher Assistent an der Niederländischen Abteilung angestellt wurde, aber erst 1968, also im Sterbejahr von Frings, zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Bevor ich auf Worgts Beitrag zur Leipziger Niederlandistik eingehen, kann ich aber nicht über die niederlandistische Arbeit des Mannes hinwegsehen, der als zentrale Figur der Germanistik immer das Niederländische in seine Forschung und seinen Unterricht einbezogen hat und die Niederländische Abteilung unterstützte, von seiner Berufung nach Leipzig 1927 über seine Emeritierung 1957 hinaus bis zu seinem Lebensende 1968. Über Frings als Niederlandisten habe ich vor fünf Jahren für die Digitale Bibliographie der niederländischen Sprache und Literatur (www.dbnl.nl) einen Beitrag verfasst, den ich hier nicht wiederholen kann. Stattdessen versuche ich, knapp einige wesentliche Punkte hervorzuheben. Frings hat in seinem Studium der deutschen Sprache und Literatur immer das Niederländische mit einbezogen. Ein deutliches Beispiel ist die Germania Romana von 1932. Zugleich hat er aber die Selbständigkeit des Niederländischen in der germanischen Sprachfamilie betont. Beispiel: das Büchlein Die Stellung der Niederlande im Aufbau des Germanischen von 1944. Seine Verdienste für die Niederlandistik sind dialektologischer, sprachhistorischer und literarhistorischer Natur. Dialektologie und Sprachgeschichte sind bei ihm aber nicht zu trennen. Die heutige Sprachgrenze zwischen Deutsch und Niederländisch ist in seinen Arbeiten noch keine Grenze zwischen zwei Sprachen, und ihr Entstehen wird von ihm noch nicht thematisiert. Doch liegen aus seiner Anfangszeit Veröffentlichungen über niederländische Mundarten mit einer deutlichen östlichen Begrenzung vor: das frühe Meisterstück Zur Geschichte des Niederfränkischen in Limburg von 1919, das auch heute noch grundlegend ist, und die Sammlung von Dialektaufnahmen aus dem Jahr 1921: Die südniederländischen Mundarten. Texte, Untersuchungen, Karten. Teil I: Texte. Die geplanten Untersuchungen und Karten sind nie erschienen. Sie sind wohl in größeren Sammlungskomplexen aufgegangen und am 4.12.1943 verloren gegangen. In seiner ausführlichen Besprechung des Buches von Hermann Teuchert über die Sprachreste der niederländischen Ostsiedlungen,

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die 1950 in den Niederdeutschen Mitteilungen erschien, ist schon der Ansatz des Buches zu erkennen, das er 16 Jahre später zusammen mit Gotthard Lerchner veröffentlichte: Niederländisch und Niederdeutsch. Aufbau und Gliederung des Niederdeutschen. Hier wird der Aufbau des niederländisch-niederdeutschen Ganzen an Hand des Konzeptes ‚Wortverband‘ ausgearbeitet. Wortverbände sind Wortkomplexe mit annähernd identischer Verbreitung. Ausgangspunkt der Verteilung ist die Koppelung des niederländischen Komplexes mit dem ostniederdeutschen. Lerchner hat nachher das Thema in seinen Studien zum nordwestgermanischen Wortschatz noch erweitert. Zusammenfassend: Frings hat das Niederländische untersucht als eine eigene Größe, als Teil eines größeren Ganzen und als eine Entität, die durch einen Sprung mit einem anderen Ganzen verbunden ist. Am Anfang ist viel Aufmerksamkeit für das Detail vorhanden, nachher überwiegt die Neigung, mit kräftiger Hand große Linien zu ziehen. Im Bereich der Literaturwissenschaft haben die dialektologischen Wortverbände ein gewisses Pendant in Literaturlandschaften. Eine tut sich in der vorund frühhöfischen Zeit besonders hervor: die hochmittelalterliche rhein-maasländische. Die zentrale Figur darin ist der Limburger Heinric van Veldeken. Frings hat es als seine Aufgabe betrachtet, der Überlieferung der Veldeke-Texte die ursprünglichen Fassungen abzugewinnen. Diese waren – so der Ausgangspunkt – in einer limburgischen Literatursprache verfasst, die ein Glied in der Kette der ineinander übergehenden Dialektgebiete zwischen Schelde und Main bildete. Eine solide Basis für die Rekonstruktion erblickte Frings in den alten limburgischen Servatiusbruchstücken. Nicht nur der Text der in junglimburgischer Gestalt überlieferten vollständigen Servatiushandschrift, sondern auch die in alemannischen Quellen überlieferten Lieder und die über den ganzen hochdeutschen Raum gestreute Überlieferung der Eneide wurden so ins Altlimburgische übersetzt. Es muss aber hervorgehoben werden, dass dieses Opus ohne die selbstlose Mitarbeit von Gabriele Schieb ein Torso geblieben wäre. Diese Editionen sind von der Kritik meistens nicht sehr positiv aufgenommen worden. Die kritischen Kommentare betreffen aber an erster Stelle das Konzept der Umsetzung in die Sprache des Dichters. Sie berücksichtigen zu wenig, dass Frings und Schieb hier in einer alten Tradition stehen, die schon mit Ettmüller 1852 anfängt und von den meisten Kennern immer für gut begründet gehalten wurde. Sie gehen auch nicht auf die sprachliche Qualität der Umschrift ein, die eindeutig alle früheren Versuche übertrifft. Frings hat in seinem Institut immer wieder Interesse für das Niederländische geweckt und wachgehalten. Die genannten Mitarbeiter Gabriele Schieb und Gotthard Lerchner haben sich nicht nur durch die erwähnten Werke als Niederlandisten verdient gemacht. Von beiden liegen auch Aufsätze über sprachliche Aspekte des Niederländischen im Vergleich zum Deutschen vor. Dieter Stellmacher wies mich weiter auf die Donnerstagsveranstaltungen im Institut hin, die meistens von

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Frings präsidiert wurden. Sie bildeten eine Art Oberseminar, in dem von ausgewiesenen Spezialisten des Instituts und der sprachgermanistischen Arbeitsstellen der Akademien auf hohem Niveau diskutiert wurde. Manchmal referierten auch auswärtige Gäste, und wiederholt wurden auch niederländische Themen behandelt. Gerhard Worgt, Jahrgang 1925, konnte erst nach Kriegsteilnahme und Gefangenschaft in Leipzig sein Studium in den Fächern Anglistik, Nordistik und Niederlandistik anfangen. Er beendete es erfolgreich Anfang 1952. Daraufhin wurde er als Assistent in der Niederländischen Abteilung eingestellt. Wie gesagt hatte er schon vorher bei Schmitt niederländischen Sprachunterricht erteilt. Nach Schmitts Weggang übernahm er auch die sprach- und literaturwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen in diesem Fach. 1954 promovierte er mit einer Dissertation Der englische Einfluß auf das Niederländische. Elf Jahre später habilitierte er sich mit einer Arbeit Doppelformen im Niederländischen unter besonderer Berücksichtigung der Genusdoubletten. 1968 wurde er zum ordentlichen Professor für Niederlandistik und Nordistik ernannt. Auf diesen Gebieten hat er bis zu seiner Emeritierung 1990 gelehrt. Wenn man seine Zeit als Hilfsassistent mitrechnet, ist er also über vierzig Jahre als Niederlandist in Leipzig tätig gewesen, allerdings mit Unterbrechungen. So war er von 1964 bis 1969 als Lektor in Finnland tätig, und es hat auch Aufenthalte im Irak und in Ägypten gegeben. Während seines Finnland-Aufenthalts hat der Diplom-Germanist Dieter Stellmacher die Hauptlast der niederländischen Lehrveranstaltungen getragen. Stellmacher promovierte selbst 1968 und wurde dann Worgts Nachfolger an finnischen Universitäten. Von dort aus ist er in die Bundesrepublik gezogen. Er habilitierte sich in Marburg und wurde dann Professor in Göttingen. Worgt bekam in den fünfziger und sechziger Jahren teilweise auch Unterstützung von den Mitarbeitern Fleischer und Lerchner aus der Deutschen Abteilung des Germanistischen Instituts. Andererseits musste er ab 1968 seine Zeit auf Niederländisch und Skandinavisch (konkret: Schwedisch und Finnisch) verteilen. Aber schon ab 1955 hatte er Schwedischkurse und ab 1958 auch Finnisch gegeben. Das niederländische Lehrangebot hat unter alledem nicht gelitten, denn seit Anfang der siebziger Jahre bekam Worgt Unterstützung von der Assistentin Helga Diersch, und kurz nachher „begann auch die fast nicht unterbrochene Stafette der ausländischen Gastlektoren […], die die Sprachausbildung mit sicherten.“²⁶ Ein besonderes Verdienst Worgts war sein Einsatz für osteuropäische, vor allem polnische junge Wissenschaftler, die bei ihm in Leipzig Niederländisch lernten und mit Problemen der niederländischen Sprach- und Literaturwissen-

26 Hipp (1992), S. 243.

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schaft vertraut gemacht wurden. Das Wachstum und die Blüte der polnischen Niederlandistik fanden bei ihm ihren Ursprung. Worgt war ein typischer Polyglott, mit besonderer Aufmerksamkeit für die didaktischen Aspekte der drei – wenn man Afrikaans hinzuzählt: vier – von ihm gelehrten Fremdsprachen. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind Sprachführer und Fremdwörterbücher. Daneben war er als literarischer Übersetzer tätig. Seine Dissertation und seine Habilitationsschrift sind ungedruckt geblieben. Privatim machte er sich gelegentlich über die Weltfremdheit der Dialektologen und Sprachhistoriker lustig. Angesichts der Leipziger germanistischen Schwerpunkte impliziert das, dass er in diesem Kreis mehr oder weniger ein Außenseiter war. Er war ja schließlich auch kein Germanist, sondern kam von der Anglistik her. Er starb am 29. 1. 1997. Worgts Emeritierung fiel fast mit der deutschen Wende zusammen. In der neuen politischen Konstellation dauerte es bis zum 1. 6. 1992, ehe ein Nachfolger für seine beiden Zuständigkeitsbereiche Niederlandistik und Skandinavistik ernannt wurde. Es war eine Frau, Helga Hipp, die bereits ab 1972 als Oberassistentin Helga Diersch dem Lehrstuhlinhaber zur Seite gestanden hatte. Drei Jahre vorher, 1968, war sie bei Rudolf Große mit einer Dissertation über die Verben der Fortbewegung in der deutschen Gegenwartssprache promoviert worden. Nach ihrer Anstellung in der Niederländischen Abteilung verlagerte sich ihr Arbeitsschwerpunkt „in doppelter Hinsicht, von der Germanistik zur Niederlandistik und von der Sprache zur Literatur.“²⁷ Sie habilitierte sich 1983 mit einer Arbeit über den flämischen sozial-realistischen Erzähler Lode Zielens. 1986 wurde sie zur außerordentlichen Dozentin ernannt. Wie Worgt ist Helga Hipp wiederholt im Ausland gewesen. Von 1977 bis 1982 war sie in Moskau und von 1986 bis 1988 in Helsinki, wo sie germanistische und niederlandistische Lehrveranstaltungen anbot. Ihre Zeit als Professorin hat nicht lange gedauert. Sie starb 61-jährig am 7. 4. 1996. In diesen letzten Jahren hat sie noch über flämische Literatur des 20. Jahrhunderts, deutsch-niederländische Literaturbeziehungen und Exilliteratur gearbeitet. Mit der Ernennung von Helga Hipp als Professorin schien eine neue Blütezeit der Leipziger Niederlandistik anzubrechen. Zwar war das Ordinariat von Worgt bei ihrer Ernennung zu einer C3-Stelle zurückgestuft worden, aber es kam eine Hochschuldozentur C2 für jeweils 6 Jahre hinzu, und außerdem wurden Mittel für eine Lehrkraft für besondere Aufgaben und für Hilfskräfte freigemacht. Doch starb Helga Hipp wie gesagt schon 1996. Anschließend blieb die Professur bis zum Sommersemester 1999 unbesetzt. Der Hochschuldozent Heinz Eickmans,

27 Eickmans (1996), S. 54.

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der am 1. 4. 1994 seinen Dienst mit dem Auftrag „Niederlandistische Sprachwissenschaft und Niederlandekunde“ angetreten und anschließend einen wesentlichen Teil der Lehrveranstaltungen getragen hatte, verließ Leipzig nach dem Sommersemester 1999. Mit Eingang dieses Semesters gab es dann einen neuen C4-Professor, den Niederländer Frans Hinskens. Er ist Sprachwissenschaftler, so dass nach dem Weggang von Eickmans die Möglichkeit entstand, die Dozentur mit einem literaturwissenschaftlichen Auftrag zu besetzen. Ihre Neubesetzung, mit Rita Schlusemann, fand aber erst am 1.10.2001 statt. Ein Jahr später zog Hinskens wieder in die Niederlande. Der Studiengang Niederländisch wurde daraufhin per Rektoratsbeschluß aufgehoben. Rita Schlusemann hat aber ihre Zeit als Hochschuldozentin bis Ende September 2007 ausgeschöpft. Vor ihrer Ernennung hatte sie schon die Vertretung übernommen, und nachher hat sie sich auch dauernd um Vertretungen der Professur und um das weitere Funktionieren des Studiengangs durch ständig wechselnde Vertretungen bemüht. So konnten Studierende, die vor 2002 ihr Niederlandistikstudium angefangen hatten, es auch vollenden. Jetzt ist aber das Licht ausgegangen. Niederländisch ist in Leipzig verständlicherweise vom Anfang bis zum Ende ein Nebenfach gewesen. Es wurde im Rahmen des lange vorherrschenden sprachhistorischen Paradigmas meistens an das Fach Deutsch gekoppelt. Doch haben die Germanisten mit niederlandistischem Interesse Gabriele Schieb und Gotthard Lerchner gelegentlich auch Studien mit einem mehr typologischen Charakter geschrieben. Die wichtigsten Veröffentlichungen stammen aus der Frings-Schule und aus der Feder des Meisters selbst.²⁸

Literatur Dupont (1910–1922): Joost Adriaan Peter Dupont, „Het dialect van Bree. Eene phonetisch-historische studie“, in: Leuvensche Bijdragen 9 (1910–1922), S. 193–212; 12, S. 135–186; 14, S. 33–168. Eickmans (1996): Heinz Eickmans „Zum Tode von Prof. Dr. Helga Hipp“, in: Nachbarsprache Niederländisch 11 (1996), S. 54–55. Eickmans (2008): Heinz Eickmans, „‚um uns den vlämischen Geist näher zu bringen‘. Über das Engagement deutscher Philologen, Verleger und Literaten für die Sprache und Literatur Flanderns im 20. Jahrhundert“, in: ders. / Jörg Engelbrecht: Blick gen Westen. Deutsche Sichtweisen auf die Niederlande und Flandern, Münster 2008, S. 24–68.

28 Für Informationen und/oder Beschaffung von Materialien habe ich zu danken: Heinz Eickmans – Essen, Rudolf Große – Leipzig, Rita Schlusemann – Oldenburg, Dieter Stellmacher – Göttingen sowie Hans Ulrich Schmid und seiner Mitarbeiterin Luise Czajkowski – Leipzig.

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Grave (2003): Jaap Grave, „Een zwierig danser op strakke koorden“, in: Nachbarsprache Niederländisch 17 (2002), S. 83–94. Hinskens (2002): Frans Hinskens, „André Jolles – Van vagant tot ontheemde“, in: Nachbarsprache Niederländisch 17 (2002), S. 66–82. Hipp (1992): Helga Hipp, „Die Leipziger Niederlandistik und ihr Umfeld“, in: dies. (Hrsg.): Niederlandistik und Germanistik. Tangente und Schnittpunkte. Festschrift für Gerhard Worgt zum 65. Geburtstag, Frankfurt/M. u. a. 1992, S. 235–245. Karg-Gasterstädt (1958/59): Elisabeth Karg-Gasterstädt, „Das alte Germanistische Institut. Persönliche Erinnerungen aus meiner Studien- und Bibliothekarszeit“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 8 (1958/59), S. 631–638. Pauwels (1961): Jan Lodewijk Pauwels, „In Memoriam Dr. J. Dupont (1885–1961)“, in: Handelingen van de Koninklijke Commissie voor Toponymie & Dialectologie 35 (1961), S. 39–48. Pée (1970): Willem Pée, „Het Colloquium ‚Niederlandistik und Germanistik‘ te Leipzig“, in: Taal en Tongval 22 (1970), S. 95–98. Polenz / Munske (1988): Peter von Polenz / Horst Haider Munske, „Ludwig Erich Schmitt. Eine wissenschaftsbiographische Skizze“, in: Horst Haider Munske / Peter von Polenz / Oskar Reichmann / Reiner Hildebrandt (Hrsg.): Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien, Berlin, New York 1988, S. XI–XIX. Stellmacher (1969): Dieter Stellmacher, „Zur Entwicklung der Niederlandistik in der Deutschen Demokratischen Republik“, Vortragsmanuskript (Vortrag auf dem Kolloquium „Niederlandistik und Germanistik“ in Leipzig am 27.10.1969). Stern (1994): H. Stern, „Entwicklung der Niederlandistik an der Universität Leipzig“, in: Nachbarsprache Niederländisch 9 (1994), S. 142–147. Thys (1954): Walter Thys, „Uit het leven en werk van André Jolles“, in: De nieuwe Taalgids 47 (1954), S. 129–137 und 199–208. Thys (2000): Walter Thys, André Jolles (1874–1946) „Gebildeter Vagant“. Brieven en documenten bijeengebracht, ingeleid en toegelicht door –, Amsterdam, Leipzig 2000.

Hans Ulrich Schmid

Sprachgeschichte und Kulturmorphologie Theodor Frings¹ Theodor Frings² wurde am 23. Juli 1886 in Dülken am Niederrhein, unmittelbar an der deutsch-niederländischen Grenze geboren. Er entstammte einfachen Familienverhältnissen; sein Vater war Buchbinder. Von 1906 bis 1911 studierte er Neuere Sprachen und Germanistik in Marburg (unterbrochen durch ein Leipziger Semester 1907, in dem er unter anderem bei Eduard Sievers studierte). In Marburg wurde der junge Forscher Frings stark von Ferdinand Wrede geprägt. Er schloss das Studium mit einer Dissertation über Dialektgeographie des Niederrheins zwischen Düsseldorf und Aachen³ ab, in welcher er einen Zusammenhang zwischen der mittelalterlichen Territorienbildung und dem Verlauf von Lautverschiebungslinien wahrscheinlich macht. 1915, also nur wenige Jahre später, folgte die Habilitation mit dem Titel Die rheinische Accentuierung.⁴ Beide Qualifikationsschriften waren in Thematik und Methodik der klassischen Marburger dialektgeographischen Schule verpflichtet. Stationen der wissenschaftlichen Karriere waren die Universität Bonn, wo Frings von 1915 bis 1917 den Status eines Privatdozenten innehatte. Im Hauptberuf war Frings in diesen frühen Jahren (1913 bis 1917) allerdings Oberlehrer an der Städtischen Realschule in Bonn. 1917 wurde er an der dortigen Universität zum Außerordentlichen Professor für Deutsche Philologie und Niederländische Philologie ernannt. 1919 erlangte er den Status des Ordentlichen Professors mit gleich bleibender Denomination. Von Bonn aus konnte Frings Studienreisen und dialektgeographische Feldforschungen in die nahen Niederlande unternehmen. 1927 erfolgte der Ruf an die Universität Leipzig auf den Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Deutsche Literatur, den bis 1922 Eduard Sievers innegehabt hatte. Die Denomination schloss auch die Niederländische Philologie mit ein. Bis 1957, also über vier Jahrzehnte hinweg und in drei politischen Systemen⁵ (Weimarer Republik, NS-Zeit, DDR), hatte Frings diesen Lehrstuhl inne. Er war von Anfang an in seinen Forschungen und in der Lehre bestrebt, das wissen-

1 Ich danke Gotthard Lerchner (Leipzig) für die Überlassung seines Vortragsmanuskripts. 2 Ausführliche biographische und wissenschaftsgeschichtliche Daten bietet Große (2003), S. 528–531. Vgl. auch Große (1971), S. 1–16. 3 Frings (1913). 4 Frings (1916). 5 Zu diesem Aspekt in der Karriere von Theodor Frings vgl. Lux (2009).

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schaftliche Erbe seiner Vorgänger durch zeit- und wissenschaftsgeschichtlich bedingte Erweiterung und methodologische Erneuerung fortzuführen und für die zu seiner Zeit moderneren sprachhistorischen Entwicklungen nutzbar zu machen. Er war allerdings abstrakt-deduzierenden theoretischen oder moderneren methodologischen Erörterungen Zeit seines Lebens prinzipiell wenig zugeneigt. Das hatte zur Folge, dass er konzeptionelle Überlegungen zu seinen weitgespannten Forschungen zwar verschiedentlich diskutiert, aber de facto nicht zu einem methodologisch explizierten Modell ausgebaut hat. In gewisser Weise eine Ausnahme zu dieser Regel kann man darin sehen, dass er, zwar lange nach der Publikation seines Standardwerks zur sprachgeschichtlichen Interferenz, der Germania Romana (Frings 1932/66), und auch in diesem Falle nicht in deduktiver, sondern induktiver Form, das Funktionsmodell, auf dem seine Beschreibungen von Sprachmischung und Sprachausgleich, von Entlehnungen, Sprachströmungen und sprachlichem Verkehr basierte, explizit auf Begriff und Raster der Wellentheorie gebracht hat. Zu moderneren strukturalistischen sprachwissenschaftlichen Entwicklungen konnte er dagegen kaum praktischen Zugang gewinnen. Ungeachtet dessen verdankt die ostdeutsche Sprachgeschichtsforschung seinen zahlreichen Publikationen und den von ihm angeregten Forschungen seiner Schüler und Mitarbeiter hohe internationale Anerkennung. An den auch an Universitäten und Hochschulen gängigen politisch-weltanschaulichen Diskussionen und Ansprüchen nahm er nicht teil und weigerte sich auch, sie als Auswahlkriterien für universitäre Personalpolitik einzusetzen. An der in der NS-Zeit und auch zu DDR-Zeiten üblichen Verquickung von Wissenschaft und Politik bzw. Ideologie hatte er keinen Anteil. An den von ihm geleiteten Arbeitsgruppen an der Sächsischen wie der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin galten vergleichbare Verhältnisse. Auch an den persönlichen Problemen der Mitarbeiter (Wohnungsnot, Zukunftsplanung usw.) nahm er direkten Anteil, oft mit bedeutendem Erfolg. Seine bis ins hohe Alter beibehaltene regelmäßige Lehrtätigkeit trug auch zur internationalen Wertschätzung (Ehrendoktorate, Mitgliedschaft in Wissenschaftsakademien) bei. Rufe an die Universität München und zurück nach Bonn lehnte Frings ab und zog es vor, in Leipzig zu bleiben. Hier war er neben seinen Verpflichtungen als Universitätsprofessor seit 1930 Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, von 1948 bis 1965 auch deren Präsident. Von 1946 bis 1968 gehörte er auch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin an. Die Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm, über viele Jahre hinweg ein einzigartiges gesamtdeutsches Unternehmen mit Arbeitsstellen in Berlin und Göttingen, wurde von Frings ebenso mitinitiiert und mitkonzipiert wie das Goethe-Wörterbuch, das Althochdeutsche Wörterbuch und das Wörterbuch der Sächsischen Mundarten. Seine zahlreichen weiteren wissen-

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schaftsorganisatorischen Aktivitäten in Leipzig und Berlin sowie im internationalen Rahmen haben Frings in seinem engeren Schüler- und Kollegenkreis den liebevoll-scherzhaften Ehrentitel „Großorganisator von Forschung und Lehre an Universitäten und Akademien“ eingetragen. Als Hochschullehrer hat Frings ungeachtet der erheblichen nationalen und internationalen Verpflichtungen zahlreiche Aufgaben an der Universität wahrgenommen, sei es als Senatsmitglied, als Direktor des Germanistischen Instituts oder als Betreuer einer beträchtlichen Anzahl wissenschaftlicher Qualifikationsschriften. Das Privatleben von Theodor Frings war allerdings gekennzeichnet durch schwere Schicksalsschläge. Seine Tochter starb früh nach einer schweren Krankheit; der Sohn fiel im Zweiten Weltkrieg. Wichtige wissenschaftliche Arbeitsmaterialien gingen durch Kriegseinwirkung in Leipzig verloren. Theodor Frings verstarb in Leipzig am 6. Juni 1968. Als Frings 1927 nach Leipzig berufen wurde, war die dortige Universität ein weltweit anerkanntes und führendes Zentrum der mit junggrammatischen Prinzipien betriebenen Sprachwissenschaft. Eduard Sievers, Frings’ Lehrstuhlvorgänger, darf als einer der profiliertesten Vertreter dieser Forschungsrichtung gelten, die die Linguistik mit strenger Methodik als exakte Wissenschaft im Kreis der Naturwissenschaften zu etablieren suchte. Die geradezu stereotyp wiederkehrende Redeweise von der ‚Überwindung der Junggrammatiker‘ ist allerdings irreführend, denn die Junggrammatiker sind bis heute nicht ‚überwunden‘, sondern haben die Grundlagen geschaffen, auf denen auch heute noch eine seriös betriebene Sprachwissenschaft steht. Allerdings haben nachfolgende Generationen von Wissenschaftlern das junggrammatische Verständnis von Sprache und Sprachwissenschaft um Aspekte erweitert, die Forschern wie Karl Brugmann, Hermann Osthoff oder Eduard Sievers fremd waren, wie beispielsweise die erst den Strukturalisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbehaltene Erkenntnis, dass Phonetik und Phonologie, Morphologie und Syntax in sich strukturierte, aber auch interagierende Systeme darstellen. Auch die kulturhistorische und soziologische Bedingtheit von Sprache (und folglich des Sprachwandels) wurde von den Junggrammatikern so gut wie nicht thematisiert. Insofern brachte die Berufung von Theodor Frings, in dessen Forschungen diese Aspekte im Vordergrund stehen, gerade im junggrammatischen Leipzig auch einen Paradigmenwechsel. Allerdings: Die letztlich auf junggrammatischen Forschungen basierenden Kenntnisse der Veränderungsprozesse, die dem Deutschen und Niederländischen und ihren Dialekten im Laufe ihrer Vorgeschichte und Geschichte das jeweils eigene Gepräge gegeben haben, waren für Frings und seine Schüler ebenso selbstverständlich und unabdingbar wie die Erhebung und Verwendung von tragfähigem dialektgeographischem Datenmaterial und die philologischen und literarhistori-

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schen Zusammenhänge, in denen ältere Texte zu sehen sind. Erst auf dieser vielschichtigen Grundlage konnte das ‚kulturmorphologische‘ Forschungskonzept verwirklicht werden, ein Konzept, das Textüberlieferung, Sprachgeschichte und Sprachraum stets auf die realen Sprachträger und ihre historischen Lebensbedingungen bezieht. Der junge Theodor Frings hat also interdisziplinäre Forschungsansätze bereits zu einer Zeit verfolgt, als noch keine Wissenschaftsbürokratie von ‚Inter-ʻ oder gar ‚Transdisziplinarität‘ redete. Die Anfänge der kulturmorphologischen Sprachforschungen Theodor Frings’ gehen noch auf seine Marburger und Bonner Jahre zurück. Ein programmatischer Aufsatz mit dem schlichten Titel „Kulturmorphologie“, verfasst von Theodor Frings und Edda Tille, erschien 1926.⁶ Frings erwartete für die Zukunft, dass die Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg „die einzelnen Wissenschaftszweige aus ihrer Vereinsamung erlösen und eine lebensvolle Darstellung der Kulturerscheinungen auf geographischer Grundlage vorbereiten und ermöglichen“ sollte. Und er fügt hinzu: „Die Sprachwissenschaft wird aus solcher Betrachtungsweise den größten Nutzen ziehen.“⁷ Weiter entfaltet wurden die Überlegungen in einem Gemeinschaftswerk von Theodor Frings (als Sprachwissenschaftler), Joseph Müller (als Volkskundler) und Hermann Aubin (als Historiker).⁸ Das kulturmorphologische Konzept kam auch in der von Frings mitherausgegebenen Zeitschrift Teuthonista zu gelten, der Vorläuferin der heutigen Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Der Wechsel nach Leipzig 1927 brachte es mit sich, dass sich Frings nun vor allem mit den siedlungs-, kultur- und sprachhistorischen Vorgängen in den Gebieten östlich von Saale und Elbe befasste, und zwar von der (zunächst allerdings quellenarmen) Besiedlungszeit im 12. und 13. Jahrhundert bis an die Schwelle zur frühen Neuzeit, als die ostmitteldeutschen Schreibkanzleien mit einer bereits relativ homogenen Schreibsprache in Erscheinung treten, von denen ein direkter Weg zur Luthersprache führt. Die für den Westen des deutschen Sprachraums entwickelten und erprobten Methoden konnten nun auf den mitteldeutschen Osten übertragen werden. An der Universität Leipzig fand Frings (anders als Hermann Aubin nach seiner Berufung an die Universität Breslau) Kollegen, mit denen er die für die Rheinprovinzen entwickelten und erprobten kulturmorphologischen Methoden auf den mitteldeutschen Osten anwenden konnte. Herausragendes Ergebnis war das zweibändige Werk Kulturräume und Kulturströmungen

6 Frings / Tille (1925–1926). 7 Ebd., S. 3. 8 Aubin / Frings / Müller (1926). Das Werk erfuhr einen um Vor- und Nachworte erweiterten Nachdruck Darmstadt 1966. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Stellung des kulturmorphologischen Ansatzes vgl. Grober-Glück (1982).

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im mitteldeutschen Osten von 1936.⁹ Auf der Grundlage der (allerdings rezenten!) Lautgeographie entwarf Frings auch hier ein Bild der historischen und sprachhistorischen Vorgänge. Zentral waren dabei die von Westen nach Osten verlaufenden Siedlungsbahnen und die Impulse, die vom Zentrum Meißen ausgingen. Nach seiner Übersiedlung nach Leipzig wandte sich Frings jedoch auch nochmals dem Westen des Sprachgebietes zu, nun aber verstärkt unter wortgeographischen und -geschichtlichen Gesichtspunkten: Im Vordergrund stand nun das romanische Lehnworterbe in der römisch-germanischen Kontaktzone, speziell in den Rheinprovinzen. Im weströmischen Zentrum Trier kreuzten sich eine westalpine Rhone-Mosel-Straße und eine nordalpine Donau-Rhein-Straße. Der alten Moselstadt kam (neben den spätrömischen Zentren Köln und Mainz) denn auch besondere Bedeutung für den römisch-germanischen Kultur- und Sprachkontakt zu. Sprach- und kulturhistorische Erkenntnisse ergaben sich insbesondere für die frühe Kirchen- und Missionssprache der Rheinlande. Die richtungsweisenden Ergebnisse sind in der Monographie Germania Romana¹⁰ niedergelegt. Frings’ in Gemeinschaft mit Aubin und Müller (1926) sowie mit Ebert und Gleißner (1936) verfasste Werke zur Kulturmorphologie können ebenso wie seine Monographie Germania Romana von 1932 als interdisziplinäre Pionierarbeiten gelten, die eine Reihe weiterer Untersuchungen mit vergleichbarer Methodik und ähnlichem Erkenntnisinteresse angeregt haben. Die Zusammenarbeit mit Walther von Wartburg (1888–1971), der von 1929 bis 1939 in Leipzig Romanistische Sprachwissenschaft lehrte und seinen Forschungen ähnliche einzelne historisch orientierte Disziplinen umfassende Konzepte zugrunde legte wie Frings, führte zu weiteren Detailforschungen über germanisch-galloromanische Konvergenzerscheinungen.¹¹ In den vierziger Jahren nahm Frings ein Projekt in Angriff, von dem er möglicherweise nicht ahnen konnte, dass es sich um ein Jahrhundertprojekt handeln würde, das Althochdeutsche Wörterbuch. An der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig wurde das umfangreiche Zettelarchiv Elias von Steinmeyers († 1922) aufbewahrt, das den gesamten althochdeutschen Wortschatz nicht nur in Stichwörtern verzeichnete, sondern Wort für Wort mit den entsprechenden Belegzitaten. Die Anzahl der Zettel belief sich auf ca. 700.000. Zusammen mit Elisabeth Karg-Gasterstädt entwickelte Theodor Frings das lexikographische Konzept für einen umfassenden Thesaurus des Deutschen vom Beginn der Überlieferung im 8. Jahrhundert bis an die Schwelle zum Mittelhochdeutschen im 11. Jahrhundert. Aber auch jüngere, kopiale Überlieferungen insbesondere im Bereich der 9 Ebert / Frings / Gleißner (1936). 10 Frings (1932). 11 Vgl. beispielsweise Frings (1939), mit nahezu monographischem Umfang.

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Glossenüberlieferung sollten Berücksichtigung finden. Das Konzept von Frings und Karg-Gasterstädt, an dem bis heute¹² festgehalten wird, sah vor, dass alle bezeugten althochdeutschen Wörter mit sämtlichen Belegen in ihrem jeweiligen Kontext und, sofern es sich um Glossen und Übersetzungen handelt (und das trifft auf den überwiegenden Teil der althochdeutschen Überlieferung zu), mit dem Wortlaut der jeweiligen lateinischen Quelle zu zitieren sind. Auf diese Weise sollte nicht nur ein Nachschlagewerk für Wortbedeutungen entstehen, sondern ein philologisch-wissenschaftliches Grundlagenwerk auch für sämtliche mediävistischen Nachbarwissenschaften, sei es die Kirchen- oder Rechtsgeschichte, die Volkskunde oder die damals noch aufs engste mit der Sprachwissenschaft verbundene Literaturwissenschaft. Der wissenschaftliche Zusammenhang mit den Forschungen zur Germania Romana liegt deutlich zutage, denn die spätantik-christliche Kultur wirkte über die Völkerwanderungszeit hinweg bis in die Zeit der Karolinger und darüber hinaus fort. Antike und Christentum standen – wie Frings es in einem Akademievortrag formuliert hat – „an der Wiege der deutschen Sprache“.¹³ Das Thesaurus-Prinzip galt (und gilt) auch für die sogenannten ‚Synsemantica‘, d. h. Präpositionen, Konjunktionen usw., also Wörter, die keine eigene und eigentliche Bedeutung haben, sondern vor allem syntaktische Funktionen erfüllen. Die lexikographische Erfassung dieses Wortschatzbereiches ist vor allem für die historische Syntaxforschung von Bedeutung. Auch hier hat Frings Wegweisendes geleistet, etwa mit dem Aufsatz über die Entstehung der deutschen dass-Sätze.¹⁴ Schon in den frühen Arbeiten galt das Augenmerk von Theodor Frings auch dem Niederländischen. In einer 1944 verfassten relativ kurzen Monographie¹⁵ thematisierte er unter Anknüpfung an die Wellentheorie¹⁶ von Johannes Schmidt, aber in einem weiteren Ansatz, d. h. unter (kulturmorphologischem) Einschluss sozialhistorischer und ethnischer Aspekte, die in der sprachgeschichtlichen Forschung bis dahin eher vernachlässigte Stellung der nordwestlichen Nachbarsprache des Deutschen innerhalb der Germania. 1948, nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, veröffentlichte Theodor Frings seine Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache. Die Vorbemerkung beginn mit den lapidaren Worten: „Meine Vorarbeiten zu einer

12 Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Manuskripts steht das Althochdeutsche Wörterbuch am Anfang des Buchstabens M. 13 Frings (1957), S. 58–81. 14 Frings / Müller (1959). 15 Frings (1944). 16 Zur Modifikation der ‚klassischen‘ Wellentheorie, wie sie von Johannes Schmidt formuliert worden ist, durch Theodor Frings vgl. Lerchner (1990), v. a. S. 264–265.

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Geschichte der deutschen Sprache, auch meine Vorlesungen, sind im Brand des germanistischen Instituts der Universität Leipzig am 4. Dezember 1943 untergegangen“. Frings hatte offenbar in 25 Jahren reichhaltiges Material für eine umfassende Geschichte der deutschen Sprache beisammen. In einer einzigen Bombennacht wurde alles zunichte gemacht. Auf der Basis „besonders gesicherter“ und deshalb erhalten gebliebener Vortragsmanuskripte und Karten, die sich nicht im zerstörten Germanistischen Institut befanden, verfasste er seine Grundlegung, die „nichts sein [will] als Grundlegung und Balkenwerk“.¹⁷ Gewidmet ist das Buch den Weggefährten Hermann Aubin und Walther von Wartburg. Es handelt sich allerdings um keine konsistente, die Entwicklungen des Deutschen chronologisch oder systematisch behandelnde Sprachgeschichte, sondern um die Veröffentlichung von zunächst drei mehr für sich allein stehenden Aufsätzen. Im einzelnen: I. Sprachgeographie und Kulturgeographie. Sprache, Staat, Kirche. Römisch und Germanisch, II. Aufbau und Gliederung des deutschen Sprachgebietes, III. Westgermanisch, Ingwäonisch, Deutsch. In der zweiten Auflage von 1949 kam als IV. die bereits erwähnte Abhandlung Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache hinzu. Beigegeben sind 61 Karten, die bis heute (teilweise ohne Herkunftsangabe) in Lehr- und Handbüchern reproduziert werden.¹⁸ Die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache von 1948 ist nicht einfach ein Abriss der deutschen Sprachgeschichte, sondern eine ausgreifende Darstellung, die insgesamt dem kulturmorphologischen Ansatz verpflichtet bleibt. Das 1956 erschienene dreibändige Werk Sprache und Geschichte¹⁹ ist keine Sprachgeschichtsdarstellung im herkömmlichen Sinne, sondern bietet, teilweise mit Ergänzungen und Aktualisierungen, bereits andernorts Publiziertes zur rheinischen Sprachgeschichte (die ersten beiden Bände) und zum Ostmitteldeutschen (Band 3). Nachdem die Arbeit an den „Kulturströmungen“²⁰ abgeschlossen waren, „konnte und wollte er darangehen, die Ergebnisse der Reimkritik an den Erfahrungen der Sprachgeographie und Kulturmorphologie zu messen, um aus der 17 Frings (1957), S.9. 18 So findet sich beispielsweise (natürlich in drucktechnisch verbesserter Form) Karte 42, in der die Verbreitung von Laut- und Wortformen der heutigen Standardsprache mit der in den rezenten Dialekten verglichen wird, auch im dtv-Atlas Deutsche Sprache (König (2005)), S. 92, oder Karte 31 mit der geographischen Streuung der historischen französischen –court- und der frühen deutschen –ingas-Namen ebd., S. 58. Die born-/brunn-Karte, S. 68 im dtv-Atlas, basiert auf Frings’ Karte Nr. 39. Karte 41 mit der schematischen Darstellung der „Mitteldeutschen Siedlungsbahnen“ wurde in einer Reihe von sprachgeschichtlichen Darstellungen reproduziert, z. B. in Schmidt (2007), S. 109, und Besch / Betten / Reichmann (2003), S. 2751. 19 Frings (1956). 20 Siehe Anm. 6.

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Verbindung von Handschriftenkritik und Sprachgeographie zum kritischen Text zu gelangen.“²¹ Deshalb sind Frings’ Arbeiten auf literaturhistorischem Gebiet, beispielsweise über Minnesang und Troubadourlyrik,²² vor allem die eigenwilligen Editionen der anonymen Epen König Rother,²³ Morant und Galie²⁴ und – ganz besonders – die monumentale Ausgabe und die Untersuchungen zur Eneide Heinrichs von Veldeke²⁵ nicht von den sprachgeschichtlichen Arbeiten zu trennen. Auf der Basis der erhaltenen Handschriften und im Vergleich mit dem Sprachstand der älteren Kölner Überlieferung versuchte Frings, den Archetypus von Karl und Galie zurückzugewinnen. Im Fall der poetisch bearbeiteten Servatius-Legende von Veldeke konnten Frings und „seine treue Schülerin und selbständige Mitarbeiterin“²⁶ Gabriele Schieb noch auf Bruchstücke einer altlimburgischen Servatius-Legende desselben Dichters zurückgreifen. So konnte für die nur in späteren hochdeutschen Überlieferungen vorliegenden Textpartien eine Rekonstruktion gewagt werden.²⁷ „Die Ausgabe zeugt von gründlicher Kenntnis der limburgischen Sprachverhältnisse in ihrer geschichtlichen Entwicklung und beruht auf sorgfältiger Beobachtung von H[einrichs] Sprachgebrauch, ist jedoch nicht ohne Grund auf kritische Bedenken gestoßen.“²⁸ Die Eneide ist dagegen nur in hochdeutscher (überwiegend sogar oberdeutscher) Überlieferung erhalten. Direkte Vergleichsmöglichkeiten mit einem zeitlich und sprachlich verfassernahen Text (wie im Falle des Servatius) bestehen nicht, sondern auch hier musste auf den Sprachstand und die Verstechnik der Legenden-Fragmente zurückgegriffen werden. Auch ist fraglich, ob eine originale Eneide in altlimburgischer Sprache überhaupt jemals existiert hat. Wenn also Frings und Schieb beispielsweise die ersten Verse auf der Basis von (in der Gothaer Handschrift) überliefertem Ir habt wol vornomen daz Wie der kuning Menelaus besaz Troyen die reichen Vil gewaldeclichen

21 Smet (1990), S. 377. 22 Frings (1949). 23 Frings / Kuhnt (1922). 24 Frings / Linke (Hrsg.) (1976). 25 Schieb / Frings (1964); Schieb (1965). Das erst nach Frings’ Tod als Band III erschienene Eneide-Wörterbuch (Berlin 1970) wurde unter Mitarbeit von Günter Kramer und Elisabeth Mager hauptsächlich von Gabriele Schieb verantwortet. 26 Smet (1970), S. 379. 27 Frings / Schieb (Hrsg.) (1956). 28 Wolff (1981), Sp. 905.

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für das von ihnen vermutete Original folgenden Wortlaut ansetzen: Ir hebbet wale vernomen dat wi der koninc Menelaus besat Troie di rike vele geweldechlike

usw., dann haben sie möglicherweise nicht das Original re-konstruiert, sondern einen Phantomtext konstruiert, den es so (oder ähnlich) niemals gegeben hat. Denn nichts spricht gegen die Annahme, dass Heinrich von Veldeke seinen Äneas-Roman auf Mittelhochdeutsch verfasst hat.²⁹ Im Rahmen dieses Beitrags ist keine Gesamtschau und umfassende Würdigung des wissenschaftlichen Œuvres von Theodor Frings möglich. Es sei deshalb verwiesen auf die vollständigen Schriftenverzeichnisse von 1956 und 1971.³⁰ Ohne Zweifel hat Theodor Frings für die Erforschung der deutschen Sprachgeschichte Bedeutendes geleistet. Zwar hat er, wie eingangs gesagt, die Junggrammatiker nicht „überwunden“, aber er hat ihre Erkenntnisse in weiter gefasste Zusammenhänge integriert. Nicht in allen Bereichen seiner Forschungen blieb er später ohne Widerspruch. Seine Auffassungen über die Entstehung des Ostmitteldeutschen und dessen Bedeutung für die weitere Entwicklung der neuhochdeutschen Schrift- und Hochsprache wurden von der nachfolgenden Forschergeneration in wesentlichen Aspekten revidiert. Frings selbst hat seine Sicht der Dinge sehr pointiert auf den viel zitierten Nenner gebracht: „Das neue Deutsch war im Munde der Siedler vorgeformt und wurde gesprochen lange bevor es seit dem 13. Jahrhundert in die Schreibstuben einzog und sich dort festigte. Es ist ein Gewächs des neudeutschen Volksbodens, also nicht in den Kreisen des Prager Humanismus entstanden.“³¹ Die von Konrad Burdach vertretene Hypothese, dass das Neuhochdeutsche seine Wurzeln im Deutsch der Prager Humanisten um 1400 habe, der Frings mit guten Gründen widersprochen hat, teilt heute niemand mehr. Aber auch Frings seinerseits dürfte die Wirksamkeit des „deutschen Volksbodens“ im 13. und 14. Jahrhundert überschätzt haben. Diese Sicht der Dinge

29 Vgl. ebd., Sp. 908–910 (mit weiterführender Literatur). 30 Plott (1956), S. 399–427. Dieses Verzeichnis umfasst die Arbeiten von 1910 bis 1956. Die Schriften ab 1956 sind verzeichnet in Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 91 (1971), S. 239–255. Dieser Jahresband enthält auch eine Reihe bereits gedruckter und bis dahin unpublizierter Aufsätze und Vorträge von Frings sowie ein Verzeichnis der ihm gewidmeten Festschriften, zahlreicher Würdigungen und Nachrufe. Zu vergleichen ist auch die Frings-Bibliographie in Internet unter http://bibliothek.bbaw.de/kataloge/literaturnachweise/frings/literatur. pdf. 31 Frings (1956), II, S. 16.

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ist bereits 1955 von Heinrich Bach³² nachhaltig in Frage gestellt worden. Rudolf Große³³ konnte für die Meißnische Sprachlandschaft zeigen, dass sich auch in den neu besiedelten Gebieten alsbald eine dialektale Kleinkämmerung herausgebildet hat und nicht von einem relativ homogenen Ausgleichsareal in den ‚traditionslosen‘ Ostgebieten auszugehen ist. Rudolf Schützeichel³⁴ gelangte mit guten Argumenten zu der Feststellung, dass der gesamte mitteldeutsche Streifen (also auch unter Einschluss des Westens) als vermittelnde Landschaft zwischen dem Ober- und Niederdeutschen fungiert habe. Die neuere Forschung hat sich insgesamt von der Vorstellung einer wie auch immer gearteten „Wiege des Neuhochdeutschen“ verabschiedet.³⁵ Nicht unproblematisch für heutige Leser, insbesondere junge Studierende, ist die streckenweise metaphernbefrachtete Diktion von Theodor Frings, die sich stark vom heute üblichen Wissenschaftsstil – und übrigens auch vom nüchtern-sachlichen Stil der Junggrammatiker – unterscheidet. Hier kann der jeglicher Polemik unverdächtige Peter von Polenz zitiert werden, der über die Interpretation von Sprachkarten durch Ferdinand Wrede, Theodor Frings, Walther Mitzka und andere schreibt: Dieses raumdynamische Paradigma hat die sprachgeschichtliche Auswertung von Georg Wenkers Sprachatlaskarten in der Marburger sprachgeographischen Schule [ ...] sehr beeinflußt. Es ist symptomatisch erkennbar an entsprechenden Metaphern der sprachgeschichtlichen Beschreibungssprache […]: Ausbreitung, Strömung, Strahlung, Einfluß, Einsickern, Vordringen, Überfluten, Überlagerung, Druck, Infiltration, Trichter, Sogwirkung usw.; in den 20er und 30er Jahren gern ins Militärische gewendet: Vorbruch, Durchbruch, Ansturm, Vormarsch, Siegeszug, Kampf, Stoßkeil, Frontlinie, Barriere, Etappe, Rückzug, Grabenstellung usw. Dies alles wurde hypostasierend (verdinglichend) von Lauten, Formen und Wörtern ausgesagt; damit wurde der Blick auf Sprache als soziales Handeln von Sprachbenutzern fachjargonhaft verstellt.³⁶

Man kann Frings gewiss nicht den Vorwurf machen, er habe die Bedeutung der natürlichen, menschlichen Sprecher für sprachliche Entwicklungen nicht gesehen. Das Gegenteil ist der Fall. Er hat in viel stärkerem Maße als die Junggrammatiker die Sprache als an die Sprecher gebundenes Kommunikationsmittel begriffen. Misslich ist, dass diese Einsicht für heutige Leser seiner Arbeiten von einer nicht mehr zeitgemäßen Diktion verdeckt wird. 32 Bach (1955). 33 Große (1955). 34 Schützeichel (1974). 35 Vgl. zusammenfassend das Kapitel „Frings und die ostmitteldeutsche koloniale Ausgleichssprache“ in Hartweg / Wegera (2005), S. 48–58. 36 Polenz (2000), S. 22.

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Eine umfassende kritische Würdigung des ungemein facettenreichen und nachträglich nur schwer überschaubaren wissenschaftlichen Werkes von Theodor Frings, das hieße auch eine Grenzziehung zwischen den zukunftsweisenden Aspekten auf der einen Seite und den heute überholten Annahmen auf der anderen, ist im Rahmen eines Beitrages zu einem Sammelband nicht zu leisten. Unbestritten dürfte indessen sein, dass Theodor Frings über Jahrzehnte hinweg die Leipziger (historische) Sprachwissenschaft weit über Fach- und Universitätsgrenzen hinaus repräsentiert hat. Er hat versucht, historische Sprachwissenschaft, Dialektgeographie, Literaturwissenschaft, Kirchen-, Landes- und Regionalgeschichte zusammenzuführen, und damit in Teilen das vorweggenommen, was man heute mit einem etwas modisch-amorphen Begriff als ‚Kulturwissenschaften‘ bezeichnet.³⁷ Dass ihm die heutige Forschung in wichtigen Fragen (und Antworten) nicht mehr zu folgen vermag, tut seinem wissenschaftshistorischen Rang kaum Abbruch.

Literatur Aubin / Frings / Müller (1926): Hermann Aubin / Theodor Frings / Josef Müller, Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte, Sprache, Volkskunde, Bonn 1926 (Nachdruck Darmstadt 1966). Bach (1955): Heinrich Bach, „Die entstehung der deutschen hochsprache im frühneuhochdeutschen“, in: Zeitschrift für Mundartforschung 23 (1955), S. 193–201. Besch / Betten/ Reichmann (2003): Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann, Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage Berlin, New York 2003. Ebert / Frings / Gleißner (1936): Wolfgang Ebert / Theodor Frings / Käthe Gleißner, Kulturräume und Kulturströmungen im mitteldeutschen Osten, Halle 1936. Frings (1913): Theodor Frings, Studien zur Dialektgeographie des Niederrheins zwischen Düsseldorf und Aachen, Marburg 1913 (Deutsche Dialektgeographie 5). Frings (1916): Theodor Frings, Die rheinische Accentuierung. Vorstudie zu einer Grammatik der rheinischen Mundarten, Marburg 1916 (Deutsche Dialektgeographie 14). Frings (1932): Theodor Frings, Germania Romana, Halle 1932 (2. Auflage Halle 1966) (Mitteldeutsche Studien 19/1). Frings (1939): Theodor Frings, „Germanisch ō und ē“, in: Beiträge zu Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 63 (1939), S. 1–116. Frings (1944): Theodor Frings, Die Stellung der Niederlande im Aufbau des Germanischen, Halle 1944.

37 Aus der beträchtlichen Zahl der Würdigungen sei (über die bereits zitierten Arbeiten hinaus) hier nur der Beitrag Große (2003) genannt.

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Frings (1948): Theodor Frings, Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache, Halle 1948 (3. Auflage 1957). Frings (1949): Theodor Frings, Minnesinger und Troubadours, Berlin 1949. Frings (1956): Theodor Frings, Sprache und Geschichte, 3 Bde., Halle 1956 (Mitteldeutsche Studien 16–18). Frings (1957): Theodor Frings, „Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache“, in: ders., Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache, 3. Auflage Halle 1957, S. 58–81. Frings / Kuhnt (Hrsg.) (1922): Theodor Frings / Joachim Kuhnt (Hrsg.), König Rother, Bonn, Leipzig 1922 (2. Auflage Halle 1961, 3. Auflage ebd. 1968). Frings / Linke (1976): Theodor Frings / Elisabeth Linke (Hrsg.), Morant und Galie, Berlin 1976. Frings / Müller (1959): Theodor Frings / Gertraud Müller, Die Entstehung der deutschen daß-Sätze, Leipzig 1959 (Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 103/6). Frings / Schieb (Hrsg.) (1956): Theodor Frings / Gabriele Schieb (Hrsg.), Henric van Veldeken. Die epischen Werke, Bd. 1: Sente Servas = Sanctus Servatius, Halle 1956. Frings / Tille (1925/26): Theodor Frings / Edda Tille, „Kulturmorphologie“, in: Teuthonista 2 (1925/26), S. 1–18. Grober-Glück (1982): Gerda Grober-Glück, „Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren“, in: Werner Besch / Ulrich Knoop / Wolfgang Pischke / Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.), Dialektologie. Ein Handbuch zu deutschen und allgemeinen Dialektforschung, Berlin, New York 1982, S. 92–113. Große (1955): Rudolf Große, Die Meissnische Sprachlandschaft. Dialektgeographische Untersuchungen zur obersächsischen Sprach- und Siedlungsgeschichte, Halle 1955 (Mitteldeutsche Studien 15). Große (1971): Rudolf Große, „Theodor Frings. 23. 7. 1886–6. 6. 1968“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 91 (1971), S. 1–16. Große (2003): Rudolf Große, „Frings, Theodor“, in: Christoph König (Hrsg.), Internationales Germanistenlexikon, Bd. 1, Berlin, New York 2003, S. 528–531. Hartweg / Wegera (2005): Frédéric Hartweg / Klaus-Peter Wegera, Frühneuhochdeutsch. Eine Einführung in die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, 2. Auflage Tübingen 2005. König (2005): Werner König, dtv-Atlas Deutsche Sprache, 15. Auflage München 2005. Lerchner (1990): Gotthard Lerchner, „Hat die ‚Grundlegung‘ einen Grund gelegt?“, in: Rudolf Große (Hrsg.), Sprache in der sozialen und kulturellen Entwicklung. Beiträge eines Kolloquiums zu Ehren von Theodor Frings (1886–1968), Berlin 1990, S. 263–276. Lux (2009): Anna Lux, „Eine Frage der Haltung? Die bruchlose Karriere des Germanisten Theodor Frings im spannungsreichen 20. Jahrhundert“, in: Sabine Schleiermacher / Udo Schagen (Hrsg.), Wissenschaft macht Politik. Hochschule in den politischen Systembrüchen 1933 und 1945, Stuttgart 2009, S. 79–99. Plott (1956): Adalbert Plott, „Prof. Dr. Dr. h. c. Theodor Frings. Schriftenverzeichnis“, in: Elisabeth Karg-Gasterstädt / Johannes Erben (Hrsg.), Fragen und Forschungen im Bereich und Umkreis der Germanischen Philologie. Festgabe für Theodor Frings zum 70. Geburtstag, 23. Juli 1956, S. 399–427. Polenz (2000): Peter von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. I: Einführung, Grundbegriffe, 14. bis 16. Jahrhundert, Berlin, New York 2000.

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Schieb (1965): Gabriele Schieb (unter Mitwirkung von Theodor Frings), Henric van Veldeken. Eneide, Bd. II: Untersuchungen, Berlin 1965. Schieb (1970): Gabriele Schieb, Henric von Veldeken, Eneide, Bd. III: Wörterbuch, Berlin 1970. Schieb / Frings (1964): Gabriele Schieb / Theodor Frings, Henric van Veldeken. Eneide, Bd. I: Einleitung, Text, Berlin 1964. Schmidt (2007): Wilhelm Schmidt, Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium, 10., verbesserte und erweiterte Auflage, erarbeitet von Helmut Langner und Norbert Richard Wolf, Stuttgart 2007. Schützeichel (1967): Rudolf Schützeichel, „Zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache“, in: Nassauische Annalen 78 (1967), S. 75–92. Schützeichel (1974): Rudolf Schützeichel, Mundart, Urkundensprache und Schriftsprache. Studien zur rheinischen Sprachgeschichte, 2. Auflage Bonn 1974. Smet (1970): Gilbert de Smet, „Theodor Frings und die Literatur an Maas und Rhein im 12.–13. Jahrhundert“, in: Rudolf Große (Hrsg.), Sprache in der sozialen und kulturellen Entwicklung. Beiträge eines Kolloquiums zu Ehren von Theodor Frings (1886–1968), Berlin 1970, S. 375–386. Wolff (1981): Ludwig Wolff, „Heinrich von Veldeke“, in: Kurt Ruh u. a. (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3, Berlin 1981, Sp. 899–918.

Ludwig Stockinger

Hermann August Korff Geistesgeschichte in drei politischen Systemen

1. Der Leipziger Germanist und Komparatist Claus Träger, innerhalb der Literaturwissenschaft der DDR wahrscheinlich derjenige, der ein Höchstmaß an ideologischer Observanz mit einem ebenso hohen Maß an literaturgeschichtlichem Wissen und begrifflich-theoretischer Beweglichkeit verbunden hat, hielt im Mai 1978 einen Vortrag mit dem Titel „Aufklärung – Sturm und Drang – Klassik – Romantik. Epochendialektik oder ‚Geist der Goethezeit‘?“. In diesem Vortrag, der 1981 im Druck erschienen ist,¹ kritisierte Träger die bisherigen Versuche, innerhalb der marxistischen Literaturwissenschaft die deutsche und europäische Literatur zwischen 1770 und 1830 als Epocheneinheit zu bestimmen und zum realgeschichtlichen Prozess in eine überzeugende Beziehung zu setzen: Wir periodisieren […] die Literaturgeschichte weiter einfach nach den Daten der politischen Geschichte und ärgern uns darüber, wenn irgendwelche Autoren selbst gegen die wohlmeinendste Erwartung nicht zu jeder Revolution die passenden Gedichte, Dramen oder Romane liefern. Der Fehler liegt nicht so sehr bei diesen Autoren als in einer Literaturauffassung, welche primär ihre Gegenstände […] als geronnene Ideen versteht, welche womöglich auch noch die ihnen adäquaten Formen mit sich führen […]. So betrachtet ist dies eigentlich Ideengeschichte – nur daß (im Unterschied etwa zu der H. A. Korffs) die Ideen keine selbständige Existenz mehr haben.²

Träger behauptet hier, dass die Literaturwissenschaft der DDR im Grunde nichts als Ideengeschichte betreibe – mit dem einzigen Unterschied zur traditionellen ‚bürgerlichen‘ bzw. ‚idealistischen‘ Geistesgeschichte, dass diese ‚materialistische‘ Ideengeschichte nicht mehr von der selbständigen Existenz der Ideen in einem Platonischen Himmel ausgehe. Wer nach der Nennung des Namens von Korff in diesem Zusammenhang nun erwartet, dass Träger am Beispiel seines Leipziger Vorgängers eine Kritik von dessen Konzept der Ideengeschichte vortragen wird, ist einigermaßen überrascht, wenn er im Text weiter liest. Denn es folgt eine Würdigung, die hohem Respekt vor dessen Leistung Ausdruck verleiht:

1 Träger (1981). 2 Ebd., S. 255.

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Die Einheit dieser Epoche war schon immer ein literaturwissenschaftliches Problem. Die Geistes- und Ideengeschichte hat sie vorerst in der Abstraktion von ihren wirklichen Bedingungen zu fassen gesucht. Hermann August Korff, der den gründlichsten Entwurf wagte, rettete ihre Kohärenz für die deutsche Literaturgeschichte, indem er die ‚Tatsachen an dem Faden einer Idee zu ordnen‘ unternahm. […] Gewiß war diese Einheit, ungeachtet der staunenswerten Fülle von (vielfach noch immer beständigen) Einzelanalysen, am Ende erkauft mit der Annahme eines durchgängigen ‚Irrationalismus‘, aus dem die Aufklärung, auf ‚Rationalismus‘ reduziert, eskamotiert war. Aber wie tief durchdacht diese Konzeption dennoch in mancherlei Hinsicht gewesen ist, kann daran ermessen werden, dass sie die Periodisierungsdiskussion immer noch anzuregen vermag. Natürlich war das Geistesgeschichte par excellence, aber eben par excellence. Es war insofern jenseits aller die Geschichte übertölpelnden Exegese. Innerhalb seiner idealistisch-philosophischen Begrenzung blieb Korff nüchterner Historiker. Sein Werk überwand endgültig die biographistische Literaturbetrachtung der Schererschule, ohne dabei, womöglich den Spuren der Georgeschule folgend, geistestrunken in den obskuren Abgrund deutscher Heldenseelenfriedhöfe zu taumeln. Korff wandelte, frei von Schwindel jeglicher Art, fort auf der Höhe in jener Luzidität, in der schon Goethe gewandelt war. […] Wer […] Korffs Konzeption die Anerkennung versagen zu müssen glaubt, wird mit einigem sicheren Gefühl für gedankliche Konsequenz sich nicht der Bewunderung entschlagen können im Angesicht eines literarhistorischen Ideengebäudes, dessen erster fundamentaler Ansatz so tragfähig gewesen war, daß er das Ganze schließlich zu tragen vermochte.³

Träger will hier offenbar eine nach seinem Urteil unüberholte, in der Gesamtkonstruktion ebenso wie in den Einzelanalysen immer noch überzeugende Epochendarstellung aus dem Paradigma der Geistesgeschichte – er nennt Korffs Werk einen „glänzenden Schwanengesang der Geistesgeschichte“⁴ – den pseudomaterialistischen Erzeugnissen der DDR-Literaturwissenschaft, die nach seiner Meinung nicht viel mehr als schlechte Geistesgeschichte weit unter dem intellektuellen Niveau von Korffs Epochendarstellung repräsentieren, als unerreichtes Muster vor Augen stellen. Nachdem Träger mehrfach auf Hegel als Vorbild Korffs hingewiesen hat, macht er einen Vorschlag zur Aneignung von dessen Werk innerhalb der marxistischen Literaturwissenschaft, die dem Verfahren der Aneignung des Philosophen des deutschen Idealismus bei Marx und Engels gleicht, denn gegen alle Einwände, die man gegen die idealistische Geistesgeschichte erheben könne, müsse festgehalten werden, dass „ein Aufriss wie der Korffs, vom Kopf auf die Füße gestellt, seinen anregenden Stellenwert beim konzeptionellen Neuaufbau der Epochenproblematik zu behaupten“⁵ vermöge. Mehr an Ehrbezeugung ist eigentlich nicht möglich, und dies zu einer Zeit, in der in der west-

3 Ebd., S. 258f. 4 Ebd., S. 264. 5 Ebd.

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deutschen Germanistik Korffs Name schon vergessen war. Trägers respektvolle Erinnerung an Korff erscheint um so auffallender, wenn man bemerkt, dass er in diesem Aufsatz dessen Kollegen und Konkurrenten an der Universität Leipzig der fünfziger Jahre, Hans Mayer – immerhin Trägers Doktorvater –, mit beredtem Schweigen übergeht, und wenn man bedenkt, dass nach dem Ende von Korffs Lehrtätigkeit für seine letzten Assistenten – Eberhard Haufe, Lothar Scheithauer und Christiane Agricola – am Institut für Germanistik kein Platz mehr war. Im kommunikativen Gedächtnis des Instituts und der Leipziger Öffentlichkeit kursieren über das Verhältnis von Mayer und Korff und über deren Bedeutung unterschiedliche Varianten der Erinnerung. In der einen Variante erinnert man sich an einen Gegensatz, der auch die Studierenden in zwei Lager trennte, und die Sottisen, die Hans Mayer in seinen Memoiren über den Kollegen und Konkurrenten von sich gibt, haben dieses Bild verstärkt und in der Öffentlichkeit verbreitet.⁶ So erinnert sich auch der Leipziger Historiker Hartmut Zwahr, dass es im Schillerjahr 1955 zwei Schiller-Feiern gegeben habe.⁷ Auf der offiziellen Feier der Stadt und der Partei in der Kongresshalle am Zoo hat Hans Mayer die Festrede gehalten,⁸ auf einer inoffiziellen Feier im Schauspielhaus, zu der sich nach der Erinnerung von Zwahr vor allem Studierende aus der ‚Jungen Gemeinde‘ versammelt hatten,⁹ hat Hermann August Korff die Rede gehalten. In dieser Variante der Erinnerung ist Korff im Leipzig der fünfziger Jahre offenbar als ein Repräsentant des bedrängten Bildungsbürgertums wahrgenommen worden, einer Gruppe, zu der man sich indirekt bekannte, wenn man die Vorlesungen von Korff besuchte und die von Mayer mied. In einer anderen Variante der Erinnerung äußern sich ehemalige Studierende der Germanistik, die als Schüler Hans Mayers in den sech6 Mayer (1984), S. 109: „Im Laufe dieser fünfzehn Jahre habe ich im Hörsaal 40 vor allem die großen Übersichtsvorlesungen über die deutsche Literaturentwicklung seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts gehalten. Zuerst mußte die Goethezeit im Sinne von Korffs vierbändigem Werk über den ‚Geist der Goethezeit‘ ausgeklammert werden. Sein Buch pflegte der Kollege nach wie vor ohne irgendeine Improvisation oder stilistische Änderung als Fortsetzungskurs vorzutragen. Ich habe mich natürlich nicht in den Hörsaal gesetzt, weiß aber, daß sich dabei immer wieder eine leicht komische Störung des Rhythmus zwischen dem Vortragenden und seinen Studenten ergeben mußte. Viele Studenten im Hörsaal 40 hatten die Bücher vor sich und lasen mit. Wenn die Seite zu Ende war, wurde im ganzen Hörsaal mehr oder weniger geräuschvoll umgeblättert. Hermann August Korff hingegen trug nicht vor nach dem gedruckten Text, sondern nach seinem Kollegmaterial, das inhaltlich mit dem Buch identisch war. Wenn er daher umblätterte, antwortete ihm kein Echo im Saal.“ 7 Ich berufe mich hier auf Aufzeichnungen, die Harmut Zwahr im Jahr 1955 als Schüler angefertigt und mir dankenswerter Weise zur Kenntnis gegeben hat. 8 Mayer (1985). Zur Konzeption dieser Rede vgl. Stockinger (2006), hier S. 43–45. 9 Eine recht bemerkenswerte Koalition insofern, als sich Korff selbst als Nichtchrist verstanden hat. Er war schon 1910 aus der evangelischen Kirche ausgetreten.

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ziger und siebziger Jahren als Hochschullehrer am Institut Karriere machten. Sie berufen sich heute gleichermaßen auf Korff und Mayer als ihre Lehrer und haben die Lehrveranstaltungen beider Professoren besucht.¹⁰ Im Lichte dieser zweiten Variante der Erinnerung ist die Würdigung durch Claus Träger gar nicht so unverständlich, wie man dies auf den ersten Blick meinen könnte. In vergleichbarer Weise erinnert sich auch Gerhard Schulz, der letzte Leipziger Doktorand Korffs, der kurz nach Abschluss seiner Promotion im Sommer 1958 die DDR in Richtung Australien verlassen und sich dort zu einem der international angesehensten germanistischen Literaturwissenschaftler seiner Generation entwickelt hat.¹¹ Mein Versuch, Hermann August Korffs Leistung im Rahmen der Geschichte der Leipziger Germanistik zu beschreiben und zu würdigen, wird am Ende auf die Frage, wie es möglich war, dass sein Konzept in der von mir skizzierten Weise von seinen Nachfolgern in der Literaturwissenschaft der DDR rezipiert werden konnte, wieder zurückkommen müssen. Aber diese Frage steht in einem weiteren Horizont, denn Korff hat sein Konzept beständig und auf den ersten Blick unbeeinflusst vom Wechsel der politischen Systeme – Weimarer Republik, Herrschaft des Nationalsozialismus, DDR – in Leipzig vom Jahr seiner Berufung 1925 bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit 1957 vertreten, und er hat an seinem Hauptwerk, der vierbändigen Epochendarstellung Geist der Goethezeit, von 1923 bis 1953 nach einem einheitlichen Plan gearbeitet. Im Grunde müsste man korrekt von vier Systemen sprechen, denn die Grundlage seiner Konzeption ist im Wesentlichen schon im kulturellen Kontext des späten Kaiserreichs entstanden.

10 Ich beziehe mich hier auf mündlich mitgeteilte Erinnerungen von Günter Mieth, Schüler von Hans Mayer und von 1975 bis 1992 Professor für Geschichte der deutschen Literatur mit Schwerpunkt 18. Jahrhundert an der Sektion Germanistik und Literaturwissenschaft der Universität Leipzig. 11 Vgl. Schulz (2009), hier S.  37–39: „Jedenfalls ereignete sich Weltgeschichte um uns herum, und wir waren auf sehr verschiedene Art in sie verwickelt, auch und gerade dort, wo es um deutsche Literatur ging. Denn die Idee eines dialektischen Ablaufs der Geschichte, vorzüglich mit teleologischer Konsequenz, hatte schließlich ihren Ursprung im deutschen Idealismus um 1800, und was sich da scheinbar diametral im Leipzig von 1949 gegenüberstand, waren in Wirklichkeit, linkshegelianisch oder rechtshegelianisch, doch eher Zweige eines Baumes. Die Sortierung deutscher Literatur nach Fortschritt und Reaktion stand jedenfalls Hermann August Korffs eindrucksvoller Entfaltung eines Geistes der Goethezeit als Widerstreit gewisser Ideen gar nicht so fern, wie das aus der Nähe manchmal aussah. […] Der andere Name aber, den ich nennen will, ist Hans Mayer. Natürlich hatte ich ihn als Student gehört, als er Anfang der fünfziger Jahre drüben in der ‚Gewifa‘ seine Vorlesungen begann. Denn das große Panorama von Namen und Tendenzen eines Jahrhunderts, das er vor uns entfaltete, war faszinierend und lag weit jenseits allen offiziellen Kanons, des neuen, angeblich sozialistischen, wie des alten geisteswissenschaftlichen.“

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2. Zur ersten Orientierung einige Daten und Fakten zur Biographie und zur akademischen Laufbahn:¹² Hermann August Korff wurde am 3. April 1882 im großbürgerlichen Milieu der Hansestadt Bremen geboren. Sein Vater¹³ war Besitzer, seit 1887 Hauptaktionär, einer Aktiengesellschaft namens „Petroleumraffinerie vormals August Korff“, der damals bedeutendsten Mineralölraffinerie im Deutschen Reich,¹⁴ und damit in einem Industriezweig tätig, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleichsweise neu und zukunftsträchtig war.¹⁵ Hermann August Korff folgte nicht der kaufmännisch-industriellen Familientradition, sondern entschied sich für den Weg in die Geisteswissenschaften; er studierte von 1902–1904 Germanistik und Philosophie in Heidelberg; nach dem Militärdienst setzte er 1906 sein Studium in Bonn fort, das er dann in Heidelberg 1907 mit einer Dissertation über Scott und Alexis. Eine Studie zur Technik des Romans bei Max von Waldberg abschloss. Das Studium in Heidelberg brachte ihn offenbar in Kontakt zu den an dieser Universität um die Jahrhundertwende entwickelten Begründungen von Aufgaben und Methoden der Geisteswissenschaft in Abgrenzung von den Naturwissenschaften. Beeinflusst wurde der Student vor allem von dem Philosophen Wilhelm Windelband, und dies scheint die entscheidende Prägung für seine Auffassung von Literaturwissenschaft als einer Geisteswissenschaft und sein besonderes Interesse für den Bezug von Literaturgeschichte und Philosophiegeschichte gewesen zu sein.¹⁶ Von 1907 bis 1909 arbeitete Korff als Redakteur beim Rheinischen Merkur in Bonn, und in diesen Jahren verfasste er seine Schrift Voltaire als klassizistischer Autor im literarischen Deutschland des 18. Jahrhunderts, mit der er sich 1913 an der 12 Vgl. die Übersicht bei Bauer (2009). 13 Vgl. Weber (1980). 14 Die Firma produzierte das so genannte „Kaiseröl“, ein explosionssicheres Leuchtpetroleum, und seit 1880 Mineralschmieröle. 1893 erwarb John D. Rockefellers Standard Oil Company die Mehrheit an der Aktiengesellschaft. August Korff blieb bis 1910 im Vorstand der AG. 15 Vgl. Osterhammel (2009), S. 931. 16 Diese Entscheidung für Geisteswissenschaft oder Literatur folgt einem nicht ganz untypischen biographischen Muster dieser Generation von Söhnen aus dem deutschen Großbürgertum; man denke an die Gebrüder Mann oder an Hermann Broch. Erinnert sei hier auch daran, dass zwei Angehörige der Alterskohorte, Georg Lukács (geb. 1885), und Ernst Bloch (geb. 1885) ebenfalls an der Universität Heidelberg in ungefähr derselben Zeit entscheidende Anregungen erfahren haben. Man musste nicht unbedingt wie Hanno Buddenbrook oder Gregor Samsa enden, wenn man sich beruflich gegen die Familientradition entschied; es gab Kompromissmöglichkeiten, von denen die Karriere als Universitätsprofessor in einer geisteswissenschaftlichen Disziplin wohl diejenige war, bei der sich die großbürgerliche Herkunft mit der angenommenen Rolle noch am besten hat vereinbaren lassen.

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Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt am Main bei Julius Petersen habilitierte; 1917 ist die Schrift mit einem modifizierten Titel publiziert worden.¹⁷ Ab 1914 war Korff Privatdozent für Neuere deutsche Literatur an der neu gegründeten Goethe-Universität Frankfurt am Main, 1921 wurde er dort zum außerordentlichen Professor ernannt. 1923 kam er auf eine ordentliche Professur für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Gießen, von wo aus er 1925 als Nachfolger von Albert Köster zum ordentlichen Professor für Neuere deutsche Sprache und Literatur an das Deutsche bzw. Germanische Seminar¹⁸ der Universität Leipzig berufen wurde. Mit Ausnahme von zwei Gastprofessuren in den USA – 1935 in Harvard, 1938 in Columbia – lehrte er über seine Emeritierung im Jahr 1954 hinaus bis 1957 an der Leipziger Universität. Von 1929–1932 und ab 1955 war er Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. In Leipzig ist er am 11. Juli 1963 gestorben; sein Grab befindet sich auf dem Leipziger Südfriedhof.¹⁹ Wenn sich im Jahr 1925 die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig nach einem längeren Entscheidungsprozess für Korff als Nachfolger von Köster aussprach,²⁰ dann bedeutete dies eine Abkehr von Traditionen der Leipziger Germanistik, die bis zu diesem Zeitpunkt an dem aus der Anfangsphase der Disziplin im 19. Jahrhundert entwickelten „philologisch-textkritischen Konzept“²¹ festgehalten hatte. Gegenstand der Diskussion in der Fakultät war neben der methodischen Ausrichtung auch die Frage, ob die von Korffs Vorgänger entwickelten Ansätze einer theatergeschichtlichen Forschung und Lehre von dem Nachfolger fortgesetzt werden sollten.²² Dass es bei diesem Wechsel der methodischen Profilierung nicht ohne Kontroversen abging, das wird schon daran erkennbar, dass Korff auf der Liste erst an vierter Stelle – nach Julius Petersen, dem Wunschkandidaten der Fakultät,²³ Walther Brecht und Rudolf Unger – genannt

17 Korff (1917). 18 Die Bezeichnungen sind in den Quellen uneinheitlich. Bei der Gründung 1873 wird die damit gemeinte neue Organisationsform von Lehre und Forschung ‚Königliches Deutsches Seminar‘ genannt, wofür in Quellen der zwanziger Jahre auch die Bezeichnung ‚Germanisches Seminar‘ zu finden ist. Ab 1899 wurde davon terminologisch mit der Bezeichnung ‚Germanistisches Institut‘ der Komplex der Arbeitsräume und der Bibliothek unterschieden. 1936 wurde diese terminologische Differenzierung aufgehoben. Die offizielle Bezeichnung für die gesamte Institution lautete von da an ‚Germanistisches Institut‘. Vgl. dazu Öhlschläger / Stockinger (2009), hier S. 537–539, S. 546 und S. 551. 19 Vgl. Löffler / Schöpa / Sprinz (2000), S. 95. 20 Zu diesen Vorgängen vgl. Lux (2003), S. 74–90 und Lux (2005), S. 341–362. 21 Meves (2001), hier S. 1286. 22 Vgl. Kirschstein (2009), S. 124–129. 23 Vgl. UAL, Phil. Fak., PA 92, Bl. 16f.

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wurde. Das Gutachten der Fakultät lässt denn auch einige Skepsis gegenüber dem Kandidaten Korff und seiner Konzeption von Literaturwissenschaft erkennen. Aus dem bisherigen Werk, so heißt es in diesem Gutachten, ergebe sich ein „uneinheitlicher Eindruck, der auf mangelnder Widerstandskraft gegen wissenschaftliche Moderichtungen zu beruhen scheint“.²⁴ Wie groß die weiter bestehende Skepsis in der Fakultät war, das zeigt sich bei der Berufung eines Nachfolgers von Eduard Sievers auf den Lehrstuhl für Ältere deutsche Sprache und Literatur, wo im Gutachten der Fakultät ausdrücklich betont wird, dass der zu Berufende einen Gegenpol zu Korffs Methode bilden solle.²⁵ Letztlich folgte aber die Fakultät mit der Berufung Korffs einem wissenschaftsgeschichtlichen Trend und einer Umakzentuierung des Selbstverständnisses von der gesellschaftlichen Leistung und Funktion der Germanistik, insbesondere der germanistischen Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt auf der Interpretation der neueren deutschen Literatur, der seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts als Antwort auf die Legitimationskrise der Germanistik zu beobachten war. Die Tatsache, dass man im Berufungsverfahren neben Julius Petersen auch Rudolf Unger in Erwägung gezogen hat, zeigt zur Genüge, dass die Mehrheit der Fakultät mit der Nachfolge von Köster einen Methodenwechsel in die Richtung der Geistesgeschichte vollziehen wollte. Im Germanischen Seminar der Universität Leipzig hätte es in der Person von Georg Witkowski, dem Extraordinarius für Neuere deutsche Sprache und Literatur, einen Kandidaten für die Nachfolge Kösters gegeben, der die spezifische Leipziger Tradition auf hohem Niveau zeitgemäß hätte fortführen können. Witkowski selbst vermutete, dass er wegen seiner jüdischen Herkunft keine Chance auf die Nachfolge Kösters hätte,²⁶ man muss wohl aber auch in Betracht ziehen, dass er das sechste Lebensjahrzehnt schon überschritten hatte. Die Nichtberücksichtigung von Witkowski wurde von der Fakultät einigermaßen ‚elegant‘ dadurch überspielt, dass man ihn beauftragte, eine erste Übersicht über in Frage kommende Kandidaten zu erstellen, eine Aufgabe, der er sich pflichtbewusst und selbstlos stellte.²⁷

24 UAL, Phil. Fak., PA 92, Bl. 247. 25 Vgl. Lux (2003), S. 78. 26 Vgl. Kirschstein (2009), S. 125. 27 Vgl. ebd., S. 125–127.

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3. Der wissenschaftsgeschichtliche Kontext der Leipziger Entscheidung für Korff bedarf einer kurzen Erläuterung. Die Leipziger Germanistik hatte seit ihren Anfängen bei Moriz Haupt ein eigentümliches Profil, das sich aus dem Verständnis einer Philologie ergab, die sich in ihrer Konzentration auf die Felder von Sprachwissenschaft und Textkritik eng an das „konzeptuelle Wissen“²⁸ der Klassischen Philologie in der Nachfolge von Karl Lachmann anschloss.²⁹ Der erste Versuch der Gründung einer methodisch eigenständigen Neugermanistik, den in Leipzig Theodor Wilhelm Danzel unternommen hatte,³⁰ war 1849 mit der Ablehnung des Gesuchs der Fakultät, für ihn ein Extraordinariat zu errichten, durch die sächsische Regierung ins Stocken geraten und mit dem Tod Danzels 1850 für lange Zeit gescheitert. Die Entstehung und Verfestigung des Leipziger Profils lässt sich exemplarisch an der Einstellung der Gründergestalten zu Jacob Grimm illustrieren. Die ersten Professoren der Leipziger Universitätsgermanistik, Moriz Haupt und Friedrich Zarncke, haben sich zwar – neben Karl Lachmann, der unverkennbar das zentrale Vorbild war – auch auf Grimms Werk berufen, dabei aber dessen sprachwissenschaftliche und textphilologische Teile selektiert, während sie sich von Jacob Grimms Verständnis der Germanistik als einer umfassenden Wissenschaft von Kultur und Identität der germanischen Völker und von den gewagten Spekulationen der Deutschen Mythologie ebenso distanzierten, wie man den Versuchen, aus der Sprache und Literatur vorschnelle Aussagen über das ‚Wesen‘ der deutschen Nation abzuleiten, mit einiger Skepsis gegenüberstand. Aufschlussreiche Dokumente dieser selektiven Integration der Grimmschen Impulse in die methodische Strenge der neuen Disziplin sind Haupts Gedächtnisrede auf Jacob Grimm aus dem Jahr 1864,³¹ Friedrich Zarnckes Nekrolog von 1863³² und dessen Festrede zur Grimm-Feier von 1875.³³ Bei Moriz Haupt wird allerdings schon 1835 in einer Rezension der WolframEdition Karl Lachmanns erkennbar, dass er in der esoterischen Abschließung der streng philologischen Fachwissenschaft von gesellschaftlichen Interessen und Bedürfnissen ein Problem gesehen hat. Er hielt dieses Problem allerdings für

28 Fohrmann (1991), hier S. 116. 29 Zur Bestimmung des Verhältnisses von Klassischer Philologie und Germanistik vgl. Haupt (1875). 30 Zu Danzel vgl. Krüger (1990), S. 29–42. 31 Haupt (1876). 32 Zarncke (1898). 33 Zarncke (1895).

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eine im derzeitigen Stadium der Fachgeschichte unvermeidliche, langfristig aber überwindbare Erscheinung, die man in der Geschichte einer jeden wissenschaftlichen Disziplin beobachten könne: Denn nicht nur die altdeutsche Philologie, sondern fast jede Wissenschaft, die zu dem unmittelbaren Bedarf des Lebens in keiner Beziehung steht, ist gegenwärtig von der Theilnahme der in materiellen Interessen ringenden Menge esoterisch abgeschieden, während in frühern Perioden eine Wissenschaft den andern vorstehend nicht nur auf diese den entschiedensten Einfluß gewann, sondern ihre Wirkung in den weitesten Kreisen verbreitete und die Richtung der Zeit bestimmte. Dieser fördernden Theilnahme bedarf die jugendliche Wissenschaft; die herangereifte muß der Geselligkeit entbehren. Und so sehen wir denn in unsern Tagen die Wissenschaften, wenn ihnen auch von Außen nur ein scheuer Respect zu Theil wird, auf sich selbst verwiesen, innerlich immer mehr erstarken, bis die wachsende Kraft endlich die Banden sprengen und allgemeiner und tiefer als jemals wirken wird. […] Und wie wir von der Philosophie […] die dereinstige Wiedergeburt des religiösen Lebens mit Zuversicht hoffen, so wird auch die jetzt isolirte deutsche Philologie nicht für immer ohne allgemeine Anerkennung und ohne Frucht für das Leben bleiben.³⁴

Einstweilen bleibe als Wirkung über die Fachgrenzen hinaus nur das Beispiel einer Haltung, die zeige, „wie Bedeutendes aus gediegnem Sinne trotz aller Ungunst der Gegenwart hervorgehen“³⁵ könne und die „lautere, unselbstsüchtige Liebe zur Wissenschaft, die selbst um scheinbar Kleines sich angestrengte Mühe nicht verdrießen“³⁶ lasse. Dieser Einstellung entsprechend, bleibt Haupt auch in seinen späteren Äußerungen zurückhaltend, wenn er von der politischen und gesellschaftlichen Leistung der Germanistik spricht, auch und gerade bei Anlässen und in Zeiten wie dem Geburtstag des Königs von Sachsen im Jahr 1848, in denen eine Aussage zu diesem Problem kaum zu vermeiden ist.³⁷ Friedrich Zarncke setzt 34 Haupt (1835), hier S. 918. 35 Ebd., S. 921. 36 Ebd. 37 Vgl. Haupt (1875), S. 251f.: „Ich habe gesucht in diesen andeutungen die deutsche philologie als eine hilfswissenschaft der classischen darzustellen. aber die wissenschaft der deutschen sprache und des deutschen alterthums hat noch andere selbstständigere bedeutung. sie erweckt und erhält rege das bewusstsein unserer eigenart, das bewusstsein des innersten wesens des deutschen geistes, das sich in der sprache am unmittelbarsten offenbart; sie lässt, indem sie unsere alte litteratur zum verständnis bringt und dadurch die geschichte belebt, die herrlichkeit und die gebrechen der deutschen vorzeit erkennen; sie gewährt erhebung und trost und ernste warnung. wenn die ersehnten tage des glückes für das deutsche volk werden gekommen sein, tage des glücks und der grösse, die nie kommen können, wenn das volk unfromm mit aller vergangenheit bricht, dann möge es freudig anerkannt werden dass auch die deutsche philologie antheil hatte an der herbeiführung einer besseren zeit. denn wie wenig es auch jetzt in dem heftigen und verworrenen treiben der gegenwart gewürdigt werden mag, sie hat zur erweckung und kräftigung des nationalgefühls das ihrige redlich beigetragen.“ Im Unterschied zur ausführ-

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1863 in einem schon fortgeschritteneren Stadium der sozialen Organisation der Disziplin auf die innere und äußere Wirkung von öffentlich wahrgenommenen Tagungen,³⁸ und im Rückblick aus dem Jahr 1885 löst er das schwierige Problem der politischen Legitimation der Germanistik in der Weise, dass er die Bedeutung der Disziplin im Prozess der nunmehr abgeschlossenen nationalen Einigung auf das Wirken von Germanisten in der Vorgeschichte und im Verlauf der Revolution von 1848 hervorhebt, nicht ohne allerdings aus der Sicht der nachmärzlichen ‚Realpolitik‘, die sich Zarncke offenbar zu eigen gemacht hat, die politische Leistung der Gelehrten im Paulskirchenparlament zu relativieren und die Konzentration auf das eigentliche Metier zu empfehlen.³⁹

lichen und differenzierten Argumentation in der vorangehenden wissenschaftlichen Begründung des Verhältnisses von Germanistik und Klassischer Philologie wird dieser Hinweis auf die politische Leistung des Faches – immerhin im Mai 1848! – ohne weitere Begründung wie eine Pflichtübung in der Peroratio hinzugefügt. 38 Vgl. Zarncke (1898), S. 196: „Und wie uns selber unser Zweck und die Gemeinsamkeit unserer Arbeit klarer werden wird durch unsere Zusammenkünfte, so werden wir auch Außenstehenden durch diese mehr als durch manches Andere von unserer Existenz, die man hie und da wohl noch gerne bezweifeln möchte, überzeugen, von dem Inhalte, der Macht und Tragweite unserer Studien. Daß diese, obwohl sie gerade unser eigenstes Volksthum zum Gegenstande haben, doch eben unserm Volke verhältnißmäßig noch sehr fern stehen, das kann leider Niemand läugnen.“ 39 Vgl. Zarncke (1895), S. 232f.: „Wir alle wissen, daß die Neugestaltung unseres Vaterlandes das Werk Eines Mannes ist, unseres eisernen Kanzlers, des Heros unserer Nation. […] Aber unvorbereitet und ohne Mittelglieder ist auch diese That nicht geschehen, und unter diesen Mittelgliedern, glaube ich, haben wir auch unserem Brüderpaar eine Stelle […] anzuweisen. […] Seit dem Jahre 1830 verfiel das politische Leben des deutschen Volks fast ganz der Negative, dem Ankämpfen der Ständeversammlungen gegen die Regierungen, daneben auch wohl gegen jenen Mittelpunkt deutscher Herrlichkeit, den Bundestag, dessen Competenzlosigkeit nach außen ein Bild kläglicher Schwäche, nach innen eine brutale Machtentfaltung darstellte. Erst in den vierziger Jahren trat, von jenen Kämpfen nur leise berührt, ein Interesse für deutsches Wesen als solches hervor. Seinen ersten greifbaren Ausdruck fand dasselbe in den Germanistenversammlungen in Frankfurt und Lübeck 1846 und 1847. Wer jene Zeit erlebt hat, weiß, eine wie hohe politische Bedeutung diese einfachen Gelehrtenversammlungen gehabt haben, wie sie von allen Denkenden als ein neues Element, das in das Leben der Nation eintrat, begrüßt wurden. Auf beiden Versammlungen führte Jacob Grimm […] den Ehrenvorsitz, er ward allgemein als der Gründer und Führer dieser neuen Bewegung betrachtet. Durch die Vertiefung in deutsches Alterthum, deutsche Geschichte, deutsches Recht, deutsche Poesie und Sitte hatte sich eben langsam, aber um so sicherer und um so gehaltvoller dieser neue Factor gebildet. Und als unmittelbar darauf das Revolutionsjahr über uns hereinbrach […], da war es plötzlich fast allein die deutsche Frage, die die Gemüther beschäftigte. Und lebhaft fühlte man, wie dies zusammenhänge mit jener Ursache. Denn als nun eine Versammlung berufen wurde, um den Wünschen nach Neugestaltung unseres Vaterlandes einen concreteren Ausdruck zu verleihen, da richteten sich aller Blicke zunächst auf diejenigen Männer, die je einmal für deutsche Geschichte, deutsche Literatur, deutsches Recht forschend thätig gewesen waren. […] Das war ein romantischer Irrthum unseres Volkes […], denn

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An der Universität Leipzig gab es freilich schon ab 1874 mit Rudolf Hildebrand den Vertreter einer anderen Konzeption von Germanistik, die der auf den Deutschunterricht bezogenen nationalpädagogischen Leistung Priorität vor der strengen philologischen Methodik einräumte. Hildebrand, der im Jahr 1874 gegen den Willen Friedrich Zarnckes die von diesem 1868 beantragte Professur für Neuere deutsche Sprache und Literatur erhalten hatte, erwarb sich neben seiner Arbeit am Deutschen Wörterbuch einen erheblichen Einfluss auf die Konzeption des Deutschunterrichts, da er gemeinsam mit Otto Lyon in der 1887 gegründeten Zeitschrift für den deutschen Unterricht, der Vorläuferin der Zeitschrift für Deutschkunde, die Durchsetzung des Konzepts der ‚Deutschkunde‘ im Deutschunterricht in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich vorbereitet hat. ‚Deutschkunde‘ war die vom Germanistenverband eingeführte Bezeichnung für das Programm eines Deutschunterrichts, der über Sprache und Literatur hinaus alle Erscheinungen der deutschen Kultur vermitteln sollte. Dem entsprach die Forderung, auch das Universitätsfach Germanistik in diesem Sinn neu zu orientieren und es quasi zu einer ‚Kulturwissenschaft‘ zu erweitern.⁴⁰ Hildebrands Lehrveranstaltungen, die sich hauptsächlich auf die Goethezeit und die Volkspoesie bezogen, waren von diesem mehr vom Gefühl als von strenger Philologie regierten nationalpädagogischen Programm bestimmt. Die Tatsache, dass diese Veranstaltungen im Lehrprogramm des von Friedrich Zarncke geleiteten Deutschen Seminars nicht aufgeführt sind, könnte darauf hindeuten, dass sie dessen fachwissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügten. Das Problem des Widerspruchs zwischen philologischer Tradition und wachsenden Erwartungen an die Erfüllung nationalpädagogischer Aufgaben wird in anderer Weise bei Albert Köster sichtbar, seit 1899 der erste Ordinarius für Neuere deutsche Sprache und Literatur am Deutschen Seminar der Universität Leipzig. Köster stand in der Tradition der textkritisch-philologischen Ausrichtung des Faches, deren Methoden er – beispielsweise in seiner Edition der Werke Theodor Storms – auf Autoren und Texte der neueren deutschen Literatur übertragen hat. Auch seine theatergeschichtlichen Arbeiten, so z. B. sein Versuch einer Rekonstruktion der Bühne und der Aufführungspraxis des Meistersingertheaters in

der Gelehrte und der Politiker sind nur sehr ausnahmsweise in derselben Person vereint; aber es war doch ein Symptom, das für meine Ansicht wohl spricht. Ja, ich meine, zwischen den Träumen der Sage um den Gipfel des Kyffhäuser und dem Schwert unseres Reichskanzlers steht, bescheiden, in geräuschloser Arbeit, aber um so tiefer wirkend, mit seinen treuen Augen das Brüderpaar der Grimm.“ 40 Vgl. Frank (1973), S. 508–533 und S. 594–752. Zu Hildebrand an der Universität Leipzig vgl. auch Krüger (1990), S. 73–104.

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Nürnberg,⁴¹ sind geprägt von der minutiösen, auf kleinste Details der Überlieferung achtenden Konzentration auf ein Spezialproblem, ohne allzu große Rücksicht auf mögliche Interessen eines breiteren Publikums oder auf Anforderungen der ‚deutschkundlichen‘ Ideologie zu nehmen, wenngleich im Hintergrund dieses Versuchs auch bei Köster die Hoffnung stehen mochte, dass es mit der Rekonstruktion der Meistersingerbühne gelingen könnte, eine „deutsche Theatertradition rückwirkend in die europäische Theatergeschichte einschreiben zu können“.⁴² In welche Schwierigkeiten Köster dabei geraten konnte, das zeigt sich schlaglichtartig, wenn man einen der raren Texte aus seiner Feder liest, in denen er auf gesellschaftliche Anforderungen an einen Neugermanisten explizit eingehen musste, z. B. bei der Festrede, die er zum hundertsten Todestag Friedrich Schillers 1905 gehalten hat.⁴³ Bei seinem Versuch, die Bedeutung Schillers für die deutsche Nation zu würdigen, gerät er in performative Selbstwidersprüche. Einerseits beklagt er aus der Perspektive des Fachwissenschaftlers die popularisierende Entstellung und Vereinfachung von Schillers Werk durch die Unsitte des selektiven Gebrauchs von ‚geflügelten Worten‘; er vergleicht deswegen den Fachwissenschaftler mit einem Archäologen in der Ausgrabungsstätte von Olympia, der mühsam „manche Karre Schutt“⁴⁴ wegbringen musste, „bis das Heroenbild wieder frei und gereinigt dastand“: „Die Gedenkfeier vom 9. Mai 1905 wird gewiss […] manchen frommen Unrat wieder auf die alte Stelle schaffen. Dann schaufeln und karren wir weiter.“⁴⁵ Andererseits bedient Köster sich, um die Erwartungen an den Festredner zu erfüllen, genau dieser von ihm kritisierten Verfahren und bringt im Grunde genommen nur eine Wiederholung von eingespielten Klischees der Schiller-Deutung des 19. Jahrhunderts zustande. Wenn man die textkritischen und die theatergeschichtlichen Arbeiten mit dieser Rede konfrontiert, so glaubt man, zwei ganz verschiedene Autoren vor sich zu haben.

4. Angesichts dieser Problemlage des Fachs, die sich in Leipzig in der Mitte der zwanziger Jahre in einer gewissen Verschärfung zeigte, konnte Korff mit seinem Konzept ein Angebot machen, das einerseits der Forderung nach Öffnung der ger-

41 Köster (1920). Zur Stellung dieser Arbeit in der Geschichte der Theaterwissenschaft und zu Kösters Konzept von Theatergeschichte vgl. Kirschstein (2009), S. 33–71. 42 Ebd., S. 62. 43 Köster (1905). 44 Ebd., S. 18. 45 Ebd., S. 18f.

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manistischen Literaturwissenschaft für jene Leistungen und Funktionen Rechung trug, die in der im Germanistenverband organisierten Deutschkunde-Bewegung artikuliert worden sind – Korff wurde 1926 Mitherausgeber der Zeitschrift für Deutschkunde –, andererseits war dieses Angebot philologisch seriös genug, um die Bedenken der Fakultät, in der man die neue Richtung als modisches Zeug verdächtigte, einigermaßen auszuräumen. Hierfür bietet schon die 1913 vorgelegte Habilitationsschrift Voltaire als klassizistischer Autor im literarischen Deutschland aufschlussreiches Anschauungsmaterial. Diese Arbeit stellt die Geschichte der deutschen Voltaire-Rezeption von Gottsched bis Goethe in einer bis heute unübertroffenen Breite dar, und sie hat auf den ersten Blick das Aussehen einer vom Positivismus bestimmten Einflussforschung. Aber schon der Untertitel der publizierten Fassung – Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe – macht darauf aufmerksam, dass Korff den Akzent weniger auf die determinierende Wirkung Voltaires auf die deutsche Literatur, sondern mehr – in Vorwegnahme viel späterer Einsichten der Rezeptionsforschung – auf den deutschen Rezeptionshorizont legt, der in der Auseinandersetzung mit und in der Verarbeitung von Texten Voltaires als des zentralen Repräsentanten der europäischen Aufklärung als eigenständiger ‚deutscher Geist‘ im Medium der Literatur des 18. Jahrhunderts erst zur Erscheinung kommt: Die Feststellung, wie weit sich die Wellenkreise Voltaires im 18. Jahrhundert verfolgen lassen, wäre sinnlos, wenn dabei Voltaire der Held dieser Feststellung sein sollte. […] Wenn es einen Sinn haben soll, diese Frage zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, so kann nicht der Beeinflusser, sondern nur der Beeinflußte der eigentliche Held der Untersuchung werden. […] Denn nicht Voltaire ist der Held dieses Buches, sondern die deutsche Literatur. […] Diamant und Glas unterscheiden sich durch ihr Verhalten gegen das Feuer. Ein Teil ihres Wesens spricht sich in diesem Verhalten aus. Bringen wir zur Darstellung, wie sich in ihren verschiedenen Phasen die deutsche Literatur gegen das Feuer Voltaires verhalten habe, so geben wir einen wertvollen Beitrag zur Erkenntnis ihres Wesens. Ihr Gegenstand ist nicht die Tatsache ihres Einflusses, sondern seine Verwertung, Umformung und Weiterentwicklung.⁴⁶

Korffs Projekt ähnelt Friedrich Gundolfs Buch Shakespeare und der deutsche Geist,⁴⁷ das fast gleichzeitig entstanden ist, aber schon 1911 im Druck erschienen war und auf das er mehrfach rühmend verweist. Es handelt sich um den Versuch, einen Entwicklungszusammenhang in der deutschen Literatur des 18.  Jahr-

46 Korff (1917), S. 13f. 47 Gundolf (1911).

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hunderts zu konstruieren, dessen Ergebnis eine verbindliche Aussage über das ‚Wesen‘ des deutschen Geistes sein soll. Insofern genügt das Buch den Erwartungen an die politisch-gesellschaftliche Funktion von Literaturwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und es passt sich ein in das neue Paradigma einer Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. Diese Konstruktion wird aber angesichts der Breite und Fülle des Materials auf eine Weise vorgetragen, dass der Vorwurf einer bloßen Spekulation auf geringer philologischer Basis nicht erhoben werden kann.⁴⁸ Der Leipziger Fakultät war dies eher zuviel des Guten, denn im Gutachten ist davon die Rede, dass dieses Buch „mehr den Charakter einer über die Ufer getretenen Dissertation als einer kräftig zusammenfassenden, den Stoff meisternden, entwicklungsgeschichtlichen Schilderung“⁴⁹ habe. Bemerkenswert ist, dass der Begriff ‚Geist‘ erst im Untertitel der Druckfassung erscheint und dass eine explizite Erläuterung und Eingrenzung dieses Begriffs in der Arbeit selbst nicht vorgetragen wird. Die Wortverwendung von ‚Geist‘ im Text selbst bleibt mehrdeutig; ‚Geist‘ wird als Bezeichnung für das Fühlen, Denken und den Charakter eines Autors⁵⁰ ebenso verwendet wie für die Eigentümlichkeit eines Œuvres,⁵¹ einer Epoche⁵² oder einer Nation.⁵³ Insbesondere die Frage nach dem ontologischen Status dessen, was als ‚Geist‘ bezeichnet wird, bleibt 48 Vgl. hierzu die Kritik, die schon Moriz Haupt in der Gründungsphase der textkritisch-philologischen Germanistik an entsprechenden Ansätzen seiner Zeit übt: „Die Rechte der Philosophie bleiben ungekränkt, wenn wir uns gegen die anspruchsvollen Versuche, die im Grunde ebenso wenig philosophisch als historisch sind, unumwunden erklären. […] Jene philosophischen Historiker […] raffen die durch den ernsten Fleiß Anderer bisher gewonnene Kenntniß mit flüchtigem Danke für geleistete Dienste eilfertig zusammen, um sie nach ihrer Weise zurecht zu stellen; die Lücken dieser Kenntniß ahnen sie nicht oder füllen sie durch eigne Zutat erfindsam aus. Die Werke, die aus einem solchen Verfahren hervorgehen, sind nicht nur […] unnütz, sondern durchaus verderblich, indem sie Denen, die sich blenden lassen, den Sinn für ernste Forschung unausbleiblich abstumpfen und auf der andern Seite Manche, denen gelehrtes Wissen etwas gibt, durch ihr abschreckendes Beispiel auf das entgegengesetzte Extrem bloßer Empirie zurückdrängen, wie sich dies namentlich an einigen Historikern zeigt.“ Haupt (1835), S. 921. 49 UAL, Phil. Fak. PA 92, Bl. 247. 50 Vgl. z. B. Korff (1917), S. 5: „Es ist fraglich, ob je eine größere Arbeitskraft […] in einem menschlichen Geiste verdichtet gewesen sind, und es ist ein Wunder, daß ein scheinbar gebrechlicher Körper diesen expansionsdurstigen Geist 84 Jahre lang ertragen hat.“ 51 Vgl. z. B. ebd., S. 7: „Sein Geistiges lebte vom Aufnehmen der rings um ihn brandenden Zeitelemente und ihrer Reproduktion.“ 52 Vgl. z. B. ebd., S. 13: „Nur in einem sehr abstrakten Verstande ist die Geschichte der Voltaireschen Wirkungssphäre zugleich die Geschichte der Aufklärung. Denn ihre Aufgabe ist nicht die Darstellung des allgemeinen Geistes, der in Voltaire tätig war und in tausend anderen, sondern ist Darstellung jener ganz besonderen Gestaltung, die dieser Geist durch das Individuum Voltaire erfahren hat.“ 53 Vgl. z. B. ebd., S. 15f.: „wo in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts findet sich Geist von

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ungeklärt. Die Rede vom „Wesen“ der deutschen Literatur und der Vergleich ihrer Rezeption von Voltaire mit der unterschiedlichen Reaktion von Diamant und Glas auf das Feuer lässt auf eine ‚realistische‘ Auffassung eines ‚Geistes‘ der deutschen Literatur und Kultur als einer überzeitlich bestehenden Substanz schließen, die im 18. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit einem Repräsentanten der westeuropäischen Aufklärung erst zu ihrer eigentlichen ‚Erscheinung‘ gekommen ist.⁵⁴ Daneben finden sich aber auch Passagen, in denen Korff in einer ‚nominalistischen‘ Einstellung davon auszugehen scheint, dass das, was man als ‚Geist‘ im Sinne überindividueller Phänomene bezeichnet, Abstraktionen des Interpreten sind. Dies wird allerdings in Formulierungen vorgetragen, die gerade in der entscheidenden Frage doppeldeutig bleiben: Voltaire war das Haupt dieser Aufklärung, nicht weil er die Aufklärung, sondern weil die Aufklärung ihn erschaffen hatte. Er war nicht ihr Schöpfer, sondern ihre höchste Blüte, nicht ihre Ursache, sondern ihr reinstes Produkt. […] Freilich muß man sich auf der andern Seite vor den Übertreibungen einer allzu mythischen Geschichtsauffassung hüten. Die Zeitkräfte, deren Mundstück Voltaire gewesen ist, heißen zwar Kräfte der Zeit, weil sie in einer großen Anzahl von Menschen wirksam gewesen sind, aber ihre Existenz ist nirgend anders als in diesen Menschen und in der ganz besonderen Form dieser Menschen. […] Nur in dem Buche der Geschichte gibt es das mythische Wesen, welches sich Aufklärung nennt, im Verlaufe seiner einstigen Wirklichkeit gab es nur das Wirken Bayles, Lockes, Humes, Voltaires, Rousseaus und aller anderen, in deren Wirken der Geist der Aufklärung zu einem stets sich verändernden Formenwesen wurde.⁵⁵

Voltaires Geiste […]? Oder in einfachster Formel: wie verhielt sich der deutsche Geist gegen das große literarische Phänomen von jenseits des Rheins?“ 54 Diese Substanz wird an einzelnen Stellen auch mit biologistischer Metaphorik begründet. So spricht Korff in dem Abschnitt „Voltaire als gallischer Autor“ – Korff (1917), S. 373–393 – bei der Begründung des Unterschieds von Deutschland und Frankreich auch von „Blut“ (ebd., S. 379) und „Rasse“ (ebd., S. 380). Im Zentrum seiner Begründung der Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich stehen aber kulturmorphologische Argumente, so etwa das Argument, dass die deutsche Kultur im 18. Jahrhundert noch „jung“ gewesen sei im Vergleich zur „reifgewordenen französischen Kultur“ (ebd., S. 377). 55 Ebd., S. 12f. Man vgl. damit die Erläuterung dieses Problems bei Friedrich Zarncke, wenn er denn ausnahmsweise von so etwas wie dem ‚Geist‘ einer Nation überhaupt gesprochen hat: „Wir hören heutzutage viel von Volksgeist, von Völkerpsychologie und von Volksseele reden, und wir sind oft der Gefahr ausgesetzt, mit diesen Ausdrücken recht unklar zu operieren. Wirkliche Existenzen sind jene Begriffe ja nicht, es sind Abstractionen, die sich als das gemeinsam Verbleibende ergeben, wenn wir das rein Individuelle und Zufällige des einzelnen Seelenlebens abzuziehen versucht haben. So gefaßt, haben aber jene Begriffe auch ihre volle Wahrheit, und man kann demnach wohl, wie von einer germanischen, slawischen Volkseigenthümlichkeit, so auch, als activ wirkende Kraft gefaßt, von einer entsprechenden Volksseele reden. Dürfen wir dies zugeben, so dürfen wir auch sagen, daß die einzelnen Individuen sich mehr oder weniger jener allgemeinen grundlegenden nationalen Eigenthümlichkeit, jenem nationalen Seelenleben nähern,

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Wegen dieser Unschärfe lässt sich das, was bei Korff als ‚Geist‘ bezeichnet wird, unterschiedlich verstehen, zum einen als tatsächlich wirkende Substanzen, die sowohl ideell als auch materiell-biologisch aufgefasst werden können, zum andern als nachträgliche Abstraktionen der Geschichtsschreibung, vielleicht auch als kommunikativ wirksame Sprachregelungen und Deutungsmuster. Dies mag ein Grund dafür sein, dass Korffs Darstellungen und Analysen in methodologisch sehr unterschiedliche Paradigmen der Literaturgeschichte integriert werden konnten.

5. Diese Unschärfe im Gebrauch von ‚Geist‘ lässt sich auch in Geist der Goethezeit feststellen, wenngleich Korff in einer vergleichsweise elaborierten Einleitung zum ersten Band, auf die noch zurückzukommen sein wird, Rechenschaft über seine Methode abzulegen versucht. Zunächst ist aber zu überlegen, was die Wahl des Wortes ‚Goethezeit‘ als Bezeichnung für den ideen- und literaturgeschichtlichen Entwicklungszusammenhang in Deutschland zwischen 1770 und 1830 bedeutet. Statt dieser Bezeichnung hätte Korff ja auch – unter Rückgriff auf eine Wortprägung Wilhelm Diltheys in seiner Basler Antrittsvorlesung von 1867⁵⁶ – die Bezeichnung ‚Deutsche Bewegung‘ wählen können, wie dies der Göttinger Pädagoge Hermann Nohl 1911 getan hat.⁵⁷ Korff wählte den Terminus ‚Goethezeit‘ offenbar nicht nur wegen der Zentralstellung von Goethes Werk in diesem Zeitraum – in der Tat ist kein anderer Autor in diesen Jahrzehnten mit immer neuen Werken präsent –, sondern auch wegen der grundlegenden Bedeutung dieses Autors für das Selbstverständnis und die Orientierungsmuster der modernen Kultur auch und gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und darauf kam es ihm besonders an. Korffs Auffassung von Literaturwissenschaft ist nämlich charakterisiert durch einen starken Akzent auf der Normativität ihrer Aussagen. Das heißt: Für ihn ist große Literatur eine privilegierte Möglichkeit für die Formulierung von

sich mehr oder weniger von ihm entfernen können.“ Zarncke (1895), S. 231f. Zarncke formuliert diese vorsichtige Bemerkung, um die dann folgende starke Behauptung methodisch verantwortbar abzusichern, dass die Brüder Grimm „das innerste Wesen des deutschen Gemüths- und Geisteslebens in sich conzentrierten, in sich als treibende Kraft besaßen“ (ebd., S. 232). Wenn man die zuletzt zitierte Stelle isoliert lesen würde, könnte man Zarncke eine ‚realistische‘ Auffassung von ‚Volksgeist‘ unterstellen. 56 Vgl. Dilthey (1957). 57 Vgl. Nohl (1970).

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Problemlösungen sowie von Angeboten der Handlungsorientierung, und daraus leitet er die Aufgabe des Literaturwissenschaftlers ab, jene Texte der literarischen Tradition, in denen auch für die Gegenwart gültige Problemlösungen und Handlungsorientierungen formuliert worden sind, auszuwählen und für das Publikum der Gegenwart auszulegen, vergleichbar dem Theologen, der den christlichen Glauben mit der Auslegung des Bibeltextes begründet, stärkt und auf das Handeln in der gegenwärtigen Situation anwendet. Das Ziel dieser Art von Literaturwissenschaft kann man als säkularisierte Exegese bezeichnen, in der Texte Goethes die Bibel ersetzen. Dabei geht es Korff nicht um zeitlos gültige Wahrheiten, sondern um Antworten auf Probleme, die auf eine bestimmte geschichtliche Situation der Vergangenheit derart bezogen waren, dass sie auch für die Orientierung in der Gegenwart fruchtbar gemacht werden können. Mit diesem Ziel ist für Korff die ideengeschichtliche Methode eng verknüpft. In der Einleitung zum ersten Band von Geist der Goethezeit erläutert er seine Methodenwahl wie folgt: Dieses Buch ist […] keine Literaturgeschichte im eigentlichen Sinne. Wie sein Titel andeutet, zählt es nicht am Faden loser Zeitenfolge […] die wichtigsten Denkmäler einer Dichtungsepoche auf […], sondern es versucht die gewissermaßen als bekannt vorausgesetzten Tatsachen an dem Faden einer Idee zu ordnen, aus einer so geordneten Darstellung ihrer wesentlichen Erscheinungen den Geist der Goethezeit und aus diesem wiederum die großen Denkmäler unseres deutschen Schrifttums zu verstehen und verständlich zu machen. […] Dieses Buch ist also mit Bewusstsein Ideengeschichte, nicht in dem üblichen Sinne Literaturgeschichte […]. Aber es ist Ideengeschichte mit einem besonderen Rechte, weil auf der Auffassung beruhend, daß nur durch eine ideengeschichtliche Betrachtung unsere klassisch-romantische Dichtung wesenhaft zu erleuchten ist. Denn für das Wesen dieser deutschen Dichtung […] ist nichts so sehr bezeichnend wie die Tatsache, daß sie in einem Maße wie vielleicht keine andere Dichtung der Weltliteratur Ideendichtung ist.⁵⁸

Damit behauptet Korff, dass die ideengeschichtliche Methode nicht generell auf Literaturen anderer Epochen und Nationen anwendbar sei, sondern dass sie die der Besonderheit der deutschen Literatur in diesem Zeitraum angemessene sei. Da man freilich nach Korffs Auffassung für die Orientierung in der Gegenwart ohnehin nur die kanonischen Spitzenwerke der deutschen Literatur dieser Epoche heranziehen muss, ist die gewählte Methode die einzige, die dem Gegenstand und den Aufgaben der germanistischen Literaturwissenschaft gerecht werden kann. Es gibt für diese Wissenschaft eigentlich nur einen wirklich relevanten Gegenstand, und da dieser Gegenstand durch eine einmalige Verbindung

58 Korff (1923), S. 1f.

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von Philosophie und Literatur charakterisiert ist, ist die Ideen- bzw. Geistesgeschichte die einzig sinnvolle Methode. So legitimiert Korff auf den ersten Seiten seiner Darstellung mit der Wahl seines Gegenstandes auch die Wahl der Methode. Dass die Darstellung der Entwicklungsgeschichte dieses ‚Geistes‘ sich allerdings nicht auf die Geschichte der Philosophie dieser Zeit beschränken könne – wozu beispielsweise Hermann Nohl 1911 tendiert –, sondern dass dies die spezifische Aufgabe des Literaturwissenschaftlers sei, das begründet Korff mit der These, dass die ‚Weltanschauung‘ dieser Epoche ihre eigentümliche und einmalige Gestalt erst in der Form der Kunst erreicht habe: Aber ein besonderer Umstand erst erklärt die sonst rätselhafte Tatsache, daß aus der Idee dieser neuen Weltanschauung eine Dichtung hervorgehen konnte, die gerade auch als Dichtung auf der höchsten Stufe künstlerischen Wertes steht: in dieser Weltanschauung nämlich erscheint die Kunst als die höchste Form des Lebens, ja diese Weltanschauung selbst ist eine Geburt aus dem Geiste der Kunst! Wenn daher ihr Weltanschauungscharakter den Tiefsinn der klassisch-romantischen Dichtung begründet, so ist der ästhetische Charakter dieser Weltanschauung der tiefere Grund dafür, daß sie ihre höchste Ausprägung gerade in der Form der Dichtung gefunden hat, ja daß diese Weltanschauung vielfach selber eine Art von Dichtung ist.⁵⁹

Mit dieser impliziten Begründung der Deutungshoheit der Literaturwissenschaft gegenüber anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen hängt auch der im Vorwort formulierte Adressatenbezug seines Buches zusammen, der die gesellschaftliche Funktion dieser Art von Literaturwissenschaft und damit auch innerhalb der Disziplin die Abkehr von der philologischen und positivistischen Tradition deutlich benennt: Das vorliegende Werk hält zwischen Wissenschaft und Leben eine mittlere Linie ein. Es wendet sich nicht nur, aber auch an die Wissenschaft und macht den Anspruch, in vielen Punkten Anregungen auch der Wissenschaft zu geben. In der Hauptsache wendet es sich allerdings an die gesamte bildungswillige Schicht der Nation, für die die Beschäftigung mit der klassischen Zeit des deutschen Geistes immer mehr ein lebendiges Bedürfnis geworden ist. Es setzt zwar eine anständige Kenntnis der klassisch-romantischen Literaturgeschichte voraus; nicht aber zugleich, daß jeder das einmal Gelesene auch gegenwärtig immer im Kopfe habe. Und die Dinge, von denen es spricht, bespricht es so, daß auch derjenige den Erörterungen folgen kann, der auf diesem Gebiete kein Fachmann ist.⁶⁰

59 Ebd., S. 3. 60 Ebd., S. Vf. Im Vorwort spricht er auch davon, dass das Ziel „im Gegensatze zu so vielen Literaturgeschichten nicht eine Extensivierung, sondern eine Intensivierung unseres historischen Wissens“ (S. VI) sei.

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Diesem Bezug auf ein gebildetes Publikum außerhalb des Faches entspricht auch die äußere Gestalt des Buches, das von den Gepflogenheiten wissenschaftlicher Texte sich vor allem dadurch signifikant unterscheidet, dass es ohne Anmerkungsapparat auskommt – auch die Zitate aus den Primärtexten bleiben durchgehend ohne Seiten- bzw. Verszahlen, erst ab dem zweiten Band werden im Anschluss an das Inhaltsverzeichnis knappe Hinweise auf die benutzten Editionen gegeben, mit Vorliebe Editionen, die einem breiteren Leserkreis zugänglich waren – und dass eine explizite Auseinandersetzung mit der Forschung fehlt. Weder zu den Textinterpretationen noch zum methodischen Konzept gibt Korff entsprechende Hinweise, offenbar weil der Leser den Eindruck bekommen soll, dass die Darstellung das Ergebnis eigenständiger Lektüre und unabhängigen Denkens sei. Diesen Eindruck will Korff schon in der Einleitung erzeugen, wo er ohne expliziten Bezug auf die vorangegangene und zeitgenössische Diskussion über Aufgaben und Methoden der Geisteswissenschaften den Zusammenhang der von ihm verwendeten Grundbegriffe erläutert. Die leitenden Begriffe, die von Korff in Opposition zueinander gestellt werden, sind ‚Geist‘ und ‚Leben‘.⁶¹ Mit ‚Leben‘ meint er in einem umfassenden Sinn alle Erscheinungen der Welt, die dem Menschen Probleme der Deutung und der Orientierung aufgeben. Die Instanz, die eine deutende Antwort auf die Probleme des ‚Lebens‘ gibt, ist der ‚Geist‘, und er tut dies dadurch, dass er ‚Ideen‘ hervorbringt. Die Ideen nämlich sind durchaus keine lebensfremden Gebilde, wenn sie auch freilich nicht das Leben selber sind; und sie entsteigen gerade seinen inneren Nöten als die geistigen ‚Not-wendigkeiten‘, mit denen die Nöte des Lebens wundersam gewendet werden. Die inneren Nöte des Lebens aber sind der Ausdruck jener niemals endenden Problematik, in die das Leben von Natur verschlungen ist. Und die Ideen sind der Wundergriff des Geistes, sich die problematischen Erscheinungen der Welt und Vorgänge des Lebens sinnvoll und erträglich zu machen und das Leben vom Albdrucke seiner Rätselhaftigkeit zu befreien.⁶²

Die ‚Ideen‘ haben nicht nur die Aufgabe der Deutung des ‚Lebens‘, sondern sie sind auch „Erhebungen über das Leben“⁶³ und „Ausdrücke jener faustischen Kraft des Geistes, die bloße Lebenswirklichkeit zu überfliegen und dem äußerlich

61 Da Korff, wie gesagt, keine Angaben über die Herkunft seiner Begriffe macht, kann nicht gesagt werden, von welcher Konzeption der Geisteswissenschaft oder der Lebensphilosophie er diese Opposition übernommen hat. Man kann an Wilhelm Dilthey denken, bei dem der Lebensbegriff eine zentrale Rolle spielt. Vgl. Dilthey (1970), hier vor allem den Abschnitt „Das Leben und die Geisteswissenschaften“, S. 157–167. Korff selbst schreibt so, als würde sich die Bedeutung dieser Begriffe in der Sprache der gebildeten Adressaten seines Buches von selbst verstehen. 62 Korff (1923), S. 5. 63 Ebd.

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Mannigfaltigen die innere Einheit, dem Seienden ein Seinsollendes gegenüberzustellen.“⁶⁴ Diese Erhebung über das ‚Leben‘ sei aber nicht von Dauer, denn es sei „das Schicksal der Idee, immer wieder aufs neue von der Realität des Lebens in Frage gestellt und damit gezwungen zu werden, sich durch Anpassung an die zunehmende Erfahrung am Leben zu erhalten.“⁶⁵ Eine Geschichte der ‚Ideen‘ ist demnach eine Geschichte eines Kampfes zwischen dem ‚Geist‘, der das ‚Leben‘ deutet und überwindet, und dem ‚Leben‘, das diese Deutungen immer wieder in Frage stellt und neue Deutungen herausfordert: Ideen sind ihrem Wesen nach keine Endgültigkeiten, sondern Versuche. Es sind die immer wieder in Frage gestellten Versuche des Geistes, der Welt und dem Leben im ganzen und im einzelnen den ‚richtigen Sinn‘ abzugewinnen.⁶⁶

Geistesgeschichtlich begründete Ideengeschichte kann sich demnach nicht auf die Darstellung einer immanenten Abfolge von ‚Ideen‘ beschränken, vielmehr muss diese Abfolge in Bezug gesetzt werden zu den Deutungsaufgaben, die das sich ständig wandelnde ‚Leben‘ stellt. Und insofern die ‚Ideen‘ einem ständigen Wandlungsprozess unterworfen sind, haben sie selbst die Form des ‚Lebens‘, weswegen Korff auch vom „Ideenleben“⁶⁷ spricht. Die Geschichtlichkeit der ‚Ideen‘ ergibt sich für Korff nicht nur aus dem Kampf mit den wechselnden Erscheinungen des ‚Lebens‘, sondern auch daraus, dass der ‚Geist‘ die Tendenz hat, die ‚Ideen‘ in „Ideensysteme, die wir Weltanschauungen zu nennen pflegen“,⁶⁸ zusammenzufügen.⁶⁹ Die Aufgabe des Literaturhistorikers ist es demnach, aus den einzelnen Äußerungen einer Epoche den systematischen Zusammenhang der ihnen zugrunde liegenden ‚Ideen‘ zu rekonstruieren. Um aber die Geschichtlichkeit der ‚Ideensysteme‘ bzw. der ‚Weltanschauungen‘ angemessen erfassen zu können, muss auch die Abfolge dieser Systeme in ihrer 64 Ebd. Man kann dies als Umschreibung von Kants Ideen der reinen Vernunft und den Postulaten der praktischen Vernunft lesen. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 4. 68 Ebd., S. 6. Wenn Korff hier den durch Wilhelm Dilthey geprägten Begriff der ‚Weltanschauung‘ als Synonym für ‚Ideensystem‘ einführt, so offenbar deswegen, weil dieser Begriff schon bei Dilthey mit der These verbunden ist, dass die Dichtung ein spezifisches Medium des Ausdrucks von ‚Weltanschauung‘ sei. ‚Weltanschauung‘ ist bezogen auf ästhetische Erfahrung; bei ‚Ideensystem‘ denkt man eher an ein philosophisch formuliertes Begriffssystem. Vgl. Thomé (2004), Sp. 457. 69 Vgl. ebd., S. 4: „Es liegt im Wesen des Ideenlebens tief begründet, daß es in großen Zusammenhängen verläuft, weil jede Idee danach strebt, sich einem größeren Zusammenhange einzuordnen oder sich zu einem größeren Zusammenhang auszuwachsen.“

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entwicklungslogischen Plausibilität erfasst werden.⁷⁰ Eine zentrale Form dieser Entwicklung ist für Korff der beständige „Kampf“ zwischen ‚Ideen‘ bzw. ‚Ideensystemen‘, der dazu führt, dass ‚Ideensysteme‘ nicht nur beständig mit den Problemen des ‚Lebens‘ konfrontiert sind, sondern im Hinblick auf ihre deutende Kraft auch in Konkurrenz stehen zu anderen ‚Ideensystemen‘. In der Entwicklung der ‚Weltanschauungen‘ muss deshalb nicht nur eine zeitliche Abfolge bedacht werden, sondern auch eine permanente Gleichzeitigkeit von um die Deutungshoheit konkurrierenden ‚Weltanschauungen‘: Scheinen […] die großen zeitenbeherrschenden Ideensysteme manchmal starr zu sein, so gehört nur ein scharfer Blick dazu, um zu erkennen, wie nichtsdestoweniger unaufhörliche Bewegung herrscht. Denn an den Toren der großen Weltanschauungen klopfen in jeder Minute die Ideen, die aus den jeweiligen Lebensnotwendigkeiten, Lebenserfahrungen, Lebenssituationen geboren sind und nunmehr wieder aufgenommen zu werden verlangen oder aber als Feinde einzudringen versuchen, um lebensunbrauchbar gewordene Ideensysteme zu zerstören und auf den Trümmern neue Ideenreiche zu errichten.⁷¹

Der „‚Geist‘ einer Zeit“⁷² ist demnach zu beschreiben als deutende Reaktion auf eine Situation der Welt, in der Probleme des ‚Lebens‘ in einer geschichtlich konkreten Gestalt sich zeigen und einer Lösung harren. Die Deutung geschieht im Rahmen einer ebenfalls geschichtlich konkreten und damit einmaligen Überlagerung und Konkurrenz von ‚Ideensystemen‘ bzw. ‚Weltanschauungen‘, die sich verfestigen können, aber gleichzeitig sich in einem ständigen Wandlungsprozess befinden. Stärker als im Voltaire-Buch ist in dieser Einleitung die Tendenz, dieses Konzept in einer metaphorischen Sprache zu formulieren, die die Annahme nahe legt, Korff habe die Begriffe ‚Geist‘, ‚Leben‘, ‚Idee‘ usw. im Sinne eigenständiger Substanzen verstanden, die wie Subjekte mit Absichten handeln. Es gibt aber daneben Formulierungen, die von dem Bewusstsein zeugen, dass die ‚Ideen‘ „Abstraktionen“ sind, „die, weil aus einer Mannigfaltigkeit des Wirklichen gewonnen, darum ihrem Wesen nach für keine einzelne Wirklichkeit in

70 Vgl. ebd., S. 3: „Denn in der Tat sind die Ideen dieser wie jeder Zeit nichts einzelnes, sondern bilden miteinander nicht nur eine große in sich blutsverwandte Familie, sondern auch eine Folge von Generationen, in der sie sich nach den Gesetzen ihres inneren Wachstums Stufe für Stufe und Form um Form entwickeln und entfalten. Sie lassen sich also nicht nur als einen systematischen, sondern auch als einen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang von tiefer logisch-psychologischer Notwendigkeit verstehen, durch den das Einzelne erst in einem tieferen Sinne verständlich wird.“ 71 Ebd., S. 5f. 72 Ebd., S. 7.

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vollem Umfange Geltung haben“.⁷³ Der ontologische Status von ‚Geist‘ verbleibt also auch in diesem Werk in der für Korff charakteristischen Mehrdeutigkeit. Korffs elaboriertes Konzept einer Epochendarstellung, das sich durchaus in einer nichtsubstantialistischen Sprache reformulieren ließe, hat den unbestreitbaren Vorzug, dass es an alle literaturwissenschaftlichen Paradigmen anschließbar ist, die einen Bezug von Literatur zur Realität herstellen wollen, sei es zur Natur im weitesten Sinn, sei es zu Gesellschaft und Politik, dabei aber der Komplexität der literarischen Darstellungs- und Deutungsverfahren gerecht werden wollen. In der Wahl seiner Begrifflichkeit stellt sich Korff bewusst und explizit in die Tradition der Philosophie und Literatur der Goethezeit, die er im Werk Goethes kulminieren lässt und die er auf eine den Erwartungen des gebildeten Publikums seiner Zeit angepasste Verständlichkeit herunterbricht. Er schließt sich damit neben Bezügen zu begrifflichen Errungenschaften Wilhelm Diltheys jenen Erneuerungen dieser Tradition in der Heidelberger Philosophie der Jahrhundertwende an, die sein dortiger philosophischer Lehrer Windelband repräsentiert hat, weist aber auch Berührungen mit der Strömung der ‚Lebensphilosophie‘ auf. Die Spuren der Rezeption dieser Anregungen sind aber durch die Art der Darstellung und Korffs Weigerung, sich explizit einem bestimmten Paradigma anzuschließen, verwischt, so dass eine genauere Rekonstruktion der Rezeptionswege, die zu Korffs Auffassung führen, kaum möglich erscheint. Auf die zeitgenössische Literaturwissenschaft bezogen, steht Korffs Konzept – ohne dass er den Begriff explizit nennt – in der Nähe der ‚Problemgeschichte‘ seines Konkurrenten um die Leipziger Professur Rudolf Unger.⁷⁴ Während Unger sich aber auf die Deutung von überzeitlichen Problemen konzentriert, auf „das Todesproblem, das Liebesproblem oder das Religionsproblem“,⁷⁵ öffnet sich Korffs Ansatz stärker der jeweiligen geschichtlichen Konkretisierung dieser Problemstellungen, von denen allerdings auch Korff annimmt, dass sie generell zur menschlichen Natur gehören; auch bei ihm kreisen deshalb die einzelnen Interpretationen bevorzugt um Sexualität und Tod und um deren Bewältigung in der Religion.⁷⁶ Mit der geschichtlichen Konkretisierung der überzeitlichen ‚Lebens73 Ebd., S. 33. 74 Vgl. zu Ungers ‚Problemgeschichte‘ Werle (2006), hier S.  489–491: Der Aufsatz Ungers, in dem das Wort ‚Problemgeschichte‘ in die Debatte gebracht worden ist, erschien erst 1924, also ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Geist der Goethezeit. Von der Sache selbst hat Unger aber schon 1908 gesprochen. 75 Werle (2006), S. 491. 76 Korff hätte sich hier durchaus auf die Einleitung von Windelbands 1891 erstmals publiziertem und äußerst erfolgreichem Lehrbuch der Geschichte der Philosophie berufen können, wo zwischen überzeitlichen Problemen und historisch konkreten Problemstellungen unterschieden wird: „Denn die Probleme der Philosophie sind der Hauptsache nach gegeben, und es erweist

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probleme‘ im Zusammenhang steht bei Korff das im Vergleich zu Ungers Arbeiten ehrgeizigere Ziel, die ‚Problemgeschichte‘ auf die Einheit einer ganzen Epoche zu beziehen und dabei ein tragfähiges Modell von Epochendarstellung zu entwickeln.

6. Das Modell von geistesgeschichtlicher Epochendarstellung gerät nun bei Korff in einen unausgetragenen Widerspruch zwischen der Vorstellung von einem beständigen Fluss der ‚Ideensysteme‘ auf der einen und der Stillstellung des geschichtlichen Wandels in Werk und ‚Weltanschauung‘ Goethes auf der anderen Seite, das ja als gültiges Orientierungsangebot für die Deutschen auch und gerade in der Gegenwart dienen soll. Man muss dabei bedenken, dass Geist der Goethezeit nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch der Monarchie begonnen worden ist, in einer Zeit also, in der es einen dringenden Bedarf nach einer neuen Sichtung der kulturellen Tradition Deutschlands gegeben hat. Die Lösung dieses Widerspruchs geschieht vordergründig unter Ausklammerung politisch-gesellschaftlicher Themen, aber durchaus nicht ohne Bezug zur politischen Situation der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Dies lässt sich am eindrücklichsten wohl in einem kurzen, 1925 publizierten Vortrag über die „Lebensidee Goethes“ erfassen: Wenn überhaupt von einer nationalen Bedeutung Goethes die Rede sein soll, dann kann es sich nur handeln um seine Bedeutung für gewisse Schichten unseres Volkes, die da für Goethe reif geworden sind. […] Nur diejenigen […] scheinen mir wirklich für Goethe reif zu sein, für welche Goethe […] die Wende einer inneren Not […] geworden ist […]. Ich könnte sagen […], sie besteht in der Unsicherheit der Weltanschauung, in dem gefährlichen Fragezeichen, das für diejenigen eingetreten ist, die sich dem Christentum entwachsen fühlen. Das würde dann zugleich erklären, warum es nur ein kleiner Teil von Menschen ist, für den

sich dies darin, daß sie im historischen Verlaufe des Denkens als die ‚uralten Rätsel des Daseins‘ immer wieder kommen und gebieterisch immer von neuem die nie vollständig gelingende Lösung verlangen.“ Dies sei bei der philosophiegeschichtlichen Darstellung aber zu ergänzen durch einen „kulturgeschichtlichen Faktor“: „Denn aus den Vorstellungen des allgemeinen Zeit-Bewußseins und aus den Bedürfnissen der Gesellschaft empfängt die Philosophie ihre Probleme, wie die Materialien ihrer Lösung. Die großen Errungenschaften und die neu auftauchenden Fragen der besonderen Wissenschaften, die Bewegungen des religiösen Bewusstseins, die Anschauungen der Kunst, die Umwälzungen des gesellschaftlichen und des staatlichen Lebens geben der Philosophie ruckweis neue Impulse […].“ Windelband (1948), S. 9–11. Dass Windelband in seinem Buch dieses Programm nicht eingehalten hat, steht auf einem anderen Blatt. Vgl. Werle (2006), S. 487.

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Goethe eine innere Notwendigkeit bedeutet. Denn nur die wenigsten sind dem dogmatischen Christentume ernstlich entwachsen; und unter denen, die ihm entwachsen scheinen, empfinden nur die wenigsten ihren Zustand als eine innere Not.⁷⁷

Goethe ist also ein Autor, an dem sich auch in der Gegenwart nur eine Minderheit orientieren kann, und zwar jene Minderheit, die sich vom Christentum verabschiedet bzw. den Geltungsverlust des Christentums in der modernen Kultur als unumkehrbares Ergebnis der Neuzeit seit der Renaissance erkannt hat und gleichzeitig darin ein Problem, eine ‚Not‘ sieht, die ‚gewendet‘ werden muss. Korff überträgt hier gewissermaßen den ‚problemgeschichtlichen‘ Ansatz auf die Diagnose seiner Gegenwart.⁷⁸ Goethe war – so Korff – der erste bewusste ‚Heide‘ in der deutschen Kulturgeschichte.⁷⁹ Er habe aber auch das daraus entstehende Problem erkannt, dass die Abwendung vom Christentum mit dem Verlust der Grundlagen der Moral verbunden sein könne, und er habe deswegen aus der Position des bewussten Heidentums heraus eine neue Antwort für eine postchristliche moralische Orientierung formuliert. Da Goethe diese Antwort als Biologe entwickelt habe, der „eigentliche[n] Wissenschaft des modernen Geistes“,⁸⁰ weil er als Naturforscher „nicht nur als Biologe, nämlich als Zoologe und Botaniker, beginnt, sondern auch seinem Wesen nach Biologe“⁸¹ gewesen sei, sei sein Orientierungsangebot anschließbar an die moderne „Lebensphilosophie“.⁸² Unter Berufung auf Georg Simmel – hier nennt Korff ausnahmsweise einmal einen Gewährsmann namentlich – erklärt er, dass der Begriff des ‚Lebens‘ die Bezeich-

77 Korff (1925), hier S. 143f. 78 Er beschreibt damit auch seine eigene biographische Situation, da er sich seit 1910 als konfessionslos verstanden und dies mit seinem Kirchenaustritt öffentlich signalisiert hat. Das ganze Unternehmen von Geist der Goethezeit nährt sich demnach auch aus einem biographischen Glutkern, den man nicht unterschätzen sollte. 79 Korff grenzt sich damit von allen Goethedeutungen ab, die den Autor zum Christen machen wollen. Dagegen wendet er sich auch scharf in Geist der Goethezeit, auch hier ohne Namen zu nennen. Vgl. Korff (1917), S.  275f.: „Und es kann den unreinlichen Geistern gegenüber, denen nicht wohl ist, wenn sie nicht auch den größten deutschen Dichter auf irgendeine Weise wieder zum Christen machen können, nicht scharf genug betont werden, daß Goethe zwar so fromm gewesen ist, wie noch alle großen Menschen, aber mit der christlichen Theologie so vollkommen gebrochen hat, als man nur eben brechen kann. Ist nach der Vorstellung der christlichen Kirche jeder, der den Glauben an das christliche Dogma verweigert, ein Heide, so ist Goethe ein vollkommener Heide. Und die deutsche Geistesgeschichte tritt mit Lessing und Goethe in die Periode ihres Heidentums! Daran kann und soll nicht gerüttelt werden.“ 80 Korff (1925), S. 154. 81 Ebd. 82 Ebd.

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nung für die zentrale ‚Idee‘ der Epoche der Gegenwart sei⁸³ und dass demzufolge die Biologie die „eigentliche Wissenschaft des modernen Geistes“⁸⁴ sei. Es gebe nun allerdings eine „Idee der Biologie“⁸⁵ – sie wird Goethe zugeschrieben –, die unterschieden werden müsse von ihrer „gegenwärtigen Gestalt“.⁸⁶ Und dort, wo Korff Goethes Auffassung von Biologie der gegenwärtigen Biologie explizit entgegenstellt, wird die Front, in der er Goethe in den weltanschaulichen Kämpfen der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Stellung bringen will, mit wünschenswerter Eindeutigkeit ausgesprochen: Der Sinn aller Metamorphosen ist die Vergeistigung des Lebens. Und der Übermensch, dem Goethe entgegenschaut, ist nicht die ‚blonde Bestie‘ des vom Geiste des Darwinismus verwirrten Nietzsche, nicht eine Steigerung unserer Animalität, sondern eine geistigere Art des Menschen, von deren Möglichkeit uns die Dichtung Goethes die seligste Gewißheit gibt.⁸⁷

Es geht also um die Rettung einer auf der Unterscheidung von Geist und Materie beruhenden Moral, die zwar auf der Basis einer Anerkennung der Wirklichkeit des ‚Lebens‘ aufruht, den unumkehrbaren Geltungsverlust des Christentums berücksichtigt, aber die inhumane Konsequenz von nur naturalistischen bzw. biologistischen Maximen des Handelns vermeidet. Nietzsches Philosophie – identifiziert mit dem Darwinismus – wird als warnendes Beispiel für die Gefahr genannt, nach dem ‚Tod Gottes‘ nur mehr das Recht des Stärkeren als Gebot des ‚Lebens‘ anzuerkennen. Anders gesagt: Es geht um die Rettung des ‚Idealismus‘ unter der Voraussetzung eines postchristlichen Zeitalters und unter Anerkennung der Tatsachen der Natur einschließlich der biologischen Verfasstheit des Menschen. Das Ziel der Auslegung von Goethes Werk ist es demzufolge, die in ihm formulierte und in der Gegenwart nicht überholte Problemlösung freizulegen. Da das Problem selbst sich aber auch in der Gegenwart nur einer Minderheit stellt, glaubt Korff offenbar davon ausgehen zu können, dass die Epoche der ‚Goethezeit‘ in diesem Punkt noch gar nicht abgeschlossen ist und deswegen die schon ein Jahrhundert zurückliegende Problemlösung immer noch Geltung für Gegenwart und Zukunft beanspruchen darf.

83 Als Bezugstext vgl. Simmel (1999). Die Textpassage in diesem Essay von 1918, auf die Korff Bezug nimmt, findet sich S. 186–188. 84 Korff (1925), S. 154. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd., S. 165.

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7. Wie Korff den Weg der Ideengeschichte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu dieser in der Dichtung des klassischen Goethe zur Erscheinung gebrachten Einsicht konstruiert, soll hier nur kurz skizziert werden. Eine knappe Übersicht findet sich bei Korff selber in einem „Vorblick“ überschriebenen Abschnitt des 2. Bandes von Geist der Goethezeit.⁸⁸ Er geht aus von dem Ungenügen der Autoren des ‚Sturm und Drang‘ an dem Versuch der Aufklärung, ein Äquivalent für das Christentum zu erstellen. Dieses Ungenügen beziehe sich darauf, dass die Aufklärung die rational nicht erfassbaren Phänomene des wirklichen ‚Lebens‘ nicht zureichend gedeutet habe. Im Widerspruch dazu werde im ‚Sturm und Drang‘ ein irrationales „Weltgefühl“⁸⁹ entwickelt, das bei Herder und beim jungen Goethe im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas zu einer pantheistischen „Weltanschauung“⁹⁰ umformuliert werde. Korff nennt diese ‚Weltanschauung‘, in der ein bloßes Gefühl erst philosophisch begründet worden sei, „Naturidealismus“.⁹¹ In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts vollziehe sich eine zweite Entwicklung, die den Rationalismus der Aufklärung weiterführe und somit als konkurrierendes ‚Ideensystem‘ gedeutet werden könne, nämlich die Entstehung und Ausbreitung der Philosophie Kants – Korff nennt dieses Phänomen „Vernunftidealismus“.⁹² In der Auseinandersetzung zwischen Herder und Kant zeige sich exemplarisch der Zusammenstoß zwischen diesen beiden Konzepten, die „Scheidung der Geister“.⁹³ Das Ziel sei eine Synthese von ‚Naturidealismus‘ und ‚Vernunftidealismus‘, weil in dieser Synthese offenbar die normative Verbindung von ‚Leben‘ und ‚Geist‘, von Biologie und Moral, auf die es Korff ankommt, möglich werde. Dieses Ziel der Epoche erreicht zu haben, sei die Leistung der Weimarer Klassik. Die „Freundschaftsgeschichte zwischen Schiller und Goethe“ zeige, „daß es sich hier keineswegs um unüberwindliche Gegensätze, sondern um Gegensätze handelt, die von einer letzten Einheit innerlich umschlossen werden“.⁹⁴ Wie nun die eigentlich hochklassische Zeit äußerlich mit der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller beginnt, so entsteht auch die Klassik im ideengeschichtlichen Sinne mit der Synthese dieser beiden Formen des deutschen Idealismus. […] In ihr kommen die beiden

88 Korff (1954b), S. 11–13. 89 Ebd., S. 11. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 12. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd.

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entgegengesetzten […] Formen idealistischer Weltanschauung zu einem ersten Ausgleich. Sie finden sich auf dem Boden der Kunst. Und eine neue Kunst ist darum auch die schönste Frucht ihrer Vereinigung. […] Die Weltanschauung der Klassik entsteht nicht aus der einfachen Weiterentwicklung des Weltgefühls von Sturm und Drang, sondern zwiegeschlechtig aus der Vermählung des reif gewordenen Naturidealismus mit dem von ihm Besitz ergreifenden Vernunftidealismus: aus dem zeugenden Einbruch der männlichen Gedankenwelt Kants in die weibliche Gedankenwelt Herders und Goethes, durch welche diese neu befruchtet wird.⁹⁵

In diese Konstruktion, die erkennbar selbst ein Konstruktionsschema der goethezeitlichen Philosophie von These, Antithese und Synthese aufgreift, ordnet Korff mit großem argumentativem und interpretatorischem Aufwand eine ganz erhebliche Fülle von Texten ein – es handelt sich ja durchaus nicht um eine textferne Konstruktion – und er kann so die Entwicklung konsequent auf jenes Konzept zulaufen lassen, das er für die Orientierung in der Gegenwart anbieten möchte. Er muss freilich auch bei Goethe die dialektische Entwicklung still stellen. Die Romantik ist für ihn letztlich nur ein Abfall von der erreichten Höhe, und die Frage, ob und wie die Dialektik der Geschichte sich weiter entwickelt hat, scheint sich ihm nicht zu stellen. Die Romantik, mit der sich Korff im dritten und vierten Band von Geist der Goethezeit befasst, wird zwar als „Vollendung der Goethezeit“⁹⁶ interpretiert, aber in einer ambivalenten Bewertung: „Nicht in dem Sinne zwar, daß erst in ihr das Höchste und Größte erreicht, wohl aber in dem, daß erst in ihr der Geist der Goethezeit zur letzten Stufe seiner organischen Entwicklung gekommen sei.“⁹⁷ Die Dichtung der Romantik sei die Dichtung der zweiten Generation der ‚Goethezeit‘, für deren Situation, „von Natur jung und an geistiger Bildung alt zu sein“, sie „erschütternde Zeugen sind“.⁹⁸ Die Formeln, unter denen Korff das Ergebnis der Auseinandersetzung der romantischen Generation mit Goethe zusammenfasst – „Romantisierung der humanistischen Gedankenwelt“⁹⁹ und „Verchristlichung des klassischen Ethos“¹⁰⁰ – zeigen schon an, dass bei allem Respekt vor der Leistung der Romantiker das Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit dem „klassischen Humanismus“¹⁰¹ als Vorbild für eine Orientierung in der Gegenwart nicht tauglich ist, sondern allenfalls ein interessantes und faszinierendes Exempel für die immanenten Gefährdungen des ‚Geistes‘ dieser Epoche und damit auch der 95 Ebd., S. 12f. 96 Korff (1949), S. 3. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 6. 99 Ebd., S. 9. 100 Ebd., S. 13. 101 Ebd., S. 14.

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Gegenwart sind, in der ja nach Korffs Überzeugung an einer Moral ohne Rückfall in die christliche Religion gearbeitet werden muss. Es fügt sich gut in Korffs Intentionen, dass er auch aufgrund der zeitlichen Abfolge der goethezeitlichen Dichtung das Spätwerk Goethes als eine die Romantik überwindende Antwort an das Ende seiner Gesamtdarstellung setzen kann. So wird der Westöstliche Diwan als „Dokument der deutschen Religionsgeschichte“¹⁰² interpretiert: Denn diese große lyrische Altersdichtung ist der sublimste Ausdruck von Goethes freier ästhetischer Religiosität. Und sie steht deshalb an dieser Stelle als der strahlende Sieg des wahren Geistes der Goethezeit über seine Verdunkelung durch die Christlichkeit der Hochromantik, als das positive Manifest der deutschen Klassik gegen die frömmelnde neudeutsch-religiös-patriotische Kunst, gegen die sich bald darauf, im ersten Band von Kunst und Altertum (1817), der Angriff der weimarischen Kunstfreunde richtete.¹⁰³

In diesen Deutungsrahmen stellt Korff dann gegen Ende seines Werks auch die Schluss-Szenen von Goethes Faust, die wegen der Verwendung der Bilder von Himmel und Hölle aus der christlichen Tradition Schwierigkeiten bereiten könnten: Er benutzt beides zwar poetisch, aber nicht mehr in dem naiven Glauben, den die christliche Kirche von ihren Gläubigen verlangt. Er benutzt beides sozusagen mit romantischer Ironie. Aber eben darum mit so absoluter poetischer Freiheit, daß es seiner Phantasie vollkommen überlassen bleibt, sich diese Vorstellungen der christlichen Mythologie so großartig und poetisch wie nur möglich auszumalen und auf diese Weise Szenen hervorzubringen, wie sie an innerer Transzendenz und äußerer Glorie alles übertreffen, wozu sich die christliche Phantasie der Romantik emporgeschwungen hat. So daß man sagen muß: wenn irgendwo die christliche Romantik an ihr Ziel gekommen ist, dann ist es in der unchristlichen großen Dichtung, in der die Goethezeit kulminiert.¹⁰⁴

Fragt man sich nach dem Bezug dieser Konzeption zur politischen Situation der zwanziger und dreißiger Jahre, so kann man sich – was explizite Aussagen angeht  – eigentlich nur an der deutlichen Abgrenzung von einem darwinistischen Nietzscheanismus orientieren, die er in seinem Aufsatz über die Lebensidee Goethes formuliert, gegen den das Programm einer postchristlichen Synthese von Biologie und Moral aufgeboten wird. Damit könnte verständlich werden, dass und warum Korff im Grunde immun war gegen den Kern der nationalsozialistischen Ideologie, den biologistisch begründeten Rassismus. Immun war Korff auch gegen eine Reduktion des ‚deutschen Wesens‘ auf einen antiaufklärerischen

102 Korff (1953), S. 471. 103 Ebd. 104 Ebd., S. 698.

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Irrationalismus, da er die normgebende Leistung Goethes gerade in der Synthese von Gefühl und Vernunft erkannt zu haben glaubte. Korff befand sich in der Zeit des Nationalsozialismus aber nicht in Opposition zum System, sondern eher in vornehmer Distanz, die er nur implizit in seiner Epochendarstellung zu erkennen gibt. Es gab aber durchaus Möglichkeiten des partiellen Anschlusses an nationalkonservative und nationalsozialistische Ideologien, und es ist deswegen auch nicht verwunderlich, dass Korff in einem Aufsatz aus dem Jahr 1933¹⁰⁵ – wie viele seiner Generationsgenossen – in Verkennung der Realität die Machtergreifung der Nationalsozialisten als Lösung der Krise der modernen Kultur und als Befreiung des deutschen ‚Wesens‘ begrüßt hat.¹⁰⁶ Korff hat seine Epochendarstellung als einen Beitrag zur ‚Deutschkunde‘ verstanden, da er ja davon ausging, dass im ‚Geist‘ dieser Zeit und im Werk Goethes das ‚Wesen‘ der deutschen Nation zu seiner authentischen Erscheinung komme. Diese ‚Deutschkunde‘ war aber, wie gesagt, nicht identisch mit dem nationalsozialistischen Selbstbild von Deutschland. Man muss, um Korffs Position in dieser Zeit gerecht zu würdigen, auch seine Rede zum 100. Todesjahr Goethes 1932 mit heranziehen, in der er Goethes vermeintlichen Quietismus und Relativismus im Bereich der Politik und der Weltanschauungen dem Publikum als Norm für eine friedliche Austragung des Kampfes zwischen innerdeutschen und internationalen Interessen vor Augen zu stellen versucht.¹⁰⁷ Aber auch hier bleibt der Eindruck ambivalent. Man darf nämlich nicht übersehen, dass die Moral des ‚Lebens‘, die Korff bei Goethe zu entdecken glaubt,

105 Korff (1933). 106 Vgl. Klausnitzer (2007), hier S. 107. 107 Vgl. Korff (1932), S. 22f.: „Die Verbindung der Gegensätze zur Ganzheit des Lebens, der entgegengesetzten Gemütskräfte zur vollen Humanität, der entgegengesetzten Parteien zur ganzen Nation, der entgegengesetzten Nationen zum größeren Ganzen der Menschheit, der unterschiedlichen Nationaldichtungen zur Weltliteratur: das ist die letzte, alles übergreifende Idee Goethescher Lebensweisheit. Aber diese Idee hat ebenso zur Voraussetzung die Wirksamkeit der entgegengesetzten Parteien wie ihr Zusammenwirken zu einem größeren Ganzen. Und deshalb kommt aus Goethes tiefstem Lebensgrunde das Wort: ‚Am Anfang war die Tat‘, die Tat, die immer zugleich auch Kampf, Partei und Ungerechtigkeit bedeutet. Soll sie indessen wahrhaft fruchtbar werden, so muß ihr von oben her die Weisheit zu Hilfe kommen, die große Gerechtigkeit auch gegen den Feind, die zwar den Kampf nicht aufgibt, ihn aber emporhebt auf jene Ebene des kämpfenden Zusammenspielens, auf der dasselbe zwar geschieht, aber in einer völlig anderen Gesinnung: in der Gesinnung nicht des Haß-Kampfes, sondern des Liebes-Kampfes, wie jeder Kampf es ist, der den Charakter des Wettkampfes angenommen hat.“ Liest man dies als Stellungnahme zur politischen Situation am Ende der Weimarer Republik, was man durchaus darf, dann enthüllt diese Passage schlagartig auch die Hilflosigkeit dieser Bildungstradition gegenüber der geschichtlichen Realität dieser Zeit.

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die Rechtfertigung von Verstößen gegen die traditionelle christlich-europäische Moral mit einschließt, und zwar dann, wenn große Gestalten und Täter um des Fortschritts des ‚Lebens‘ willen gegen diese Moralgebote verstoßen müssen. Die literarische Figur, an der Korff dieses Prinzip dargestellt wissen will, ist die Figur des Faust. So heißt es im vierten Band von Geist der Goethezeit, der 1953, also nach der Erfahrung des Nationalsozialismus erscheint, im Hinblick auf die Verbrechen, die der alte Faust an Philemon und Baucis begeht: Goethes Faust-Mythus fragt ursprünglich nicht nach der Moralität des Helden, sondern nach seiner Kraft, die existenzielle Fragwürdigkeit des Lebens zu bestehen. Er fragt nach der Möglichkeit einer idealistischen Befriedigung durch das Leben, nicht nach dem Preis und den Opfern, die ein solches kostet. Er ist in diesem Sinn in der Tat ein Mythus jenseits von Gut und Böse. […] Denn auch der Faust-Mythus hat seine innere Moralität: es ist die Moralität des ewigen Strebens […]. Aber gerade diese Moral […] ist von der Gefahr einer Immoralität umwittert, die als ihre Kehrseite begriffen werden muß. Sei es dahingestellt, ob der Mensch ihr notwendig erliegen muß – daß er ihr auf das schwerste ausgesetzt ist, darüber besteht kein Zweifel, darüber belehrt uns jeder Blick auf das Leben großer, von einem mächtigen Streben besessener Menschen, in denen dieses Streben zuletzt einen dämonischen […] Charakter bekommt. Hinter jedem großen Wollen […] steht die Gefahr des Frevels wie hinter jedem Faust – der Teufel.¹⁰⁸

Mit dieser These von der „paradoxen Idee der sittlichen Notwendigkeit der Schuld“,¹⁰⁹ die Goethes Faust zugrunde liege, stellt sich Korff in eine lange Interpretationstradition, die die Figur des Faust mit dem Autor identifiziert, dem Autor eine positive Bewertung dieser Figur unterstellt und daraus eine Rechtfertigung von moralischer Rücksichtslosigkeit gegenüber Einzelnen im Namen ‚höherer‘ Interessen des ‚Lebens‘ – sei es der Nation, der Rasse oder auch der Klasse ableitet. Wer wollte und den Kontext der Distanzierung Korffs vom naturalistischen Biologismus nicht kannte, der konnte aus dieser Faust-Deutung auch eine Rechtfertigung der Verbrechen des Nationalsozialismus als einem ‚dämonischen‘ Phänomen des ‚Lebens‘ ableiten.

8. Auf welche Weise konnte Korffs Werk in der DDR rezipiert werden? Zunächst ist festzustellen, dass nach 1945 dessen Stellung in der Universität nicht angetastet wurde, ebenso wenig wie die von Theodor Frings, schon allein deswegen, weil

108 Korff (1953), S. 691f. 109 Korff (1954b), S. 394.

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die Administration der Sowjetischen Besatzungszone im Zusammenhang mit der Volksfrontpolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Interesse der Einbindung ‚bürgerlicher‘ Gruppen in breite ‚antifaschistische‘ Bündnisse hatte und weil man zur Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs auf einen Stamm von ‚bürgerlichen‘ Hochschullehrern, die gegenüber dem NS-Regime eine gewisse Distanz eingehalten hatten, nicht verzichten konnte.¹¹⁰ Mit einer zweibändigen Anthologie von Texten der Goethezeit¹¹¹ beteiligte sich Korff in den ersten Jahren nach 1945 an den zeit- und generationstypischen Versuchen, das Erbe der klassischen deutschen Kultur noch einmal als Angebot zur Rettung der moralischen Identität der deutschen Nation aus der Katastrophe von Nationalsozialismus und Kriegsniederlage zu bewahren.¹¹² In der einleitenden Deutung dieses Anliegens zeigt sich, wie Korff in der Nachkriegszeit die moralischen Ambivalenzen, die vor allem in seiner Faust-Deutung sichtbar geworden sind, zum Zweck der Legitimation der Deutschen und ihrer Geschichte einzusetzen versucht: Wenn es gilt, vor dem Forum der Weltgeschichte oder vor dem Angesichte Gottes beweiskräftig zu bekunden, was deutsche Gesinnung, deutscher Glaube, deutscher Idealismus und deutsche Menschlichkeit zu sein vermögen, wenn man ihnen erlaubt, sich rein nach ihrem eigenen Gesetze zu entfalten: so sind es unsere Klassiker, die alsdann für uns zu zeugen haben. Zu zeugen aber insbesondere gegen die Anklagen, die, mehr noch als die anderen Völker, wir selbst gegen diejenigen erheben, die deutsche Art vor Gott und Welt geschändet haben, so daß wir in Versuchung kommen aufzuhören, uns noch fürderhin als Deutsche zu fühlen. Freilich, unsere Klassiker widerlegen nicht unsere – sicherlich auch ‚klassischen‘ – Bösewichter. […] Ja vielleicht repräsentieren diese nur die Kehrseiten unserer Tugenden, mit denen sie darum auch tragisch-notwendig zusammengehören. So ist es darum auch nicht gemeint. Sondern umgekehrt: in einer Zeit, die uns Grund gegeben hat, am deutschen Volke völlig zu verzweifeln, seitdem uns nur noch die Kehrseiten seiner Tugenden entgegentraten, kann uns aus unserer lähmenden Niedergeschlagenheit erlösen ein Aufblick zu den idealen Mächten deutscher Art, die ebenso real und wahr sind wie ihre dunkle Gegenwelt.¹¹³

Korffs ‚heidnische‘ Deutung von Goethe dürfte deren Wirkung in den westlichen Besatzungszonen und in der frühen Bundesrepublik begrenzt haben, weil

110 Vgl. Boden (1995); Jessen (1996), hier S. 79f. 111 Korff (1947a) und ders. (1947b). 112 So gab es den Vorschlag des Historikers Friedrich Meinecke, „Goethegemeinden“ zu bilden, die sich „zu einer späten Sonntagnachmittagsstunde – und wo es irgend möglich wird, sogar in einer Kirche!“ zu Feierstunden mit Musik und Rezitationen von bedeutenden Texten deutscher Dichtung versammeln sollen – Meinecke (1969), hier S. 444. Meinecke denkt auch an ein „Handbuch für Goethegemeinden“, das Hinweise auf geeignete Texte und Vorschläge zum rituellen Ablauf enthalten sollte. 113 Korff (1947a), S. VIII.

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sie nicht in den Mainstream der Restauration christlicher Werte gepasst haben. Desto besser hat gerade diese Eigenschaft die Aneignung in der Literaturwissenschaft der DDR ermöglicht, denn in Korffs Goethedeutung wie in seiner eigenen Haltung repräsentiert sich genau das, was man im Erbe der ‚bürgerlichen‘ Literatur als das hat rezipieren können, was in der Sprache der DDR – wie bei Korff selbst – als ‚humanistisch‘ bezeichnet wurde. Korffs Goethe ist im Grunde identisch mit dem Goethe der DDR-Germanistik. Das gilt nicht nur für die ‚humanistische‘ Auslegung, sondern auch für die Behandlung des Verhältnisses von Schuld und ‚höheren‘ Interessen des ‚Lebens‘. So hat z. B. der einflussreiche DDR-Germanist Gerhard Scholz¹¹⁴ in seinen Faust-Gesprächen 1983 das Verbrechen, das Faust an Philemon und Baucis begeht, mit den unvermeidlichen Härten bei der Kollektivierung der Landwirtschaft in Beziehung gesetzt.¹¹⁵ Klar ist auch, dass die Tatsache, dass Korff seine Epochenkonstruktion in den Argumentationsmustern idealistischer Dialektik vorgetragen hat, der Anschließbarkeit an die DDR-Germanistik sehr förderlich war. Einigkeit bestand auch darin, dass diese Epoche eine Zentralstellung in der deutschen Literaturgeschichte einnimmt,¹¹⁶ einig konnte man sich auch sein in der skeptischen Bewertung der Romantik.¹¹⁷ In der Einschätzung der Romantik führt Korff allerdings auch 1953 tradierte Positionen der kulturnationalistischen Germanistik der Vorkriegszeit weiter, indem er in der Hochromantik eine „nationalromantische“¹¹⁸ Strömung konstruiert und deren Gegenwartsbezug in positiver Wertung heraushebt: Hier gewinnt der Begriff der Romantik seinen tiefsten Gehalt, und er bedeutet auf dieser seiner höchsten Stufe das schöpferische Bekenntnis zur christlich-germanischen Kultur als eines geschichtlichen Organismus, von dem auch unsere Gegenwart ihr Gesetz empfängt.¹¹⁹

114 Zu Scholz vgl. Saadhoff (2007), S. 123–132. 115 Vgl. Scholz (1983), S. 188. 116 Vgl. Träger (1981), S. 270, wo diese Epoche „zum exemplarischen Sinnfeld wissenschaftlicher Erbeaneignung“ erklärt wird. 117 Ergänzend sei nur mehr darauf hingewiesen, dass Korff in seiner späten Darstellung von Goethes Lyrik – Korff (1958) – in der Einleitung die Kanonizität dieser Gedichte mit Begriffen begründet, die man fast genau so in Festlegungen der Normen des ‚Sozialistischen Realismus‘ finden könnte. Da ist von der Verallgemeinerung des Individuellen die Rede (vgl. S. 15), von der „Gesundheit von Goethes Gefühl“ (S. 17), von dem ausgewogenen Verhältnis von Realismus und Phantasie (vgl. S. 25), von „Geschlossenheit, Abrundung, Zuspitzung und organische[r] Ganzheit“ (S. 34) usw. 118 Korff (1953), S. 7. 119 Ebd.; vgl. hierzu das umfangreiche Kapitel in diesem Band S.  91–364. Korff ist allerdings sichtlich bemüht, den Qualitätsabstand zum Werk Goethes zu betonen, indem er kurzerhand den Faust der ‚nationalromantischen‘ Dichtung zuordnet. Vgl. S. 19: „Die hochromantische Nationaldichtung hat sich nicht in einzelnen großen Werken aufgegipfelt. Sie ist kein Hochgebirge,

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Die Wortwahl, insbesondere das Adjektiv ‚schöpferisch‘, lässt erkennen, dass Korff hier Anschluss an die Terminologie der marxistischen Erbetheorie sucht bzw. sich an sie anlehnt,¹²⁰ und die in diesem Zusammenhang vorgetragene Rettung des Nationalbewusstseins steht durchaus im Einklang mit der Tatsache, dass in der DDR „sich ein unreflektierter Nationalismus im Gewand eines altdeutsch eingefärbten Provinzialismus halten konnte“.¹²¹ Korff ist auch sichtlich bemüht, die Tradition des ‚romantischen‘ Nationalismus, der sich an die Ideologie der ‚Volksfront‘ hat anschließen lassen, von der Tradition einer morallosen nationalistischen Machtpolitik zu unterscheiden. Dies geschieht an einer der wenigen Stellen, an denen in Geist der Goethezeit auf politische Ereignisse des 20. Jahrhunderts explizit Bezug genommen wird, in der Interpretation von Heinrich von Kleists Hermannsschlacht. Korff deutet dieses Drama als Dokument eines „Furor teutonicus: das ist das erschreckende Umschlagen echt idealistischer Empörung in hemmungslos realistisches Berserkertum“.¹²² Er wirft Kleist vor, dass er die amoralischen Handlungen Hermanns nicht als fragwürdig, sondern offen als vorbildlich dargestellt habe.¹²³ Dies sei eine bis ins 20. Jahrhundert fortwirkende Einstellung deutscher Politik, weswegen die Hermannsschlacht „nach

sondern eine Hochebene von mittlerer Höhe – auch wenn ihr im ganzen genommen nicht abgesprochen werden kann, die Idee einer Dichtung von deutscher Art und Kunst realisiert zu haben. Was aber aus dieser Idee in Wahrheit zu machen gewesen wäre, wenn sie in den Händen wirklich machtvoller künstlerischer Persönlichkeiten gelegen hätte, das ersieht man erst aus – Goethes Faust, der einzig wahrhaft großen, aber freilich auch so großen romantischen Nationaldichtung, daß sie mit ihrem Gewichte alle andern erdrückt.“ 120 Vgl. z. B. ebd., S. 8: Es gehe um den „Begriff […] eines Schöpfertums, das seine ganze Kraft […] aus dem Strom der Überlieferung schöpft, doch ohne sich dadurch seiner schöpferischen Freiheit zu begeben. Das hier gemeinte romantische Schöpfertum ist die fruchtbare Verbindung von Vergangenheit und Zukunft“. 121 Wehler (2003), S. 983. 122 Korff (1953), S. 280. 123 Vgl. ebd., S. 281: „Und das ganz spezifisch Deutsche, was nicht nur in Kleists Hermann, sondern in Kleist selber liegt, ist die Ehrlichkeit […], mit der er sich der Taten rühmt, die die andern nur in der Dunkelheit verüben! […] Es ist darin etwas wie ein befreites Hohnlachen auf alle Moral und Zivilisation, in dem sich ein Rest des deutschen Barbarentums verrät – ein Rest jenes tiefen Widerwillens der Kraft gegen das Recht, der schließlich auch dem geheimen Anarchismus des Götz von Berlichingen zugrunde liegt. Diese Ehrlichkeit ist großartig – wie es die Ehrlichkeit Bethmann-Hollwegs war –, aber sie enthält auch eine letzte tiefe Fragwürdigkeit der deutschen Art.“ Der Hinweis auf Bethmann-Hollweg, den deutschen Reichskanzler zu Beginn des Ersten Weltkriegs, bezieht sich auf dessen Satz „Not kennt kein Gebot“, mit dem er den Bruch des Völkerrechts beim Überfall auf Belgien gerechtfertigt hat. Die ganze Passage ist aufschlussreich: Es scheint in der Sicht Korffs unausweichlich zu sein, dass in der Politik in bestimmten Situationen die Normen des Rechts und die Gebote der Moral verletzt werden müssen. Das passt ja auch zu seiner Deutung der Faust-Figur. Aber man darf es nicht offen und in zynischer Verachtung der

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den Geschehnissen der Jahre 1933–1945 ein nationales Sinnbild ersten Ranges“¹²⁴ sei. Das deutsche ‚Wesen‘ erscheint somit doppelgesichtig: In Goethes Faust auf der einen Seite verbindet sich die moralische Normen überschreitende Tat mit der Anerkennung dieser Normen und damit dem Bewusstsein der unausweichlichen ‚Tragik‘ des ‚Lebens‘, in Kleists Hermannsschlacht ist diese Tat verbunden mit offener und gewissenloser Preisgabe jeglicher Moral. Die eine Linie führt über Goethe und die ‚Nationalromantik‘ zu einer auch für die Gegenwart Deutschlands vorbildlichen Synthese von Nationalismus und ‚Humanität‘, die andere von Kleists Hermannschlacht über Bethmann-Hollweg bis zu Hitler.¹²⁵ Auf der Seite von Korff kann man auch beobachten, dass er selbst nach 1945 versucht hat, sich mit dem neuen Paradigma der marxistischen Literaturwissenschaft auseinanderzusetzen, dem er in Leipzig unvermeidlich begegnet ist. So hat er im Jahr 1951 eine Lehrveranstaltung zum Thema „Sozialistische Literaturbetrachtung“ abgehalten – meines Wissens allerdings seine einzige zu diesem Thema. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist eine neue Einleitung zur zweiten Auflage des ersten Bandes, wo Korff den Versuch unternimmt, das Humanitätsideal der Weimarer Klassik, das er nun den „Humanitätstraum des gebildeten deutschen Bürgertums“¹²⁶ nennt, sozialgeschichtlich im realen Leben der bürgerlichen Autoren zu verorten: Das Urerlebnis der Goethezeit aber, ihr persönlichstes und allgemeinstes zugleich, ist diese große Spannung zwischen dem Idealismus ihres Geistes und dem Realismus ihres bürgerlichen Grundes.¹²⁷

Da aber, wie Korff meint, in der Formulierung dieser Spannung weit mehr als die „Problematik des bürgerlichen Lebens“¹²⁸ erscheine, sondern „die Problematik des Lebens überhaupt“,¹²⁹ kann er in dieser Teilrevision die Kontinuität seines Konzepts, insbesondere bei der Deutung des Faust, auch für die Zeit nach 1945 retten:

Normen und Gebote tun, sondern mit schlechtem Gewissen und im Bewusstsein dessen, was Korff die „furchtbare Tragik aller Politik“ – Korff (1953), S. 289 – nennt. 124 Ebd., S. 281. 125 Vgl. ebd., S. 289: „Nicht nur sein Hermann würde, wenn er schon damals imstande gewesen wäre, die Rote-Kreuz-Station seines Gegners rücksichtslos mit Bomben belegt, sondern auch Kleist würde dazu sein Bravo gerufen haben. Denn man setze den Nationalhaß absolut – so ist dies allerdings die unvermeidliche Konsequenz.“ 126 Korff (1954a), S. 3. 127 Ebd., S. 12. 128 Ebd., S. 15. 129 Ebd.

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Hier mündet die scheinbar zunächst nur bürgerliche Problematik des idealistischen Menschen in die überbürgerliche ein, für die die bürgerliche nur noch stellvertretende, symbolische Bedeutung hat.¹³⁰

Claus Träger, der diese Einsichten zustimmend referiert,¹³¹ erkennt darin ein Argument für die Aneignung der ‚bürgerlichen‘ Literatur der Goethezeit als ‚Erbe‘ im Sozialismus – so wie er sich damit auch den ‚bürgerlichen‘ Literaturwissenschaftler Hermann August Korff als wissenschaftsgeschichtliches ‚Erbe‘ aneignet. Das einzige, was seinem Vorgänger noch gefehlt habe, sei der Blick auf die „wirkliche Lösungsperspektive“¹³² als Lösung des Lebensproblems, nämlich die „kommunistische, klassenlose Gemeinschaft“.¹³³ Nun ja!

9. Zum Schluss einige Andeutungen zu unserer heutigen Sicht auf diese – zu ihrer Zeit – prominente Gestalt der Leipziger Germanistik, deren Arbeiten weitgehend in Vergessenheit geraten sind und nur mehr in wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen mehr oder weniger respektvoll genannt werden. Mir scheint, dass es sich in folgenden Bereichen der aktuellen Diskussion durchaus lohnen könnte, sich mit Korff neu zu beschäftigen. 1. Korffs Entscheidung für eine Literaturwissenschaft, die sich offen zur Funktion bekennt, die literarische Tradition als Orientierungsangebot für die Gegenwart auszulegen, und die Öffnung der literaturwissenschaftlichen Darstellung für ein Publikum außerhalb der Fachgrenzen halte ich für diskussionswürdig. Der Widerspruch zwischen der disziplinären Eigenlogik und den gesellschaftlichen Leistungs- und Funktionsanforderungen, der das Fach von Anfang an begleitet, hat sich ja nicht aufgelöst, sondern eher verschärft, und es kommt deswegen darauf an, ihn immer wieder neu auszutarieren. Korffs Geist der Goethezeit wird hier meines Erachtens aber eher als ein warnendes Beispiel fungieren können, als Beispiel nämlich für die Gefahr, von einer weltanschaulichen Mission geleitet die Inhalte der Texte auf letztlich einfache ‚Lebensweisheiten‘ zu reduzieren, die in einem recht unausgewogenen Verhältnis zum Aufwand der monumentalen Epochendarstellung stehen.

130 Ebd. 131 Vgl. Träger (1981), S. 262f. 132 Ebd., S. 263. 133 Ebd.

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2.

Korffs Versuch, Sturm und Drang, Weimarer Klassik und Romantik nicht als einzelne Epochen, sondern als Teile einer systematisch zu rekonstruierenden Einheit von Sinnbezügen zu betrachten, entspricht durchaus aktuellen Methoden der Bestimmung literaturgeschichtlicher Epochen, wie sie etwa von Michael Titzmann in den letzten Jahren mehrfach zur Diskussion gestellt worden sind.¹³⁴ Korffs elaborierte Anlage der Epochenkonstruktion in Geist der Goethezeit enthält hier diskussionswürdige Anregungen. Bei Titzmann kann man übrigens auch beobachten, dass man heutzutage die Scheu vor Wort und Begriff ‚Goethezeit‘ abgelegt hat, so wie in den letzten Jahren auch wieder unbefangener die Frage nach der zentralen Bedeutung gerade dieser Epoche für die Geschichte der deutschen Literatur aufgeworfen und beantwortet worden ist.¹³⁵ 3. Da Korffs Epochendarstellung im Grunde als ‚Problemgeschichte‘ angelegt ist, verdiente sie eine eingehende Würdigung bei der wissenschaftsgeschichtlichen Reflexion in aktuellen Versuchen, diese Tradition für die Literaturgeschichte wieder fruchtbar zu machen.¹³⁶ Interessant scheint mir dabei, dass sich Korffs Ansatz sowohl an anthropologische¹³⁷ als auch an sozialgeschichtliche Fassungen von ‚Problemgeschichte‘ anschließen lässt. Dabei müsste freilich Korffs Konzept von dem sprachlichen Gestus missionarischer Erbaulichkeit, der den heutigen Leser bei der Lektüre ganz erheblich nervt – man glaubt über weite Strecken, den Leipziger Professor immer mit erhobenem Zeigefinger zu sehen –, befreit werden. Was man dann freilegen könnte, wäre eine sehr intelligente und in vielen Punkten tragfähige Konstruktion des ‚Literatursystems‘ der Goethezeit, verbunden mit höchst interessanten Beobachtungen zu einzelnen Texten,¹³⁸ die freilich erst mit einiger Mühe aus der erbaulichen Suada der Goetheverehrung und der damit verbundenen einseitigen Wertung herauspräpariert werden müssten. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der Korff die Texte auswählt, hält heutigen Einsichten in die Kanongeschichte nicht mehr stand. 4. Am weitesten entfernt von uns ist Korff wohl dort, wo er – gegen seine eigenen Einsichten vom ästhetischen Charakter der goethezeitlichen ‚Weltanschauung‘ – die Texte unter weitgehendem Absehen von ihrer Struktur als bloße

134 Vgl. Titzmann (1997). 135 Vgl. z. B. Eibl (1995) und Schlaffer (2002). 136 Vgl. hierzu Werle (2009). Werle – vgl. hier auch Werle (2006) – bezieht sich in der wissenschaftsgeschichtlichen Herleitung einstweilen nur auf Rudolf Unger und Nikolai Hartmann. 137 Vgl. z. B. Eibl (2004). 138 Hingewiesen sei hier nur beispielhaft auf das Kapitel über E. T. A. Hoffmann – Korff (1953), S. 543–639.

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Träger dieser ‚Weltanschauung‘ betrachtet. Man vergleiche, um den Abstand zum heutigen Standard ermessen zu können, nur Korffs Faust-Interpretationen mit Karl Eibls Faust-Buch Das monumentale Ich.¹³⁹ Während es Korff darum ging, aus dem Text einen ‚Faustischen Glauben‘ heraus zu lesen, der als religiöser Ersatz für das Christentum tauglich gemacht werden soll, geht Eibl davon aus, dass der Faust ein eindrückliches Beispiel für die Funktion von moderner Poesie in Deutschland ab 1770 sei, einen Diskussionsraum für ungelöste und unlösbare Probleme zu bieten, die sich seit der Entdeckung des Begriffs von Individualität in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft stellen. Auf die Offenheit des Textes und die Unmöglichkeit, ihn zu einem Trägermedium einer begrifflich formulierbaren ‚Idee‘ zu reduzieren, hat freilich schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der Leipziger Germanist Georg Witkowski in seinem damals weit verbreiteten Faust-Kommentar hingewiesen: Goethe selbst erfuhr es schon, daß man sein Lebenswerk als die Einkleidung einer philosophischen Idee ansah und nach dem Grundgedanken suchte, der die Einheit und zugleich die Erklärung des Ganzen bieten sollte. […] Der Irrtum entsprang daraus, daß es sich im ‚Faust‘ in der Tat um Erkenntnisprobleme von der höchsten Bedeutung handelt […]. Aber selbst wenn dem so wäre (was durch Goethes eigene […] Worte […] widerlegt wird), so käme dem ‚Faust‘ doch nicht die Bezeichnung ‚philosophisches Gedicht‘ zu. Denn die Haupthandlung, die auf Erden spielt, lehrt keine allgemein gültige Wahrheit, sie bleibt durchaus im Kreise des Individuellen und Bedingten.¹⁴⁰

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139 Eibl (2000). 140 Witkowski (1920), S. 11.

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 Ludwig Stockinger

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Hermann August Korff 

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 Ludwig Stockinger

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Dirk Werle

Kontinent Hans Mayer Zur historischen Kartierung eines Leipziger Mythos¹ Was sollen die manierierten Metaphern? Warum soll Mayer ein Kontinent sein, warum ein Mythos? Die Metapher des Kontinents habe ich gewählt, weil bei der historischen Arbeit an dieser Figur und ihren Schriften immer wieder der Eindruck entsteht, dass man die Totale nicht in den Blick bekomme, dass sich immer nur begrenzte Perspektiven zeigen. Das hat mit dem Facettenreichtum dieser Biographie zu tun, mit der Vielfalt und der Menge der Schriften – es hat aber auch mit der Vielfalt an Äußerungen über Mayer zu tun, die der Nachwelt der Tendenz nach auch den Blick auf das historische Phänomen verstellen kann. Der frühe Verfasser einer Theorie historischer Wirkung, Julian Hirsch, formuliert es in einem Gleichnis: Vom hohen Berge bröckelt ein Stein ab. Er stößt beim Fallen auf eine Schneeschicht, schiebt sie vor sich her und verschwindet in ihr, nachdem sie sich beim Gleiten mehr und mehr vergrößert hat. Die Lawine wird immer gewaltiger, reißt Erdmassen, Felsblöcke, vor allem aber Schnee im weitesten Umfange mit sich fort und hat schließlich eine – als historisch anzusehende – Wirkung: sie zerstört ein Dorf. Auf die Frage, wodurch das Dorf zerstört wurde, dürfte man natürlich nicht antworten: durch den Stein. Die wirkliche Zerstörerin war die Lawine, in der der Stein zwar eine gewisse Bedeutung hat, nämlich die des zeitlich primären und richtunggebenden Faktors, die aber aus ganz anderen, vom Stein völlig verschiedenen Bestandteilen, vor allem aus dem Schnee, besteht. Derjenige nun, der Interesse daran hätte, die Form jenes Steines zu untersuchen, stünde vor einer Aufgabe, deren Lösung theoretisch sehr wohl denkbar ist. Er müsste die Schneemassen beiseite schaffen und, auch wenn er auf einen fest scheinenden Kern stößt, diesen solange bearbeiten, bis das Gesuchte ohne jeden fremden Bestandteil vor ihm liegt. Der Stein wird das eine Mal winzig klein, das andere Mal von beträchtlichem Umfang sein: über seine Größe lässt sich aus dem zunächst Vorliegenden, der Lawine, nichts aussagen.²

Soweit Hirsch. Die Lawine, so möchte ich mit dem Wirkungstheoretiker Hirsch sagen, ist der Mythos Hans Mayer, der sich in Anekdoten und Erzählungen, gerade auch im kommunikativen Gedächtnis, und vor allem in Leipzig, niederschlägt. Will man die Größe des Steins, der objektivierbaren Bedeutung Mayers, ermessen, dann muss man erst einmal den Schnee zur Seite räumen.

1 Für zahlreiche Hinweise danke ich Anna Lux (Leipzig) und Ludwig Stockinger (Leipzig). 2 Hirsch (1914), S. 274.

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 Dirk Werle

Das möchte ich im folgenden Beitrag versuchen. Nach einigen einführenden Bemerkungen zu den Fakten von Mayers Tätigkeit am Leipziger Germanistischen Seminar zwischen 1948 und 1963 (1.) möchte ich den Schnee der Lawine anschauen, das heißt, einige Rezeptionszeugnisse untersuchen, die sich großenteils auf die Persönlichkeit Mayer, nicht auf seine Schriften beziehen (2.). Dann versuche ich ein wenig am Stein zu klopfen, indem ich einige Schriften aus der Leipziger Zeit unter die Lupe nehme (3.). Und schließlich möchte ich wenigstens einen kurzen Blick auf die Leipziger Literaturwissenschaft nach Mayer werfen, die eine der interessantesten Perioden der Leipziger Germanistik bildet (4.).

1. Die nackten Fakten Die Wahrheit, so weiß es die metaphorologische Tradition, ist nackt.³ Wenn ich hier ganz nüchtern einige Daten wiederhole, die man bereits in Klaus Pezolds Artikel im Internationalen Germanistenlexikon oder in Günther Öhlschlägers und Ludwig Stockingers Übersicht über die Leipziger Germanistik in der Leipziger Universitätsgeschichte oder auch in Bernd Leistners Artikel zu Mayers Wirken in Leipzig nachlesen kann⁴ – wenn ich also diese Daten wiederhole, dann begebe ich mich noch nicht auf das Feld der Mythen. Den 1907 in Köln geborenen Mayer verschlägt es als Kommunisten und Juden 1933 in die Emigration, erst nach Frankreich, dann in die Schweiz. 1945 kehrt er nach Deutschland zurück, erst in die amerikanische Besatzungszone, genauer nach Frankfurt am Main, wo er als Radioredakteur arbeitet. Ab 1948 ist Mayer als ordentlicher Professor für Kultursoziologie an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät (GeWiFa) und zugleich an der Philosophischen Fakultät, philosophisch-historische Abteilung, der Universität Leipzig tätig. Die GeWiFa ist 1946 neben den traditionellen Fakultäten eingerichtet worden, um, wie Mayer in seinen Erinnerungen schreibt, „ausgewählte junge Menschen ohne Abitur zu Studenten zu machen und vor allem in den Grundproblemen des Marxismus zu unterrichten“.⁵ 1949 wird Mayer Ordinarius am Germanistischen Institut ohne eigene Abteilung. 1951 scheidet er aus der GeWiFa aus; 1951/1952 erfolgt eine Neuordnung der Struktur des Germanistischen Instituts. Eine erste Abteilung erhält den Namen „Allgemeine Germanistik und vergleichende Literaturgeschichte“, ihr Leiter ist Mayer. In einer zweiten Abteilung „Deutsche Sprache und Literatur“ sind Theodor Frings und Hermann

3 Vgl. Blumenberg (1960), S. 61–76. 4 Pezold (2003); Öhlschläger / Stockinger (2009); Leistner (2008). 5 Mayer (1984), S. 26f.

Kontinent Hans Mayer 

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August Korff als Lehrstuhlinhaber tätig. Drei weitere Abteilungen umfassen die Anglistik, Niederlandistik und Nordistik. 1956, nach Korffs Emeritierung, kommt es zu einer weiteren Neuordnung des Instituts: Es wird, nach Petra Boden „ein institutioneller Sonderfall“, in drei Institute geteilt: das Institut für deutsche und germanische Philologie unter der Leitung von Frings, das Institut für neuere deutsche Literaturgeschichte und das Institut für Geschichte der Nationalliteraturen, beide unter der Leitung von Mayer.⁶ Um 1956/1957 bekommt Mayer zunehmend Schwierigkeiten mit den Organen des Staats, weil die Orthodoxie seines marxistischen Weltbilds bezweifelt wird, das er den Studierenden ja beibringen soll. Diese Schwierigkeiten setzen sich fort und nehmen zu, so dass Mayer 1963 Leipzig und der DDR den Rücken kehrt. Bemerkenswert im Kontext einer Geschichte der Leipziger Germanistik ist, dass Mayers Ankunft wie sein Ausscheiden nicht den akademischen Regelmäßigkeiten entsprechen, sondern jeweils politisch bedingt sind; Boden hat die Hintergründe detailliert rekonstruiert: Mayer wird nicht berufen auf der Grundlage eines ordentlichen Verfahrens, sondern er steigt mit der Zeit von der Seite ein, indem er zunächst – auch ohne Verfahren, durch den Einfluss von Werner Krauss – an eine andere Fakultät berufen worden ist und in der Folge nach und nach seinen Platz in der germanistischen Literaturwissenschaft ausbaut.⁷ Und er wird nicht wegberufen oder emeritiert, sondern er steigt aus wegen politischer Probleme.⁸ Auf der biographischen Ebene ist dieser Fortgang aus Leipzig für Mayer und für viele Personen aus seinem Umfeld ein tragisches Ereignis, auf der Ebene der wissenschaftssoziologischen Systemlogik aber ein Zeichen für das gute Funktionieren des Systemumbaus: Nachdem Mayer, selbst noch kein neuer, sozialistischer Mensch, in den 1950er Jahren allerhand neue, sozialistische Menschen und Wissenschaftler ausgebildet hat, verschwindet er aus dem System, so dass die Wissenschaftler, die er ausgebildet hat, seine Stelle übernehmen können – die sie nach der Logik des Systems ohnehin viel besser ausfüllen können. Mayers weiterer Weg soll hier nicht ausführlicher referiert werden – dass er 1965 bis zur Emeritierung einen literaturwissenschaftlichen Lehrstuhl an der Universität Hannover 6 Boden (1997), S. 132. 7 Ebd., S. 131f. 8 Der Unbefangene wundert sich über die in diesem Zusammenhang in den unterschiedlichsten Beiträgen über Mayer fast wörtlich wiederkehrende ‚Sprachregelung‘: Mayer sei ‚von einer Reise in die Bundesrepublik nicht wieder nach Leipzig zurückgekehrt‘. Es handelt sich hierbei jedoch um eine Variante innerhalb eines Arsenals stereotyper Formeln, um das behördlich nicht genehmigte Verlassen der DDR zu bezeichnen. Vgl. dazu Kößling (1996). Diese Variante impliziert eine gewisse Abgrenzung von offiziellen Sprachregelungen, die jedoch dezidiert nicht umgangssprachlich ist und eine gewisse vornehme Zurückhaltung von einer Bewertung des Vorgangs beinhaltet, vielleicht im Verbund mit einem elegisch-melancholischen Ton.

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 Dirk Werle

erhält, dass er in Westdeutschland einer der bekanntesten Literaturkritiker wird, dass er nach der Wende verschiedentlich nach Leipzig zurückkehrt, 1993 Ehrendoktor der Universität und 2001 Ehrenbürger der Stadt wird – eine Ehre, die er nicht mehr offiziell entgegennehmen kann, weil er vorher verstirbt. Was die universitäre Lehre unter dem Lehrstuhlinhaber Mayer angeht, so hat Ina Richter gezeigt, dass im Laufe der 1950er Jahre die Neuere und neueste deutsche Literatur verstärkt ins Zentrum der Lehre rücken.⁹ Dieses Gebiet wird jedoch in der Lehre weitenteils den Assistenten überlassen. Mayers eigene Lehrinhalte zu Beginn seiner Leipziger Tätigkeit umfassen vornehmlich die Literatur des 19. Jahrhunderts, einer Epoche, die er in einer Essaysammlung von 1949 als ‚Übergangszeit‘ bezeichnet und aus der Perspektive einer marxistischen Vorstellung von Literaturgeschichte als Vergleichsmodell für die Nachkriegsgegenwart angeboten hat.¹⁰ Mitte der 1950er Jahre verlagert Mayer seine Lehrtätigkeit auf die Periode der Klassischen Moderne, unter Einschluss internationaler Literaturen; ab 1957, nach der Emeritierung Korffs, konzentriert er sich auf dessen alte Domäne, die deutschen Klassiker der ‚Goethezeit‘. Die wichtigsten Buchpublikationen der Leipziger Zeit sind, neben der erwähnten Essaysammlung Literatur der Übergangszeit von 1949, die Monographie Thomas Mann. Werk und Entwicklung von 1950, die Studien zur deutschen Literaturgeschichte von 1954, die Sammlung Deutsche Literatur und Weltliteratur von 1957, ein Band Von Lessing bis Thomas Mann von 1959, der Langessay Bertolt Brecht und die Tradition von 1961, die Aufsatzsammlung Ansichten. Zur Literatur der Zeit von 1962, der Band Zur deutschen Klassik und Romantik von 1963.¹¹ Dazu kommen zahlreiche Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen sowie Editionen wichtiger Texte der deutschen Literaturgeschichte, vor allem die erste Gesamtausgabe der Werke Thomas Manns und die mehrbändige Textsammlung Meisterwerke deutscher Literaturkritik.¹² Seine wichtigsten Aufsatzpublikationen veröffentlicht Mayer in der von Peter Huchel redigierten Zeitschrift Sinn und Form. Fragt man sich, inwiefern Mayer an literaturwissenschaftliche Traditionen der Leipziger Germanistik anknüpft, so ist festzustellen, dass er das nicht auf der Ebene der berühmten Professoren tut: Moriz Haupt, Friedrich Zarncke, Albert

9 Richter (2008). 10 Mayer (1949a). Vgl. zum historischen Hintergrund die Einschätzung von Irrlitz (2007), S. 115: „Auf Büchners Zeit hatte Gutzkow 1837 in seinem Nachruf das Wort von der elenden ‚Übergangsperiode‘ geprägt. So hieß auch, nun im Glück aufschiebenden Sinne, die ostdeutsche frühe Zeit, als Hans Mayer 1948 in die Sowjetische Besatzungszone kam.“ 11 Mayer (1950); ders. (1954); ders. (1957a); ders. (1959); ders. (1961); ders. (1962a); ders. (1963). 12 Mann (1955); Mayer (1954–1956).

Kontinent Hans Mayer 

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Köster oder Hermann August Korff sind für ihn keine wissenschaftlichen Bezugspunkte – Korff nimmt er in der gemeinsamen Zeit bis zu Korffs Emeritierung 1958 vor allem als Konkurrenten wahr. Aber Mayer bezieht sich wiederholt und mit einer gewissen Intensität auf Theodor Wilhelm Danzel, der sich in Leipzig 1845 über Platon habilitiert und bis zu seinem Tod 1850 „Vorlesungen zur deutschen und europäischen Literaturgeschichte der Neuzeit“ angeboten hat. Mit seinem Tod scheitert nach Öhlschläger und Stockinger „der erste Versuch, die Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Leipzig zu etablieren“.¹³ Mayer gibt 1962 Danzels gesammelte Aufsätze zur Literaturwissenschaft heraus und leitet den Band mit einem Aufsatz „Danzel als Literaturhistoriker“ ein.¹⁴ Für Mayer ist Danzel vor allem deshalb anschlussfähig, weil er ihn als jemanden sieht, der früh der Verbindung von deutscher Literatur und Weltliteratur nachgegangen ist.¹⁵ Wenn die Rede von harten, positiven Fakten ist, dann will ich nicht vergessen, vorhandene Archivbestände zu erwähnen. Wichtige Materialien zu Mayers Rolle in der Leipziger Germanistik lagern im Leipziger Universitätsarchiv. Seinen wissenschaftlichen und literarischen Nachlass hat Mayer zu Lebzeiten dem Kölner Stadtarchiv vermacht, und hier ist möglicherweise ein tragischer Verlust zu vermelden: Das Archiv ist bekanntlich am 3. März 2009 eingestürzt, und wenn wir Pech haben, ist der dort befindliche Teil von Mayers Nachlass verloren. Deshalb können wir besonders froh sein, dass 1985 eine Ausstellung zum Nachlass stattgefunden hat. Im Ausstellungskatalog sind viele wichtige Dokumente reproduziert.¹⁶ Dazu kommt, dass weitere Mayer-Archivalien in anderen Archiven lagern, nicht zuletzt im Deutschen Literaturarchiv Marbach.¹⁷ Doch nun zu einer weicheren Materie, dem Schnee, den Legenden, den Mythen der Erzähltradition.

2. Schnee. Mythos Mayer Die Größe der großen Männer ist eine fragwürdige Kategorie. Der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht hat 2002 versucht, sie für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung produktiv zu machen, als er ein Buch Vom Leben und Sterben der großen Romanisten herausbrachte.¹⁸ Allerdings geht man den Großerzählungen von den 13 Öhlschläger / Stockinger (2009), S. 540. 14 Mayer (1962b). 15 Ders. (1957b), S. 169f. 16 Stadt Köln (1985). 17 Für eine genaue Aufstellung vgl. Pezold (2003), S. 1186. 18 Gumbrecht (2002).

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großen Männern bisweilen auf den Leim, wie man etwa der Bildunterschrift eines fotografischen Selbstporträts von Hans Mayer und Ernst Bloch, vermutlich aus den 1960er Jahren, entnehmen kann, mit dem die Vortragsreihe zur Geschichte der Leipziger Germanistik in der Stadtpresse angekündigt wurde: „Als Professoren noch echte Kerle waren“.¹⁹ Was soll das heißen? Waren die Kerle früher größer oder echter? Und was ist mit den Frauen? Größe ist großenteils ein Produkt von Mythen und Legenden, und Mayer ist bekanntlich eine Figur, die dieser Mythenund Legendenbildung selbst ordentlich Feuer gegeben hat. Mark Lehmstedt hat im Vorwort seiner Sammlung von Dokumenten zur Verfolgung Mayers durch Stasi und Parteiorgane ab 1956 festgestellt: Wenn man Mayers Memoiren, seine – ebenfalls von Lehmstedt edierten – Briefe aus der Leipziger Zeit und die Dokumente nebeneinander legt, „entstehen drei sehr verschiedene Bilder, die nur an verblüffend wenigen Punkten miteinander verbunden sind und doch erst gemeinsam ein deutliches Porträt ergeben“.²⁰ Noch schillernder, wenngleich vielleicht nicht deutlicher, wird das Bild, wenn man die Erinnerungszeugnisse anderer Personen daneben legt. Sechs Erinnerungszeugnisse habe ich ausgewählt, sechs verschiedene Mayer-Bilder werden dadurch evoziert: Mayer als listiger Revoluzzer, Mayer als Ekel, Mayer als Aufklärer, Mayer als autoritärer Knochen, Mayer als König, Opfer und Held, Mayer als Vorbild und Enttäuschung.²¹ Mayer als listiger Revoluzzer. Als solcher erscheint Mayer im vielleicht schönsten Mayer-Erinnerungstext, in Uwe Johnsons anlässlich von Mayers 60. Geburtstag 1967 erschienenem Essay „Einer meiner Lehrer“.²² Für Johnson ist Mayer die „Möglichkeit Mayer“, vordergründig eine Möglichkeit des Studierens neben Frings und Korff, in einem anderen Sinne aber ein aus Möglichkeiten zusammengesetzter Charakter, ein Mann ohne Eigenschaften; gleichzeitig wird er für ihn, Johnson, zur Möglichkeit, sein Schriftstellertum zu entfalten. „Die Möglichkeit Mayer“, schreibt Johnson, „ist aus Gerüchten zusammengesetzt.“²³ So war es damals, so ist es heute noch. „Die Tradition des studentischen Status bewies sich in den Geschichten, die über Professoren umliefen. Ferne Größen, waren sie sagenhaft.“²⁴ Johnson findet eine mehrfach variierte Formel, um den 19 Schmidt (2009), Nr. 4; eine Reproduktion der Fotografie in: Stadt Köln (1985), Nr. 239 [Abbildungsteil]. 20 Lehmstedt ( 2007), S. 6. Vgl. auch Mayer (1948–1963). Vgl. schließlich die Erinnerungen umgebende Texte, etwa das Gespräch mit Kesting (1984). 21 Die Auswahl ist notwendig unvollständig. Weitere interessante Erinnerungszeugnisse: Kluge (1985); Freie Akademie (2002); Nalewski (2010). Vgl. auch die knappen Bemerkungen Wolfgang Schivelbuschs zu seinem Doktorvater Mayer: Schlak (2008), S. 62. 22 Johnson (1967). 23 Ebd., S. 75. 24 Ebd., S. 78.

Kontinent Hans Mayer 

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Möglichkeitsmenschen Mayer als listigen Revolutionär zu kennzeichnen, bei dem man nie weiß, woran man ist: „Er will hier den Marxismus aufs Weltniveau bringen. Im Gegenteil, er hat Streit mit der Partei. Also was nun.“²⁵ Die Figur taucht mehrfach ähnlich auf: Professor Mayer berichtet seinen Zuhörern […] von einer Reise […] nach Ostberlin […], er sagt mutwillig, mit leerem, wachem Blick gegens Auditorium: Unser verehrter Alterspräsident –. Wir waren nicht gegen Pieck. Zwar glaubten wir kaum, daß Übergriffe der Behörden unterblieben wären, ‚wenn das Pieck wüßte‘; nach unserer Meinung erfuhr Pieck nichts mehr. Aber Herr Professor Mayer hatte sich soeben mit einem Symbol des Staates mehr als nötig identifiziert. Im Gegenteil, er hatte sich soeben von diesem Staat und Übergriffen der Behörden distanziert, indem er seine Achtung auf eine Privatperson beschränkte. Also was nun.²⁶

Mayer als Ekel. Eine ganz andere Mayer-Facette dominiert das einschlägige Kapitel in Fritz J. Raddatz’ 2003 erschienenen Erinnerungen. „Auftritt der Lehrer“ ist das Kapitel überschrieben.²⁷ Raddatz hat ausweislich seiner Darstellung bei Mayer studiert, als dieser Anfang der 1950er Jahre an der Berliner Humboldt-Universität Gastvorlesungen abhielt. Auch Raddatz kommt auf den Bereich der zahlreichen „Mayer-Fiktionen“ zu sprechen und führt sie auf Mayer selbst zurück. Raddatz denkt, dass Mayer sich „Legenden von Nähe und Freundschaft wob, wo die eklatant nicht existierten“.²⁸ Ein einsamer Mensch also. Aber, und das ist Raddatz’ unfreundliche, im Gestus der Entlarvung vorgetragene Überzeugung, jemand, bei dem man sich nicht wundern muss, wenn er einsam ist. Raddatz’ Mayer ist einerseits ein „Zauberle“, das die Studenten im Hörsaal „in Rausch“ versetzt,²⁹ andererseits ein Ekel, Angeber, windiger Hochstapler und Monomane. Raddatz zitiert aus seinen Tagebuchaufzeichnungen vom 21. August 1983: Der Egoismus des Mannes hat nun endgültig krankhafte Züge angenommen, hob schon im Hotel – zwecks Abendessenverabredung – den Hörer ab mit dem Satz ‚Ich sehe mich gerade im Fernsehen...‘ Nicht ‚Guten Abend‘ oder ‚Gute Reise gehabt?‘ (war immerhin seinetwegen gekommen) – ich ich ich.³⁰

25 Ebd., S. 75. 26 Ebd., S. 75f. 27 Raddatz (2003), S. 409–430. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Maria Reinhardt (Leipzig). 28 Ebd., S. 412. 29 Ebd., S. 410. 30 Ebd., S. 413.

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An einer Stelle behauptet Raddatz, Mayers Herkunft aus dem Kölner Großbürgertum sei nur angedichtet,³¹ an einer anderen spricht er von der „vollkommen ungebrochenen Schnuller-Kinder-Selbstischkeit“,³² wieder an anderer zitiert er sein Tagebuch von 1993: „Hans Mayer im Spiegel-Interview: ‚Mein Freund Brecht‘, aber in Brechts Bibliothek, die ich besucht habe, findet sich kein einziges Buch von Mayer; hat Brecht also nicht für bewahrenswert gehalten.“³³ Und ein weiteres Selbst-Zitat aus dem Tagebuch von 1986: „Die Sucht, anerkannt zu werden, führt den Mann seltsame Bahnen. […] Derselbe Impuls ließ die Leute bei den Nazis publizieren – es muss schöner sein als ein Koitus.“³⁴ Raddatz’ Fazit: Mayers Tragödie habe darin bestanden, „dass er seine eminente Begabung degradiert hat zu einer grindenden Selbstbestätigungsmaschine.“³⁵ Ich möchte nicht darüber spekulieren, was Raddatz dazu bewogen hat, ein so gehässiges Mayer-Bild zu zeichnen. Manche der negativen Eigenschaften Mayers, von denen er berichtet, werden von anderen Zeugnissen bestätigt. Gleichwohl hat so eine Darstellung doch etwas Abgeschmacktes, auch wenn sie durch die fortlaufende Selbstzitation aus dem Tagebuch als besonders authentisch beglaubigt werden soll. Mayer als Aufklärer. Am 9. Juni 2001 findet eine Gedenkveranstaltung für den jüngst verstorbenen Ehrenbürger der Stadt Leipzig in der Deutschen Bücherei statt. Der Broschüre, die die damals gehaltenen Reden dokumentiert, entstammt das dritte hier vorgestellte Erinnerungszeugnis – es handelt sich um die Rede des damaligen Bürgermeisters Wolfgang Tiefensee.³⁶ Tiefensee stellt, ganz den Erfordernissen politischer Festrhetorik gehorchend, Mayer als ehrlichen, unbestechlichen Aufklärer dar; als einen Leipziger, der in seinem Wesen den freiheitlichen Bürger, den Lehrer und den Kritiker vereint – eine Figur also, die als Vorbild für die bundesrepublikanische Demokratie einstehen kann, eigentlich eine Gegenfigur zum politischen System der DDR und ein Vorläufer der friedlichen Revolution von 1989. Für viele, weit über den Kreis der Alma Mater hinaus, war der berühmte Hörsaal 40 in der Zeit seines Wirkens ein Ort der offenen Rede und des klaren Wortes. Hans Mayer hat in einer Epoche der verordneten Anpassung und der verwalteten Zensur die Gestalt intellektueller Selbständigkeit und kritischer Unruhe wachgehalten, die eine so wichtige Tradition unserer Stadtgeschichte darstellt.³⁷

31 Ebd., S. 416. 32 Ebd., S. 417. 33 Ebd., S. 419. 34 Ebd., S. 428. 35 Ebd., S. 430. 36 Tiefensee (2001). 37 Ebd., S. 6.

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Mayer sei, so Tiefensee, „ein homo politicus ganz eigener Art“ gewesen. „Politisch zu denken, war ihm keine Frage des Parteibuchs, sondern eine Einstellung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit.“ Er habe „die Literatur in die Mitte der menschlichen Lebenspraktiken zurückversetzt.“³⁸ Er verkörpere wie wenige andere Deutsche die Figur des Intellektuellen, der niemandem nach dem Mund rede und dadurch in einer Epoche der Mitläufer zum Außenseiter gestempelt werde. Mayer als autoritärer Knochen. Die Anekdote spielt bei der Entstehung von Mythen allgemein und des Mythos Mayer insbesondere eine wichtige Rolle.³⁹ Manche Mayer-Anekdoten wurden so oft wiederholt, dass es müßig wäre, sie noch einmal zu referieren. Einen Artikel, der die Mayer-Anekdote geradezu zum Hauptgegenstand macht, veröffentlicht der Autor Winand Herzog 2002 in der Zeitschrift neue deutsche literatur in der Rubrik „Erinnerung“: „Türöffner. Drei Anekdoten über Hans Mayer“, das vierte hier vorgestellte Erinnerungszeugnis.⁴⁰ Herzog, der heute als Lehrer in Mönchengladbach arbeitet, hat wie Johnson und Raddatz bei Mayer studiert, aber nicht in Leipzig, sondern in Hannover. Und seine Anekdoten zeigen Mayer, nach Herzog selbst „ein begnadeter Anekdotenerzähler“,⁴¹ als autoritären Knochen. Wenn, wie Tiefensee schreibt, der Hörsaal 40 ein Ort der offenen Rede war, dann war er das – wenn man annimmt, dass Herzogs Schilderung auch für den Leipziger Mayer zutrifft – nur für den Professor, nicht für die Studierenden. Das zeigt sich in folgendem Erinnerungszeugnis, das ich etwas ausführlicher zitieren möchte: Es fand sich zu Beginn eines Semesters im Oberseminar auch einmal ein Student ein, der nicht mit den Gepflogenheiten vertraut, dafür aber möglicherweise für den Geschmack des Ordinarius von den Moden der grassierenden Studentenrevolte zu stark affiziert war. In eine der eloquenten Ausführungen des Herrn Professors meldet sich also dieser Student zu Wort. ‚Ich hätte da eine Frage, Herr Mayer...‘ Diese Unterbrechung stellte an sich schon ein Verbrechen dar, konnte es doch sehr wohl passieren, dass einem solcherart den Gedankenfluss Stauenden erbost entgegengeschleudert wurde: ‚Sie zerstören meine Seminar-Dramaturgie!‘ ‚Wie bitte?‘ Der Tonfall indigniert, als böte man ihm stinkenden Fisch an. Der Rest der Runde starrt den frevelnden Kommilitonen schreckensstumm an. Der Student, da er wohl glaubt, es mit einem Schwerhörigen zu tun zu haben, wiederholt diesmal lauter und deutlich jedes Wort betonend: ‚Ich hätte da eine Frage, Herr Mayer...‘ Herr Professor Mayer, mit anschwellenden Adern, nun schon leise schreiend: ‚Wie bitte???‘ Der Student, Ratlosigkeit in der Stimme, verzweifelt – oder ist es gar doch die schiere Lust an der Provokation? –: ‚Ja, heißen Sie denn nicht Mayer?‘⁴²

38 Ebd., S. 7. 39 Vgl. Wolf (2001), S. 28. 40 Herzog (2002). 41 Ebd., S. 159. 42 Ebd., S. 155f. Vgl. zur Ergänzung die Ausführungen von Schnell (1987).

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Mayer als König, Opfer und Held. Das fünfte hier vorgestellte Erinnerungszeugnis ist die Laudatio, die der Schriftsteller Christoph Hein bei der erwähnten Gedenkfeier für den Ehrenbürger Mayer 2001 gehalten hat, die er in der ebenfalls erwähnten Broschüre und später auch in der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlicht hat.⁴³ „Keine Umarmung, kein Gezeter“ ist die Laudatio tituliert, und hier wird eine Mayer-Heroisierung betrieben, die noch einmal ganz anders perspektiviert ist als die von Tiefensee. Mayer erscheint hier als König, Opfer und Held. „Denunziation und Verfolgung“, so Hein, „kennzeichnen seine Existenz, jahrzehntelang waren sein Leben und seine Arbeit bedroht, die Gefährdung gehörte unlösbar zu ihm […].“⁴⁴ Legenden- und Mythenbildung funktioniert auch durch Wiederholungen und Umformungen. Johnson hatte in seinem Essay geschrieben, Leipzig sei die „wahre[] Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik“ und Frings „der letzte König“ gewesen;⁴⁵ Hein macht daraus, Leipzig sei eine Hauptstadt gewesen, „weil es in ihr noch Könige gab“, Ernst Bloch, Werner Krauss, Hermann August Korff, Theodor Frings – „Und Hans Mayer eben. Könige, die Welten öffnen konnten. Sie waren umso gewichtiger und wurden umso mehr gebraucht, als das zugehörige Königreich die Welt ausschloss, sich aus der Welt ausschloss.“⁴⁶ Hans Mayer bleibt, schreibt Hein, auch nach dem Verlassen der DDR souverän und gelassen: „Ein König eben, auch im Exil.“⁴⁷ Da Mayer als Held und Opfer gleichzeitig dargestellt wird, implizieren Heins Äußerungen ein Verdikt: Die historische Bedeutung Mayers – Hein versteigt sich dazu, ihn als „neben Walter Benjamin […] wichtigsten Literatur- und Kunstkritiker des 20. Jahrhunderts“ zu etikettieren⁴⁸ – ist nicht in Frage zu stellen: Man hat ihn in dieser Stadt denunziert, versucht ihn mundtot zu machen, ihn zu verleumden. Nicht nur in dieser Stadt, aber auch hier, an seinem Ort. Aus trüben Quellen schöpfte

43 Hein (2001a). Vgl. ders. (2001b) mit dem „Nachtrag am 10. Juni 2001“, S. 571: „Die CDU-Fraktion brachte den traurigen Mut auf, die Feier der Stadt für Hans Mayer zu boykottieren, dessen Ehrenbürgerschaft für diese Leute eine nichtendende Ohrfeige ist. Eine einzige Abgeordnete dieser Fraktion hatte – ganz so wie vor 33 Jahren – das Rückgrat, den Mann zu ehren, der sein Leben lang aufrecht ging. Ich habe kein Verständnis für diese würdelosen Volksvertreter, aber ich verstehe, daß sie nicht mit hochroten Köpfen in der Deutschen Bücherei sitzen wollten, die eine Gesichtshälfte schamrot ob ihrer Vergangenheit, die andere ohrfeigenrot.“ 44 Ders. (2001a), S. 17f. 45 Johnson (1967), S. 75. 46 Hein (2001a), S. 19. 47 Ebd., S. 21. 48 Ebd., S. 22.

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man bis zu der Stunde seines Sterbens dümmliche Beschuldigungen, und fragte ganz im Stil des unsäglichen Paul Fröhlichs: ‚Hans Mayer – bedeutend für wen?‘⁴⁹

Mayer als Vorbild und Enttäuschung. Bedeutend sachlicher ist das Mayer-Bild, das im sechsten und letzten hier vorgestellten Erinnerungszeugnis entwickelt wird – wenngleich es in anderer Hinsicht prekär ist: Es handelt sich um ein Interview Klaus-Dieter Hähnels mit Siegfried Streller, das 1984 in der Zeitschrift für Germanistik als Teil einer Interviewreihe zur „Geschichte der marxistischen germanistischen Literaturwissenschaft in der DDR“ veröffentlicht wurde.⁵⁰ Streller war 1953 bis 1959 als Aspirant am Germanistischen Institut der Karl-Marx-Universität tätig gewesen, war 1957 bei Mayer promoviert worden und hatte sich 1962 bei ihm habilitiert, war 1959 bis 1963 als Dozent am Institut tätig, wurde 1963 nach Mayers Fortgang zum Professor ernannt und wechselte 1964 an die Humboldt-Universität zu Berlin. Man kann über den Mayer-Schüler Streller manches Kritische vorbringen,⁵¹ aber die Darstellung Mayers in dem Interview ist in der gegebenen Situation durchaus ausgewogen.⁵² Es geht manchmal die Rede, Mayer sei nach seinem Fortgang von seinen Assistenten totgeschwiegen worden. Das stimmt offenbar wenigstens seit Anfang der 1980er Jahre nicht mehr. Zu Beginn des Interviews kommt Streller auf die Schwierigkeiten der autobiographischen Erinnerung zu sprechen: „Selbstverständlich besteht immer die Gefahr, daß man Dinge, die einem selber unangenehm waren, verdrängt. Manches mag auch aus anderen Gründen nicht tunlich scheinen, zur Sprache

49 Ebd., S.  24. Vgl. ebd.: „Einige Herrschaften glaubten, einen Splitter im Auge Hans Mayers zu entdecken. Aber da war nichts. Mayer war ein untadeliger Mann, das haben schon andere Verleumder zu ihrer Beschämung erfahren müssen.“ Zum Opferkult des vorgeblich Totgeschwiegenen gehören noch Gegenwartskommentare wie der folgende, der sich zwar auf eine fiktionale Welt bezieht, aber mit starkem ‚Realitätsbezug‘ gelesen werden will: „Mayer hatte es nicht leicht derzeit in den Erinnerungen der Universität, seinen hundertsten Geburtstag hatten die Germanisten dort verschlafen oder bewusst ignoriert, wer wusste das schon.“ Loest (2009). 50 Hähnel (1984). 51 Zu den Hintergründen, vor allem zu Strellers zeitweiliger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit, vgl. die Dokumentation Lehmstedt (2007). Vgl. vor allem ebd., S. 458f. die „Stellungnahme zur Republikflucht Hans Mayers“ mit den hochrhetorischen Schlussworten: „Bertolt Brecht, mit dem befreundet gewesen zu sein sich Hans Mayer oft gerühmt hat, würde sich mit Verachtung von ihm abwenden. […] Er hat versagt wie Brechts Galilei. Leider muß man bezweifeln, daß er wie dieser zu der selbstkritischen Einsicht kommt: ‚Ich habe meinen Beruf verraten. Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den Reihen der Wissenschaft nicht geduldet werden‘.“ Dazu auch meine Rezension Werle (2008). Vgl. schließlich die vermutlich auf Streller gemünzte Passage in Mayer (1984), S. 254f. 52 Kritischer, wenngleich ebenfalls nicht unausgewogen, die Einschätzungen Claus Trägers: Krenzlin (1983), vor allem S. 143f.

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zu bringen.“⁵³ Und so spricht er, als er die „wissenschaftsgeschichtlich exzeptionelle Situation in Leipzig“ in den 1950er Jahren beschreiben soll,⁵⁴ zunächst über Walter Markov, Hermann August Korff und Theodor Frings, bevor er nach einigen Windungen endlich auf seinen Lehrer Mayer zu sprechen kommt. Aber hier zeichnet er ein durchaus ausgewogenes, faires und sogar positives Bild von Mayers Bedeutung für die Leipziger Germanistik. Streller streicht heraus, dass Mayer in der Lehre die Literatur „bis an die Gegenwart heran“ behandelt habe, dass er die enge Verbindung von Literatur und „dem gegenwärtigen Gesellschaftsprozess“ betont habe, dass er immer wieder „Gäste an die Universität geholt“ habe – Streller nennt vor allem Autoren, Brecht, Johannes R. Becher, Anna Seghers, Stefan Hermlin, Peter Huchel, Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Willi Bredel, Bruno Apitz. „Er hat also“, resümiert Streller, „seinen Schülern einen unmittelbaren, lebendigen Zugang zum gesamten Literaturleben vermittelt.“⁵⁵ Zudem sei Mayer „die Herstellung von Zusammenhängen“, vor allem auch im weltliterarischen Rahmen, wichtig gewesen, wenngleich er sich zumeist auf Höhenkammliteratur beschränkt habe. Er habe „die komplizierte Umsetzung und Verflechtung von gesellschaftlichen und ästhetischen Vorgängen“ untersucht, dabei aber zum Essayistischen geneigt.⁵⁶ Alles in allem eine differenzierte Darstellung. Als Hauptstreitpunkt bezeichnet Streller, „daß Mayer eine Literaturpolitik nach eigner Konzeption betreiben wollte.“⁵⁷ Seine Position habe sich schließlich verhärtet, und das habe 1963 zu seinem Weggang geführt. Das stimmt wohl so nicht, aber es ist durchaus nachvollziehbar, dass Streller es 1984 so gesehen hat. Zwar verneint Streller, dass es so etwas wie eine Mayer-Schule gebe, aber er stellt auch das durchaus positiv dar: „[…] die methodische Vielfalt derjenigen, die über ihn in die Wissenschaftslaufbahn gekommen sind, ist erheblich größer als bei den Schülern von Gerhard Scholz.“⁵⁸ Am Ende des Interviews, als es um Strellers eigenen Stil der Wissenschaft geht, der nicht zum Subordinieren der literarischen Einzelphänomene unter das marxistische System neige, sondern an historischer wie literarischer Vielfalt und Besonderheit orientiert sei, bekennt sich Streller dann vorsichtig auch inhaltlich dazu, ein Schüler Mayers zu sein: „Vielleicht hat hier doch auch das Beispiel des Lehrers Hans Mayer mitgewirkt, der ja über vieles und sehr Unterschiedliches

53 Hähnel (1984), S. 5. 54 Ebd., S. 6. 55 Ebd., S. 9. 56 Ebd., S. 10. 57 Ebd., S. 9. 58 Ebd., S.  10. Vgl. zu Scholz’ Bedeutung für die DDR-Germanistik Hahn (2009); Klausnitzer (2010).

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Aussagen gemacht hat und der eben auch die Kühnheit besaß, das dort zu tun, wo noch nicht alles rundum bis zum letzten aufgearbeitet war.“⁵⁹ In Strellers Darstellung entsteht auf diese Weise ein Mayer-Bild, aus dem man die Enttäuschung über den Fortgang des Lehrers noch als Unterton heraushören kann, das aber gleichzeitig Mayer mit aller gebotenen Vorsicht als Vorbild beschreibt. Was kann man aus der Musterung solcher Rezeptionszeugnisse lernen? 1.) Die verschiedenen Bilder haben oft mehr mit den jeweiligen Autoren selbst als mit dem besprochenen Gegenstand, in diesem Fall der Persönlichkeit Hans Mayer, zu tun. 2.) Vergleicht man unterschiedliche Rezeptionszeugnisse, dann stellt sich heraus, dass sie hochunterschiedlich sind. Vieles erscheint im Vergleich als widersprüchlich, vieles wenigstens holzschnittartig. Nur in der Kombination vieler solcher Zeugnisse ergibt sich ein einigermaßen tiefenscharfes Bild. 3.) Rezeptionszeugnisse leben oft von Anekdoten. Anekdoten können im komprimierten Narrativ historisch komplexe Zusammenhänge erhellen. Anekdoten verstellen aber auch vieles. Und sie neigen dazu, Klischees zu installieren, die sich in der Wiederholung verfestigen. Da hilft nur eins: Will man Mayer verstehen, muss man Mayer lesen.

3. Stein. Mayer lesen Am 29. Mai 1963, als die parteipolitischen Aktionen gegen Mayer in Leipzig und insbesondere die Hetzkampagne in der Universitätszeitung kurz vor ihrem Höhepunkt standen, schrieb Mayer in einem Brief an Stefan Heym: „Da man […] entweder nicht lesen kann oder nicht lesen will, liest man aus meinen Texten das Gegenteil dessen heraus, was drin steht. Ich kann aber mit meinen Kritikern nicht auch noch Leseübungen veranstalten, das wäre doch zuviel verlangt.“⁶⁰ Diese polemischen Sätze beziehen sich natürlich nicht ganz allgemein auf eine falsche oder fehlende Mayer-Lektüre. Sie sind vor einem ganz bestimmten historischen Hintergrund zu verstehen, und deshalb hat Lehmstedt sie auch als – an unscheinbarer Stelle angebrachtes – Motto seines Mayer-Dokumente-Bandes gewählt.⁶¹ „Hans Mayer lesen“ – so lautet auch der Untertitel eines Artikels von Ursula Püschel, der 1991 in der Zeitschrift neue deutsche literatur erschienen ist. 59 Hähnel (1984), S. 16. 60 Mayer (1948–1963), S. 592. 61 Lehmstedt (2007), S. 528. Einen weiteren Aspekt dieser historischen Situation deutet Rainer Rosenberg an, wenn er die Unhintergehbarkeit des Geschriebenen etwas anders kontextualisiert: „Der Behauptung, daß Literaturwissenschaftler in der DDR mehr, manches anders und auch anderes gedacht und gesagt haben als sie mit der Aussicht auf Druckgenehmigung schrei-

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Aber auch in diesem Artikel wird nicht Mayer gelesen, sondern nur am Ende empfohlen, dass man ihn lesen sollte: „Hans Mayer lesen – wer wird es nun tun? Eine Lebensarbeit, die gemacht wurde, damit es nicht so bleibt, wie es ist.“⁶² Auch an dieser Stelle kann keine extensive Mayer-Lektüre betrieben werden;⁶³ ich möchte aber mit Blick auf Mayers wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung exemplarisch drei wichtige Texte aus der Leipziger Zeit vorstellen und unter die Lupe nehmen: die 1949 veröffentlichte Festrede „Goethe in unserer Zeit“, den 1956 erschienenen Radiovortrag „Zur Gegenwartslage unserer Literatur“ und das Buch Bertolt Brecht und die Tradition von 1961. Den Goethe-Vortrag bezeichnet Mayer in seinen Erinnerungen als seine „erste große und ernstzunehmende Rede vor der Öffentlichkeit“.⁶⁴ In den Erinnerungen schildert Mayer auch die Umstände, unter denen die Rede gehalten wurde: zum Goethe-Jahr 1949 im Weimarer Nationaltheater als Teil einer FDJ-Festveranstaltung. Wichtig ist der Untertitel: „Eine Rede vor jungen Menschen“. In diesem Untertitel macht Mayer den Anspruch deutlich, als Erzieher zu wirken: als universitärer Erzieher, als Erzieher der Jugend, als Erzieher der Menschen, als Vermittler von Literatur, aber auch als Vermittler der richtigen Weltanschauung. Typisch für Mayer ist der Einsatz mit einer Anekdote: Eine Stunde etwa, bevor er die Augen auf immer schloß […] brach Goethe den Bann des Halbschlummers und fragte mit vernehmlicher Stimme, welchen Tag des Monats man schreibe. Ihm wurde geantwortet, es sei der 22. März. Und so gehörte es zu den letzten Erfahrungen, die diesem Geist beschieden wurden, den Tag seines Scheidens dem Datum nach zu erfahren. Jenseits aller billigen Symbolik erschien diese kleine Tatsache bereits den Zeugen von Goethes Tod in einem tieferen Sinne bedeutsam: bis zum letzten Augenblick eines zweiundachtzigjährigen Lebens also war Klarheit, war das Streben nach Genauigkeit für Goethe bestimmend geblieben.⁶⁵

Eine vielleicht etwas abgeschmackte Anekdote, die die Ouvertüre bietet für eine Goethe-Interpretation, die wesentlich vom späten Goethe ausgeht, der erkannt habe, dass eine neue Zeit anbreche. Das gehe nicht ohne ein „Gewirr aus Neubau und Zerstörung, von schöpferischen und zerstörerischen Kräften“ ab,⁶⁶ und Goethe, der noch der alten, spätbürgerlichen Welt angehöre, weise in seinen Texten, insbesondere in Faust. Zweiter Teil, bereits „über die Grenzen der bürger-

ben konnten, werden Kenner der Verhältnisse kaum widersprechen. […] Dennoch: dokumentiert ist das Gedachte allein in den Texten.“ Rosenberg (1997), S. 226. 62 Püschel (1991), S. 105. 63 Vgl. daher ergänzend Stiening (2008); Vollhardt (2008); Werle (2013). 64 Mayer (1984), S. 33. 65 Ders. (1949b), S. 3. 66 Ebd., S. 6.

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lichen Gesellschaft hinaus.“⁶⁷ In diesem Zusammenhang taucht ein Schlagwort auf, das für Mayer wie für andere marxistische Gelehrte die Möglichkeit bietet, eine geistig-kulturelle Tradition anzueignen und zu aktualisieren: Humanität, Menschlichkeit.⁶⁸ Um Menschlichkeit ging es Goethe, um Menschlichkeit geht es Mayer, um Menschlichkeit geht es dem Sozialismus. Goethes Größe besteht für Mayer darin, dass Goethe mit seiner Zeit ringt, und dass er nie die Beziehung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit verliert. Am Schluss der Rede bringt Mayer Goethe in Zusammenhang mit Thomas Mann, der Goethes Humanität und seine damit verbundene Aktualität bei seiner Goethepreisrede 1932 hervorgehoben habe. Gleichzeitig stellt Mayer mit dieser Erzählung, wie an vielen Stellen der Rede, den Bezug zur unmittelbaren Nachkriegsgegenwart her: Damals war das Deutsche Nationaltheater in Weimar noch unversehrt, und an dieser Stelle stand einer der größten Deutschen unserer Tage, stand der Redner Thomas Mann, um über Goethe als Repräsentanten des bürgerlichen Zeitalters zu sprechen. In prophetischer Klarheit zeigte der Dichter damals, wie notwendig es sei – wolle man Goethes Erbe ernst bewahren –, den Kreis des bürgerlichen Humanismus zu durchbrechen und zu neuen Formen der sozialen, der sozialistischen Humanität hinüberzuleiten. Das Wort wurde nicht gehört und nicht verstanden. […] Man feierte Thomas Mann als Redner; wenige Wochen darauf aber sprengte man eine Versammlung, in welcher der gleiche Dichter warnend über das Unheil des deutschen Faschismus zu sprechen gedachte. Und nur ein Jahr später war der deutsche Goethe-Redner des Jahres 1932 als Flüchtling in die Verbannung geschickt worden.⁶⁹

Mann besitzt für Mayer über hundert Jahre nach Goethe dieselbe Funktion innerhalb seines literatur- und gesellschaftsgeschichtlichen Szenarios: ein Angehöriger der spätbürgerlichen Gesellschaft, der jedoch bereits prophetisch die neue Zeit vorausahnt. Solche Deutungen von Autoren und ihren Œuvres verfolgen in Mayers Literaturwissenschaft Ende der 1940er Jahre einen ganz bestimmten Zweck. Mayer arbeitet – wie viele Gelehrte seiner Zeit in Ost wie West – an einer Rückgewinnung der deutschen Kultur von der Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus, und das tut er mit einem sozialistischen Bildungsanspruch. Er argumentiert ganz analog zum marxistischen Geschichtsbild, und das mag stellenweise heute merkwürdig oder holzschnittartig anmuten, zum Teil gar fehlerhaft, etwa wenn Mayer Goethe bescheinigt, ein Arbeiterfreund gewesen zu sein: „Ein neues Geschlecht ist heute aufgerufen, die Erbschaft Goethes zu verwalten, eine Menschheit, die nicht mehr bürgerlich sein kann in jenem engen klassenmäßigen Begriff – die Welt arbeitender Menschen, denen Goethe stets so freundlich

67 Ebd., S. 8. 68 Ebd., S. 10 und 12. 69 Ebd., S. 27f.

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zugetan war […].“⁷⁰ Auch ermangelt die Argumentation einer gewissen philologischen Genauigkeit. Gleichzeitig besticht die Goethe-Rede durch eine ziemliche Reichhaltigkeit an Ideen und eine rhetorische Klarheit, die verstehen lassen, warum ‚die Jugend‘ im Jahr 1949 begeistert war. Der zweite Mayer-Text, den ich vorstellen möchte, hat eine turbulente Publikationsgeschichte und steht für einen Wendepunkt mit Blick auf Mayers Rolle in der frühen DDR-Germanistik. Mayers Text „Zur Gegenwartslage unserer Literatur“ ist als Radiovortrag entstanden, der am 28. November 1956 im Deutschlandsender Berlin gesendet werden soll. Das wird von den zuständigen Stellen in letzter Minute verhindert. Am 29. November verliest Mayer die verbotene Rede vor Studierenden im Hörsaal 40. Am 2. Dezember erscheint dann eine Druckfassung in der kulturpolitischen Zeitschrift des Kulturbundes der DDR. Es handelt sich um eine Panne – so etwas hätte dem staatlich gesteuerten Medienapparat nicht passieren dürfen. Die Panne sorgt dafür, dass der Text Mayers Gegnern zum vielzitierten Belegstück dafür werden kann, dass der Leipziger Professor die kultur- und literaturpolitischen Maßgaben des Staatssozialismus nicht mehr mitträgt. Jens Saadhoff nennt den Vortrag in seinem 2007 erschienenen Buch zur Geschichte der Germanistik in der DDR ein „Dokument des akademischen Eigensinns, werden hier doch zahlreiche Glaubensgrundsätze der Partei im Namen einer wissenschaftlich-nüchternen Kritik zurückgewiesen“.⁷¹ Vielmehr noch, so meine ich, als ein Dokument akademischen Eigensinns stellt der Vortrag ein Dokument dafür dar, dass Mayer sich nicht bloß als Philologe, sondern immer auch als Literaturkritiker versteht, der an der Entstehung und Verbreitung guter neuer Literatur interessiert ist. Der Eigensinn ist weniger wissenschaftlich als ästhetisch motiviert. Mayer konstatiert in seinem Vortrag, dass es „um unsere deutsche Gegenwartsliteratur nicht zum Besten steht“.⁷² Damit ist natürlich vor allem die ostdeutsche Gegenwartsliteratur gemeint.⁷³ Hier gebe es zwar einige interessante Neuerscheinungen, aber: Das mache „den Braten nicht fett, wie man zu sagen pflegt. Der Tisch unserer Literatur ist kärglich gedeckt. Wir durchleben magere Jahre.“ Die Speisemetaphorik fasst Mayer in dem Schlagwort eines Mangels an „literarischer Opulenz“ zusammen.⁷⁴ Dieses Schlagwort wurde in der Folge von Gegnern zu Mayers ‚Opulenztheorie der Literatur‘ dramatisiert;⁷⁵ um eine Theorie handelt

70 Ebd., S. 29. 71 Saadhoff (2007), S. 104. 72 Mayer (1956), S. 66. 73 Vgl. zur Kontextualisierung Peitsch (2005). 74 Mayer (1956), S. 69. 75 So geht es mit fama, die Ruhm und Gerücht gleichermaßen ist, die auch Johnsons Erinnerung tingiert und ihm einen sachlichen Fehler einträgt: „Über die literarische Opulenz hatte jener

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es sich aber bei dem, was Mayer entwickelt, gerade nicht, allenfalls um ein paar skizzenhafte Überlegungen, auch wenn er den konstatierten Mangel an guter Literatur zu begründen versucht: Es handle sich um eine „literarische Weltproblematik“, die mit medialem Wandel und einem damit einhergehenden Wandel der sozialen Position des Schriftstellers zu tun habe.⁷⁶ Den Großteil der ostdeutschen Literaturproduktion der Zeit bezeichnet Mayer als „rotangestrichene Gartenlauben“⁷⁷ – auch das ein berühmt gewordenes Schlagwort. Es wurde sogar so berühmt, dass Christa Wolf in der Rückschau glaubte, Mayer habe beim Gespräch über den Gegenstand ihrer Studienabschlussarbeit von den rotangestrichenen Gartenlauben gesprochen⁷⁸– dabei hat sie es vermutlich in dem Vortrag gelesen, oder, auch nicht unwahrscheinlich, Mayer hat sich öfters wiederholt. Als Lösung für das entwickelte Dilemma jedenfalls empfiehlt Mayer die verstärkte Auseinandersetzung mit der internationalen Literaturtradition der ‚klassischen Moderne‘, an die die deutsche und insbesondere die DDR-Literatur bislang den Anschluss noch nicht geschafft habe.⁷⁹ Hier wird ein weiteres Charakteristikum der Mayer’schen Literaturwissenschaft deutlich: Mayer möchte Literaturgeschichte als übernationale Bewegung verstanden wissen, die die Provinzialität nationalliterarischer Borniertheit überwindet. Wie man sich die literarhistorische Kontextualisierung deutscher Literatur mit Weltliteratur vorstellen könnte, das führt Mayer in seinem Buch Bertolt Brecht und die Tradition von 1961 vor, das ich als drittes und letztes Textbeispiel vorstellen möchte. Das Buch erscheint bereits in dem westdeutschen Verlag Günther Neske, und es hat eine lange Vorgeschichte. Bereits 1949 veröffentlicht Mayer einen Aufsatz gleichen Titels, und seit November 1957 existiert ein dem Langessay zugrunde liegender Vortrag, den Mayer vielfach hält, vor allem bei Vortragsreisen in Westdeutschland.⁸⁰ Marcel Reich-Ranickis Kritik des Buchs in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fällt der Tendenz nach negativ aus,⁸¹ es ist aber schwer

Artikel geheißen. Opulenz war fortan in jenem Lande ein häufiges Wort.“ Johnson (1967), S. 81. Interessant auch die Stelle in Michael E. Sallingers Essay über Hans Mayer (in dem ansonsten mit dem pathetischen Gestus raunender Bedeutsamkeit wenig Weiterführendes gesagt wird), an der die Opulenztheorie auf ihren Urheber umgemünzt wird: „Doch war Hans Mayers Tisch stets opulent gedeckt: Opulenz aus Kenntnissen, Aufweisen, Verweisen und Bezügen.“ Sallinger (2004), S. 99. 76 Mayer (1956), S. 69. 77 Ebd., S. 71. 78 Wolf (2001), S. 27. Vgl. auch dies. (1987), S. 49. 79 Zum wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang Rosenberg (1997), vor allem S. 216–226. 80 Mayer (1949c); zum Vortrag vgl. die Hinweise im Kommentar von Mayer (1948–1963), S. 347– 349. Weiterführend hierzu Völker (2008). 81 Reich-Ranicki (1961/1975), hier S. 251–263, Anmerkungen S. 350.

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verständlich, warum. In jedem Fall kann man feststellen, dass die Herangehensweise des Buchs Reich-Ranicki irgendwie zu dogmatisch-marxistisch erscheint. Das ist sie aber gerade nicht. Es handelt sich um die aufwändige Präsentation eines einzigen Arguments: Brechts Größe als Schriftsteller bestehe darin, dass er sich von sehr vielen und ganz unterschiedlichen Traditionen habe beeinflussen lassen und sie kreativ umgeformt habe. Es handelt sich mithin um ein Argument, das gegenüber traditionellen Einflussargumenten die ‚dialektische‘ Vermittlung von Tradition und Innovation im Sinne von Wandlung und Umwandlung herausstellt: Die großen Schöpfungen der Vergangenheit sind nicht, wie man gemeint hatte, überzeitlich und geschichtslos. Sie stehen nach wie vor im Prozeß; in der sich ständig verändernden Beziehung eines sich verändernden heutigen Subjekts zu den gleichfalls nicht statischen Werken der Vergangenheit.⁸²

Das wird an so unterschiedlichen Bezugsfeldern wie: orale Tradition des Herkunftsorts, Kriminalroman, Sportreportage, Bibel, deutsche Klassik, marxistische Klassiker, römische Antike, Literatur des fernen Ostens, Aristoteles-Rezeption demonstriert. Bemerkenswert ist auch der Stil des Buchs. Mayer bemüht sich um einen betont unwissenschaftlichen, eleganten, essayistischen Ton. Dass das ein allgemeines Charakteristikum seines literaturwissenschaftlichen Schreibens darstellen soll, wird nicht nur implizit aus seinen Texten deutlich, er hat es auch gelegentlich explizit als Selbstanspruch formuliert, etwa in einem Brief an Johannes R. Becher vom 25. März 1957, dem er sein neu erschienenes Buch Deutsche Literatur und Weltliteratur schickt mit den Worten: Wenn Sie beim Lesen der einen oder anderen Arbeit in diesem neuen Band nicht bloss den Gedanken und Arbeitsergebnissen Ihre Aufmerksamkeit schenken, sondern auch […] das Bemühen billigen, hier die Kunstform des Essays und der Rede in zahlreichen Abhandlungen nach meinen Kräften gepflegt zu haben, so würde ich mich über diese Ansicht freuen.⁸³

Zu dieser Kunstform in der Mayer’schen Variante gehört auch, dass im BrechtBuch der persönliche Bezug des Autors zu Brecht an vielen Stellen anekdotisch angedeutet wird – der Leipziger Regionalhistoriker findet in dem Zusammenhang auch verschiedene Äußerungen über Brechts Besuche in Mayers Lehrveranstal-

82 Mayer (1961), S. 13. 83 Ders. (1948–1963), S. 319.

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tungen.⁸⁴ Dazu gehört auch, dass sich in dem Text versteckte Selbstaussagen finden: Mayer schreibt etwa von „Brechts eigentümlicher, gleichsam unorthodoxer Entwicklung zum Marxismus“: „Er war kein Arbeiter, der zu seiner Klasse fand. Er war ein Sohn des Bürgertums, der die Klassenposition wechselte. Ihn leitete nicht Mitleid oder Gerechtigkeitsstreben, sondern die Verlockung des Erkennens, wie später seinen Galilei.“⁸⁵ – Das könnte auch in einer Mayer-Biographie stehen.⁸⁶ In der These von Brechts eigenwilligem Umgang mit der Tradition deutet sich ein Gedanke an, der viele spätere Schriften Mayers leitmotivisch durchzieht: der Intellektuelle als Außenseiter. Brecht habe, schreibt Mayer etwa, mit Karl Valentin „das spannungsreiche Verhältnis des Außenseiters zur Umwelt gemein“.⁸⁷ An vereinzelten Stellen wird dann aber doch auch noch deutlich, was Reich-Ranicki mit der dogmatisch-marxistischen Vorgehensweise Mayers gemeint haben könnte. Gegen Ende des Buchs referiert Mayer Denis Diderots Dialog Paradoxe sur le Comédien – und knüpft an: Man liest diesen Diderotdialog – und befindet sich in einer Debatte über die Theaterarbeit Brechts. Es ist belanglos, ob Brecht die Ausführungen Diderots […] gekannt hat. Übrigens kannte er sie. Wichtig ist bloß der objektive historische Zusammenhang zwischen dem von Diderot geführten Kampf gegen das Theater und Drama seiner Epoche und der Auffassung Brechts von Theaterarbeit⁸⁸

– das klingt für heutige Ohren wie die unkontrollierte Anwendung von Theoremen der intertextuellen Verknüpfung von allem mit allem, für den marxistischen Literaturwissenschaftler aber ist der von Mayer ins Feld geführte „objektive historische Zusammenhang“ tatsächlich vorhanden. Es ist der Geist der Geschichte, der von Diderots bürgerlicher Aufklärung zu Brechts sozialistischem Theater fortschreitet.⁸⁹ Es wäre ein Kurzschluss, wollte man aus der vorgestellten Reihe von Texten des Leipziger Mayer eine Entwicklung extrapolieren, etwa in dem Sinne, in dem 84 Ders. (1961), S. 7 und 18. 85 Ebd., S. 74. 86 Vgl. auch ebd., S. 125 die Ausführungen zu Brechts Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, hinter denen man in Kenntnis von Mayers Biographie einen Wunsch mit Blick auf die eigene letzte Ruhestätte vermuten kann. 87 Ebd., S. 29. Vgl. zum Gedanken des Intellektuellen als Außenseiter auch S. 23. 88 Ebd., S. 114. 89 Allerdings finden sich auch andere waghalsige Argumentationsketten, die nicht einmal geschichtsphilosophisch fundiert sind; vgl. etwa die Art, wie Mayer zu zeigen versucht, dass Brecht seinen Freund, den Boxer Paul Samson-Körner, mit einer Begeisterung für Robert Louis Stevenson angesteckt habe, ebd., S. 33–35.

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Klaus-Dieter Hähnel einmal auf die zentrale Rolle des Mayer’schen Thomas-MannBuchs aufmerksam gemacht hat, „weil sie die Wandlungen des Wissenschaftlers von einem Realismus-Begriff, der an Lukács angelehnt ist, zu einer differenzierten Sicht auf die moderne Literatur und Weltliteratur“ einschließe.⁹⁰ Stattdessen möchte ich auf einige aus den Textbeispielen hervorgehende Eigenschaften des Literaturwissenschaftlers Mayer hinweisen: Mayer zeigt sich in seinen Texten als Literaturwissenschaftler, der einen auf Studierende, aber auch auf die allgemeine Öffentlichkeit gerichteten Bildungsanspruch vertritt. In seinen Arbeiten fragt er nach der dynamischen Vermittlung von Literatur und Gesellschaft in der Literaturgeschichte. Er bemüht sich als Wissenschaftler nicht bloß um ferne historische Gegenstände, sondern auch und vor allem um die Gegenwartsliteratur. Er versteht Literatur immer als Weltliteratur und arbeitet an einer Überwindung nationalphilologischer Scheuklappen. Und schließlich bemüht er sich in seinen Texten um sprachliche Eleganz, Verständlichkeit und Gediegenheit.

4. Eine Schule? Mayer und die Folgen Immer wieder wird Mayer als Lehrer bezeichnet. Johnson nennt ihn einen seiner Lehrer; Raddatz’ Mayer-Darstellung ist überschrieben: „Auftritt der Lehrer“. Für Tiefensee ist er ein Lehrer der Demokratie.⁹¹ Und Hein meint, Uwe Johnson und Christa Wolf seien Mayers Schüler gewesen.⁹² Hier liegt ein Begriff des Lehrers und der Schule zugrunde, der wenigstens in wissenschaftssoziologischer Perspektive zu weit ist.⁹³ Wenn jeder, auf den Mayer irgendwie gewirkt hat oder der einmal in seinem Seminar gesessen hat, als sein Schüler bezeichnet wird, dann verliert der Begriff jegliche Beschreibungskraft. Wenn ich zum Schluss des Beitrags frage, ob es eine Mayer-Schule gegeben hat, dann kommen für mich, wie es dem Konsens unter Wissenschaftshistorikern entspricht, als Schüler Mayers nur solche Personen in Frage, die bei ihm ihre akademische Qualifikation durchlaufen haben. Geht es um die Frage nach, mit Ralf Klausnitzer zu sprechen, spezifi-

90 Hähnel (2007), S. 192. 91 Tiefensee (2001), S. 7. 92 Hein (2001a), S. 18. Analog dazu Sallinger (2004), S. 100. 93 Vgl. ebenso Hein (2001a), S.  22: „Der vorzügliche Lehrer hatte selbst die besten Lehrer. In seinem Werkverzeichnis sind alle aufgeführt: Goethe und Thomas Mann, Lessing und Brecht, Schiller, Büchner, Heine.“ Ähnlich auch Püschel (1991), S. 101: „‚Außenseiter‘ ist für mich Hans Mayers wichtigstes Buch, es enthält den originären ideologiegeschichtlichen Beitrag zu der reichen zeitgenössischen Arbeit in dieser Sache, deren Dimensionen mit Namen wie Lukács und Bloch, Horkheimer und Adorno abgesteckt sind, die Hans Mayer zu seinen Lehrern zählt.“

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zierten inhaltlichen „Übereinstimmungen in Konzeption und Methodologie“ als Kernkriterium für das Reden von einer Schule als historischem Phänomen, das nicht bloß performativ behauptet wird,⁹⁴ dann wurde bislang, soweit ich sehe, die Existenz einer Mayer-Schule von Wissenschaftshistorikern und Zeitzeugen häufig verneint.⁹⁵ Andererseits legen Indizien auf verschiedenen, von Inhalten und Methoden unabhängigen Ebenen die Vorstellung einer Mayer-Schule nahe.⁹⁶ Das beginnt mit institutionell-publizistischen Gruppenbildungen. Mayer ruft Mitte der 1950er Jahre beim Verlag Rütten & Loening gemeinsam mit Werner Krauss die Buchreihe Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft ins Leben, die großenteils als Forum für die Veröffentlichung von bei Mayer entstandenen Qualifikationsarbeiten gedient hat. Bis 1965 erscheinen in der Reihe unter anderem die Qualifikationsarbeiten von Ernst Schumacher, Marian Szyrocki, Walter Dietze, Siegfried Streller, Hans Dahlke, Helmut Richter, Pavel Petr, Klaus Schuhmann, Friedrich Albrecht.⁹⁷ Eine andere Ebene ist die Ebene der performativen Selbstlokalisierung: 1997 findet, anlässlich von Mayers 90. Geburtstag, ein Kolloquium zu Hans Mayers Leipziger Jahren statt. Die Tagungsakten werden von Alfred Klein, Manfred Neuhaus und Klaus Pezold herausgegeben, und wenn man sich das Verzeichnis der Beiträger ansieht, dann könnte man auf den Gedanken kommen, dass sich hier eine Mayer-Schule performativ selbst konstituiert.⁹⁸ Eine dritte Ebene ist die Ebene lexikographischer Kanonisierung: In Klaus Pezolds Artikel zu Mayer im Internationalen Germanisten-Lexikon von 2003 erscheinen als wissenschaftliche Schüler Mayers unter anderem Friedrich Albrecht, Günter Albus, Hans Dahlke, Manfred Diersch, Walter Dietze, Klaus-Dieter Hähnel, Walfried Hartinger, Werner Hecht, Klaus Kändler, Alfred Klein, Eike Middell, Günter Mieth, Horst Nalewski, Pavel Petr, Klaus Pezold, Dieter Pilling, Helmut Richter, Werner Schubert, Klaus Schuhmann, Siegfried Streller, Marian Szyrocki.⁹⁹ Die Frage, ob zwischen diesen Wissenschaftlern nicht doch auch programmatische, inhaltliche oder methodische Gemeinsamkeiten festzustellen sind, die auf Mayer als Lehrer zurückgeführt 94 Klausnitzer (2005), S. 63. 95 Vgl. etwa Schnell (1987). Außerdem Krenzlin (1983), S. 145 [Gesprächsbeitrag Träger]: „Sieht man einmal von dem immensen Einfluß Georg Lukács’ ab, der uns Ältere alle – so finde ich – auszeichnet, dann haben in der DDR eigentlich nur die beiden Genannten [Werner Krauss und Gerhard Scholz, D. W.] schulbildend gewirkt.“ Nicht ganz entschieden in Sachen Mayer-Schule Rosenberg (1997), S. 213. 96 Vgl. auch Hahn (2009), vor allem die Hinweise S. 135 und 153. 97 Schumacher (1955); Szyrocki (1956); Dietze (1957); Streller (1957); Szyrocki (1959); Dahlke (1960); Richter (1962); Dietze (1963); Petr (1963); Schuhmann (1964); Albrecht (1965). 98 Klein / Neuhaus / Pezold (1997). 99 Pezold (2003), S. 1186.

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werden können, sollte meines Erachtens nicht vorschnell ad acta gelegt werden. Sie ist insbesondere auch für die Geschichte der Leipziger Germanistik interessant, da ein nicht unbeträchtlicher Teil der genannten Wissenschaftler in der Folge an der Universität Leipzig gelehrt und geforscht hat. So können Öhlschläger und Stockinger in ihrem Überblicksbeitrag zur Universitätsgeschichte schreiben, dass die seit den 1970er Jahren am Leipziger Germanistischen Institut tätigen Professoren „allesamt Schüler von Hans Mayer“ waren, „so daß die eigentümliche Situation entstand, daß implizit Traditionen eines Lehrers fortgeführt wurden, der wegen seiner ‚Republikflucht‘ zur persona non grata geworden war.“¹⁰⁰ Wie es mit dieser impliziten Weiterführung von Traditionen genau beschaffen gewesen ist, ist eine schwierige, brisante und wichtige Frage, der sich in Zukunft verstärkte Forschungsanstrengungen widmen sollten.

Literatur Albrecht (1965): Friedrich Albrecht, Die Erzählerin Anna Seghers 1926–1933, Berlin 1965 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 25). Blumenberg (1960): Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Frankfurt/M. 1998. Boden (1997): Petra Boden, „Universitätsgermanistik in der SBZ / DDR. Personalpolitik und struktureller Wandel 1945–1958“, in: dies. / Rainer Rosenberg (Hrsg.), Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997, S. 119–149. Dietze (1957): Walter Dietze, Junges Deutschland und deutsche Klassik. Zur Ästhetik und Literaturtheorie des Vormärz, Berlin 1957 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 6). Dietze (1963): Walter Dietze, Quirinus Kuhlmann: Ketzer und Poet. Versuch einer monographischen Darstellung von Leben und Werk, Berlin 1963 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 17). Dahlke (1960): Hans Dahlke, Johann Christian Günther. Seine dichterische Entwicklung, Berlin 1960 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 10). Freie Akademie (2002): Freie Akademie der Künste in Hamburg (Hrsg.), Repräsentant und Außenseiter. Erinnerung an Hans Mayer. Vortrag Hanjo Kesting. Begrüßung Armin Sandig. Dokumentation der Veranstaltung am 10. Juni 2002, Hamburg 2002. Gumbrecht (2002): Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Karl Voßler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, München, Wien 2002. Hahn (2009): Reinhard Hahn, „‚Sein Einflußpotential bestand in seinen Schülern‘. Gerhard Scholz und sein Kreis. Zur Schulenbildung in der Germanistik der DDR“, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 12 (2009), S. 133–156.

100 Öhlschläger / Stockinger (2009), S. 560.

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Reich-Ranicki (1961/1975): Marcel Reich-Ranicki, „Der beredsame Gelehrte“ (1961/1975), in: Die Anwälte der Literatur, Stuttgart 1994, S. 251–269. Richter (1962): Helmut Richter, Franz Kafka. Werk und Entwurf, Berlin 1962 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 14). Richter (2008): Ina Richter, Die Entwicklung des Germanistischen Instituts in Leipzig unter dem Einfluss der Ersten und Zweiten Hochschulreform. Eine exemplarische Untersuchung von Studienplänen und Lehrinhalten, Magisterarbeit Leipzig 2008. Rosenberg (1997): Rainer Rosenberg, „Zur Begründung der marxistischen Literaturwissenschaft der DDR“, in: Petra Boden / Rainer Rosenberg (Hrsg.), Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997, S. 203–240. Saadhoff (2007): Jens Saadhoff, Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen „gesellschaftlichem Auftrag“ und disziplinärer Eigenlogik, Heidelberg 2007. Sallinger (2004): Michael E. Sallinger, Spiegelungen. Hans Mayer in seiner Zeit. Ein Versuch, Innsbruck u. a. 2004. Schlak (2008): Stephan Schlak, „Das Paradies der Dinge. Ein Gespräch mit Wolfgang Schivelbusch“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008), H. 4, S. 59–66. Schmidt (2009): Olaf Schmidt, „Endet die Geschichte der Leipziger Germanistik mit Hans Mayer?“ in: Kreuzer. Das Leipzig Magazin 2009, Nr. 4. Schnell (1987): Ralf Schnell, „Repräsentant und Außenseiter“ [Radiofeature zu Mayers 80.Geburtstag], WDR 3, März 1987. Schumacher (1955): Ernst Schumacher, Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933, Berlin 1955 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 3). Schuhmann (1964): Klaus Schuhmann, Der Lyriker Bertolt Brecht, 1918–1933, Berlin 1964 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 20). Stadt Köln (1985): Historisches Archiv der Stadt Köln (Hrsg.), Literarische Welt. Dokumente zum Leben und Werk von Hans Mayer, Köln 1985. Stiening (2008): Gideon Stiening, „‚Der Dichter jedoch, der Denker und Revolutionär Georg Büchner läßt sich nicht aufteilen.‘ Hans Mayer interpretiert Büchner“, in: treibhaus 4 (2008), S. 305–322. Streller (1957): Siegfried Streller, Grimmelshausens Simplicianische Schriften. Allegorie, Zahl und Wirklichkeitsdarstellung, Berlin 1957 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 7). Szyrocki (1956): Marian Szyrocki, Martin Opitz, Berlin 1956 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 4). Szyrocki (1959): Marian Szyrocki, Der junge Gryphius, Berlin 1959 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 9). Tiefensee (2001): Wolfgang Tiefensee, „Ansprache des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig“, in: Deutsche Bücherei Leipzig (Hrsg.), Zum Gedenken an den Ehrenbürger der Stadt Leipzig, Prof. Dr. Dr. Hans Mayer. Reden vom 9. Juni 2001 in der Deutschen Bücherei Leipzig, Leipzig 2001, S. 5–8. Völker (2008): Klaus Völker, „Hans Mayer und Bertolt Brecht“, in: treibhaus 4 (2008), S. 323–333. Vollhardt (2008): Friedrich Vollhardt, „Außenseiter – Hans Mayer liest Lessing“, in: treibhaus 4 (2008), S. 292–304. Werle (2008): Dirk Werle, „Der Fall Hans Mayer. Dokumente 1956–1963. Hrsg. und kommentiert von Mark Lehmstedt“, in: Zeitschrift für Germanistik NF 18 (2008), S. 706–709. Werle (2012): Dirk Werle, „Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik. Zum Denkstil eines Außenseiters der Kritischen Theorie“, in: Nicolas Berg / Dieter Burdorf (Hrsg.),

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Textgelehrte. Literaturwissenschaft und literarisches Wissen im Umkreis der Kritischen Theorie, Göttingen 2013 [in Vorbereitung]. Wolf (1987): Christa Wolf, „Zum 80. Geburtstag von Hans Mayer“ (1987), in: Ansprachen, Darmstadt 1988, S. 35–51. Wolf (2001): Christa Wolf, „Persönliche Worte“, in: Deutsche Bücherei Leipzig (Hrsg.), Zum Gedenken an den Ehrenbürger der Stadt Leipzig, Prof. Dr. Dr. Hans Mayer. Reden vom 9. Juni 2001 in der Deutschen Bücherei Leipzig, Leipzig 2001, S. S. 27–29.

Personenregister Adelung, Johann Christoph 4, 7 Aeschylos 27 Agricola, Christiane 195 Albrecht, Friedrich 253 Albus, Günter 253 Andersen, Hans Christian 149 Apitz, Bruno 244 Aristophanes 27 Aristoteles 250 Aubin, Hermann 183, 184, 186 Bach, Heinrich 189 Bachmann, Ingeborg 244 Bächtold, Jakob 55, 83 Baetke, Walter 11, 142, 145, 150, 154–159 Bahder, Karl von 8–10, 27, 49, 52, 56, 84 Bahr, Ehrhard 93 Bartels, Adolf 169 Bartsch, Karl 21, 42 Bartschat, Brigitte 63 Bayle, Pierre 207 Becher, Johannes R. 244, 250 Beißner, Friedrich 105, 106 Bell, Alexander Melville 59 Benecke, Georg Friedrich 17, 22, 26 Bernays, Isaak 92 Bernays, Jacob 92 Bernays, Michael 8, 81, 90, 92, 94 Berve, Helmut 144 Bethmann-Hollweg, Theobald von 225, 226 Björnson, Björnstjerne 149 Bloch, Ernst 197, 238, 242, 252 Bloomfield, Leonard 31, 54, 66, 67 Blum, Robert 132 Boecklen, Grittli 167 Bohnenberger, Karl 54 Bopp, Franz 32, 33 Braemer, Edith 12 Brant, Sebastian 20 Braune, Wilhelm 8, 21, 23, 27, 31, 33, 40–44, 50, 51, 57, 58, 62, 63, 65, 68, 69, 142 Brecht, Bertolt 236, 240, 243, 244, 246, 249–252 Brecht, Walther 198

Bredel, Willi 244 Brugmann, Karl 31, 34, 37, 39, 40, 63, 68, 182 Büchner, Georg 95, 236, 252 Burdach, Konrad 44, 65, 130, 131, 188 Catull 16, 18, 27 Choltitz, Dietrich von 170 Chomsky, Noam 67 Courtenay, Jean Baudouin de 31 Creizenach, Wilhelm 84–86, 93 Curtius, Georg 41–44 Dahlke, Hans 14, 253 Danzel, Theodor Wilhelm 4, 8, 81, 200, 237 de Boor, Helmut 10, 143, 146–148, 150 de Vries, Jan 151, 170 Delbrück, Berthold 36, 37 Deri, Max 133 Diderot, Denis 251 Diederich von dem Werder 90 Diersch, Manfred 253 Dietze, Walter 12, 14, 253 Dilthey, Wilhelm 122, 208, 214 Dupont, Joseph 164 Ebert, Adolf 41, 43, 90 Edschmid, Kasimir 132 Edzardi, Anton Philipp 8, 27, 142, 143, 145, 151 Eickmans, Heinz 177, 178 Elster, Ernst 9, 82, 84–87, 89, 131 Engels, Friedrich 194 Enzensberger, Hans Magnus 244 Ettmüller, Ludwig 175 Eulenberg, Herbert 132 Fischer, Hermann 70 Flaischlen, Cäsar 132 Fleischer, Wolfgang 13, 14, 176 Fleming, Paul 99 Fontane, Theodor 26 Freytag, Gustav 28 Friedländer, Saul 144 Frings, Theodor 3, 10–14, 54, 64, 68, 69, 167,

260 

 Personenregister

169–172, 174–176, 178, 180–190, 222, 234, 235, 238, 242, 244 Galilei, Galileo 251 Gallicus, Jodocus 19 Ganz, Peter F. 45, 46, 56, 69 Gleißner, Käthe 184 Goethe, Johann Wolfgang 16, 18, 28, 53, 81, 94–96, 106–112, 133, 181, 194, 205, 208, 209, 214–224, 226, 228, 229, 246–248 Gottfried von Neifen 20 Gottfried von Straßburg 41 Gottsched, Johann Christoph 4, 7, 121, 205 Götze, Alfred 54 Gozzi, Carlo 95, 96 Grass, Günter 244 Gribus, Bartholomäus 19 Grimm, Jacob 9, 17, 24–26, 32, 33, 35, 148, 150, 152, 181, 200 Grimm, Wilhelm 17, 26, 181 Grønbech, Vilhelm 153, 156, 157 Große, Rudolf 13, 14, 177, 189 Gundolf, Friedrich 205 Haas, Hans 154–156 Haase, Horst 12 Hähnel, Klaus-Dieter 243, 252, 253 Hartinger, Walfried 15, 253 Hartlieb, Jacob 19 Hartmann von Aue 20, 50, 51 Hauer, Jakob Wilhelm 154–156 Haufe, Eberhard 195 Haupt, Moriz 3, 7, 8, 16–28, 33, 79, 80, 121, 200, 201, 236 Hauptmann, Gerhard 132 Hecht, Werner 253 Hecker, Max 130 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 194 Hein, Christoph 242, 252 Heine, Heinrich 87 Heinemann, Wolfgang 14 Heinrich von Veldeke 42, 187, 188 Heisenberg, Werner 144 Heller, Rolf 142, 158 Herder, Johann Gottfried 148, 218, 219 Hermann, Gottfried 16, 18, 19, 27 Hermann, Louise 17

Hermlin, Stefan 244 Héroux, Bruno 132 Herrmann, Max 92, 93, 113, 118–120, 131 Hertel, Johannes 50, 52, 53, 56, 62 Herzog, Winand 241 Hesse, Hermann 132 Heusler, Andreas 58, 144, 148–150 Heyck, Eduard 130 Hildebrand, Rudolf 8, 9, 42, 55, 81–83, 90, 203 Hindenburg, Paul von 91 Hinskens, Frans 178 Hipp, Helga 164, 169, 176, 177 Hirsch, Julian 233 Hirzel, Salomon 26 Hitler, Adolf 226 Höfler, Otto 148 Hoffmann von Fallersleben, Heinrich 16, 23 Holberg, Ludvig 149 Holtzmann, Adolf 21–23, 27 Holz, Arno 132 Holz, Georg 9, 10, 49, 52 Homer 20 Horaz 27 Hübner, Alfred 10, 11, 169 Huch, Ricarda 132 Huchel, Peter 236, 244 Hume, David 207 Hund, Friedrich 144 Ibsen, Henrik 149 Indrebø, Gustav 143 Ipsen, Gunther 168 Jahn, Otto 17, 25 Jellinek, Arthur 130 John, Johann August Friedrich 109 Johnson, Uwe 238, 241, 242, 252 Johst, Hanns 95 Jolles, André 10, 11, 165–170, 173, 174 Jolles, Jeltje 169 Jonas, Fritz 131 Jones, William 32, 67 Junker, Hermann 169 Kändler, Klaus 253 Kapteyn, Jacobus C. 171

Personenregister 

Kant, Immanuel 218, 219 Karg, Fritz 10, 168, 169 Karg-Gasterstädt, Elisabeth 11, 50–56, 62, 168, 173, 184, 185 Kästner, Erich 95 Kayser, Wolfgang 168 Keller, Adelbert von 44 Keller, Gottfried 83 Kerr, Alfred 95 Kippenberg, Anton 130, 165, 167 Klein, Alfred 253 Kleist, Heinrich von 126, 225, 226 Klopstock, Friedrich Gottlieb 126 Korff, Hermann August 10–12, 121, 135, 169, 170, 193–229, 235–238, 242, 244 Kößling, Rainer 14, 142, 143 Köster, Albert 3, 9, 10, 52–55, 78–135, 164, 165, 198, 199, 203, 204, 237 Konrad von Würzburg 20 Krauss, Werner 235, 242, 253 Kuhn, Hans 11, 143, 145, 150, 170 Kummer, Bernhard 154–158 Kunze, Horst 95 Laage, Karl Ernst 100 Lachmann, Karl 8, 16, 17, 19–22, 25, 27, 79, 80, 104, 200 Lamprecht, Karl 86, 87 Lehmann, Edvard 153 Leitzmann, Albert 54, 131 Lerchner, Gotthard 14, 175, 176, 178 Leskien, August 31, 35, 40–43, 63 Lessing, Gotthold Ephraim 18, 28, 94, 95, 122, 236 Lexer, Matthias von 41 Leyen, Friedrich von der 54 Liepe, Wolfgang 93 Lipsius, Justus Hermann 90 Locke, John 207 Lohmeier, Dieter 100 Lukács, Georg 252 Lukrez 27 Lyon, Otto 81, 203 Mann, Thomas 132, 236, 247, 252 Markov, Walter 244 Martersteig, Max 94, 133

 261

Marx, Karl 194 Massmann, Hans Ferdinand 25 Mayer, Hans 3, 4, 11, 12, 15, 195, 196, 233–254 Maync, Harry 131 Mennbier, Erich 131 Merker, Paul 131 Meusebach, Hartwig Gregor von 17 Meyer, Richard M. 93, 130 Michael, Friedrich 94, 95, 132 Michels, Victor 131 Middell, Eike 253 Mieth, Günter 14, 253 Mitzka, Walther 189 Möbius, Theodor 142, 145, 151, 159 Mogk, Eugen 9, 10, 52, 56, 142, 143, 145, 146, 148, 150–155, 157 Mommsen, Theodor 17, 25 Mönckeberg, Johann Georg 166 Morris, Max 130 Müllenhoff, Karl 21, 44, 148 Muller, Jacob Wijbrand 167 Müller, Ernst 131 Müller, Joseph 183, 184 Müller, Wilhelm 17, 25, 26 Muncker, Franz 131 Nalewski, Horst 253 Naumann, Hans 65 Neidhart von Reuental 22 Neuhaus, Manfred 253 Neumann, Friedrich 10, 167, 169, 170 Nietzsche, Friedrich 128, 217 Nohl, Hermann 165, 208, 210 Noreen, Erik 143 Olearius, Paul 19 Opitz, Roland 14 Osthoff, Hermann 31, 34, 37, 39, 40, 63, 182 Ottman, Victor 130 Ovid 18 Panzer, Friedrich 54 Paul, Hermann 31, 33, 34, 36, 37, 40–44, 48, 56–58, 62–64, 68, 86 Persius 27 Petersen, Julius 121–124, 131, 198, 199

262 

 Personenregister

Petr, Pavel 253 Pezold, Klaus 14, 15, 234, 253 Pfeiffer, Franz 25 Pieck, Wilhelm 239 Pilling, Dieter 253 Platon 8, 237 Plautus 27 Poeschel, Carl Ernst 132 Porsch, Peter 14 Properz 18 Puchstein, Otto 166 Racine, Jean 95, 96 Raddatz, Fritz J. 239–241, 252 Rask, Rasmus 32 Reichardt, Konstantin 10, 11, 143–145, 147, 148 Reich-Ranicki, Marcel 249–251 Reimer, Karl 26 Richter, Helmut 14, 253 Riehme, Joachim 14 Rosenberg, Alfred 154, 155 Rousseau, Jean-Jacques 207 Rudolf von Ems 20 Sachs, Hans 118, 119 Saran, Franz 54 Saussure, Ferdinand de 31, 66, 67 Scheithauer, Lothar 195 Scherer, Wilhelm 18 Schieb, Gabriele 173, 175, 178, 187 Schiller, Friedrich 18, 28, 88, 95, 96, 121, 126, 130, 204, 218 Schleicher, August 33, 38 Schlösser, Rudolf 131 Schlusemann, Rita 178 Schmeller, Johann Andreas 25 Schmidt, Erich 89, 108, 109, 122, 130 Schmidt, Johannes 185 Schmitt, Ludwig Erich 11, 13, 168, 170–174, 176 Schnitzler, Arthur 133 Scholz, Gerhard 224, 244 Scholze, Johann Siegismund (Sperontes) 132 Schramm, Johannes 19 Schubert, Werner 14, 253 Schüddekopf, Carl 130

Schuhmann, Klaus 14, 253 Schulz, Gerhard 196 Schumacher, Ernst 253 Schützeichel, Rudolf 189 Schwieger, Jacob 98, 99 Schwietering, Julius 10, 54 Sebeok, Thomas A. 64 Seghers, Anna 244 Shakespeare, William 17, 95, 96, 205 Sievers, Eduard 3, 9–11, 27, 31–70, 85, 87, 94, 164, 167, 180, 182, 199 Simmel, Georg 216 Söderblom, Nathan 152, 153 Sophokles 17, 27 Specht, Franz 48 Spengler, Oskar 156 Spinoza, Baruch de 218 Steinmeyer, Elias 44, 46, 184 Steinthal, Heymann 41 Stellmacher, Dieter 175, 176 Stieler, Kaspar 97–100 Storm, Theodor 100–104, 203 Streitberg, Wilhelm 48 Streller, Siegfried 12, 243–245, 253 Sturluson, Snorri 150, 153 Sudermann, Carl 132 Szyrocki, Marian 253 Tacitus 18, 28 Terenz 27 Tesnière, Lucien 31 Theokrit 27 Tibull 18 Tiefensee, Wolfgang 240–242, 252 Tiemann, Walter 132 Tille, Edda 183 Träger, Claus 12–14, 193–196, 227 Trubetzkoy, Nikolai 31, 67 Trunz, Erich 109–113 Unger, Rudolf 198, 199, 214, 215 Valentin, Karl 251 van der Waerden, Bartel L. 144 van Gorp, Charles 164 Vergil 18 Verner, Karl 35, 40

Personenregister 

Volkelt, Johannes 86, 87 Volkmann, Ludwig 132 Voltaire 197, 205–207, 213 Voßler, Karl 65 Wach, Joachim 144 Wachter, Johann Georg 7 Wahle, Julius 130 Waldberg, Max von 93, 131, 197 Walter, Ernst 142, 158 Walzel, Oskar 131 Wartburg, Walther von 184, 186 Wedekind, Frank 133 Weiße, Christian Felix 94 Weißenfels, Richard 131 Wenker, Georg 65, 70, 189 Werfel, Franz 132 Wilhelm von Oranien 172 Windelband, Wilhelm 197, 214

 263

Windisch, Ernst 42 Winteler, Jost 40 Witkowski, Georg 3, 9, 10, 78–135, 199, 229 Witkowski, Petronella 91 Wolf, Christa 249, 252 Wolfram von Eschenbach 80, 200 Worgt, Gerhard 11, 13, 14, 173, 174, 176, 177 Wrede, Ferdinand 180, 189 Wundt, Wilhelm 86, 91 Zacher, Julius 44 Zarncke, Eduard 26 Zarncke, Friedrich Karl Theodor 3, 8, 9, 16–29, 31, 33, 39, 41–44, 46, 49, 56, 58, 80, 81, 90, 93, 142, 143, 200–203, 236 Zielens, Lode 177 Zobeltitz, Fedor von 130 Zwahr, Hartmut 195